Transformationen der Christologie: Herausforderungen, Krisen und Umformungen [1 ed.] 9783737009829, 9783847109822


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Transformationen der Christologie: Herausforderungen, Krisen und Umformungen [1 ed.]
 9783737009829, 9783847109822

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Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft / Vienna Forum for Theology and the Study of Religions

Band 17

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und dem Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien von Ednan Aslan, Karl Baier und Christian Danz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Christian Danz / Michael Hackl (Hg.)

Transformationen der Christologie Herausforderungen, Krisen und Umformungen

Mit 6 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Rektorats der UniversitÐt Wien.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0718 ISBN 978-3-7370-0982-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Christian Danz / Michael Hackl Transformationen der Christologie. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . .

9

Uta Heil Kontingenz und Varianz. Zur Verbindlichkeit der altkirchlichen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Julius Trugenberger Grenzbewusstsein und Ahnung, Fragmentarität und Ganzheit. Emanuel Hirsch und die christologische Arbeit unter spätmodernen Bedingungen

41

Peter Schüz Das Kreuz als »Bild der Unversöhnlichkeit«. Überlegungen zum unmittelbaren Eindruck des Todes Jesu und seiner Bedeutung für die Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Henning Theißen Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität der Christologie bei Hans-Georg Geyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Ulrich H.J. Körtner Gottes Wort in Person. Überlegungen zu einer metaphorologischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Folkart Wittekind Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes. Systematische Überlegungen zur Möglichkeit der Rückfrage nach dem historischen Jesus . . . . . . . . . . 123

6

Inhalt

Christian Danz Christus als Bild des Glaubens von sich selbst. Zur Funktion der Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Jörg Lauster Die Gegenwart Christi als Geist des Christentums . . . . . . . . . . . . . 159 Wilhelm Gräb Christologie als Arbeit am religiös grundierten Lebenssinn . . . . . . . . 169 Michael Hackl Herausforderungen, Christologie und Theonomie. Systematische Überlegungen im Anschluss an Paul Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Harald Matern Christus, das Individuum. Postliberales Denken und soziale Interaktion . 195 Renate Jost Themen feministischer/gendergerechter Christologien

. . . . . . . . . . 211

Ulrike Swoboda Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden . . . . . . . . . . 235 Manuel Zelger Ein funktionales Äquivalent der Christologie in der Theo-Logie

. . . . . 257

Raul Heimann Jesu Weg zur Vollkommenheit. Entwurf eines Neuansatzes innerhalb der philosophischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf die Tagung Die Christologie und die Krisen unserer Zeit zurück, welche in Kooperation mit der Deutschen Paul-Tillich Gesellschaft e. V. vom 3. bis 5. November 2016 an der Evangelisch-Theologischen-Fakultät der Universität Wien veranstaltet wurde. Ganz herzlich möchte ich mich an dieser Stelle bei Professor Christian Danz, dem Präsidenten der Deutschen Paul-Tillich Gesellschaft, für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung möchte ich der Universität Wien, der Evangelisch-Theologischen-Fakultät der Universität Wien und der Stadt Wien (MA 7) danken. Besonderer Dank gilt der Universität Wien für die finanzielle Förderung der Drucklegung des Bandes in der Peer-ReviewReihe »Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft« bei Vandenhoeck & Ruprecht (Vienna University Press). Frau Györgyi Empacher-Mili ist für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung der Beiträge dieses Bandes und Herrn Patrick Pertl für die Erstellung des Registers herzlich zu danken. Ebenfalls ist Vandenhoeck & Ruprecht zu danken, insbesondere Herrn Oliver Kätsch, der bei der Realisierung des Bandes stets behilflich war. Wien, 2018

Michael Hackl

Christian Danz / Michael Hackl

Transformationen der Christologie. Eine Einleitung

Die Lehre von Jesus Christus stellt ohne Frage den gedanklichen Brennpunkt einer theologischen Dogmatik dar. Weder eine Lehre von Gott noch eine vom Heiligen Geist lässt sich unter Absehung von der Christologie ausarbeiten. Seinen Grund hat das darin, dass das christliche Gottesverständnis an die Geschichte Jesu gebunden ist, die der Gottesgeist in seiner Gemeinde erinnert. Ohne eine Christologie kann es folglich ebenso wenig eine christliche Dogmatik geben wie die christliche Religion. Denn diese ist, was sie ist, allein durch ihren Bezug auf Jesus Christus. In der religiösen Erinnerung an ihn und deren religiöser Weitergabe besteht die christliche Religion. Der zentralen Stellung der Lehre von Jesus Christus in der theologischen Dogmatik ungeachtet, ist es in der Theologie unter den Bedingungen der Moderne umstritten, was unter Christologie selbst zu verstehen ist, welche Funktion sie hat und wie sie zu konstruieren sei. Wie die Theologie selbst, so gibt es christologische Konzeptionen nur im Plural. Unter dem Titel ›Christologie‹ firmieren sehr unterschiedliche Konzeptionen und Entwürfe, die von einem Anschluss an klassische Modelle bis hin zu radikalen Umformungen reichen. Das ist nicht nur der Pluralität und Komplexität religiöser Gegenwartskulturen geschuldet, sondern auch der Entwicklungsgeschichte dieses dogmatischen Lehrstückes in der Moderne sowie deren heterogenen Deutungen. Auch diese, die jeweils die eigene christologische Konzeption plausibilisieren und theologiegeschichtlich herleiten sollen, existieren nur im Plural.1 Das für das Verständnis der Moderne von sich selbst signifikante Nebeneinander von sehr unterschiedlichen Selbstbeschreibungen, die sich nicht mehr auf eine maßgebliche Sicht zurückführen oder in eine solche integrieren lassen, schlägt sich auch in der dogmatischen Christologie nieder. Man kann das ebenso als Krise der Lehre von Christus in der Moderne beklagen wie als Chance begreifen, diese neu und den Bedingungen der eigenen Gegenwart entsprechend umzugestalten. 1 Vgl. hierzu Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 22011.

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Christian Danz / Michael Hackl

Die Transformationen der Christologie betreffen nicht nur das 20. und 21. Jahrhundert, sie setzen bereits in der Sattelzeit der Moderne ein und haben ihre Wurzeln in den theologischen Entwicklungen der Aufklärung. In ihr kam es vor dem Hintergrund der sich etablierenden historischen Kritik an den biblischen Schriften sowie der Erkenntniskritik an den metaphysischen Voraussetzungen und Bestandteilen des christologischen Dogmas zu dessen Umbildung. Die antike und mittelalterliche Christologie rückte die dogmatische Konstruktion des Gottmenschen in das Zentrum der christologischen Beschreibung der christlichen Religion und identifizierte dieses Bild mit dem geschichtlichen Hergang. Zwar haben die Reformatoren die Lehre von Jesus Christus soteriologisch umgeformt und zugespitzt, aber beide Voraussetzungen der überlieferten Lehrfassung beibehalten und vorausgesetzt. Deren Auflösung veränderte die christologische Debattenlage, da nun auf der Grundlage des zunehmend bewusstwerdenden historischen Abstands zwischen der eigenen Zeit und der der biblischen Schriften das Christusbild des Glaubens neben das Bild des geschichtlichen Mannes aus Nazareth trat. Das führte nicht nur zu einem Umbau der christologischen Konzeptionen im 19. Jahrhundert, sondern auch zu alternativen Ausgangspunkten von deren Konstruktion. Erst vor diesem Hintergrund werden die Christologien des 20. Jahrhunderts verständlich. Schon bei Schleiermacher wird Christus zu einem Bild des Glaubens von sich selbst als einem in die Geschichte eingebundenen Geschehen.2 Der Berliner Theologe ordnet mit dem von ihm zugrunde gelegten Religionsbegriff die Christologie zwar noch in den Aufbau des Bewusstseins ein und bindet das so konstruierte Urbild der Frömmigkeit an die historische Gestalt Jesu von Nazareth zurück. In der weiteren Entwicklung der protestantischen Theologie wird aber genau diese Voraussetzung zunehmend problematisiert und infrage gestellt. David Friedrich Strauß löst die Idee des Christentums, die ewige Gott-Mensch-Einheit von der empirischen Geschichte ab3 und bei Albrecht Ritschl wird die Annahme eines allgemeinen Religionsbegriffs als Grundlage der Theologie fallen gelassen.4 Vor diesem Hintergrund kommt es dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Umformungen der Christologie. Sie wird nun von vielen Theologen nicht mehr als ein inhaltlicher Bestandteil der christlichen Religion ausgearbeitet, sondern als eine Reflexionsebene, die der Beschreibung der Struktur des Glaubensaktes dient. Das ist schon bei Ritschl selbst der Fall. Die historischen Bestandteile des Glaubensbegriffs sowie die Resultate der historischen Forschung treten damit zurück. Für die Begründung der Christologie spielt die Geschichtswissenschaft 2 Vgl. Friedrich Schleiermacher : Der christliche Glaube 1821–1822, Bd. 2, hg. v. Hermann Peiter, Berlin/New York 1984, 8 (§ 109.2). 3 Vgl. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36. 4 Vgl. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 41895, 9f.

Transformationen der Christologie

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damit bei vielen protestantischen Theologen keine Rolle mehr. In der Theologiegeschichtsforschung ist die Deutung der genannten Transformationen der Christologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umstritten. Der Christomonismus kann ebenso als Rückkehr der Theologie zu ihrer eigentlichen Sache verstanden werden wie als Selbstisolierung vom wissenschaftlichen Diskurs. In der weiteren Entwicklung der deutschsprachigen protestantischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg schlägt sich das in der Kritik an den Christologien der Wort-Gottes-Theologien nieder. Viele Theologen votierten nun dafür, die dogmatische Christologie wieder an die historische Forschung und ihr Bild der Gestalt Jesu zurückzubinden.5 Aber auch das kann sehr unterschiedlich vorgenommen werden. Es führte jedenfalls nicht zu einem Einvernehmen darüber, was Gegenstand und Thema einer dogmatischen Christologie sein könne. Im Resultat pluralisierten sich am Ende des 20. Jahrhunderts die Konzeptionen. Einen zusätzlichen Schub erhielt diese Entwicklung durch die in den 1980er Jahren einsetzende sogenannte Third Quest der historischen Jesusforschung, die sich nun daran machte, gleichsam unabhängig von theologischen Interessen auf die Suche nach dem Mann aus Nazareth zu gehen. Seitdem stehen die unterschiedlichsten Bilder des historischen Jesus neben diversen christlogischen Beschreibungen.6 Erst vor dem Hintergrund der angedeuteten Problemgeschichte der Christologie in der Moderne werden die gegenwärtigen Debatten, die in dem vorliegenden Band exemplarisch ausgeleuchtet werden, verständlich. Es sind vor allem vier Themenkomplexe, die im Fokus der Kontroversen stehen: Einmal das Problem der Grundlegung der dogmatischen Christologie. Es hängt zweitens zusammen mit dem Verhältnis von Glaube und Geschichte. Drittens ist es der religiöse Pluralismus, der den Hintergrund der Debatten bildet, und viertens die Frage, worin die Funktion der Christologie besteht. Jeder Rekurs auf die christologische Lehrtradition setzt ein Bild von deren Entwicklungsgeschichte voraus, das selbst wieder durch einen konkreten Standpunkt bedingt ist. Das gilt für die Rekonstruktion der altkirchlichen Christologien7 ebenso wie für die des 20. Jahrhunderts.8 Konstruktionen der

5 Vgl. Ernst Käsemann: »Das Problem des historischen Jesus«, in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 61976, 187–214; Gerhard Ebeling: »Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie«, in: ders.: Wort und Glaube, Tübingen 3 1967, 300–318; Eberhard Jüngel: »Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus«, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 214–242; Wolfhardt Pannenberg: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 21964. 6 Vgl. Folkart Wittekind: »Christologie im 20. Jahrhundert«, in: C. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, 13–45. 7 Vgl. hierzu den Beitrag von Uta Heil in diesem Band.

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Christian Danz / Michael Hackl

Lehrentwicklung dienen stets der Plausibilisierung der eigenen Position. Unter den Bedingungen eines Denkens nach der Aufklärung muss in jeder christologischen Konzeption dem Rechnung getragen werden, dass Glaube und Geschichte auseinander getreten sind. Wie mit dieser Differenz umzugehen ist, ist in den Debatten umstritten. Neben Konzeptionen, die das Christusbild des Glaubens an die Gestalt Jesu zurückbinden, stehen solche, die beim Kerygma oder dem Glauben ansetzen. Eine Überwindung dieser begründungslogischen Alternative, in der die theologischen Kontroversen des 20. Jahrhunderts über die Offenbarung Gottes oder die Religion als Grundlage der Theologie ihren Wiederhall finden, könnte der Vorschlag sein, bei der religiösen Kommunikation anzusetzen.9 Subjekt und Gehalt, Geschichte und Kerygma sind Bestandteile des christlichen Glaubens, nicht aber seine Voraussetzungen, aus denen er abgeleitet werden könnte. Allein in diesem Horizont kann nach der Herausbildung des Christusglaubens sinnvoll im Rahmen einer Christologie gefragt werden.10 Unter den Bedingungen der Moderne existiert die dogmatische Christologie nicht. Das liegt auch daran, dass in den christologischen Lehren immer auch im Feld der Theologie eine Antwort auf die mit dem religiösen Pluralismus sowie der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft verbundenen Probleme ausgearbeitet werden. Dabei sind die Konzeptionen so vielfältig wie die Positionen, die vertreten werden. In den christologischen Debatten werden Fragen der Ökologie, der Sinndeutung,11 des interreligiösen Dialogs und anderes mehr verhandelt.12 Je nach dem Aspekt, der in den Fokus gerückt wird, ändert sich die Konstruktion der christologischen Darstellung des Glaubens. Deutlich wird das in Konzeptionen, die das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, oder die Wahrnehmung von Religion aus der Perspektive von Frauen sowie Fragen der Medizinethik in der Christologie thematisieren.13 Dabei ist jede Christologie eine theologische Konstruktion, die in der Theologie vorgenommen wird, um die christliche Religion zu beschreiben. Einen unmittelbaren Zugang oder Zugriff auf die religiöse Lebenswelt gibt es für keine Theologie. Seit Immanuel Kants Religionsschrift von 1793 wurden immer wieder philosophische Christologien ausgearbeitet. Prominente Konzeptionen haben Hegel und Schelling im 19. Jahrhundert vorgelegt. In den Debatten des 20. Jahrhunderts trat diese Thematik in der Philosophie in den Hintergrund, sie verschwand jedoch 8 Vgl. hierzu die Beiträge von Julius Trugenberger, Peter Schüz und Henning Theißen in diesem Band. 9 Vgl. hierzu die Beiträge von Ulrich H.J. Körtner, Folkart Wittekind und Christian Danz in diesem Band. 10 Vgl. hierzu die Beiträge von Folkart Wittekind und Jörg Lauster in diesem Band. 11 Vgl. den Beitrag von Wilhelm Gräb in diesem Band. 12 Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Hackl in diesem Band. 13 Vgl. hierzu die Beiträge von Harald Matern, Renate Jost und Ulrike Swoboda in diesem Band.

Transformationen der Christologie

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nicht vollends.14 Was unterscheidet aber eine philosophische Christologie von einer theologischen und welchen Erkenntnisgewinn bringt jene gegenüber dieser?15 In der christologischen Debatte spiegelt sich aber nur der für die Moderne insgesamt signifikante Umstand, dass der Gegenstand oder das Thema der Christologie auf sehr unterschiedliche Weise konstruiert werden kann. Ihren Brennpunkt finden die Konzeptionen, auch das macht der Band deutlich, in dem Bezug auf die Gestalt Jesu von Nazareth. Allein in der christlichen Religion – also als deren Bestanteil – ist Jesus der Christus und ihre Voraussetzung, die in der Erinnerung an ihn in der Geschichte weitergegeben wird.

14 Vgl. Xavier Tilliette: Philosophische Christologie. Eine Hinführung, Freiburg i. Br. 1998. 15 Vgl. hierzu die Beiträge von Manuel Zelger und Raul Heinmann in diesem Band.

Uta Heil

Kontingenz und Varianz. Zur Verbindlichkeit der altkirchlichen Christologie

1.

Vorbemerkungen

Sind angesichts der Krisenphänomene in der Moderne und Postmoderne wie ›Historismus‹, ›Relativismus‹ und ›Pluralismus‹ die dogmatischen Lehren der Alten Kirche eine Last oder ein Schatz? Kann eine Kirche, wenn alles anerkanntermaßen dem geschichtlichen Werden und Vergehen unterliegt und es kein für alle Christen gültiges Verständnis der Gesellschaft, geschweige denn des Göttlichen mehr gibt, überhaupt noch Lehren verbindlich machen? Sind also insbesondere die Trinitätslehre und die Christologie Lehren aus einer längst vergangenen Vormoderne, deren Voraussetzungen wir nicht mehr teilen? Sind es Dogmen, die nach den Veränderungen seit der Aufklärung und den großartigen geschichtlichen, insbesondere den dogmengeschichtlichen Forschungsleistungen seit dem 19. Jahrhundert1 endlich zu überwinden sind? Oder reicht es aus, einfach darauf zu verweisen, dass die Bekenntnisse aus der Zeit der Alten

1 Vgl. beispielsweise, die Patristik betreffend, die Editionsarbeit in der Reihe Griechischchristlicher Schriftsteller (GCS), dokumentiert in: Adolf von Harnack: Protokollbuch der Kirchenväter-Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1897–1928. Diplomatische Umschrift von Stefan Rebenich. Einleitung und kommentierende Anmerkungen von Christoph Markschies, Berlin/New York 2000; Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin 1997. Vgl. zur Edition der lateinischen Kirchenväter (CSEL), 1864 durch die Gründung einer entsprechenden Kommission in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften initiiert: Dorothea Weber : »150 Jahre Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum«, in: Victoria Zimmerl-Panagl/ Lukas Dorfbauer/Clemens Weidmann (Hg.): Edition und Erforschung lateinischer patristischer Texte. 150 Jahre CSEL (FS Kurt Smolak), Berlin 2014, IX–XI. Vgl. allg. Christoph Markschies/Johannes van Oort (Hg.): Zwischen Altertumswissenschaft und Theologie. Zur Relevanz der Patristik in Geschichte und Gegenwart (Studien der patristischen Arbeitsgemeinschaft 6), Leuven 2002; Uta Heil: »Die Patristik in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (RE3) – eine Blütenlese«, in: ZAC 15 (2011), 95–119.

16

Uta Heil

Kirche zur Tradition der Kirchen gehören und zum Beispiel in die Sammlung der lutherischen Bekenntnisschriften im 16. Jahrhundert aufgenommen wurden?2 Diese Fragen wurden schon früher gestellt. Man könnte die sogenannten Apostolikumsstreitigkeiten durchgehen, um die vergangenen Debatten Revue passieren zu lassen. Am bekanntesten ist der große Apostolikumsstreit vom Ende des 19. Jahrhunderts, in den auch Adolf von Harnack verwickelt war.3 Neben den Apostolikumsstreitigkeiten ist auch auf die Hellenisierungsdebatte4 zu verweisen, da dort eine ähnlich gelagerte Auseinandersetzung erkennbar ist. 2 In das lutherische Konkordienbuch von 1580 wurden das Apostolikum, das Nizänum (= Nizänokonstantinopolitanum von 381 [?], dazu vgl. S. 23f.) und das Athanasianum aufgenommen, womit Zweierlei klargestellt werden sollte: Erstens stehe die Reformation auf dem Boden der rechtgläubigen Lehren der Alten Kirche; andererseits knüpfe die Reformation in rechter Weise wieder an die Lehren der Alten Kirche an, hier das humanistische Programm ad fontes mit einer Kritik an Fehlentwicklungen der mittelalterlichen Papstkirche aufgreifend. Vgl. Irene Dingel (Hg.): Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollständige Neuedition, Göttingen 2014, 37–60 mit Einleitungen von Adolf Martin Ritter zu den altkirchlichen Bekenntnissen, und S. 1216–1219 zum »Summarischen Begriff« der Konkordienformel in der Epitome von 1579. Vgl. Gunter Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche, 2 Bde., Berlin/New York 1996/1997, bes. Bd. 1, 143–166. Inzwischen war zwar die humanistische Kritik an der spätantiken Legende der apostolischen Verfasserschaft des Apostolikums (Laurentius Valla; Erasmus) rezipiert worden (vgl. Markus Vinzent: Der Ursprung des Apostolikums im kritischen Urteil der Forschung [FKDG 89], Göttingen 2006, 31–41), aber dennoch wurde der Text als altkirchliche Tradition hoch in Ehren gehalten und von Martin Luther z. B. in den Katechismen ausgelegt. 3 Jungfrauengeburt und Höllenfahrt Christi wurden besonders heftig kritisiert. Vgl. dazu von Agnes Zahn-Harnack: Der Apostolikumsstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart, Marburg 1950; Julia Winnebeck: Apostolikumsstreitigkeiten. Diskussionen um Liturgie, Lehre und Kirchenverfassung in der preußischen Landeskirche 1871–1914 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 44), Leipzig 2016, mit S. 238–286 zu: »Der Fall Adolf Harnack«. 4 Auch diese Debatte ist mit Adolf von Harnack zu verbinden; relevant sind seine sechzehn Vorlesungen Über das Wesen des Christentums von 1899 (viele Nachdrucke) und sein Lehrbuch der Dogmengeschichte (3 Bde., Tübingen 41909; Nachdrucke). So schrieb Harnack in seinem Lehrbuch (Bd. 1, 346): »denn die Logoslehre, mögen in sie auch nachträglich ursprüngliche Interessen eingefügt sein, ist doch die griechische Philosophie in nuce. Ihre Einführung in das Bekenntnis der Gemeinde […] bedeutet für die Zukunft die Verwandlung der Glaubensregel in ein philosophisches System.« Als Folge sei es zur Ausbildung von Dogmen gekommen (Bd. 1, 20): »Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.« Vgl. Christoph Markschies: Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie (Forum Theologische Literaturzeitung), Leipzig 2012; Leo Scheffczyk: Tendenzen und Brennpunkte der neueren Problematik um die Hellenisierung des Christentums (SBAW.PH), München 1982; Dorothea Wendebourg: »Hellenisierung des Christentums – Epoche oder Erfüllung der Kirchengeschichte? Zu einer Debatte in der orthodoxen Theologie und Kirchengeschichtsschreibung«, in: Jörg Lauster/Bernd Oberdorfer (Hg.): Der Gott der Vernunft. Protestantismus und Vernünftiger Gottesgedanke, Tübingen 2009, 285–300. Vgl. jetzt auch Hans Reinhard Seeliger, der in seiner Tübinger Abschiedsvorlesung die Hellenisierung des Christentums auf das Askeseideal bezieht: »Lehre und Lebensform – Über die ›Hellenisierung‹ und ›Enkratisierung‹ des antiken Christentums«, in: Theologische Quartalschrift 196 (2016), 127–138.

Kontingenz und Varianz

17

Zwei Aspekte gibt es, die die Situation heutzutage noch erschweren, denn die schon genannten Krisenphänomene wie ›Historismus‹, ›Relativismus‹ und ›Pluralismus‹ sind sicher noch erweiterbar. Ein Aspekt könnte mit ›Konsensualismus‹ beschrieben werden: Eine hohe Christologie bereitet nämlich manchen ein großes Unbehagen, die den Dialog der ›abrahamitischen Religionen‹ fördern möchten und dabei in den christlichen Lehren der Trinität und Christologie ein Hindernis sehen. Diese Diskussionen gibt es schon seit ein paar Jahrzehnten, angestoßen von dem christlich-jüdischen Dialog nach 1945, und wird heute erweitert verhandelt im Trialog zwischen Christentum, Judentum und Islam.5 Zweitens geraten allgemein religiöse Lehren in die Kritik angesichts eines zunehmenden religiösen Fundamentalismus. Wenn eine Lehre zur Ideologie und wenn mit religiösen Ideen Gewalt legitimiert wird, wäre es dann nicht besser, gar keine religiösen Lehren verbindlich zu machen? In der Erforschung der Spätantike wird gegenwärtig beispielsweise kontrovers diskutiert, unter anderem angestoßen von den Thesen Jan Assmanns zum Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt,6 wie das Verhältnis von Christen zu Heiden in der Antike und Spätantike aussah. Vor allem Tempelzerstörungen durch Christen in der Spätantike stehen hier im Blickpunkt.7 5 Dieses weite Thema kann hier nur angerissen werden; vgl. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie (UTB 3911), Tübingen 2013, 223–240; ferner Heino M. Sonnemanns: Dialog der Religionen. Wege und Ziele, Differenz und Einheit, Bonn 2005; Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012; vgl. auch ders.: »Christologie im Kontext der Religionstheologie«, in: MThZ 60 (2009), 42–50. Wenn in diesem Zusammenhang auf den ›Arianismus‹ als ein quasi ›christologiefreies‹ Christentum verwiesen wird, in dem auch die Wurzeln des Islam zu finden seien (Karl-Heinz Ohlig: »Das syrische und arabische Christentum und der Koran«, in: ders. [Hg.]: Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin [2005] 22006, 366–404; ders. [Hg.]: Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007), so liegt hier nicht nur eine eigenwillige Deutung der Anfänge des Islams vor (vgl. Tilmann Nagel: Mohammend. Leben und Legende, München 2008, bes. 835f. und 899), sondern auch des ›Arianismus‹: Erstens gab es keine Anhänger eines ›Arianismus‹ im 6. und 7. Jh. mehr, und zweitens vertrat Arius durchaus eine Präexistenz-Christologie mit Christus als einen zweiten, dem Vater untergeordneten Gott, als Gottes vornehmstes Geschöpf und Mittler aller übrigen Schöpfung. 6 Relevant sind folgende seiner Schriften, an denen sich diese Debatte entzündet hatte: Jan Assmann: Moses, der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien 1998; ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000; ders.: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003; ders.: »Monotheismus und die Sprache der Gewalt«, in: Peter Walter (Hg.): Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (Quaestiones disputatae 216), Freiburg/Basel/Wien 2005, 18–38; und Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kampf der Monotheismen, Frankfurt/M. 2007. Da diese ›Ismen‹ sich durchaus auch widersprechen wie ›Relativismus‹ und ›Fundamentalismus‹, zeigt sich, wie plural bzw. widersprüchlich unsere Gegenwart ist. 7 Das Thema wurde vor allem aufgegriffen von Johannes Hahn: Gewalt und religiöser Konflikt.

18

Uta Heil

Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass eine Religion eine kritische Reflexionsebene benötigt, damit sie nicht zur Ideologie wird. Könnte man die altkirchliche Lehrbildung als genau solch eine kritische Reflexionsebene der biblischen Überlieferungen verstehen? Handelt es sich bei den altkirchlichen Dogmen dann nicht um eine Last, sondern um einen Schatz, eine Art thesaurus ecclesiae, um diesen Begriff hier zweckzuentfremden? Es ist ja durchaus eine Besonderheit, dass eine Religion überhaupt eine Lehre ausgebildet und ihre eigene (biblische) Überlieferung in dieser Form durchdrungen hat. Man könnte überdies auch die These vertreten, dass angesichts des modernen ›Pluralismus‹ und ›Relativismus‹ in den altkirchlichen Bekenntnissen ein unaufgebbarer fester Kernbestand christlicher Lehre oder christlicher Identität vorliege, an den man sich noch orientieren könne: eine Art consensus quinque saecularis, um einen Begriff des Helmstedter Theologen Georg Calixt aus dem 17. Jahrhundert aufzugreifen8 – zudem gerade das Nizänum der einzige Text oder das einzige Bekenntnis ist, auf das sich alle christlichen Konfessionen verständigen können.9 Bevor man also diesen Text als vormodern allzu schnell ignorieren oder durch einen neuen ersetzen möchte,10 sollte man sich die ökumenischen Konsequenzen bewusst machen. Außerdem stecken grob gesprochen 400 Jahre des Nachdenkens in den theologischen Erklärungen von Nizäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431 und Chalcedon 451 wie in einem Kondensat. Es Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.) (Klio Beihefte), Berlin 2004; ders. (Hg.): From Temple to Church: Destruction and Renewal of Local Cultic Topography in Late Antiquity (Religions in the Graeco-Roman World 163), Leiden/Boston 2008; ders.: »Die Herausforderung der antiken Stadt in der Spätantike – Christentum, urbane Sakraltopographie und religiöse Gewalt«, in: Jörg Oberste (Hg.): Pluralität – Konkurrenz – Konflikt. Religiöse Spannungen im städtischen Raum der Vormoderne (Studien Forum Mittelalter 8), Regensburg 2013, 11–30. 8 Vgl. Johannes Wallmann: »Calixt, Georg«, in: TRE 7, Berlin/New York 1981, 552–559; Andreas Markt: Das patristische Prinzip. Eine Studie zur theologischen Bedeutung der Kirchenväter (Vigiliae Christianae Supplements 58), Leiden/Boston/Köln 2001, bes. 96–117; Christoph Böttinger: »Das Unionskonzept des Helmstedter Irenikers Georg Calixt (1586– 1656)«, in: Harm Klueting (Hg.): Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert (Hildesheimer Forschungen 2), Hildesheim 2003, 55–70. 9 Natürlich unter Absehung des Streits um das filioque, der aus den Differenzen zwischen der kappadokischen und der augustinischen Trinitätslehre rührt und seit dem Schisma von 1054 zwischen Ost- und Westkirche noch immer ein Streitpunkt bildet; vgl. Bernd Oberdorfer : Filioque. Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 96), Göttingen 2001; Peter Gemeinhardt: Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter (AKG 82), Berlin/New York 2002; Michael Böhnke (Hg.): Die filioque-Kontroverse. Historische, ökumenische und dogmatische Perspektiven 1200 Jahre nach der Aachener Synode (Quaestiones disputatae 245), Freiburg 2011; Anthony Edward Siecienski: The filioque. History of a Doctrinal Controversy, Oxford 2010. 10 Dazu vgl. S. 38f.

Kontingenz und Varianz

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ist überaus lehrreich, sich intensiver mit den Texten der Zeit zu beschäftigen und nachzulesen, was schon so alles gedacht und überlegt – aber auch wieder verworfen wurde. Damit ist das erste Stichwort des Titels erreicht: ›Kontingenz‹.

2.

Kontingenz

Heute ist mehr denn je11 erkannt, wie viele Zufälle bei der Genese der Trinitätslehre und der Christologie eine Rolle gespielt haben; die kontingenten Entstehungsumstände dieser Lehren sind unübersehbar. Hier hat die Forschung der letzten Jahrzehnte einiges geleistet. Viele Häretiker wurden akademisch rehabilitiert und diverse ›Ismen‹ wie ›Arianismus‹12 oder ›Nestorianismus‹13 oder auch ›Pelagianismus‹14 wurden dekonstruiert. Detailforschungen zu den Synoden, Protagonisten und Korrespondenzen haben viele Klärungen gebracht und wieder neue Probleme aufgeworfen. Bei Lichte besehen lässt sich oft nicht anders schlussfolgern, als dass es auch hätte anders kommen können. Drei kurze Beispiele mögen das demonstrieren:

2.1

Die Homöer

Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeiten, dass wir heute alle Homöer wären. Bei den Homöern handelt es sich um einen Kompromissversuch, der chronologisch ungefähr in die Mitte des sogenannten ›arianischen Streits‹ um 11 Das ist grundsätzlich keine neue Erkenntnis der letzten Jahre, sondern seit dem Aufkommen der historischen Bibelwissenschaften und der Dogmengeschichte ist die historische Genese und damit Zufälligkeit der Gegebenheiten bekannt. Verwiesen sei auf die alte Lessing’sche Frage, wie zufällige Geschichtswahrheiten ewige Vernunftwahrheiten sein können: Gotthold Ephraim Lessing: »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« (1777), in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 13, Leipzig 1897, 1–8, hier: 5: »Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können den Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.« Vgl. dazu auch unten Anm. 31 und 32. Der Forschungsfortschritt, besonders die Forschungen zu den sogenannten Häretikern, haben die Evidenz dieser Einsicht noch verstärkt. 12 Vgl. Winrich Löhr : »Arius Reconsidered«, in: ZAC 9 (2006), 524–560 und ZAC 10 (2007), 121–157; David Gwyn: The Eusebians. The Polemic of Athanasius of Alexandria and the Construction of the »Arian Controversy« (Oxford Theological Monographs), Oxford 2007. 13 Vgl. die Darstellung bei Frances M. Young: From Nicaea to Chalcedon. A Guide to the Literature and Its Background, London 22010, 275–298, und die provozierende Studie von Hans van Loon: The Dyophysite Christology of Cyril of Alexandria (Supplements to Vigiliae Christianae 96), Leiden/Boston 2009. 14 Winrich Löhr : Pelagius – Portrait of a Christian Teacher in Late Antiquity (The Alexander Souter Memorial Lectures 1), University of Aberdeen 2007; ders.: »Pelagius«, in: RAC 27 (2015), 1–26.

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die Trinitätslehre im vierten Jahrhundert fällt.15 Dann stünde eventuell nicht das Nizänum im Gesangbuch, sondern die Erklärung von Rimini aus dem Jahr 359 oder die von Konstantinopel aus dem Jahr 360:16 »Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, aus dem alles ist, und an den einziggeborenen Sohn Gottes, der vor allen Zeiten und vor allem Anfang aus Gott gezeugt wurde, durch den alles wurde, das Sichtbare und das Unsichtbare, der aber als Einziggeborener gezeugt wurde, als einziger aus dem einzigen Vater, Gott aus Gott, der dem Vater, der ihn gezeugt hat, gemäß den Schriften gleich ist, dessen Zeugung niemand kennt als allein der Vater, der ihn gezeugt hat. Wir wissen, dass dieser einziggeborene Sohn Gottes gesandt vom Vater aus den Himmeln gekommen ist, wie geschrieben steht, zur Beseitigung der Sünde und des Todes, und dass er, was das Fleisch betrifft, aus dem heiligen Geist und der Jungfrau Maria geboren wurde, wie geschrieben steht, mit seinen Jüngern lebte, und als die ganze Heilsordnung nach dem Willen des Vaters erfüllt war, gekreuzigt wurde, starb, begraben wurde, in die Unterwelt hinabstieg, vor dem der Hades selbst erschauderte, der auch von den Toten am dritten Tag auferstand, mit seinen Jüngern lebte und nach 40 Tagen in die Himmel aufgenommen worden ist, zur Rechten des Vaters sitzt und am letzten Tag der Auferstehung in der Herrlichkeit seines Vaters zurückkommen wird, um jeden nach seinen Taten zu vergelten. Und wir glauben an den heiligen Geist, den der Einziggeborene, der Sohn Gottes, Christus, der Herr und unser Gott, selbst versprach, dem Menschengeschlecht als Beistand zu schicken, nach dem, was geschrieben steht: ›der Geist der Wahrheit‹, und den er ihnen schickte, als er in die Himmel auffuhr.«17 15 Zu den Homöern allg. vgl. Hanns Christof Brennecke: Hilarius von Poitiers und die Bischofsopposition gegen Konstantius II. Untersuchungen zur dritten Phase des Arianischen Streites (337–361) (Patristische Texte und Studien 26), Berlin 1984, bes. 337–361; ders.: Studien zur Geschichte der Homo¨ er. Der Osten bis zum Ende der homöischen Reichskirche (Beiträge zur historischen Theologie 73), Tübingen 1988; Winrich Alfried Löhr : Die Entstehung der homöischen und homöusianischen Kirchenparteien. Studien zur Synodalgeschichte des vierten Jahrhunderts (Bonner Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte 2), Bonn 1986; Uta Heil: »The Homoians«, in: Guido M. Berndt/Roland Steinacher (Hg.): Arianism: Roman Heresy and Barbarian Creed, Farnham, UK/Burlington, VT 2014, 85–115. 16 Die Quellentexte sind zu finden in: Athanasius Werke. Dritter Band: Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites. 4. Lieferung: Bis zum Tomus ad Antiochenos (362), hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften v. Hanns Christof Brennecke/Annette von Stockhausen/Christian Müller/Uta Heil/Angelika Wintjes, Berlin/ Boston 2014 (im Folgenden zitiert als AW). Die relevanten Quellen zu den Homöern sind die Synodaltexte der Doppelsynode von Rimini und Seleucia von 359 und der Nachfolgesynode von Konstantinopel 360: Dok. 59.1–11 (Synode von Rimini 359); Dok. 60.1–2 (Synode von Seleucia 359) und Dok. 62.1–6 (Synode von Konstantinopel 360). 17 Dok. 62.6,1–4 (AW III, 550–552 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes): Piste}olem eQr 6ma he¹m pat]qa pamtojq\toqa, 1n ox t± p\mta, ja· eQr t¹m lomocem/ uR¹m toO HeoO t¹m pq¹ p\mtym aQ~mym ja· pq¹ p\sgr !qw/r cemmgh]mta 1j toO HeoO, di’ ox t± p\mta 1c]meto, t± bqat± ja· t± !|qata, cemmgh]mta d³ lomocem/, l|mom 1j l|mou toO patq|r, He¹m 1j HeoO, floiom t` cemm^samti aqt¹m patq· jat± t±r cqav\r, ox tµm c]mmgsim oqde·r oWdem eQ lµ l|mor b cemm^sar aqt¹m pat^q. toOtom oUdalem lomocem/ HeoO uR¹m p]lpomtor toO patq¹r paqace-

Kontingenz und Varianz

21

Wir würden also nicht von dem einen Wesen des Vaters und des Sohnes reden, sondern davon, dass der Sohn dem Vater gleich sei, woraus sich der in der Forschung gebräuchliche Name ›Homöer‹ (griech. floior = gleich) ableitet. Die Homöer unterschieden offensichtlich zwischen Aspekten des Glaubens (piste}olem) – gemeint sind die Trinitätslehre und Präexistenzvorstellungen, über die der Mensch keine direkte Erkenntnis habe – und Aspekten des Wissens (oUdalem), worüber die Bibel genauere Auskunft gebe – das sind Menschwerdung, Leiden, Sterben und Auferstehung –, eine durchaus interessante Hermeneutik und Erkenntnislehre. Auf dieser Basis wurde empfohlen, in trinitätstheologischen Aussagen philosophische Begriffe wie ›Wesen‹ und ›Hypostase‹ sowie dementsprechende Definitionen zu vermeiden: »Es wurde beschlossen, die Bezeichnung ›Wesen‹, die von den Vätern allzu einfältig benutzt wurde, vom Volk aber nicht verstanden wird und, weil die Schriften diesen nicht enthalten, Anstoß erregte, abzuschaffen und künftig nicht mehr zu erwähnen, weil die göttlichen Schriften nirgends von dem Wesen des Vaters und des Sohnes sprechen. Auch darf die Bezeichnung ›Hypostase‹ für den Vater, den Sohn und den heiligen Geist nicht verwendet werden. Wir nennen aber den Sohn dem Vater gleich, wie es die heiligen Schriften sagen und lehren.«18

Kaiser Constantius II., einer der Söhne Konstantins, der 351 Alleinherrscher geworden war, hatte diesen Kompromiss auf einer mit sehr großem Aufwand betriebenen Doppelsynode in Rimini und Seleucia im Jahr 359/360 durchgesetzt. Er verstarb jedoch schon gut ein Jahr später am 3. November 361, und der nachfolgende Usurpator Julian, der noch einmal das Heidentum bzw. den ›Hellenismus‹ revitalisieren wollte, folgte ihm auf den Thron.19 In den zwei cem/shai 1j t_m oqqam_m, ¢r c]cqaptai, 1p· jatak}sei t/r "laqt_ar ja· toO ham\tou, ja· cemmgh]mta 1j pme}lator "c_ou ja· Laq_ar t/r paqh]mou t¹ jat± s\qja, ¢r c]cqaptai, ja· !mastqav]mta let± t_m lahgt_m ja· p\sgr t/r oQjomol_ar pkgqyhe_sgr jat± tµm patqijµm bo}kgsim stauqyh]mta ja· !poham|mta ja· tav]mta ja· eQr t± jatawh|mia jatekgkuh´mai, fmtima ja· aqt¹r b Ædgr 5ptgnem, fstir ja· !m]stg !p¹ t_m mejq_m t0 tq_t, Bl]qô ja· di]tqixem let± t_m lahgt_m ja· pkgqyheis_m tessaq\jomta Bleq_m !mek^vhg eQr to»r oqqamo»r ja· jah]fetai 1m deniø toO patq|r, 1keus|lemor 1m t0 1sw\t, Bl]qô t/r !mast\seyr 1m t0 patqij0 d|n,, Vma !pod` 2j\st\ jat± t± 5qca aqtoO. [Piste}olem] ja· eQr t¹ ûciom pmeOla, fpeq aqt¹r b lomocemµr toO HeoO uR¹r b Wqist|r, b j}qior ja· b He¹r Bl_m, 1pgcce_kato p]lpeim t` c]mei t_m !mhq~pym paq\jkgtom, jah\peq c]cqaptai, t¹ pmeOla t/r !kghe_ar, fpeq aqtoi˜r 5pelxem, fte !m/khem eQr to»r oqqamo}r. 18 Dok. 62.6,5 (AW III, 552 Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes): T¹ d³ emola t/r oqs_ar, fpeq "pko}steqom rp¹ t_m pat]qym 1met]hg, !cmoo}lemom d³ toi˜r kaoi˜r sj\mdakom 5veqe, di|ti lgd³ aR cqava· toOto peqi]wousim, Eqese peqiaiqeh/mai ja· pamtek_r lgdel_am lm^lgm toO koipoO to}tou c_meshai, 1peid^peq ja· aR hei˜ai cqava· oqdal_r 1lmgl|meusam peq· oqs_ar patq¹r ja· uRoO. Ja· c±q oqd³ ave_kei rp|stasir peq· patq¹r ja· uRoO ja· "c_ou pme}lator amol\feshai. floiom d³ k]colem t` patq· t¹m uR|m, ¢r k]cousim aR hei˜ai cqava· ja· did\sjousim. Vgl. dazu auch unten S. 28–31. 19 Vgl. Timothy Barnes: Athanasius and Constantiu Theology and Politics in the Constantinian Empires, Cambridge, Mass./London 1993, 227; ferner Meredith Anthony : »Poryphy and

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Jahren seiner Herrschaft zerbrach der homöische Konsens; die Kritiker konnten sich formieren, da Julian alle Urteile und Exilierungen unter Constantius II. aufgehoben hatte.20 Gerade diese Jahre waren der Auftakt zu neuen Diskussionen und Synoden, die schlussendlich in den sogenannten neunizänischen (vgl. Kap. 2.2.) Kurs am Ende der 370er Jahre mündete. Nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass auch die konvertierten Westgoten, Ostgoten, Burgunder und Vandalen ebenfalls zunächst Homöer waren,21 wird sichtbar, dass es auch hätte anders kommen können. Aber die Zeit der Homöer ging vorbei und die Nizäner schrieben Geschichte – und das ist wörtlich zu nehmen: Die Sieger bestimmten das Geschichtsbild und damit auch das Bild von den Homöern, die eben keine ›Arianer‹ waren, wie es dann polemisch dargestellt wurde.

2.2

Das Nizäno-Konstantinopolitanum

Ein zweites Beispiel: Die erfolgreiche, dann als rechtgläubig angesehene theologische Position wird in der Forschung Neu-Nizänismus genannt.22 Das ist Julian Against the Christians«, in: ANRW 2 Principat 23/2: Religion: Vorkonstantinisches Christentum: Verhältnis zu Römischem Staat und Heidnischer Religion, hg. v. Wolfgang Haase, Berlin 1980, 1119–1149; Adolf Lippold: »Iulianus I.«, in: RAC 19, Stuttgart 2001, 442–483; Klaus Rosen: Julian. Kaiser, Gott und Christenhasser, Stuttgart 2006; Theresa Nesselrath: Kaiser Julian und die Repaganisierung des Reiches. Konzept und Vorbilder, Münster 2013. 20 Vgl. u. a. Historia Athanasii 3,2f. (SChr 317, 150,5–11 Martin/Albert). 21 Uta Heil: Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder (Patristische Texte und Studien 66), Berlin/Boston 2011; G.M. Berndt/R. Steinacher (Hg.): Arianism. Roman Heresy and Barbarian Creed; Knut Schäferdiek: »Germanenmission«, in: RAC 10, Stuttgart 1978, 492–548; ders.: »Der gotische Arianismus«, in: ThLZ 129 (2004), 587–594. 22 Zum neuzeitlichen, wohl auf Friedrich Loofs zurückgehenden Begriff »Neunizänismus« vgl. Christoph Markschies: »Was ist lateinischer ›Neunizänismus‹? Ein Vorschlag für eine Antwort«, in: ZAC 1 (1997), 73–95, bes. 73–78. Die Bezeichnung weist auf eine seit langem geführte Debatte über den Zusammenhang zwischen Alt- und Neunizänismus hin: Setzen die ›Neunizäner‹ den ›Altnizänismus‹ des Athanasius, erweitert um die dritte Person des heiligen Geistes, fort (traditionelle These)? Oder sind sie von den sogenannten Homöusianern herzuleiten, so dass sich dann eigentlich die subordinatianische Drei-Hypostasen-Lehre durchgesetzt habe (Zahn-Harnack’sche Hypothese)? Liegt aber der Sinn des Neunizänismus nicht gerade darin, diesen Subordinatianismus zu vermeiden, so dass doch ein größerer Zusammenhang zwischen Alt- und Neunizänern bestehe (Adolf Martin Ritter : Das Konzil von Konstantinopel und sein Symbol [FKDG 15], Göttingen 1965; Volker Henning Drecoll: »Wie nizänisch ist das Nicaeno-Constantinopolitanum?«, in: ZKG 10 [1996], 1–18)? Oder sollte man Neunizänismus besser als Ausgleich zwischen Homöusianern und Homousianer/ Altnizänern verstehen (Luise Abramowski: »Was hat das NC mit dem Konzil von Konstantinopel 381 zu tun?«, in: Theologie und Philosophie 67 [1992], 481–513; Reinhart Staats: »Die römische Tradition im Symbol von 381 [NC] und seine Entstehung auf der Synode von Antiochien 379«, in: VigChr 44 [1990], 209–221)? Unverkennbar ist aber auch, dass einige ehemalige Homöer einen wichtigen Anteil an den Neunizänern bildeten (Hanns Christof

Kontingenz und Varianz

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insofern korrekt, als das Nizänum von 325 zum Bezugspunkt für Orthodoxie wurde. Darum wird das Bekenntnis von Konstantinopel 381 auch korrekter als Nizäno-Konstantinopolitanum (NC) bezeichnet. Allerdings ist dieser Text bis heute ein Rätsel, und es kommen zur geschichtlichen Kontingenz noch Überlieferungsprobleme hinzu: Es ist bis heute nicht geklärt, woher dieser Text stammt. Bekannt ist, dass das NC erst in den Akten der Synode von Chalcedon im Jahr 451 als »Symbol der 150 Väter« auftaucht;23 es besteht also eine Überlieferungslücke von 70 Jahren! Daher gibt es viele Thesen und Spekulationen über die Herkunft des NC. In der Forschung der letzten Jahre haben die Einschätzungen von Adolf Martin Ritter dominiert: Er betrachtet es als ein geplantes Unionssymbol für die Einigungsverhandlungen mit den Pneumatomachen (›Geistbekämpfern‹) auf der Synode von Konstantinopel im Jahr 381. Als die Verhandlungen scheiterten, sei der Text dann zwar nicht mehr beachtet worden, habe aber als lokales Taufbekenntnis von Konstantinopel später seine Wirkung entfaltet. Wolf Dieter Hauschild dagegen versteht dieses Symbol als einen Text, der tatsächlich zum heute verloren gegangenen Rundbrief der Synode von 381 gehört hatte. Prominent ist auch die These von Reinhart Staats: Das NC sei zwar ursprünglich im Rundbrief der Synode von 381 enthalten gewesen, stamme aber wahrscheinlich von einer Vorgängersynode in Antiochia 379.24 Im Rahmen des Erlanger und Wiener Forschungsprojekts zur Edition der Dokumente zum arianischen Streit entwickeln wir gerade eine neue These: Es könnte gut sein, dass dieser Text gar nicht zur Synode von Konstantinopel von 381, sondern zur nachfolgenden Synode von Konstantinopel von 383 gehört. Auf dieser Synode wurde nämlich noch einmal länger über den rechten trinitarischen Glauben diskutiert; es kam zu einer Brennecke: »Erwägungen zu den Anfängen des Neunizänismus«, in: Damaskinos Papandreou/Wolfgang A. Bienert/Knut Schäferdiek [Hg.]: Oecumenica et Patristica (FS W. Schneemelcher), Chamb8sy-Genf 1989, 241–257). 23 Das Nizäno-Konstantinopolitanum steht in den griechischen Akten der dritten Sitzung (NC1: Actio 3, Nr. 14 [ACO 2,1,2, 80,1–16 Schwartz]) sowie in den Akten der fünften Sitzung der Synode (NC2: Actio 5, Nr. 33 [ACO 2,1,2, 128,1–14 Schwartz]); die Fassungen unterscheiden sich insofern, als meist NC2 einige Kürzungen hat. Vgl. dazu jetzt Volker Henning Drecoll: »Die Edition des Textes des Nicaeno-Constantinopolitanums in den Konzilsakten durch Schwartz«, in: Uta Heil/Annette von Stockhausen (Hg.): Crux interpretum. Ein kritischer Rückblick auf das Werk von Eduard Schwartz (TU 176), Berlin/Boston 2015, 111–127. Es gibt noch drei Zitationen in den lateinischen Akten (Actio 3, 5 und 6) sowie weitere Zitationen in Florilegien-Handschriften und in der syrischen kanonistischen Überlieferung sowie Überlieferungen auf Papyri (P. Köln I 48, 5. Jh.: J. Kramer, »Symbolum NicaenoConstantinopolitanum [P.Colon.inv. 684]«, in: ZPE 1 [1967], 131–132; P.Oxy. XVI 1784, 5. Jh.) und Ostraka. Vgl. dazu AW III Dok. 97.2 Pisti der »150 Väter« (in Druckvorbereitung für die sechste Lieferung für : Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites [vgl. oben Anm. 16]) sowie unten Anm. 58. 24 Vgl. zu diesen Thesen die Literaturangaben in Anm. 22 sowie Wolf Dieter Hauschild: »Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis«, in: TRE 25 (1994), 444–456.

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Disputation in mehreren Etappen, auf der in einem letzten Schritt des Einigungsversuchs ein Vertreter jeder Gruppe eine eigene theologische Erklärung vorlegen sollte. Wahrscheinlich ist das sogenannte ›Bekenntnis der 150 Väter‹ der für diesen Anlass von Nektarius von Konstantinopel vorgelegte Text. Es gibt nämlich einen dementsprechenden Bericht in der Kirchengeschichte des Sokrates, der folgendes schildert: »Als der Kaiser ihre verwirrte Zerstreuung erkannte und dass sie nur auf Dialektik und nicht auf die Darlegung der Alten ihr Vertrauen setzten, ging er zu einer zweiten Methode über und eröffnete, dass eine jede Religionsgruppe ihm schriftlich ihre Glaubensdefinition bekannt mache, die sie hat. Damals verschriftlichten diejenigen die eigene Lehre, die bei einer jeden fähig waren, die Worte genau zu formulieren. Es wurde ein Tag festgesetzt und die Bischöfe einer jeden Gruppe wurden in den Kaiserpalast gerufen und erschienen zusammen. Es waren also Nektarius und Agelius als Vorsteher des wesenseinen Glaubens anwesend, von den Arianern Demophilus, von den Eunomianern Eunomius selbst, und von denen, die wie Makedonius dachten, Eleusius von Cyzicus. Der Kaiser empfing die Zusammengekommenen und, nachdem er die Lehre von jedem schriftlich empfangen hatte, betete, als er allein war, flehentlich, Gott möge ihm helfen bei der Auswahl der Wahrheit.«25

Ferner sind zwei weitere theologische Erklärungen überliefert (von Eunomius und Wulfila26), die eindeutig in diesen Rahmen gehören und parallele Texte der anderen Gruppen verkörpern. So wäre eine stimmige Entstehungssituation des Textes gefunden und seine Verbindung mit Konstantinopel doppelt erklärt: Es handelt sich dann um einen Text des Bischofs von Konstantinopel, vorgelegt auf einer Synode von Konstantinopel, allerdings nicht im Jahr 381, sondern im Jahr 383. Auf der Synode zwei Jahre zuvor im Jahr 381 ging es eigentlich nur darum, das Nizänum zu etablieren; der bedeutende Text im Jahr 381 war also das Nizänum, nicht NC. Dieser andere Text, das NC, wahrscheinlich von Nektarius von Konstantinopel verfasst, ist dementsprechend als Auslegung des Nizänums zu verstehen bzw. wurde dann als Auslegung des Nizänums betrachtet. So wäre es eine historische Zufälligkeit, dass wir heute neben dem Nizänum auch das NC überhaupt haben. 25 Socr., h.e. V 10,21–25 (GCS Sokrates, 284,11–23 Hansen): Cmo»r d³ b basike»r tµm sucjewul]mgm aqt_m diaspoq\m, ja· ¢r diak]nei l|m, ja· oqj !qwa_ym 1jh]sei tehaqq^jasim, 1p· deut]qam cm~lgm 1b\difem, ja· dgkoi˜ 5ccqavom 2j\stgm hqgsje_am cmyq_feim t¹m fqom aqt` Hr 5wousim p_steyr. T|te oR paq’ 2j\stoir deimo· t±r k]neir !jqiboOm t¹ oQjei˜om d|cla 1m]cqavom. ®qist| te Bl]qa, ja· oR paq’ 2j\stoir 1p_sjopoi 1p· t± bas_keia jkgh]mter sum^qwomto. Paq/sam owm Mejt\qior l³m ja· )c]kior t/r bloous_ou pqoest_ter p_steyr, )qeiam_m d³ Dgl|vikor, Eqmoliam_m d³ aqt¹r Eqm|lior, t_m d³ t± Lajedom_ou vqomo}mtym 9ke}sior b Juf_jou. j d³ basike»r d]wetai l³m to»r sumekgkuh|tar, ja· t¹ paq’ 2j\stou d|cla 5ccqavom kab~m, jah’ 2aut|m te cem|lemor gunato 1jtem_r sumeqc/sai aqt` t¹m He¹m pq¹r tµm t/r !kghe_ar 1pikoc^m. 26 Zur theologischen Erklärung von Wulfila vgl. S. 30.

Kontingenz und Varianz

2.3

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Der christologische Streit

Ein drittes Beispiel der Kontingenzen, um nicht zu sagen, der Merkwürdigkeiten, ist folgende Tatsache: In den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Cyrill von Alexandrien und Nestorius von Konstantinopel um Maria als ›Gottesgebärerin‹, dem Auftakt des eigentlichen christologischen Streits, griff Cyrill auf einen Brief zurück, den er für einen Text des von ihm hochverehrten Vorgängers auf dem Bischofsstuhl von Alexandrien hielt, einen Brief des Athanasius von Alexandrien an Kaiser Jovian. Wir wissen aber heute, dass es ein Pseud-Athanasianum ist, und zwar ein Brief des Apollinaris von Laodicaea. Genau darin steht jedoch der umstrittene Satz über die eine Natur des fleischgewordenen Logos: »Wir bekennen den Sohn Gottes, […] dass derselbe Sohn Gottes nach dem Geist, Sohn des Menschen nach dem Fleisch ist, nicht zwei Naturen hat der Sohn, eine verehrungswürdige und eine nicht verehrungswürdige, sondern eine Natur des fleischgewordenen Logos, die verehrt wird zusammen mit seinem Fleisch in einer Verehrung.«27

Cyrill verwendet den Brief mehrfach und verteidigt damit seine Position.28 Hier konnte ein Text eine große Wirkung entfalten, die sicher dazu beigetragen hatte, dass der christologische Streit in einer bis dahin nicht gekannten Heftigkeit geführt wurde. Der Zufall einer erfolgreichen Falschzuschreibung, wie auch immer sie zustande gekommen ist, hatte weitreichende Folgen. Cyrill fand in ihm den Väterbeweis für seine Rede von der hypostatischen oder physischen Einung (6mysir jah( rpºstasim. 6mysir vusij¶), wobei der nicht differenzierte Gebrauch von ›Natur‹ und ›Hypostase‹ die Diskussion noch komplizierter machte: »One large part of the problem was that Cyril used physis here in its antique sense as a concrete reality, suggesting ›individual subject‹, whereas the Antiochenes 27 Hans Lietzmann: Apollinaris von Laodicea und seine Schule. Texte und Untersuchungen, Tübingen 1904, 250–253, hier 250f.: blokocoOlem t¹m uR¹m toO heoO, […] ja· eWmai t¹m aqt¹m uR¹m heoO ja· he¹m jat± pmeOla, uR¹m d³ !mhq¾pou jat± s²qja, oq d¼o v¼seir t¹m 6ma uRºm, l¸am pqosjumgtµm ja· l¸am !pqosj¼mgtom, !kk± l¸am v¼sim toO heo» kºcou sesaqjyl´mgm ja· pqosjumoul´mgm let± t/r saqj¹r aqtoO liø pqosjum¶sei. Vgl. zu diesem Brief jetzt Volker Henning Drecoll: »Apollinarius, Ad Iovianum. Analyse und Bedeutung für die Apollinariuschronologie«, in: Silke-Petra Bergjan/Benjamin Gleede/Martin Heimgartner (Hg.): Apollinarius und seine Folgen (Studien und Texte zu Antike und Christentum 93), Tübingen 2015, 35–57. 28 Der Brief an Jovian wird in Cyrill, De recta fide ad Reginas bzw. Oratio ad Dominas (wohl 429 n. Chr.) fast vollständig zitiert (ACO 1,1,5, 62–118, darin 65,25–66,20 Schwartz), als erstes der vielen Väterzitate, die Cyrill heranzieht, um die Orthodoxie seiner Ansicht zu untermauern. Cyrill verwendet diesen Brief ebenfalls in seiner Verteidigung der Anathema 4 und 8 in seiner Apologia contra Orientales 431 (ACO 1,1,7, 44,20–25; 48,26–49,9 Schwartz). Vgl. auch die Aussage des Eustathius von Berytus auf dem Konzil von Ephesus 449 (ACO 2,1,1, 112,26–28 Schwartz): oq dei˜ toicaqoOm moei˜m d¼o v¼seir, !kk± l¸a v¼sim toO kºcou sesaqjyl´mgm, ja· ta¼tgm aqtoO tµm vymµm t0 toO lajaqiyt²tou )hamas¸ou 1beba¸ysem laqtuq¸ô.

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consistently read it in the technical Aristotelian sense of ›physically constituted nature‹ or ›defining natural qualities‹.«29 Damit ist nicht gesagt, dass Cyrill ohne diesen Brief des (Pseud-)Athanasius nichts an Nestorius auszusetzen gehabt hätte, aber das Vokabular dieses Briefes hat Cyrills extreme Formulierungen angeregt, die ihn für die Antiochener so unannehmbar gemacht hatten und Angriffsflächen boten. Diese drei Beispiele zeigen, dass die empfundene Last der altkirchlichen Dogmen eigentlich nicht in den Texten an sich liegt – es ist im Gegenteil spannend, die Hintergründe zu erforschen –, sondern in deren ihnen später zugeschriebenen Verbindlichkeit: Wie kann ein zufällig erreichter relativer Konsens auf einer Synode aus dem 4. und 5. Jahrhundert eine ewige Glaubenswahrheit ausdrücken, wenn man nicht einfach so argumentieren möchte, dass das, was sich durchgesetzt hat, schon richtig gewesen sein wird? Oder kann man einfach auf die Fügung Gottes und die Lenkung durch den Heiligen Geist verweisen, also heilsgeschichtlich argumentieren bzw., wie es Joest formuliert, es als Entscheidungen ansehen, »in die die Kirche durch die redende Schrift geführt wurde«, »durch die Anrede des durch die Schrift sich selbst bezeugenden Christus herausgefordert«?30 Dies ist uns heute m. E. jedoch verwehrt; eine erkannte historische Kontingenz lässt sich nicht durch ein Autoritätsargument oder eine Glaubensaussage überdecken. Die historische Forschung kann daher auch nicht zufällige Geschichtswahrheiten als ewige Vernunft- bzw. Glaubenswahrheiten erweisen, um eine Formulierung Lessings aufzugreifen.31 Nach der Epoche des Historismus ist außerdem eingesehen worden, dass nicht nur die Geschichte an sich kontingent ist, sondern auch unsere Erkenntnis von der Geschichte.32 So gesehen gibt es also 29 John A. McGuckin: St. Cyril of Alexandria. The Christological Controversy : Its History, Theology, and Texts, New York 2004, 209. Vgl. zu Cyrills Terminologie der Einung Torsten Krannich: »Cyrill von Alexandrien und die Unionsformel von 433 n. Chr.«, in: ZAC 9 (2006), 566–583. 30 Zu lesen bei Wilfried Joest/Johannes von Lüpke: Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes (UTB 1336), Göttingen 52010, 82f.: »Wir werden dann im Geschehen von Bekenntnis vielmehr den Ausdruck lebendiger Erfahrungen und Entscheidungen sehen, in die die Kirche durch die redende Schrift geführt wurde. Das Bekenntnis will nicht als kirchliche Lehre verstanden sein, die biblische Lehre kommentierend überlagert und damit irgendwie ersetzt. Es will verstanden sein als Antwort, zu der die Glaubensgemeinschaft an entscheidenden Wegmarken ihrer bisherigen Geschichte durch die Anrede des durch die Schrift sich selbst bezeugenden Christus herausgefordert wurde.« Das Problem deuten Joest/von Lüpke selbst an (S. 82): »Nicht alles, was den formulierenden Theologen und rezipierenden Gemeinden eines früheren Jahrhunderts als schriftgemäß galt, muss auch in einer späteren Zeit noch als ebenso schriftgemäß gelten.« 31 Vgl. Anm. 11. 32 Vgl. als Überblick Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek bei Hamburg 1995; Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen

Kontingenz und Varianz

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keine Geschichtswahrheiten mehr.33 Trotzdem wird natürlich die historische Forschung weiter vorangetrieben und ist entgegen einer postmodernen Beliebigkeit nicht aufzugeben, auch wenn man nie erreicht, die Vergangenheit so zu beschreiben, »wie sie wirklich gewesen ist«;34 und es ist deutlich, dass es immer nur um Annäherungen geht, stets verbessert und erweitert durch neue Forschungen im Diskurs mit anderen Forschern. Insofern hat die historische Forschung einen Teil zum Thema des Beitrags geleistet: Sie hat die Kontingenz der Entwicklungen überdeutlich aufgedeckt, mehr als es damals den Teilnehmern bewusst gewesen ist. Sie kann aber noch einen weiteren Beitrag leisten, was mit dem zweiten Stichwort des Titels ausgedrückt werden soll: ›Varianz‹.

3.

Varianz

Das Stichwort bezieht sich auf die Verbindlichkeit der Texte. Im Unterschied zur Kontingenz, die heute offensichtlicher ist, als es den Teilnehmern damals war, gab es damals mehr Varianz, als heute angenommen wird: Wir weisen heute den Texten eine größere Verbindlichkeit zu, als sie damals tatsächlich hatten. Es ist überdies zu differenzieren: Es gab nicht die Lehre der Alten Kirche, oder die Christologie der Alten Kirche, zu finden in den vier ökumenischen Konzilien, sondern es wäre sinnvoller, von einer gestaffelten Normativität zu reden. Diese Hinweise sollen nicht in Frage stellen, dass die Auseinandersetzungen (Neuausgabe) 2007 und Lothar Kolmer : Geschichtstheorien (UTB 3002), Paderborn 2008. Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit der postmodernen Geschichtshermeneutik bei Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/New York 1998. Vgl. aus theologischer Sicht die Beiträge in den Sammelbänden: Wolfram Kinzig/Volker Leppin/Günther Wartenberg (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004; Ulrich Körtner (Hg.): Geschichte und Vergangenheit. Rekonstruktion – Deutung – Fiktion, Neukirchen 2007; Karl Tanner (Hg.): Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung, Trutz Rendtorff zum 24. 01. 2006 (Theologie – Kultur – Hermeneutik 9), Leipzig 2008; und auch Christoph Markschies: »Geschichte/Geschichtsauffassung VI. Kirchengeschichte«, in: RGG4 3 (2003), 789–791. 33 Das Problem stellt sich eigentlich noch schärfer, denn im Unterschied zu Lessing sind uns sowohl die Geschichtswahrheiten abhandengekommen als auch die ewigen Vernunftwahrheiten: Das Christentum auf einen Kern allen Menschen einsichtiger Grundwahrheiten zurückzuführen, ist nicht mehr möglich. 34 Eine Redewendung nach Leopold Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig (1824) 31885, Vorrede S. VII; vgl. dazu Christoph Markschies: »Vergangenheit Verstehen. Einige Bemerkungen zu neueren Methodendebatten in den Geschichtswissenschaften«, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Verstehen über Grenzen hinweg (Marburger Jahrbuch Theologie XVIII, MThS 94), Marburg 2006, 23–52, bes. 29f.

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damals brisant waren und synodale Entscheidungen eine hohe Bedeutung hatten. Immerhin wurden diese in die Reichsgesetzgebung aufgenommen, was für so manchen Bischof das Exil zur Konsequenz hatte.35 Seit Konstantin hatte sich im vierten Jahrhundert ein arbeitsteiliges Vorgehen etabliert: Der Kaiser beruft eine reichsweite Synode ein, um kirchliche Angelegenheiten verhandeln zu lassen; die Kirche bzw. die Bischöfe fassen auf einer Synode Beschlüsse, um sie vom Kaiser umsetzen zu lassen. Dennoch sind hier die genauen Details interessant, was anhand der bereits angeführten drei Beispiele erläutert werden soll.

3.1

Die Homöer

Der Kompromissvorschlag der Homöer war ein Versuch, einen Rahmen und eine Sprachregelung für trinitätstheologische Aussagen vorzugeben, ohne einen für alle verbindlichen Bekenntnistext vorzuschreiben. Ein erster Schritt dahin war ein Positionspapier einer vom Kaiser nach Sirmium einberufenen Arbeitsgruppe vom Herbst des Jahres 357. Darin heißt es: »Da offenbar manche Diskussionen über den Glauben (de fide disceptatio) aufgekommen sind, wurde in Sirmium unter Anwesenheit unserer außerordentlich heiligen Brüder und Mitbischöfe Valens, Ursacius und Germinius und den übrigen alles genau untersucht und erforscht (diligenter omnia tractata sunt et discussa).«36

Dementsprechend wird in dem Positionspapier anschließend angeführt, worüber man übereinstimme, was feststehe bzw. worüber keine Zweifel bestünden. Einiges wird jedoch eindeutig als falsche Lehre kritisiert und manches wird hinterfragt, weil man darüber keine Aussagen machen könne. Es wird also auf einer übergeordneten Ebene analysiert, worin die Probleme liegen, worüber am heftigsten gestritten werde und was Konsens sei, worauf man also aufbauen könne. Als Hindernis für eine theologische Übereinkunft wird die Usia-Terminologie benannt, die deswegen aus der theologischen Diskussion zu verbannen sei. Aufbauend auf diesen Analysen wird dann in der später formulierten theologischen Erklärung differenziert zwischen »wir glauben« und »wir wissen«.37 Genauere Aussagen über die Zeugung des Sohnes aus dem Vater, ob sie aus seinem Wesen geschah oder aus seinem Willen, über die Beschreibung der 35 Vgl. dazu die publizierten Forschungsergebnisse eines Projekts zum Thema »Clerical Exile«: Julia Hillner/Jörg Ulrich/Jacob Engberg (Hg.): Clerical Exile in Late Antiquity (Early Christianity in the Context of Antiquity 17), Frankfurt/M. u. a. 2016. 36 Das Positionspapier dieses Treffens in Dok. 51 (AW III, 376–379: Brennecke/von Stockhausen/Müller/Heil/Wintjes; aus Hil. syn. 11 [PL 10, 487–489]; eine griechische Übersetzung bei Ath., syn. 28,2–12 [AW II 256,25–257,27 Opitz]; Socr., h.e. II 30,31–41 [GCS Sokrates 144,15–146,6 Hansen]), das Zitat ist aus Dok. 51,1 (AW III, 376,1–377,3). 37 Vgl. S. 21.

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göttlichen Natur und des göttlichen Seins im Verhältnis zum Sohn, also über seine präexistente Entstehung und sein vorzeitliches Dasein, seien nicht möglich. Wohl sei der Sohn der Eingeborene, vor allen Zeiten aus Gott gezeugt, der Schöpfungsmittler und allgemein Gott gleich. Gegenstand des menschlichen Wissens sei alleine die Heilsordnung, die hier mit hauptsächlich biblischer Terminologie relativ ausführlich beschrieben wird. Hier begibt man sich auf sicheres Terrain und erstmals wird in einem Bekenntnis überhaupt diese Passage derart ausgeweitet. Es wird also betont und in den Vordergrund gestellt, was die Christen übereinstimmend vom Sohn wissen, wohl auch um die Differenzen etwas in den Hintergrund zu drängen und zu relativieren. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die theologischen Erklärungen, die in der Tradition der Homöer stehen, sich zwar an diesen Vorgaben orientieren, aber im Detail deutlich unterscheiden. Als Beispiele seien genannt: – Der Abschlusstext der Synode von Rimini von 359, wie er sich aus der Überlieferung teilweise rekonstruieren lässt, weicht besonders in dem heilsgeschichtlichen Abschnitt, der die Menschwerdung Christi bis zu seiner Wiederkehr als Richter benennt, stark von der Formel von Konstantinopel ab.38 – Die persönliche theologische Erklärung des Auxentius von Mailand, dem homöischen Vorgänger des bekannten Ambrosius, fällt ebenfalls anders aus, obwohl er sich auf die Synode und Tradition von Rimini explizit beruft (364/ 365 n. Chr.).39 38 Dok. 59.11 (AW III, 477–482); hier heißt es in Dok. 59.11,3 (AW III, 479,6–11): »Dieser stieg vom Himmel herab, wurde vom heiligen Geist empfangen, geboren aus der Jungfrau Maria, gekreuzigt von Pontius Pilatus; am dritten Tage ist er auferstanden; er sitzt zur Rechten des Vaters und wird kommen zu richten die Lebenden und die Toten.« / »qui de caelo descendit, conceptus est de spiritu sancto, natus ex Maria virgine, crucifixus a Pontio Pilato, tertia die resurrexit, sedet ad dexteram patris, venturus iudicare vivos ac mortuos.« 39 Michael Durst: »Das Glaubensbekenntnis des Auxentius von Mailand. Historischer Hintergrund – Textüberlieferung – Theologie – Edition«, in: JAC 41 (1998), 118–168 (Text aus Hilarius von Poitiers, Contra Auxentium 13–15), hier 161,20–162,36: »Ich habe geglaubt, und glaube an den einen, einzigen wahren Gott, Vater, welcher allmächtig, unsichtbar, leidenslos und unsterblich ist; und an seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, welcher vor allen Zeiten und vor allem Anbeginn geboren ist aus dem Vater, Gott, wahrer Sohn aus dem wahren Gott, dem Vater, wie es geschrieben steht im Evangelium: Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, erkennen, und den, welchen du gesandt hast, Jesum Christum. Denn durch ihn sind alle Dinge gemacht, die sichtbaren und die unsichtbaren; der herabgestiegen ist von den Himmeln nach dem Willen des Vaters um unserer Erlösung willen, und welcher geboren wurde von dem heiligen Geist und der Jungfrau Maria dem Fleisch nach, wie es geschrieben steht, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, und begraben worden ist, dass er am dritten Tage wieder auferstanden und hinaufgefahren ist in die Himmel, dass er zur Rechten des Vaters sitzt und kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. Ich glaube auch an den heiligen Geist, den Tröster, welchen der Herr und Gott, unser Erlöser, Jesus Christus, den Jüngern gesandt hat, den Geist der Wahrheit.« / »credidi et credo in unum solum verum Deum

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– Die theologische Erklärung des Bischofs der Goten, Wulfila, welche er auf der oben erwähnten Synode von Konstantinopel 383 vorgelegt hatte, bekam einen neuen Zuschnitt, der auf die aktuelle Debatte um den heiligen Geist bezogen ist.40 Die homöische Erklärung der Synode von Konstantinopel ist also nicht als ein verbindlich zu wiederholendes Bekenntnis zu verstehen, sondern als ein Vorbild und eine Richtschnur, wie im Falle eines Falles zu formulieren ist. Das erklärt die hohe Varianz in den überlieferten homöischen Glaubenserklärungen. Die Geschichte der Homöer zeigt auch, dass man sehr darum gerungen hat, wie überhaupt formal und technisch ein Konsens erreicht und durchgesetzt werden kann. Schon damals war deutlich, dass die Autorität und die Akzeptanz eines Textes nicht einfach so gegeben sind. Anhand des bisher Präsentierten ist es offensichtlich, dass hier vor allem die Synoden eine große Rolle gespielt haben. Auch die vier sog. ökumenischen Konzile sind ein deutlicher Hinweis darauf. Aber warum und wie erreicht welche Synode Autorität und Akzeptanz? Ein Weg war es, den breitestmöglichen Konsens zu erreichen, wie es Constanpatrem omnipotentem, invisibilem, impassibilem, immortalem. et in filium eius unigenitum, Dominum nostrum Iesum Christum, ante omnia saecula et ante omne principium natum ex Patre, Deum, verum filium ex vero Deo patre, secundum quod scriptum est in evangelio: haec est autem vita aeterna, ut cognoscant te solum verum Deum et quem misisti Iesum Christum [Joh 17,3]. per ipsum enim omnia facta sunt [Joh 1,3], visibilia et invisibilia [Col 1,16]. qui descendit de caelis voluntate Patris propter nostram salutem, natus de Spiritu sancto ex Maria virgine secundum carnem, sicut scriptum est, et crucifixum sub Pontio Pilato, sepultum, tertia die resurrexisse, ascendisse in caelis, sedere ad dexteram Patris, venturus iudicare vivos et mortuos. et in Spiritum sanctum paraclitum, quem misit Dominus et Deus noster salvator Iesus Christus discipulis, Spiritum veritatis.« 40 Text aus Roger Gryson: Scolies Ariennes sur le concile d’Aquil8e, introduction, texte latin, traduction et notes, Paris 1980, 250, vorgesehen als AW III Dok. 97.4: »Ich glaube, dass es einen einzigen Gott, Vater, gibt, allein ungeboren und unsichtbar, und an seinen einziggeborenen Sohn, unseren Herrn und Gott, Urheber und Schöpfer der sämtlichen Kreatur, der keinen hat, der ihm gleich ist – daher ist ein einziger Gott, Vater aller, der auch der Gott unseres Sohnes ist – und an den heiligen Geist, die erleuchtende und heiligende Kraft, wie Christus nach der Auferstehung zu seinen Aposteln sagt: [… Lk 24,49 und Apg 1,8 …], weder Gott noch unser Gott, sondern Diener Christi, […] dem Sohn in allem untergeben und gehorsam, und der Sohn auch in allem seinem Vater und Gott untergeben und gehorsam, […] der durch seinen Christus im heiligen Geist geordnet hat.« / »Credo unum esse deum patrem, solum ingenitum et invisibilem, et in unigenitum filium eius, dominum et deum nostrum, opificem et factorem universae creaturae, non habentem similem suum, – ideo unus est omnium deus pater, qui et dei nostri est deus, – et in unum spiritum sanctum, virtutem illuminantem et sanctificantem, ut ait Christus post resurrectionem ad apostolos suos: [Lk 24,49; Apg 1,8] nec deum nec deum nostrum, sed ministrum Christi […] subditum et oboedientem in omnibus filio, et filium subditum et oboedientem et in omnibus deo patrique suo […] per Christum eius in spiritu sancto ordinavit.« Vgl. dazu Knut Schäferdiek: »Ulfila und der sogenannte gotische Arianismus«, in: G.M. Berndt/R. Steinacher (Hg.): Arianism. Roman Heresy and Barbarian Creed, 21–44.

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tius II. mit dem homöischen Kompromiss versuchte. Von langer Hand vorbereitet wurde eine Kommission eingesetzt; diese organisierte eine Art Umfrage und sammelte wiederum die Ergebnisse ein, erstellte einen ersten Entwurf, versandte diesen erneut und revidierte ihn nach eingetroffener Kritik. Athanasius von Alexandrien echauffierte sich genau darüber, »denn was drängte so sehr, dass der Erdkreis in Verwirrung geriet und dass die, welche damals Kleriker genannt wurden, hin und her liefen und fragten, wie sie denn an unsern Herrn Jesus Christus glauben lernen sollten?«41 Er setzte als Spitze der Kritik hinzu, dass diese Kleriker sich irrten, wenn sie meinten, der christliche Glaube könne oder müsse auf diese Weise erst sondiert werden. So mündet seine Kritik darin, dass schließlich als letzte Vorfassung ein Text verschickt wurde, der mit einem Datum versehen war. Das war damals sicher auch als Absicherung gemeint, um sich auf die richtige Version eines Textes zu beziehen. Athanasius nutzt dies aber für eine theologische Polemik: Der christliche Glaube beginne für die Homöer offenbar erst mit dem 22. Mai 359!42 Diese außergewöhnlich umfangreichen Vorbereitungen sollten den breitesten Konsens sichern.43 Das Ziel war ja, das auf der Synode von Serdica 343 eingetretene reichsweite Schisma der Kirche zu überwinden. In der Folge war auch die Doppelsynode selbst die bis dahin größte synodale Veranstaltung. Allein an der Synode in Rimini 359 sollen mehr als 400 Bischöfe teilgenommen haben (Ath., syn. 8,1). Daraus entwickelte sich schließlich sogar ein quantitatives Argument für die Autorität und Akzeptanz einer Synode: 400 Bischöfe in Rimini waren eben mehr als 318 in Nizäa, daher sei die Synode von Rimini 359 bedeutender als die Synode von Nizäa 325. Athanasius hielt dagegen: Die Größe alleine zähle nicht.44 Schon durch die Häufigkeit der homöischen Synoden diskreditierten sie sich gegenseitig. Nur eine Synode zähle und sei die einzig wahre und richtige: die Synode von Nizäa von 325. Er wendet also in Bezug auf die Synoden das Traditionsargument an. Der Konsens und die Tradition von Nizäa sei das Entscheidende.

41 Ath., syn. 2,2 (AW II 232,10–12: Opitz): tosa}tgr sumdqol/r. t_ c±q tosoOtom Epeinem, ¦ste tµm oQjoul]mgm diataqawh/mai ja· to»r kecol]mour 1m t` jaiq` to}t\ jkgqijo»r diatq]weim %my ja· j\ty ja· fgtei˜m, p_r %qa l\hysi piste}eim eQr t¹m j}qiom Bl_m YgsoOm Wqist|m. 42 Ath., syn. 3f. 43 Die Schritte zum Konsens waren, grob vereinfacht: Kommission (Sirmium 357); Strategiepapier ; Umfragen; Synode (Sirmium 358); Überarbeitung; Synode (Sirmium 359); Überarbeitung; Doppelsynode: Rimini – Seleucia 359; Delegationen nach Konstantinopel; Synode in Konstantinopel 360; reichsrechtliche Umsetzung. Vgl. dazu AW III Dok. 51; 54–62. Zu den Homöern vgl. Anm. 15. 44 Ath., syn. 33.

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3.2

Das Nizäno-Konstantinopolitanum

Aber auch bei den Nizänern gab es eine deutlich erkennbare ›Varianz‹. Schon das Nizäno-Konstantinopolitanum selbst zeigt, dass das Nizänum zwar relevant war als Bezugspunkt (wenigstens für diejenigen, die sich darauf beziehen wollten), dass aber trotzdem daneben individuelle theologische Erklärungen formuliert wurden. Auch wenn das Nizänum schließlich als Maßstab für die Rechtgläubigkeit schlechthin galt, gab es also trotzdem noch ein hohes Maß an Varianz innerhalb dieses dogmengeschichtlich sogenannten ›Neunizänismus‹. Eine Berufung auf das Nizänum gab es meist mit einer Interpretation; dabei wurde es durchaus auch unterschiedlich ausgelegt. Der Brief der Synode von Konstantinopel 382 an die Synode von Rom zitiert z. B. nicht einfach das Nizänum, sondern referiert es kurz kommentierend mit zusätzlichen Hinweisen auf den heiligen Geist und die neue Differenzierung zwischen ›Wesen‹ und ›Hypostase‹: »Dieser [Glaube von Nizäa] lehrt uns, an den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes zu glauben, da ja gewiss die Gottheit und die Macht und das eine Wesen des Vaters und Sohnes und heiligen Geistes geglaubt wird, gleichwürdig in der Ehre und gleichewig in der Herrschaft, in drei vollkommensten Hypostasen, das heißt in drei vollkommensten Personen«.45

Außerdem wird sogar auf einen Vorgängerbrief verwiesen, in dem noch ausführlicher der Glauben dargelegt worden sei;46 das geschah, obwohl in Konstantinopel im Jahr 381 zuvor schon das Nizänum als Bezugspunkt festgelegt worden war. Im Jahr 383 schließlich, wie oben dargelegt, wurde – nach einer gescheiterten Disputation und einem vergeblichen Versuch einer Einung auf die Tradition – jede Gruppierung aufgefordert, eine theologische Erklärung schriftlich einzureichen. Von den Texten der vier Parteien wurde schließlich, mit Unterstützung des Kaisers Theodosius, einer angenommen, der in Übereinstimmung mit dem ›wesenseins‹ stehe, also mit dem Nizänum. Wenn die oben vorgestellte neue These stimmt, ist das von Nektarius von Konstantinopel in dieser Situation vorgelegte Bekenntnis eben genau jenes und unser heutiges Nizäno-Konstantinopolitanum. Diese Notwendigkeit zur Auslegung des Nizänums in varianten Formen ergab sich, um hier noch einmal dogmengeschichtlich ins Detail zu gehen, auch daraus, dass die sogenannten ›Neu-Nizäner‹ keine homogene Gruppe gewesen sind, 45 Brief aus Theodoret, h.e. V 9, vorgesehen als AW III Dok. 96.3; hier V 9,11 (GCS N. F. 5, 292,11–16 Parmentier/Hansen): ta¼tgm […] did\sjousam Bl÷r piste}eim eQr t¹ emola toO patq¹r ja· toO uRoO ja· toO "c_ou ‹pme}lator, dgkadµ he|tgtor ja· dum\leyr ja· oqs_ar li÷r toO patq¹r ja· toO uRoO ja· toO "c_ou pme}lator pisteuol]mgr, blot_lou te t/r !n_ar ja· sumazd_ou t/r basike_ar, 1m tqis· tekeiot\tair rpost\sesim, Ecoum tqis· teke_oir pqos~poir. 46 Theodoret, h.e. V 9,13, wo von einer sehr breiten (pkat¼teqom) Darlegung die Rede ist.

Kontingenz und Varianz

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sondern aus verschiedenen Traditionssträngen kamen. Dazu gehörten nämlich sogenannte ›Altnizäner‹, aber auch einige der sogenannte ›Homöusianer‹, wozu wohl Basilius von Cäsarea zu zählen ist, als auch ehemalige Homöer wie der berühmte Meletius von Antiochien.47 Alle beriefen sich schließlich auf das Nizänum, aber immer mit ihren je spezifischen Interpretationen. Um trotz dieser Varianz der Auslegungen eine Einheit herzustellen, kamen noch ›Hilfskonstruktionen‹ hinzu: einerseits das Argument der Tradition, hier die Tradition der ersten ökumenischen Synode von 325 mit dem Nizänum, das selbst wieder in der Tradition der Apostel stehe, und andererseits das Argument des Konsenses, also der Gemeinschaft der Bischöfe. In dem entsprechenden Edikt im Codex Theodosianus wird das so umgesetzt, dass ›Norm-Bischöfe‹ für die jeweiligen Provinzen des Römischen Reichs genannt werden: Sie dienten als Multiplikatoren und Garanten der Rechtgläubigkeit. Eine Kirchengemeinschaft mit ihnen symbolisierte die Gemeinschaft der rechtgläubigen Kirche:48 »Wir befehlen, dass alle Kirchen sogleich den Bischöfen übergeben werden, die den Vater, den Sohn und den heiligen Geist von einer Majestät und Kraft derselben Ehre und eines einzigen Ruhmes teilhaftig bekennen, wobei sie nichts Abweichendes durch eine gottlose Teilung machen, sondern die Ordnung der Trinität durch die Behauptung der Personen und die Einheit der Gottheit bekennen, und von denen feststehen wird, dass sie der Gemeinschaft des Nektarius von Konstantinopel, Timotheus von Alexandrien in Ägypten verbunden sind.«49

Offensichtlich ist also, dass hier das Nizänum der Bezugspunkt ist, dass das Nizänum aber auch einer Interpretation und Absicherung bedarf. Dafür gibt es Hilfskonstruktionen, einerseits schriftliche Erläuterungen vom Nizänum sowie personelle Unterstützer als Garanten der korrekten Auslegung. Diese sichern auch wiederum die Akzeptanz und Autorität des Nizänums. Beschlossen wurde dies auf Synoden. So machte das Nizänum in einer eigenartigen Art und Weise eine Karriere sondergleichen: Er wurde zum Shibboleth der Orthodoxie, manchmal sogar nur das Stichwort ›wesenseins‹, aber immer mit einer Interpretation und unter Beibehaltung der Praxis, variable individuelle Erklärungen abgeben zu können. Das beste Zeugnis dafür ist das Nizäno-Konstantinopolitanum selbst.

47 Dazu vgl. Anm. 15 und AW Dok. 72.2 und Dok. 79.6. 48 So in Ansätzen schon ausgedrückt in C.Th. 16,1,2 (Cunctos populos): Rom und Alexandrien werden genannt. 49 C.Th. 16,1,3 (Theodosiani libri XVI, 834 Mommsen, vorgesehen als Dok. 94.6). Weitere ›Normbischöfe‹ sind: Pelagius von Laodicaea; Diodor von Tarsus; Amphilochius von Ikonium; Optimus von Antiochien; Helladius von Caesarea; Otreius von Melitene; Gregor von Nyssa; Terentius von Skythien; Martyrius von Marcianopolis.

34 3.3

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Der christologische Streit

Das führt noch einmal zu dem dritten Beispiel, Cyrill von Alexandrien. Die bereits erwähnten Auseinandersetzungen zwischen Cyrill und Nestorius eskalierten bekanntlich und führten schließlich zur Synode von Ephesus 431, dessen Teilveranstaltung unter Cyrill als drittes ökumenisches Konzil in die Geschichte einging.50 Neben den inhaltlichen Differenzen über die Natur(en) Christi und besonders natürlich über den Begriff ›Gottesgebärerin‹ für Maria werfen beide, Cyrill und Nestorius, sich gegenseitig vor, das Nizänum nicht korrekt zu lesen und zu deuten. In dem bedeutenden sogenannten zweiten Brief Cyrills an Nestorius, der unter den Synodaldokumenten mit aufgenommen wurde, ermahnt Cyrill seinen Kollegen in Konstantinopel, den Wahrheitssuchenden das gesunde Wort des Glaubens (t¹m rci÷ t/r p¸steyr) zu erschließen, was auf rechte Weise (l²ka aqh_r) erreicht werde, wenn man sich an die Worte der heiligen Väter wende ("c¸ym pat´qym kºcoir). Damit sind vor allem die Konzilsväter von Nizäa 325 gemeint, denn anschließend referiert Cyrill Auszüge aus dem Nizänum als Text der heiligen und großen Synode (B "c¸a ja· lec²kg s¼modor).51 An diese Exegese des Nizänums knüpft Nestorius in seiner Entgegnung an und wirft seinerseits Cyrill vor, das Nizänum nur oberflächlich (1n 1pipok/r) gelesen zu haben, so dass er über die Lehren des Nizänums offenbar nicht richtig informiert sei (Acmºgsar). Im Gegenteil, er würde mit seiner Auslegung sogar das Nizänum verleumden (sujovamt¸ar). Daher beginnt auch Nestorius seine eigenen Ausführungen mit einem Zitat aus dem Nizänum, dem sich seine Exegese des Textes anschließt.52 Genau hier zeigt sich die eigenartige Mischung aus Tradition und Interpretation, wie sie schon deutlich wurde. Im Unterschied zu den Homöern, bei denen die Erklärungen von Rimini 359 und Konstantinopel 360 eher als Orientierungshilfe zu verstehen waren, drehte es sich bei den Nizänern und Neu-Nizänern tatsächlich um den Text des Bekenntnisses selbst und seine Auslegung. Auch sei angemerkt, dass bei den Auseinandersetzungen in diesen Jahren immer von dem Nizänum von 325 die Rede ist; vom Nizäno-Konstantinopolitanum scheint noch keiner Notiz genommen zu haben. Im Rahmen der cyrillischen 50 Die gegenwärtig ausführlichste Darstellung der Entwicklung der Auseinandersetzungen ist Christiane Fraisse-Cou8: »Die theologische Diskussion zur Zeit Theodosius’ II.: Nestorius«, in: Charles Pi8tri/Luce Pi8tri (Hg.): Das Entstehen der einen Christenheit (250–430) (Die Geschichte des Christentums 2), Freiburg/Basel/Wien 1996, 570–626 (die deutsche Fassung ist von Thomas Böhm bearbeitet). Vgl. auch J.A. McGuckin: St. Cyril of Alexandria. 51 Dieser zweite Brief des Cyrill an Nestorius (= Cyrill, ep. 4) ist zu finden in ACO 1,1,1, 25,23–28,26 Schwartz. Die Zitate sind aus dem Brief in ACO 1,1,1, 26,15–20 Schwartz. 52 Dieser zweite Brief des Nestorius an Cyrill (= Cyrill, ep. 5) ist zu finden in ACO 1,1,1, 29,4–32,32 Schwartz. Die Zitate sind aus dem Brief in ACO 1,1,1, 29,17–26 Schwartz.

Kontingenz und Varianz

35

Teilsynode von Ephesus 431 begegnet daher auch die folgende Äußerung des Juvenal von Jerusalem: »Zunächst soll die Ekthesis des Glaubens verlesen werden, die von den 318 heiligsten Vätern und Bischöfen, die in Nizäa zusammenkamen, verfasst wurde, damit man mit dieser Darlegung die Aussagen über den Glauben vergleichen kann; die damit übereinstimmenden sollen bestätigt, die davon abweichen, verworfen werden.«53

Das Nizänum bietet dann die Grundlage, auf der die Rechtgläubigkeit der Briefe des Cyrill und des Nestorius beurteilt werden. Dementsprechend heißt es auch in dem Synodalbrief, an die Kaiser gerichtet: »In der Absicht, die Frömmigkeit zu stärken, hat eure Macht der heiligen Synode aufgetragen, eine intensivere Untersuchung über die Lehren anzustellen; dies haben wir getan und sind der alten Tradition der heiligen Apostel und Evangelisten sowie der 318 in Nizäa versammelten Väter gefolgt, die wir übereinstimmend interpretierten und in einhelliger Entscheidung eurer Frömmigkeit in den Aufzeichnungen der Geschehnisse vorgelegt haben.«54

Diese Einstellung zum Nizänum findet ihre Zuspitzung in dem in den späteren Überlieferungen der Synodaldokumente sogenannten siebten Kanon, der ein Verbot, weitere oder andere Bekenntnisse außer dem Nizänum zu verwenden, ausspricht: 53 ACO 1,1,2, 12,23–27 Schwartz: !macimysj]shy d³ 1m pq~toir B 1jtehei˜sa p_stir paq± t_m sumekh|mtym 1m t/i Mija]ym "ciyt\tym pat]qym ja· 1pisj|pym t_m tqiajos_ym dejaojt~, ¦ste ta}tgi t/i 1jh]sei paqabakkol]mym t_m peq· t/r p_steyr k|cym to»r l³m sulvymoOmtar bebaiyh/mai, to»r d³ diavymoOmtar 1jbkgh/mai. 54 ACO 1,1,3, 10,29–11,1 Schwartz: T¹ l³m rl]teqom jq\tor tµm eqs]beiam bebai_sai bouk|lemom 1p]tane t/i "c_ai sum|dyi f^tgsim peq· t_m docl\tym poi^sashai spoudaiot]qam, Dm ja· pepoi^leha ja· t/i !qwa_ai paqad|sei t_m "c_ym !post|kym ja· eqaccekist_m peih|lemoi ja· t/i t_m tig sumawh]mtym 1p· t/r Mija_ar, Dm ja· 2qlgme}samter sulv~myr ja· cm~lgi li÷i 1lvam/ t/i rlet]qai eqsebe_ai jatest^salem 1m aqtoi˜r toi˜r rpolm^lasi toi˜r pepqacl]moir, […]. Die cyrillische Teilsynode verurteilt demnach Nestorius auch deswegen, da er nicht mit dem Nizänum übereinstimme (ACO 1,1,3, 28,26–29,2 Schwartz). Analoges findet sich auch in dem Brief der ›nestorianischen‹ Teilsynode von Ephesus 431 (Relatio ad imperatorem Theodosium 2, ACO 1,1,5, 13 Schwartz): »Von deiner Frömmigkeit in der Stadt Ephesus zusammengerufen […] wollten wir mit allen ein gemeinsames Konzil feiern und mit gemeinsamem Beschluss den Glauben der heiligen Väter bekräftigen, die sich in Nizäa versammelt haben. Denn die vielen Synoden, die danach abgehalten wurden, nahmen es sich nicht heraus, dabei etwas Neues einzuführen, sondern bestimmten, dass dabei zu verbleiben sei.« / eQr tµm 9ves¸ym pºkim sucjkgh´mter rp¹ t/r rlet´qar eqsbe¸ar […] ja· ovtyr joim¹m "p²mtym poi/sai sum´dqiom ja· joim0 x¶v\ juq_sai t_m "c¸ym pat´qym tµm p¸stim t_m 1m Mija¸ai sumahqoish´mtym. Ja· c±q pokka· let( 1je¸mgm cecºlemai s¼modoi oqd³m jaimotol/sai jat( 1je¸mgr 1tºklgsam, !kk( 1je¸m, p²mt, 1ll´meim 1moloh´tgsam. Vgl. auch ACO 1,1,5, 134,38–135,4 und ACO 1,1,7, 69,18–23. Vgl. auch den Brief des, den Nestorius unterstützenden, Johannes von Antiochien, ep. ad Proclum 1–2 (ACO 1,4, 209) von 435 und Cyrills Brief (ep. 39) an Johannes von Antiochien (ACO 1,1,4, 19) von 433 mit ihren Verweisen auf das Nizänum.

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»Die heilige Synode bestimmte, dass es niemandem erlaubt sein soll, einen anderen Glauben vorzutragen, zu entwerfen oder schriftlich niederzulegen als denjenigen, der von den heiligen Vätern definiert wurde, die in Nizäa im heiligen Geist versammelt waren.«55

Diese Erklärung schließt zwar eine Auslegung des Nizänums oder die Beurteilung anderer Texte anhand des Nizänums nicht aus, legt aber als Maßstab und Bezugspunkt allein das Nizänum fest.56 Daher sind auch die Bestimmungen der theologischen Erklärung von Chalcedon von 45157 kein selbständiges oder gleichwertiges Glaubensbekenntnis neben dem Nizänum, sondern dienten dazu, das Nizänum angesichts neuer Diskussionen auszulegen. Seine Absicht war es, die Aussagen zu Christus und seiner Menschwerdung im Nizänum zu erläutern: »[…] wir haben das Symbolum der 318 allen verkündet und diejenigen Väter als die unsrigen anerkannt, die diese Zusammenfassung des rechten Glaubens angenommen haben; es sind die 150 Väter, die anschließend in Konstantinopel zusammengekommen sind; auch sie haben denselben Glauben besiegelt.«58

Dementsprechend wird das Chalcedonense wie folgt eingeleitet und beschlossen: »Den heiligen Vätern folgend lehren wir übereinstimmend, man müsse einen und denselben Sohn, unseren Herrn Jesus Christus bekennen […] [Chalcedonense] […] wie es zuvor die Propheten über ihn und wie es Jesus Christus uns selbst gelehrt haben, und wie es uns das Symbolum der Väter überliefert hat.«59 55 Ephesus, can. 7 (Gesta 77; ACO 1,1,7, 105,20–22 Schwartz): ¦qisem B "c¸a s¼modor 2t´qam p¸stim lgdem· 1nei˜mai pqov´qeim C coOm succq²veim C sumtih´mai paq± tµm bqishei˜sam paq± "c¸ym pat´qym t_m 1m t0 Mija´ym sumawh´mtym s¼m "c¸\ pme¼lati. Der Kanon gehört zu den Debatten vom 22.7.431. Vgl. Heinz Ohme: Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs (AKG 67), Berlin/New York 1998, 10 (als 7. Kanon ein überlieferungsgeschichtlich spätes Konstrukt). Vgl. zu den Hintergründen im Detail Thomas Graumann: »Authority and Doctrinal Normation in Patristic Discourse: The Nicene Creed at the First Council of Ephesus«, in: Justin A. Mihoc/Leonhard Aldea: A Celebration of Living Theology (FS Andrew Louth), London u. a. 2014, 20–38 mit weiterer Literatur in Anm. 45. 56 Den Hintergrund bilden offenbar die Debatten, ob zusätzlich zum Nizänum auch andere Texte wie die Cyrillbriefe als Referenztexte zu betrachten sind, vgl. T. Graumann: Authority, 36f. 57 Vgl. Lionel R. Wickham: »Chalcedon, ökumenische Synode (451)«, in: TRE 7 (1981), 668–675; Pierre Maraval: »Das Konzil von Chalcedon«, in: Luce Pi8tri (Hg.): Der Lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642) (Die Geschichte des Christentums 3), Freiburg/Basel/Wien 2001, 90–119 (deutsche Fassung von Thomas Böhm bearbeitet). 58 Chalcedon, Horos, in ACO 2,1,2, 126–129 von 22.10.451; das Zitat ist aus ACO 2,1,2 126,22–127,1 Schwartz: t¹ t_m tig s}lbokom toi˜r p÷si jgq}namter ja· ¢r oQje_our to»r toOto t/r eqsebe_ar t¹ s}mhela denal]mour pat]qar 1picqax\lemoi, oVpeq eQs·m oR let± taOta 1m t/i lec\kgi Jymstamtimoup|kei sumekh|mter qm ja· aqto· tµm aqtµm 1pisvqacis\lemoi p_stim. In diesem Rahmen begegnet also die erste Erwähnung des Nizäno-Konstantinopolitanums, vgl. S. 23. 59 Das Chalcedonense ist in ACO 2,1,2, 129,23–130,3 Schwartz zu finden; die rahmenden Zitate sind aus ACO 2,1,2, 129,23f.; 130,1–3 Schwartz: :p|lemoi to_mum toi˜r "c_oir patq\sim 6ma ja·

Kontingenz und Varianz

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Das dogmatische Erbe der Alten Kirche ist also differenziert zu betrachten: Es handelt sich nicht um eine Aneinanderreihung von Dogmen auf einer gleichen Ebene, sondern es gibt gestaffelte Verbindlichkeiten oder Normativitäten. Als unumstößlich galt das Nizänum. Alle weiteren Erklärungen wollen das Nizänum auslegen. So gibt es kaum einen Rückgriff auf das Nizänum ohne weiteren Kommentar. So liegt also eine doppelte Varianz vor : einerseits eine gegebene Varianz in der Verbindlichkeit, andererseits eine mögliche Varianz in den Auslegungen.

4.

Schlussbemerkungen

Das Ziel der Ausführungen war es, einige Erkenntnisse aus der Dogmengeschichte der sogenannten ›Alten Kirche‹ zu berichten, die helfen, mit dem trinitarischen und christologischen Erbe heute umzugehen. Angestrebt wurde nicht, eine neue Übertragung der altkirchlichen Bekenntnisse in moderner Sprache unter Rückgriff auf heutige philosophische, sprachwissenschaftliche oder andere Theorien zu bieten. Im Mittelpunkt standen vielmehr Details aus der Entstehungszeit der Christologie selbst. Das führte zu einigen Einsichten, welche die angesprochene Last der Verbindlichkeit der altkirchlichen Dogmatik verringern. Erstens ist heute die Kontingenz der Entwicklungen erkannt. Kein historisch kontingentes Ereignis kann für sich beanspruchen oder dafür beansprucht werden, die ewige Wahrheit auszudrücken. Es kann sich nur um Versuche der Annäherungen handeln, sowohl in der Geschichte selbst als auch in unserer Erkenntnis der Geschichte. Die christliche Wahrheit ist für den glaubenden Christen eine Person – Jesus Christus – und ein jeglicher Christ steht immer neu vor der Herausforderung, seine Wahrheit zu ergründen. Zweitens liegen nicht alle Glaubenslehren aus der Alten Kirche auf derselben Ebene. Das sollte mit dem Stichwort ›Varianz‹ ausgedrückt werden. Wenn heute gefordert wird, man müsse das Nizänum neu auslegen und interpretieren, so ist dies keine neue Einsicht, sondern eine alte Praxis: Man hat das schon immer so gemacht, seit der Zeit seines Entstehens. Geht man noch einen Schritt weiter, dann ist festzuhalten: Das Nizänum ist nach dem Selbstverständnis der Kirchenväter eine Zusammenfassung des Glaubens der Apostel und der apostolischen, also biblischen Schriften. Insofern kennt die Alte Kirche bereits einen Unterschied zwischen norma normans und norma normata, um diese neuzeitt¹m aqt¹m blokocei˜m uR¹m t¹m j}qiom Bl_m YgsoOm Wqist¹m […] 6ma ja· t¹m aqt¹m uR¹m lomocem/ he¹m k|com j}qiom YgsoOm Wqist|m, jah\peq %myhem oR pqov/tai peq· aqtoO ja· aqt¹r Bl÷r YgsoOr Wqist¹r 1nepa_deusem ja· t¹ t_m pat]qym Bli˜m paqad]dyje s}lbokom.

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Uta Heil

liche protestantische Terminologie aufzugreifen. Die durch die apostolischen Schriften normierten Bekenntnisse, norma normata, liegen überdies auf verschiedenen Ebenen – es gibt sozusagen eine normierte Norm ersten, zweiten und dritten Grades. Seit dem Siegeszug des Neunizänismus galt schließlich das Nizänum als Richtschnur des Glaubens ersten Grades, ohne aber aktualisierende Deutungen auszuschließen. Die gegenwärtig große Frage ist natürlich, welcher Text oder welches Bekenntnis ist eine durch die Bibel normierte Norm? Gerade die Homöer waren ja zum Beispiel die überzeugtesten Biblizisten. Daher genügt es angesichts der heutigen dogmengeschichtlichen Erkenntnisse gerade nicht, im protestantischen Sinne darauf zu verweisen, dass die altkirchlichen Dogmen sowieso nur eine nur bedingte Verbindlichkeit in sich tragen, sofern sie biblisch sind. Im Grunde stehen wir heute ebenso wie die Christen in der Zeit der Alten Kirche vor demselben Problem, einen Konsens darüber zu erreichen. Erinnert sei an das Mammutprojekt der homöischen Doppelsynode mit vorbereitenden Kommissionssitzungen und -papieren, die verschickt wurden, um Meinungen einzuholen, Unterschriften zu bekommen etc. Damals ist man zweigleisig gefahren, um einen Konsens zu erreichen: Man hat versucht, sich auf einen Text zu einigen und den Konsens schriftlich zu formulieren, und man hat gleichzeitig versucht, diesen Konsens auch zu zelebrieren. Die Synoden sollten die kirchliche Einheit darstellen bzw. wie eine symbolische Handlung abbilden. Denselben Zweck sollten Rundbriefe der Synoden erfüllen sowie auch Passagen in den Gesetzestexten, die oben genannt wurden, in denen ›Norm-Bischöfe‹ aufgeführt werden. Untermauert wurde das insgesamt mit dem Traditionsargument, so dass umgekehrt Häresie als Neuerung verurteilt wird. Der Spagat zwischen notwendiger Auslegung und abzulehnender Neuerung besteht immer, bestand schon damals und besteht auch für uns. Zum Schluss sei noch einmal daran erinnert: Es ist trotz der kontingenten Entstehungsumstände problematisch, das Nizänum als einzigen ökumenischen Text einfach so abzuschaffen. Adolf von Harnack schrieb damals – er bezog sich zwar auf das Apostolikum, aber das gilt umso mehr für das Nizänum – folgende Überlegungen nieder : Da er gegenwärtig nicht sehe, wie es möglich sei, einen vergleichbaren Text, der an Gestalt und Kraft dem alten überlegen sei, zu formulieren, empfahl er ein »fleißiges Studium der Dogmengeschichte und Symbolik, damit ein wirkliches Verständnis, wie für den ursprünglichen Sinn der Bekenntnisse, so für die Geschichte der Wandlungen ihres Verständnisses – oft bis zu einem ganz neuen Sinn – erworben werde, und damit man sich auch in scheinbar oder wirklich fremde Anschauungen zu finden lerne und ihnen den Wahrheitsgehalt abzugewinnen verstehe.«60 60 Adolf von Harnack: »In Sachen des Apostolikums«, in: Die Christliche Welt, 18. 8. 1892.

Kontingenz und Varianz

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Denn man dürfe von einem gebildeten Theologen erwarten, dass er so viel geschichtlichen Sinn besitze, um sich von dem hohen Wert des Textes zu überzeugen und eine positive Stellung zu seinem Grundgedanken zu gewinnen. Genau dafür sind die gesamten überlieferten Schriften der Alten Kirche, die Traktate, Briefe, Synodalakten, ein Schatz, keine Last, denn sie helfen, die kurzen theologischen Erklärungen annähernd zu verstehen.

Wiederabdruck: Kurt Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Teil 1: Der Theologe und Historiker, Berlin/New York 1995, 501–506, hier: 506.

Julius Trugenberger

Grenzbewusstsein und Ahnung, Fragmentarität und Ganzheit. Emanuel Hirsch und die christologische Arbeit unter spätmodernen Bedingungen

»Ich konnte nur Theologe bleiben, wenn der weite Bogen vom letzten persönlichen Sinngehalt altprotestantischen Versöhnungsglaubens hinüber zur letzten radikalen Unbefangenheit menschlicher Einsicht durch alle Zweifel und alle Neuformung des Gedankens hindurch sich wirklich spannen ließ.«1

Mit diesen 1951 niedergeschriebenen Worten beschreibt Emanuel Hirsch, sozialisiert in der pietistischen Frömmigkeit eines brandenburgischen Pfarrhauses und vor dem Wechsel in die Systematische Theologie zuerst Kirchenhistoriker, sein eigenes Ringen mit dem soteriologisch-christologischen Lehrbestand der theologisch-kirchlichen Tradition. Dessen neuzeitliche Plausibilitätskrise in den Fokus des theologischen Diskurses, ja der theologischen Ausbildungsarbeit zu rücken, dies ist Hirsch, der die neuzeitlichen Umformungen der christologischen Lehrbildung nie im Gestus eines rein historisch interessierten Wissenschaftlers diskutiert hat, stets ein Grundanliegen seiner Arbeit gewesen.2 Auf diese Weise hat Hirsch erheblich am Selbstverständnis der Systematischen wie Praktischen Theologie gerüttelt. Dies konnte die Forschung zwar lange Zeit – in erster Linie aufgrund von Hirschs politischer Selbstdiskreditierung während des Nationalsozialismus – ausblenden. Doch letztlich entbindet auch die politische Belastung eines Autors nicht von der Verpflichtung der produktiven Auseinandersetzung mit ihm.3 In einem unverminderten, wenn nicht sogar gesteigerten 1 Emanuel Hirsch: »Meine theologischen Anfänge«, in: Freies Christentum 3 (1951), 4. 2 Vgl. Emanuel Hirsch: Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit. Ein Lesebuch, Tübingen 1938. 3 Aus der Reihe derjenigen Arbeiten, die sich mit der Theologie Hirschs produktiv auseinandersetzen, seien hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – folgende Titel genannt: Ulrich Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992; Arnulf von Scheliha: Emanuel Hirsch als Dogmatiker. Zum Programm der »Christlichen Rechenschaft« im »Leitfaden zur christlichen Lehre« (TBT 53), Berlin/New York 1991; Wilhelm Gräb: Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh 1988, 115–167; Matthias Wilke: Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der

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Maße besteht diese Verpflichtung gegenwärtig, da sich ein gravierender Bedeutungsschwund des christlich-kirchlichen Glaubenswissens paart mit einer mindestens ebenso schwerwiegenden Verstehenskrise in Bezug auf das, worin man denn den im Eingangszitat angeklungenen »letzten persönlichen Sinngehalt« des christlichen Glaubens erblicken kann. Hirsch selbst hat diesbezüglich mehr als nur einen Fingerzeig gegeben. So notiert er etwa am Ende der 1930erJahre in einer seiner vielfachen Erläuterungen zu seinem Leitfaden zur christlichen Lehre: »Das Leben der meisten Menschen hat etwas Zerstücktes an sich: die Verhältnisse, die Menschen, die Tätigkeiten reißen sie hin und her. Sie scheinen sich wohl ein bloßer Durchgangspunkt verschiedener Wirkungszusammenhänge zu sein. Die Frage ist, ob es denn möglich sei, in dem allen ein ganzer Mensch, eine Person zu sein.«4

Im Zuge seines Nachdenkens über die Situation des christlichen Glaubens in der Neuzeit rückt für Hirsch eine zweite Thematik neben der Krise der klassischen Christologie in den Mittelpunkt, die für sein Denken eine ebenso bedeutsame Fragestellung markiert – die Problematik der unter moderngesellschaftlichen Bedingungen zumeist krisenvoll verlaufenden Konstitution von Identität und individueller Lebensganzheit.5 Es fällt nun nicht weiter schwer, die Interferenzen zu erkennen, die bei Hirsch zwischen beiden der von ihm geschlagenen thematischen Schneisen bestehen: Der klassische christologische Lehrbestand will nach Hirsch so umgeformt werden, dass Theologinnen und Theologen in der Praxis von Verkündigung und Religionslehre wieder dazu in der Lage sind, anschauliche Antworten des christlichen Glaubens auf die Frage der Menschen nach einer letzten Einheit und Ganzheit ihres Lebens geben zu können. Durch diese pointierte Ausrichtung der christologischen Umformungsarbeit bei Hirsch gewinnt dessen Ansatz – so die im Folgenden zu entfaltende These – eine große Aktualität in der gegenwärtigen religiös-kulturellen Lage. Zunächst wird der Hirsch’sche Umformungsansatz unter weitgehender Absehung von werkgenetischen Detailfragen konturiert (1.); dies geschieht mit dem Ziel, in einem weiteren Schritt deutlich zu machen, dass man aus Hirschs gewissenstheoretischer Umformung und Umfunktionierung der Christologie unter gegenwärtigen Bedingungen wichtige Impulse zur Überwindung der Krise der dogmatischen Christologie gewinnen kann – trotz eines Irritationspotenzials in der Entfaltung Kommunikation christlicher Wahrheit (HUTh 49), Tübingen 2005; Mareile Lasogga: Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne (Beiträge zur rationalen Theologie 19), Osnabrück 2009. 4 Emanuel Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, in: ders.: Werke III. 1,1, hg. v. Hayo Gerdes, Berlin/Schleswig-Holstein 1978, 275. 5 Diese Problematik erfährt im Übrigen in Hirschs literarischem (Spät-)Werk eine ganz eigene Art der Bearbeitung. Vgl. dazu M. Wilke: Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, 527–533.

Grenzbewusstsein und Ahnung, Fragmentarität und Ganzheit

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des Ansatzes, das von allen produktiv gemeinten Aneigungsversuchen, so auch von dem vorliegenden, nicht verschwiegen werden darf (2.).

1.

Umformungskrise und gewissenstheoretische Umfunktionierung der Christologie bei Emanuel Hirsch

Wie Falk Wagner in einem seiner späten Aufsätze richtig festgestellt hat, hat sich Hirsch unter den großen Theologen des 20. Jahrhunderts am nachdrücklichsten mit dem Wandel der denkerischen und sozialkulturellen Bedingungen beschäftigt, der für die christliche Religion in der europäischen Neuzeit und Moderne eine neue Faktenlage geschaffen hat.6 Die Aktualität von Hirschs diesbezüglicher Arbeit ist ungebrochen, zumal nicht zuletzt Wagners Werk dazu beigetragen hat, dass man sich heute darum bemüht, Hirschs Analysen – erinnert sei hier nur an die monumentale Geschichte der neuern evangelischen Theologie7 – mit soziologisch-wissenssoziologischen Perspektiven zu vermitteln; Perspektiven, die schon mehr oder minder deutlich in Hirschs Denken durchscheinen und die allesamt auf den Sachverhalt zielen, dass die gesellschaftliche Modernisierung – im 17. Jahrhundert zunächst eher latent, ab dem 18. Jahrhundert dann aber immer stärker spürbar – der dogmatischen Christologie den sozialkulturellen Boden, auf dem diese über Jahrhunderte tradiert werden konnte, unter den Füßen wegzieht. Diesen Prozess kann man soziologisch damit erklären, dass mit dem gesellschaftlichen Wandel von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung zum einen der Aufbau der Gesellschaft und mit ihm zugleich die Formen und Orte menschlicher Vergemeinschaftung sich verändern und dass sich im Zuge desselben Wandels sich zum anderen der Umgang der Gesellschaft mit ihren Traditions-, Symbol- und Wissensbeständen sowie die Kommunikation derselben erheblich transformiert.8 Für christologi6 Vgl. Falk Wagner : »Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?«, in: ZNThG/JHMTh 2 (1995), 225–254, insbes. 226–230. 7 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5. Bde., Gütersloh (1949–1951) 51975 (Nachdruck Münster 1984). Ulrich Köpf: »Die Theologiegeschichte der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs«, in: Joachim Ringleben (Hg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1991, 63–97, arbeitet die Intentionen Hirschs heraus und unterzieht sie einer (nicht unkritischen) Beurteilung. Vgl. auch Jochen Hose: Die »Geschichte der neuern evangelischen Theologie« in der Sicht Emanuel Hirschs, Frankfurt/M. 1999. 8 Vgl. hierzu Niklas Luhmann: »Die Ausdifferenzierung der Religion«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3., Frankfurt/M. 1989, 259–357, sowie Reinhart Koselleck: »Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, 647–717.

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sche Zusammenhänge ist entscheidend, dass sich eine moderne a-zentrische und nachtraditionale Gesellschaft keineswegs um ein kodifiziertes Heilsperfektum als ihre integrierende Mitte scharen kann. Auf der Ebene der Interaktion der einzelnen Gesellschaftsmitglieder mit dem Religionssystem besitzen die benannten makrostrukturellen Veränderungen die Konsequenz, dass die Individuen, einmal freigesetzt aus traditionalen Verbindlichkeiten, den Wahrheitsansprüchen der religiösen Zeugnisse aus der Vergangenheit in lebensweltlicher Distanz begegnen. Die Distanziertheit mag sogar, wenn man entsprechendes Bildungswissen unterstellt, in die Haltung des Zweifels gegenüber der klassisch kirchlichen Heilsüberlieferung umschlagen. Jedenfalls scheint sie proportional zu dem Ausmaß zuzunehmen, in dem die überlieferten Sprachformen der christlichen Religion im Zuge des gesellschaftlichen Evolutionsprozesses zur »Sondergruppensemantik«9 einiger weniger Virtuosen verkommen. Hirsch nun, dem nichts ferner steht als eine rein äußerlich bleibende Beschreibungshaltung in Bezug auf jene neuzeitlichen Transformationsprozesse, lässt in seiner Situationsanalyse des neuzeitlichen Christentums den Zweifel gegenüber den christlichen Glaubensbeständen ganz in den Mittelpunkt treten. Gleich zu Beginn seines dogmatischen Hauptwerks betont er in emphatischer Manier: »Die natürliche menschliche Stellung dem Christlichen gegenüber ist heute der Zweifel.«10 Dabei stehen in Hirschs Augen die Anfragen von Aufklärung und Aufklärungstheologie an die bekenntnismäßige Christologie symptomatisch dafür, dass in Neuzeit und Moderne die kirchliche Glaubensüberlieferung eine immer geringere Rolle bei der Formierung derjenigen Gewissheiten spielt, die für den Weltumgang und die Welterschließung des Menschen von Bedeutung sind. Die anfangs nur von einigen Aufklärern und Neologen geübte Kritik am christologischen Dogma, die im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Massenphänomen wird, berührt nicht nur ein peripheres Teilgebiet der christlichen Theologie, sondern stürzt diese selbst als Ganze in eine tiefe Krise. Hirsch hat vor diesem Hintergrund genauso unverblümt wie später Wagner den Sachverhalt hervorgehoben, dass je länger je mehr Theologie als Theologentheologie mit der ihr wesenseigenen Art der Fokussierung auf das christologische Dogma samt der Behauptung seiner trinitarisch-heilsökonomischen Verankerung nur noch für Berufstheologen und einige wenige Traditionalisten um den Preis gelebter Selbstwidersprüche von Relevanz sein kann. In eins mit dieser verheerenden Krisendiagnose kündigt sich bei Hirsch freilich immer schon der von ihm unterbreitete Therapievorschlag an: In guter 9 N. Luhmann: Ausdifferenzierung, 350. Luhmann wollte die zitierte Formulierung als Warnung an die Adresse der Theologie verstanden wissen, die ihre dogmatische Tradition auf ihre gesellschaftliche Funktionstauglichkeit hin kritisch zu überprüfen habe. 10 E. Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, 11.

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neuprotestantischer Tradition gelte es zum einen, den überkommenen christlichen Lehrbestand, mithin die ganze dogmatische Architektonik, umzuformen. Zum anderen gelte es, diese Umformungsarbeit in permanenter Bezogenheit auf die menschliche Situation, auf deren Evidenzen und Dunkelheiten, zu vollziehen. Dies impliziert für Hirsch – der den Problemzusammenhang der Umformung der christlichen Lehrbildung auch stets mit Bezug auf die Aufgaben und Nöte des Predigtamts reflektiert11 –, an den faktisch schon längst geschehenen Umformungen in den Frömmigkeitshaushalten der Individuen aufmerksam teilzuhaben und dem bzw. der Einzelnen hier auf theologisch konstruktive Weise zur Seite zu stehen. Allein so, davon gibt sich Hirsch überzeugt, könne persönliche Glaubensgewissheit wirklich rückhaltlos »Rechenschaft« ablegen vor dem Gerichtshof einer autonom gewordenen menschlichen Vernunft, mit der Möglichkeit, dass diese dann »frei gegenzeichnet«.12 So reiht sich Hirsch also ein in die Tradition der neuprotestantischen Umbauarbeiten in der dogmatischen Prinzipienlehre. Freilich lehrt ein genauerer Blick, dass Hirsch, was den eigenen Neuaufbruch angeht, einen Weg einschlägt, der etwa von Schleiermacher und Troeltsch deutlich abweicht. Die Differenz betrifft die religionstheoretische bzw. philosophische Fundierungsstrategie, also die Basis der ganzen Umformungsbemühungen, auf die ja auch bei Schleiermacher und Troeltsch die umgeformte Christologie bleibend rückbezogen ist. So fällt im Gegenüber zu Schleiermacher auf, dass Hirsch nicht versucht, mit einer subjektivitätstheoretisch und kulturphilosophisch allgemein ausweisbaren Religionstheorie zu operieren, auf deren Boden auch noch eine Wesensbestimmung des Christentums als der Religion schlechthin Platz haben soll. Sodann fällt im Gegenüber zu Troeltsch auf, dass Hirsch auch nicht versucht, die philosophische Valenz des Fundaments der Umformungsarbeit gleichsam metaphysisch abzusichern, wie dies Troeltsch zeitweilig in Form einer geschichtsphilosophisch angereicherten Metaphysik der Persönlichkeit als einer Form von ›weichem‹ Theismus ja immerhin noch versuchte. Hirsch gibt sich in diesen Punkten nicht etwa deshalb so zurückhaltend, weil er der human-religiösen Reflexionsarbeit ihr Eigenrecht verweigerte,13 sondern allein deshalb, weil für ihn die human-religiöse Reflexionsarbeit, wird sie denkerisch rückhaltlos angegangen, nur zu einem menschlichen Grenzbewusstsein vorstoßen kann. Der christliche Glaube baut sich Hirsch zufolge in diesem Grenzbewusstsein auf und keineswegs in einer abseits davon gelegenen sturm11 Vgl. dazu W. Gräb: Predigt als Mitteilung des Glaubens, 115–167. 12 Vgl. dazu von A. v. Scheliha: Emanuel Hirsch als Dogmatiker, 263–367. 13 Hirsch zufolge ist es ein unumstößliches »Recht des Menschlichen, sich unabhängig von christlichen Voraussetzungen über seine Gottes- und Selbsterkenntnis zu besinnen und das Christliche von dem Ergebnis dieser Besinnung aus zu verstehen und zu beurteilen« (E. Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, 150).

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freien Zone voller Eindeutigkeiten. Das menschliche Grenzbewusstsein wird durch die erkenntnistheoretische Selbstbesinnung, die bei Hirsch in den Bahnen von Kant und Fichtes Wissenschaftslehre von 1801/0214 verläuft, entscheidend vertieft, bis das Grenzbewusstsein seines antinomischen Charakters vollends überführt ist: Die menschliche Vernunft treibt als gesetztes Sich-Setzen mit ihren Erkenntnisansprüchen immer wieder auf die ihr gesetzten Grenzen zu. Absolute Wahrheit ist dem endlichen Wahrheitsbewusstsein des Menschen nicht zugänglich, wiewohl der Mensch aber auf sie beständig bezogen bleibt.15 Diese hier mit der Abbreviatur des gesetzten Sich-Setzen umrissene abstrakte erkenntnistheoretische Gemengelage ist nun – so lautet der eigentliche Kerngedanke – konkret erfahrbar im Gewissen des Einzelnen. Es soll eine Gewissenstheorie, die sich die ethisch-religiöse Doppeldimensionalität des Gewissensbegriffs zunutze macht, die subjektivitätstheoretische Matrix der Umformungsarbeit abgeben. Hirschs Ansatz ist dabei der wahrscheinlich radikalste Versuch des für die ›Lutherrenaissance‹ so typischen Programms, Luthers frühe Bußtheologie konsequent unter den denkerisch-kulturellen Bedingungen der Moderne zu reformulieren.16 Wechselseitig blendet Hirsch vor allem Holl und Fichte ineinander, wobei dies schon früh unter dem später immer stärker werdenden Einfluss Kierkegaards geschieht.17 Für Hirsch stellt das Gewissen sowohl das Personzentrum des Menschen als auch den Ort der Gottesbegegnung dar. Im Hören auf die innere Stimme des Gewissens erfährt der Mensch um seine Designation zum gemeinschaftlichen Mitsein mit anderen. Freilich ist menschliches Leben faktisch immer Leben auf Kosten von anderen. Schon allein deswegen haftet der Gewissensstimme, die auf die Pflichtschuldigkeit des menschlichen Lebens aufmerksam macht, zwangsläufig der anklagende Stachel der Negativität an. Hirsch verschärft diesen Stachel dadurch, dass er immer wieder auf konkrete Erfahrungen der Pflichtschuldigkeit des Individuums gegenüber dem Gemeinschaftsethos pocht. So – meint Hirsch – gehe dem Individuum am deutlichsten dessen Kommen aus der Unwahrheit auf. Nun ist freilich der Negativitätsaspekt, der sich im Gewissen meldet, bei Hirsch stets nur die eine Seite der Medaille. Gleichursprünglich mit dem Negativitätsaspekt ist nämlich in Hirschs von Fichte genährter Auffassung von Pflichtbewusstsein stets eine »empirisch-existenzielle[] Erschlossenheit des 14 Vgl. die Rekonstruktion bei U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 305–546. 15 Ähnlich – freilich mit Bezug auf Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 argumentierend – Roderich Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein, Das Verhältnis von logischem und theologischem Wahrheitsbegriff: Thomas von Aquin, Kant, Fichte und Frege (Religion in philosophy and theology. 13), Tübingen 2004. 16 Zu Luthers früher Bußtheologie vgl. auch Ulrich Barth: »Luthers Verständnis der Subjektivität des Glaubens«, in: NZSTh 34 (1992), 269–291. 17 Vgl. dazu M. Wilke: Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, 194–213, 239–336.

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humanen Zielbildes«18 mitgegeben. Das aber heißt: Die Gewissensstimme ermöglicht nicht nur ein Sich-Finden in Unwahrheit, sondern gleichursprünglich mit dem Sich-Finden in Unwahrheit ist das Gerufensein zur Wahrheit verknüpft.19 Das Kommen aus der Unwahrheit kann das Individuum religiös als Schuld, als Selbst- und damit auch als Gottesverfehlung deuten. Das Gerufensein zur Wahrheit ist das umrisshafte Vor-Augen-Stehen des humanen Zielbildes, was sich wiederum auf religiös-psychologischer Ebene als innere Ahnung vom Wesen versöhnter Subjektivität konkretisiert. Die gewissensmäßige Selbsterschlossenheit des Individuums, die aufzudecken das Bemühen von Hirschs subjektivitätstheoretischer Relecture von Luthers Bußtheologie ist, meint somit eine Situation, die gekennzeichnet ist durch ein widersprüchliches Schweben zwischen Schuldbewusstsein und ahnungsvollem Bezogensein auf ideale Humanität. Es ist für Hirsch als lutherischen Theologen ein denkbar kurzer Weg, diese Situation im Sinne des usus elenchticus auszudeuten und dabei zur Geltung bringen, dass auf dem Boden des für die anthropologische Situation so konstitutiven Schwebens zwischen Negativitätserfahrung und Ahnung höchstens umrisshaft klar werden kann, was versöhntes Freiheitsleben bedeutet. Weiterführend – auf eine Weise also, die den Zirkel von Negativitätserfahrung und Ahnung in seiner destruktiven Schlagseite durchbricht – ist versöhntes Freiheitsleben, wie Hirsch als Rezipient Fichtes und Kierkegaards nur zu gut wusste, wenn überhaupt, dann nur bildhaft zu thematisieren. Sprache und Lehre hingegen sind nach Hirsch grundsätzlich depravierte Artikulationsmodi von Glaubensgewissheit.20 Nicht zuletzt aus diesem Grund bringt Hirsch nun die christologische Überlieferung nicht nach klassisch dogmatischer Manier ins Spiel. Er integriert also nicht etwa eine Zweinaturen-Christologie in die Trinitätslehre, sondern erklärt Wort und Geschichte Jesu zum Entdeckungszusammenhang der christlichen Glaubenswahrheit. Mit der geschichtlichen Gestalt des Jesus von Nazareth liege, wie Hirsch am Ende von Band I. der Christlichen Rechenschaft formuliert, dasjenige Bild vom wahren Menschsein anschaulich vor, »in Richtung auf das

18 M. Lasogga: Menschwerdung, 205. 19 Das Ich »kann sich […] nur so als Ort der Erscheinung absoluter Wahrheit setzen, daß es sich selbst als aus der Unwahrheit kommend begreift. Und es kann solche Gewissenswahrheit nur so fortbestimmen, daß es sich dabei fortschreitend in jenen Grundwiderspruch vertieft. Die Eigentümlichkeit spezifisch religiöser Icherfahrung gründet und besteht sonach in deren unhintergehbarer, zunächst vor allem negativ sich äußernder Wahrheitswertigkeit« (Ulrich Barth: »Gott – Die Wahrheit?«, in: J. Ringleben (Hg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein, 98–157, hier: 152). 20 M. Wilke: Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, 198: »Alle drei Denker [sc. Hirsch, Fichte und Kierkegaard] verweisen auf die Bildhaftigkeit der Wahrheit an der Stelle, an der die Sprache vor dem Unsagbaren zu erstarren droht.«

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unsere [sc. inneren] Bilder vom Menschsein gezogen werden«.21 Im Ausgang von unserem ahnungsvollen Schuldbewusstsein und anhand von Wort und Geschichte Jesu soll wahres Menschsein thematisiert werden, auf dass wir selbst – in der Unverfügbarkeit des spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo (CA V)22 – aus aller Unwahrheit und Widersprüchlichkeit unseres Freiheitslebens heraus wahrer Mensch werden. Deutlich zeigt sich an dieser Stelle die Radikalität, die Hirschs Umformungsarbeit eigen ist, zerschlägt Hirsch doch den gordischen Knoten des Chalcedonense ganz zugunsten des vere homo. Dabei stellt die Verabschiedung der altkirchlichen Zweinaturenlehre nur ein Teilaspekt von Hirschs größer angelegtem Feldzug dar, der sich grundsätzlich gegen Positionen auf dem christologisch-soteriologischen Feld richtet, die mit dem Stichwort eines versöhnungstheologischen Objektivismus belegt werden können. Solche Positionen fassten, so Hirschs Überzeugung, unter Negierung der grundlegenden erkenntniskritischen Einsichten der modernen Subjektivitätsphilosophie die Aufgabe der Christologie gleichsam vormodern auf, legten also auf eine gegenständliche Weise anhand von behaupteten Interaktionsmustern zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Hemisphäre dar, was Versöhnung ist und wie diese einst im Kulminationspunkt der Heilgeschichte zustande gekommen ist. Um der Falle eines solchen Objektivismus zu entgehen – sie konnte für Hirsch, der um die einschlägige Kritik an jenem klassisch-kirchlichen Paradigma nicht nur vonseiten der Subjektivitätsphilosophie, sondern auch vonseiten des Historismus wusste, kaum an Gefährlichkeit übertroffen werden –, bemüht Hirsch eine imaginative Hermeneutik im Umgang mit den Evangelien.23 Diese zielt nicht biblizistisch auf vermeintliche Tatsachen, sondern versucht, die Jesus-Geschichte so zu lesen, dass in ihr die Konturen des Zielbilds unserer Subjektivität hervortreten, Konturen, die dann in den Kategorien der humanen 21 E. Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, 297. 22 Die Bekenntnisschriften im Auftrag der Evangelischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel im Auftrag er Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014, 101. Die Momente der Unverfügbarkeit Gottes und des Angewiesenseins auf Offenbarung bzw. das Geistwirken sind, wie die obige Anspielung auf die Tradition andeuten will, der Sache nach aus der Theologie Hirschs keinesfalls eliminiert, so sehr sich Hirsch auch gegen eine traditionell-dogmatische und an die Sakramentenlehre gebundene Entfaltung jener Topoi wendet. Diese Einsicht gilt es der Kritik von Friedrich Böbel: Menschliche und christliche Wahrheit bei Emanuel Hirsch, Erlangen 1963, 148, entgegenzuhalten, wonach die »Aussagen, die Hirsch tut, […] im Grunde von einem anderen Christusbild, von dem Christus praesens im Heiligen Geist [leben], auch wenn er [sc. Hirsch] die entsprechenden Aussagen im Neuen Testament und der altkirchlichen Dogmatik als mythisch ausschaltet. […] Der Mund dieser Theologie [sc. Hirschs] sagt: Geschichte-Psychologie und ihr Herz pocht: Heiliger Geist.« 23 Vgl. dazu Ulrich Barth: »Evangelienhermeneutik als Prolegoma zu einer Christologie«, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321–351, bes. 346–348.

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Gleichzeitigkeit, des Nacherlebens und Einfühlens, angeeignet werden wollen.24 So sieht Hirsch, nachdem er noch in seinen exegetischen Frühschriften einen zuweilen recht optimistischen Ausgriff auf den historischen Jesus und dessen eigenes Selbstverständnis und Gottesbild wagt, immer klarer das Paradigma des liberalen Leben-Jesu-Programms als theologiegeschichtlich überwunden an. Allerdings hindert ihn dies nicht daran, gegen seinen kerygmatheologischen Opponenten Rudolf Bultmann stets auf die Bedeutung der Christologie als Lieferantin von narrativen Anhaltspunkten und Zielbildern für die gläubige Personwerdung hinzuweisen.25 Zum erzählerischen Bezugspunkt für die Subjektivität des Einzelnen kann auf dem Boden der Hirsch’schen Geschichtsmethodologie nur ein individuell Eigentümliches an der Gestalt Jesu werden – hier schlägt sich die Emphase des idiographischen Charakters der Geschichtswissenschaft im südwestdeutschen Neukantianismus nieder.26 In der Sache geht es darum, dass es der Jesus-Gestalt ohne die benannte individuelle Eigentümlichkeit an der Möglichkeit fehlte, im Inneren der Gläubigen zum Sinnbild von deren Subjektivität heranzureifen. Die Eigentümlichkeit, die in der Geschichte des Menschen Jesus von Nazareth aufscheint, gewinnt naturgemäß im Gegenüber zur religionsgeschichtlichen Umwelt an Profil, weshalb es für Hirschs imaginative Hermeneutik geradezu konstitutiv ist, Jesus als eine religiöse Kontrastgestalt in Abgrenzung von der von Hirsch sog. »pharisäischen Gesetzesreligion« zu zeichnen.27 So ist das Jesus-Bild 24 Neben Kierkegaard stellen vor allem Droysen und Diltheys Hermeneutik der Vergegenwärtigung diejenigen Positionen da, von denen Hirsch zehrt, wenn er einer positivistischen, rein äußerlich bleibenden Annäherung an das überkommende historische Material eine Absage erteilt. Vgl. dazu U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 165–303. Nicht nur auf Hirsch im Speziellen, sondern auf die Lutherrenaissance im Allgemeinen übte Dilthey mit seinem Erlebenskonzept einen großen Einfluss aus, wie U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 21f. (Anm. 6) zu Recht andeutet. Allerdings, so muss eingeschränkt werden, erblickt Hirsch »mit Droysen den Ermöglichungsgrund historischen Verstehens und Nacherlebens in der Strukturisomorphie der ethischen Subjektivität […], nicht wie Dilthey in der des vorreflexiven Gefühls« (U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 224 [Anm. 55]), in dem nach Dilthey die Ganzheit des Lebens erfahrbar ist. 25 Zu christologischen Auseinandersetzung zwischen Bultmann und Hirsch vgl. M. Wilke: Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs, 116–133. 26 Vgl. dazu U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 204–211. 27 Im Angesicht des uns heute bekannten religionsgeschichtlichen Materials und seiner großen theologischen Bandbreite ist die durch Hirsch vorgenommene Charakterisierung des Pharisäismus als einer ›Gesetzesreligion‹ problematisch. Es gilt jedoch darauf hinzuweisen, dass man sich bei einer Diskussion um religionsgeschichtliche Richtigkeiten wiederum auf eben jene Ebene eines historischen Objektivismus begibt, die Hirsch doch gerade zu überwinden trachtet. Das Imaginationsparadigma der Hirsch’schen Hermeneutik ist auch heute noch insoweit ernst zu nehmen, als es in das Bild Jesu Züge einfließen lässt, die konträr zu einer Vergesetzlichung des Gottesverhältnisses und zu einer Ethik des Verdienstes stehen. Vgl. ferner Hans Martin Müller : »Einführung des Herausgebers«, in: Emanuel Hirsch: Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (Gesammelte Werke 32), Waltrop 2006, 7–32.

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das Bild eines Menschen, der all denjenigen ethisch-religiösen Ambivalenzen nicht enthoben ist, die für das Menschsein in der Schwebe zwischen irdischen Pflichten und unendlichem Soll nun einmal charakteristisch sind. Zielbild des Menschseins ist Jesus insofern, als er dieser antinomischen Schwebe nicht mit gesetzlichen Vereindeutigungsstrategien begegnet, sondern stattdessen, wenn man es religiös formulieren mag, unter der verborgenen Güte seines Gottes lebt. In der Christologie kommt es nach Hirsch ganz darauf an, einen Menschen zu thematisieren, der selbst unter der Antinomik des Freiheitslebens als eines gesetzten Sich-Setzens leidet, der aber dieser Antinomik keine letzte Macht zukommen lässt. Die Differenz zum Jesus-Bild bei Schleiermacher und vielen anderen liberalen Theologen lässt sich an dieser Stelle leicht ausmachen, insofern der Tiefensinn des Jesus-Bildes bei Hirsch ein kreuzestheologischer ist. Dieser Tiefensinn baut sich aber nicht für den vermeintlich neutral-positivistischen Forscher auf, sondern nur im Dialog meiner individuellen Gewissensgeschichte mit der Passionsgeschichte. Nur insofern dabei die Gewissenstheorie mit der imaginativen Hermeneutik im Umgang mit der neutestamentlichen Überlieferung Hand in Hand geht, kann in Hirschs Ansatz die Christologie zur theologischen Bildtheorie aus der Position einer grenzbewussten und doch ahnungsvoll auf Wahrheit hin ausgerichteten Gewissenssubjektivität umfunktioniert werden. Die Funktion einer solchermaßen umcodierten Christologie im Ganzen der Theologie besteht nunmehr darin, anhand der Jesus-Geschichte anschauliches Bildmaterial vom wahren Menschsein vor Augen zu stellen. Die Veranschaulichung des stillen und angefochtenen Glaubens soll dazu ermuntern, an konkreten geschichtlichen Orten selbst wahrer Mensch zu werden. Das Passionsmotiv steht dabei für die stets sub contrario aufscheinende Güte Gottes als des Herrn über die (eigene Lebens-)Geschichte und macht deutlich, was es heißt, in der Glaubensinnerlichkeit Ganzheit und Vollendung in der Gebrochenheit des eigenen Lebens zu verspüren.28 Welche Möglichkeiten – so ist nun zu fragen – bietet dieser radikale Umformungsansatz, um die unter den kulturellen wie religiösen Bedingungen der Gegenwart längst aus dem Stadium der Latenz getretene Krise der eingespielten christologisch-soteriologischen Figuren und Begründungsmuster zu überwinden?

28 So erhält die Eschatologie bei Hirsch einen radikal präsentischen und individuellen Zuschnitt. Vgl. dazu Martin Zerrath: Vollendung der Neuzeit. Transformation der Eschatologie bei Blumenberg und Hirsch, Hamburg 2011, 232–259.

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Emanuel Hirschs gewissenstheoretisch Umformungsansatz in der Spätmoderne

Wenn man nach der Aktualität von Hirschs Umformungsansatz unter den gegenwärtigen religiös-kulturellen Gegebenheiten fragt, so ist selbstredend klar, dass sich an der Abständigkeit der bekenntnisorientierten Christologie sowie an ihrer generellen kulturellen Randständigkeit heutzutage ebenso wenig etwas geändert hat wie an der grundsätzlichen Haltung des Zweifels gegenüber der dogmatischen Überlieferung. Freilich erscheint es bei genauer Betrachtung eher so, als ob aus dem von Hirsch so stark hervorgehobenen Zweifel gegenüber der dogmatischen Überlieferung des Christentums heute eher eine Kollektivvergessenheit in Bezug auf das Christianum geworden ist, welches den Zeitgenossen in deren gelebten Religions- und Weltanschauungssynkretismen nur noch in Spuren bewusst vor Augen steht.29 Ob nun Zweifel oder doch eher Indifferenz – in beiden Fällen vermögen von der Theologie auch heute immer wieder ausgegebene essentialistische Parolen wie etwa die von der »Kommunikation des Evangeliums« kaum weiterzuhelfen.30 Hirschs Auseinandersetzung mit den soziokulturellen wie ideengeschichtlichen Revolutionen des okzidentalen Modernisierungsprozesses lehrt aber, von einem versöhnungstheologischen Paradigma Abschied zu nehmen, das, wie es selbst zu erkennen gibt, vor jenen grundstürzenden Wandlungen des Weltbildes im neuzeitlichen Europa entstanden ist.31 Ins Philosophisch-Grundsätzliche gewendet: Es ist jeglicher Objektivismus, der sich auf das Evangelium von Jesus Christus gleichsam wie auf ein kodifiziertes Heilsperfektum stürzt und stützt, zugunsten einer entschiedenen Konzentration auf die Umformungsarbeit aufzugeben, denn ein dogmatischer Essentialismus muss notgedrungen in einen Konflikt geraten mit den subjektivitätstheoretischen Grundeinsichten der modernen Philosophie mindestens seit Kant. Nun hat Hirsch – wie wir oben sahen – für die Herausforderungen der Umformungsarbeit eine gewissenstheoretische Matrix geliefert, die Anschlussfähigkeit für sich reklamiert gerade im Angesicht der krisenhaften Selbsterfahrung des modernen Individuums. Der anthropologische Anknüpfungspunkt des 29 Vgl. die Perspektive des Zeithistorikers Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013. 30 Die Kategorie »Kommunikation des Evangeliums« ist leitend für die praktisch-theologische Theoriebildung bei Christian Grethlein: Praktische Theologie, Berlin/Boston 2012. Kritisch dazu Wilhelm Gräb: »Kommunikation des Evangeliums. Religionstheologische Ansichten und Anfragen«, in: Michael Domsgen/Bernd Schröder (Hg.): Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie (Arbeiten zur Praktischen Theologie 57), Leipzig 2014, 61–74. 31 Vgl. dazu auch F. Wagner : Umformungskrise, 231–237.

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Gewissens soll als das entscheidende hermeneutische Bindeglied fungieren zwischen den Situationen der Selbsterschlossenheit des Individuums unter dem Gesetz – Situationen zwischen Schuldbewusstsein und ahnungsvollem Bezogensein auf Versöhnung – und der von ethisch-religiösen Antinomien und Dunkelheiten nicht freien Erzählung von Jesu Gang ans Kreuz. Nun ist bekannt und hat der Forschung ausreichend Stoff für eingehende Debatten geliefert, dass Hirsch diese anspruchsvolle subjektivitätstheoretische Basis von Anbeginn an um gemeinschafts- und geschichtsphilosophische Überlegungen angereichert hat, die insofern eine hochgradig diskussions- und kritikwürdige Gestalt aufweisen, als sie mit dem Vorwurf konfrontiert werden müssen, der Okkupation des bei Hirsch doch angeblich so ›heiligen‹ Gewissens des Einzelnen durch den Totalitätsanspruch von Ideologien, die sich auf Partikulargebilde wie das eigene Vaterland berufen haben, Vorschub geleistet zu haben.32 Aufgrund des für den vorliegenden Beitrag leitenden systematischen Interesses – der Frage nach dem strukturellen Potenzial des gewissenstheoretischen Umformungsansatzes heutzutage – kann die Diskussion um diesen heiklen Punkt des Hirsch’schen Œuvres an dieser Stelle nicht eigens aufgerollt werden.33 Zur Sprache kommen muss im vorliegenden Zusammenhang allerdings, dass Hirsch die gemeinschaftsphilosophischen Überlegungen stets ganz offenkundig funktionalisiert. Der Zweck, für den Hirsch sie einspannt, ist dabei im Rahmen seines Denkens schnell ausgemacht. Nach dem Verlust der religiösen Bußpraxis in der Moderne soll ein starres soziales Bindungsgefüge, das von Hirsch ordnungstheologisch als angebliche unverrückbare Basis menschlichen Lebens vorgegeben und so jeder Diskus-

32 Eine der ersten Arbeiten in diesem Kontext stammt von Gunda-Schneider Flume: Die politische Theologie Emanuel Hirschs, Bern/Frankfurt/M. 1971. 33 Verwiesen sei hier aber auf die sensibel abwägenden Überlegungen von Dietz Lange: »Der Begriff des ›Heiligen‹ in der Theologie Emanuel Hirschs«, in: J. Ringleben (Hg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein, 188–225. Lange arbeitet heraus, dass bei Hirsch zwar »die Heiligkeit der Gemeinschaft […] dem einzelnen Gewissen prägend und Gehorsam fordernd vorgegeben, aber zugleich coram Deo der Heiligkeit des einzelnen Gewissens untergeordnet« (D. Lange: Der Begriff des »Heiligen«, 196) ist. Als zentralen Kritikpunkt an Hirsch macht Lange sodann geltend, dass Hirsch inkonsequenterweise immer dann, wenn das Gewissen auf die Imperative der es umschließenden Gemeinschaft treffe, kaum die Antinomie des simul iustus et peccator in Anschlag bringe, die doch – eigentlich auch nach Hirsch – die Signatur des von Gott berührten Gewissens bleibe. Wie Lange richtig sieht, verbietet sich eine umstandslose Identifizierung von irdisch-weltlichen Gegebenheiten, sei es der eigenen Gewissensstimme oder der organisch-volkhaften Gemeinschaft der Gewissen, mit der Ewigkeit Gottes dann, wenn man sich konsequent an die benannte Antinomie des simul iustus et peccator hält und zugleich dem Gottesgedanken jenes Überschusspotenzial zubilligt, das einer restlos weltimmanenten Verortung Gottes widersteht und das eigentlich auch von Hirsch in seiner bekannten duplizitären Entfaltung des Gottesverhältnisses des Subjekts unter den Oberkategorien von Gott als Geist und Herrn stets mitgeführt wird.

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sion entzogen wird,34 dazu verhelfen, das im Gewissen mögliche umfassende Selbsterkennen sowie das damit mitgesetzte ahnungsvolle Bezogensein auf Wahrheit präsent zu halten, auf dass sich dann dieses Bezogensein auf Wahrheit in der Begegnung mit Wort und Geschichte Jesu zu einem ›bejahten Gotterleiden‹ durch den Einzelnen weiter vertiefen möge. Um die vakant gewordene Funktionsstelle der Bußpraxis zu besetzen, mobilisiert Hirsch Familie, Beruf und Nation als objektive gesellschaftliche Gewissensstimulanzen, die seiner Meinung nach im Einzelnen ein Grenzbewusstsein bewirken können. Mit einem solchermaßen stimulierten Grenzbewusstsein soll die Disposition für Offenbarung vorliegen, insofern in ihm sich Subjektivität wieder ahnungsvoll auf Gott als ihren verborgen waltenden Grund und als ihre geheimnisvolle Grenze beziehen könne. An diesem Punkt stellt sich bei der Auseinandersetzung mit Hirsch sofort die Frage ein, ob mit der Auflösung eines starren sozialen Bindungsgefüges und eines einheitlichen gesellschaftlichen Pflichtenethos die gesamte gewissenstheoretisch codierte Anthropologie, die die Basis der Umformungsarbeit abgeben soll, ihre Überzeugungskraft verliert. Bei Lichte besehen war das starre Bindungsgefüge schon zu Hirschs Zeiten eine gefährliche Illusion, und ironischerweise hat gerade die ›nationale Revolution‹ des Nationalsozialismus, die Hirsch euphorisch begrüßt hat, gesellschaftsstrukturell alles andere als die Rückkehr zum von Hirsch verklärten Ideal der stratifizierten Gesellschaft gebracht. So muss nicht nur aufgrund der Fallstricke einer autoritär-totalitären Ideologie, denen Hirsch nicht entgehen konnte, an diesem Irritationspunkt in der Sache kritisch nachgehakt werden. Denn es ist schlichtweg eine Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich vollends die von Hirsch und anderen Theologen der ›Lutherrenaissance‹ als ›heilig‹ ausgegebenen festen Ordnungsstrukturen, unter denen sich Menschsein angeblich vollziehe, – in Anlehnung an das von Zymunt Bauman geprägte Paradigma der »flüssigen Moderne«35 formuliert – bis zur Unkenntlichkeit verflüssigt haben. Durch die tektonischen Verschiebungen in der Sozialzusammensetzung, der Sozialstruktur und der Mentalitätslandschaft der wohlfahrtstaatlich abgefederten Marktgesellschaften Westeuropas hat sich innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten der Verweisungszusammenhang von politischer Gemeinschaft, beruf- bzw. sozialständischer Bindung und schuldhafter Selbsterkenntnis nahezu vollständig aufgelöst. Die für den vorliegenden Erörterungszusammenhang relevante Folge dieser Entwicklung in den westlichen Nachkriegsgesellschaften, die man 34 Vgl. E. Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, 159: »Jede Erfahrung zeigt, dass die menschliche Gemeinschaft zum Bestande einer der Diskussion entzogenen selbstverständlichen Unterlage bedarf«. 35 Zygmunt Bauman: Liquid Modernity, Cambridge 2000 (dt.: Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003).

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durchaus mit dem soziologischen Theorem vom Wertewandel von den Akzeptanz- hin zu den Selbstverwirklichungswerten36 zusammenschließen mag, besteht darin, dass die Orte der Gewissensbildung und Gewissensbindung größtenteils ins Private abgewandert sind und dass sie sich nun auch dort immer schneller transformieren. Trotz mancher Gegenläufigkeiten zum Wandel im Zusammenspiel von »Institution und Gewissen«37 kann man grosso modo davon ausgehen, dass das, was man ehemals mit dem Begriff der Bindungen belegte, heutzutage auch im Privaten immer mehr auftritt in Gestalt kurzfristiger Projekte zur Identitätsgewinnung und -stabilisierung, Projekte, an denen erfolgreich zu basteln die große Lebensaufgabe darstellt. Dass weiterhin gerade auch in der jungen Generation ein vitales Verlangen nach Zielbildern der Lebensführung anzutreffen ist, steht dabei nicht im Widerspruch dazu, dass gerade die privatpersönlichen Beziehungen als im hohen Maße aushandelbar und als eigeninitiativ gestaltbar angesehen werden. Vor diesem Hintergrund erheben sich nun durchaus Stimmen, die meinen, durch die besagten Entwicklungen verliere das Gewissenspostulat seinen präreflexiven Bezug zu einer »unbedingten Transzendenz«38 und in eins damit auch seine Offenheit gegenüber dem Erzähl- und Symbolraum des Christentums. Für diese Sichtweise hat sich vor einigen Jahren etwa Andreas Feige aus der Perspektive des sozialwissenschaftlichen Empirikers auf entsprechendes Material berufen.39 Wie Feige in der Auswertung seiner Untersuchung zur Lebensorientierung Jugendlicher betont, werde in der privaten Interpersonalitätssphäre als dem neuen sozialen Geltungsort des Gewissens etwa im Umgang mit dem Thema der Schuld letztere mehrheitlich »als Objekt verstanden […], das einer allein sozialtechnologisch verstandenen Behandlung zugänglich ist, nicht aber als Größe einer Transzendenz-Relation«. Infolge dieser Entwicklung hin zu einer Profanisierung der Gewissensstimme sei der »Status der christlichen Religion als Erlösungsreligion […] und damit auch das Gewissen als konstitutives Element dieses religiösen Konzepts«40 fundamental bedroht. Nun mag man sich Feiges Befund dadurch erklären, dass der neuzeitliche Prozess der Emanzipation aus vorgefertigten Gegebenheiten in spätmodernen 36 Vgl. Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/M. 1984; ders.: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt/M. 1993. 37 In Aufnahme des Titels von Christopher Zarnow: »Institution und Gewissen«, in: Stephan Schaede/Thorsten Moos (Hg.): Das Gewissen, Tübingen 2015, 469–492. 38 Andreas Feige: »Soziale Geltungsorte des Gewissensbegriffs«, in: S. Schaede/T. Moos (Hg.): Das Gewissen, 395–415, hier : 414. 39 Vgl. Andreas Feige/Carsten Gennerich: Lebensorientierungen Jugendlicher. Alltagsethik, Moral und Religion in der Wahrnehmung von Berufsschülerinnen und -schülern in Deutschland. Eine Umfrage unter 8.000. Christen, Nicht-Christen und Muslimen, Münster 2008. 40 A. Feige: Soziale Geltungsorte, 414f.

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Kontexten soweit gediehen ist, dass das Individuum nun gänzlich um sein Grenzbewusstsein gebracht ist – und dass aus genau diesem Faktum heraus das Unverständnis gegenüber der religiösen Symbolsprache des Christentums erwächst, die ganz wesentlich von diesem Grenzbewusstsein lebt. In dieser Hinsicht verdient Feiges (religions-)soziologischer Befund durchaus Beachtung. Dennoch sollte dieser Befund nicht dazu verleiten, mit der Auflösung starrer Ordnungen und eines einheitlichen Pflichtenethos sogleich auch die Möglichkeit einer bußtheologisch anschlussfähigen umfassenden Selbsterkenntnis verschwinden zu sehen. Wenn es nämlich bei dem »über Buße sich aufbauende[n] christliche[n] Gottesglaube[n]« wesentlich um die »Idee einer [sc. letzten] Einheit der eigenen Lebensgeschichte« geht41 – und wenn Buße andererseits nicht missverstanden werden darf »als Lebenswende mit der Konsequenz einer empirisch wahrnehmbaren, christlich besonderten Lebensführung«, womöglich gar im »Zusammenhang sozialer Optionen (Umwelt, Frieden)«42 –, dann sind auch in den Gesellschaftskonstellationen der Gegenwart einige wirkmächtige »Katalysatoren der Selbstbesinnung« ausfindig zu machen, die die alte Systemstelle der Buße neu zu besetzen vermögen. Als solche Katalysatoren der Selbstbesinnung kann man beispielsweise »Jubiläen, kirchliche Kasualien, lebensgeschichtliche Umbruchssituationen und Krisen, aber auch Formate wie das Tagebuch, die Psychotherapie oder das regelmäßige Telefongespräch mit der besten Freundin«43 anführen. Zwar ist für diese Situationen allesamt – und darin liegt ein nicht unerheblicher Widerspruch zur Theologie Hirschs vor allem der der zwanziger und dreißiger Jahre44 – keine Rückbindung mehr an ein traditionell-autoritär konfiguriertes Institutionengefüge einschlägig. Dennoch liefert gerade Hirschs gewissenstheoretische Anthropologie genau diejenigen heuristischen Mittel, mit denen sich diese Katalysatoren allererst in ihrer Tiefenstruktur entschlüsseln lassen. Denn tendenziell würden die benannten Situationen missverstanden, erblickte man in ihnen lediglich den Ausdruck einer »freidrehende[n], entleerte[n] Reflexionssubjektivität«.45 Liest man sie dagegen von Hirschs gewissenstheoretischer Anthropologie her, dann kann man in ihnen die Dialektik von Fügung und Ruf, von Grenzerfahrung und (umrisshafter) 41 Dietrich Korsch: »Buße. Zur theologischen Rekonstruktion einer religiösen Lebensform«, in: Volker Drehsen u. a. (Hg.): Der ›ganze Mensch‹. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität (FS Dietrich Rössler), Berlin/New York 1997, 249–262, hier : 258. 42 D. Korsch: Buße, 255. 43 C. Zarnow: Institution und Gewissen, 489. 44 Zu Hirschs Reaktion auf die geänderten gesellschaftlichen Gegebenheiten in der Zeit der BRD vgl. die Bemerkungen von Arnulf von Scheliha: »Die Überlehrmäßigkeit des christlichen Glaubens. Das Wesen des (protestantischen) Christentums nach Emanuel Hirsch«, in: Mariano Delgado (Hg.): Das Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom »Wesen des Christentums« zu den »Kurzformeln des Glaubens«, Stuttgart 2000, 61–73, hier : 68–71. 45 C. Zarnow: Institution und Gewissen, 489f.

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Ahnung menschlicher Ganzheit wiedererkennen, instanziiert nun eben in den pluriformen und enthierarchisierten Lebenswelten einer flüssig gewordenen Moderne. Auch in den Konstellationen einer solchen Moderne bleibt die von Hirsch auf gewissenstheoretischem Wege geltend gemachte Dialektik von Negativität und Ahnung, Fragmentarität und Idealität ein Konstitutivum menschlicher Selbstbeschreibung, das es theologisch aufzunehmen gilt. In Rechnung zu stellen ist dabei eben stets, dass solch einschlägige Grenzerfahrungen von Subjektivität kaum mehr im Bezugsrahmen von bzw. im Widerspiel mit angeblich objektiv vorgegebenen Sozialeinheiten wie Beruf(-sstand) und Volk aufbrechen, sondern vielmehr am Orte der individuell zu verantwortenden Lebensführung selbst. Damit freilich ist das soziale Grenzmoment nicht ausgelöscht, so sehr es auch durch den Individualisierungsprozess vordergründig invisibilisiert sein mag. Denn die Soziologie lehrt, dass es in hochgradig entfalteten Gesellschaften das Individuum ist, das die einzig verbliebene »lebensweltliche[…] Einheit der Reproduktion des Sozialen«46 darstellt. In dieser Hinsicht gilt, dass auf dem Individuum – und nur auf ihm – die zahlreichen makrostrukturellen Antagonismen der funktionsdifferenten modernen Gesellschaft abgeladen werden. So wird »die individualisierte Privatexistenz immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen abhängig, die sich ihrem Zugriff vollständig entziehen. Parallel entstehen [sc. am Ort des Individuums] Konflikt-, Risiko- und Problemlagen, die sich ihrem Ursprung und Zuschnitt nach gegen jede individuelle Bearbeitung sperren.«47

Diese soziologische Erkenntnis muss nun von einer christlichen Verkündigung, die sich für das Heute von Hirschs Umformungsansatz und seiner gewissenstheoretischen Anthropologie inspirieren lassen will, grundlegend miteinbezogen werden. Selbstredend verfällt eine solche Verkündigung im Angesicht der pluralistischen Situation unserer Gegenwart nicht auf den Gedanken, ein allgemeines gesellschaftliches Pflichtenethos zu postulieren und dieses dann zu dem Zweck zu instrumentalisieren, auf die Aporien ethisch-religiöser Selbstdeutung aufmerksam zu machen. Sie konzentriert und beschränkt sich stattdessen darauf, anhand des ambivalenten und undurchsichtigen Charakters unseres (Alltags-)Lebens auf die widersprüchlichen Grenzerfahrungen von Subjektivität hinzuweisen. Ferner bemüht sie sich darum, diese Grenzerfahrungen im Sinne derjenigen Antinomik auszudeuten, die einem als gesetztes Sich-Setzen zu begreifenden Freiheitsleben strukturell anhaftet. Freilich gilt es heute, da man sich mit einer inflationären Flut an Bildern des 46 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, 209. 47 U. Beck: Risikogesellschaft, 211.

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Menschseins konfrontiert sieht, stärker denn je die benannte Antinomik allererst wieder freizulegen und ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Hierzu sollte sich die Theologie der ganzen Bandbreite des kulturwissenschaftlichen Materials ihrer Zeit bedienen. So sehr nämlich »das Leben an der Grenze als latente Grundstruktur in unseren Alltagserfahrungen selbst« auftaucht, so sehr gilt doch auch: »Die Erfahrung der Grenze ist […] gerade im Alltagsleben nur eine mögliche, die eher verschüttet oder verdrängt als bewußtgemacht wird. Das Jenseits im Diesseits, das Fremde im Vertrauten, der Einbruch von draußen, vom Anderen, oder der Ausbruch ins Draußen, ins Andere – Erfahrungen dieser Art können durch die Routinisierung unseres Alltagslebens vielfach mit Erfolg ausgegrenzt bleiben«.48

Theologie, inspiriert von Emanuel Hirschs Gewissensdialektik, muss sich heute der Aufgabe stellen, die strukturelle Antinomik des gesetzten Sich-Setzens immer wieder in Beziehung zu setzen zu denjenigen Alteritätserfahrungen, die die Subjekte in den pluralistischen Gesellschaften der Gegenwart machen. Diese Erfahrungen zeichnen sich ja offenkundig dadurch aus, dass sie sich nicht mehr in höheren Syntheseeinheiten aufheben lassen. So gesehen führt von den Grenzerfahrungen des Alltagslebens gerade kein Weg in ein Pathos der Gemeinschaftlichkeit, das gemeinsame Grenzerfahrungen irgendeiner höheren Allgemeinheit postuliert. Sehr wohl führen aber gewisse alltägliche Grenzerfahrungen des Subjekts zu einer Besinnung auf die Kontingenz, den Schickungsund Fügungscharakter des individuellen Lebens, der in der gewissensmäßigen Selbsterschlossenheit voll ausgebreitet vor Augen steht. Zu dieser Besinnung anzuleiten, dies ist heute die eigentliche Aufgabe des usus elenchticus, des bußtheologischen Spitzenbegriffs Luthers, den dieser noch mit den drastischen Worten »primo deicienda conscientia«49 auf den Begriff bringen konnte. Freilich gilt es in diesem Zusammenhang, mit großer Behutsamkeit der Gefahr einer trivialmoralischen Verflachung der Gesetzespredigt aus dem Weg zu gehen. Dies kann letztlich nur dann gelingen, wenn dem Prediger bzw. der Predigerin die Bedeutung des gewissensmäßig bestimmten Sündenbewusstseins so präsent ist, dass er oder sie nicht auf den Gedanken verfällt, sich irgendwo außerhalb der Schwebe zwischen Grenzbewusstsein und Ahnung zu verorten – selbiges gilt nach Hirsch im Übrigen auch ohne Abstriche für die im Bereich des Religionsunterrichts Tätigen.50 48 Henning Luther : »›Grenze‹ als Thema und Problem der Praktischen Theologie. Überlegungen zum Religionsverständnis«, in: ders.: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 45–60, hier : 48. 49 Zitiert nach Emanuel Hirsch (Hg.): Luthers Werke in Auswahl, Bd. 7: Predigten, Berlin 1950, 33. 50 Vgl. Emanuel Hirsch: »Die Erweckung der Ehrfurcht vor dem Heiligen als Ziel des Religionsunterrichts«, in: Die Spur 15 (1975), 113–121. »Ohne daß der Lehrer ein über das Gemeine

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Wenn Predigt und Religionsunterricht selbst in der spannungsreichen Polarität von Grenzbewusstsein und Ahnung, von Fragmentarität und Idealität angesiedelt sind und nicht vom Ort einer kerygmatisch an die Frau oder den Mann zu bringenden Botschaft herkommen, dann hat dies große Auswirkung auf die Art und Weise, wie Predigt und Religionsunterricht zu einer Begegnung mit der Gestalt Jesu und dem ihr auf narrativen Wege zugeschriebenen Gottesbewusstsein anleiten. Sie unternehmen dies dann nämlich nicht mit kerygmatischer Inbrunst oder in einem ähnlich gelagerten Überzeugungsgestus, der im pluralistischen Stimmengewirr ohnehin mehr Verwirrung als Eindeutigkeit stiften würde, sondern eher tastend, und niemals ohne die freie, dabei aber keinesfalls willkürliche (Zu-)Tat der »dichterischen Einbildungskraft«, auf der das Verfahren von Hirschs imaginativer Hermeneutik basiert. »Auf dem Gebiet der eigentümlich menschlichen Daseinswirklichkeit«, so schreibt Hirsch in seiner letzten Veröffentlichung kurz vor seinem Tod, »verstehen wir nur das mit lebendiger, unseren Sinn erleuchtender Einsicht, was wir durch freien Gebrauch unserer schaffenden und nachschaffenden Einbildungskraft […] inwendig nachbilden«.51 So gesehen haben sich Predigt und Religionsunterricht stets darum zu bemühen, den Tiefensinn der Passionserzählung in engster Nähe zu unseren Selbsterfahrungen zu entfalten. In deren Horizont muss dann aber – wenn die oben in Anspruch genommene Gegenwartsanalyse nicht völlig falsch ist – der Blick auf Jesus als jemanden gehen, der »in seinem Leben und Tod das Annehmen von Fragmentarität exemplarisch« vorgelebt hat, und dessen Leben keinesfalls, ebenso wenig wie das bei dem unsrigen der Fall ist, unter dem Vorzeichen gestanden hat, dass er »eine gelungene [sc. und widerspruchsfreie] Ich-Identität vorgelebt hätte, gleichsam ein Held der Ich-Identität wäre«52. Wird die christologische Arbeit auf diese Weise (neu) justiert, dann zielt sie nicht (mehr) auf die dogmatischen Lehrsätze der Tradition oder auf das Schmieden von Paradoxformel nach Manier der Wort-Gottes-Theologie, sondern ist darauf ausgerichtet, Bilder vom wahren Menschsein, wie sie dem Glauben durch alle Gebrochenheit und alle Unabgeschlossenheit des Lebens hindurchscheinen, zu erzeugen und tradierend zu vermitteln. Über den bildsich erhebendes ideales Bild vom wahren Menschsein in sich trägt und die Übertragung dieses Bildes auf seine Schüler sich zu einem die engeren Unterrichtsaufgaben beseelenden Ziele seines Umgangs mit den zu Unterrichtenden macht, gibt es keine Erziehung und Bildung« (E. Hirsch: Erweckung der Ehrfurcht, 114). Ein Religionsunterricht hingegen, der unter der Flagge der positionellen Neutralität segelt und dementsprechend bewusst auf das subjektive religiöse Engagement des oder der Lehrenden verzichtet, verwandelt sich nach Hirsch in bloß äußerlich belehrende »Moralkunde und Sozialkunde« (E. Hirsch: Erweckung der Ehrfurcht, 114). 51 Emanuel Hirsch: »Die Bedeutsamkeit der dichterischen Phantasie für den Religionsunterricht«, postum erschienen in: Die Spur 15 (1975), 122–126, hier : 124. 52 Henning Luther : »Identität und Fragment«, in: ders.: Religion und Alltag, 160–182, hier: 173.

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theoretischen Zug wird der Arbeit an der neutestamentlichen Überlieferung in Predigt und Religionsunterricht eine gewisse Offenheit und Variabilität in der jeweiligen Durchführung ermöglicht, ohne dass auf diese Weise einer inhaltsleeren Beliebigkeit Vorschub geleistet wird. Vor allem aber liegt in dieser Justierung der christologischen Arbeit für die christliche Religionspraxis allererst die Chance beschlossen, eine – mehr als nur oberflächlich hergestellte – Nähe zu den letzten Lebensfragen ihrer Zeitgenossen zu erlangen. Denn kaum mehr dürfte in der Gesellschaftskonstellation der Gegenwart nach Versöhnung in einem solch umständlichen Sinn gefragt werden, dass überlieferte dogmatische Traditionen und Konstrukte wie das komplexe Geflecht aus Zweinaturen-, Satisfaktions- und Rechtsfertigungslehre die verlangte verständliche Antwort lieferten. Doch die bereits eingangs erwähnte, vordergründig so harmlose Frage, die Hirsch immer wieder beschäftigt hat, »ob es denn möglich sei, in dem allen ein ganzer Mensch, eine Person zu sein«,53 ist nach wie vor relevant und unter der Decke des gesellschaftlichen »Verblendungszusammenhangs« wahrscheinlich virulenter denn je.54 In genau diesen Fragezusammenhang die neutestamentliche Überlieferung einzuflechten, erscheint allemal vielversprechender als eine bloße Reproduktion der christologischen Tradition oder sonstiger schultheologische Weisheiten. Durch die letztgenannten Reflexe – sie sind gegenwärtig in der Theologenschaft freilich weitverbreitet– verharrt Theologie in der (Auto-)Suggestion, der zentrale Gehalt des christlichen Glaubens erschließe sich nur auf dem Weg der Zustimmung zu abständigen Lehr- und Überzeugungssystemen aus vergangenen weltanschaulichen Kontexten. Nach Hirsch verspielt Theologie auf diese Weise nicht weniger als ihre existenzielle und lebensdienliche Dimension gegenüber ihren Zeitgenossen, sowie sie sich gleichzeitig der Chance auf einen Akt echten menschlichen Verstehens bzw. echter Aneignung dessen begibt, worauf christlicher Glaube im Letzten zielt.

53 E. Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd. 1, 275. 54 Es bleibt unverständlich, warum Markus Buntfuß: »Verlust der Mitte oder Neuzentrierung? Neuere Wege in der Christologie«, in: NZSTh 46 (2004), 348–363, hier : 354, meint, in der Ausrichtung einer bildtheoretisch arbeitenden Christologie auf die Thematik der Ganzheit in der Gebrochenheit des Lebens, wie sie bei Hirsch und dessen Nachfolgern vorliegt, die Gefahr einer »Intellektuellenreligiosität« wittern zu können.

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Das Kreuz als »Bild der Unversöhnlichkeit«. Überlegungen zum unmittelbaren Eindruck des Todes Jesu und seiner Bedeutung für die Christologie »So, jedem reinen Aug ein Schauder, Ragt es herein in unsre Zeit; Verewigend den alten Frevel, Ein Bild der Unversöhnlichkeit.«1 Theodor Storm

Die zitierten Zeilen Theodor Storms, dessen 200. Geburtstag jüngst gefeiert wurde, entstammen einer Epoche, von der Emanuel Hirsch in seiner Geschichte der neuern evangelische Theologie schrieb, ihr sei »geistig und religiös ein Bruch mit den gesamten Grundlagen des christlichen Abendlandes« vorausgegangen und habe die »Umformungskrise« des neuzeitlichen Christentums im 19. Jahrhundert »zu ihrem Gipfel« kommen lassen.2 Die Anfechtungen der christlichen Theologie seit der Aufklärung fanden in der Zeit um 1865, dem Entstehungsjahr von Storms Gedicht Crucifixus, in der Wirkung von Gestalten wie David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Arthur Schopenhauer eine nochmalige Zuspitzung. Theodor Storms Werke haben vor diesem Hintergrund ausdrucksstarke schriftstellerische Verarbeitungsformen jener religiösen Umformungs- und Plausibilitätskrise hervorgebracht. Ein zentrales Paradigma ist hierin der Kreuzestod Jesu, dessen Zumutungscharakter Storm eindrucksvoll in 1 Dritte und letzte Strophe aus Theodor Storm: »Crucifixus« (1865), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte, Novellen 1848–1867, hg. v. Karl Ernst Laage/Dieter Lohmeier, Frankfurt/M. 1987, 67. Die vorangehenden Strophen lauten: »Am Kreuz hing sein gequält Gebeine, / Mit Blut besudelt und geschmäht; / Dann hat die stets jungfräulich reine / Natur das Schreckensbild verweht. // Doch die sich seine Jünger nannten, / Die formten es in Erz und Stein, / Und stellten’s in des Tempels Düster / Und in die lichte Flur hinein.« (T. Storm, Crucifixus, 67) Vgl. zur Bedeutung Storms am Ende des 19. Jahrhunderts und seiner Stellung zum Christentum u. a. David A. Jackson: »Storms Stellung zum Christentum und zur christlichen Kirche«, in: Brian Coghlan/Karl Ernst Laage (Hg.): Theodor Storm und das 19. Jahrhundert. Vorträge und Berichte des Internationalen Storm-Symposiums aus Anlaß des 100. Todestages Theodor Storms, Berlin 1989, 41–99; Christian Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung 8), Berlin 2011 und Karl Ernst Laage: »Wenn ich doch glauben könnte!« Theodor Storm und die Religion, Heide 2010. 2 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. III, Gütersloh 31964, 3 und 15.

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Verse zu gießen vermochte. Er nimmt dabei jedoch nicht in erster Linie die Argumente der modernen Philosophie und der historischen Kritik zum Anlass seiner agnostischen Skepsis, sondern macht auch die innere Anstößigkeit des Zentralsymbols des Christentums selbst zum Thema: Er bezeichnet das Kreuz als »Schreckensbild«, das nicht nur der Gegenwart, sondern allen Zeiten der Weltgeschichte unversöhnlich gegenüberstehe.3 Seinen eigenen Glauben an die Liebe sieht er durch die Botschaft vom Kreuz regelrecht konterkariert und benennt damit eine durchaus alte Vermittlungskrise: Zu allen Zeiten warf die Passion Jesu einen Schatten auf die Grundfragen des christlichen Glaubens und wurde schon in der Antike als besondere Herausforderung der Christologie und Soteriologie empfunden.4 Das zentrale Symbol des Christentums wird zum herausragenden Symbol von dessen Krise stilisiert. Den neuprotestantischen Versuchen einer Vermittlung oder Entschärfung der Kreuzesbotschaft zum Trotz betont Storm die bleibende Zumutung und »Unversöhnlichkeit«, die ihm ebenso befremdend wie faszinierend vor Augen steht. Storm ist natürlich nicht der erste dichtende Kreuzeskritiker. Schon Jahrzehnte früher bezeichnete Goethe bekanntlich das »leidige Marterholz« als »das Widerwärtigste unter der Sonne« und setzte damit eine tiefe Wegmarke in der Problemgeschichte der Deutung des Todes Jesu.5 So berichtet Heinrich Heine 3 Zur Frage der Deutung von Storms Auseinandersetzung mit dem Christentum und seiner »Ambiguität im Umgang mit dem christlichen Kreuz« vgl. erneut Christian Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm, 81 und zur »Kontrafaktur der Soteriologie« in Storms Kreuzesdeutung im Zusammenhang mit dem Gedichtentwurf »An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ« (C. Demandt: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm, 75–90). Vgl. dazu David A. Jackson: »Storm at the Foot of the Cross«, in: The Germanic Review 1 (1984), 82–89 und ders.: »Christian Demandt, Religion und Religionskritik bei Theodor Storm«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 53 (2012), 165–174. 4 Vgl. hierzu die wichtigsten Quellenbefunde in Jean-Marc Prieur : Das Kreuz in der christlichen Literatur der Antike, deutsche Übersetzung v. Ellen Pagnamenta, Bern 2006 und für einen Überblick Martin Hengel: »Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die ›Torheit‹ des ›Wortes vom Kreuz‹«, in: ders.: Studien zum Urchristentum. Kleine Schriften VI (WUNT 234) Tübingen 2008, 594–652 und Gerd Theißen: »Das Kreuz als Sühne und Ärgernis«, in: Dieter Sänger/Ulrich Mell (Hg.): Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 427–455. 5 Vgl. hierzu den Brief Goethes an Zelter vom 9. Juni 1831, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), 20 Bde., hg. v. K. Richter in Zusammenarbeit mit H.G. Göpfert/N. Miller/G. Sauder, München/Wien 1986, (im Folgenden zitiert als MA), Bd. 20.2, 1482, die bekannte Bemerkung aus den Venezianischen Epigrammen, Nr. 66, in: MA 3.2, 139 (vgl. auch Nr. 52, MA 3.2, 37) und besonders die Kreuzespolemik in dem aus Goethes Nachlass stammenden und zum »Buch Sodeika« im Divan gehörenden Gedicht Süsses Kind, die Perlenreihen mit den Zeilen »Mir willst Du zum Gotte machen / Solch ein Jammerbild am Holze!« (MA, 11.1,1, 102f., vgl. hierzu auch im Kommentar die Hinweise auf die kritischen Bemerkungen Boisser8es zu Goethes Kreuzespolemik, MA, 11.1,1, 451–455). Grundsätzlich zur Bedeutung des Kreuzesmotivs bei Goethe vgl. u. a. Hermann Kunisch: Goethe-Studien (Schriften zur Literaturwissenschaft 7), Berlin 1991, 96–99

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von der verbreiteten Entrüstung über die bekannte Kreuzeskritik des »großen Heiden«: »sie sahen in ihm den gefährlichsten Feind des Kreuzes, das ihm, wie er sagte, so fatal war wie Wanzen, Knoblauch und Tabak; nemlich so ungefähr lautet die Xenie, die Goethe auszusprechen wagte, mitten in Deutschland, im Lande wo jenes Ungeziefer, der Knoblauch, der Tabak und das Kreuz, in heiliger Allianz, überall herrschend sind.«6

Das Unbehagen der Dichter, die freilich an anderer Stelle auch subtile Würdigungen und tiefsinnige Deutungen der Passion Jesu zu formulieren wussten, ist nicht zu unterschätzen.7 Sie artikulieren eine Anstößigkeit des Kreuzes, die weit mehr ist als ästhetisches Befremden oder Kritik an überkommener mittelalterlicher Theologie. Sie ringen um die Vermittlung zentraler theologischer Fragen mit der Realität religiöser Ausdrucks- und Lebensformen. Wie angemessen ist die Darstellung Gottes in einem Bild des Todes und Leidens? Und wie ist diese Darstellung auch unter den Bedingungen der Moderne noch zu vermitteln? In den letzten Jahren wurden die dahinter stehenden »Kreuzbeschwerden« auch im Blick auf die Theologie des frühen 21. Jahrhunderts vielfach diskutiert.8 (im Kapitel zu »Goethes Frömmigkeit«) und grundsätzlich zur Goetherezeption der neueren protestantischen Theologie Jan Rohls: »›Goethedienst ist Gottesdienst‹. Theologische Anmerkungen zur Goethe-Verehrung«, in: Jochen Golz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Goethe in Gesellschaft. Zur Geschichte einer literarischen Vereinigung vom Kaiserreich bis zum geteilten Deutschland, 33–62. 6 Vgl. hierzu die Bemerkung im ersten Buch der Romantischen Schule von 1833, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe (im Folgenden zitiert als DHA), Bd. 8.1, 155. Die süffisante Anspielung bezieht sich auf das 66. Venezianische Epigramm Goethes: »Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider ; / Viere: Rauch des Tobacks, Wanzen und Knoblauch und †.« (MA, 3/2, 139). 7 Zu Heines tiefsinnigen Bemerkungen über die Passion vgl. besonders die Szene der Passionsprozession in Heinrich Heine: Lutetia XLIII. Mitte April 1842, DHA 14.1, 11–15. Bei Goethe sei auf den das Geheimnis des Kreuzes verhüllenden »Schleier« in den Wanderjahren im Kontext des Begriffs der Ehrfurcht verwiesen (vgl. MA 17, 395; auf diese Stelle verweist auch Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. II, Tübingen 41909, 175). Zur Ambivalenz Goethes im Bezug auf Kreuz und Christentum vgl. erneut H. Kunisch: GoetheStudien, 96–99 mit Verweis auf Goethes Die Geheimnisse und auf die Andeutung der Kreuzesfrömmigkeit Mignons in den Lehrjahren. 8 Unter dem Titel ›Kreuzbeschwerden‹ steht der pointierte Einleitungsaufsatz von Christian Albrecht in dem die aktuelle Problemlage der theologischen Rede vom Kreuz interdisziplinär aufarbeitenden Sammelband: Christian Albrecht/Martin Laube (Hg.): Das Kreuz mit dem Kreuz. Der Tod Jesu im Protestantismus (Loccumer Protokoll 59/08), Rehburg-Loccum 2009. Zu den Debatten der letzten Jahre vgl. nur die Sammelbände Rudolf Weth/Michael Welker (Hg.): Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001; Klaus Grünwaldt/Udo Hahn (Hg.): Kreuzestheologie – kontrovers und erhellend, Hannover 2007; Volker Hampel/ Rudolph Weth (Hg.): Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen-Vluyn 2010; Christoph Landmesser/Andreas Klein (Hg.): Kreuz und Weltbild – Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011; Jörg Frey/Jens Schröter (Hg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 22012; Magnus Striet/JanHeiner Tück (Hg.): Erlösung auf Golgota? Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen,

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Die folgenden Überlegungen versuchen jenem Darstellungs- und Vermittlungsproblem des Kreuzes ein Stückweit nachzuspüren. Da es sich dabei um ein sehr weitreichendes Thema handelt, kann es freilich nur um kurze Erkundungen gehen, die auf einen spezifischen Detailaspekt hinauswollen. Den Ausgangspunkt bilden ausgewählte Beispiele aus der protestantischen Theologie um 1900, in denen die im 19. Jahrhundert empfundene »Unversöhnlichkeit« des Todes Jesu und das dahinterstehende Vermittlungsproblem auf unterschiedliche Weise aufgenommen und theologisch verarbeitet wurde. Im Fokus steht dabei die Idee eines unmittelbaren Eindrucks des Todes Jesu, einer intuitiven Aneignung des Kreuzes und seiner Deutung, die in der Moderne artikuliert und als entscheidender religiöser Urmoment in der christlichen Religionsgeschichte zurückverfolgt wird. Es folgen in einem zweiten Abschnitt Überlegungen zu Beispielen aus der Frömmigkeits- und Darstellungsgeschichte des Kreuzes und ein exemplarischer Blick auf Martin Luthers Auseinandersetzung mit der Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters. Die Überlegungen münden schließlich in dem Gedanken, dass sich in den Transformationen der Deutung des Kreuzes auch grundlegende Einsichten zur Krise der Christologie in der Gegenwart gewinnen lassen und dabei auf ein altes, geradezu zeitloses Vermittlungsproblem des christlichen Glaubens hinweisen, welches zugleich eine offenbarungstheologische Pointe in sich trägt. Die bleibende Zumutung und »Unversöhnlichkeit« wird demzufolge nicht als Hindernis, sondern als eigentlicher Kern der Botschaft vom Kreuz gewertet, die zwischen intuitiven Aneignungsmomenten und rationalen Darstellungsformen in der Schwebe steht.

1.

Die Idee der unmittelbaren Evidenz des Kreuzes um 1900

Unter den weitreichenden Neuansätzen und Perspektivenverschiebungen zur Christologie im 19. Jahrhundert soll im Folgenden lediglich ein Aspekt hervorgehoben werden, nämlich die Entdeckung dessen, was man den unmittelbaren Eindruck des Kreuzes nennen könnte.9 So rücken zum Ende des 19. Jahrhunderts Freiburg/Basel/Wien 2012; Julia Knop/Ursula Wildfeuer (Hg.): Kreuzzeichen. Zwischen Hoffnung, Unverständnis und Empörung, Ostfildern 2013; Johannes von Lüpke/Christian Brouwer (Hg.): Ein Kreuz – viele Ansichten. Theologie des Kreuzes in Wort und Bild, Rheinbach 2015 und den EKD-Text: Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2015. Zur religionspädagogischen Perspektive vgl. Michaela Albrecht: Vom Kreuz reden im Religionsunterricht, Göttingen 2008. 9 Vgl. zu den grundlegenden Transformationen der Christologie auf dem Weg in die Moderne Jan Rohls: »Vorbild, Urbild und Idee. Zur Christologie des 19. Jahrhunderts«, in: Jörg Frey/Jan Rohls/Ruben Zimmermann (Hg.): Metaphorik und Christologie (TBT 120), Berlin/New York 2003, 219–241.

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zunehmend auch religionspsychologische Aspekte der Deutung des Todes Jesu in den Blick. Die Entdeckung der Religionsgeschichte und ihre kritische Erforschung lassen Momente religiösen Erlebens zu einem Schlüsselelement des Zugangs zur Christologie und ihrem soteriologischen Kernproblem, der Passion Jesu, aufrücken.10 Denker wie Wilhelm Dilthey brachten um 1900 mit dem »Erleben«, der »unmittelbaren Evidenz« und der »Intuition« Kategorien ins Spiel, die zunehmend auch in die theologischen Debatten um die Deutung des Todes Jesu Einzug hielten.11 Ausdrücklich handelt es sich dabei aber um eher leise Töne: Keine explizit kreuzestheologischen Entwürfe sind es, in denen sich die beschriebene Kategorie artikuliert, sondern die Deutung des Todes Jesu wird eingebettet in einen weiteren Zusammenhang der Suche nach dem Wesen des Christentums und der in ihm wirksamen Frömmigkeit unter den Bedingungen der Moderne.12 Zu den wichtigen Ausgangspunkten dieser Erneuerungsimpulse in der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert zählt fraglos das Werk Albrecht Ritschls. In den Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert mehrten sich jedoch – bei Kritikern wie bei Schülern und Nahestehenden – Stimmen, die auf Schwächen und Desiderate insbesondere in der Soteriologie aufmerksam machten. Die Leichtigkeit, mit der Ritschl die dogmatischen Zumutungen des Todes Jesu noch meinte theologisch verarbeiten zu können, war der Generation seiner Schüler nicht mehr möglich, die sich zunehmend gebunden und verpflichtet fühlten, auch und gerade die Ambivalenzen und Paradoxien in den 10 Zur Transformationsgeschichte der Jesusbilder im 19. Jahrhundert und ihrer Bedeutung um die Jahrhundertwende mit deutlichem Fokus auf die religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Aspekte vgl. das klassische Werk Heinrich Weinel: Jesus im neunzehnten Jahrhundert, Tübingen 1903 und zum Hintergrund Roderich Barth: »Liberale Jesusbilder des 19. Jahrhunderts versus dogmatische Christologie«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 111–139 und im weiteren Zusammenhang zur christologischen Bedeutung des Bildbegriffs um 1900 im Anschluss an Schleiermacher Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 128–141. 11 Der Gedanke der unmittelbaren Evidenz wurde von Wilhelm Dilthey besonders im Zusammenhang mit dem Begriff des Erlebens bzw. des Erlebnisses als eine Kategorie intuitiven Wertens und Erkennens verwendet. Vgl. zum Elementarbegriff des Erlebens und der unmittelbaren Evidenz im Spätwerk Diltheys u. a. Wilhelm Dilthey : Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin, Göttingen 1905 und ders.: »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, in: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 1910, Berlin 1910, 1–123 und für einen Überblick zum Intuitionsbegriff im frühen 20. Jahrhundert Josef König: Der Begriff der Intuition, Halle/Saale 1926 mit Bezügen zur sogenannten Lebensphilosophie (Dilthey, Simmel, Bergson), aber auch in phänomenologischen, kulturphilosophischen und anthropologischen Kontexten (z. B. Husserl, Cassirer und Scheler). 12 Vgl. hierzu besonders das auf die Kategorien religiösen Erlebens und religiöser Innerlichkeit abzielende Kapitel über »Jesus und die religiöse Frage der Gegenwart« in Heinrich Weinel: Jesus im neunzehnten Jahrhundert, 225–313.

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Ausdrucksformen der Religions- und Frömmigkeitsgeschichte ernst nehmen zu müssen. In diesem Sinne sagte Adolf von Harnack einmal zur Wirkung des großen Göttinger Theologen: »Wer getraut sich, die Gedanken so streng antithetisch und so exklusiv zu entwickeln wie er? Wir sind alle viel skeptischer und darum an den letzten Punkten, wo es sich um das Leben der Frömmigkeit selbst handelt, viel konservativer als er, weil wir nicht wie er sicher sind, jeden Abstrich reichlich ersetzen zu können.«13

Gegenüber der ethischen Schlagseite in Ritschls Theologie mahnte man nun verstärkt die inkommensurablen und sperrigen Momente des Sündenbewusstseins, des Sühneglaubens und des göttlichen Zorns in ihrer religionsgeschichtlichen und theologischen Bedeutung an und nahm dabei die intuitiven Frömmigkeitselemente hinter und jenseits von Dogmatik und Ethik ernster. Es setzte sich, wie der Tübinger Ritschlschüler Theodor von Häring meinte, ein gewisses Unbehagen am »optimistischen Liberalismus« der Ritschl-Ära fest, der dem »Beansprucht-, Gebeugt-, Gedemütigtwerden von seiten Gottes« und damit der »Nacht religiösen Zweifels« und der mystischen, »weltabgewandten Seite« der »Religion als Religion im Unterschied von der Ethik« nicht ausreichend habe gerecht werden können.14 Auch und gerade die Deutung des Todes Jesu stand dabei neu zur Disposition. Pointiert arbeitete der Leipziger Systematiker Otto Kirn 1902 die soteriologische Stimmungslage seiner Zeit heraus und kam zu dem Schluss, bei Ritschl sei die »harte Realität der Schuld« letztlich »zur Seite geschoben« worden und habe damit die Bedeutung des Todes Jesu unterbelichtet. »Die besonderen inneren Vorgänge, die gerade der Kreuzestod des Welterlösers hervorruft«, seien demnach unterschätzt und zugleich »einer der eindrucksvollsten Züge der neutestamentlichen Verkündigung beiseite gelassen« worden: »die tiefsten Erfahrungen der Passionsgemeinde bleiben ohne Widerhall in der Dogmatik.«15 Kirn beschreibt, wie der Aneignungsmoment im Gefühl zunehmend als entscheidender Faktor der Bedeutung des Kreuzestodes »in seiner Wirkung auf das Bewußtsein der Menschen« als entscheidend erkannt wird.16 Im

13 Vgl. Harnacks Rezension zu Gustav Eckes Buch Die theologische Schule Albrecht Ritschls und die Evangelische Kirche der Gegenwart, Bd. I, 1897, in: Adolf Harnack: Reden und Aufsätze, Bd. II, Gießen 1904, 345–368, hier : 355. 14 Theodor von Häring: »In welchem Sinn dürfen wir uns immer noch ›Göttinger‹ heißen? Albrecht Ritschls Bedeutung für die Gegenwart«, in: ZThK 20 (1910), 165–196, hier : 176–178. Zur exemplarischen Debatte über Sühne und Soteriologie zwischen Häring und Ritschl vgl. Gunther Wenz: Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 2, München 1986, 118–131. 15 Otto Kirn: »Die Versöhnung durch Christus« (1902), in: Karl Ziegler (Hg.): Vorträge und Aufsätze von D. Otto Kirn, Leipzig 1912, 179–203, hier : 194f. Zu Ritschls Soteriologie im Überblick vgl. G. Wenz: Geschichte der Versöhnungslehre, 63–131. 16 Vgl. O. Kirn: Die Versöhnung durch Christus, 200f. Im subjektiven Aneignungsmoment der

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Mittelpunkt steht also die subjektive Dimension der Erlösungslehre im Gegenüber zu einer objektiv-historischen Bindung des Heils an den geschichtlichen Tod Jesu: »Objektivität im Sinne des geistig-geschichtlichen, also auch des religiösen und sittlichen Lebens ist nicht ein Sein außerhalb des Bewußtseins, sondern eben ein Wirken im Bewußtsein. Alle großen Ereignisse der Geschichte sind nur dadurch wirklich, daß sie in ihrer Weise das Bewußtsein der Menschheit verändert haben. Sollte das bei dem versöhnenden Eintreten Christi für uns allein anders sein?«17

Dies gilt in gewisser Weise auch für jene Gegner Ritschls und seiner Schule, die primär einer biblizistisch-positiven Kreuzestheologie zuneigten: Auch hier ist die Tendenz zu beobachten, »theologische Vermittlungszusammenhänge zugunsten gläubiger Unmittelbarkeit einzuziehen« und erweckungstheologische Elemente mit dem Gedanken subjektiver Aneignungsmomente zu verbinden.18 Um 1900 treten also zunehmend Aspekte des subjektiven Eindrucks des Kreuzes als Schuld-, Endlichkeits- und Defizitbewusstsein in mystisch anmutenden Momenten der Frömmigkeit ins Blickfeld. Dies wird neben Gestalten wie Theodor von Häring auch für Wilhelm Herrmann – trotz dessen latenter Geringschätzung der Mystik19 – gelten dürfen, über den Ferdinand Kattenbusch später schrieb: »Was bei Ritschl den Anstrich bloßer Reflexion über den geschichtlichen Christus, einer abstrakten Theorie in Hinsicht seiner haben kann, tritt bei Herrmann wie eine Intuition auf, so sehr, daß man gewissermaßen von Christusmystik bei ihm sprechen kann. Hier ist bei Herrmann der Einfluß, den Tholuck (der Prediger!) auf ihn geübt, zu erkennen. Auch Ritschl blickt auf Christus in Ehrfurcht, war der Andacht vor ihm erschlossen, hatte aber doch kaum ein anderes Verhältnis ›des Christen‹ zu ihm im Sinn, als das des Gemeindeglieds zum Gemeindehaupt: Herrmann empfand das Nie-

Reue kommt laut Kirn im Kreuz zur Verwirklichung, was »auch schon vor Christi Opfertod« erlebt werden konnte (O. Kirn: Die Versöhnung durch Christus, 202). 17 O. Kirn: Die Versöhnung durch Christus, 200 (Kursivierung im Original gesperrt). Kirn spricht demnach von einem »Ineinander von Objektivität und Subjektivität […], wie es in dem Hergang unserer Versöhnung stattfindet.« (O. Kirn: Die Versöhnung durch Christus 201). 18 Vgl. hierzu G. Wenz: Geschichte der Versöhnungslehre, 140 und zur These der Nähe der Deutung des Kreuzes im Umfeld Martin Kählers zu der Schule Ritschls a. a. O., 180ff. mit Verweis auf Rolf Schäfer : »Die Rechtfertigungslehre bei Ritschl und Kähler«, in: ZThK 62 (1965), 66–85. 19 Zur Jesusdeutung Herrmanns im Kontext seiner Zeit vgl. erneut R. Barth: Liberale Jesusbilder des 19. Jahrhunderts, 111–139, und zu den mystischen Tendenzen Herrmanns a. a. O., 133–137. Eine wirkungsgeschichtlich vielbeachtete und freilich ganz andere Spur der Verbindung von Christologie und Mystik hat bekanntlich Albert Schweitzer gelegt, vgl. insbes. Albert Schweitzer : Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930.

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derwerfende und Emporhelfende, das ›ganz Andere‹, wie man sich neuerdings ausdrückt, an der ›Person‹ in ihm.«20

Kattenbusch hat Herrmanns Tendenz im Auge, das »innere Leben der Religion« und die geschichtliche Persönlichkeit Jesu zum Fokus seiner Theologie zu machen.21 Die angedeutete intuitive Ebene in Herrmanns Jesusbild ist eng verbunden mit dem auch bei Dilthey auftauchenden Begriff des »Erlebens«, durch den der Gedanke der Sündenvergebung und des stellvertretenden Strafleidens Jesu am Kreuz nicht als rationaler »Rechtshandel«, sondern allein als Ausdruck eines im unmittelbaren Eindruck sich einstellenden »Schuldgefühls« als eines Offenbarungserlebnisses gefasst wird.22 Wie tief der unmittelbare Eindruck des Todes Jesu letztlich unter den rationalen Deutungsversuchen der Dogmengeschichte verschüttet liegt und gleichwohl durch die Zeugnisse der Geschichte des Christentums als ihr Wesen hindurchschimmert, hat in besonderer Eindrücklichkeit Adolf von Harnack herausgearbeitet. In seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte zeichnet er nach, wie fremd die Verbindung Gottes mit Tod und Leiden den verbreiteten Weltbildern der Antike ursprünglich war und wie durchaus bizarr die spekulativ-dogmatischen Deutungsversuche im Laufe der Jahrhunderte zuweilen ihre ganz eigene Dynamik entfalteten, um das Befremdliche intellektuell zu domestizieren.23 Demgegenüber charakterisiert Harnack den ursprünglichen Eindruck des Kreuzes im griechischen Denken der Antike als uneinholbares, »heiliges Geheimniss«: »Hier trat das Denken hinter das Gefühl zurück und legte sich Schweigen auf.«24 Im Stellvertretungsgedanken des Kreuzestodes erblickt Har20 Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher, Zwei Teile, Erster Teil: Das Jahrhundert von Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg, Gießen 61934, 82 (kursive Hervorhebungen im Original gesperrt). 21 Vgl. insbes. Wilhelm Herrmann: Der Verkehr des Christen mit Gott, Tübingen 71921. 22 Vgl. W. Herrmann: Der Verkehr des Christen mit Gott, 109–115. Roderich Barth hat in diesem Zusammenhang treffend von einer »affektauslösenden Prägnanz und intuitiven Evidenz« in Herrmanns Jesusbild und seiner Bedeutung für die Christologie gesprochen (vgl. R. Barth: Liberale Jesusbilder des 19. Jahrhunderts, 134). 23 Vgl. die klassischen Ausführungen in A. v. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. II, 174–184. 24 A. v. Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. II, 175. Der Gedanke des »heiligen Geheimnisses« als des schlechterdings Inkommensurablen taucht auch in dem Aufsatz Christus als Erlöser von 1899 auf, in dem Harnack über die Bedeutung des Todes Jesu mit besonderer Betonung des unmittelbaren Eindrucks des Kreuzes schreibt: »Und auch das lehrt die Geschichte, daß die tiefsten und reifsten Christen Jesus nicht nur als den Propheten, sondern auch als den Erlöser und Versöhner erfaßt haben. Ja noch mehr – sie befriedigten sich nicht dabei, die Versöhnung nur in seinem Wort und Lebenswerk zu sehen: sie betrachteten auch sein Leiden und seinen Tod als stellvertretend. Wie konnten sie anders? Wenn sie, die Sünder, sich dem Gericht der Gerechtigkeit entnommen wußten, ihn aber, den Heiligen, leiden und sterben sahen, wie sollten sie da nicht erkennen, daß er gelitten hat, was sie hätten leiden sollen? Vor dem Kreuz ist kein anderes Gefühl und keine andere Beurteilung

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nack ein tief im Urchristentum verankertes und von der hellenistischen Philosophie überdecktes, individuelles Defizitbewusstsein, ein »Erlebnis der Seele«,25 ein »religiöses Bedürfnis«,26 das der rationalen Deutung des Kreuzesgeschehens als »Opfer« und »Stellvertretung« voraus liegt: »In diesem Sinne glaube ich, daß, so fern uns alle Stellvertretungstheorien liegen mögen, doch nur wenige unter uns sein werden, die das innere Recht und die Wahrheit einer Ausführung wie die Jesaja c. 53 verkennen: ›Fürwahr, Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen‹. ›Niemand hat größere Liebe, denn daß er sein Leben läßt für seine Freunde‹ – so hat man von Anfang an den Tod Christi betrachtet. Je sittlich zarter jemand fühlt, um so sicherer wird er überall in der Geschichte, wo Großes geschehen ist, das stellvertretende Leiden empfinden und auf sich beziehen.«27

Harnack redet in seiner Vorlesung über Das Wesen des Christentums also keineswegs einer Verabschiedung der dogmatischen Soteriologie das Wort, wohl aber betont er, dass der eigentliche Wert jeder Theologie des Kreuzes in erster Linie in den intuitiven Gehalten liegt, die Menschen zu allen Zeiten in ihr wiedererkannt haben: »Aber das Kreuz Jesu Christi ist es gewesen, an welchem die Menschheit die Macht der im Tode sich bewährenden Reinheit und Liebe so erfahren hat, daß sie es nicht mehr vergessen kann, und daß diese Erfahrung eine neue Epoche ihrer Geschichte bedeutet. […] Das sind die Gedanken, die von Anfang an durch den Tod Christi erweckt worden sind und ihn gleichsam umspült haben. […] Wollten wir versuchen, es auszumessen und zu registrieren, wie man es sehr bald versucht hat, so kämen wir zu abschreckenden Paradoxieen, aber nachempfinden können wir es mit der Freiheit, mit der es ursprünglich empfunden worden ist.«28

Die zahlreichen Ansätze zur Neubestimmung der Bedeutung des Todes Jesu im Umfeld der Ritschlschule waren maßgeblich von dem Versuch bestimmt, die

25

26 27 28

möglich. Aber in diesem Gefühl und dieser Beurteilung ist auch das erschöpft, worauf es hier ankommt. Jede rechnende Spekulation muß auf diesem Gebiet ins Ungewisse und Bodenlose geraten; denn über die Linie des Gerechten hinaus vermögen wir nicht zu spekulieren. Auch entflieht die Ehrfurcht, wenn die allmächtige Liebe auf ihr Naturrecht und ihre Mittel geprüft werden soll. Sie ist immer nur als Tatsache uns offenbar und liegt an der Grenze des mit der Vernunft Erfaßbaren. Das Kreuz Christi ist […] wie die barmherzige Liebe selbst ein heiliges Geheimnis, den Klugen und Weisen verborgen, aber die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes.« (Adolf von Harnack: »Christus als Erlöser«, in: ders.: Reden und Aufsätze, Bd. II, 81–93, hier: 92f.). A. v. Harnack: Christus als Erlöser, 92: »Wie erlöst er? Nur dadurch, daß sein Wort, sein Leben, sein Tod, d. h. er selbst, zum Erlebnis der Seele wird und sie in diesem Erlebnis von dem Zwang des Gesetzes der Sünde, von diesem unnatürlichsten Naturgesetz, befreit. Das ist die Grundform des christlichen Glaubens von der Versöhnung und dem Versöhner.« Vgl. Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, hg. v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 22007, 93 (= Originalpaginierung der Ausgabe letzter Hand, S. 99). A. v. Harnack: Wesen des Christentums, 94 (= 100). A. v. Harnack: Wesen des Christentums 94f. (= 100f.).

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innere Spannung der klassischen Themen der Dogmatik in die moderne Lebenswelt um 1900 zu übersetzten, indem sie den religionstheoretischen, historischen und psychologischen Problemen, denen man sich in der theologischen »Rationalitätskrise«29 des ausgehenden Jahrhunderts zu stellen hatte, Rechnung tragen. Bemerkenswert ist dabei der unverkennbare Sinn für die geheimnisvollen und unauflösbaren Aspekte des Kreuzesthemas, die dann in der religionsgeschichtlichen Forschung der folgenden Jahre noch deutlicher hervortreten. Der für die Religionsgeschichtliche Schule wegweisende Programmvortrag Bernhard Duhms über Das Geheiminis in der Religion von 1896 benennt nun Momente des »Geheimnisvollen und Irrationalen« als die eigentlichen Urformen der Religion, die auch vor und neben dem Christentum lebendig waren und tief mit ihm verwoben sind: »Aber in welcher Form das Geheimnis der Religion erscheinen mag, so muß es, sofern es ein echtes und nicht von den Laien nachgemachtes Geheimnis ist, den Ausschlag geben in der Frage nach dem Wesen der Religion. Es ist das dämonische Element, das den Kern und das Leben der Religion bildet, das sie hervorbringt, neben dem alle Institutionen, alle Lehre, alle religiöse Ethik, als nur sekundär zu gelten hat, wenn auch natürlich dies Sekundäre auf die erzeugende Kraft zurückwirkt.«30

Duhms Vorstoß zum Dämonisch-Irrationalen jenseits von Ethik und Dogmatik vor dem Hintergrund der bahnbrechenden Prophetenforschung seiner Zeit im Fahrwasser Wellhausens hat besonders bei Ernst Troeltsch einen bleibenden Eindruck hinterlassen und dessen Jesusdeutung geprägt.31 Die Entdeckung der Religionsgeschichte und ihre kritische Erforschung führt nun sukzessive zur »Ablösung von einer im Tode Jesu liegenden weltverwandelnden Aktion und Anknüpfung an das Handeln und Leben Jesu«.32 Die klassischen Deutungsmodelle als Sühnopfer oder Stellvertretung versinken in der Relativität religionsgeschichtlicher Ausdrucksformen und ihren teilweise archaischen Urelementen 29 Vgl. hierzu die aufschlussreiche Studie: Uwe Stenglein-Hektor : Religion im Bürgerleben: Eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie zur Rationalitätskrise liberaler Theologie um 1900 am Beispiel Wilhelm Herrmann (Studien zur systematischen Theologie und Ethik 8), Münster 1997. 30 Bernhard Duhm: Das Geheimnis in der Religion. Vortrag gehalten am 11. Februar 1896, Tübingen 21927, 25 (Hervorhebung im Original gesperrt). 31 Vgl. besonders die Würdigung Duhms in Ernst Troeltsch: »Zur theologischen Lage«, in: ChW 12 (1898), 627–631, 650–657. Für Troeltsch hat Duhm in seinen religionsgeschichtlichen Arbeiten die eigentliche »Lebendigkeit« der Religion freigelegt und »das Zwingende und Dämonische der großen religiösen Genien« und das »ehrfurchtsvolle Erleben einer unendlichen Macht« wiederentdeckt (E. Troeltsch: Zur theologischen Lage, 654f.). Grundlegend zu Troeltschs Jesusdeutung und ihren Hintergründen vgl. Johann Hinrich Claussen: Die JesusDeutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (BHTh 99), Tübingen 1997. 32 Ernst Troeltsch: Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912. Mit einem Vorwort von Martha Troeltsch, München/Leipzig 1925, 332 (Diktat § 24).

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unmittelbaren Erlebens.33 Dies hat die Problemlage der Deutung des Todes Jesu insofern nochmals verschärft, als sich hier nun, wie Troeltsch 1911 in seiner Schrift Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu festhielt, eine »völlige Verwandlung der Erlösungsidee« vollzieht: »Erlösung ist nicht etwas ein für allemal im Werke Christi vollzogenes und den Einzelnen dann erst Zuzueignendes, sondern ist ein jedesmal neuer, in der Wirkung Gottes auf die Seele durch Erkenntnis Gottes sich vollziehender Vorgang. Dann bedarf es keines historischen Heilswerkes.«34

In »eigenem persönlichem Erleben und Erfahren«35 ereignet sich im religiösen Menschen, was Troeltsch als »sozialpsychologische« Aneignung beschreibt.36 Nicht ein historisches Heilsereignis, sondern das Wiedererkennen eines zeitlosen und sich in »Gemeinschaft und Kult« realisierenden Erlösungsglaubens spiegelt sich im »Christusbilde« der Religionsgeschichte.37 Mehr als seine Lehrer betont Troeltsch dabei auch die dunklen, mystisch anmutenden Elemente und schrieb schon in der Selbstständigkeits-Schrift von 1895 über die Religion, »daß all ihre Begriffe etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes enthalten.« »Allein das ist das Wesen der Religion, die ja nicht aus dem Sinnen über Zusammenhang und Einheit der Wirklichkeit, sondern aus den rein religiösen Impulsen einer von Gott erfüllten Intuition geboren wird.«38

Es formiert sich hier die »mystisch-spiritualistische«39 Tendenz in Troeltschs Frömmigkeitstheorie, die ihn in einer »selbstständigen, eigentümlichen Intuition des menschlichen Geistes« nun ein »lebendiges Gefühl für die Suveränität aller ursprünglichen Religion gegenüber Wissenschaft, Philosophie und Kunst« erblicken und damit »Christentum und Nichtchristentum[,] auf dem gleichen 33 34 35 36 37

Vgl. E. Troeltsch: Glaubenslehre, 349f. (Diktat § 28). Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, 6. E. Troeltsch: Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu, 7. E. Troeltsch: Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu, 30. E. Troeltsch: Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu, 29. Zu den Hintergründen und besonders zu Wilhelm Bousset vgl. den Beitrag Michael Murrmann-Kahl: »Kultfrömmigkeit statt Lehre. Eine Erinnerung an Wilhelm Boussets ›Kyrios Christos‹ aus systematisch-theologischer Perspektive«, in: Uta Heil/Annette Schellenberg (Hg): Frömmigkeit. Historische, systematische und praktische Perspektiven (Wiener Jahrbuch für Theologie 11), Göttingen 2016, 111–123. 38 Ernst Troeltsch: »Die Selbstständigkeit der Religion (1895/96)«, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe 1: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hg. v. Christian Albrecht, in Zusammenarbeit mit Björn Biester/Lars Emersleben/Dirk Schmid, Berlin/ New York 2009 (im Folgenden zitiert als KGA), 364–535, hier : 519 (Originalpaginierung S. 204). Zum Intuitionsbegriff vgl. auch a. a. O., 395 (= 392). 39 Vgl. Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch, 280 und ausführlich zur Bedeutung des Mystischen bei Troeltsch Arie J. Molendijk: »Bewußte Mystik. Zur grundlegenden Bedeutung des Mystikbegriffs im Werk von Ernst Troeltsch«, in: NZSTh 41 (1999), 39–61.

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Fuße« betrachten lässt.40 Die über die Grenzen des Christentums hinausdrängende, religionsgeschichtliche Perspektive lässt die zentrale Stellung des Todes Jesu in der christlichen Erlösungsbotschaft damit in ein kaum noch auflösbares Mosaik religiöser Strömungen und Traditionslinien der Antike verschwimmen, während die klassischen Erlösungslehren und Kreuzestheologien dem »historisch-kritisch denkenden Menschen nahezu unverständlich« und als Vermittlungskonstruktionen erscheinen, die nur »vom Glauben gesehen« noch nachvollziehbar sind.41 Der Tod Jesu erscheint in dieser Perspektive nun als überlieferte Erscheinungsform eines religiösen Motivs, das über das historische Ereignis weit hinausgeht. In seiner Glaubenslehre-Vorlesung von 1911/1912 deutet Troeltsch an, die »besondere Bedeutung« des Leidens und Sterbens Jesu bestehe im Kern darin, ein »belebendes Erkenntnismittel« zu sein, das die »wahren Werte und Ziele des Lebens« und schließlich überhaupt das Problem der Offenbarung und des Heiligen selbst in ein Bild fügt.42 Auch Rudolf Otto ist der religionsgeschichtlichen Spur der Deutung des Todes Jesu gefolgt, konzentrierte sich dabei aber stärker als Troeltsch auf die hierfür entscheidenden Gefühlsmomente und Intuitionen, die er in seinem Hauptwerk Das Heilige als a priori angelegtes Erkennen im Vollzug einer »eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungskategorie« erblickte.43 Was er in der Religionsgeschichte mit dem »Kreaturgefühl« und der »numinosen Scheu« als intuitiven Kern religiösen Erlebens beschreibt, sieht Otto in den überlieferten Zeugnissen über das Leiden und Sterben Jesu in herausragender Weise gebündelt und zur Vollendung gebracht: »Es ist endlich auch klar daß gerade das Leiden und Sterben Christi zum Gegenstande besonders starker Gefühlsbewertung und Intuition werden muß. […] Das Kreuz wird zum speculum aeterni patris schlechthin. Aber nicht nur des ›patris‹, nicht nur des höchsten rationalen Momentes des Heiligen sondern des Heiligen überhaupt. Denn Christus ist vornehmlich auch dadurch Zusammenfassung und Abschluß der Entwicklungen vor ihm daß jenes mystischeste Problem des alten Bundes, das von ZweitJesaja und Jeremia an durch Hiob und die Psalmen hin geheimnisvoll sich fortwälzt, in 40 Zu Troeltsch früher Intuitionstheorie vgl. besonders Ernst Troeltsch: Geschichte und Metaphysik (1898), KGA 1, 617–682, hier: 653 und zum thematischen Hintergrund erneut Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch, 280–283. 41 Vgl. E. Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu, 20. Unter dieses Urteil fallen bei Troeltsch auch die Ansätze des »Schleiermacher-Ritschl-Hermannschen Vermittlungstypus« (E. Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu, 19). 42 E. Troeltsch: Glaubenslehre, 350. 43 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 23–251936, 7 u. a. Zu Ottos Deutung des Kreuzes vgl. den aufschlussreichen Aufsatz Thorsten Dietz: »›Das Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums‹. Sühne und Erlösung bei Rudolf Otto«, in: Jörg Lauster/Peter Schüz/ Roderich Barth/Christian Danz (Hg.): Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/New York 2013, 95–110.

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Jesu Leben Leid und Tod sich klassisch wiederholt und sich hier zum Absoluten steigert: das Mysterium des unschuldigen Leidens des Gerechten.«44

Das Kreuz wird bei Otto förmlich als unüberbietbare Ausdrucksform eines in der Religionsgeschichte immer wieder zum Durchbruch kommenden Urmotivs des Mysteriums der Offenbarung im Sinne einer unmittelbaren Ahnung des Numinosen beschrieben: »Das Leiden des Gerechten gewann schon bei Hiob den Sinn des klassischen Spezialfalles der Offenbarung des Jenseitig-Geheimnisvollen in unmittelbarster Wirklichkeit Nähe und Greiflichkeit. Hiervon aber ist das Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums, die ›Erfüllung‹. Und in der Verschlingung jener rationalen Momente seiner Bedeutung mit diesen irrationalen, in dieser Mischung des Offenbaren mit dem ahndevoll Unoffenbaren, der höchsten Liebe mit der schauervollen orge´¯ des numen im Kreuze Christi hat das christliche Gefühl die lebendigste Anwendung der ›Kategorie des Heiligen‹ vollzogen und damit die tiefste religiöse Intuition hervorgebracht die je auf dem Gebiete der Religionsgeschichte zu finden gewesen ist.«45

Vor jeder rationalen Versöhnungslehre der Dogmengeschichte ist es demnach gerade der paradoxe, schlechterdings geheimnisvolle, unmittelbare Eindruck, den Otto in Geschichte und Gegenwart als Pointe des Kreuzesmotivs bestimmt. In »Divination« und »intuitivem Erfassen« sieht er den einzigen wirklich gangbaren Zugang zu der »Wolke irrationaler Mystik […], die über Golgatha hängt.«46 Den intuitiven Gefühlseindruck von Jesu Leben und Sterben fasst er geradezu als Vollendung dessen, was er mit dem traditionellen Begriff der Sühne beschreibt: Als numinoses Erleben der Scheu, des Kreaturgefühls und eigenen Unwertes gegenüber dem schlechthin Anderen, Numinosen und dem gerade hierin aufbrechenden Gefühl der Überwindung dieses numinosen Unterscheidungs- und Kreatürlichkeitsgefühls durch Entsühnung, der Annäherung und Begegnung mit dem Mysterium des »Heiligen selber« und seiner »Entsühnende[n] Gegenwart« im unmittelbaren Eindruck der Passion.47 Die wenigen Beispiele deuten eine Perspektivenverschiebung an: Verstärkt rücken um 1900 im Protestantismus jene Elemente der theologischen Reflexion auf das Kreuz in den Vordergrund, die sich von den vorwiegend rational-dog44 45 46 47

R. Otto: Das Heilige, 199 (kursive Hervorhebung im Original). R. Otto: Das Heilige, 199f. R. Otto: Das Heilige, 195f. Zum zentralen Begriff der Sühne bei Otto vgl. R. Otto: Das Heilige, 69–74 und in Bezug auf das Kreuz besonders Rudolf Otto: Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung, Gotha 1930, 98f.: »auch die Wirkung des am Kreuze Sterbenden ist qualitativ keine andere, als schon die des Lebendigen war. Wer glaubend-verstehend zu ihm kam und von ihm ging, der hatte erfahren, was Jesaja erfuhr, als ihn Jahveh’s Stein berührte. Am Kreuze ›consummatum est‹, was schon der Sinn auch dieses Lebens gewesen ist.« (kursive Hervorhebungen im Original gesperrt).

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matischen Konzepten der klassischen Soteriologie absetzen. Die hierbei in den Blick kommende intuitiv-aneignende und kontemplative Dimension des unmittelbaren Eindrucks des Todes Jesu bringt dabei nicht nur bedeutende Traditionslinien der Frömmigkeitsgeschichte wieder neu ins Spiel, sondern findet auch in bedeutenden Darstellungen des Kreuzes in der Kunst des 19. Jahrhunderts – auch jenseits explizit-religiöser Darstellungen – unverkennbare Entsprechungen.48 Im Zuge der tiefgreifenden Veränderungen und Krisen des frühen 20. Jahrhunderts trat der skizzierte Zugriff auf die intuitiven Momente des unmittelbaren Eindrucks des Kreuzes mit seinen religionspsychologischen und religionsgeschichtlichen Aspekten allerdings bald wieder zurück. Verstärkt rückt besonders nach dem Ersten Weltkrieg wieder das Gegenwartsinteresse in den Brennpunkt und lässt – besonders in der theologischen Bewegung um Karl Barth – zugleich traditionellere dogmatische Konzepte der Kreuzestheologie zurückkehren.49 Im Gedanken des Kreuzes versucht man nun die Krisenstimmung des Zeitalters förmlich zu spiegeln. Besonders die ›Urkatastrophe‹ des Ersten Weltkriegs hat zu zahlreichen kreuzestheologischen Neuansätzen geführt, die sich im weitesten Sinne als ›Theologie der Krise‹ verstanden haben und damit die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten.50 Dogmatische Aussagen und intuitive Aneignungsformen driften in dieser Zeit insbesondere unter dem Eindruck der Dialektischen Theologie wieder ausein48 Von Caspar David Friedrich bis in die neuromantischen Strömungen um 1900 und schließlich zum Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts reichen Beispiele von expliziten oder auch nur angedeuteten Kreuzesdarstellungen, die dunkle, geheimnisvolle und zuweilen geradezu paradoxe Gefühlsmomente und mystisch-kontemplative Elemente zum Ausdruck bringen. Im Bereich des Musiktheaters ragt wirkungsgeschichtlich besonders das Werk Richard Wagners heraus, in dessen Parsifal mit der unverkennbaren Anlehnung an Schopenhauers philosophische Erlösungsidee das Kreuz im unmittelbaren Eindruck von Mitleid und Rührung präsent ist. 49 Zu den explizit kreuzestheologischen Ansätzen im 20. Jahrhundert und ihren Wurzeln vgl. Michael Korthaus: Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie (BHTh 142), Tübingen 2007. 50 Zum historischen Kontext vgl. Joachim Negel/Karl Pingg8ra (Hg.): Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914–1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg/Br. 2016. Die Ambivalenzen und Paradoxien der Religion in der Moderne finden bei einigen Protagonisten geradezu ihre ultimative religiöse Ausdrucksform. Bei Paul Tillich wird das Kreuz zum zentralen Symbol der tiefen Dialektik religiösen Zweifels, des Paradoxes von Sünde und Gnade, von Grund und Abgrund in der Begegnung des Menschen mit dem Unbedingten erhoben und bleibt bis in sein Spätwerk hinein grundlegend. Vgl. besonders Paul Tillich: »Rechtfertigung und Zweifel«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1970, 85–100 und den zweiten Band der späten Systematischen Theologie sowie zusammenfassend Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 260–263 (NA, hg. v. Christian Danz, Bd. II/III, 702–704). Zu Paul Tillichs ›Soteriologie der Krise‹ vgl. Gunther Wenz: Versöhnung. Soteriologische Fallstudien (Studium Systematische Theologie 9), Göttingen 2015, 238–257.

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ander und verspielen die bis heute bemerkenswerte Sensibilität der liberalen Tradition um 1900 für die Verschmelzung von rationalen und irrationalen Momenten in religiösen Aneignungsformen.

2.

Der unmittelbare Eindruck des Kreuzes in der Darstellungsgeschichte der Passion

Die im Verlauf des 20. Jahrhunderts etwas in Vergessenheit geratene Spur der Idee des unmittelbaren Eindrucks des Todes Jesu im liberalen Protestantismus hat sich besonders auf die verzweigten Wege der Frömmigkeitsgeschichte und ihre Darstellungsformen berufen. Luther markierte bei den liberalen Protagonisten um 1900 häufig einen maßgeblichen Ankerpunkt, doch auch bereits aus der Zeit des Urchristentums lassen sich Beispiele nennen, die an die skizzierte intuitive Ebene der Kreuzesdeutung denken lassen und unter denen die Szene vom Hauptmann unter dem Kreuz (Mk 15,39) zu den vielleicht dramaturgisch eindrücklichsten Verarbeitungsformen gehört. Exegetische Studien der letzten Jahre haben darauf aufmerksam gemacht, wie schon die Schriftsteller des Neuen Testaments auf poetische Formen und narrative Stilmittel ihrer Zeit zurückgriffen, um hiermit insbesondere die emotionalen Aspekte in der Überlieferung der Passionsgeschichte zur Darstellung zu bringen.51 Schon in der Antike drängte die Erzählung vom Kreuzestod offenbar danach, sich mit Gefühlen zu verbinden. Dabei bildeten sich auch bemerkenswerte Allianzen zum jeweiligen Umfeld und Vorverständnis der deutenden Akteure, die das Kreuzesereignis mit Elementen ihres antiken Kulturumfeldes zu verschmelzen vermochten.52 Keineswegs lassen sich dabei ohne Weiteres eindeutige Grundlagen der späteren Versöhnungslehren ausmachen – vielmehr begegnet der Tod Jesu in den ältesten Zeugnissen noch als eine Art »theologische Chiffre«, hinter der sich rational nur schwer auseinanderzulegende, intuitive Deutungsansätze verbergen.53 Immer wieder ist auf dieser Linie im weiteren Verlauf der Geschichte des Christentums zu beobachten, wie die unmittelbare Evidenz des Eindrucks mit dem rationalen, 51 Vgl. hierzu beispielsweise die Überlegungen zu den narrativen Elementen in der biblischen Darstellung des Kreuzestodes in Thomas Söding: »Als sie sahen, was geschehen war (Lk 23,49): Zur narrativen Soteriologie des lukanischen Kreuzigungsberichts«, in: ZThK 104 (2007), 381–403. Grundsätzlich zur neueren Forschung vgl. die Beiträge in dem vielbeachteten Band J. Frey/J. Schröter (Hg.): Deutungen des Todes Jesu. 52 Vgl. beispielsweise zur Antike Stefan Heid: Kreuz, Jerusalem, Kosmos. Aspekte frühchristlicher Staurologie (Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg. Bd. 31), Münster 2001. 53 Zu dieser These, verbunden mit dem Gedanken, im frühen Christentum eher von Passionstheologie als von Kreuzestheologie zu sprechen, vgl. Heinz-Wolfgang Kuhn: »Jesus als Gekreuzigter in der frühchristlichen Verkündigung bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts«, in: ZThK 72 (1975), 1–46.

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dogmatischen Zugriff auf den Kreuzestod Jesu in einer eigentümlichen Spannung steht. Erlebnis und Deutung fallen insbesondere im Falle des Kreuzes auf eigentümliche Weise zusammen und sträuben sich gegen vereindeutigende Rationalisierungen, die immer wieder in quasi-juristische rechtfertigungstheologische Formalismen abzugleiten drohen.54 Es liegt nahe, gerade hierin auch einen Grund für die bemerkenswerte Heterogenität und Pluralität kreuzestheologischer Ansätze im Christentum und für die unverkennbare Tendenz der Passionsfrömmigkeit zu mystischen Elementen zu sehen.55 Auch das berühmte paulinische Wort über das Ärgernis (sj\mdakom) und die Torheit (lyq_a) des Kreuzes (1 Kor 1,20–23) ließe sich auf dieser Linie als Beschreibung der vorreflexiven, sich der Dogmatik entziehenden religiösen Intuition interpretieren: Schon Paulus markiert deutlich die Grenzen einer rationalen Integrierbarkeit des unmittelbaren Eindrucks des Kreuzes in die religiösen und philosophischen Weltbilder und Vorverständnisse seiner Zeit, die nicht nur für Juden und Griechen, sondern auch und gerade für Christen in der Spätantike anstößig waren.56 Das Kreuz war damals, wie besonders Harnack betont hat, immer wieder eine Zumutung gegenüber allem, was man sich unter Gott vorstellte – und fand zugleich gerade darin seine soteriologische Pointe. Als wolle man die intuitive Evidenz des Kreuzesgeschehens und seines Geheimnisses nicht verletzen, wurde in der Geschichte des Christentums daher immer wieder auf metaphorische Sprache,57 bildliche bzw. künstlerische Darstellungen,58 symbo54 Zu den wichtigsten Entwicklungslinien in Mittelalter und früher Neuzeit vgl. u. a. die kulturund frömmigkeitsgeschichtlichen Studien in den Sammelbänden Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.): Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters (Fortuna vitrea 12), Tübingen 1993 und Johann Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hg.): Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit (AKG 113), Berlin/New York 2010. 55 In diese Richtung geht Ralf Stolina: »Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu«, in: NZSTh 44 (2002), 89–106. 56 Zu den Spannungen und den Darstellungsproblemen im Zusammenhang mit dem Leiden und Sterben Jesu in den ersten Jahrhunderten des Christentums insbesondere vor dem Hintergrund des verbreiteten Apathieaxioms antiker Gottesbilder vgl. Winrich A. Löhr : »Deutungen der Passion Christi bei Heiden und Christen im zweiten und dritten Jahrhundert«, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.): Deutungen des Todes Jesu, 545–574. 57 Vgl. Zimmermann, Ruben: »›Deuten‹ heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu«, in: J. Frey/J. Schröter (Hg.): Deutungen des Todes Jesu, 315–373 und grundsätzlich J. Frey/J. Rohls/R. Zimmermann (Hg.): Metaphorik und Christologie. 58 Vgl. hierzu das mit dem vierten Band vor dem Abschluss stehende opus magnum von Richard Viladesau, in dem die Transformationen religiöser und künstlerischer Darstellungsformen des Kreuzes von der Antike bis in die Moderne umfassend erschlossen werden: Richard Viladesau: The Beauty of the Cross. The Passion of Christ in Theology and the Arts. From the Catacombs to the Eve of the Renaissance, New York 2005; ders.: The Triumph of the Cross. The Passion of Christ in Theology and the Arts. From the Renaissance to the CounterReformation, New York 2008 und ders.: The Pathos of the Cross. The Passion of Christ in Theology and the Arts. The Baroque Era, New York 2014.

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lische Elemente59 und mystische Frömmigkeitsformen60 zurückgegriffen, um damit das Undarstellbare in seiner Undarstellbarkeit zu belassen und dennoch zum Erscheinen zu bringen. Die unmittelbare Evidenz des Eindrucks fordert den rationalen, dogmatischen Zugriff auf den Kreuzestod Jesu und die Herausbildung angemessener Darstellungsformen regelrecht heraus. Im kaum überschaubaren Universum der Darstellungsgeschichte des Kreuzes sind hierfür vor allem jene Beispiele interessant, in denen der unmittelbare Eindruck des Betrachters und das Problem seiner Darstellung unmittelbar mit zum Thema gemacht wird. Dies gelingt besonders dort, wo gar nicht das Kreuz selbst, sondern der an ihm unmittelbar erlebte Eindruck thematisiert und betont wird. Im Westen mag als eines der berühmtesten Beispiele die Darstellung der Piet/ gelten, in der sich die Rührung des Betrachters und die Trauer Marias gleichsam begegnen – und damit die Rührung selbst als das eigentliche, den Betrachter betreffende Ereignis der Passion thematisiert.61 Ebenso wie im Materdolorosa-Motiv steht der unmittelbare Eindruck des Todes Jesu hier nicht für banales Mitleid, sondern für eine weltüberwindende Selbstüberschreitung und Teilhabe: Der Betrachtende erkennt sich in der Passion selbst in seiner in die Welt verstrickten Verlorenheit, die zugleich als in Gottes Gnade aufgehoben erlebt wird. Die mächtige und bis in die neuzeitliche Kunst nachwirkende Tradition der Compassio-Frömmigkeit hat hierfür eindrucksvolle Darstellungsund Frömmigkeitsformen gefunden.62 Im Christentum des Ostens kommt das Bild von Mutter und Kind noch subtiler und kühner zur Darstellung. Das weit verbreitete Eleousa-Motiv, das Bild des heiligen Erbarmens, zeigt das Christuskind auf dem Arm der Mutter.63 Der traurige Schatten im Blick der Muttergottes, zuweilen auch ihre Tränen, zeichnen das Kreuz als Vorahnung in die liebevolle Betrachtung des Kindes ein. Ein geradezu mystisch-proleptisches Spiel mit den Gefühlen, die den unmittelbaren Eindruck des unschuldig leidenden Gottessohnes in Gestalt eines Kindes begleiten. Die Darstellung ist hier nicht in raffinierter Symbolik oder in ikonographischen Codes verschlüsselt, sondern in einer emotionalen Vermittlung verborgen, die den Menschen in ein 59 Vgl. Günter Bader : Symbolik des Todes Jesu (HUTh 25), Tübingen 1988. 60 Vgl. hierzu beispielsweise im Blick auf Karl Rahner den Aufsatz Ralf Stolina: »Gott – Geheimnis – Kreuz«, in: ZThK 101 (2004), 175–197. 61 Vgl. die klassische Untersuchung Wilhelm Pinder : Die Piet/, Leipzig 1922 und außerdem Georg Satzinger/Hans-Joachim Ziegeler : »Marienklage und Piet/«, in: W. Haug/ B. Wachinger (Hg.): Passion Christi in Literatur und Kunst, 241–276. 62 Zur Tradition der compassio und ihrer Traditionsgeschichte bis in die Antike vgl. das jüngst erschienene Buch Ulrich Barton: eleos und compassio. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater, Paderborn 2016 und Susan Wessel: Passion and Compassion in Early Christianity, Cambridge 2016. 63 Der Begriff kommt vom griechischen 5keor (Rührung und Erbarmen). Zum ikonographischen Hintergrund vgl. Karl Kolb: El[usa: 2000 Jahre Madonnenbild, Regensburg 1968.

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neues Selbst- und Weltverhältnis und zugleich in ein neues Gottesbewusstsein führen soll.64 Nicht im Kreuz selbst, sondern in den unter seinem unmittelbaren Eindruck erlebten Gefühlen liegt verborgen, was der Gedanke der Offenbarung Gottes im Leiden des Gerechten meint. Der Kunsthistoriker Hans Belting hat diesen Zusammenhang in seinem vielbeachteten Frühwerk zur den Darstellungen der imago pietatis im Mittelalter auf den Punkt gebracht: »Das Andachtsbild fungiert oft gar nicht als Abbild in diesem Sinne, sondern stellt Realität auf einer seelischen Ebene her, auf der sie der Betrachter wahrnimmt.«65

Belting spricht dabei von regelrecht »mystagogischer Kontemplation« im Vollzug unmittelbarer, kathartischer »Identifikation« mit dem Dargestellten.66 Die Beobachtungen, die Belting im Blick auf die Bildwelten des Mittelalters und seiner Passionsfrömmigkeit anstellt, liegen damit in deutlicher Nähe zu dem, was der Protestantismus um 1900 in religionspsychologischer Perspektive zu beschreiben versuchte: Eine Wirkung des unmittelbaren Eindrucks, die für die Darstellung und Deutung der Passion über Jahrhunderte von zentraler Bedeutung war und auch der Moderne als Vermittlungsproblem aufgegeben ist. Nicht die Kreuzigung als historisches Ereignis wird laut Belting in der byzantinischen Passions-Ikone dargestellt, sondern das in der kontemplativen Aneignung des Geschehens sich abspielende Erlösungsereignis.67 Mächtige Bewegungen und Traditionen der mittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte erwecken in dieser Perspektive förmlich den Eindruck, als sei die kontemplative Aneignung der geradezu einzig angemessene Weg der Annäherung und Deutung der Passion.68 Der dogmatischen Deutung des Kreuzes stehen die Motive der compassio und 64 Vgl. hierzu besonders das Kapitel »Beseelte Malerei« mit ausführlichen Passagen zur Passionsdarstellung in der Marien-Ikonographie in Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München [1990] 72011, 292–330. In seinem frühen Imago-pietatis-Buch schreibt Belting über die »Erfindung der Klagefrau« im 11. Jahrhundert am Beispiel der Madonna von Vladimir die eindrucksvolle Wirkung der Maria Eleusa liege »im Motiv der intimen Berührung der Gesichter von Mutter und Kind«, die »auf dem Wege affektiver Empathie der Gemeinde eine gesteigerte Identifikation anbot«. Sie wird durch eine »rhetorische Verschränkung von außerbildlichem Blick und innerbildlichem Weisegestus« zu einer »Mittlerfigur zwischen Christus und dem Betrachter« (Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, 174f.). Zur Funktion des Andachtsbildes (mit ausdrücklichem Verweis auf Panofsky) vgl. a. a. O., 69–104 und ausführlich zum Passionsbild 142–275. 65 H. Belting: Das Bild und sein Publikum, 23. 66 H. Belting: Das Bild und sein Publikum, 175. 67 Vgl. H. Belting: Das Bild und sein Publikum, 142–154. 68 Zum Gedanken der »Macht der Bilder und der Ohnmacht der Theologen« in Beltings bildtheoretischem Programm vgl. H. Belting: Bild und Kult, 11–27. Zur Kritik von Beltings Theologiekritik, insbesondere im Blick auf die Reformation, vgl. Philipp Stoellger : »Zwischen Kunst und Religion. Sprachprobleme ›vor einem Bild‹«, in: Thomas Erne/Peter Schüz (Hg.): Der religiöse Charme der Kunst, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012, 107–139.

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imitatio mit ihrer reichen Darstellungsgeschichte eindrucksvoll gegenüber und verführen zu dem Gedanken, das Mysterium des Todes Jesu sei letztlich nicht wirklich zu verstehen, sondern nur zu erleben.69 Der hinter den heute mitunter fremd gewordenen Frömmigkeitsformen des Mittelalters stehende Gedanke der rationalen Unzugänglichkeit des Kreuzes hat in der modernen Theologie um 1900 und ihrer religionsgeschichtlich-religionspsychologischen Fokussierung des unmittelbaren Erlebens damit gewissermaßen eine Wiederentdeckung erfahren. Hier verstärkt sich nun unter den Bedingungen der Moderne nochmals die Spannung zwischen dem unmittelbaren Eindruck des Todes Jesu und seiner theologischen Deutung, die auch heute – vielleicht mehr denn je – deutlich auszumachen ist: Während die klassischen dogmatischen Konzepte der Kreuzestheologie immer weiter an Selbstverständlichkeit und Erschließungskraft zu verlieren scheinen, üben kulturell vermittelte Darstellungsformen des Todes Jesu jenseits der Dogmatik eine unverminderte Anziehungskraft und Faszination aus.70 Demnach vermögen künstlerische Darstellungen des Kreuzesthemas in Musik, Bild, Skulptur, Theater oder Film, die erzählerischen Spiegelungen des Themas in der Literatur und die kultische Darstellung in Liturgie und Frömmigkeitspraxis gerade auch in ihrer Betonung des mysteriösen und ambivalenten Charakters des Kreuzes häufig mehr Resonanzen zu erzeugen als die traditionelle dogmatische Rede von Satisfaktion, Sühne und Stellvertretung.71 In besonderer Weise hat der Protestantismus das sich von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne ziehende Problem der latenten Widerständigkeit des Todes Jesu gegenüber seiner rationalen, soteriologischen Erfassung in der Gestalt Martin Luthers und seiner Deutung des Kreuzes vor Augen. Daher ist es kaum verwunderlich, dass auch die oben skizzierten Ansätze zur Betonung des unmittelbar-intuitiven Eindrucks des Todes Jesu in der modernen Theologie ihre Beobachtungen insbesondere an ihrer Deutung Luthers entwickelt haben. Was Harnack in seiner Vorlesung über Das Wesen des Christentums als den vielleicht entscheidenden Punkt der Bedeutung Luthers hervorhebt, kann in ähnlicher Weise auch für die Lutherdeutung von Zeitgenossen wie Herrmann, Troeltsch und Otto gelten: 69 Vgl. hierzu insbesondere die Überlegungen zu den als Andachtsbild und auf »Bild-Gebrauch« angelegten »Bildformen der compassio« in Reinhard Hoeps: »Bildtheologie jenseits der Inhaltsdeutung. Zwischen christlichen Bildkonzepten und Kunst der Moderne«, in: T. Erne/P. Schüz (Hg.): Der religiöse Charme der Kunst, 89–105. 70 Vgl. hierzu u. a. die Beobachtungen im interdisziplinären Kontext bei C. Albrecht/M. Laube (Hg.): Das Kreuz mit dem Kreuz; sowie insbesondere die frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekte in der EKD-Schrift: Für uns gestorben, 125–158. 71 Heinrich Weinel hat diesen Gedanken bereits vor über 100 Jahren in seinem Buch Jesus im neunzehnten Jahrhundert programmatisch zu Grunde gelegt. Auch und gerade jenseits der klassischen Theologie findet er die eigentlich starken christologischen Ansätze und Jesusdeutungen der Moderne vorliegen.

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»Endlich, er wollte überall auf das Ursprüngliche, auf das Evangelium selbst zurückgehen, und soweit das durch Intuition und innere Erfahrung möglich war, hat er es geleistet;«72

Luther gilt den Genannten in erster Linie als religiöser Virtuose, als Erbe mittelalterlicher Frömmigkeit, als charismatischer »Wiederentdecker der Religion«.73 Auch und gerade die zentrale Stellung der Theologie des Kreuzes bei Luther lässt sich in dieser Lesart als Wiederentdeckung der intuitiven Dimension gelebter Frömmigkeit interpretieren, durch die Luther die Erlösungsbotschaft des Christentums jenseits der Grenzen dogmatischer Theologie im unmittelbaren Eindruck des Todes Jesu erschließt. Anhand eines Beispiels aus Luthers Werk soll dieser Gedanke im Folgenden wenigstens kurz angedeutet und in seiner Bedeutung für den Protestantismus eingeordnet werden. Unter den frühen Werken Luthers, die vom Kreuz und Leiden Christi handeln, ragt besonders der in der Passionszeit des Jahres 1519 verfasste Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi heraus.74 Anders als seine theologischgelehrten Schriften zum Kreuz – man denke besonders an die für seine »theologia crucis« zentralen Thesen der ein Jahr zurückliegenden Heidelberger Disputation – gehört der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi zu Luthers erbaulichen Schriften in deutscher Sprache und setzt sich mit der tief verwurzelten Passionsfrömmigkeit des Spätmittelalters auseinander, die Luther aus Seelsorge und Alltagsleben vertraut war.75 Im Eingangsteil des Sermons 72 A. v. Harnack: Wesen des Christentums, 162 (= 182). 73 Zu dieser von Rudolf Otto stammenden Bezeichnung Luthers als eines »Wiederentdeckers der Religion« vgl. bereits dessen frühen Aufsatz Rudolf Otto: »Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte«, in: ChW 17 (1903), 506–512 und meinen Beitrag »Reformation als ›Wiederentdeckung der Religion‹«, in: Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha/Sarah Schmidt (Hg.): Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des internationalen Schleiermacher-Kongresses in Halle (Saale), März 2017 (Schleiermacher-Archiv 27), Berlin/Boston 2018, 323–342. Zum Hintergrund vgl. Roderich Barth: »Systematische Lutherdeutungen in der liberalen Theologie«, in: ZNThG 16 (2009), 58–74. 74 Martin Luther : »Ein Sermon der Betrachtung des heiligen Leidens Christi« (1519), in: Dr. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), Weimer 1883–2009 (im Folgenden zitiert als WA), Bd. 2, 136–142 und in: Martin Luther : Deutsch-Deutsche Studienausgabe, Leipzig 2012–2016 (im Folgenden zitiert als DDStA), Bd. 1, 27–44. Der Sermon zählt zu Luthers erbaulichen Schriften und gehört zugleich zu seinen schriftstellerisch erfolgreichsten Frühwerken. Zum Hintergrund vgl. Martin Elze: »Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther«, in: Heinz Liebing/Klaus Scholder (Hg.): Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern (AKG 38), Berlin 1966, 127–151. 75 Zur Einordnung vgl. grundlegend Karl-Heinz zur Mühlen: »Das Kreuz Jesu Christi und die Kreuzesnachfolge des Christen bei Martin Luther«, in: K. Grünwaldt/U. Hahn (Hg.): Kreuzestheologie, 117–136 mit besonderer Betonung der Operationes in psalmos. Zur zentralen Bedeutung der Buße in den Jahren 1518–1519 siehe besonders auch die Sermones de Passione Christi (1518), WA 1, 335–345. Aus praktisch-theologischer Perspektive zum meditativen

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beschreibt Luther zunächst einige Missstände und Fehlentwicklungen, die er in der Passionsfrömmigkeit seiner Zeit zu beobachten meint. So manchen frommen Betrachter des Gekreuzigten sieht er in Zorn gegen die vermeintlichen Täter und Schuldigen entbrennen, wodurch »nit Christus leyden / sondern Iudas vnd e der Iuden bosheyt« im Vordergrund stehte.76 Andere wiederum tragen das Kreuz in einem Sammelsurium von abergläubischen Devotionalien, in »bildelein vnd e buchlein / brieffen vnd creutzen«, wie apotropäische Talismane mit sich herum, die vor Krankheit und Gefahr schützen sollen. Das Leiden Jesu soll auf quasi magische Weise das eigene Leiden lindern.77 Schließlich beobachtet Luther, dass viele Gläubige in erster Linie Mitleid und Bedauern mit dem Gekreuzigten empfinden und sich die Passionsgeschichte entsprechend zu einer emotional dramatischen Geschichte ausmalen und ausschmücken.78 In den beschriebenen – und für seine Zeit durchaus typischen – Formen der Kreuzesbetrachtung wittert Luther die immer gleiche Gefahr. Ob als Empörung über eine brutale Hinrichtung, als esoterisches Heilmittel oder in herzzerreißenden Mitleidsbekundungen: Die verbreiteten Formen der Passionsfrömmigkeit lassen den Menschen allzu leicht auf sich selbst zurückfallen. Sie »geratten eben« – wie Luther es ausdrückt – »widder die rechte frucht / des leydens Christi dan sie das yhre darynnen suchen«.79 Der Anblick des Leidens Christi rückt zuweilen das Vertraute, das, was unmittelbar dem eigenen Anliegen und Bedürfnis nützt, in den Mittelpunkt. Das Kreuz wird zur Projektionsfläche des eigenen Lebens, Leidens, Hoffens und Bangens. Worum es jedoch in der Betrachtung des Leidens Christi eigentlich gehen sollte, ist nach Luthers Auffassung durchaus noch etwas Anderes. Er schreibt: »Die bedenckenn das leyden Christi recht / die yhn alszo ansehn / daz sie hertzlich darfur erschrecken / vnd yhr gewissen gleych sincket /

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Element bei Luther vgl. Martin Nikol: Meditation bei Luther, Göttingen 1984, zur Passionsmeditation bes. 117–150. Vgl. außerdem Martin Elze: »Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Luthers Theologie«, in: ZThK 62 (1965), 381–402 und zum Hintergrund der Wirkungsgeschichte die Studien Johann Anselm Steiger : »›Mein Niedrig=gehn sol Euch erheben‹. Zur poetisch-meditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichtes von Simon Dach (1605–1659)«, in: Hans-Jörg/Marcel Nieden (Hg.): Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, FS Wolfgang Sommer, Stuttgart u. a. 1999, 175–199 und ders.: »Zorn Gottes, Leiden Christi und die Affekte der Passionsbetrachtung bei Luther und im Luthertum des 17. Jahrhunderts«, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), hg. v. Johann A. Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner/Ulrich Heinen/ Renate Steiger/Melvin Unger/Helen Watanabe-O’Kelly, Wiesbaden 2005, 179–201. WA 2, 136 (DDStA 1, 30). WA 2, 136 (DDStA 1, 30): »vnd alszo Christus leyden / eyn vnleyden / yn yhn wircken sol / widder seyn art vnd natur.« Vgl. WA 2, 136 (DDStA 1, 30): Luther verweist hier auf Lk 23,27, wo Jesus selbst die klagenden Frauen am Leidensweg auffordert, nicht ihn, sondern sich selbst und ihre Kinder zu beweinen. WA 2, 136 (DDStA 1, 30).

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yn eyn vorzagen«.80 Erschreckende und aufwühlende Selbsterkenntnis ist für Luther die eigentliche Pointe der Betrachtung des Kreuzes.81 Keineswegs geht es ihm also um eine Verabschiedung der spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit seiner Zeit, sondern vielmehr um deren Vertiefung und Ausrichtung auf das Wesentliche. Das für den frühen Luther zentrale »gleichförmig werden mit dem Leiden Christi« ist dabei keine rationale Lehrformel, sondern stellt sich als in erster Linie kontemplativer Vorgang dar.82 Der eigentümliche »Schrecken«, den Luther immer wieder betont, resultiert nicht allein aus Mitleid oder Entsetzen über die dargestellte Gewalt- und Leidensszene, sondern aus einer tiefgründigen Selbst- und Gotteserkenntnis: Die Verlorenheit, die ich mit Entsetzen im unschuldig Leidenden am Kreuz sehe und in der ich Gott selber erkenne, ist meine Verlorenheit; ich bin es, um den es hier geht.83 Ein abgründiger Gedanke, bzw. eigentlich kein Gedanke, sondern ein geheimnisvolles Empfinden des Erschauerns, ein »mysterium tremendum«.84 Nicht der Kopf, sondern das »Herz« ist der Ort, an dem Luther diese Kreuzeserkenntnis, dieses »gleychformig werden« lokalisiert: »dan es auch nit muglich ist / das Christus leydenn von vnsz selber e mug bedacht werdenn gruntlich / gott senck es dan yn vnszer hertz.«85 Der Sinn des Leidens Christi erhebt sich nicht aus der Interpretation des Betrachters und e dessen »eygen vormugen«, sondern entfaltet seine unmittelbare Evidenz spontan in der intuitiven Erkenntnis der eigenen Erlösungsbedürftigkeit als Gefühl.86 Gottesbewusstsein und Gottesverhältnis des Menschen werden im Leiden Christi erst eigentlich bedeutsam, unausweichlich, konkret und unmittelbar.87 Die Betrachtung der Passion ist für Luther nicht weniger, als eine im »schrecken vnd […] vorzagen« unmittelbar aufgehende Aneignung und Konkretion der geheimnisvollen Unterscheidung eigener Endlichkeit und Sünde von göttlicher 80 WA 2, 137 (DDStA 1, 32). 81 Luther spricht von einem Moment, durch den »der mensch zu seyns selb erkentnisz kumme / vnd fu˚r yhn selbs erschrecke vnd zurschlagen werde« (WA 2, 138 / DDStA 1, 34). 82 Vgl. WA 2, 138 (DDStA 1, 34): »werck des leydens Christi ist / daz es yhm den menschen gelych formig mache«. Luther betont: »Es geht auch hie nit zu / mit vielen worten / sondern mit tieffen gedancken und grosz achtung der sonden.« (WA 2, 138 / DDStA 1, 34). 83 Vgl. WA 2, 137: »vnd wan du recht tieff bedenckst/ das gottis sun / die ewige weyszheyt des vatters / selbst leydet / szo wirstu wol erschrecken / unnd yeh mehr / yhe tieffer.« 84 Vgl. zu dem klassischen Begriff R. Otto: Das Heilige, 3–37 und im Zusammenhang mit Luther a. a. O., 116–133. Zum Hintergrund vgl. Peter Schüz: Mysterium Tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto (BHTh 174), Tübingen 2016. 85 WA 2, 139 (DDStA 1, 34). 86 Zum Hintergrund im Blick auf Luthers Wirkungsgeschichte im 17. Jahrhundert vgl. J.A. Steiger : Zorn Gottes, 179–201. 87 Im Hintergrund steht bei alledem der berühmte Satz in WA 2, 137 (DDStA 1, 30): »dan was hilfft dichs / das gott / got ist / wan er dier nit eyn got ist«. Vgl. zum hier beschriebenen »Aneignungscharakter des Glaubens« besonders Ulrich Barth: »Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis«, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51, hier : 46.

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Vollkommenheit und Barmherzigkeit. Passionsfrömmigkeit erscheint in diesem Lichte als der eigentliche Schlüssel zur Offenbarung Gottes und der kontrafaktischen Pointe lutherischer Christologie und Soteriologie.88 Dabei betont Luther ausdrücklich die Grenzen der rationalen Einholbarkeit des Geschehens. Die Passion bringt etwas zur Darstellung, was der dogmatischen Deutung als Satisfaktion, Stellvertretung oder Sühne verborgen bleibt. Dahinter scheint der Gedanke zu stehen, dass die Passion Christi weder als dogmatische Einsicht noch als sentimentale Erinnerung an den Tod Jesu, sondern als innerlicher Akt der Selbsterkenntnis zu verstehen ist, den man in angemessenen Frömmigkeitsformen regelrecht kultivieren und üben kann.89 Man könnte von intuitiven Aneignungsformen des unmittelbaren Eindrucks der Passion sprechen, die den Betrachter einnehmen und bestimmen, bevor ein konkretes religiöses Anliegen oder gar der Gottesbegriff in den Sinn kommen.90 Das muss nicht gleich in antitheologischen Irrationalismus führen – deutlich wird aber durchaus ein frömmigkeitstheoretischer Vorbehalt gegenüber der Dogmatik, den Luther hier in der Kreuzesfrömmigkeit seiner Zeit einkreist: nicht im Kopf, sondern im »Herzen« wird eigentlich erkannt, was Buße, Vergebung und Erlösung bedeuten.91 Was er ein Jahr zuvor in der Heidelberger Disputation als Erkenntnis des sichtbaren Wesens (visibilia) und der Rückseite (posteriora) Gottes in Passion und Kreuz (in passionem et crucem) bezeichnete, wird hier einem Ort in der gelebten Frömmigkeitspraxis zugewiesen, der Schau des verborgenen Gottes »in humilitate et ignominia crucis«, die freilich das alltägliche Elend und Leiden der Menschen mit in sich aufnimmt und damit die Offenbarung Gottes mitten in die menschlichsten Gründe der Lebenserfahrung stellt.92 Im Zentrum steht das innerliche Berührtsein von dem Gedanken, Gott im Meer menschlicher Sünde 88 Der Begriff der »Kontrafaktizität« in der Christologie wurde besonders von Notger Slenczka als Grundfigur christlicher Theologie des Kreuzes ausgemacht, vgl. hierzu Notger Slenczka: »Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins«, in: Jens Schröter (Hg.): Jesus Christus (Themen der Theologie 9), Tübingen 2014, 181–241, bes. 226 und ders.: »Das Kreuz mit dem Ich. Theologia crucis als Gestalt der Selbstdeutung«, in: K. Grünwaldt/U. Hahn (Hg.): Kreuzestheologie, 99–116. Zur theologia crucis als Schlüssel zur Offenbarungstheorie Luthers vgl. Ulrich Barth: »Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis«, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, 97–123, bes. 122. 89 Vgl. hierzu erneut U. Barth: Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens, 27–51, bes. 45f. 90 Der klassische Begriff bei Luther wäre hierfür wohl die fides apprehensiva, also die existentielle Aneigungsdimension des Glaubens in seinem Vollzug. Vgl. hierzu erneut U. Barth: Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens, 45–47, mit Ausführungen zu den Momenten »existentieller Aneignung« und der Eigendynamik (»Eigenbestimmtheit«) der Religion und ihrer Erlebnisdimension. 91 Zur Bedeutung des »Herzens« vgl. Fritz Oskar Schuppisser : »Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern«, in: W. Haug/B. Wachinger (Hg.): Passion Christi in Literatur und Kunst, 169–210. 92 Vgl. aus der Heidelberger Disputation besonders These XX, WA 1, 362 (LDStA 1, 52f.).

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selbst untergehen zu sehen. Die Ferne Gottes wird dadurch aufgehoben, dass Gott selbst als Teil dieser im Innern erlebten Verlorenheit im Leiden und Sterben des Sündlosen erlebt wird.93 Man könnte vielleicht vom Gefühl der Verschmelzung mit der Verlorenheit Jesu am Kreuz sprechen.94 Dabei weiß Luther offenbar durchaus um die individuellen Unwägbarkeiten und Zweideutigkeiten dieser intuitiv-religiösen Aneignungsmomente, die weit in die Traditionslinien der mittelalterlichen Compassio- und Imitatio-Frömmigkeit zurückreichen. Um den verbreiteten und eingangs genannten Fehlentwicklungen der Veräußerlichung meditativer Passionsbetrachtung, bei der das »weszen yn eynen scheyn vorwandelt / vnd das leyden Christi bedencken / alleyn auff die brieff vnd an die wend gemalet«95 wird, entgegen zu wirken, rät Luther zur konzentrierten Einübung und Pflege der Selbstbesinnung in jenen unmittelbar-intuitiven Aneignungsmomenten der Betrachtung des Kreuzes, wie sie in Gottesdienst, Gebet und Bußpraxis kultiviert werden.96 Die von hier ausgehenden wirkungsgeschichtlichen Linien im Protestantismus sind beträchtlich und haben sich tief in die Frömmigkeitsgeschichte eingegraben.97 Das gilt besonders für das Kirchenlied; berühmte Zeilen klingen da im Ohr wie jene Paul Gerhardts: »Es soll dein Tod und Leiden, / Bis Leib und Seele scheiden, / Mir stets in meinem Herzen ruhn.«98 Dass Passionslieder aus 93 Vgl. hierzu die jüngsten Überlegungen von Notger Slenczka insbes. zum Gedanken der Identifikation Christi mit der Sünde der Menschen (als »Zusammenprall von Gott und Sünde«) in Luthers Galatervorlesung von 1531 vor dem Hintergrund einer bemerkenswerten Macbeth-Interpretation in: Notger Slenczka: »›Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum – Du hast noch nicht ermessen, welches Gewicht die Sünde hat‹. Die Bedeutung des Kreuzes für das Selbstverständnis des Menschen«, in: KuD 62 (2017), 160–182. 94 Notger Slenczka hat in diesem Kontext zu Luthers Auslegung von Gal 2,19f. angemerkt: »Die eigene Identität tritt unter das Vorzeichen der Identität Christi« (N. Slenczka: Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum, 180) und zwar wohlbemerkt vor dem Horizont des Zusammenbruchs am Kreuz und der »subjektiven Erfahrung Jesu Christi, der sich selbst als Sünder weiß« (a.a.O, 179). Slenczka beschreibt diesen Zusammenhang der »Hermeneutik des Kreuzes« als »Vorgang […] einer dem ursprünglichen Selbstverständnis widersprechenden Wandlung des Selbsturteils« (a. a. O., 180, kursive Hervorhebung im Original) – die vorliegenden Überlegungen neigen dazu, diesen Vorgang besonders auch in seiner kontemplativen Aneignungsdimension zu unterstreichen. 95 WA 2, 142 (DDStA 1, 42). 96 WA 2, 137 (DDStA 1, 32–33). Vgl. dazu Johann Anselm Steiger : »Christus pictor. Der Gekreuzigte auf Golgatha als Bilder schaffendes Bild. Zur Entzifferung der Kreuzigungserzählung bei Luther und im barocken Luthertum sowie deren medientheoretischen Implikationen«, in: J.A. Steiger/U. Heinen (Hg.), Golgatha in den Konfessionen, 93–127. 97 Vgl. Johann Anselm Steiger : »›Gottes Leiden, Gottes Blut, Gottes Tod‹. Oder : ›Erschein mir in dem Bilde […].‹ Zur Soteriologie Martin Luthers und seiner barocken Erben im Kontext bildtheologischer Zuspitzung«, in: C. Albrecht/M. Laube (Hg.): Das Kreuz mit dem Kreuz, 27–43. 98 Evangelisches Gesangbuch Nr. 84 (O Welt, sieh hier dein Leben). Vgl. zum Hintergrund u. a. die Studien Gerhard Hahn: »Die Passion Christi im geistlichen Lied«, in: W. Haug/B. Wa-

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dem 17. und 18. Jahrhundert trotz ihrer durchaus rustikalen Ausdrucksweise und ihren orthodox-dogmatischen Zumutungen bis heute einen kirchenmusikalischen Schlagerstatus genießen, mag demnach nicht allein an ihrem ästhetischen oder nostalgischen Wert, sondern möglicherweise auch daran liegen, dass das in ihnen zum Klingen gebrachte Empfinden von Rührung angesichts des unmittelbaren Eindrucks der Kreuzesszene mitunter auch heute noch als adäquater Ausdruck des eigenen Empfindens anerkannt werden kann.99 Von Paul Gerhardt über Bach bis, wenn man so will, zu Blumenbergs Matthäuspassion reicht der hier in Reime gegossene Gedanke aus Luthers Passionssermon, dass es die Botschaft vom Kreuz im Christentum mit einer intuitiven Aneignungsdimension der paradox-theologischen Dialektik von Verborgenheit und Offenbarung zu tun hat, die – in ausdrucksstarke Darstellungsformen der Frömmigkeitsgeschichte gegossen – epochenübergreifend in Gefühlen anknüpfbar ist.100 Auch und vielleicht gerade dann, wenn die dogmatischen Implikationen und Deutungen der Kreuzestheologie fremd werden, ist der unmittelbare Eindruck des leidenden Gerechten offenbar von bleibender Eindrücklichkeit. Luther hatte, zumindest in der Perspektive der eingangs skizzierten Deutungslinie um 1900, in seiner Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit einen Eindruck des Kreuzes vor Augen, dem er die Kraft einer unmittelbaren Evidenz zutraute.101 Damit wurde er gewissermaßen zum Paradigma des Gedankens einer intuitiven Aneignung des Todes Jesu, den Harnack, Otto und andere als die eigentlich maßgebliche und das Wesen der Religion ausmachende Kraft religiösen Erlebens in Geschichte und Gegenwart erkannten. Der Eindruck des Todes Jesu scheint – so die Beobachtung schon bei Luther und in den übrigen Beispielen – im religiösen Menschen bereits Deutungen zu evozieren, bevor sich die Frage nach einer theologischen Interpretation des Kreuzesgeschehens stellt. An das Kreuz gebundene Glaubensgewissheiten sind auf eigentümliche Weise vorreflexiv und unableitbar – zumindest stehen sie für den frommen Menschen in ihrem Gehalt nicht zur Disposition, sind häufig unverhandelbar und damit für die Bildung soteriologischer Bechinger (Hg.): Passion Christi in Literatur und Kunst, 297–319 und Sven Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, Göttingen 2001. 99 Zu dem der Marginalisierung theologischer Zugänge zu Kreuz und Passion entgegenlaufenden Phänomen des ungebrochenen Erfolgs von Passionsmusik, insbes. bei Bach und Gerhardt, vgl. EKD: Für uns gestorben, 150f. 100 Zu Blumenbergs Deutung der Matthäuspassion vgl. Thomas Erne: »Die theologische Großzügigkeit der Musik. Ästhetische und religiöse Erfahrung am Beispiel von Hans Blumenbergs Matthäuspassion«, in: Musik und Kirche 4 (1997), 223–229. 101 Ulrich Barth hat in Bezug auf Luthers Bibelauslegung von einer »pikturalen Evidenz« gesprochen. Ulrich Barth: »Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie«, in: Ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321–352, hier: 342.

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kenntnisaussagen konstitutiv.102 Im Kreuz wird etwas erkannt, was viel tiefer liegt, als die Kreuzesszene selbst und was durch theologische Deutungen und religiöse Darstellungsformen bestenfalls angedeutet und vergegenwärtigt, nicht aber wirklich erfasst werden kann. Die Kreuzesszene wird gleichsam transzendiert, bzw. wird schon in der Bibel in transzendierter Form überliefert als letztlich undarstellbare Intuitionserkenntnis.

3.

Das Geheimnis des Kreuzes als Pointe seines Darstellungsproblems

Die angestellten Überlegungen vermögen natürlich bestenfalls eine Spur vorzuzeichnen. Ausgehend von dem unversöhnlichen Unbehagen an der Erlösungsbotschaft des Todes Jesu in der frühen Moderne stellte sich die (Wieder-) Entdeckung des unmittelbaren Eindrucks des Kreuzes als einer maßgeblichen Quelle seiner spirituellen Evidenz um 1900 als bemerkenswerter Impuls dar. Die Rede von der Unversöhnlichkeit, Unfassbarkeit und unaufklärbaren Rationalisierungsrenitenz des Kreuzes in der Moderne reformuliert demnach eine unter theologischen Formeln der Dogmengeschichte zuweilen verschüttete Anstößigkeit, die dem Kreuz schon in der Antike anhaftete und zugleich die Pointe seiner Botschaft und seines unmittelbaren Eindrucks markiert: Gott und Welt in Bezug zu denken, gerade am Ort und im Eindruck der Gottesferne, des Todes, der Verlorenheit. Diese Perspektive vermag die Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte von Kreuz und Passion in besonderer Weise ernst zu nehmen und in die Gegenwart zu übersetzen als zeitlose Gefühlsdimension eines geheimnisvollen Offenbarungserlebens, das gerade in der paradoxen Koinzidenz des Gefühls von Gottesgegenwart und Verlorenheit seine Pointe findet. Für Denker wie Harnack, Herrmann, Troeltsch und Otto ist nicht das historische Kreuz als einmaliges Versöhnungsopfer, sondern das in intuitiver Aneignung sich entfaltende Erleben des unmittelbaren Eindrucks der Kreuzesszene entscheidend. Dabei bildet Luther gewissermaßen das klassische Paradigma, um traditionelle dogmatische Formeln zum Gedanken des »für uns gestorben« als zu Begriffen geronnenes, intuitives Deuten und Erleben zu beschreiben. Der Grundgedanke lautet demnach: Die Bedeutung des Todes Jesu ist weniger zu begreifen als zu erleben. Dogmatische Rede ohne die intuitive Aneignungsdi102 Übertragen auf die Bildproduktion in der Geschichte des Christentums hat Hans Belting programmatisch von der »Macht der Bilder« und der »Ohnmacht der Theologen« gesprochen, um die bemerkenswerte Eigendynamik und die sich rationaler Konzeptualisierung sperrende Kraft religiöser Gehalte in der christlichen Bild- und Darstellungsgeschichte zu beschreiben. Vgl. hierzu H. Belting: Bild und Kult, 11ff.

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mension bleibt leer, ebenso wie das reine Erleben ohne das unablässige Ringen um angemessene rationale Darstellungsformen blind bleibt. Beide, intuitive wie rationale Elemente, sind gerade in der Frage nach dem Kreuz als dem Zentralsymbol des Christentums in engster Weise miteinander verwoben und aufeinander angewiesen. In diesem Gedanken mag auch die bleibende Anregung der religionsgeschichtlich-religionspsychologischen Perspektive um 1900 für die Gegenwart und ihre christologischen Probleme liegen. Die Pointe wäre demnach, gerade in der Unauflösbarkeit und dem Zumutungscharakter intuitiver Motive des Kreuzes eine Spiegelung von dessen eigentlicher Botschaft zu sehen: Gerade im unmittelbaren »Schrecken« – wie Luther sagen würde – erweist sich Weltüberwindung in Weltverstrickung, Vertrautheit Gottes in Gottes Verborgenheit und macht die unverkennbare paradoxe Note im Kosmos intuitiver Eindrücke des Todes Jesu aus. Gott offenbart sich gerade in den Widersprüchen und Verstrickungen der Welt. Das damit einhergehende Darstellungsproblem des Todes Jesu, sowohl in der oft monierten Sperrigkeit und unzeitgemäßen Zumutung seiner dogmatischen Deutung als Sühne und Opfer als auch in den Ambivalenzen seines intuitiven Eindrucks, ist demzufolge letztlich kaum überraschend. Als Krise unserer Zeit im Kontext der Christologie, so könnte man im Blick auf den Titel dieses Sammelbandes sagen, ist die Darstellungskrise des Kreuzes, so aktuell sie auch anmuten mag, letztlich weder neu noch überwindbar, sondern eine im Wesen der Sache mitgesetzte Krise. Sie ist dem Geheimnischarakter des Kreuzes wesentlich; ihr Darstellungsproblem ist gerade die Pointe der Botschaft vom Kreuz. Wie das Kreuz zu einem Bild des Heils werden konnte, wird damit letztlich ein Geheimnis bleiben müssen, das darin beschlossen liegt, die eigene Verlorenheit und Endlichkeit in der Passionsszene zugleich wiederzuerkennen und auf geheimnisvolle Weise als aufgehoben zu erleben. Rationale Erklärungen dieses Versöhnungsvorgangs bleiben, wie die Darstellungsgeschichte des Todes Jesu zeigt, hinter dem zurück, was die eigentliche Glaubensgewissheit daran begründet und hat mit dem unmittelbaren Eindruck zu tun, der zu allen Zeiten seine Kraft und Faszination entfaltet hat.103 Vielleicht liegt die Herausforderung der Dogmatik der Gegenwart damit ge103 Vgl. hierzu erneut H. Belting: Das Bild und sein Publikum, 15 f: »Aber es liegt mehr Substanz darin, als in dogmatischen Begriffen zu fassen war. Die theologisch konzipierte Figur Jesu, in der Schöpfer und Geschöpf simultan gesehen werden, erschien gleichsam im Schnittpunkt von Gerechtigkeit und Gnade und lud deshalb auch zur Kontemplation von Schuld und Sühne, aber auch von Verurteilung und Hoffnung ein, die der Gläubige auf sich selbst bezieht. […] Hier liegt auch das emotionale Potential für den Gebrauch der entsprechenden Bildfigur. Im Anblick des als Mensch leidenden und gestorbenen Gottes, also Gottes als Mitmenschen, wird deshalb mehr erfahren, als die Theologie leisten kann. Es wird hier der Anblick einer Person erfahren, in der Richter und Anwalt ineins gesetzt sind.«

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rade nicht in angeblich »notwendigen Abschieden« von den klassischen Deutungsformeln des Stellvertretungstodes Jesu, sondern in ihrer Wiederentdeckung im Spiegel ihrer intuitiven Gehalte.104 Denn gerade in den Aporien und paradoxen Zumutungen klassischer dogmatischer Kreuzesdeutungen finden die intuitiven Eindrücke des Todes Jesu auf ganz eigene Weise eine eindrucksvolle Analogie.105 Christologie ist der Schauplatz einer unauflösbaren Darstellungskrise, die, wenn man ihren Zumutungscharakter abschleifen würde, gerade ihre entscheidende Vermittlungskraft verlöre. Der Clou läge demnach gerade in der Vermittlung der bleibenden Unauflösbarkeit des Kreuzesgedankens: Weltverstrickung und Weltüberwindung, Ferne und Unmittelbarkeit Gottes, eigene Geschöpflichkeit und göttliche Allmacht bleiben als paradoxe Note im Kosmos intuitiver Eindrücke des Todes Jesu bestehen – Luthers Formel des »sub contrario« ist daher wohl auch heute noch die maßgebliche Grundfigur angemessener Darstellungsformen des Todes Jesu. Die von Storm besungene »Unversöhnlichkeit« des Erschauderns vor dem Kreuz wäre in diesem Sinne nicht weniger als der Dreh- und Angelpunkt jeder Deutung des Todes Jesu als Grundmotiv christlichen Glaubens. Der Theologie des Kreuzes in der Gegenwart wäre damit – wenn diese These stimmt – eine besondere Vermittlungsaufgabe gestellt, die auch die großen Fragen der Christologie im Allgemeinen berührt: Ihre Überzeugungskraft hinge in besonderer Weise an einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Ausdrucksformen religiöser Intuition, an denen sich die klassische dogmatische Rede vom Kreuz als Sühne, Opfer und Erlösung bewähren muss. Beide wären dabei nicht gegeneinander auszuspielen; vielmehr ist es gerade die in der Schwebe gehaltene Spannung und Dynamik zwischen rationalen und intuitiven Elementen, die das Darstellungsproblem des Kreuzes zum offenbarungstheologischen Zentralmotiv des Christentums macht.

104 Vgl. Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22005 und zum Hintergrund die Beobachtungen zur Karfreitagsvergessenheit und fortschreitenden Marginalisierung der Themen ›Sünde‹ und ›Kreuz‹ seit der Jahrtausendwende in EKD: Für uns gestorben, 145–158. 105 Zum Geheimnischarakter religiöser »Intuition« bemerkte Troeltsch bereits in seiner Selbstständigkeitsschrift ganz in diesem Sinne: »Nicht auf die Beseitigung des Rätselhaften kommt es hier an, sondern vielmehr darauf, zu erkennen, daß das Urrätsel aller Religion hier seinen tiefsten und größten Ausdruck gefunden hat.« (E. Troeltsch: Die Selbstständigkeit der Religion, 364–535, hier : 519).

Henning Theißen1

Der irdische Jesus. Wahrheit und Kontextualität der Christologie bei Hans-Georg Geyer2

1.

Ausgangslage

Es war kein Geringerer als E. Käsemann, der den Ausgangspunkt der gesamten neutestamentlichen Wissenschaft mit den Fragmenten jenes ›Ungenannten‹ verband, durch deren Herausgabe G.E. Lessing 1778 aller Theologie unwiderruflich die historisch aufgeklärte Kritik zum Prüfstein setzte. Käsemann selbst eröffnete laut gängiger Wissenschaftsgeschichtsschreibung 1953 mit einem Vortrag vor den Alten Marburgern eine neue Fragerunde im Streit um den historischen Jesus.3 Sie wurde zum Vorläufer für den sog. ›third quest for the historical Jesus‹, der seit den 1980er Jahren vor allem in sozialgeschichtlicher Perspektive die Jesusgestalt erforscht. Hatte auf der ersten Stufe der Jesusforschung jener Ungenannte Lessings, der Neologe H.S. Reimarus (1778), mit aufklärerischem Gestus vor allem die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Schilderung Jesu angezweifelt, so zeigte sich im Zeitalter nach G.W.F. Hegel die 1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 317628988. 2 Praktische und (zeit-)geschichtliche Aspekte dieses Themas habe ich in einem Vortrag vor dem Pfarrkonvent des Kirchenkreises Gladbach-Neuss am 6. 2. 2017 behandelt, der in Evangelische Theologie 77 (2017), Heft 3, 228–238 erschienen ist. Der vorliegende Beitrag behandelt fachwissenschaftliche, archivalische und methodische Fragestellungen. – Mein Dank gilt vorrangig meinem Projektmitarbeiter Frank Dittmann für sorgfältige und unermüdliche Arbeit bei der Generierung der Metadaten zu den Materialien aus Geyers wissenschaftlichem Nachlass. Ich danke herzlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung des Projekts zur Kontextualisierung von Geyers wissenschaftlichem Werk sowie den Leitungen und Betreuerinnen, die die erforderlichen Recherchen im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin und im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Darmstadt tatkräftig unterstützt haben: H. Pahl und C. Mokroß (beide EZA) sowie H. Bogs und N. Alekseeva (beide ZA EKHN). Ein besonderer Dank gilt Ruth Geyer für ihr vielfältiges Entgegenkommen. 3 Ernst Käsemann: »Das Problem des historischen Jesus« (1954), in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen (GAufs.), Bd. I., Göttingen 21960, 187–214, hier 187: »Ist doch der Werdegang unserer [sc. neutestamentlichen] Disziplin seit rund zweihundert Jahren von dieser Frage [sc. nach dem historischen Jesus] eingeleitet, vorwärtsgetrieben und zentral bestimmt worden.«

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Forschung zuversichtlich, das tatsächliche Leben Jesu historisch rekonstruieren zu können. Die zweite Stufe ab Käsemann nun konnte den phasenweisen Antagonismus von kritischem und konstruktivem Zugriff bereits in Gestalt des begrifflichen Gegenübers von historischem Jesus und kerygmatischem (verkündigtem) Christus voraussetzen, das durch M. Kählers Grabrede auf die biographischen Träume der Leben-Jesu-Forschung (1892) gängig geworden war.4 Seither gilt von der Formgeschichtlichen Schule eines M. Dibelius (1919) oder R. Bultmann (1921), die den nicht neutral berichtenden, sondern engagiert verkündigenden Charakter der synoptischen Tradition nachwies, bis zur gegenwärtigen exegetischen und dogmatischen Lehrbuchliteratur bei G. Theißen (1996) und C. Danz (2013) der methodische Gegensatz der Christologie zwischen dem Mann aus Nazareth (›Jesus‹) und dem geglaubten Messias (›Christus‹) als total, auch wenn es Käsemann gelang, die inhaltliche Berücksichtigung beider neu in der Theologie zu implementieren.5 Gegenwärtig ist es besonders der Berliner Neutestamentler J. Schröter, der seit seiner Habilitationsschrift (1997) für einen auch methodisch abgesicherten Ausgleich zwischen historischem Jesus und kerygmatischem Christus eintritt. Hierfür prägt Schröter die Kategorie des ›irdischen Jesus‹.6 Sie trägt der Einsicht Rechnung, dass die Texte der synpotischen Tradition den Auferstandenen in seinem Erdenleben schildern, das sie mit einer jenseits historischer Kontinuität gelegenen Folgerichtigkeit geradlinig auf Kreuz und Auferstehung zulaufen sehen. Das Paradigma dieses Konzepts sind die biblischen Emmausjünger, die Jesus erst im Rückblick auf den gemeinsam mit ihm gegangenen Weg erkennen, ihn dann aber sogleich als den erinnern, der »all dies erleiden musste und in seine Herrlichkeit eingehen« (Lk 24,26). Die Kategorie des ›irdischen Jesus‹ ist also gedächtnistheoretisch geformt; die einschlägigen Autoren J. Assmann und in neueren Texten P. Ricœur sind Schröters Hauptgewährsleute. Da biblische Geschichten immer erinnerte Geschichte sind, erlaubt der gedächtnistheoretische Zuschnitt von Schröters Kategorie einen Ausgleich zwischen objektiver Historie und subjektivem Selbstbewusstsein, die sich in der neuzeitlichen Theologie seit der Aufklärung um den Rang als Quelle christologischer Erkenntnis streiten. Die sachliche Bedeutung des ›irdischen Jesus‹ für den Glauben ist dabei nach 4 Vgl. Martin Kähler : Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892) (TB 2), hg. v. Ernst Wolf, München 21956. 5 Die forschungsgeschichtlich einschlägigen Buchtitel lauten: Martin Dibelius: Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919; Rudolf Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 1921; Gerd Theißen/Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996; Christian Danz: Grundprobleme der Christologie (UTB 3911), Tübingen 2013. 6 Vgl. Jens Schröter : Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons (WUNT 204), Tübingen 2007, 373–375 zur Bestimmung des irdischen im Gegenüber zum historischen Jesus.

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Schröter gegenwärtig keine grundsätzlich andere als in neutestamentlicher Zeit. War es damals der Ausschluss des Doketismus, so prägt Schröters Kategorie dem kollektiven Gedächtnis der Christenheit heute das »Widerständige« eines in menschlich-allzumenschlicher Gestalt erscheinenden Gottes wie einen »Stachel im Fleisch« (2 Kor 12,7) ein.7 Das sei genug von der Konzeption des ›irdischen Jesus‹ bei Schröter. Die an sich unoriginelle Wendung ›irdischer Jesus‹ stammt nicht von ihm. Sie findet sich bereits in Käsemanns Programmvortrag zum ›historischen Jesus‹ und ist dort mit diesem austauschbar, ohne jedoch wie er zum fest geprägten Begriff zu avancieren.8 Ein terminologischer Gebrauch des ›irdischen Jesus‹ setzt die diskursweise Verflüssigung des inhaltlichen Entweder-Oder von ›historischem Jesus‹ und ›kerygmatischem Christus‹ voraus. H. Ristow und K. Matthiae haben diese Verflüssigung 1960 in einem großen Sammelband der (Ost-)Berliner Evangelischen Verlagsanstalt für den literarisch unterversorgten Wissenschaftsbetrieb im real existierenden Sozialismus dokumentiert. Die entsprechend breite und repräsentative Autorschaft des Bandes erprobt mehrere begriffliche Neuansätze, so H. Diems Rückverlagerung jenes Entweder-Oder in die Bibel selbst oder auch die Kategorie des »erinnerten Christus« bei R. Hermann, der Schröters Problembeschreibung vorwegnimmt, in der Lösung aber Kähler folgt.9 Als Begriff scheint der ›irdische Jesus‹ erstmals bei dem Göttinger Dogmatiker H.-G. Geyer zu begegnen, der seine 1973 in der Evangelischen Theologie veröffentlichten Rohgedanken zum Problem der Identität Jesu Christi in diesen Begriff münden ließ.10 Die Tatsache, dass niemand anders als E. Jüngel in seinem auch 7 Vgl. Jens Schröter : »Geschichte im Licht von Tod und Auferweckung Jesu. Anmerkungen zum Diskurs über Erinnerung und Gedächtnis aus frühchristlicher Perspektive«, in: ders.: Von Jesus zum Neuen Testament, 55–77, hier: 77: »Die Stärke eines an Tod und Auferweckung Jesu Christi orientierten Verständnisses von Geschichte und Erinnerung besteht darin, das Widerständige nicht aus der eigenen Erinnerung zu tilgen oder umzudeuten, sondern in das eigene Selbstverständnis zu integrieren.« 8 Bei E. Käsemann: Problem des historischen Jesus, 195f. ist der Ausdruck eher faÅon de parler für die vormals sinngleich gebrauchte Wendung »irdisches Leben Jesu« (S. 193). 9 Vgl. Hermann Diem: »Der historische Jesus und der Christus des Glaubens« (1957), in: Helmut Ristow/Karl Matthiae (Hg.): Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, Berlin 1960, 219–232 bzw. Rudolf Hermann: »Der erinnerte Christus«, in: H. Ristow/K. Matthiae (Hg.): Jesus und Christus, 509–517. Die zeitgeschichtliche Funktion dieses gewichtigen Bandes als kleiner Grenzverkehr im Vorjahr des Berliner Mauerbaus ist in der Theologiegeschichtsschreibung, die seit A. Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (21913) nun wahrlich den historischen Jesus als Spiegel seiner Erforscher sehen gelernt hat, erstaunlicherweise unbeachtet geblieben. 10 Vgl. Hans-Georg Geyer: »Rohgedanken zum Problem der Identität Jesu Christi« (1973), in: ders.: Andenken. Theologische Aufsätze, hg. v. Hans Theodor Goebel/Dietrich Korsch/ Hartmut Ruddies/Jürgen Seim, Tübingen 2003, 190–207.

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christologisch Epoche machenden Werk Gott als Geheimnis der Welt (1977) diesen Aufsatz, dessen inhaltliche Position er kritisch sah, als »scharfsinnig« anerkannte,11 ist Anlass genug, Geyers Christologie Aufmerksamkeit zu schenken.

2.

Forschungsinteresse

Das Werk Geyers (1929–1999) ist praktisch unerforscht, obwohl er, der nur achtzig Schriften verfasst hat (darunter keine Monographie nach den Qualifikationsschriften), auf dem Göttinger dogmatischen Lehrstuhl mit seinen Vorlesungen über ein Jahrzehnt (1971–82) überdurchschnittlich viele Studierende in großer inhaltlicher Tiefe zu erreichen vermochte. Geyers oft ohne historisch gelehrten Anmerkungsapparat auskommende Texte pflegen eine »Arbeitsweise des eindringlichen Nachsinnens dogmatischer Figuren«12 (D. Korsch) und gelten vielfach als erratisch oder unzugänglich. Der überwiegend aus Vorlesungsskripten und -transkripten bestehende Nachlass Geyers relativiert diesen Eindruck jedoch. Geyer hat eine stattliche Anzahl theologigegeschichtlicher Vorlesungen zur Zeit ab der Aufklärung erarbeitet, die ihm als Stoffgrundlage für die Hauptvorlesungen gedient haben dürften, die er im Laufe der Jahre zu praktisch jedem dogmatischen Locus gehalten hat. Er hat allerdings weitgehend darauf verzichtet, die geschichtlichen Problemkonstellationen, in die er Einblick nahm, in seinen dogmatischen Aufsätzen über die Nennung einschlägiger Namen und Positionen hinaus nochmals auszubreiten. Gerade der christologische Themenbereich spiegelt diese Arbeitsweise anschaulich. Geyers Hauptarbeitsgebiet war sicherlich die seinem philosophischen Herkommen am stärksten entsprechende Gotteslehre und Metaphysik. Die Christologie bildete jedoch in den Jahren seiner ersten Professuren in Wuppertal (Kirchliche Hochschule, 1964–1967) und Bonn (1967–1971) einen Arbeitsschwerpunkt, der durch Geyers Mitwirkung im Theologischen Ausschuss der EKU angeregt sein könnte.13 Dieser Ausschuss legte 1968 eine viel beachtete »Stellungnahme« Zum Verständnis des Todes Jesu vor, deren theologische Heuristik auf einen unveröffentlicht gebliebenen Text Geyers über Die Heilsbedeu-

11 Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977, 420 mit Anm. 23. 12 Dietrich Korsch: »Zwischen Hegel und Barth. Theologie nach Hans-Georg Geyer«, in: Katharina von Bremen (Hg.): Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Schwerte 2008, 159–173, hier: 171. 13 Vgl. zu diesen Angaben das ›Biogramm‹ von Hartmut Ruddies (in: H.-G. Geyer: Andenken, 507).

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tung des Kreuzestodes Jesu Christi zurückging.14 Als derselbe Ausschuss 1973 den in der entspannungspolitischen Phase des Kalten Krieges heiß umstrittenen Versuch einer christologischen Ethik anhand der zweiten Barmer These unternahm, war wiederum Geyer der theologische Vordenker. Vor allem aber hielt der ein Jahr zuvor nach Göttingen Berufene im Sommersemester 1972 eine von zwei im Nachlass erhaltenen Christologie-Vorlesungen.15 Sie erscheint angesichts ihrer Materialfülle als so reichhaltige Unterfütterung der christologischen Rohgedanken von 1973, dass man deren Titel als reines Understatement auffassen muss. Ein ähnliches Bild bietet die andere, im Sommer 1977 gehaltene christologische Vorlesung.16 Sie gibt sich schon durch den Titel Versöhnungslehre als Kommentar zu den knappen Anfängen zum Begriff der Versöhnung zu erkennen, die Geyer 1978 wiederum in der Evangelischen Theologie veröffentlichte. Vergleicht man außerdem den Nachlassbestand mit den Vorlesungsverzeichnissen der Hochschulen, an denen Geyer lehrte, so zeigt sich trotz mancher Inkompatibilitäten der Angaben, dass Geyer auch die Seminare umliegender Semester für christologische Themen nutzte, so dass man für die betreffenden Zeiträume (1970–1972: Bonn/Göttingen; 1977–1979: Göttingen) von einer bewussten Schwerpunktbildung ausgehen darf. Auch wenn als Faustregel gelten kann, dass die oftmals knappen Veröffentlichungen, in die Geyer solche Schwerpunktphasen münden ließ, in der Sache ein Etappenziel darstellen, hinter das er später nicht mehr zurückging, lohnt sich die Aufarbeitung seiner Denkwege dorthin nicht nur aus werkbiographischem oder theologiegeschichtlichem Interesse. Geyers Vorlesungen machen vielmehr den Kontext sichtbar, in dem die stilistisch beinahe kontextinvariant anmutenden Aufsätze Profil und Stoßrichtung bekommen und so auch in ihren eigenen Thesen klarer hervortreten. Das Gesagte lässt sich gut an Geyers Kategorie des ›irdischen Jesus‹ demonstrieren. Denn obwohl er diese wie Schröter zwischen dem historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus ansiedelt und mit Reimarus und der Hegelschule dieselben theologiegeschichtlichen Problemhintergründe vor Augen hat wie der Berliner Exeget, erteilt Geyers Christologie dessen gedächtnistheoretischem Rückgriff auf die Person Jesu avant la lettre eine klare Absage.

14 Dokumentiert: EZA 8/437, Umdr. 140/67. 15 Das Skript dieser Vorlesung enthält einen theologiegeschichtlichen und einen dogmatischen Teil und ist nach derzeitigem Erkenntnisstand auf folgende Nachlassmaterialien verteilt: ZA EKHN 323/39 (theologiegeschichtlich), 323/61 (dogmatisch). Letztere Verzeichnungseinheit gehört zu einem Seminar über Das systematische Problem der Auferstehung aus dem WS 1975/76. In diesem Semester scheint Geyer – womöglich wegen seines (bei Ruddies, ›Biogramm‹ nicht erwähnten) Dekanats – andere Themen unterrichtet zu haben, als in den online archivierten Vorlesungsverzeichnissen der Universität Göttingen angekündigt. 16 Als Tonbandtranskript erhalten: ZA EKHN 323/26.

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3.

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Methode

Bei dem Versuch, Geyers Denkwege zu rekonstruieren, muss man zwischen wörtlichen Tonbandtranskripten, wie sie z. B. für die Vorlesung zur Versöhnungslehre von 1977 vorliegen, und Skripten heterogener Zusammensetzung wie bei der Christologie-Vorlesung von 1972 unterscheiden. Im Kontext letzterer stößt man auf eine weitere Christologie-Vorlesung, die im Bonner Vorlesungsverzeichnis des Sommersemesters 1970 angekündigt wurde. Ihr Skript dürfte abschnittsweise in das Konvolut der zwei Jahre später in Göttingen gehaltenen Vorlesung integriert worden sein, deren zweite Hälfte ihrerseits bei den Materialien späterer thematisch benachbarter Veranstaltungen ihren Platz fand. Der Fundort der Skripte einschließlich der Blattreihenfolge, wie sie im Nachlass anzutreffen ist, scheint also eher äußerlichen Bedürfnissen von Geyers Lehrpraxis geschuldet zu sein (wenn sie nicht zumindest teilweise erst im Zuge der Nachlassüberstellung entstanden ist). Es war Frank Dittmann und mir möglich, allein durch Sicherung der zum Archivbestand gehörigen Metadaten – insbesondere Paginierungen und Gliederungsmerkmale – die mutmaßlich ursprüngliche Anordnung der Christologie-Vorlesung zu ermitteln. Geyer hat demnach die Christologie vor allem anhand von mehreren problemgeschichtlichen Strängen behandelt, die im Vorlesungsskript als durchgehend paginierte (wenn auch im Archivbestand verstreute) Textteile erhalten sind. In diesen Gesamtaufbau sind an Stellen, die für Geyer problemgeschichtlichen Schlüsselwert besessen zu haben scheinen, textliche Fragmente eingeflochten, die teils aus anderen Lehrveranstaltungen Geyers stammen, teils aber auch ad hoc produziert sein dürften. In jedem Fall kommen gerade diese Fragmente als Indikatoren für Weichenstellungen in Geyers Denken in Betracht. Bei dieser Rekonstruktionsmethode geben die Stränge der Vorlesung den Aufbau des Ganzen an, während die Fragmente inhaltliche Akzentsetzungen anzeigen. Die Stelle, an der sich die jeweiligen Texte in der einzelnen Verzeichnungseinheit finden, ist bei Strängen und Fragmenten gegensätzlich zu gewichten. Während sie bei den Strängen, die anhand der Paginierung sicher rekonstruiert werden können, nur eine untergeordnete Rolle spielt, hat der Ort, an dem ein Fragment im Ganzen der Vorlesung erscheint, für dessen Interpretation deutlich größeres Gewicht.

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Ergebnisse

Für die Interpretation von Geyers Christologie lassen sich in der beschriebenen thematischen Ausgangslage vor dem Hintergrund des skizzierten Forschungsinteresses bei Anwendung der dargelegten Methode die folgenden Ergebnisse festhalten. Ich orientiere mich in der folgenden Darstellung am Skript der Göttinger Vorlesung von 1972, da es den seit der früheren Bonner Vorlesung feststehenden Gesamtaufriss am ausgewogensten darbietet, wohingegen 1970 die Theologiegeschichte stärker im Vordergrund steht und 1977 eine rein dogmatische Darstellung gegeben wird. Geyers dogmatische Christologie, wie sie im Umriss in den erwähnten Aufsätzen in der Evangelischen Theologie von 1973 und 1978 erscheint, hat in einem ersten Vorlesungsteil ihr theologiegeschichtliches Widerlager in der Konstellation von orthodoxer (d. h. altprotestantischer) und spekulativer Christologie mit dem Aufklärer Reimarus als Untergang der orthodoxen und dem Linkshegelianer D.F. Strauß als Peripetie der spekulativen Christologie. Die Manuskriptteile zu beiden Strängen sind in unterschiedlichen Umfängen für die Bonner (1970) und die Göttinger Vorlesung (1972) im Nachlass erhalten.17 Beide Stränge sind sachlich verbunden durch eine dogmatische Frage, die Geyer anhand der geschichtlich zwischen ihnen stehenden Religionsphilosophie Hegels ausarbeitet. Sie lautet: Beziehen sich die christologischen Hoheitsprädikate, die die orthodoxe Zweinaturenlehre von seiner Menschennatur aussagt, auf die Person Christi oder auch auf die Menschheit der einzelnen Christen? Der doppelte, sowohl individuelle als auch generische Sinn von Menschheit, den Geyer hier beobachtet, hat seine Wurzel in dem Theorietyp historischen Erkennens,18 an dem sowohl Aufklärung als auch Hegelianismus und Spekulation partizipieren. Historische Erkenntnisgegenstände werden demnach als vergangene Größen konzipiert und nurmehr erinnert. Anschauung im Sinne einer Kopräsenz des Erkenntnisobjekts mit seinem -subjekt ist für solche Souvenirs der Vergangenheit – wie man sie nennen könnte – ausgeschlossen. So ist auch Christus »dem Fleisch nach« für den Glauben Vergangenheit (vgl. 2Kor 17 Die Darstellung der orthodoxen Christologie umfasst in der Vorlesung vom SoSe 1970 (»Aufgaben und Probleme der Christologie«) 60 maschinenschriftliche Seiten, im SoSe 1972 (»Fragen der Christologie«) 44 Seiten. Die spekulative Christologie wird 1970 auf 13 Seiten und 1972 auf 46 Seiten (unter der Überschrift »Gang und Fall der Leben-Jesu-Forschung«) abgehandelt, an die sich ein weiterer Gliederungsteil »Problem und Kritik der Idee des ›historischen Jesus‹« von 28 Seiten anschließt. 18 Geyer veranstaltete in Bonn im SoSe 1970 neben der Christologie-Vorlesung ein zweistündiges Seminar »Theorie historischer Erkenntnis«. (Die historischen Bonner Vorlesungsverzeichnisse sind nicht online, sondern nur als Mikrofilm in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn [ULB] einsehbar. Ich danke den Mitarbeitenden der ULB für die Gewährung der Einsichtnahme.)

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5,16) und die Erkenntnis von ihm kein gegenständliches Bewusstsein der Gläubigen, sondern ihr reines Selbstbewusstsein, das ohne das Gegebensein irgendeines Gegenstands auskommt. Mit dieser Epistemologie geht, folgt man Geyer, die erwähnte Verschiebung im Verständnis der christologischen Menschennatur einher. Hatte die orthodoxe Zweinaturenlehre die Hoheitsprädikate exklusiv individualistisch der Person des Erlösers vorbehalten, so werden sie ab der Aufklärung inklusiv interpretiert, so dass sie auch die Menschheit der Gläubigen einbeziehen, nämlich ihr Selbstbewusstsein als Erlöste. Hierfür dient Geyer die spekulative Christologie insbesondere bei Hegels treuestem Schüler Ph. K. Marheineke als Beleg. Eine theoriegeschichtliche Schlüsselstellung billigt Geyer jedoch Strauß zu, der mit seinem Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) die doppelte Option von individualistischem und generischem Menschheitsbegriff in eine strenge Alternative verwandelt habe. Strauß verwirft demnach Marheinekes inklusiv-generische Christologie und bezieht die christologischen Prädikate exklusiv-generisch auf die Menschheit als ganze, so dass die Person Jesu vollständig zum Objekt gemacht und der historischen Erkenntnis überantwortet wird. Kurzum: Mit Strauß tritt der ›historische Jesus‹ auf den Plan. Geyers historischer Problemaufriss mit Strauß’ historischem Jesus als Schlüsselproblem ist in den Vorlesungen von 1970 und 1972 bei unterschiedlicher Gewichtung gleichbleibend erkennbar. Er findet sich so ähnlich bereits in K. Barths Geschichte der evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert (1947) und in wichtigen Detailübereinstimmungen auch in der Tübinger Antrittsvorlesung von H. Diem (1957), die Geyer fraglos beide bekannt waren. Umso spektakulärer ist die Neufassung, die er seiner Darstellung verpasste, als er die Bonner Vorlesung zwei Jahre später in Göttingen wiederholte. Die Einteilung in orthodoxe und spekulative Christologie blieb zwar ebenso erhalten wie die Zuspitzung auf Strauß. Doch während Geyer noch 1970 Schleiermachers Begriff der Subjektivität in langen Ausführungen zum Konzept des erlösungskräftigen Gottesbewusstseins Jesu gegen Strauß’ Abfertigung Jesu als Objekt historischer Forschung aufgeboten hatte, spielt Schleiermacher in der Vorlesung von 1972 keine problemgeschichtlich eigenständige Rolle mehr. Geyer muss zwischenzeitlich – mutmaßlich entweder in seiner auf die Diastase Hegel – Schleiermacher zugespitzten Bonner Vorlesung Glauben und Wissen vom Wintersemester 1970/71 oder in seinem ersten Göttinger Seminar, das er im Wintersemester 1971/72 zur »spekulativen Christologie« »von Hegel bis Strauß«19 anbot – zu einer Neueinschätzung des Verhältnisses von Strauß und Schleiermacher gelangt sein. Dabei dürfte ihm – so meine Vermutung – aufgegangen sein, dass Strauß’ exklusive 19 Die Digitalisate der Göttinger Vorlesungsverzeichnisse sind über das Portal http://gdz.sub. uni-goettingen.de/dms/ [16. 12. 2016] erreichbar.

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Alternative zwischen individualistischem und generischem Verständnis der christologischen Menschennatur auch Schleiermachers Fundamentalkategorie des frommen Selbstbewusstseins trifft. Es ist nicht möglich, das individuelle Gottesbewusstsein Jesu als Grund des Erlösungsglaubens der Christen zu beanspruchen, wenn dieser Glaube den Erlöser zum Gegenstand haben soll, denn auch Jesus kann nicht gleichzeitig Subjekt und Objekt des frommen Selbstbewusstseins sein. Diese mutmaßliche Neueinschätzung ist deshalb so elektrisierend für unsere Frage nach dem ›irdischen Jesus‹, weil sie auch jedem gegenwärtigen Versuch, zwischen objektiver Historie und subjektivem Bewusstsein, zwischen biblischer Geschichte und christlichem Gedächtnis oder, wie Geyer sagt: zwischen »Tatsachenaussage« und »Lebensausdruck« einen Ausgleich etwa mit Mitteln der Gedächtnistheorie zu schaffen, eine klare Absage erteilt. In einem Kirchentagsvortrag von 1967 polemisiert Geyer bereits gegen die Frage nach einem solchen Ausgleich unmissverständlich, sie sei »so sinnvoll wie die Frage, ob Wasser rund oder viereckig sei«.20 Dieser drastische Vergleich ist keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern spielt mit den Adjektiven ›rund‹ und ›viereckig‹ auf die »Quadratur des Zirkels« an, die Strauß in Schleiermachers Idealismus der Abhängigkeit »viel zu rund« geraten fand, wie Geyer in der Vorlesung von 1972 paraphrasiert.21 Geyer hat spätestens ab 1972 gesehen, dass der ›irdische Jesus‹ nicht einfach einen weiteren ›quest for the historical Jesus‹ eröffnen kann, um diesem das forschungsgeschichtlich oder ideenpolitisch an den ›kerygmatischen Christus‹ verlorene Terrain zurückzuerobern. Er hat vielmehr in den folgenden Jahren den ›irdischen Jesus‹ immer deutlicher als bestimmte »Negation des ›historischen Jesus‹«22 verstehen gelehrt. Dass Geyer diese Implikationen erst nach und nach artikuliert hat, lässt sich damit erklären, dass sie gerade auf problemgeschichtlichem Gebiet zu der kontraintuitiven Annahme nötigen, dass nach Strauß ein »antithetischer Effekt« in der Christologie eingetreten sei.23 Der historische Optimismus der LebenJesu-Forschung, die nach Strauß auftrat, entwickelte sich laut Geyer nicht im Anschluss an die von Strauß viel beschworene »wissenschaftliche Kritik«, wie dies noch Barth und Diem annahmen. Die historische Jesusforschung ist nach Geyer vielmehr eine Trotzreaktion auf Strauß, hatte dieser doch eine historische 20 Hans-Georg Geyer : »Die Gegenwart Jesu Christi: die Auferstehung« (1967), in: ders.: Andenken, 176–189, hier: 181. 21 ZA EKHN 323/39 (»Die spekulative Christologie«, p. 37). 22 ZA EKHN 323/39 (»Problem und Kritik der Idee des ›historischen Jesus‹«, p. 28) fasst den Gedanken einer »spezifischen kritischen Negation des ›historischen Jesus‹« (Kursive im Original gesperrt). 23 ZA EKHN 323/39 (»Problem und Kritik der Idee des ›historischen Jesus‹«, p. 9) (im Original nachträglich unterstrichen).

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Erkenntnis Jesu zwar für sinnlos, aber nicht für unmöglich erklärt. Es dürfte die Entdeckung dieses »antithetischen Effekts« gewesen sein, die Geyer veranlasste, in den Gang seiner christologischen Vorlesung 1972 mehrere Fragmente zu implementieren, in denen er sich, gestützt auf W. G. Kümmels Forschungsgeschichte des Neuen Testaments (21970), mit der von Strauß aufgeworfenen, aber von der Zunft nach ihm links liegen gelassenen Frage nach dem theologischen Stellenwert historischer Erkenntnis auseinandersetzte. Man erinnere sich: Eben diese Frage der Theorie historischer Erkenntnis markierte in Geyers Vorlesung ja schon die Peripetie im Gesamtaufriss von orthodoxer und spekulativer Christologie.24 Es bildet daher Geyers eigenen Erkenntnisweg präzise ab, wenn er sich die theologische Frage nach der historischen Erkenntnis zwar mit dem jene Peripetie verkörpernden Strauß gestellt sein lässt, mit seiner dogmatischen Antwort aber klar gegen diesen votiert.25 Wie aber sieht Geyers dogmatische Position in der Christologie aus? Im Gegensatz zu Strauß’ ›historischem Jesus‹ ist Geyers ›irdischer Jesus‹ keine Größe der Vergangenheit, sondern gegenwärtig. Die »Gegenwart Jesu Christi« ist geradezu eine formelhafte Definition für die Auferstehung Jesu, die Geyer schon 1967 in seinem Kirchentagsvortrag vorgeschlagen hat.26 Gegenwärtig ist demnach der irdische Jesus, doch seine Gegenwart ist seine Auferstehung, die nicht zu seinem Erdenleben zählt. Hermeneutisch folgt Geyers ›irdischer Jesus‹ damit R. Bultmanns Axiom einer regelrechten Osterzäsur, die jede ›protentionale‹ (wie Geyer mit E. Husserl sagen kann) Kontinuität vom Verkündiger Jesus zum verkündigten Christus ausschließt. Dies geschieht übrigens, wie Nachlassmaterialien belegen, in bewusster, wenn auch nicht publik gemachter Tuchfühlung mit J. Moltmann, der in seiner just 1972 erschienenen Christologie Der gekreuzigte Gott von einer »Kontinuität in Diskontinuität« sprach.27 Historisch hingegen schließt sich Geyer Bultmanns antipodischem Schüler E. Käsemann darin an, dass die ausschließlich österliche – oder wieder mit Geyer/Husserl: ›retentionale‹ – Erinnerung der Gemeinde an Jesus sein Erdenleben in bestimmter, wenn auch nicht historischer Folgerichtigkeit erzählt. Das meint Geyers wiederkehrende Formel vom ›irdischen Jesus‹ als »Negation des historischen Jesus«. Geyer könnte zur Definition des ›irdischen Jesus‹ den schon erwähnten R. Hermann 24 Vgl. Anm. 18. 25 Die »systematische Reflexion elementarer Themen der Christologie« (ZA EKHN 323/61), der dogmatische Teil der Vorlesung, behandelt in der Fassung von 1972 auf 78 Seiten in drei Reflexionsgängen die »Einheit von Kreuzestod und Auferweckung Jesu Christi«, die »Einheit der Stellvertretung« und die »Einheit von Gott und Mensch« (Überschriften aus ZA EKHN 323/39). 26 Vgl. H.-G. Geyer: Die Gegenwart Jesu Christi: die Auferstehung. (Der Titel war freilich von den Veranstaltern des Kirchentags vorgegeben.). 27 ZA EKHN 323/61 (»Systematische Reflexion elementarer Themen der Christologie«, p. 27).

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zitieren: »Wir halten uns an seine ›Erdentage‹«28 – doch anders als Hermanns ›erinnerter Christus‹, der vor allem den Anschluss an Kähler sucht, schließt Geyers ›irdischer Jesus‹ den Auferweckten nicht ein. Damit erst kommen wir zur eigentlich systematisch-theologischen Leistung dieser christologischen Kategorienbildung. Geyer hat die Kategorie des ›irdischen Jesus‹ in umfangreichen theologiegeschichtlichen Studien zum Problem historischer Erkenntnis in der Christologie entwickelt, aber doch, wie die streng aufs Sachargument beschränkten Rohgedanken belegen, stets ein dogmatisches Ziel damit verfolgt. Dieses ist mit dem Stichwort einer ›Osterzäsur‹ / la Bultmann zwar treffend, aber bloß negativ zum Ausdruck gebracht. Positiv besteht dieses Ziel darin, jede notwendig aporetisch bleibende Rechtfertigung des Erdenlebens Jesu durch die österliche Sinndeutung seines Kreuzestodes zu ersetzen. »Gottes Osteraktion«, wie Geyer sich ausdrückt, ist Christologie in nuce, weil die Auferstehung das Rätsel von »Jesu Karfreitagspassion« weder aufhebt noch löst, sondern erst recht als Nuss zu knacken aufgibt.29 Mit dem ›Ostergeschehen‹ beginnt die kategorial davon geschiedene ›Osterbotschaft‹ der Kirche, die immer nur deutende Antwort auf die »Sinnfrage« des Kreuzestodes Jesu30 sein kann; und diese Frage sieht Geyer gerade im Lichte von Ostern in unendlicher Offenheit gestellt – doch auf dem Boden der Ostergewissheit, hinter die die Kirche nicht zurück kann. Die Kate28 R. Hermann: Der erinnerte Christus, 512 (mit Zitat von M. Kähler). 29 ZA EKHN 323/61 (»Systematische Reflexion elementarer Themen der Christologie«, p. 53). In einer eindringlichen Geyer-Studie hat Gunther Wenz: »Vom apostolischen Osterzeugnis. Notizen zu Gedanken Hans-Georg Geyers«, in: Dietrich Korsch/Hartmut Ruddies (Hg.): Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre (FS Hans-Georg Geyer), Gütersloh 1989, 167–189 als »entscheidende[n] Vorbehalt gegen Geyers Argumentationstendenz« (S. 175) geltend gemacht, dass ein auch nach Ostern ›rätselhaft‹ und ›aporetisch‹ bleibender Tod Jesu nicht mehr als ein »bloß transitorisches Durchgangsmoment« (S. 175) auf dem Weg zur österlichen Auferweckung darstelle. Diese m. E. weit an Geyers Intention vorbeigehende Befürchtung ist womöglich auch durch eine fehlerhafte Zitation veranlasst, die Wenz unterläuft, wenn er Geyer die Unterscheidung »zwischen dem ›historischen Jesus‹, der den ›kerygmatischen Christus‹ nicht impliziert, und dem ›irdischen Jesus‹, der den ›kerygmatischen Christus‹ impliziert« (G. Wenz: Osterzeugnis, 170f.) in den Mund legt. Letzteres Kolon der Unterscheidung würde in der Tat den Verdacht des bloß transitorischen Todesverständnisses rechtfertigen. An der zitierten Stelle schreibt Geyer jedoch in Wahrheit von einer Unterscheidung »zwischen dem ›historischen Jesus‹, der den ›kerygmatischen Christus‹ nicht impliziert, und dem ›irdischen Jesus‹, den der ›kerygmatische Christus‹ impliziert« (H.-G. Geyer: »Rohgedanken«, in: EvTh 33 [1973], 385–401, hier : 398); im zweiten Kolon hat Wenz also Subjekt und Objekt vertauscht. Bedauerlicherweise sind beim Neuabdruck von Geyers Aufsatz im Sammelband Andenken in beiden Kola der Unterscheidung Druckfehler unterlaufen; dort liest man nun von einer Unterscheidung »zwischen dem ›historischen Jesus‹, den der [sic!] ›kerygmatischen Christus‹ nicht impliziert, und dem ›irdischen Jesus‹, der den [sic!] ›kerygmatische Christus‹ impliziert« (H.-G. Geyer: Rohgedanken, 204). 30 Vgl. H.-G. Geyer: Rohgedanken, 206.

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gorie des ›irdischen Jesus‹ hat so vor allem methodische Bedeutung, denn sie markiert präzise die Grenze, ab der die kirchliche Osterbotschaft mit der konstruktiven Deutung dessen beginnt, was ihr im Ostergeschehen vorgegeben ist. Knapp zusammengefasst: Christologie ist immer österliche Deutung des Rätsels von Jesu Kreuzestod. Wie Geyer selbst den Kreuzestod Jesu deutet, hat er im systematischen Teil seiner Christologie-Vorlesung dargelegt, der im Sommersemester 1977 zu einer eigenen Vorlesung über Versöhnungslehre umgeformt wurde; sie bildet die Basis für die im Folgejahr veröffentlichten Anfänge zum Begriff der Versöhnung. Die Schlüsselkategorie der Stellvertretung liegt jedoch schon in der Vorlesung vom Sommersemester 1972 ausgearbeitet vor. Geyer interpretiert hier Stellvertretung ausgehend von den neutestamentlichen Hoheitstiteln Christi und im Anschluss an K. Wengst (Dissertation 196731) als doppelte Hingabe: Gott gibt Jesus in den Kreuzestod hin, und Jesus gibt sich Gott hin, so dass Gott als Handlungssubjekt des Todes und der Auferstehung Jesu und das asymmetrische Wechselverhältnis dieser doppelten Hingabe als Liebe Gottes erscheint.32 Wenn Geyer den Kreuzestod Jesu durchaus konventionell als Offenbarung der Feindesliebe Gottes bezeichnen kann, so ist mit dieser Feindesliebe – anders als in den einschlägigen Stellvertretungspassagen des Römerbriefes, auf die Geyer sich freilich bezieht – zunächst ein innergöttliches Geschehen gemeint.33 Diese überraschende Interpretationsrichtung hat Geyer in der Versöhnungslehre 1977 durch eine trinitarische Terminologie noch stärker profiliert. Hingabe ist hier als Liebe des Sohnes zum Vater eine »fatale investition, eine investition ohne rückhalt und ohne vorbehalt«, weil sie das Risiko einschließt, dass »gott aus seiner vaterschaft in seine absolute göttlichkeit zurückkehrt […] also streng monotheistisch existiert«.34 So sehr Kreuz und Auferstehung alleinige Tat Gottes sind, so sehr ist es doch der irdische Jesus, der mit seinem Gang ans Kreuz darauf beharrt, Gottes geliebter Sohn zu sein, und so erst die Feindesliebe seines Vaters in der Welt festhält. Der irdische Jesus nutzt die einzige Macht, die ein Kind gegenüber dem allmächtig scheinenden Vater hat, nämlich ihn überhaupt erst zum Vater zu machen.35 31 Klaus Wengst: Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, Bonn 1967 [theol. Dissertation]. 32 ZA EKHN 323/61 (»Systematische Reflexion elementarer Themen der Christologie«, p. 70). 33 Zur Einführung des Konzepts der Feindesliebe vgl. ZA EKHN 323/26 (Tonbandtranskript: Versöhnungslehre, SoSe 1977, p. 71). 34 ZA EKHN 323/26 (Tonbandtranskript: Versöhnungslehre, SoSe 1977, p. 63). Vgl. hierzu auch Hans-Georg Geyer : »Anfänge zum Begriff der Versöhnung«, in: ders.: Andenken 208–226. 35 Um diese Pointe bringt sich m. E. G. Wenz: Osterzeugnis, hier: 175–179, wenn er den trinitätstheologischen Distinktionen Geyers (besonders »Gottes Osteraktion« vs. »Jesu Karfreitagspassion«, vgl. Anm. 29) ein pneumatologisches Konzept von Stellvertretung entgegensetzen will.

Der irdische Jesus

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Die subtilen Konsequenzen, die Geyer 1977 aus diesem trinitarischen Konzept kreuzestheologischer Feindesliebe für die Existenz der Gläubigen neben dem erstgeborenen (nicht mehr nur eingeborenen) Sohn in einer Kirche als »Agentur der Feindesliebe Gottes« (eine wiederkehrende Wendung Geyers)36 zieht, sollen hier auf sich beruhen. Aufschlussreicher scheint mir, dass dieses Konzept von Feindesliebe als ›fatale Investition‹ einen gewichtigen Gegenpol zu der gleichzeitigen Interpretation der Allmacht als Liebe in E. Jüngels Gott als Geheimnis der Welt bildet. Schon der Form nach unterscheidet sich die Versöhnungsbitte des Auferstandenen bei Jüngel37 von dem Investitionsrisiko, das Geyers irdischer Jesus mit seiner Liebe zum Vater eingeht. Jüngel hat 1967 in einer ausschussinternen Kontroverse Geyers Christologie eine Vernachlässigung des vorösterlichen Jesus vorgeworfen38 – ob ihm diese Kritik auch in die Feder geflossen wäre, wenn er Geyers spätere Deutung des Kreuzestodes Jesu schon gekannt hätte?

5.

Diskussion

Das Gespräch zwischen Geyer und Jüngel, zwei markant kreuzestheologischen Vertretern der Christologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert, ist, soweit ich sehe, nur im Theologischen Ausschuss der EKU, dem beide in den 1970er Jahren angehörten, geführt worden, und lässt sich nur anhand der Archivalien überhaupt sichtbar machen. Eine Entscheidung zwischen beiden ist kaum möglich und zumindest im Sinne Geyers wohl nicht einmal erstrebenswert, handelt es sich doch, wie seine methodische Kategorie des ›irdischen Jesus‹ einschärft, bei beiden Autoren um Deutungen des Kreuzestodes Jesu, zwischen denen keine endgültige Entscheidung möglich ist. Aber was macht Geyer dann eigentlich anders als Käsemann, der die Debatte um den historischen Jesus neu entfachte, oder auch als Schröter, der sie heute unter gedächtnistheoretischem Vorzeichen wieder aufnimmt? Beide sprechen sich ja – wie scheinbar auch Geyer – dafür aus, dass die in irgendeinem Sinne vorgegebenen christologischen Fakten nur in christlicher Deutung zu haben sind.39 36 Man vgl. bes. den Aufsatz: Hans-Georg Geyer: »Wahre Kirche? Betrachtungen über die Möglichkeit der Wahrheit einer christlichen Kirche« (1978), in: ders.: Andenken, 227–256. 37 Vgl. Eberhard Jüngel: »Die Autorität des bittenden Christus. Eine These zur materialen Eigenart des Wortes Gottes. Erwägungen zum Problem der Infallibilität in der Theologie« (1970), in: ders.: Unterwegs zur Sache (Theologische Bemerkungen [später : Erörterungen I]), München (später : Tübingen) 1972, 179–188. 38 Vgl. die Stellungnahme von E. Jüngel zu dem o. g. Entwurf Geyers für das EKU-Votum zur Christologie, die dokumentiert ist in: EZA 8/438, Umdr. 155/67. 39 Vgl. E. Käsemann: Problem des historischen Jesus, 191 bzw. J. Schröter : Von Jesus zum Neuen Testament, 77.

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Die Antwort ist am besten mit dem Titel zu geben, den die Herausgeber der postumen Aufsatzsammlung Geyers gaben: Andenken. Die Kategorie des Andenkens ist im Unterschied zu Gedächtnis gewählt, um auszudrücken, dass der Gegenstand des Andenkens (Gott) in Wahrheit Subjekt des Denkens an ihn ist – in kategorialem Unterschied zu allem christlichen Gedächtnis, das als Selbstverständnis und Selbstverständigung der Christenheit über ihren Ursprung diesen nur als Prädikat ihrer selbst erinnern kann.40 Die metaphysikkritische Grundentscheidung hinter Geyers ganzer Gotteslehre prägt so auch seine Christologie. Deutung des Kreuzestodes Jesu ist demnach keine Sinnstiftung, wie sie im Gefolge der soziologischen Theorie, in der Geyer philosophisch ausgebildet worden war, aufgefasst wurde. Deutung des Kreuzestodes Jesu deutet vielmehr auf den Gekreuzigten wie der berühmte Zeigefinger des Täufers auf dem Isenheimer Altar, und Christologie ist, wie es in Geyers Nachlass in einem Fragment zur Vorlesung vom Sommersemester 1972 heißt, Zeugnis.41 Geyer hat hier Thesen über den Zeugnischarakter kirchlicher Lehre implementiert, die er just 1971 für den ÖRK veröffentlicht hatte42 – also genau in der Zeit, die wir hier als entscheidende Weichenstellung seiner Christologie gekennzeichnet haben. Die gegenwärtige Konjunktur theologischer Gedächtnistheorien tut gut daran, sich Geyers Alternativkonzept des Andenkens zumindest ins Gedächtnis rufen zu lassen, denn sie benennt den Ausgangspunkt jeder christlichen Deutung des Kreuzes, die immer von Gottes ›Osteraktion‹ wird auszugehen haben.

40 Vgl. Hans-Georg Geyer: »Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie« (1968), in: ders.: Andenken, 7–21. 41 ZA EKHN 323/39. 42 Vgl. Hans-Georg Geyer : »Einige Überlegungen zum Begriff der kirchlichen Lehre«, in: Auf dem Weg II. Gemeinschaft der reformatorischen Kirchen, hg. v. Sekretariat für Glauben und Kirchenverfassung (Polis 41. Evangelische Zeitbuchreihe), Zürich 1971, 25–68.

Ulrich H.J. Körtner

Gottes Wort in Person. Überlegungen zu einer metaphorologischen Christologie

1.

Metaphorik und Christologie

Religiöse Rede von Gott ist ihrem Wesen nach stets metaphorische Rede. Das gilt auch für die Rede von Jesus als dem Christus Gottes.1 Alle Christologie hat das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus zu ihrem Gegenstand, das sich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen dadurch charakterisieren lässt, dass der Name Jesus von Nazareth und das Wort Gott ›zusammengesprochen‹ werden. Wer und was Jesus von Nazareth für den christlichen Glauben ist, kommt nur zur Sprache, wenn von ihm in seiner einzigartigen Gottesbeziehung gesprochen wird. Wiederum kann nach christlicher Auffassung von Gott nur auf angemessene Weise gesprochen werden, wenn seine Beziehung zu Jesus von Nazareth als konstitutive Gottesbestimmung erfasst wird. Der Gott aber, von dem hier die Rede ist, ist der Gott Israels, der mit Geschichte, Person, Leben, Wirken und Sterben des Juden Jesus von Nazareth verwoben ist. Das grundlegende christliche Bekenntnis lautet, dass der Gott Israels Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt hat. Aufwecken und Aufstehen sind Bilder aus unserer Alltagswelt, die aber in Verbindung mit dem toten Jesus von Nazareth eine metaphorische Bedeutung annehmen. Auch wenn von Jesus als dem Gesalbten Gottes, dem Sohn Gottes oder – worauf wir unser Augenmerk richten wollen – als Wort Gottes gesprochen wird, handelt es sich um metaphorische Wendungen. Die biblische Metaphernsprache hat wiederum eine narrative Struktur. Wer die Bedeutung christologischer Metaphern erfassen will, muss von Jesus erzählen. Christologie als Metaphorologie setzt voraus, dass Metaphern keine lediglich rhetorischen Stilmittel sind, auf die eine begriffliche Entfaltung des christlichen Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus Gottes auch verzichten könnte. Sie sind vielmehr der eigentliche Gegenstand theologisch-begrifflicher Reflexion, wobei 1 Vgl. Jörg Frey/Jan Rohls/Ruben Zimmermann (Hg.): Metaphorik und Christologie (TBT 120), Berlin/New York 2003.

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wiederum vorausgesetzt wird, dass die Metapher kein isolierter Begriff, sondern eine Aussage ist, die erst auf der Ebene des Satzes in ihrer Eigentümlichkeit erfasst werden kann. Aufgrund der schon angesprochenen narrativen Struktur biblischer Metaphern besteht außerdem eine Verbindung zwischen dem Programm einer metaphorologischen Christologie und demjenigen einer narrativen Theologie. Wenn von metaphorologischer Christologie gesprochen wird, so kommt darin zum Ausdruck, dass es nicht darum geht, die begriffliche Reflexion durch Metaphernsprache zu ersetzen und die dogmatische Rede in metaphorische Rede aufzulösen. Das wäre nicht minder problematisch wie manche Konzepte einer narrativen Theologie, die das Erzählen an die Stelle des begrifflichen Denkens setzen wollen. Eine narrative Theologie, die sich ausschließlich als Alternative zur metaphysisch geprägten theologischen Reflexion in Begriffen versteht, steht freilich in der Gefahr, die für die christliche Theologie konstitutive Spannung zwischen Mythos und Metaphysik zugunsten des Mythos aufzulösen.2 Wird die Frage nach der Wahrheit des von Gott Erzählten und der Geschichten, in die Menschen verstrickt sind, nicht mehr auf der Ebene begrifflichen Denkens gestellt, sinkt christliche Theologie zu einer bloßen Spielart des Mythos ab. Sie ist dann nur noch Theologie im antiken Sinne des Wortes, nämlich das Singen und Sagen von einem Gott, das zur Mythenkritik geradezu herausfordert. Christliche Theologie, welche ernsthaft das durch die metaphysische Tradition vermittelte Leitbild der Episteme verabschieden wollte, müsste schließlich um den Preis ihrer Selbstaufgabe in das postmoderne Lob des Polytheismus einstimmen.3 Mit Bedacht spreche ich daher nicht von einer metaphorischen, sondern von einer metaphorologischen Christologie. Metaphorologie ist eine Theorie der Metapher und begriffliche Arbeit an Metaphern. Allerdings haben wir zwischen mehreren Metaphernbegriffen und -theorien zu unterscheiden. Die älteste Definition der Metapher stammt von Aristoteles: »Eine Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das eigentlich eine andere Bedeutung hat, entweder [1] von der Gattung auf die Art oder [2] von der Art auf die Gattung oder [3] von einer Art auf die andere oder [4] durch Analogie.« (Poetik 1457 b)4 Aristoteles gibt für alle vier Möglichkeiten ein Beispiel. Bei dem Satz (1): »Da 2 Vgl. Oswald Bayer: Einführung, in: ders. (Hg.): Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte, Stuttgart 1990, 7; Dietrich Ritschl: Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 21988; Ulrich H.J. Körtner : Hermeneutische Theologie. Zugänge zur Interpretation des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis, Neukirchen-Vluyn 2008, 40ff. 3 Vgl. Odo Marquard: »Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie«, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 91–116. 4 Zum Folgenden vgl. Albrecht Grözinger : Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München 1991, 95ff.

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liegt ein Schiff« handelt es sich um eine Übertragung von der Gattung auf die Art. Ein Beispiel für eine Übertragung von der Art auf die Gattung ist der Satz (2): »Tausend wackere Taten vollbrachte Odysseus.« (»Tausend« steht nämlich für »viele«.) Eine Übertragung von einer Art auf die andere vollzieht jemand, der vom Tod in einem Bild sagt, dass er einen Menschen »mit dem harten Erz wegschneide« (3). Wie das Schneiden wird der Tod als eine Art des Wegnehmens betrachtet. Eine Analogie setzt das Verhältnis von A zu B in Entsprechung zum Verhältnis von C zu D. Weil sich (4) beispielsweise der Morgen zum Abend wie die Jugendzeit zum Greisenalter verhält, lässt sich das Greisenalter als Abend des Lebens bezeichnen. Aristoteles stellt eine rhetorische Theorie der Metapher auf, welche die Metapher als Form der uneigentlichen Rede und letztlich nur als rhetorisches Stilmittel würdigt. Dagegen fassen neuere Metapherntheorien die Metapher als besondere Form der eigentlichen Rede auf, wenngleich als eine von gewöhnlichen Aussagesätzen zu unterscheidende Form. Man kann diese Metapherntheorie im Unterschied zur rhetorischen als poetologische bezeichnen.5 Für eine Theorie religiöser Rede und für die Interpretation der Rede vom Handeln Gottes spielen die Metapherntheorien von Paul Ricœur und Hans Blumenberg6 eine herausragende Rolle. In seinem Aufsatz über Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache7 vertritt Ricœur die These, dass es nicht nur propositionale, sondern auch metaphorische Aussagesätze gibt, die grundsätzlich wahrheitsfähig sind, so dass man nach ihrer Wahrheit oder Falschheit fragen kann. Wie Ricœur überzeugend nachweist, sind Metaphern nicht auf der Wortebene, sondern einzig auf der Ebene des vollständigen Satzes verstehbar. Die Metapher hat ihren Ort zwischen wörtlicher Aussage und Vergleich, weil das Hilfsverb ›sein‹ in der Metapher einen eigentümlichen Sinn annimmt: »Die Ontologie der metaphorischen Aussage ist ganz und gar in dieser Spannung zwischen dem ›ist nicht‹ und dem ›ist wie‹ enthalten. Die Zweideutigkeit, die Verdoppelung weitet sich auf das ist der metaphorischen Wahrheit. Die dichterische Sprache

5 Zu weiteren Metapherntheorien vgl. Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 21996. 6 Paul Ricœur : Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 1986; Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, in: ABG 15 (1971), 161–214; ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: ABG 6 (1960), 7–142. Zur Metapherntheorie Blumenbergs vgl. auch Philipp Stoellger : Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (HUTh 39), Tübingen 2000. 7 Paul Ricœur : »Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache«, in: ders./ Eberhard Jüngel: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, mit einer Einführung von Pierre Gisel, München 1974, 45–70.

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sagt nicht wörtlich, was die Dinge sind, sondern metaphorisch als was sie sind; gerade auf diese schiefe Weise sagt sie, was sie sind.«8

Auch in der biblischen Sprache kommt die Metapher nach Ricœurs Auffassung »nicht nur als rhetorische Figur ins Spiel, sondern als das zwiefache Vermögen der schöpferischen Kraft von Sinn einerseits, der Neubestimmung der Existenz andererseits«.9 Wie Blumenberg zeigt, gibt es eine besondere Klasse von Metaphern, die er als absolute Metaphern bezeichnet. Der Begriff der absoluten Metaphern entspricht dem Symbolbegriff Kants in seiner Kritik der Urteilskraft. Kant definiert das Symbol als Analogiebildung, mit deren Hilfe reinen Vernunftbegriffen (Ideen), denen »schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann«, zu einer »Versinnlichung« verholfen wird, ohne die sich die angesprochenen Vernunftbegriffe nicht denken lassen.10 So versteht Kant beispielsweise die Schönheit als Symbol für die Sittlichkeit. Es leitet dazu an, über die Sittlichkeit so zu denken wie über die Schönheit. Entscheidend ist, dass sich Symbole nicht durch Begriffe ersetzen lassen. Dasselbe trifft gemäß Blumenberg auf die absolute Metapher zu. Absolute Metaphern sind nicht zu Begriffen verblasste Bilder, sondern Modelle »in pragmatischer Funktion«, an denen »eine ›Regel der Reflexion‹ gewonnen werden soll«.11 Dass sich absolute Metaphern ihrer Auflösung in den Begriff widersetzen, bedeutet freilich nicht, dass sie nicht durch andere Metaphern ersetzt, korrigiert oder abgelöst werden können. Folglich gibt es eine Geschichte der Metaphern. Während die traditionelle Metapherntheorie unter aristotelischem Einfluss die ontologische Voraussetzung der Metapher in der Ähnlichkeit zweier Gegenstände oder Sachverhalte sieht, richtet die Metaphorologie Blumenbergs ihr Augenmerk auf die bleibende Unähnlichkeit. Sie interpretiert Metaphern als »differenzwahrende Differenzverarbeitung und kontingenzwahrende Kontingenzverarbeitung«.12 Im Sinne Blumenbergs interpretieren absolute Metaphern etwas als etwas bleibend anderes. Auch religiöse Rede verwendet absolute Metaphern. Das gilt insbesondere für die Rede von Gott. Zwar handelt es sich nicht bei sämtlichen Aussagen über Gott um absolute Metaphern. Alle religiöse Rede von Gott lässt sich aber auf absolutmetaphorische Basissätze zurückführen. Und das gilt auch für die elementaren Aussagen der Christologie. Die absoluten Metaphern biblischer Gottesrede 8 P. Ricœur : Metapher in der biblischen Sprache, 54. 9 P. Ricœur : Metapher in der biblischen Sprache, 45. 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), in: ders.: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1908/1913, 352, § 59. 11 H. Blumenberg: Paradigmen, 10. 12 Philipp Stoellger : »Vom vierfachen Sinn der Metapher«, in: Pierre Bühler/Tibor Fabiny (Hg.): Interpretation of Texts Sacred and Secular, Zürich/Budapest 1999, 87–116, hier : 104.

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lassen sich nicht begrifflich auflösen, wohl aber durch die Erzählungen erläutern, in die sie eingebettet sind. Biblische Rede von Gott ist nicht nur absolut metaphorisch, sondern zudem schöpferisch, d. h. poetisch im strengen Sinne des Wortes. Sie artikuliert nicht lediglich einen schon bestehenden Sinn, sondern sie schafft neuen Sinn. Namentlich die Metapher vom Wort Gottes macht die schöpferische Kraft religiöser Sprache ausdrücklich, wird doch von diesem Wort gesagt, dass es schöpferisch ist. Wie für die metaphorische Rede von der Personhaftigkeit Gottes gilt von der Metapher »Wort Gottes«, dass es sich bei ihr um eine »potenzierte Metapher«13 handelt. Die absoluten Metaphern biblischer Rede von Gott sind auch insofern schöpferisch, als sie identitätsstiftend wirken. Wie Emmanuel Levinas und Paul Ricœur ausführen, kann jemand zum Selbst nur durch einen Anderen werden, der bleibend anders ist. Die metaphorische Sprache der Bibel bringt Gott als den ganz Anderen zur Sprache, durch den der Mensch zum Selbst wird. Der Begriff der absoluten Metapher trifft freilich nicht pauschal auf Sätze religiöser Rede und somit auch nicht auf alle biblischen Aussagen zu. Wenn Jüngel argumentiert, dass alle Sprache einen metaphorischen Grundzug hat, verliert am Ende die These, auch die Sprache des Glaubens sei »durch und durch metaphorisch«,14 ihre Erklärungskraft. Wie wir sinnvollerweise zwischen metaphorischer und nichtmetaphorischer Rede unterscheiden können, so auch zwischen metaphorischer Rede im Allgemeinen und absoluten Metaphern im Besonderen. Auch die Anwendbarkeit der Metapherntheorie Ricœurs auf die Theorie religiöser Rede stößt an Grenzen. Zwar können wir die Sätze (A): »Achill ist ein tapferer Krieger« und (B): »Achill ist ein Löwe« bilden. Es lassen sich aber nicht ohne weiteres Sätze über Gott nach diesem Beispiel bilden. Metaphorisch ist der Satz (B): »Gott ist ein guter Hirte« (Ps 23). Aber wie könnte eine wörtliche, d. h. univoke Aussage über Gott lauten? Nicht-metaphorisch ist möglicherweise nur der Satz (A): »Gott ist Gott«, doch ist der bezeichnete Gegenstand nicht endlich und folglich prädikaten- bzw. quantorenlogisch nicht wie der Krieger Achill zu behandeln.15 Wollte man aber ›Gott‹ im Prädikat des Satzes als metaphorischen Ausdruck interpretieren, wäre der Satz insgesamt metaphorisch und somit keine 13 Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 42012, 256 (im Original kursiv). 14 Eberhard Jüngel: »Metaphorische Wahrheit«, in: P. Ricœur/E. Jüngel: Metapher, 71–122, hier: 110. 15 Der Begriff der Quantoren stammt aus der formalen Logik. Es handelt sich um Bestimmungen wie ›alle‹, ›keine‹, ›einige‹. Ferner gibt es den Existenzquantor ›Es gibt mindestens einen Gegenstand, für den gilt, dass …‹. Der Satz ›Achill ist ein Löwe‹ lässt sich quantorenlogisch folgendermaßen umschreiben: Es gibt ein X, für das gilt: X ist ein Löwe und X trägt den Namen Achill. Buchstäblich kann dieser Satz nur auf ein Tier zutreffen, nicht auf einen Menschen. Darin besteht genau der willentliche Kategorienfehler, den der metaphorische Satz über den Krieger Achill begeht.

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wörtliche, univoke Aussage mehr. Folglich kehrt im Rahmen der Metapherntheorie die Aporie der Symboltheorie Tillichs wieder, die sich auch dann nicht vermeiden lässt, wenn man mit Tillich vom »Gott über Gott« spricht.16 Dieser Gott ist nämlich für sich genommen nicht identifizierbar. In christlichen Sprachspielen wird das Wort ›Gott‹ durch metaphorische Kombinationen mit dem Namen ›Jesus von Nazareth‹ näher bestimmt. Diese Kombinationen bilden den Ursprung christlicher Rede von Gott, wobei ›Ursprung‹ sowohl historisch als auch sachlich zu verstehen ist. Diejenigen Sätze, die das Geschick Jesu als Handeln Gottes beschreiben, sind absolute Metaphern für den ›Gott über Gott‹. Als absolute Metapher im Sinne Blumenbergs ist nun auch die Rede vom Handeln Gottes bzw. vom handelnden Gott zu bestimmen. Die biblische Rede von Gott thematisiert das, was Karl Barth als reine Rezeptivität des Menschen bezeichnet und was sich mit Eberhard Jüngel oder Gerhard Ebeling Grundpassivität oder mit Schleiermacher schlechthinnige Abhängigkeit nennen lässt. Wo vom Handeln Gottes gesprochen wird, wird nach den unser Handeln und uns als Handelnde überhaupt konstituierenden Bedingungen gefragt. Was es heißt, dass Gott das Vonwoher reiner Rezeptivität ist, erschließt sich in seiner vollen Bedeutung erst vom Christusgeschehen aus. Das soll nun im Folgenden anhand der absoluten Metapher von Christus als Wort Gottes gezeigt werden.

2.

›Wort Gottes‹ im Neuen Testament

Zu den Schwierigkeiten, welche die Rede vom Wort Gottes der Systematischen Theologie bereitet, gehört nicht nur der zum Teil poetische oder metaphorische Charakter solcher Rede schon in der biblischen Tradition, sondern auch das Problem der Äquivokation. Mit diesem Problem sieht man sich auch konfrontiert, wenn ›Wort Gottes‹ in christologischen Zusammenhängen verwendet wird.17 Im Neuen Testament kann auf recht unterschiedliche Weise vom Wort oder Reden Gottes gesprochen werden.18 Anders als im Alten Testament19 – und dies 16 Vgl. Paul Tillich: Der Mut zum Sein, Stuttgart 31958, 134ff. 17 Die beiden folgenden Abschnitte sind wörtlich übernommen aus: Ulrich H.J. Körtner : Gottes Wort in Person, Rezeptionsästhetische und metapherntheoretische Zugänge zur Christologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 103–109. 18 Vgl. Albrecht Debrunner : (Art.) »k]cy jtk.«, in: ThWNT IV, Stuttgart 1942, 71–76; Gerhard Kittel: (Art). »k]cy jtk, D«, in: ThWNT IV, 100–140; Hubert Ritt: (Art.) »k|cor«, in: EWNT II, Wuppertal 21992, Sp. 880–887; Rudolf Bultmann: »Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament«, in: ders.: Glauben und Verstehen I, Tübingen 71971, 268–293; George C. Stead:

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ist gegenüber der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts kritisch anzumerken – wird das ›Wort Gottes‹ im Neuen Testament »nicht als eigene theologische Größe eingeführt oder gar reflektiert«.20 Entsprechend alttestamentlichem Sprachgebrauch ist vom k|cor (heoO) die Rede, wenn ganz allgemein ein Befehl oder Auftrag Gottes gemeint ist21 oder die Verheißungen Gottes22 oder auch seine Gebote23 angesprochen werden. In Act 6,7; 12,24 und an anderen Stellen meint b k|cor toO heoO die christliche Verkündigung bzw. das Evangelium. ›Wort Gottes‹ bezeichnet im Neuen Testament vornehmlich die urchristliche Missionspredigt. Weil dieses göttliche Wort dem Menschen durch Christus gebracht worden ist, kann statt vom Wort Gottes mit gleicher Dignität vom Wort Christi gesprochen werden.24 Nach Joh 12,50 ist das Wort Christi mit dem Wort Gottes identisch. Abgekürzt kann unter Christen auch einfach von b k|cor die Rede sein,25 wie dies in der Auslegung des Gleichnisses vom vierfachen Acker in Mk 4,13ff. und Mt 13,20–23 der Fall ist.26 »Das Wort« meint hier die christliche Predigt, in der Jesu Botschaft heute vernehmbar wird. Das Wort Christi kann im Neuen Testament nicht nur ein dem irdischen Jesus zugeschriebenes, sondern auch ein durch den erhöhten j}qior ergangenes sein.27 Dieser Umstand verweist uns auf das Phänomen der urchristlichen Prophetie.28 Neben k|cor wird auch die Vokabel k|ciom gebraucht. Röm 3,2 nennt die göttlichen Verheißungen an Israel k|cia. Hebr 5,12 bezeichnet Worte der Schrift, d. h. der alttestamentlichen Bücher, als t± kºcia toO heoO. In der patristischen Literatur sind die kºcia toO juq¸ou oder kºcia juqiaj² Aussprüche Jesu oder auch (apophthegmatische)

19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

(Art.) »Logos«, in: TRE 21, Berlin/New York 1991, 432–444; Michael Wolter : (Art.) »Wort Gottes 2. Neues Testament«, in: EKL3 IV, Göttingen 1996, Sp. 1326–1329. Vgl. Hermann Spieckermann: (Art.) »Wort Gottes 1. Altes Testament«, in: EKL3 IV, Göttingen 1996, Sp. 1324–1326. Oda Wischmeyer: »Das ›Wort Gottes‹ im Neuen Testament. Eine theologische Problemanzeige«, in: Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Wort Gottes – Kergyma – Religion. Zur Frage nach dem Ort der Theologie, Neukirchen-Vluyn 2003, 27–40, hier : 38. Z. B. Mt 15,6. Röm 9,6.9.28. Röm 13,9; Gal 5,14. Joh 5,24: b k|cor loO; vgl. auch Apk 3,8! Vgl. ferner Kol 3,16: b k|cor toO XqistoO; Act 8,25: b k|cor toO juq¸ou. Mt 13,20–23. Mk 4,13ff. hat Parallelen in der jüdischen Apokalyptik, so in 4Esr 9,31; 8,41. Dort ist allerdings der fruchtbringende Same die Tora. Vgl. Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus, Bd. 1 (EKK II/1), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1978, 175. So z. B. bei Paulus in 1Thess 4,15. Zur frühchristlichen Prophetie vgl. Ernst Käsemann: »Sätze heiligen Rechts im Neuen Testament«, in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. II, Göttingen 31970, 69–82; Ulrich B. Müller : Prophetie und Predigt im Neuen Testament. Formgeschichtliche Untersuchungen zur urchristlichen Prophetie (StNT 10), Gütersloh 1975.

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Jesusgeschichten.29 In 1Petr 4,11 sind kºcia heoO die (charismatische) Predigt einzelner Gemeindeglieder. Paulus wiederum kann seine Predigt als j¶qucla ’IgsoO XqistoO bezeichnen (Röm 16,25), wobei diese Formulierung gleichermaßen als Gen. obi. wie als Gen. subi. zu lesen ist. Dem entspricht die Aussage in 2Kor 13,3, aus Paulus spreche Christus selbst.30 Statt von kºcoi oder kºcia kann auch von N¶lata toO heoO die Rede sein, wobei ebenfalls sowohl an Gottes Gebote31 als auch an die Verkündigung Jesu32 bzw. an die christliche Predigt oder Lehre gedacht sein kann. In Röm 10,8 steht N/la für das Evangelium.33 Im Singular spricht 1Petr 1,25 vom ewig bleibenden Wort Gottes (t¹ N/la juq¸ou), wobei Jes 40,8f. zitiert wird. Gemeint ist also der alttestamentliche dabar Jahwe, der nun mit der christlichen Verkündigung identifiziert wird.34 Zu einer Hypostasierung des dabar Gottes, die über entsprechende Ansätze im Alten Testament weit hinaus reicht, kommt es im Entwicklungsverlauf der urchristlichen Christologie. Das Johannesevangelium deutet Jesus Christus als fleischgewordenen Logos.35 Dieses Evangelium setzt das Wirken Jesu mit seiner Person gleich, die nicht irdischen, sondern göttlichen Ursprungs ist.36 Ist Christus der fleischgewordene dabar Gottes, durch den die Welt erschaffen wurde, so ist der Gedanke der Mitwirkung Christi am Schöpfungswerk Gottes die logische Konsequenz. Eine sachliche Parallele zu dieser christologischen Bestimmung des Wortes Gottes findet sich in Hebr 1,1–4, wo einleitend erklärt wird: »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat (b he¹r kak¶sar) zu den Vätern durch die Propheten [!], hat er in diesen letzten Tagen zu uns [!] geredet durch den Sohn (1k²kgsem Bli˜m 1m uR`), den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat.«

Wenn es heißt, Gott habe am Ende der Zeiten durch Christus bzw. in diesem gesprochen, sind nicht nur dessen einzelne Aussprüche oder seine gesamte Lehre gemeint, sondern seine Person und sein Wirken als Ganzes. Jesus Christus ist der dabar Gottes. Deutet sich an einigen Stellen des Alten Testa29 Vgl. Ulrich H.J. Körtner : Papias von Hierapolis. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentums (FRLANT 133), Göttingen 1983, 151ff. 30 Vgl. dazu wiederum 2Kor 11,10: 5stim !k¶heia XqistoO 1m 1lo¸. 31 Hebr 11,3. 32 Lk 7,1. 33 Röm 10,8: t¹ N/la t/r p¸oteyr d jgq¼ssolem. 34 1Petr 1,25: toOto d³ 1stim t¹ M/la t¹ eqaccekish³m eQr rl÷r. 35 Joh 1,14. Vgl. auch das sog. Comma Iohanneum, einen redaktionellen Einschub in 1Joh 5,7, der triadisch (noch nicht trinitarisch!) von b pat¶q, b kºcor ja· t¹ ûciom pmeOla spricht. 36 Die Frage, wieweit der Begriff der Präexistenzchristologie für die damit üblicherweise bezeichneten neutestamentlichen Sachverhalte angemessen ist, kann hier nicht weiter erörtert werden. Vgl. dazu Karl-Josef Kuschel: Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung, München 1990, bes. 282ff.

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ments eine Hypostasierung des dabar Gottes an,37 so wird dieser im Neuen Testament personifiziert oder, besser gesagt, mit einer geschichtlichen Person identifiziert. Die religionsgeschichtliche Herleitung dieser Identifikation und damit ihre genaue Bedeutung ist exegetisch umstritten. Weithin wird mit dem Einfluss jüdischer Weisheitsspekulationen auf das Johannesevangelium und den johanneischen Kreis gerechnet. Im einzelnen werden drei Herleitungen diskutiert: 1. ein Philo von Alexandrien nahestehendes, philosophisch beeinflusstes hellenistisches Judentum,38 2. eine vorchristliche bzw. mit dem frühen Christentum zeitgleiche Gnosis,39 3. eine frühjüdische Verbindung der Weisheit mit der Schöpfung, die an Ps 33,6; 147,15ff. und Weish 9,1f. anschließt.40 Die NagHammadi-Texte haben seit Bultmanns Arbeiten, die sich vor allem auf die Mandäer-Texte stützen, ein neues Licht auf die Geschichte der Gnosis geworfen. Sie gilt heute als mit dem Christentum im Wesentlichen gleichzeitige Bewegung. Gnostische Systeme, die uns bekannt sind, sind ihrerseits teilweise von christlichem Gedankengut abhängig. Andererseits sind manche Elemente im Johannesevangelium, z. B. sein negativer Begriff des jºslor und sein dualistisches Denken, spätantikes Allgemeingut, das z. B. auch in der Apokalyptik beheimatet, nicht aber spezifisch gnostisch ist. G. C. Stead macht wahrscheinlich, dass der Verfasser des Johannesevangeliums zwar sicherlich mit einer frühen Form der Gnosis vertraut ist, sich teilweise mit ihrem Denken in Einklang befindet, diesem zum Teil aber auch scharf widerspricht. Die johanneische Logos-Christologie ist aber nicht religionsgeschichtlich aus der Gnosis herzuleiten. »Philo […] ist möglicherweise immer noch die befriedigendste Quelle.«41

37 Weish 18,14ff. 38 Charles H. Dodd: The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 61963. Siehe auch Bernhard Jendorff: Der Logosbegriff. Seine philosophische Grundlegung bei Heraklit v. Ephesos und seine theologische Indienstnahme durch Johannes den Evangelisten (EHS.Phil. 19), Frankfurt/M. u. a. 1976. 39 Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen 211986; ders.: »Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannesevangelium« (1923), in: ders.: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. Erich Dinkler, Tübingen 1967, 10–35. 40 Vgl. zum Ganzen auch Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule, Göttingen 1987. 41 G.C. Stead: (Art.) Logos, 439.

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3.

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›Wort Gottes‹ als christologische Metapher

Es stellt sich nun die Frage, ob und inwiefern die Identifikation Christi mit dem Logos im Neuen Testament als metaphorisch zu bezeichnen ist. Zwischen Metapher und Hypostasierung des Logos gilt es schließlich zunächst zu unterscheiden. Die Johannesapokalypse verwendet b kºcor toO heoO in Apk 19,13 als Namen, d. h. christologischen Titel, nicht als Metapher. Neben ihm stehen in dem zitierten Text weitere Namen: »Treu und Wahrhaftig« (V. 11) sowie »König der Könige und Herr der Herren« (V. 16). Außerdem wird ein Name erwähnt, den niemand außer dem beschriebenen Reiter, d. h. Christus selbst, kennt (V. 12). Allerdings wirft das Nebeneinander der verschiedenen Namen die Frage nach der Bedeutung des Ausdrucks ›Name‹ an dieser Stelle auf. Zunächst ist festzustellen, dass die einzelnen Namen für sich genommen nicht schon eine eindeutige Identifikation der bezeichneten Person erlauben, handelt es sich doch um mehrere Namen für dieselbe Person. Apk 19,11ff. ist offenbar Jes 9,5 nachempfunden. Das aber bedeutet, dass das Nebeneinander der verschiedenen Namen bzw. der als Namen fungierenden Begriffe nicht nach der griechischen Vorstellung der Vielnamigkeit Gottes zu interpretieren ist, welche die Unzulänglichkeit aller menschlichen Versuche zum Ausdruck bringen soll, das Wesen der Gottheit sprachlich und gedanklich zu erfassen.42 Da es in Apk 19,11ff. in Entsprechung zu Jes 9,5 »nicht um das Wesen, sondern das Handeln Gottes geht«, können die auf Christus angewendeten Namen »wahr und zugleich zahlreich sein, wie auch Gottes Handeln, das sie beschreiben, mannigfaltig ist«.43 Wenn aber die verschiedenen Namen Christi in ihrer Gesamtheit letztlich sein Handeln bzw. das sich darin manifestierende Handeln Gottes beschreiben sollen, haben sie eine metaphorische Funktion. Auch ›Wort Gottes‹ (b kºcor toO heoO) ist demnach im vorliegenden Text kein wirklicher Eigenname, sondern eine Beschreibung des göttlichen Handelns.44 Wie verhält es sich nun mit der Bezeichnung Christi als Logos im Johannesprolog? Zunächst einmal sind die unterschiedlichen Kontexte in Apk 19 und Joh 1,1ff. zu beachten. Bei Apk 19,1ff. handelt es sich um eine Gerichtsvision, nicht um einen Hymnus auf den fleischgewordenen Logos wie im Johannesprolog. Das Erscheinen der Herrlichkeit des Schöpferlogos in Joh 1,14ff. und die Wiederkunft Christi zum Gericht müssen exegetisch wie systematisch-theologisch auseinandergehalten werden. Im Johannesevangelium lassen sich generell drei Kategorien von Christus-

42 Vgl. Heinrich Kraft: Die Offenbarung des Johannes (HNT 16a), Tübingen 1974, 247. 43 H. Kraft: Offenbarung des Johannes 247f. 44 So auch H. Kraft: Offenbarung des Johannes, 249.

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bildern unterscheiden:45 zum einen soziale bzw. funktionale Rollen wie Sohn (Joh 1,18; 3,16f. u. ö.), Bräutigam (Joh 3,28f.), Hirte (Joh 10,1–18), Richter (z. B. Joh 8,16), Lehrer (Joh 1,38), König (Joh 1,48 u. ö.) oder Prophet (z. B. Joh 4,19), ferner Bilder aus dem konkreten Leben wie Lamm (Joh 1,29.36), Brot (Joh 6,32ff.), Wasser (Joh 4,10ff.), Weinstock (Joh 15,1ff.) oder Tür (Joh 10,7), aber auch Grundsymbole wie Licht (Joh 8,12) oder Leben (Joh 14,6), und schließlich Abstrakta wie Auferstehung (Joh 11,25) oder Wahrheit (Joh 14,6), die prädikativ mit Jesus verbunden werden. Den Logos-Begriff wird man allerdings nicht ohne Weiteres der letztgenannten Kategorie johanneischer Christusbilder zuordnen dürfen.46 Denn weder im Johannesprolog noch an anderer Stelle im Johannesevangelium wird der Begriff »Logos« ausdrücklich prädikativ auf Jesus bezogen, weder in der Form eines Ich-bin-Wortes noch einer Prädikation durch Dritte. Im Prolog des Johannesevangeliums ist nicht Jesus oder Christus, sondern der Logos das grammatische und logische Subjekt der Aussagen. Kurz gesagt: Die Rede vom Logos im Johannesprolog ist zunächst nicht metaphorisch, sondern mythisch. Dass der präexistente und inkarnierte Logos im Johannesevangelium mit dem irdischen Jesus identisch ist, liegt auf der Hand. Es wird aber im gesamten Text des Evangeliums nicht ausdrücklich gesagt, sondern ergibt sich erst am Schluss des Prologs aus Joh 1,17f. Im Prolog, der ja möglicherweise ein ursprünglich selbständiger Hymnus war, fungieren Symbole wie Licht und Leben zunächst jedenfalls nicht als Metaphern für Jesus, sondern als solche für den hypostasierten Logos.47 Eine Metapher für den Logos ist im Johannesprolog schließlich auch die Bezeichnung ›Sohn‹, bzw. ›einziggeborener Sohn‹ (Joh 1,14) oder ›Einziggeborener‹ (Joh 1,18). ›Logos‹ ist also genau betrachtet nicht eine Metapher für den Sohn, sondern ›Sohn‹ umgekehrt eine Metapher für den Logos. Insofern der Logos nun aber mit Jesus Christus identifiziert wird, kann man sagen, dass ›Jesus Christus‹ nach Joh 1,1ff. der Name für den personifizierten Logos ist und nicht etwa umgekehrt wie in Apk 19,13. Streng genommen kann man also nicht sagen, dass ›Wort Gottes‹ bereits im Johannesevangelium eine christologische Metapher ist. Erst in Apk 19,13 findet gegenüber dem Johannesprolog eine Metaphorisierung des Logos-Namens statt. Der Kontext ist freilich eine apokalyptische Vision voller mythischer Bildelemente. Dass die Metaphorisierung des Logos-Namens mit seiner Entmythologisierung einherginge, lässt sich für das Neue Testament, wenn überhaupt, so nur mit größter Zurückhaltung behaupten. 45 Vgl. dazu Ruben Zimmermann: »Jenseits von Historie und Kerygma. Zum Ansatz einer wirkungsästhetischen Christologie des Neuen Testaments«, in: Ulrich H.J. Körtner (Hg.): Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, NeukirchenVluyn 22006, 153–188, hier : 174. 46 Anders R. Zimmermann: Jenseits von Historie und Kerygma, 174. 47 Joh 1,4.9.

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Systematisch-theologisch ist schließlich noch eine weitere Beobachtung bedeutsam: Die Identifikation des Logos mit Jesus von Nazareth im Johannesprolog hat zunächst eine schöpfungstheologische, keine offenbarungstheologische Stoßrichtung.48 Der Gedanke der Selbstoffenbarung Gottes, wie ihn später Karl Barth entwickelt hat, wird jedenfalls im Prolog noch nicht explizit formuliert. Im Sehen der dºna des fleischgewordenen Logos (Joh 1,14) ist er allenfalls implizit angelegt. Im weiteren Text des Evangeliums wird dieser Gedanke dann allerdings offenbarungstheologisch vertieft, wenn es in Joh 14,9 heißt: »Wer mich sieht, der sieht den Vater«. Bei der Redeweise der Wort-Gottes-Theologie von Christus oder dem Christusereignis als Wortgeschehen handelt es sich zweifellos um eine metaphorische Ausdrucksweise. Mit der Interpretation dieses Wortgeschehens als Selbstoffenbarung Gottes wird jedoch gegenüber dem Prolog des Johannesevangeliums nicht nur der Übergang vom Mythos zur Metapher, sondern auch eine theologische Umdeutung bzw. Anreicherung vollzogen. Halten wir nochmals fest: Wörtlich kommt die Formel von Christus als Wort Gottes oder als Wort Gottes in Person im Neuen Testament nicht vor. Es handelt sich bei ihr vielmehr um eine dogmatische Verdichtung des biblischen Gesamtzeugnisses, das Christus mit dem Logos Gottes identifiziert, wie dies im Johannesevangelium geschieht. Im Verlauf der Theologiegeschichte hat die verdichtete Formel von Christus als Wort Gottes verschiedene Umformungen erfahren, in programmatischer Weise nicht zuletzt in der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts und in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Barmen I lautet bekanntlich: »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.«49 Was das bedeutet, wird durch die Absage verdeutlicht: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.«50 Einleitend zitiert die Barmer Theologische Erklärung Joh 14,6 und Joh 10,1.9, also zwei der johanneischen Ich-bin-Worte. Barmen I lässt sich also als Kommentar zu der Aussage lesen, dass Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben bzw. die Tür ist, die zur Seligkeit führt. Nun stammt die Barmer Theologische Erklärung bekanntlich im Wesentlichen aus der Feder Karl Barths. Er hat die erste Barmer These in seiner Kirchlichen Dogmatik wörtlich als These zu § 69 48 O. Wischmeyer: Das »Wort Gottes«, 40: »Die johanneische kºcor-Christologie ist eine christologisch gewendete Spielart der Wort-Schöpfungstheologie Israels.« 49 Text in: Alfred Burgsmüller/Rudolf Weth (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 34. 50 A. Burgsmüller/R. Weth: Die Barmer Theologische Erklärung, S. 34.

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zitiert, welcher von der Herrlichkeit des Mittlers handelt und den Auftakt zu dem Kapitel über Jesus Christus, den wahrhaftigen Zeugen, bildet.51 Auf mehr als 400 Seiten bietet Barth hier also einen ausführlichen Kommentar zu Barmen I. Barmen I und seine Auslegung durch Barth führen uns auf zentrale Probleme einer Theologie des Wortes Gottes, ist doch der Begriff ›Wort Gottes‹ – unbeschadet seiner zentralen Bedeutung für die christliche und insbesondere für die reformatorische Theologie des 16. Jahrhunderts – erst im 20. Jahrhundert zu einem Leitbegriff evangelischer Theologie aufgestiegen. Dies geschah innerhalb und im Gefolge der sogenannten Wort-Gottes-Theologie, welche die evangelische Theologie seit dem Ende des 1. Weltkrieges dominiert hat und sie heute noch, trotz der Kritik, die seit den sechziger Jahren aus unterschiedlichen Richtungen an ihr geübt wird, beeinflusst. ›Wort Gottes‹ wurde zur grundlegenden fundamentaltheologischen Kategorie des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht nur in der evangelischen, sondern nicht selten auch in der römisch-katholischen Theologie. Als solche dient sie der Begründung aller theologischen Aussagen, ohne dass sie selber einer weiteren Begründung fähig oder bedürftig wäre. Dass Gott geredet hat und redet, ist – folgt man der Wort-Gottes-Theologie – nicht das von der Theologie zu erklärende Problem, sondern der transzendentale Ausgangspunkt aller Theologie. Die weitere Geschichte des Gebrauchs und der Interpretation der Rede von Christus als Wort Gottes oder – so eine Formulierung Gerhard Ebelings – Wort Gottes in Person innerhalb der Wort-Gottes-Theologie und der hermeneutischen Theologie im Anschluss an Rudolf Bultmann kann hier nicht weiter verfolgt werden.52 Ich werde mich stattdessen zum Abschluss auf einige systematische Überlegungen beschränken, wie sich die metaphorische Rede von Jesus als Gottes Wort in Person begrifflich interpretieren lässt.

4.

Systematisch-theologische Erwägungen zur Rede von Christus als Wort Gottes

Meine Überlegungen zu ›Wort Gottes‹ als christologischer Grundmetapher setzen nochmals beim johanneischen Gedanken der Inkarnation des göttlichen Logos ein. Die Inkarnation Gottes ist nicht etwa nur im engeren Sinne das Thema der Christologie, sondern ein Grundthema der Theologie überhaupt und somit auch jeder Lehre vom Wort Gottes. Von Friedrich Christoph Oetinger stammt der tiefsinnige Satz: »Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.«53 Leiblichkeit 51 Karl Barth: Kirchliche Dogmatik IV/3, Zollikon-Zürich 1959, 1–424. 52 Vgl. dazu U.H.J. Körtner : Gottes Wort in Person, 109ff. 53 Friedrich Christoph Oetinger: (Art.) »Leib, soma«, in: ders.: Biblisches und Emblematisches

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ist ein Wesensmerkmal auch des Wortes Gottes. Gottes Wort ist »leibliches Wort«.54 Diese Feststellung gilt nicht etwa nur für die Christologie und die Bezeichnung Jesu als Wort Gottes. Jedes Menschenwort wird leiblich vermittelt und somit auch jedes Wort Gottes, das als Menschenwort an uns gerichtet wird. Dem ist nicht nur deshalb so, weil jedes Reden von Gott sinnliche Vorstellungsgehalte hat und auf die Mittel metaphorischer Sprache angewiesen ist, sondern schlicht auch deswegen, weil jede Wortvermittlung sich sinnlich, nämlich akustisch im Hören oder visuell beim Lesen, vollzieht und dazu an physikalische Medien (Schall- oder Lichtwellen) gebunden ist. Wenngleich Worte ihrem Inhalt nach geistige Entitäten sind, so können sie stets nur sinnlich, also physisch in Erscheinung treten. Wie aber lässt sich nun die absolute Metapher von Jesus als dem Wort Gottes theologisch sinnvoll verwenden? Negativ besagt sie zunächst, dass Jesus von Nazareth nicht nur der Verkündiger oder das Medium des göttlichen Wortes war, so wie dies von den alttestamentlichen Propheten gilt, bei denen grundsätzlich zwischen ihrer Gottesrede und ihrer Person unterschieden werden kann und muss. Allerdings haben auch die Propheten Gottes Wort nicht nur verbal verkündigt. In ihren Zeichenhandlungen wurde vielmehr auch ihr Tun zu einer Weise des göttlichen Redens. Denn prophetisches Wort und prophetische Zeichenhandlung gehören untrennbar zusammen und bilden einen einheitlichen performativen Sprechakt. Dennoch bleibt die Unterscheidung von Person und Werk selbst bei jenen Propheten gültig, die wie Ezechiel in extremer Weise Zeichenhandlungen vollzogen haben. Und nicht einmal von dem Gottesknecht bei Deuterojesaja wird behauptet, dass er, wiewohl sein Schicksal geradezu christologische Züge trägt,55 das Wort Gottes ist. Genau diese Aussage über Jesus von Nazareth liegt aber im Gefälle des Neuen Testaments, auch wenn in seinen Schriften noch keine offenbarungstheologische Lehre vom Wort Gottes als Medium der Selbsterschließung Gottes entwickelt wird. Insofern lässt sich die Formel Gerhard Ebelings, Jesus von Nazareth sei

Wörterbuch, Repr. der Ausg. v. 1776, Hildesheim 1969, 407. Vollständig lautet das Zitat: »Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes, wie aus der Stadt GOttes klar erhellet.« Die Anspielung auf das himmlische Jerusalem lässt erkennen, dass Oetinger die Leiblichkeit in eschatologischer Ausrichtung denkt. Möglicherweise denkt er auch an den Auferstehungsleib, von dem Paulus in 2Kor 15,35ff. spricht (vgl. auch 2Kor 5,1ff.; Phil 3,21). Siehe dazu Wolfgang Schoberth: Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung. Zur Logik der Schöpfungstheologie bei Friedrich Christoph Oetinger und Johann Georg Hamann, Neukirchen-Vluyn 1994, 149ff. 54 CAV (BSLK 58,12f.). Vgl. auch Oswald Bayer: Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. 55 Vgl. Jes 52,13–53,12.

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Gottes Wort in Person,56 theologisch durchaus rechtfertigen. Wohl lässt sich unterscheiden und muss unterschieden werden zwischen dem Wort Jesu und Jesus als Wort, zwischen dem Wort des irdischen Jesus und Worten frühchristlicher Propheten, welche als prophetische Worte des erhöhten Kyrios formuliert sind.57 Theologisch entscheidend ist aber, dass zwischen Person und Werk, zwischen Person und Wort, im Fall Jesu nicht unterschieden werden kann, sofern er als der Christus geglaubt und bekannt wird. Anstelle der problematischen dogmatischen Unterscheidung zwischen Person und Werk Christi, zwischen Christologie im engeren Sinne und Soteriologie ist eigentlich – wie schon Martin Kähler ausgeführt hat – eine kohärente ›Soterologie‹ zu formulieren.58 Das bedeutet, dass die Person Jesu Christi nicht im Horizont einer vom Werk Christi isolierten, in metaphysischen Kategorien denkenden Zwei-NaturenLehre, sondern durch ihr geschichtliches Werk, das Werk der Versöhnung, zu interpretieren ist.59 ›Persona‹ heißt: Durch dieses Medium ertönt ein Wort. Wird Jesus als der Christus Gottes bekannt, so ist die Person das Wort Gottes selbst. Und eben durch diese Deutung bekommt auch der Christustitel seine gegenüber dem Judentum spezifische Bedeutung, die es erfordert, zwischen Christologie und Messianologie zu unterscheiden.60 Wenn aber zwischen Person und Wort im Falle Christi nicht getrennt werden kann, so auch nicht zwischen dem Wort und dessen Inhalt. Das Wort ist dann vielmehr die bezeichnete Sache selbst. Es kann dann also nicht zur Entfaltung der Christologie eine Sprachtheorie herangezogen werden, welche Worte als Abbilder einer von ihnen unabhängigen Realität, nämlich von Gegenständen, deutet. Bild und Gegenstand lassen sich im Fall der Christologie gerade nicht trennen. In der Sprache der Semiotik ausgedrückt ist das Zeichen die Sache selbst. Was aber ist nun im Fall des mit Jesus von Nazareth identifizierten Wortes Gottes das Zeichen? Wir sagten, es ist die Person. Doch darf der Personbegriff nicht substanzontologisch gebraucht werden, als ob es sich bei der durch das Zeichen bezeichneten Sache um eine in sich abgeschlossene und ruhende Entität 56 Vgl. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, Tübingen 21982, 69–74. 57 Zum Wort des irdischen Jesus vgl. G. Ebeling: Dogmatik, Bd. II, 409ff., § 22. Als Beispiel frühchristlicher Prophetie siehe 1Thess 4,15ff. Vgl. dazu auch oben Anm. 17. 58 Kähler verwendet den Begriff einer Soterologie erstmals in: Martin Kähler : Die apostolischen Lehrbegriffe (1865), 28f., 34f., 37, 39 (Naumburger Nachlaß C Ib, 8). Vgl. dazu ausführlich Hans-Georg Link: Geschichte Jesu und Bild Christi. Die Entwicklung der Christologie Martin Kählers in Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Forschung und der Ritschl-Schule, Neukirchen-Vluyn 1975, 295ff., hier : 301. 59 Vgl. Martin Kähler : Zur Lehre von der Versöhnung (Dogmatische Zeitfragen. Alte und neue Ausführungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre, 2. Heft), Gütersloh 21937, 61 mit Anm. 1. 60 Vgl. Jürgen Becker : Jesus von Nazareth, Berlin/New York 1996, 234ff.

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handelte. Es ist das Ungenügen der altkirchlichen Christologie und der ihr folgenden dogmatischen Tradition, die Person Christi in substanzontologischen Kategorien zu denken bzw. die Person Christi – wobei der Personbegriff in der Alten Kirche ein anderer als der heutige ist!61 – in ihrem An-sich-Sein oder Fürsich-Sein zu beschreiben. Es muss aber die Person Jesu einerseits relational in ihrem Für-uns-Sein und Mit-uns-Sein bedacht werden. Und andererseits umspannt der Begriff der Person ja nicht nur die leiblich-geistige Einheit des Menschen Jesus von Nazareth, sondern sein ganzes Leben, seine Lebensgeschichte und seinen Lebensweg.62 Es ist eben das Leben Jesu in seiner Gesamtheit, welches als Wort Gottes begriffen werden will: sein Reden und Handeln, aber eben auch und in ganz hervorgehobener Weise sein Leben und Sterben, sowie seine jede empirisch überprüfbare Historie übersteigende Auferweckung von den Toten. Dass Jesus von Nazareth Gottes Wort in Person ist, bedeutet, dass sein Leben insgesamt als Anrede Gottes an uns Menschen zu verstehen ist. Person und Leben Jesu sind in ihrer untrennbaren Einheit der performative Zuspruch Gottes, der sich in dem einen Satz zusammenfassen lässt: »Deine Sünden sind dir vergeben« (Mk 2,5). Als Anrede Gottes gedeutet ist das Leben Jesu promissio, performatives Verheißungswort in Person. Die Bezeichnung Jesu als Wort Gottes benennt die Erfahrung des Angesprochenseins von Gott in Jesus.63 Wohlgemerkt handelt es sich nicht nur um den Sachverhalt, dass sich Menschen überhaupt in irgendeiner Weise von der Person Jesu angesprochen fühlen, sondern dass sie sich in seiner Person von Gott angesprochen wissen. Das Angesprochensein von Gott in Jesus ist dogmatisch als Offenbarung zu bestimmen, worunter hier das Durchsichtigwerden der Existenz dessen, der sich durch die Person Jesu angesprochen weiß, verstanden werden soll. Es »geschieht unbehindert durch die zeitliche Distanz auf vielfältige Weise: durch ein einzelnes Jesuswort, durch eine erzählte Situation, die sein Verhalten darstellt, durch den Gesamteindruck seiner Person, durch seinen bloßen Namen, der in schwer nachrechenbarer Weise Assoziationen seiner Erscheinung in sich aufgenommen hat, durch das wortlose Zeichen des Kreuzes oder durch den breiten Strom der Christusverkündigung, die dem Glauben gemäß ausbreitet, was in Jesus geschehen und in seinem Namen und seinem Geist zu sagen ist, oder aber auch in Verbindung damit durch das Lebenszeugnis der Glaubenden.«64

61 Zur Begriffsgeschichte des Personbegriffs vgl. ausführlich Michael Murrmann-Kahl: »Mysterium Trinitatis«? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts (TBT 79), Berlin/New York 1997, 241ff. und die dort genannte Literatur. 62 Vgl. dazu ausführlich Ulrich H.J. Körtner : Gottes Wort in Person, 31ff. 63 Vgl. G. Ebeling: Dogmatik, Bd. II, 513ff. 64 G. Ebeling: Dogmatik, Bd. II, 513f.

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Meint die Bezeichnung Jesu als Wort Gottes das Angesprochensein von Menschen durch Gott in der Begegnung mit der Christusbotschaft, so liegt auf der Hand, dass der Wortbegriff hier metaphorisch gebraucht wird. Darauf hat vor allem Emil Brunner hingewiesen, der meinte, die Bezeichnung Jesu als »eigentliches Wort Gottes« bringe gleichnishaft zum Ausdruck, dass mir die Person Jesu »etwas sage«, so wie ein Gedicht oder die Musik Bachs.65 Wenn von Jesus mit einer absoluten Metapher als Wort Gottes gesprochen wird, ist freilich das Verhältnis dieses metaphorischen Wortes zu buchstäblicher Rede im Namen Gottes zu klären. Brunner erklärt: »Das Wort, das in menschlicher Sprache Geformte, ist jetzt nur noch in indirektem Sinne Offenbarung; es ist Offenbarung als Zeugnis von Ihm.«66 Auch Barth setzt das menschliche Wort von Gott in mündlicher Rede oder in schriftlicher Form als Zeugnis vom bezeugten Wort Gottes selbst ab.67 Ähnlich unterscheidet auch Wolfhart Pannenberg zwischen äußerem, menschlichem Wort und der eigentlichen Offenbarung Gottes.68 Ob nun die Person Jesu oder aber, wie bei Pannenberg, die Geschichte in ihrer Totalität als Offenbarung Gottes verstanden wird, so wird doch in beiden Fällen das Wort im univoken Sinne von der Offenbarung Gottes unterschieden, auch wenn betont wird, dass Gottes Offenbarung nur durch ihre Bezeugung in menschlicher Sprache zugänglich ist. Die menschliche Rede von der Offenbarung ist dann nur Deutung von Geschichte oder aber die Vermittlung von Offenbarung, nicht aber selbst das Ereignis von Offenbarung. So vermag insbesondere Pannenberg das Wort Gottes gar nicht als promissio zu denken. Bezeichnenderweise setzt er den Begriff der Verheißung mit demjenigen der Vorhersage gleich69 und bestimmt das Kerygma lediglich als Bericht über Gottes Offenbarung in der Geschichte bzw. im Geschick Jesu von Nazareth. Es hat aber das Menschenwort, welches im Namen Jesu gesprochen wird, nicht etwa nur die Form eines Berichtes, sondern – jedenfalls sofern es Evangelium genannt wird – die Struktur der promissio. Und es ist nun von Bedeutung, dass dasjenige Menschenwort, welches Jesus von Nazareth als das Wort Gottes bezeugt, seinerseits dieselbe Struktur aufweist wie die bezeugte Offenbarung. Eben darum, weil das Angeredetsein von Gott in Jesus von Nazareth strukturell dem performativen Zuspruch der Gnade Gottes im Namen Jesu durch menschliche Worte entspricht, ist es sachgemäß, Jesus von Nazareth mit einer absoluten Metapher als Wort Gottes zu bezeichnen, wie umgekehrt alle in ihrer Struktur diesem Offenbarungsgeschehen entsprechende menschliche Rede aus demselVgl. Emil Brunner: Die christliche Lehre von Gott. Dogmatik, Bd. I, Zürich 41972, 32. E. Brunner : Die christliche Lehre von Gott, 32. K. Barth: Kirchliche Dogmatik I/1, Zürich 91975, 89–128, § 4. Vgl. Wolfhart Pannenberg: »Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung«, in: ders. (Hg.): Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, 91–114, hier : 112ff. (These 7). 69 W. Pannenberg: Dogmatische Thesen, 112.

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ben Grund als Wort Gottes zu bezeichnen ist. Diejenige menschliche Rede, welche dem Sprachgebrauch der prophetischen Tradition Israels folgend als Wort Gottes bezeichnet wird, ist also nicht nur ein Interpretament göttlicher Offenbarung oder ein Moment der Offenbarungsgeschichte, deren Ereignisse im übrigen »ihre eigene Sprache reden« würden70, sondern sie ist ein performativer Sprechakt, der seinerseits als Offenbarungsgeschehen zu bestimmen ist.71 Mit einem Begriff Paul Tillichs können wir vom Wortgeschehen der Verkündigung Christi sagen, dass es sich um eine abhängige Offenbarung handelt, wogegen Jesus als Wort Gottes in Person die letztgültige und originale Offenbarung Gottes ist.72 Während Tillich aber eine Vielzahl originaler Offenbarungen annimmt und die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth als letztgültige Offenbarung bezeichnet, sollte man von Jesus von Nazareth besser in einem ausgezeichneten Sinne als der originalen Offenbarung sprechen, insofern nämlich, als er unbeschadet seines nicht am Beginn der Religionsgeschichte stehenden historischen Auftretens die Uroffenbarung Gottes ist. Wir gebrauchen an dieser Stelle einen Begriff von P. Althaus, den dieser allerdings gerade nicht in der Christologie, sondern im Rahmen der Schöpfungslehre verwendet hat.73 Während Althaus unter Uroffenbarung Gottes revelatio generalis versteht, wollen wir den Begriff auf die revelatio specialis anwenden. Wiewohl historisch sekundär ist die Offenbarung Gottes in Christus, logisch betrachtet, der Ursprung aller Offenbarung und der Grund jeder Rede von Gott bzw. im Namen Gottes. Dies muss gesagt werden, wenn die christliche Behauptung wahr ist, dass das Geschick Jesu universale Heilsbedeutung hat, und zwar derart, dass es das Durchsichtigwerden der Existenz eines jeden Menschen ist, der je gelebt hat oder leben wird. Das Durchsichtigwerden der eigenen Existenz ist gerade keine Erkenntnisleistung des Subjekts. Von Gott erkannt zu werden bedeutet eben nicht, sich selbst zu durchschauen, sondern sich von einem anderen her zu erkennen. Auch steht das Durchsichtigwerden der eigenen Existenz unter dem eschatologischen Vorbehalt, dass wir nicht schon im Hier und Jetzt die Schau der Seligen erleben (visio beatifica), sondern erst im Eschaton uns selbst völlig erkennen werden, wie wir von Gott erkannt sind. Bis dahin bleibt aller Selbsterkenntnis Stückwerk (vgl. 1Kor 13,12), und insofern gilt, dass noch nicht offenbar ist, was wir sein werden (vgl. 1Joh 3,2). Eben darum ist das Durchsichtigwerden der eigenen Existenz eine Sache des Glaubens und nicht schon des Schauens. Gottes Wort in Person bedarf freilich der Vermittlung und ist auch nur in 70 71 72 73

W. Pannenberg: Dogmatische Thesen, 112. Anders W. Pannenberg: Dogmatische Thesen, 113f. Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 51977, 151ff., 158ff. Vgl. Paul Althaus: Grundriß der Dogmatik, Berlin 1952, 18ff.

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Vermittlungen präsent. Erst durch seine Vermittlung wird das Geschick Jesu zur aktuellen und den Einzelnen anredenden Offenbarung. So ist das im Namen Jesu gesprochene Menschenwort, die Verkündigung Jesu als Wort Gottes in Person,74 nicht nur Zeugnis desselben, sondern seine vermittelte Gestalt. Da eine geschichtliche Person Gottes Wort ist, ist dieses Wort nicht mehr unmittelbar präsent. Folglich gibt es kein unmittelbares Gottesverhältnis und kein unmittelbares religiöses Bewusstsein. Wohl wird mit dem Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten gesagt, dass Jesus keine Größe einer abgeschlossenen Vergangenheit, sondern gegenwärtig ist. Aber gegenwärtig ist er nur in seinen sprachlichen Vermittlungen bzw. in den mit diesen verbundenen nonverbalen Vermittlungsformen. In ihnen ist Christus ganz präsent, ohne dass irgendeine seiner sprachlichen Vermittlungen mit ihm selbst identifiziert werden dürfte. So begegnet uns Gottes Wort in Person stets nur als Wort des Glaubens. In seinen Vermittlungen aber setzt sich die Leiblichkeit des persongewordenen Gotteswortes fort. Das »Wort des Glaubens« – es handelt sich bei dieser Wortverbindung um einen Genitivus obiectivus wie um einen Genitivus subiectivus! – wird verkündigt in der und durch die Gemeinschaft der Glaubenden, welche im Neuen Testament auch mit der Metapher des Leibes Christi bezeichnet wird.75 Das Wort des Glaubens ist eingebunden in die Lebens- und Tatgemeinschaft der Glaubenden. Den Sprachformen des Glaubens korrespondieren Lebensformen, ja, sie sind die Grammatik einer Lebensform. Wie Person, Leben und Wort Jesu eine Einheit bilden, so bilden auch das Wort des Glaubens und die nonverbale Präsenz Christi in der Gemeinschaft der Glaubenden einen inneren Zusammenhang. Daher mündet die Lehre vom Wort Gottes notwendigerweise in die Ekklesiologie.76 Doch muss zwischen Kirche und Christus, zwischen Gottes Wort in Person und seiner Vermittlung durch das Wort der Glaubenden unterschieden werden. Andernfalls bliebe das Wirken Gottes auf das menschliche Gottesbewusstsein beschränkt.77 Demgegenüber kommt es einer metaphorologischen Christologie, wie sie hier skizziert wurde, nicht nur auf die Überwindung subjektivitäts- und reflexionstheologischer Verengungen, sondern auch auf die Somatisierung einer Theologie des Wortes Gottes an. 74 Die Genitivverbindung ist als gen. subi. wie als gen. obi. zu verstehen! 75 Vgl. 1Kor 12,12ff.; Röm 12,4ff. Zum Bild des Leibes Christi bei Paulus siehe Andreas Lindemann: »Die Kirche als Leib. Beobachtungen zur ›demokratischen‹ Ekklesiologie bei Paulus«, in: ZThK 92 (1995), 140–165; Helmut Merklein: »Entstehung und Gehalt des paulinischen Leib-Christi-Gedankens«, in: ders.: Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 319–344; Thomas Söding: »›Ihr aber seid aber der Leib Christi‹ (1Kor 12,27). Exegetische Beobachtungen an einem zentralen Motiv paulinischer Ekklesiologie«, in: Catholica 45 (1991), 135–162. 76 Siehe dazu Ulrich H.J. Körtner : Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Zur Lehre vom Heiligen Geist und der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1999. 77 Vgl. auch G. Ebeling: Dogmatik, Bd. II, 512.

Folkart Wittekind

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes. Systematische Überlegungen zur Möglichkeit der Rückfrage nach dem historischen Jesus

1.

Methodische Vorüberlegungen

Im Folgenden wird die aus der zweiten Runde der Jesusforschung bekannte Rückfrage nach dem historischen Jesus von dem Christus des Glaubens aus aufgenommen.1 Allerdings wird ein neues Verständnis von Glaube und Religion dabei zugrunde gelegt. Religion wird nicht als eine am Ort des glaubenden Menschen konstituierte Größe verstanden, sondern als eine kommunikationsgebundene Deutungsweise des Menschen, der Welt und der Geschichte. Religion entsteht in der religiösen Rede. Und erst ihr (hermeneutisch zu denkendes) Gelingen setzt dann entsprechende Erfahrungen und Überzeugungen im Subjekt und in der Gemeinschaft der Subjekte, also der geschichtlichen Gemeinschaft derer, die miteinander religiös kommunizieren, frei. Bultmann hat das Gesuchte als ›implizite Christologie‹ bezeichnet. Bis heute wird unter diesem Titel nach der göttlichen Vollmacht im Selbstbewusstsein Jesu gesucht.2 Ich halte dies für eine unangemessene Fragestellung. Vielmehr soll im 1 Ich beziehe mich mit dem Titel auf Eberhard Jüngel (ders.: »Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes. Ein hermeneutischer Beitrag zum christologischen Problem (1966)«, in: ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen 1, Tübingen 32000, 126–144), ohne aber an die eigentümliche Geschichtsmetaphysik dieser ›Hermeneutik‹ sowie den von heute aus gesehen reichlich abseitigen – von Karl Barth übernommenen – Versuch ihrer Begründung in einer Lehre von der Anhypostasie der Menschheit in der Person Christi anzuknüpfen. Jüngel setzt den entscheidenden Verbindungspunkt von Botschaft und Person in den eschatologischen Gehalt der Verkündigung Jesu, von dem aus im Sinne Bultmanns ein Zusammenhang mit dem nachösterlichen Verkündigungsgeschehen gesucht wird. Jesus wird durch eine solche Konstruktion, die in einer langen Geschichte der modernen Christologie steht, zu einem Träger und Verkünder einer bestimmten theologischen Idee, die dann auch auf ihn übertragen werden kann. Dagegen wird im Folgenden eine historische Lesart gesucht, die möglicherweise auch den Titel der Hermeneutik in einem allgemeiner anerkannten Sinn mehr verdient. Vgl. zur sogenannten zweiten Runde im Streit um den historischen Jesus: Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, insbes. 25–30. 2 Z. B. Rudolf Bultmann: »Kirche und Lehre im Neuen Testament (1929)«, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 81980, 153–187, hier : 174: »[I]n dem Ruf zur Entscheidung

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Folkart Wittekind

Folgenden die Rückfrage auf das Gebiet der religiösen Rede selbst beschränkt werden. Das heißt: Es geht dabei um die Veränderungen, durch welche sich die religiöse Kommunikation der Jesusanhänger mit Jesus von der bisherigen Glaubenskommunikation im jüdischen Religionsumfeld unterscheidet. Es wird notwendig sein, diese implizite Christologie von jeder auf die Person Jesu, seinen Glauben und seine Innerlichkeit bezogenen Voraussetzung freizumachen. Insofern ist der Kritik Bultmanns an der historisch fundierten Christologie des 19. Jahrhunderts recht zu geben.3 Gleichwohl ist noch einmal neu zu überlegen, ob nicht von einem im Sinne eines Konzepts religiöser Rede verstandenen Glauben aus Aussagen möglich sind, die den garstigen Graben zwischen Glaube und Geschichte, zwischen vorösterlichem Geschehen und Gemeinde, zwischen Jesus und Christus verringern können. Dabei sollen nicht dogmatisch Fragen entschieden werden, die nur historisch gelöst werden können. Aber es besteht die Absicht, die neueren Ansätze zu einer literarisch-fiktionalen, literaturwissenschaftlich-hermeneutisch arbeitenden Lektüre der Evangelientexte aufzunehmen und mit einer entsprechend auf die Lage der Gegenwart bezogenen Religionstheorie zu verbinden.

1.1

Zum Verhältnis von Christologie und Geschichtswissenschaft

Die Entwicklung der Christologie4 hat zu der Vexierfrage geführt, ob der Glaube an Jesus seine Göttlichkeit begründet oder ob nicht im Sinn der christlichen Frömmigkeit auch theologisch davon auszugehen ist, dass in Jesus Christus ein (wie auch immer inhaltlich zu bestimmendes) Besonderes angenommen werden muss, was ihn von der Welt und den Menschen in der Weise unterscheidet, dass der Glaube daran als begründet anknüpfen kann. Ganz ist dieser Bruch zweier Betrachtungen auch dann nicht aufzufüllen, wenn die Ausgangskategorien verflüssigt werden. Denn auch ein gegenständlich Besonderes in Jesus, sei es ein Wunder oder eine Offenbarung oder eine besondere Vollmacht oder die stellvertretende Hingabe, wäre nur im Kontext religiöser Wahrnehmung und Deuangesichts seiner Person [ist] implizit eine Christologie enthalten«. Vgl. dazu die Darstellung der Debatte um implizite und explizite Christologie bei C. Danz: Grundprobleme, 185–189 und die dort formulierte Abkehr von einer begründungslogischen Lesart der Rückfrage. 3 Vgl. die Debatte zwischen Bultmann und Hirsch, ausgehend von den Jesusbüchern der beiden: Rudolf Bultmann: »Zur Frage der Christologie (1927)«, in: Glauben und Verstehen, Bd. 1, 85–113. Vgl. dazu Folkart Wittekind: »Jesus Christus als Person verstehen. Zur Auseinandersetzung Bultmanns und Hirschs über die hermeneutischen Implikationen der Christologie«, in: Michael Pietsch/Dirk Schmid (Hg.): Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums, Berlin/Boston 2013, 479–518. 4 Vgl. Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert Tübingen 22011.

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

125

tung christologisch auswertbar. Insofern ist die soteriologische Funktion jederzeit mitgesetzt. Umgekehrt erklärt der Ausgang von der Selbstdeutung und dem Glauben des Urchristentums möglicherweise nicht hinreichend den historischen Entstehungsprozess des Christentums und seine Trennung von der jüdischen Religion. Es hätte sich dann mitsamt seiner Überzeugung von der Göttlichkeit Jesu Christi, so der alte und kaum zu widerlegende Vorwurf, gewissermaßen selbst gesetzt und begründet. Deshalb wird im Folgenden der Versuch unternommen, die (gerade christologisch besondere kategoriale5) Differenz zwischen fides qua und fides quae einzubeziehen in ein Drittes, nämlich die Kommunikation über den Glauben. Diese Glaubenskommunikation im Kontext einer religiösen Gemeinschaft ist dabei ein sowohl geltungsbezogenes als auch historisches Bindeglied, denn es ist vorauszusetzen, dass diese Glaubenskommunikation in religiöser Absicht bereits auch im Judentum vor dem Auftreten Jesu besteht und als solche (nämlich als Struktur der Kommunikation noch unabhängig von den jeweiligen inhaltlichen Bestimmungen) den Bruch überwölbt. In der religiösen Rede wird sowohl der Inhalt als auch das menschliche Glaubenssubjekt verstanden als Beschreibungs- und Darstellungselement des Gelingens der religiösen Kommunikation. Dieses Geschehen selbst ist aber nicht in einem objektiven (durch den Gegenstand) oder subjektiven (durch Religion im Bewusstsein) Sinne begründbar. Vielmehr besteht Religion als eine Weise menschlicher Deutungssprache für sich selbst, sie differenziert sich aus als ein eigenes Sinnfeld, das den Sinn seiner Gegenstände (und des religiösen Empfindens in den Subjekten) allererst in sich und mit sich selbst konstituiert. Übertragen auf die Begründungsfrage der Christologie bedeutet dies: Zunächst ist es klar, dass nicht das Auftreten Jesu, seine Person oder sein Geschick Glauben begründet. Vielmehr ist die religiöse Bedeutung seiner Person abhängig von dem bereits gegebenen Bestehen der jüdischen Glaubenskommunikation. Nur weil religiös kommuniziert wurde, konnte die Person Jesu überhaupt Gegenstand religiösen Glaubens werden.6 Umgekehrt aber darf auch der Glaube 5 Von einem »Kategorienfehler« spricht Georg Essen: »Nochmals: Geschichte und Offenbarung. Hermeneutische Überlegungen zu ungelösten Fragen der Christologie«, in: Christian Danz u. a. (Hg.): Jesus of Nazareth and the New Being in History (Tillich-Jahrbuch Bd. 6), Berlin/Boston 2011, 143–162, hier: 159. 6 Bultmann kann im Kontext der Rede vom Kerygma ebenfalls bereits den Zirkel von Christusbekenntnis und Predigt formulieren: »Daher ist die Mitteilung keine bloße und zufällige Vermittlung, sondern gehört, als die durch das Heilsfaktum autorisierte Predigt, selbst zum Heilsfaktum; und umgekehrt ist auch das Heilsfaktum nicht ohne die Predigt, was es ist. Es gibt keinen Weg hinter die Predigt zurück zu einem von ihr ablösbaren Heilsfaktum, sei es ein ›historischer Jesus‹ oder ein kosmisches Drama. Jesus Christus ist nur in der Predigt zugänglich.« (R. Bultmann: Kirche und Lehre, 180) Bultmann versteht allerdings Predigt als Auslöser einer existenziellen Innerlichkeit, als eschatologisch-existenziellen Einbruch in die

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Folkart Wittekind

selbst nicht als Produktionsort der religiösen Bedeutung Jesu gesehen werden. Vielmehr ist diese Beschreibung vermittelt über das Bestehen der religiösen Rede. Das heißt: Es ist davon auszugehen, dass der Glaube deshalb die Gottesrede durch die Christologie erweitert, weil es in die Logik der sich selbst erhellenden religiösen Rede passt. Wenn das Geschehen von Glauben als hermeneutischer Akt an der Kommunikation von Religion hängt, dann wird mit der Mitkommunikation des Inhalts Jesus Christus diese Funktion religiöser Rede weiterbestimmt. Für die geschichtliche Rückfrage heißt dies, dass das Bestehen der religiösen Glaubenskommunikation im jüdischen Umfeld als historisches Bindeglied zwischen dem Auftreten Jesu und dem Glauben an ihn als Christus verstanden werden muss. Die Geltung der Religion ist nicht unabhängig von der Bestimmung ihres geschichtlichen Kommuniziertwerdens zu erfassen. Daraus folgt methodisch: Im Kontext der Theorie religiöser Rede ist die Rückfrage vom Glauben nach dem historischen Jesus nicht als Herstellung eines Begründungszusammenhangs zu lesen. Nicht implizite Christologie oder historischer Anspruch Jesu erklären die explizite Christologie und den Glauben an seine Göttlichkeit. Sondern beides ist in einem Dritten miteinander verbunden, nämlich der fortbestehenden religiösen Kommunikation auf dem Hintergrund des jüdischen Glaubens. Es ist also einerseits zu fragen, wie sich der Inhalt des Gottesglaubens verändert, wenn mit Jesus ein Kommunikationsträger zum gegenständlichen Inhalt gemacht wird. Es kann bereits hier geschlossen werden, dass damit dem Bestehen der Religion in der Form der Kommunikation in der Religion selbst reflexiv Rechnung getragen wird. Dies kann dann andererseits auch für den Glauben und seine Bestimmung geschlossen werden, wenn überlegt wird, wie sich der Glaube verändert, wenn Jesus als Christus zu seinem Gegenstand wird. Im Kontext des jüdischen Ein-Gott-Glaubens wird die Gottesaussage zum zentralen Organisationspunkt religiöser Rede, es ist der Inhalt, durch den diese sich als religiös bestimmt und darstellt. Indem dieser Glaube durch die Aufnahme Jesu in die Göttlichkeit Gottes weiterbestimmt wird, wird damit die Erfassung der religiösen Kommunikation reflexiv vertieft. Glaube ist nicht nur der Glaubensakt im Innern der einzelnen Glaubenden, sondern er kann nur verstanden werden, wenn einbezogen wird, dass er nur im Kontext von Kommunikation entstehen kann. Sowohl die religiösen Inhalte wie auch die Glaubenserfahrungen oder -erlebnisse sind damit abkünftige Epiphänomene des immer als Ganzes vorauszusetzenden gelingenden Geschehens religiöser Rede.

Zeit. Im Folgenden geht es darum, diesen Akt der Innerlichkeit hermeneutisch zu deuten als den Ort, an dem religiöse Anrede religiös rezipiert und verstanden wird. Dadurch entsteht dann zugleich auch ein religiöses Subjekt für diesen Glauben.

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

1.2

127

Zum Verhältnis von Christologie und Religionstheorie

Die seit den 1970er Jahren aufkommende Einschränkung der Christologie (also seit der Infragestellung der exklusiven Bindung Gottes an die Offenbarung in Christus)7 steht in der Gefahr, das Besondere des christlichen Glaubens zugunsten eines allgemeinen religiösen Gottes- oder Transzendenzglaubens hintanzustellen. Dagegen wird hier behauptet, dass mit der Begründung der Christologie im Kontext einer theologischen Theorie religiöser Rede sowohl religiöse Pluralität verstanden als auch die Besonderheit der christlichen Religion mit ihrer Christusbindung zugleich in einem absolutheitstheoretischen Rahmen gedacht werden kann. Dazu soll allerdings der Gegensatz zwischen der Religion der Menschen und der in Jesus Christus offenbarten wahren Religion anders verstanden werden.8 Es wird einerseits eine formale Weise des absoluten Selbstbezugs der Religionen als allgemein behauptet, während andererseits für den christlichen Glauben inhaltlich gezeigt werden soll, wie dieser Selbstbezug trinitarisch – also unter Einbeziehung der Christologie – funktioniert. In den Spielarten der dialektischen Theologie gilt die Religion vor und außerhalb der Christusoffenbarung als eine Weise der Selbstbetätigung des Menschen. Gott bindet sich für den Menschen an die Inkarnation Christi und ist nur dort erkennbar. Andere Religionen und Christentum sind deshalb nicht über einen Gattungsbegriff der Religion miteinander verbunden, vielmehr besteht nur im Christentum ein Wahrheitsanspruch des Gottesbezugs, der als durch Gott selbst gerechtfertigt betrachtet werden kann. Dieser Ansatz ist unter gegenwärtigen Bedingungen als ein Irrweg zu bezeichnen. Die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge sind viel zu stark, als dass sie mit einer einfachen Entgegensetzung abgetan werden könnten. Zudem ist der Bezug des Christentums gerade zum Judentum unter heutigen Verständnisweisen nicht exklusiv zu verstehen.9 Denn wenn der Zusammenhang über die bestehende religiöse Kommunikation historisch hergestellt wird, kann der Bruch durch das Auftreten Jesu nicht als erstmaliges Aufrichten der wahren Religion stilisiert werden. Vielmehr ist der Bezug durch die Verkündigung Jesu im Kontext der jüdischen Religion, der Sammlung der ersten Jünger als einer Gruppe innerhalb des Judentums sowie auch der Deutung der Auferstehung im Kontext des jüdischen Messianismus und der

7 Vgl. Folkart Wittekind: »Christologie im 20. Jahrhundert«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 22011, 13–46. 8 Vgl. dazu das Kapitel über Christologie als Religionshermeneutik in C. Danz: Grundprobleme, 223–240. 9 Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt: Das christliche Bekenntnis zu Jesus dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde., München 1990/1991.

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Apokalyptik über weite Strecken deutlich und wird in der gegenwärtigen Urchristentumsgeschichtsschreibung weithin als dominant herausgestellt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich historisch mit dem Auftreten Jesu etwas ändert, das später als Ausgangspunkt einer eigenständigen Religionswerdung des Christentums betrachtet werden kann. Dabei wird nicht ein neuer Inhalt in die bestehende religiöse Kommunikation eingefügt. Dann wäre ›Glaube‹ bzw. Religion ein menschlich gleichbleibendes Vermögen, das sich auf verschiedene Inhalte beziehen kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der kommunikative Gesamtrahmen der religiösen Rede verändert, und dass die Aufnahme des neuen Inhalts ›Jesus als Christus‹ nur ein Element im Kontext dieser Gesamtveränderung ist. Religionen sind je eigene sprachliche Sinnfelder, die bestimmte Funktionen sinnhafter Deutung des Selbst, der Gemeinschaft und der Welt umfassen, und sich in diesem Gesamtdeutungsanspruch voneinander unterscheiden. Religionen sind deshalb nicht bloß unterschiedliche Ausprägungen von ›Religion‹, sondern sie sind zugleich auch gänzlich unterschiedliche Sprachformen, die sich als solche dadurch unterscheiden, dass gleiche und unterschiedliche Inhalte in ihnen Elemente der unterschiedlichen Sprachformen sind. Deshalb kann ihr Vergleich über den Religionsbegriff nur immer äußerlich erfolgen, während das Verstehen der einzelnen Religion den funktionalen Zusammenhang der drei Elemente Inhalt, Glaube bzw. Bewusstsein und religiöse Kommunikation erläutern muss. Historisch gesehen kann deshalb die Aufgabe gestellt werden, die Veränderung der religiösen Rede aus dem jüdischen Kontext so zu verfolgen, dass der Christusglaube als neues Element innerhalb der Religion plausibel wird. Diese historische Ableitung ist dabei grundsätzlich zu unterscheiden von der systematischen Aufgabe, den reflexiven inneren Funktionszirkel der christlich-religiösen Rede als in sich selbst begründet und sich auf sich selbst beziehend aufzuzeigen. Zugleich ist die historische Herleitung nicht als Begründung gedacht, sie trägt nicht die Aufgabe, die geschehende Veränderung zu beweisen. Sie zeigt nur die Elemente als historisch möglich auf, die aus der neuen systematischen Ansicht der christlichen Religion (bzw. der Theorie der religiösen Rede) gewonnen werden. Damit wird zugleich die selbstverständliche Anknüpfung des Christentums an die jüdische Religion behauptet. Das Christentum stellt sich historisch dar als eine Entwicklung innerhalb des Judentums, die sich über verschiedene Stufen der Abgrenzung dann zu einer eigenen Religion ausprägt. Zugleich kann aber historisch plausibel gemacht werden, dass es einen sachhaltigen historischen Anlass für diese Veränderung im Auftreten Jesu gab, an den sich die Veränderung des Religionsverständnisses im Ganzen und damit die Differenz von Christentum und Judentum retrospektiv anhängen konnte. Damit wird die implizite Christologie aufgenommen. Sie wird aber in die religiöse Kommunikation verschoben und nicht als Auszeichnung eines besonderen Elements der Person Jesu verstanden. Das bedeutet zugleich, dass

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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die weitere Entwicklung des Christentums an der Verarbeitung und inhaltlichen Reflexion dieses Elements hängt und damit die Identitätsstiftung im Sinne einer eigenen Religion immer bereits vorausgesetzt wird. Damit wird es verständlich, dass andere Religionen nicht im Sinne eines Überlegenheitsgefühls betrachtet werden müssen. Vielmehr ist es durchaus möglich, dass die in Jesus vorliegenden und hinterher christologisch reflektierten und so die Identität des Christentums als einer spezifischen religiösen Sprache prägenden Bestandteile auch in anderen Religionen dem Sinn nach entdeckt und eingebaut werden, ohne dass dies ihren Charakter als eigenständige und dem Christentum gegenüber andere Religion tangieren würde. Dies ist besonders im Hinblick auf die Auseinanderentwicklung von Judentum und Christentum zu berücksichtigen. Des Weiteren heißt dies im Kontext einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise dann zugleich, dass die weitere Entwicklung und Ausdifferenzierung der Funktion der religiösen Rede (z. B. im westlichen Christentum) neue, aus dem Entstehungskontext nicht mehr ableitbare Aufgaben übernimmt, ohne ihre Identität als Jesusreligion zu verlieren. Und zugleich ist nicht ausgeschlossen, dass die Entwicklung anderer Religionen wie des Judentums oder des Islams parallele, aber nicht deckungsgleiche Funktionsbeschreibungen für sich selbst freisetzt.

1.3

Zum Verhältnis von Christologie und Anthropologie

Die damit vorgenommene Ermäßigung des Begründungsanspruchs (bzw. der Umbau von einer äußeren Begründung zu einer inneren selbstbezogenen Begründungsdurchsichtigkeit) der Christologie ist zugleich noch in einem weiteren ihrer inhaltlichen Bezugsfelder von Bedeutung. Denn die moderne Christologie sieht Jesus nicht nur als Offenbarung der wahren Religion, sondern zugleich (damit) als wahren, sündlosen und insofern die ursprüngliche Bestimmung des Menschen verwirklichenden Mensch. Diese Konstruktion über die Sündenlehre, die Schleiermacher gegen die Aufklärung wieder eingeführt hat, bindet wahre Einsicht in die conditio humana und Verwirklichung des wahren Menschseins notwendig an die Religion – natürlich die christliche Religion.10 Auch diese Behauptung der Christologie ist nicht haltbar. Die in der Theologie verwendete Religionsphilosophie muss argumentieren können ohne die Annahme einer Allgemeingültigkeit der Religion. Erst damit ist eine radikale Pluralitätsanerkennung möglich, in der das Menschsein des Menschen auch 10 Schleiermacher hat Jesus Christus deshalb als die zweite, vollendete Schöpfung des Menschen durch Gott betrachtet. Notger Slenczka hat das Schleiermacherkapitel in seinem Überblick über die systematische Christologie unter die Überschrift gestellt: »Schleiermacher: Jesus Christus als Urbild des Menschseins«, vgl. ders.: »Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewußtseins«, in: Jens Schröter (Hg.): Jesus Christus, Tübingen 2014, 181–242.

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ohne Religion als vollendet vorstellbar ist.11 Gleichwohl heißt dies aber nicht, dass der Mensch als Subjekt gegeben ist und die Religion als Betätigung – jetzt aber : als eine beliebige Tätigkeit – dieses gegebenen Subjekts verstanden wird. Vielmehr wird umgekehrt davon ausgegangen, dass die religiöse Kommunikation, indem sie geschieht, das religiöse Subjekt erst ermöglicht. Indem ein Mensch religiös angesprochen wird, und indem er beginnt, diese religiöse Anrede zu verstehen, baut sich das religiöse Subjekt auf als die Instanz, die religiöse Erfahrungen macht und religiöse Gefühle hat. Die Pluralität möglicher Weltsichten und Sprachverwendungen für den Sinn und die Bedeutung des menschlichen Lebens in der Welt wird damit radikal anerkannt. Die christliche Religion ist nur eine der möglichen Sprachen, mit denen sich die Menschen Welten aufbauen, in denen sie leben. Es gibt andere Weisen, den Sinn des Lebens und die Bestimmung des Menschen zu beschreiben, als die religiöse. Ein unreligiöser Mensch ist ein Mensch, der die religiöse Sprache – aus welchen Gründen auch immer – nicht verwendet, nicht mehr und nicht weniger. Zu behaupten, er sei nicht in angemessener oder wahrer Weise Mensch, er verleugne oder bestreite die ihm eigentlich innewohnende Bestimmung oder er sei nicht fähig, die göttliche Bestimmung des menschlichen Lebens oder seine eigentliche Begründung in Gott zu begreifen, ist unter radikal pluralistischen Bedingungen gänzlich obsolet. Der Inhalt der Religion ist die Welt in religiöser Sicht – oder hermeneutisch angemessener : Die Religion hat als Inhalt die religiöse Welt, wie sie in der religiösen Sicht aufgebaut wird. Dazu gehört zentral der Gegensatz von Gott und Welt. Transzendenzaussagen dienen zur Beschreibung der Eigenheit religiöser Sprache. Sie sind (theologisch gesehen, nicht religiös) nicht als Gegenstandsaussagen zu lesen, sondern als selbstbezügliche Darstellungssymbole des Geschehens von religiöser Rede, also als Beschreibungen des Aufbauprozesses der religiösen Welt in der religiösen Rede. Das bedeutet für die Christologie, dass sie nicht das Bild des wahren Menschen konstruiert, sondern dass sie sich begrenzt auf die Sicht des menschlichen, glaubenden Subjekts innerhalb der Religion, also innerhalb des Geschehens religiöser Kommunikation, welches das religiöse Subjektsein im Rezipienten religiöser Anrede erst herstellt. Daneben gibt es selbstverständlich andere Weisen über den Menschen (auch über seine Bestimmung oder den Sinn seines Lebens) zu reden, die von der religiösen Rede weder abhängig sind noch unter 11 Diese Idee wird insbesondere von Eilert Herms immer wieder vertreten, vgl. bereits: Wilfried Härle/Eilert Herms: Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen (1979) 1980, insbes. 97–99, hier : 98: In Jesus Christus »ist die Wahrheit menschlicher Personalität so ans Licht gekommen, daß er das Urbild ist, an dem sich erkennen läßt, was Personalität heißt, und daß er das Fundament ist, von dem her die menschliche Personalität als gerechtfertigtes Menschsein ihre geschichtliche Begründung empfängt.«

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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derselben transzendenten Macht stehen. In dem Bekenntnis zur Göttlichkeit der Person Jesu Christi wird nicht das menschliche Subjekt allgemein, sondern die Herstellung des religiösen Subjekts im Kontext religiöser Rede reflektiert. Die theologische Christologie deutet das religiöse Christusbekenntnis als Erweiterung der Rede von Gott in der (jüdischen) Religion und damit als eigene Weise christlicher Gottesrede. In dieser Deutung wird Christus im Christentum aufgenommen in die Selbstbeschreibung religiöser Rede als religiös. Genauer beschreibt die Christologie das menschliche Subjekt innerhalb religiöser Rede, das im Gebrauch derselben (also im Verstehen des religiösen Angesprochenwerdens in der religiösen Kommunikation) als ein religiöses Subjekt konstituiert und für die innere religiöse Selbst-Erfahrung hergestellt wird. Die Aufnahme des Christusbekenntnisses in die Gottesrede reflektiert den beschriebenen hermeneutischen Vorgang des Verstehens der religiösen Anrede als religiös, und zwar in der Bedeutung, dass er selbst als konstitutiv nicht nur für das Sein Gottes, sondern auch für das Sein des Menschen vor Gott behauptet wird.

2.

Jesus

In dem Rückschluss von der Theologie religiöser Rede auf das Jesusgeschehen ist also zu überlegen, was mögliche historische Bedingungen dafür sein könnten, dass sich der jüdische Glaube an den einen Gott in der Folge erweitert zu einem trinitarischen Gottesverständnis. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass es nicht um eine historische Ermöglichung für eine gänzlich neue Religion oder gar für die eigentliche, wahre Religion gehen kann. Jesu Verkündigung ist zunächst im Rahmen der jüdischen Religion zu interpretieren und zu verstehen, das gilt nicht nur historisch,12 sondern auch systematisch. Das heißt umfassend, dass Jesus die religiöse Sicht auf den Menschen als Sünder, auf Gott als Geber des Gesetzes und Gewährer des Heils für die, die sein Gesetz erfüllen, übernimmt. Eine Konstruktion eines messianischen Selbstbewusstseins oder das Postulat einer besonderen religiösen Art Jesu ist im Kontext dieser Grundannahme überflüssig.13 Auch die Bindung des Heils an das Volk Israel und damit die 12 Vgl. Jens Schröter : Von Jesus zum Neuen Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, Tübingen 2007; vgl. auch die Übernahmen aus der neueren Erzählforschung in die historische Evangelienexegese zusammenfassend Sandra Huebenthal: »Von der Vita zur Geschichte des erinnerten Jesus. Überlegungen zum Markusevangelium«, in: Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte und Gott. XV. europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014 in Berlin), Leipzig 2016, 395–412. 13 Ich verweise auf Ulrich Barths Bestätigung dieser Einsicht in Anknüpfung an Ritschl und gegen Schleiermacher : Es ist die »Maxime, jeglichen Anschein einer Theorie der Person Jesu aus der Christologie zu entfernen, nach wie vor richtig […], auch wenn sie in der neueren

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ethnozentrische Gottessicht ist für Jesus anzunehmen, so dass hier den humanallgemeingültigkeitsbezogenen Religionsinterpretationen des 19. Jahrhunderts und ihrer Begründung im historischen Jesus widersprochen werden kann. Auch theoretische Einsichten in das Wesen der Religion, die Rolle von Individualität oder die kulturelle Ausdifferenzierung verschiedener Moral-, Gesellschafts- und Kultursphären müssen nicht auf Jesus übertragen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er sich als endzeitlicher Prophet und Rabbi verstanden hat, der seine eigene Sicht der jüdischen Religion in Konkurrenz zu anderen Interpretationen vertritt und sich in dieser formalen Hinsicht kaum von den anderen religiösen Gestalten und Nachfolgegruppenorganisatoren der Zeit unterschieden hat. Vielleicht lässt sich noch sagen, dass die Frage nach dem Wesen der Religion gerade auch unter den Bedingungen der Gesetzesreligion sowie nach dem Verhältnis von Staat und Religion unter der römischen Besatzung wie schließlich die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Welt und Gott oder Geschichte und Endzeit (bzw. philosophisch von Transzendenz und Immanenz) in dieser Zeit besonders umstritten war und auf eine Antwort in Richtung auf ein gereinigtes und vertieftes Verständnis von Religion drängte. Dies ließe sich systematisch-theologisch immerhin so verstehen, dass die Gegenständlichkeit des Gottesgedankens in der religiösen Kommunikation selbst bereits zur Debatte stand und dass damit – ausgehend von der Behauptung, dass bereits innerhalb der jüdischen Religion mehr und mehr bewusst gemacht werden konnte, dass der Gottesgedanke für die Selbständigkeit und Unableitbarkeit religiöser Verständigung steht – eine reflexive Erfassung der Weise des menschlichen Redens von Gott wahrscheinlich wurde. Die genauere Bestimmung des Inhalts der Religionssicht Jesu kann dann der historischen Arbeit überlassen bleiben, die durch Differenz- und Kontinuitätsbestimmungen die Besonderheit und die präzise religionsgeschichtliche Stellung Jesu herausarbeiten kann. Nun hat allerdings die dritte Runde der Rückfrage nach dem historischen Jesus14 zu dem Ergebnis geführt, dass die historische Figur hinter den bereits zeitgenössischen vielfältigen Rezeptionshinsichten auf sie nicht mehr bestimmt zu identifizieren ist. Man kann dies zum Anlass einer skeptischen Sicht auf die historische Forschung nehmen und zum Recht einer eigenständigen systematischen Konstruktion in der Christologie ohne historische Begründung.15 Man Dogmatik nur selten beherzigt wurde«. Sie findet sich in dem für den vorliegenden Zusammenhang fundamentalen Aufsatz: Ulrich Barth: »Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie. Schleiermacher, Luther und die neuere Historik«, in: ders.: Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321–351, hier : 323. 14 Vgl. Arnulf von Scheliha: »Kyniker, Prophet, Revolutionär oder Sohn Gottes? Die dritte Runde der Frage nach dem historischen Jesus und ihre christologische Bedeutung«, in: ZNT 2 (1999), 22–31; zusammenfassend C. Danz: Grundprobleme, 30–41. 15 Vgl. die Konsequenz aus den Aporien bei Christian Danz: Einführung in die evangelische

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könnte aber ja auch dieses als historisches Ergebnis nehmen und nach den historischen Bedingungen für diesen vielfältigen Rezeptionsprozess fragen. Es wäre dann die historische Besonderheit Jesu, inhaltlich vielfältige religiöse Rezeptionsprozesse freizusetzen, die nur darin übereinkommen, dass sie die Erinnerung an die Person Jesu als konstitutiv für diesen Rezeptionsprozess betrachten. Nicht der Inhalt der Religion Jesu und seiner religiösen Verkündigung könnte dann entscheidend sein, sondern seine besondere Art der religiösen Kommunikation, die die Verbindung der eigenen Frömmigkeit mit ihm als Stifter ihrer Weiterbestimmung und Intensivierung erlaubt. Diese These lässt sich mit der Theorie der religiösen Rede wiederum verbinden. Nach dieser, so hatte ich oben versucht zu zeigen, ist die Entwicklung der Christologie zu deuten als eine Weiterbestimmung des Gottesglaubens, und zwar als reflexive Erhellung der bereits gegebenen Bedingungen gemeinschaftlicher Gottesverehrung im Kontext der jüdischen Religion. Dabei geht es um die Einbindung der religiösen Kommunikationsbedingungen in das Verständnis der Gegenständlichkeit der Rede von Gott. Diese Weiterentwicklung und Einbindung, so lässt sich jetzt in Bezug auf die Person Jesu folgern, ist ein Ergebnis nicht seiner inhaltlichen Sicht der Religion, sondern ein Ergebnis seiner bestimmten Weise der religiösen Kommunikation mit seinen Jüngern. Diese muss dabei zunächst gar nicht einmal religiös artikuliert und mitkommuniziert worden sein, sie funktioniert also zunächst vollständig im Kontext der jüdischen Religion. Es reicht zu sagen, dass Jesus in der religiösen Kommunikation mit seinen Jüngern eine Weise der religiösen Anrede geübt hat, die zum Anlass werden konnte, in der Folge diese Weise der Anrede und des Angeredetwerdens mit in die Inhalte der religiösen Rede aufzunehmen. Mit dieser These wird das Ergebnis der third quest systematisch produktiv verwertet. Wie könnte also eine historische These zum religiösen Kommunikationsverhalten Jesu aussehen, die sich in der Folge als Aufhänger für die Entwicklung einer neuen systematischen Sicht auf die Religion im Kreis der Jesusanhänger verwenden lässt? Hier soll diese Frage versuchsweise damit beantwortet werden, dass behauptet wird, Jesus habe eine besondere Befähigung zur direkten menschlich-persönlichen Anrede besessen, die zunächst neben der inhaltlichen Bestimmung der religiösen Kommunikation herlief. Die Frage nach dem messianischen Selbstbewusstsein Jesu kann dann in der Folge so umgewandelt werden, dass gefragt wird, wie und ob Jesus diese seine persönliche – zunächst rein menschliche und insofern religiös kontingente – Befähigung im Zusammenhang seiner Verkündigung bewusst wurde. Es wird sich jedoch zeigen, dass auch eine nachösterliche Rückdeutung in das Leben Jesu hinein an dieser Stelle Dogmatik, Darmstadt 2010, 139–141 (»Christologie als Darstellung der Geschichtlichkeit des Glaubens«).

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denkbar ist und an dem systematisch zu beschreibenden Sachverhalt nichts ändert. Dieser historische Sachverhalt bestände dann darin, dass Jesus in der Lage war, in und mit seiner religiösen Verkündigung ein besonderes personales Beziehungsverhältnis zu seinen Adressaten aufzubauen. Insofern diese Fähigkeit zur Stiftung eines persönlichen Näheverhältnisses von Anfang an mit der religiösen Kommunikation verbunden war, lässt es sich einerseits sowohl von dem Inhalt der jüdischen Religion trennen als auch von dem religiösen Bewusstsein der Kommunikationsteilnehmer, andererseits wird deutlich, dass es sehr wohl Jesus selbst und seinen Jüngern schon vor Ostern als Besonderheit seiner Verkündigung bewusst sein konnte, ohne zu einer inhaltlichen Veränderung des Glaubens im Kontext der jüdischen Religion führen zu müssen. Die Erzählung von Jesu Taufe mit ihrem Charakter als religiöse Berufungserzählung, die Geburtsgeschichten mit ihrem biographischen, persönlichkeitsbezogenen Ansatz der Erklärung und der Inkarnationsmythos einerseits sowie die Erzählungen der Menschensohnselbstaussagen als des apokalyptischen Gesandten Gottes und vom messianischen Gottessohnbewusstsein Jesu lassen beide Deutungen zu. Die nachösterliche Erinnerung an die Verkündigung des historischen Jesus ist deshalb nicht als religiöse Rückprojektion zu verdächtigen, sie ist aber auch nicht als faktenbeschreibende Darlegung religiöser Gegebenheiten (z. B. der Göttlichkeit Jesu oder seiner Wundertaten) zu verstehen, die die Jünger zu Lebzeiten Jesu erkannt haben könnten. Vielmehr verbindet die Erinnerung die Jesusjünger auch nach Ostern historisch mit der religiösen Kommunikationssituation im Angesicht der Person Jesu und bringt seine besondere, aber durchaus menschliche Begabung zur persönlichen Anrede von Anhängern mit der eigenen Frömmigkeit, in der diese Kommunikationssituation christologisch in die Religion einbezogen wird, in einen geschichtlichen Zusammenhang. Damit wird die alte Streitfrage, wie Jesus als Person zu seiner Verkündigung gestanden hat, in den Zusammenhang der Theorie religiöser Rede verschoben und dadurch als Scheinproblem erwiesen. Jesus hat an Gott geglaubt wie alle anderen Personen in seinem Umkreis. Er muss nicht, weil er eine neue Religion hervorgebracht hat, diese neue Religion selbst gehabt haben. Seine Verkündigung des Gottesreichs war eine Verkündigung im Kontext der jüdischen Religion. Trotzdem hängt die Gründung der neuen Religion mit an seiner Person und seiner Art der religiösen Kommunikation. Denn er hat seine Verkündigung verbunden mit seinem persönlichen Charisma in der Zuwendung zu seinen Hörern. Allerdings: Erst indem diese Erfahrung einer vertieften personalen Beziehung für ihn und für seine Hörer in die religiöse Kommunikation mit eingeht, entsteht etwas Neues. Dieses Neue muss vor Ostern nicht bereits bewusst geworden, benannt und reflektiert worden sein. Es kann (noch) neben der religiösen Verkündigung im Kontext des Judentums hergelaufen sein, ohne ihre Art bereits zu alterieren.

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

3.

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Jüngerkreis

Damit kann das bereits Gesagte aus der Perspektive der Jünger Jesu noch einmal zusammengefasst und damit an die Schwelle des Christusglaubens gebracht werden. Die Suche nach dem Historischen verschiebt sich auf die Ebene der Rezeption.16 In der Forschung ist deutlich geworden, dass in den biblischen Berichten nur solche Rezeptionshaltungen überliefert sind, hinter der die tatsächliche Gestalt Jesu im Sinne belastbarer biographischer Angaben nicht identifizierbar ist, selbst dann, wenn angenommen wird, dass Elemente realer Erinnerung in den rezeptiven Aufbereitungen tradiert wurden.17 Diese Eigenart ergibt sich aus der Verbindung von personaler Erinnerung und religiöser Kommunikation. Jesu Jünger erleben bei ihm religiöse Rede (bzw. das Wort Jesu von Gott) im Kontext seiner persönlichen Zuwendung: Ethische Weisungen werden vertieft und intensiviert durch seinen persönlichen Anspruch; Gleichnisse werden anschaulich als real-symbolische Erzählungen durch den Verweis von Gottesgemeinschaft zur realen Gemeinschaft mit Jesus; Wunder- und 16 Vgl. dazu nach wie vor den Erzählversuch von Gerd Theissen: Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form (1986), Gütersloh 2004. 17 Vgl. die Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen bei S. Huebenthal: Vita, 403. Allerdings ist das Beharren auf der Nicht-Referentialität der Evangelien wegen der Komplexität innerer Verweisebenen des Textes nicht letztlich befriedigend, wenn daneben festgehalten wird: »Dass im Markusevangelium historisches Material verarbeitet wurde, wird niemand in Abrede stellen« (S. Huebenthal: Vita, 402). Denn wenn dieses im Allgemeinen festgestellt wird, dann kann immer zurückgefragt werden, welche einzelne Stellen als dieses historische Material identifiziert werden können. Ansonsten bleibt die Behauptung unkontrollierbar. Diese Bemerkung hängt mit der anderen zusammen, dass man neben allen literaturwissenschaftlich inspirierten Bemühungen um die Texte des Neuen Testaments ja niemals darum herumkommt, sich zugleich auch ein Bild der Entwicklung des Christentums zu machen, und zwar nicht nur ereignisgeschichtlich, sondern auch religions- und ideengeschichtlich. Vgl. auch entsprechende Überlegungen bei Ulrich Barth: Evangelienhermeneutik, 331. Der Schwierigkeiten bei der Erstellung eines historisch konsistenten und die Quellenlage umfassend einbeziehenden Bildes der Oster- und Erscheinungsereignisse sind dabei berücksichtigt. Die hier vorgelegten Überlegungen bieten nur Umrisse, keine Einzelentscheidungen – sie gehen allerdings davon aus, dass es selbst bei kritischer Enthaltsamkeit nicht zu vermeiden ist, dass man sich bereits immer ein Bild des geschichtlichen Zusammenhangs gemacht hat. In der Diskussion des Beitrags wurde zu Recht darauf verwiesen, dass eine Lücke in der Beschreibung bleibt, nämlich ein Verständnis der Bekehrung und der Theologie Paulus’. Insofern er sich als letzten Erscheinungsempfänger sieht, scheint er beanspruchen zu wollen, dass diese Erscheinung zugleich eine Erinnerung an das historische, vorösterliche Verkündigungsgeschehen des jetzt Auferstandenen und ihm lebendig Erschienenen mit enthält. Wenn Paulus die Präexistenzchristologie entwickelt, wäre vielleicht so zu argumentieren, dass er im historischen religionsgeschichtlichen Kontext und außerhalb der Jünger- und Anhängergemeinschaft der Einzige gewesen ist, der nicht aus der Begegnung mit Jesus zum Christusglauben gekommen ist, sondern umgekehrt aus der Reflexion auf die notwendige Erweiterung des Gottesglaubens sich ein solches religiöses Erlebnis bei ihm eingestellt hat – worein er die Berichte der von ihm verfolgten Christen integrieren konnte.

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Heilstaten sind Beziehungstaten, die die Nähe Jesu zu den Blinden, Tauben und Lahmen zum Ausdruck bringen; Jesu Gemeinschaft mit seinen Anhängern wird durchsichtig als Verweis auf die Gemeinschaft Gottes mit seinem wandernden Volk. Wiederum gilt, dass es nicht notwendig ist zu postulieren, dass die Jünger diesen Hintergrund ihrer Nachfolge bereits gewusst und reflektiert haben. Es kann sich auch um eine Rekonstruktion des religiösen Sinns der Jesuserfahrung im Nachhinein handeln. Die religiöse Valenz der erinnerten gemeinschaftlichen Nähe kann nachträglich extrapoliert sein, solange die besondere personale Nähe als Tatsache der Erfahrung festgehalten und bloß als zusätzlich Erfahrung mit der menschlichen Person Jesu hingenommen wurde. Der nächste Schritt in der Erfahrung der Jünger ist der Tod Jesu. Dieser hat im Kontext der gegebenen Erklärung nicht in seiner reinen Faktizität und in seinem Sich-Ereignen an diesem Menschen seine Bedeutung. Satisfaktorische wie soteriologische Funktion können zunächst außer Betracht bleiben. Vielmehr kann die Enttäuschung der Jünger so verstanden werden, dass sie erkennen, dass mit dem Tod Jesu die besondere Eigenart der religiösen Kommunikation, die sie in seiner Nähe erlebt haben, zu Ende ist. Gottesglaube und Jesusjüngerschaft fallen wieder auseinander. Der (erlebte, aber nicht unbedingt bereits thematische) Zusammenhang von religiöser Rede und personaler Anrede wird zerrissen. Die Geschehnisse um den Einzug in Jerusalem, um Passion, Sterben und Tod Jesu können nachträglich in doppelter Weise als Scheitern verstanden werden. Denn auch ohne einen religiösen Anspruch der besonderen personalen Kommunikation mit Jesus macht sein Tod doch der erlebten Nähe ein Ende. Dies hätte unter normalen Bedingungen zur Konsequenz, dass sich die religiöse Kommunikation des Gottesglaubens wieder von dem erlebten Umgang mit seiner Person lösen müsste. Doch das Scheitern des Lebensentwurfs der Jünger hängt daran, dass genau diese Trennung von biographischer Erinnerung und religiöser Rede sich als unmöglich erweist. Einerseits wird er als Mensch erinnert, der seine Nähe und Zuwendung im Umgang an die religiöse Rede, an Erzählung, Wunder und Weisung gebunden hat. Versuchen die Jünger in dieser Situation, die Trennung von Person und Religion wiederaufzurichten und die persönliche Erinnerung an Jesus zu pflegen, wie die Frauen am Grab, erweist sich dies als unmöglich, da außerhalb der religiösen Rede keine biographische Erinnerung dem real Erlebten angemessen Ausdruck verleiht. Das Grab – im Sinne einer leiblichen Erinnerung an Jesus und die gemeinsame Geschichte mit ihm – wird leer. Umgekehrt kann die Erzählung von der Verleugnung Petri als Versuch verstanden werden, sich wieder in den Kontext der ›normalen‹ jüdischen Gemeinschaft und ihres Glaubens einzustellen. Doch Petrus scheitert bei dem Versuch, das religiöse Element nachträglich zu isolieren und von der Erinnerung an Jesus zu befreien. Die Schuld der personalen Näheverleugnung ist zugleich die

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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Schuld im Gottesbezug und macht diesen unmöglich.18 Glaube außerhalb der Erinnerung an Jesus, der die Verkündigung von Gott mit seiner Nähe in der religiösen Kommunikation verbunden hat, erweist sich als unmöglich. Nicht eine anthropologische Soteriologie (im Sinne einer allgemeinen, nach Erlösung suchenden Sündhaftigkeit der Menschen), sondern diese doppelte Erfahrung des Misslingens religiöser Rede liegt der ursprünglichen Aufnahme und dem Verstehen des Kreuzes Jesu im Kreis seiner Jünger zugrunde. Der Idee nach soll es sich bei dieser theologischen Deutung nicht um eine psychologische Beschreibung, sondern um eine strukturelle Analyse der religiösen Redesituation handeln. Sie beschreibt, wie sich die Situation verändert zwischen dem vorösterlichen, lebendig zu seinen Jüngern redenden Jesus von Nazareth, und der Kreuzeserfahrung, in der das erlebte Ineinander von religiöser Anrede und inhaltlichem Glauben wieder aufgelöst wird. Nach dem Tod Jesu verstreuen sich seine Jünger und kehren zum Teil nach Galiläa zurück. In dieser Situation kommt es zu den Visionen des lebendigen Herrn. Auch sie sollen im vorliegenden Zusammenhang aus dem Gesamtkomplex der religiösen Rede als Grundlage des Glaubens interpretiert werden. Auf dem Hintergrund der beschriebenen Bedeutung der Person Jesu für die Verkündigung (die nicht in einer innerlichen psychologischen Besonderheit, sondern in seiner Fähigkeit zur Zuwendung zu seinen Hörern liegt, die diese erlebend mit der religiösen Rede von Gott verbinden) wird auch die Erfahrung des auferstandenen Christus interpretiert. Die Auferstehungserscheinungen im Jüngerkreis lassen die Situation der religiösen Rede aus der Lebenszeit Jesu wiedererstehen, indem das Nichtgelingen sowohl von religiösem Selbstverstehen als auch der biographischen Erinnerung an Jesus überwunden wird. Die realistischen Visionsberichte zeugen von (wieder) gelingenden Momenten religiösen Gottesglaubens. Dieser gelingt in der Erfahrung der Jünger aber gerade so, dass zugleich mit dem Glauben an Gott die reale Kommunikationssituation mit dem lebenden Jesus wieder aufgerufen wird. Die Erfahrung plötzlichen Wiedergelingens religiöser Rede verbindet die erinnerte Anrede durch Jesus mit der religiösen Verkündigung und lässt ihn unmittelbar als lebendig erscheinen. Diese Auferstehungserlebnisse vom lebendigen Christus sind das konstitutive Element für die Neubestimmung der religiösen Verkündigung bzw. das Ereignis des Wortes Gottes. Das im Leben Jesu erlebte Zusammenhängen von religiöser Verkündigung und personaler Bindung an Jesus funktioniert für die Jünger auch 18 Zum Versuch einer religionsphilosophischen Analyse des petrinischen Bekehrungsgeschehens vgl. Emanuel Hirsch: Jesus Christus der Herr, Tübingen 1926, 36–41, bes. 38–40; ders.: »Petrus und Paulus«, in: ZNW 29 (1930), 63–76. Vgl. dazu Ulrich Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/ New York 1992, 130–164.

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noch (und gegen die Erwartung auch wieder) nach seinem Tod. Dadurch wird der erlebte Zusammenhang aber zugleich auch erst überhaupt ausdrücklich und in die religiöse Reflexion aufgenommen. Dies wird dadurch ausgedrückt, dass es Gott ist, der Jesus von den Toten auferweckt hat.

4.

Geist und Gemeinde

Der nächste entscheidende Schritt in der Entwicklung einer eigenständigen christlichen Selbstverständigung der Glaubenden gelingt dadurch, dass religiöse Verkündigung in der Erinnerung an Jesus aufgenommen und als gelingend erlebt wird. Die Berichte von dem auferstandenen Jesus im Kontext religiöser Rede lassen Jesus auch bei denen lebendig werden, die jetzt erst in den Umkreis der Gemeinde kommen. Die durch Jesus gelebte Nähe in der religiösen Kommunikation wird dadurch zu einem Bestandteil der religiösen Kommunikation seiner Anhänger. Dies ist der Geist, der die Verständigung hervorruft und der zugleich der Geist Gottes ist, mit dem Jesus von den Toten auferweckt wurde. Die Gründung der christlichen Gemeinde geschieht durch das Beseelen der religiösen Rede in ihr durch den Geist Jesu. Gemeint ist damit, dass die personale Form der Anrede als konstituierender Bestandteil religiöser Kommunikation ablösbar ist von dem historischen Jesus selbst und in der eigenständigen direkten religiösen Kommunikation der Glaubenden vollzogen werden kann. Damit enthält die religiöse Kommunikation in der an Jesus erinnernden Gemeinde nicht nur die inhaltlichen Elemente der jüdischen Religion, sondern erfüllt im gegenseitigen Austausch dieser Gehalte zugleich die Funktion der früheren Anrede durch Jesus. Wie die Verkündigung Jesu selbst, so ist auch die Verkündigung der Gemeinde im Kontext der jüdischen Religion verständlich. Die jüdische Religion wird nicht überholt oder radikalisiert oder gar abgelehnt, sondern ihre Inhalte werden um das ›Jesus-Element‹ angereichert. Das heißt, die religiösen Inhalte der jüdischen Religion sind weiterhin gültig, jetzt aber deshalb, weil sie immer mit der Erinnerung an Jesus, der dasselbe gesagt hat, verbunden werden. Der Geist wird zur Ermächtigung des ehemaligen Jesuskreises, über die Erinnerung an Jesus hinaus die Zuwendung zum religiösen Hörer in der religiösen Verkündigung in eigener Hoheit zu üben und dadurch die an Jesus erlebte Form der Verkündigung nun auch selbst weiterzutragen und in die religiöse Kommunikation hineinzunehmen. Der Geist, der der Gemeinde an Pfingsten verliehen wird, ist also die Realisierung der impliziten Bindung der Verkündigung an Jesus in der Situation nach seinem Tod. Er ist zugleich die Benennung des neuen Elements an der religiösen Reflexion, nämlich die Erweiterung einer gegenständlich-objektiven Rede von Gott durch die Aufnahme ihrer Gründung auf das Gelingen religiöser Rede. Die

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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Rede vom Geist macht aufmerksam auf die ereignisbezogenen, am Akt der Verkündigung selbst hängenden Grundlagen religiösen Verstehens. Die Göttlichkeit des Geistes beschreibt Gott als Gegenstand religiöser Rede als einen solchen, der seine religiöse Bedeutung in dieser Rede erst herstellt. Geist steht damit für die Realisierung, den Vollzug und die Reflexivität des hermeneutischen Aktes, durch den eine religiöse Anrede überhaupt als religiös verstanden wird.19

5.

Historische Entstehung der Christologie

Bevor auf die Wandlung des jüdischen Glaubens durch die Entstehung des expliziten Christusbekenntnisses eingegangen wird, soll noch einmal betont werden, dass die bisher dargestellten historischen Entwicklungsschritte vollständig im Kontext der jüdischen Religion denkbar sind. Stärker formuliert: Da es sich bei den bisher aufgezeigten Schritten nicht um Änderungen in den Inhalten des Glaubens handelt, sind sie zwangsläufig noch innerhalb dessen, was als jüdischer Gottesglaube gelten kann, angesiedelt. Alles bisher Angeführte betraf die Art und Weise, wie der jüdische Glaube von Jesus und in seinem Umkreis kommuniziert wird, ausgehend von der menschlichen Zuwendungsfähigkeit Jesu zu seinen Jüngern. Die Erinnerung an Jesu Anrede mischt sich noch unexplizit mit den normalen Inhalten der jüdischen Religion. Auch die Geistverleihung macht auf die Vollmacht der Gemeinde zur Wortverkündigung aufmerksam, die aus der Erinnerung an Jesus kommt, seine persönliche Zuwendung in der religiösen Verkündigung aufnimmt und zum Modus der eigenen Verkündigungspraxis macht. Wenn es nun in der christlichen Gemeinde in der Folge rasch zur Ausbildung einer expliziten Christologie kommt, dann im Sinn einer doppelten Funktion: Einerseits geht es darum, die Erinnerung an Jesus und seine Art der Verkündigung lebendig zu halten. Andererseits geht es darum, die (an Jesus) erkannte und erlebte Bedeutung der personalen Zuwendung in der religiösen Kommunikation auf den Begriff zu bringen und im Inhalt des Gottesglaubens selbst zu verankern. 19 Notger Slenczka hat diesen hermeneutischen Sinn der Lehre vom Heiligen Geist in der Spätorthodoxie herausgearbeitet: »Wer also das Wirken des Heiligen Geistes beschreiben will, muss den Vorgang des Verstehens des äußeren Worts beschreiben: Was geschieht eigentlich, wenn wir einen biblischen Text oder eine religiöse Rede ›verstehen‹?« Ders.: »Die klassische Pneumatologie im Gespräch«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, 109–129, hier : 122. In der Folge allerdings wird dieses Verstehen wie bei Bultmann personalistisch-existenziell als Selbstverständniswandel und Selbsterschließungsgeschehen enggeführt, und zwar gegen die eigene Aussage, das Gesuchte »orientiert sich an den Strukturen des Verstehens eines Textes oder einer Rede überhaupt.« (N. Slenczka: Pneumatologie, 123) Dagegen wird hier das religiöse Element des Verstehens in die religiöse Rede und Kommunikation selbst gelegt.

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Biographisch-historische Erinnerungselemente werden dadurch zu Inhalten des religiösen Glaubens. Dabei geht es nicht um Besonderheiten der Person Jesu, nicht um Jesus im leiblichen Sinn. Sondern es geht um die Art, wie er religiöse Kommunikation gelebt und in ihr sich seinen Jüngern zugewendet hat, so dass sie in dieser Zuwendung als gelingend erlebt wurde. Die Erinnerung an Jesus hat also nichts Persönliches, sondern geht direkt in die Beschreibung der Evidenz des Gottesglaubens ein. Deshalb ist es möglich, dass Gott (mit seinem Geist) als der entscheidende Punkt der erinnerten Gestalt Jesu ausgesagt wird. Jesus hatte die Vollmacht zu der ihm eigenen Art der Verkündigung direkt von Gott. Diese Aussage meint nicht eine gegenständliche Erkenntnis über eine Eigenschaft Jesu, sondern beschreibt die Einbindung seiner Zuwendung und Anrede in das Verständnis des Funktionierens von Religion als religiöse Rede. Religion versteht sich selbst nicht (mehr) bloß über die Verwendung des Begriffs Gott, mithilfe dessen sie sich als Religion darstellt und zu erkennen gibt. Sondern das Selbstverständnis der Religion wird erweitert, indem Jesus und seine Art der Verkündigung in die Inhalte der Verkündigung aufgenommen werden. Der Gottesgedanke wird auf das Geschehen von Religion mit übertragen. Die Gemeinschaft derer, die mittels Religion über Religion kommunizieren und sich damit gegenseitig in ihrem Glauben hervorbringen und stützen, wird im Geist Gottes auf Gott selbst übertragen, als das Wirken Gottes selbst erlebt. Dieses Wirken geschieht ausschließlich im Wort und mit dem Wort. Da Jesus es ist, an dem dieses neue Verständnis des Wortes im Rückblick zuerst erlebt wurde, ist das Wort der Verkündigung in der Gemeinde zugleich das Wort Jesu wie auch sein erneutes religiöses Lebendigsein als Wort Gottes. Wenn damit die Grundlage der expliziten Christologie strukturell beschrieben werden kann, dann erscheint die historische rasante Entwicklung einer expliziten Christologie und insbesondere auch ihre plurale, vielfältige Inhaltlichkeit erklärbar. Das neue Verständnis von dem, was Religion ist und wie sie in der religiösen Kommunikation der Menschen miteinander funktioniert, wird mithilfe von messianischen und anderen Vorstellungen von möglichen Mittlerfiguren zwischen Gott und Welt bzw. Mensch gegenständlich ausgesagt bzw. bildhaft vorgestellt. Da die Religion auf eine gegenständliche Darstellung des neuen begleitenden Elements (der erinnernden Verbindung aller religiösen Gehalte mit Jesus) dringt, werden alte inhaltliche Vorstellungen der jüdischen Religion auf das ›Jesus-Element‹ übertragen. Alle Mittlerfiguren haben aber nur dadurch ihren religiösen Sinn, dass sie von Gott gesandt sind und nur von Gott aus in die Welt und zum Menschen kommen. Der Aufbruch christologischer Reflexionsfiguren für Jesus von Nazareth resultiert also nicht aus dem Versuch, eine historische Person zu(m) Gott aufzuwerten. Sondern umgekehrt aus dem Versuch, das an dem Gelingen der Verkündigung Jesu über die religiöse Kommunikation Gelernte dadurch auszusagen, dass es in die Rede von Gott einbe-

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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zogen wird. Oder anders gesagt: Es gilt, Gott als Gegenüber des Glaubens so zu begreifen, dass er nicht als Gegenstand, an den geglaubt wird, betrachtet wird, sondern dass er zugleich als Bild für die religiöse Rede und ihr Gelingen in der Kommunikation durchsichtig wird. Indem diese Göttlichkeit Gottes in der religiösen Rede auf Jesus als den, der auf dieses Verständnis der Religion mit seiner Verkündigung hingearbeitet hat, übertragen wird, wird es schnell selbstverständlich, von seiner übernatürlichen himmlischen Abkunft und Gesandtschaft zu sprechen. Es ist also nicht so, dass Jesus in der christlichen Gemeinde vergöttlicht wird, sondern das Gottesverständnis wird um die Erfahrung des verkündigenden Jesus erweitert. Damit kann im Ausgang von Jesu Wort die Aufgabe der Christologie so bestimmt werden, dass nicht die personale Vollmacht Jesu und auch nicht ein besonderes Wissen von Gott in Jesu Wort beschrieben wird. Jesu Wort ist vielmehr inhaltlich kaum von der Verkündigung anderer Propheten wie z. B. der des Täufers zu unterscheiden. Es ist innerhalb der jüdischen Religion in keiner Weise auffällig oder gar häretisch. Es mag sein, dass Jesus die von ihm erlebte religiöse Nähe in seiner Jüngergemeinschaft auch als Inhalt des Gottesgedankens verstanden und ausgesprochen hat, so dass der Gedanke der Gotteskindschaft für ihn ein eigenes Mittel war, die möglicherweise auch von ihm erlebte religiöse Nähe im Verkündigungsgeschehen auszudrücken. Doch ist dies bereits an der Grenze dessen, was historisch sinnvoll ausgesagt werden kann. Denn was in Jesus vorgegangen ist, kann aus den erhaltenen Berichten, die sich aus der Erinnerung an die Art seiner Verkündigung speisen, nicht mehr erkannt werden. Nicht Jesu Wort von Gott war besonders, sondern dass er das Wort von Gott mit seiner persönlichen Zuwendung zu seinen Hörern verbunden hat und dass für diese damit die religiöse Evidenz des Gottesglaubens erweitert und unterfüttert wurde durch die wachsende Aufmerksamkeit auf die spezifische religiöse Worthaftigkeit des Worts. Denn natürlich trägt Jesus die Botschaft nicht wie einen Sack, der mit ihm nichts zu tun hat.20 Dasselbe gilt aber auch für das religiöse Wort der Verkündigung selbst, das nicht über einen Inhalt informiert, der dem Ereignis der Verkündigung gleichgültig gegenübersteht. Damit wird Jesus zum Inhalt, der diese besondere religiöse Worthaftigkeit des Worts ausdrückt. In der Verkündigung der Gemeinde, die die Art der religiösen Verkündigung Jesu aufnimmt und selbst realisiert, wird das Gottesverständnis deshalb vertieft und ausgeweitet. Gott ist nicht bloß Gegenstand religiöser Rede, sondern zugleich die Beschreibung des Geschehens religiöser Rede als Grundlage jedes sich 20 So die Kritik Hirschs an Bultmanns Konzeption des ›Dass‹ des Gekommenseins Jesu: Emanuel Hirsch: »Bultmanns Jesus«, in: Zeitwende 2 (1926), 309–313, hier : 312f., jetzt in: Emanuel Hirsch: Dogmatische Einzelabhandlungen I. »Jesus Christus der Herr« und andere Beiträge zur Christologie, hg. v. Arnulf von Scheliha, Kamen 2010, 101–107, hier : 105f.

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realiter ereignenden Glaubens. Genau dieser Zusammenhang jedoch wird konstitutiv auf die Verkündigung Jesu zurückgeführt. Die Passions- und Ostererfahrung wird erinnert als Bewältigung der Krise, die nach seinem Tod durch die (scheinbar) notwendig gewordene Trennung von Gottesbezug und Jesusverhältnis entstand. Die Auferstehung Jesu, die Erfahrung seines Lebendigseins in der Beziehung zu Gott überwindet diese Krise und verlängert das Erlebte aus dem vorösterlichen Jüngerkreis in die Gemeinschaft der Christen. In der Erinnerung an Jesus wird die Erfahrung seines Todes als Abbruch religiöser Kommunikation aufbewahrt. Die Erfahrung dieses Abbruchs bleibt konstitutiv für die Möglichkeit seiner Neubegründung mittels der Auferstehungserinnerung. So ist das Wort von Gott in der Gemeinde immer zugleich Erinnerung an das Wort Jesu von Gott und in der Verbindung beider die Bestätigung von Jesu bleibender religiöser Vollmacht in der Gegenwart. Das Wort von Gott ist das Wort Jesu. Und weil die Gemeinde dieses Wort lebt und weiterträgt, erweitert sie das Wort von Gott zugleich um das Wort von Jesus Christus. Damit wird methodisch der gesuchte Zusammenhang von Verkündigung Jesu und Glaube an Jesus in die Reflexion des religiösen Kommunikationsgeschehens verschoben, in welchem es zwischen jüdischer Jüngernachfolge und christlicher eigener Christuspredigt eine historische Kontinuität gibt. Wie bereits gesehen, führt die Erinnerung an Jesu Verkündigung (mit ihrem konstitutiven Zusammenhang von personaler Anrede durch ihn und religiösem Wort aus seinem Mund) und gegenwärtiger religiöser Kommunikation in der Beseelung durch denselben Geist zu einer rasanten christologischen Entwicklung in der Urgemeinde. Allerdings muss dies nicht heißen, dass der Zusammenhang zur jüdischen Religion bereits aufgegeben wäre. Vielmehr geht es ja mit dem Bekenntnis zu Jesus zugleich um eine tiefgreifende Reform innerhalb der traditionellen Verwendung der Rede von und zu Gott, innerhalb des Glaubens an den einen Gott. Einer solchen Reform kann man religiös Ausdruck verleihen, indem an alte Ideale, Bilder und Zielvorstellung angeknüpft wird und das Neue als Konsequenz der alten Vorstellungsgehalte ausgegeben wird. Unbestritten war, dass der Gott Jesu der Gott des Volkes Israel war, unbestritten auch, dass es genau dieser Gott war, der Jesus von den Toten auferweckt hat und damit zugleich bestätigt hat, dass die Sendung Jesu zu seinen Jüngern von seinem (Gottes) Geist getragen wurde. Deshalb gab es zunächst judenchristliche Gemeinden, in denen Jesus verehrt wurde, ohne dass diese Verehrung zu einer eigentlichen Christologie führte. Es gab viele Varianten religiösen Gottesglaubens nicht nur innerhalb des Judentums, sondern auch in dem Feld zwischen Christentum und Judentum. Identitätskonstruktionen geschehen erst im Nachhinein und zementieren damit Unterschiede, die zur Zeit ihres Entstehens noch nicht als Ausschlusskriterien gehandhabt wurden. Das widerspricht aber nicht dem Versuch, die Differenz systematisch als in dem Geschehen der Verkündigung Jesu bereits implizit an-

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gelegt zu begreifen. Denn ohne ein solches Differenzkonstrukt ist die Trennung der beiden Religionen auch in der Folge nicht wirklich zu verstehen, sie wird dann immer auch zu einem Spielball der Umstände, zum bloßen Produkt gegenseitiger Missverständnisse und des Blicks von außen.

6.

Christologie als Aufgabe der Theologie

Der hier gegebene Versuch, von einer systematisch-religionsphilosophischen Sicht auf die Religion aus die möglichen historischen Entwicklungsstufen der Christologie zu rekonstruieren, hängt auch mit einer bestimmten Sicht der Christologie zusammen. Deutlich ist, dass die metaphysisch-trinitarische Christologie der Antike nicht weiter fortgeführt wird. Deutlich ist aber auch, dass die Begründung der Christologie in der Person des historischen Jesus abgelehnt wird, genauso wie der Ausgang vom glaubenden Subjekt. Vielmehr wird der Glaube dieses Subjekts wie auch die Funktion christologischer Aussagen rekonstruiert im Rückgang auf eine Theologie religiöser Rede. Ausgangspunkt dafür ist die Einsicht, dass die Theologie nicht die Existenz von Religion (oder Glauben) begründen muss, sondern diese vielmehr als bestehend voraussetzen muss, um ihr inneres Funktionieren und die innere Reflexivität dieses Funktionierens in den religiösen Anschauungen als wahrheitsfähig auf sich selbst bezogen zu analysieren. Dabei geht aber die Theologie nicht (mehr) von der Religion als einem Vermögen des Menschen, auch nicht von der Religion als einem bewussten Vollzug des Subjekts aus, sondern legt den Begründungspunkt von ›Religion‹ in das Geschehen religiöser Rede. Menschen kommunizieren über Religion, ihre Religion besteht gerade darin, dass sie über Religion miteinander kommunizieren. Indem Menschen in dieser Kommunikation religiös angesprochen werden, werden sie genötigt, diese religiöse Ansprache auch religiös zu rezipieren und dadurch Religion in sich – und damit ihre tatsächliche religiöse Teilhabe an dem religiösen Diskurs – zu realisieren. Der Gottesgedanke steht in dieser theologischen Rekonstruktion von Religion für das Bewusstsein der religiösen Kommunikation, dass hier eben religiös – und nicht ethisch, wissenschaftlich, ästhetisch, politisch etc. – kommuniziert wird. Im Gottesgedanken entsteht ein religiöser Inhalt, dessen Funktion für die religiöse Rede in der Aufrichtung eines Gegenstandsfelds besteht, welches seinen Sinn aus seiner religiösen Verwendung bezieht. Inhalt und Sinnfeld stützen sich gegenseitig, sie sind von nichts weiter und nichts außerhalb abhängig, ihr wechselseitiger – also zirkulärer – konstitutiver Bezug verdeutlicht die Absolutheit religiöser Kommunikation für sich selbst. Indem nun dieser Zirkel des Gottesgedankens durch den Christusbezug erweitert wird, wird der Subjektbezug des Sinnfelds durchsichtig, klassisch ge-

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sprochen, seine soteriologische Funktion für den Glaubenden. Diese besteht aber darin, dass erst in der Anrede des Menschen in religiöser Sprache in ihm ein besonderes hermeneutisches Subjekt entsteht, das religiös deshalb ist, weil es religiöse Anrede als religiös rezipiert. Es entsteht mithin in einem bereits ausdifferenzierten kulturellen Umfeld. Die Ausdifferenzierung selbst ist ein Ergebnis der Kultur- und Zivilisationsgeschichte der jüngeren Menschheit und müsste in einem eigenen Durchgang durch die Geschichte aufgezeigt werden. Indem aber nun die Theologie die Funktion des Christusbekenntnisses innerhalb des geschehenden christlichen Kommunikationszusammenhangs untersucht, begründet sie nicht die Gottheit Christi (ebenso wenig wie die Gottheit Gottes), sondern sie reflektiert Elemente des in sich selbständigen Funktionierens religiöser Rede. Die Gottheit Christi ist keine Aussage über ein Sein Jesu Christi, sondern über seine Funktion innerhalb der reflexiven Durchsichtigkeit christlicher Rede für sich selbst. Die Christologie beschreibt also Jesus weder als ein besonderes göttliches Subjekt noch als Urbild eines allgemeinen wahren Menschseins. Sie ist aber auch nicht das Produkt allgemeinanthropologischer soteriologischer Bedürftigkeit des Menschen bzw. jedes Individuums. Vielmehr wird die Kontingenz des Bestehens von Religion bzw. religiöser Kommunikation sowohl für die Menschheit allgemein wie auch für jedes einzelne Individuum durchaus zugestanden. Religion ist nicht (wie auch Gott nicht) notwendig für etwas Anderes außerhalb ihrer selbst. Sie bildet eine eigenständige Sprache des Menschen über sich selbst und die Welt, in der er lebt. Diese Religion ist als eine solche Sprache zugleich einer Wissenschaft von ihr zugänglich, die ihre Gesetze und ihr Funktionieren analysiert, strukturiert und beschreibt. Eine solche Wissenschaft kann solange als Theologie (und nicht als Religionswissenschaft) bezeichnet werden, wie sie plausibel machen kann, dass ihr eigenes objektivierendes Verhältnis zu den religiösen Aussagen durch die innere Wahrheitsbindung und Reflexivität dieser Religion selbst vorgezeichnet ist und sie insofern an die Geschichte der Religion anknüpfen kann. Eine solche Theologie kann es (unter den gegenwärtigen Bedingungen) vermutlich nur in einer Religion geben, die durch die Aufklärung und die Kritik hindurchgegangen ist. Die Christologie reflektiert den Sachverhalt religiöser Rede, dass sie sich nicht nur über ihre Inhalte als religiös erweist, sondern durch die Anrede durch Menschen, die diese Inhalte religiös verwenden. Insofern in der Anrede das religiöse Subjekt (das religiöse Rede als religiös verstehende Subjekt) erst hergestellt wird, eignet sich die Christologie zur Reflexion der subjektivitäts-, individualitäts- und persönlichkeitsbezogenen Bestandteile des Glaubens. Christologie ist also keine Ausdrucksgestalt einer anthropologisch gegebenen bzw. vorausgesetzten Religiosität. Sie ist aber auch keine Darstellung einer gegebenen bzw. vorauszusetzenden besonderen religiösen Subjektivität Jesu. Vielmehr re-

Jesu Wort und Jesus als Wort Gottes

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flektiert sie das unbegründete und nur im Geschehen religiöser Rede gegebene Fürsichsein des glaubenden Subjekts. Die Erweiterung der Reflexion religiöser Rede durch die Christologie geschieht nicht ohne die gleichzeitige zweite Erweiterung durch die Pneumatologie.21 Diese reflektiert den mit der Anrede direkt verbundenen Sachverhalt, dass jede religiöse Rezeptivität zugleich eigene wortbezogene Produktivität mitsetzt. Insofern in der Anrede immer bereits der Impuls zu eigener weiterer Rede enthalten ist, eignet sich die Pneumatologie zur Reflexion der gemeinschafts-, identitäts- und kulturbezogenen Bestandteile des Glaubens. Pneumatologie ist kein Darstellungsmittel der notwendigen sozialen und geschichtlichen Existenz der Kirche. Sie ist aber auch nicht die Beschwörung eines unverfügbaren Ursprungsgeistes des Christentums. Vielmehr reflektiert sie zugleich mit der besonderen Kultur- und Sprachgestalt des Christentums, seiner Traditionsbindung sowie seiner freien Entwicklungsfähigkeit die absolute Kontingenz religiöser Rede. Denn dass religiöse Rede als religiöse (und das heißt: nicht als rein geschichtliche Erinnerung an Jesus, nicht als ästhetische Grundlage der Sprachund Kunstproduktion, nicht als identitätsversichernde Wesensbeschreibung) gelingt und auch weiterhin gelingt, ist theologisch nicht begründbar. Die Theologie der religiösen Rede prozediert damit in einer trinitarischen Weise, indem sie mithilfe des Gottesgedankens, der Christologie und der Pneumatologie differente Funktionshinsichten der Religion auf ihr Geschehen in religiöser Rede hin untersucht. Damit wird sie zugleich zu einem Erhellungsinstrument der Geschichte, mithilfe derer sich die jüdische Religion über die Verkündigung Jesu und den religiösen Kreis seiner Anhänger, über die Erfahrung seines Todes und seiner Auferstehung sowie die Gründung der selbsttätigen christlichen Gemeinde hinweg selbst zu einer christlichen Religion entwickelt. Der Glaube an den einen Gott, die Einbindung des Christusbekenntnisses darein sowie schließlich die Erweiterung in der Gründung der Kirche durch den Geist Gottes, der zugleich der Geist Christi ist, wird damit erschlossen durch die trinitarische Theologie religiöser Rede. Sie kann in ihrer historischen Anwendung die Fragestellung klären, wonach überhaupt vernünftig gesucht werden kann, wenn es um das Verhältnis von irdischem Jesus und geglaubtem Christus, von Jesu Wort und Jesus als Christus, also als Wort Gottes geht.

21 Auf die Notwendigkeit einer Rezeption der paulinischen Vorstellung vom Geist Christi weist Ulrich Barth hin, ders.: Evangelienhermeneutik, S. 349f. Zu den damit gegebenen Möglichkeiten einer Aufwertung der Lehre vom Geist in der modernen Theologie vgl. Michael Murrmann-Kahl: »Der ungeliebte Dritte im Bund? Geist und Trinität«, in: C. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit, 85–108.

Christian Danz

Christus als Bild des Glaubens von sich selbst. Zur Funktion der Christologie

Die historische und erkenntnistheoretische Kritik der Aufklärung an dem christologischen Lehrbegriff der altprotestantischen Theologie haben diesen vollständig aufgelöst.1 Dadurch geriet das Herzstück der Theologie, die Lehre von Christus, in eine Krise. Das Auseinandertreten des historischen Jesus und des dogmatisch-kirchlichen Christusbildes infolge der historischen Kritik führte zu signifikanten Verschiebungen nicht nur im Hinblick auf die methodischen Grundlagen der Christologie. Nun war es möglich, entweder bei dem historischen Jesus oder bei dem dogmatischen Christus mit der christologischen Thematisierung des christlichen Glaubens einzusetzen. Fungierte zunächst der von der Geschichtswissenschaft rekonstruierbare Mann aus Nazareth als deren Ausgangspunkt, so änderte sich das um 1900, da zunehmend die methodischen Probleme eines Überschrittes von den Quellen zu der historischen Gestalt ›hinter‹ den Texten bewusst wurden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund das Kerygma der neutestamentlichen Verkündigung zur Grundlage der Christologie, und der historische Jesus schied als Begründungsinstanz des Glaubens aus. Einher ging diese Neubestimmung des dogmatischen Lehrstücks mit einer Reformulierung des Religionsbegriffs. Vermögenstheoretische Beschreibungen der Religion wurden aufgelöst in deren Vollzug, und in den Fokus des theologischen Interesses rückte die reflexive Struktur des religiösen Aktes. Die theologischen Gehalte wurden als Ausdruck und Darstellung derjenigen Reflexivität umformuliert, die den Vollzug von Religion auszeichnet. Die weitere theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg unternommenen Versuche einer Rückbindung des Glaubens an die von der Geschichtswissenschaft rekonstruierbare Gestalt Jesu sowie die in den 1980er Jahren einsetzende third quest hoben zwar die Bedeutung der historischen Forschung wieder ins theologische Bewusstsein, aber auch sie brachte keinen Konsens über den Na-

1 Vgl. hierzu Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 106–118.

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Christian Danz

zarener. Im Gegenteil, die Entwicklung führte im Resultat zu einer Pluralisierung der christlogischen Diskurse sowie des Gegenstands der Christologie. Vor dem Hintergrund der angedeuteten Problemgeschichte drängte sich zunehmend die Frage auf, was eigentlich die dogmatische Christologie beschreibt. Den Menschen Jesus von Nazareth, der das Gottesreich verkündigend durch Galiläa zog, oder das Kerygma der frühchristlichen Gemeinden, ihre Verkündigung des auferstandenen Herrn? In der protestantischen Theologie wurden von der Sattelzeit der Moderne bis in unsere Tage die unterschiedlichsten Antworten auf das aufgeworfene Problem gegeben. Sie reichen von dem Lehrer des Menschengeschlechts2 über das Kerygma3 bis hin zur Einheit der Theologie, welche diese in der Christologie thematisiert.4 Mit der Frage nach der systematischen Funktion der dogmatischen Christologie ist das Thema der nachfolgenden Überlegungen benannt. Vor dem Hintergrund der christologischen Kontroversen und Debatten der letzten Jahre soll die religionstheoretische Funktion der Christologie ausgelotet werden. In dem dogmatischen Christusbild, so die These, beschreibt die christliche Religion sich selbst als einen personalen Vollzug, der sich in symbolischen Selbstbeschreibungen darstellt. Es geht um den Zusammenhang von Sich-Verstehen und dessen Darstellung im Selbstverhältnis in der christologischen Deutung der Religion, nicht aber um die historische Gestalt Jesus von Nazareth oder den inkarnierten Logos. Die begründungslogische Alternative, an der sich die bisherige Debatte über die Christologie abarbeitete, ist in den Gedanken einer Selbstbeschreibung der christlichen Religion zu überführen. Beide Aspekte, der Jesus der Geschichte und der Christus des Glaubens, sind Bestandteile der Selbstbeschreibung der christlichen Religion. Die Gliederung der Ausführungen ergibt sich aus der skizzierten Problemexposition. Einzusetzen ist mit einem knappen Überblick über die gegenwärtige Diskussion zur Christologie. Im zweiten Abschnitt wird die religionstheoretische Funktion der Christologie erörtert. Abschließend ist ein Vorschlag zur materialdogmatischen Gestaltung der Christologie anzudeuten.

2 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: »Die Erziehung des Menschengeschlechts«, in: ders.: Freimäurergespräche und anderes. Ausgewählte Schriften, Leipzig/Weimar 1981, 81–103. 3 Vgl. Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments, Berlin 31959, 1f. 4 Vgl. Falk Wagner : »Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins«, in: ders.: Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Gegenstand in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 309–342.

Christus als Bild des Glaubens von sich selbst

1.

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Beobachtungen zur christologischen Debatte der letzten Jahre

In den zahlreichen Publikationen zur Christologie der letzten Jahre wurden höchst unterschiedliche Neubeschreibungen von diesem dogmatischen Lehrstück vorgelegt. Christologie gibt es, das wird schon bei einem flüchtigen Blick in die Literatur ersichtlich, vor dem Hintergrund der Moderne nur noch im Plural. Im Folgenden kann diese Debatte nicht in extenso diskutiert werden.5 Ich beschränke mich auf zwei repräsentative Neuansätze. Im Jahre 2015 legte der Kopenhagener systematische Theologe Niels Henrik Gregersen einen Sammelband mit dem Titel Incarnation. On the Scope and Depth of Christology vor, der auf eine Tagung aus dem Jahre 2011 zurückgeht.6 Im Fokus des Bandes steht die dogmatische Christologie. Sie wird von den Beiträgern vor dem Hintergrund der modernen Naturwissenschaften und der ökologischen Krise traktiert. Das Stichwort ›deep incarnation‹, es geht auf Gregersen zurück, fungiert als Programmformel. Es zielt auf eine Reformulierung des Inkarnationsgedankens mit Konsequenzen für die Entfaltung des christlogischen Lehrstücks. Gegen John Hicks Deutung der Inkarnation als Metapher, wie sie dieser in dem von ihm herausgegebenen Sammelband The Myth of God Incarnate vertreten hatte,7 wird die Bedeutung des Inkarnationsgedankens für die christlogische Selbstbeschreibung der christlichen Religion geltend gemacht. Gerade der religiöse Pluralismus der Gegenwart, die neue Aufmerksamkeit auf die Konkretheit der Religionen, stelle die Aufgabe »to rethink Christology with a special concern for its universal claims and open horizons«.8 Freilich geht es dabei nicht um eine empirisch-geschichtliche Rückbindung des Inkarnationsgedankens – dies sei unmöglich –,9 sondern um dessen Reformulierung als konstitutiver Bestandteil des christlichen Glaubens. Dadurch sollen die Krisen der Gegenwart, insbesondere die ökologische Krise, in der Theologie selbst auf konstruktive Weise bearbeitet werden. Die Inkarnation des Gottessohnes wird folglich nicht mehr als Menschwerdung verstanden, in den Blick rücken vielmehr »the relation between the particular life story of Jesus and the universal 5 Ausführlich hierzu vgl. Christian Danz: »Neuere Erscheinungen zur Christologie«, in: ThR 81 (2016), 233–305. 6 Niels Henrik Gregersen (Hg.): Incarnation. On the Scope and Depth of Christology, Minneapolis 2015. Vgl. auch Wessel Bentley : »Re-visiting the Notion of Deep Incarnation in light of 1 Corinthians 15:25 and Emergence Theory«, in: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 72(4) (2016), 8 pages (doi: 10.4102/hts.v72i4.3425). 7 Vgl. Niels Henrik Gregersen: »Introduction«, in: ders. (Hg.): Incarnation, 1–22, hier : 2. Vgl. John Hick (Hg.): The Myth of God Incarnate, London 1977. Vgl. hierzu Ingolf U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen, 1–37. 8 N.H. Gregersen: Introduction, 3. 9 Vgl. N.H. Gregersen: Introduction, 4f.

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questions of reality, from cosmos to human existence«.10 Gott wurde Fleisch, und damit treten die universalen kosmischen Relationen des Inkarnationsgedankens in den Blickwinkel. Das Programm einer deep incarnation zielt auf eine Universalisierung des Inkarnationsgedankens. »In this view, the Logos of God (the eternal Son) ›became flesh‹ in Jesus, assumed a particular body and mind in him, and hereby also conjoined the material, living, and mental conditions of being a creature in any epoch.«11 Die kosmologischen Implikationen der Fleischwerdung, also die Überwindung einer anthropologischen und soteriologischen Engführung der Christologie, sollen einer deep ecology den Weg bahnen. Denn wenn Gott Fleisch und nicht nur Mensch geworden sei, so betreffe dies auch die biologische Evolution. Von einem »pan-incarnationalism«, demzufolge Gott in »all that is« inkarniert sei, können gleichwohl nicht die Rede sein.12 »Rather, the point is that the embodied Word of God shares from within the suffering of all who suffer from the powers of tsunamis, earthquakes, and hunger, and takes the side of the victims of the horror that human beings inflict upon on other.«13 Versucht man das angedeutete Programm theologiegeschichtlich einzuordnen, so wird man sagen können, Gregersen nimmt die Ausweitung des Gottesgeistes aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also die Loslösung des Wirkens des Heiligen Geistes von seiner traditionellen soteriologischen Bindung an Christus und das Wort der Schrift, auf und überträgt sie auf die Christologie. Die alte, soteriologische Fassung des dogmatischen Lehrstücks, die Zuspitzung des Christusbildes auf den Glaubensvollzug, wie sie von der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert ausgearbeitet wurde, wird in gleichsam kosmologische und naturwissenschaftliche Bezüge erweitert. Jürgen Moltmann, der zu den Mitautoren des Bandes gehört, hatte eine solche Konzeption bereits in seinem Buch Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen vorgelegt.14 Mit der kosmologischen Reformulierung des Inkarnationsgedankens wird freilich auch auf eine christologische Konzeption zurückgegriffen, die Adolf von Harnack in seiner Dogmengeschichte als metaphysische Überlagerung der religiös-soteriologischen Dimension der Christologie in der Alten Kirche kritisiert und zurückgewiesen hatte. 10 N.H. Gregersen: Introduction, 5. 11 N.H. Gregersen: Introduction, 7. Vgl. auch ders.: »The Extended Body of Christ: Three Dimensions of Deep Incarnation«, in: ders. (Hg.): Incarnation, 225–251; ders.: »Deep Incarnation: Opportunities and Challenges«, in: ders. (Hg.): Incarnation, 361–379. 12 N.H. Gregersen: Introduction, 1f. 13 N.H. Gregersen: The Extended Body of Christ, 235. Vgl. auch ders.: Introduction, 2. Vgl. auch Jürgen Moltmann: »Is God Incarnate in all that is?«, in: N.H. Gregersen (Hg.), Incarnation, 119–131, bes. 125. 14 Jürgen Moltmann: Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989.

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Eine andere Funktionsbestimmung der Christologie hat der römisch-katholische Theologe Florian Bruckmann in seinem Buch in IHM erkannt: Gott und Mensch. Grundzüge einer anthropologischen Christologie im Angesicht Israels vorgelegt.15 Gegenstand der christologischen Reflexion des Glaubens sind hier nicht die kosmologischen Implikationen der Fleischwerdung Gottes wie bei Gregersen, sondern das Verhältnis zwischen der christlichen und der jüdischen Religionsfamilie.16 Christliche Theologie, so führt Bruckmann aus, »darf speziell in der Christologie nicht antijüdisch konzipiert sein«.17 Die »bleibende Erwähltheit des ersterwählten Volkes« ist folglich im Horizont einer Selbstvergewisserung der christlichen Identität ernst zu nehmen.18 Die Christologie wird damit zum Reflexionsort des interreligiösen Dialogs sowie einer Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum aus der Perspektive des letzteren. Methodisch bearbeitet Bruckmann sein Programm einer nicht antijüdischen Christologie durch eine Relektüre der theologischen Anthropologie Karl Rahners vor dem Hintergrund der phänomenologischen Konzeptionen von Emmanuel Levinas und Jean-Luc Marion. Das führt zunächst dazu, dass die jüdische und die christliche Religionsfamilie im Horizont eines sie beide übergreifenden Gottesgedankens verstanden werden. Sodann fungiert die anthropologisch reformulierte Zwei-Naturen-Lehre als Bild wahren Menschenseins, die wiederum das Ziel der Schöpfung repräsentiert. Auf diese Weise kann Bruckmann mit der neueren historischen Jesusforschung, die er jedoch nicht heranzieht, den Nazarener ebenso in das zeitgenössische Judentum einordnen wie das frühe Christentum. Vor der genannten systematischen Konstellation gewinnt die Christologie im Angesicht Israels ihre Konturen: Der »Glaube an Jesus als den Christus« bedeutet »nichts anderes, als dass wir (Heidenchristen) durch ihn in den Bund Gottes mit Israel hineingenommen sind, so dass die Existenz des Judentums für uns heute Zeichen von Gottes unverbrüchlicher Treue zu seinem ersterwählten Volk ist«.19 Das Christentum wird damit tendenziell zu einem Bestandteil des Judentums. Allerdings verbindet Bruckmann diese Christologie mit der Zwei-Naturen-Lehre, die sich in der patristischen Theologie herausgebildet hat.20 Erst mit dem christologischen Dogma sei die in dem Lebensweg Jesu 15 Florian Bruckmann: in IHM erkannt: Gott und Mensch. Grundzüge einer anthropologischen Christologie im Angesicht Israels, Paderborn 2014. 16 Dieser Aspekt spielt auch in anderen römisch-katholischen Neuerscheinungen zur Christologie eine zentrale Rolle. Vgl. nur Helmut Hoping: Einführung in die Christologie, Darmstadt 2004, 147–162; Bernhard Nitsche: Christologie, Paderborn 2012. 17 F. Bruckmann: in IHM erkannt, 9. 18 F. Bruckmann: in IHM erkannt, 11. 19 F. Bruckmann: in IHM erkannt, 86f. 20 Die Dogmenentwicklung der Alten Kirche schaffte es, die »große denkerische Herausforderung, die Aussagen über die Menschlichkeit mit den Aussagen über die Göttlichkeit Jesu zusammenzubringen und beiden Naturen ihr Recht zukommen zu lassen« (F. Bruckmann: in IHM

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enthaltene implizite Christologie in eine abschließende und maßgebliche Gestalt gebracht worden. Wie jedoch die steile Zwei-Naturen-Christologie mit dem Anliegen, das Christentum im Horizont der jüdischen Religionsgeschichte zu begreifen, in einen gedanklich befriedigenden Zusammenhang gebracht werden kann, bleibt in dem Entwurf von Bruckmann unklar. Der mit der cum grano salis ontologischen transzendentalen Anthropologie Rahners – die Zwei-NaturenLehre als Bild wahren Menschenseins – verbundene Inklusivismus, führt im Resultat zu einer Reinterpretation des Judentums als bloßer Vorstufe des Christentums. Der Vorschlag, die Christologie als Reflexionsort einer bleibenden Verbundenheit von jüdischer und christlicher Religionsfamilie auszuarbeiten, verkehrt sich in sein Gegenteil. Sowohl die Intention von Gregersen, die Christologie zum Ausdruck eines neues, nun ökologisch ganzheitlichen Verständnisses der Weltwirklichkeit auszuarbeiten, als auch die von Bruckmann, die Christologie zum Ort eines dialogischen Miteinanders von Judentum und Christentum zu reformulieren, führen zu Problemen. In Gregersens Reformulierungsvorschlag wird die dogmatische Christologie gleichsam zur religiösen Verdopplung von umweltethischen Themen und bei Bruckmann zur Begründung der Geltung der jüdischen Religion. Die Ausweitung der Christologie ins Universal-Kosmologische oder die Welt der Religionen lassen jene selbst unbestimmt werden, da die religiöse Funktion der Christologie für die Selbstdarstellung der christlichen Religion zurücktritt. Worin letztere besteht, ist nun in den Blick zu nehmen.

2.

Christologie und Religion

Die dogmatische Christologie hat eine religionstheoretische Funktion. Jene bildet einen notwendigen Bestandteil einer Selbstbeschreibung der christlichen Religion. Religion, davon gehe ich, ohne das hier im Einzelnen ausführen zu können, aus, ist eine geschichtlich gewordene Weise menschlichen Sich-Verstehens, die sich selbst als solche bezeichnet und in symbolischen Formen darstellt.21 Die Teilnehmerperspektive, also der aktuale Vollzug, ist für einen gehaltvollen Begriff der Religion grundlegend. Der religiöse Akt stellt sich stets erkannt, 235). Die dogmatische Fixierung der Trinitätslehre in Nizäa und Konstantinopel bilden Etappen auf diesem Weg, aber erst im fünften Jahrhundert gelang es, diese Frage »zu einem guten und befriedigenden Abschluss« (F. Bruckmann: in IHM erkannt, 280) zu bringen. 21 Religion wird damit nicht als eine anthropologische Anlage verstanden, die gleichsam zum Menschsein des Menschen gehört. Vgl. hierzu Christian Danz: Systematische Theologie, Tübingen 2016, 121–125; ders.: »Frömmigkeit als Religion. Zur Vielfalt theologischer Religionskonzepte«, in: Uta Heil/Annette Schellenberg (Hg.): Frömmigkeit. Historische, systematische und praktische Perspektiven (Wiener Jahrbuch für Theologie 11), Göttingen 2016, 125–140.

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in symbolischen Formen dar, auf die er sich bezieht und die durchweg in eine inhaltlich bereits bestimmte Religionskultur eingebunden sind. Ohne solche symbolischen Formen, die bereits durch die Überlieferung vorliegen, ist Religion nicht möglich. Religion entsteht jedoch erst in dem Vollzug religiösen SichVerstehens und dessen Selbstbeschreibung als Religion. Weder die religiösen Gehalte noch ein religiöses Subjekt sind ihr folglich als deren Grundlage vorauszusetzen. Die Einbindung in eine religiöse Tradition, der Vollzug des SichVerstehens sowie dessen Darstellung sind die Momente, welche ein religiöses Selbstverständnis strukturieren.22 Erst aus ihrem Zusammenspiel entstehen in der Kultur Sinnformen, die sich selbst als Religion bezeichnen und darstellen. Die Theologie hat die Aufgabe, das Funktionieren des religiösen Selbstdeutungsaktes, also dessen reflexive Struktur, die sich in den religiösen Gehalten darstellt, zu beschreiben.23 Sie ist eine Theorie der Religion, die den religiösen Akt und seine reflexive Struktur auf der Ebene der Wissenschaft konstruiert. Theologie ist also von der Religion unterschieden, aber was sie konstruiert, ist die reflexive Struktur des Vollzugs von Religion. Die theologischen Gehalte strukturieren den Vollzug symbolisch religiöser Selbstdarstellung, der jedoch von der Theologie selbst schon als ein Reflexionsakt verstanden wird, der sich in seinen inhaltlichen Bestandteilen ausdrückt und über sich selbst verständigt. Gott, Christus und der Heilige Geist sind also keine dem aktualen Geschehen der Religion vorgegebenen religiösen Gehalte, sondern Weisen der Selbstdarstellung religiöser Selbsterschlossenheit, die erst zusammen mit der Religion entstehen. Im Gottesgedanken stellt sich das Sich-Verstehen selbst als ein unableitbares Geschehen dar, welches allein in seinem Vollzug wirklich ist. Der Gottesgedanke hat also eine Funktion für das religiöse Sich-Verstehen. In ihm und mit ihm symbolisiert es sich selbst als ein an seinen Vollzug gebundenes Ereignis von Reflexivität. Religion als Glaube ist ein Gottesverhältnis, oder : Gott kommt allein im Geschehen des Glaubens zum Menschen. In der Christologie beschreibt sich das 22 Folkart Wittekind hat vorgeschlagen, in Absetzung von vermögentheoretischen, anthropologischen und universalen Religionsbegriffen, diesen in eine Theorie religiöser Kommunikation aufzulösen. Religion entsteht als ein sich selbst bezeichnendes Sinnfeld aus dem Wechselverhältnis von Sprache, Erfahrung und Ausdruck. Vgl. Folkart Wittekind: »Kulturtheologische Überlegungen im Anschluss an Falk Wagner«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 251–277, bes. 271–277. In modifizierter Weise knüpfe ich an die Überlegungen von Wittekind an, Religion als Vollzug geschichtlich eingebundener menschlicher Selbstverständigung zu konstruieren. 23 Vgl. hierzu Folkart Wittekind: »Zwischen Religion und Gott. Überlegungen zum Selbstverständnis und zur Begründung einer protestantischen dogmatischen Theologie«, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien, Berlin 2008, 351–384.

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Gottesverhältnis des Glaubens als personaler Vollzug, der sich für sich selbst in einem Bild darstellt.24 Christus ist folglich ein Bild des Glaubens von sich selbst als individueller Vollzug. In diesem Sinne hatte bereits Martin Luther Christus als Bild des Glaubens konstruiert. Zwar geht er noch von der Voraussetzung aus, dass das Christusbild ein gleichsam objektiv-historisches Faktum ist, die evangelische Geschichte also der historischen Wirklichkeit entspricht. Soteriologisch relevant ist aber nicht der Glaube an die historische Wirklichkeit des vom Himmel gekommenen Gottessohnes, sondern der Christus ergreifende Glaube. Deshalb ist die Christusanschauung des Reformators auf die Antinomie von Gesetz und Evangelium sowie die von Kreuz und Auferstehung zugespitzt.25 Im 20. Jahrhundert hat Paul Tillich, freilich nun vor dem Hintergrund des Auseinandertretens von historischem Jesus und dogmatischem Christusbild, Christus als ein »Realbild« des Glaubens verstanden.26 Im Christusbild beschreibt der Glaube sich selbst als einen personalen Vollzug, der sich in einem Bild seiner selbst darstellt.27 Das Thema der christologischen Beschreibung des Glaubens ist somit der Zusammenhang von Sich-Verstehen und dessen symbolischer Selbstdarstellung. Wenn die dogmatische Gotteslehre den Glauben als einen unableitbaren Akt beschreibt, die Christologie den Glauben als personalen Vollzug, der sich in einem Bild seiner selbst darstellt, dann kommt dem Heiligen Geist die Funktion zu, die Einbindung der symbolischen Formen der Selbstdarstellung in eine inhaltlich bestimmte Geschichte zu reflektieren. Mit dem Heiligen Geist beschreibt sich die christliche Religion als Aneignung und Transformation von symbolischen Formen, ohne die sie als Weise menschlichen Selbstverständnisses nicht

24 Zur Struktur und den Aufbauelementen des hier aufgenommenen Bildbegriffs vgl. Christian Danz: Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000, 126–134. Zur Bildtheorie und deren unterschiedlichen Fassungen vgl. Malte Dominik Krüger : Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 313–468, der zeichen-, wahrnehmungs-, imaginations- und negationstheoretische Bildtheorien diskutiert. 25 Vgl. hierzu Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, 77–87. 26 Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1957, 126. 27 Eine ähnliche Konzeption der dogmatischen Christologie findet sich auch in der aus dem Nachlass des Züricher Theologen Walter Mostert herausgegebenen Christologie-Vorlesung. Vgl. Walter Mostert: Jesus Christus – wahrer Gott und wahrer Mensch. Zwei Vorlesungen und ein Vortrag zur Christologie. Mit einer Einführung in die Theologie Walter Mosterts durch Christof Gestrich, hg. v. Karl Adolf Bauer/Uwe Mahlert/Christian Möller/Harald Weinacht, Zürich 2012. Christologie, so Mostert, sei Nachdenken darüber, »warum wir an Christus glauben, wie dieser Glaube an Christus beschaffen ist, woher er kommt, wohin er führt« (W. Mostert: Jesus Christus, 31). Gegenstand der christologischen Reflexion ist der Glaube. Aus seiner eigenen Perspektive beschreibt er sich selbst, wenn er über Christus nachdenkt.

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möglich ist. Die Pneumatologie ist folglich ein notwendiger Bestandteil der reflexiven Selbstbeschreibung der christlichen Religion.28 Die Trinitätslehre wäre vor dem Hintergrund der skizzierten Überlegungen als eine zusammenfassende Darstellung der reflexiven Struktur des religiösen Aktes zu verstehen und auszuarbeiten.29 Jene Lehre thematisiert die Struktur des Vollzugs, der Religion als symbolische Selbstdeutung ist, in seinem differenzierten Zusammenhang. Deutlich dürfte sein, dass die Trinitätslehre strikt auf den Glauben bezogen sein muss, dessen Strukturmomente sie darstellt. Losgelöst von dem Geschehen des Sich-Verstehens macht sie keinen Sinn.

3.

Christus als Bild des Glaubens: Überlegungen zur materialen Ausgestaltung der Christologie

Die dogmatische Christologie beschreibt den Glaubensakt im Hinblick auf den Zusammenhang von Sich-Verstehen und symbolischer Selbstdarstellung. Das Geschehen menschlichen Sich-Verstehens stellt sich in einem Bild dar und verständigt sich mit diesem über sich selbst. Die genannte Funktion der Christologie für den Glaubensakt kommt durch die klassische Personchristologie sowie ihre Orientierung an den beiden Naturen nur sehr unangemessen zum Ausdruck. Versuche, die überlieferte Terminologie der Inkarnationschristologie zur Beschreibung der reflexiven Struktur des religiösen Aktes heranzuziehen, wie sie Karl Barth in seiner Christlichen Dogmatik unternommen hat, bleiben, wie die Debatten über dessen Christologie bis in die Gegenwart zeigen, missverständlich.30 Vor dem angedeuteten Hintergrund erscheint es sinnvoller, auf andere Traditionsbestände zurückzugreifen, um die materiale Christologie zu strukturieren. Bereits Albrecht Ritschl hatte vorgeschlagen, die cum grano salis metaphysische Zwei-Naturen-Christologie durch die Ämterlehre als Medium zur Explikation der geschichtlichen Offenbarung zu ersetzen.31 In seiner vor

28 Pneumatologische Konzeptionen, wie die von Jürgen Moltmann, Michael Welker und anderen, die den Gottesgeist universalisieren, tendieren dazu, dass dieser selbst unbestimmt wird, da dessen traditionelle Funktion der Heilsaneignung zurücktritt. Vgl. Christian Danz: »Der Geist der Religion. Anmerkungen zur religionstheoretischen Funktion der Pneumatologie«, in: Roderich Barth/Aandreas Kubik/Arnulf. v. Scheliha (Hg.): Erleben und Deuten. Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth. Festschrift zum 70. Geburtstag, Tübingen 2015, 257–272. 29 Vgl. hierzu C. Danz: Systematische Theologie, 234–237. 30 Vgl. Karl Barth: Die christliche Dogmatik im Entwurf, München 1927, 214–284. Vgl. hierzu Christian Danz: »Christologie als Selbstbeschreibung des Glaubens. Zur Neubestimmung der Christologie bei Karl Barth und Paul Tillich«, in: Kerygma und Dogma 58 (2012), 132–146. 31 Vgl. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3:

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einigen Jahren publizierten Christologie ist Michael Welker, allerdings vor dem Hintergrund von ganz anderen Voraussetzungen als Ritschl, dessen Vorschlag gefolgt und hat die Ämterlehre zur Strukturierung einer polyphonen realistischen Geist-Christologie aufgenommen.32 Um die überlieferte Lehre von den Ämtern zur Strukturierung des Christus-Bildes heranziehen zu können, muss sie ihrer metaphysischen Elemente entkleidet und zur Beschreibung des Glaubens als Vollzug, der stets in eine Geschichte schon eingebunden ist, umformuliert werden. Wie das geschehen kann, ist abschließend noch auszuführen. Das prophetische Amt Christi fungiert als Reflexion der Einbindung und Abhängigkeit symbolischer Selbstdeutungen in und von einer inhaltlich bestimmten Religionskultur sowie ihrer Transformation im Akt der individuellen Aneignung. Ein Selbst gibt es nur als seine Darstellung in symbolischen Selbstbeschreibungen. Es stellt sich als ein Besonderes erst durch seine Beschreibung her.33 Hinter den Selbstbildern gibt es keine Seelensubstanz als Grundlage persönlicher Identität. Die symbolischen Formen, mit denen sich ein Selbst beschreibt und für sich und andere darstellt, sind stets durch eine Kultur und ihre symbolischen Ordnungen vorgegeben. Das gilt auch für religiöse Selbstbeschreibungen, wie ein Blick auf die Geschichte Jesu im Neuen Testament zeigt. Seine religiösen Deutungen, allen voran die Reich-Gottes-Verkündigung, greifen auf die Symbolbestände der alttestamentlichen Religion zurück und eignen sie transformierend an. Daran knüpfen die ersten Anhänger Jesu an, die noch ganz im Judentum stehen, und rücken den Nazarener in das Zentrum ihrer religiösen Selbstdeutungen.34 Anders verwirklicht sich keine Religion in der Geschichte. Der Zusammenhang von Sich-Verstehen und Selbst-Bild wird im priesterlichen Amt thematisch. Ein Selbst kann sich nur in und durch ein von ihm selbst geschaffenes Bild seiner selbst erfassen und sich verständlich werden. Es ist jedoch nie mit seinem Selbstbild identisch, da es personale Identität nur in der Zeit gibt, d. h. als sich wandelnde Beschreibungen und Darstellungen. Die Bilder des Selbst fixieren dessen Identität nicht, sie müssen von diesem vielmehr gesetzt und wieder negiert werden, damit es zur Ausbildung einer lebendigen Identität

Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 41890, 376. Vgl. auch ders.: Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 41890. 32 Vgl. Michael Welker : Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 195–233. »Diese Christologie plädiert dafür, die Lehre vom dreifachen Amt Christi durch eine Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Christi zu ergänzen.« (M. Welker : Gottes Offenbarung, 228). 33 Die Auflösung und Entsubstantialisierung des Selbst in seine Selbstdarstellungen, für die ein konsistenter Zusammenhang nicht notwendig ist, inszeniert Thomas Meinecke in seinem Roman Selbst (Berlin 2016). 34 Vgl. hierzu Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000.

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kommt.35 Dieses Verhältnis von Bildsetzung und dessen Negation ist der Gehalt einer auf die theologia crucis zugespitzten Christologie. In diesem Sinne hatte bereits Paul Tillich die Kreuzestheologie aufgenommen und sie symboltheoretisch als Negation des konkreten Christusbildes reformuliert.36 Die theologia crucis wird dadurch gleichsam zur Darstellung des Symbolgebrauchs im Selbstverhältnis der Religion. Diese realisiert sich als Formsetzung und Formzerstörung. Das königliche Amt Christi schließlich reflektiert das Verhältnis von SichVerstehen und Selbstbild im Hinblick auf dessen Unabschließbarkeit in der Zeit, also die eschatologische Dimension religiösen Sich-Verstehens. Selbsterschlossenheit und dessen Darstellung sind eine bleibende Aufgabe des Selbst. Es kann sich allein in einem Bild seiner selbst erfassen, das jedoch wieder negiert und durch eine neue Selbstbeschreibung ersetzt werden muss. Anders ist ein SichVerstehen des Selbst gar nicht möglich. Im königlichen Amt stellt sich symbolische Selbstbeschreibung als Aufgabe des Einzelnen dar. Dieser versteht sich nur in und mit einem Selbstbild, welches zugleich unangemessen und zeitlich wandelbar ist. Fasst man die dogmatische Funktion der Christologie so, wie sie skizziert wurde, dann kommt ihr eine notwendige Funktion für die Beschreibung des Funktionierens religiöser Selbstverständnisse zu. Es geht in diesem dogmatischen Lehrstück weder um eine Begründung der christlichen Religion noch um die der wahren Religion oder eines wahren Menschseins. Christologie ist vielmehr eine reflexive Darstellung der christlichen Religion in ihrer Einbindung in eine bestimmte Religionskultur. Diese reflektiert in der Christologie den Zusammenhang von Sich-Verstehen und dessen Selbstdarstellung.

35 Vgl. hierzu die Überlegungen von Philipp Stoellger : »Kirche am Ende oder am Ende Kirche? Auf welche Gemeinschaft dürfen wir hoffen«, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Ferdinando G. Menga (Hg.): Grenzgänge der Gemeinschaft. Eine interdisziplinäre Begegnung zwischen sozial-politischer und theologisch-religiöser Perspektive, Tübingen 2016, 149– 186, bes. 164–170, zum Verhältnis von Identität und Selbsterhaltung im Anschluss an Paul Ricœurs Unterscheidung von idem und ipse. 36 Vgl. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 21956, 158–164.

Jörg Lauster

Die Gegenwart Christi als Geist des Christentums

I.

Christusgegenwart als Herzstück des Christentums – aber wie?

Im Jahr 1938 suchte die ökumenische Bewegung mit Blick auf die künftige Gründung einer globalen Vereinigung – später ging der Ökumenische Rat der Kirchen daraus hervor – ein gemeinsames Minimalbekenntnis, auf das sich die unterschiedlichen Konfessionen verständigen können sollten. Als Resultat ergab sich der Satz: »Wir glauben an unseren Herrn Jesus Christus als Gott und Erlöser«. Eine kleine, aber keinesfalls unwichtige christliche Strömung wie die Quäker konnte das Bekenntnis nicht teilen.1 Niemand kann bezweifeln, dass die Quäker christlich sind. Dennoch haben wir es hier mit einer christlichen Bewegung zu tun, der die Bestimmung Christi als Gott und Erlöser ein Zuviel an christologischer Aussage ist. Die Festlegung auf die Göttlichkeit Christi war für die Quäker an dogmatische Voraussetzungen gebunden, die sie nicht teilen konnten. Christusgegenwart ist das Herzstück des Christentums. Daran besteht kein Zweifel, aber dieser kurze Hinweis auf die Quäker reicht aus, um uns in Erinnerung zu rufen, dass das Verständnis dieser Christusgegenwart innerhalb des Christentums hochgradig strittig ist. Ein vorzügliches theologisches Exempel für die unterschiedlichen Auffassungen, wie man die Christusgegenwart denken und verstehen kann, bietet die Debatte zwischen Emanuel Hirsch und Rudolf Bultmann aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Bultmann reagierte 1927 in seinem Aufsatz Zur Christologie auch auf Hirschs Buch Jesus Christus der Herr aus dem Jahr 1926. Die Debatte ist hinlänglich bekannt und mehrfach erörtert und rekonstruiert, ich kann mich hier auf eine Wiedergabe nur der zentralen Thesen beschränken. Bultmann diagnostiziert bei Hirsch einen Weg, der die Christusgegenwart über die historische Persönlichkeit Jesu

1 Vgl. John Punshon: Portrait in Grey. A short history of the Quakers, London 2006, 290ff.

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Jörg Lauster

Christi zu eröffnen versucht. Er zitiert Hirsch: »Der Glaube entzündet sich an dem Bilde Jesu Christi, das durch die evangelischen Berichte zu uns spricht.«2 In berühmten Wendungen sieht Bultmann darin jedoch eine Kombination aus »Rationalismus und Pietismus«,3 die er als Irrweg ablehnt. Religiöse Erfahrungen »an einer Person der Vergangenheit machen zu wollen, scheint mir künstlich und führt zur Sentimentalität.«4 Hirsch hat das nicht auf sich sitzen lassen. Bultmann sei am Ende nichts Anderes übriggeblieben, als aufgrund seiner historisch radikalen Skepsis zur Theologie Barths zu fliehen.5 In diesem Streit wird hüben wie drüben zweifelsohne Richtiges gesehen. Es geht um eine grundlegende Problemkonstellation modernen Christentums, insbesondere der Theologiegeschichte auf dem Anwendungsfeld der Christologie. Hirsch sucht einen plausiblen Bezug zur historischen Persönlichkeit Jesu. Bultmann bestreitet diese Möglichkeit mit einer an sich sympathischen wissenschaftlichen Redlichkeit unter Zuhilfenahme wichtiger Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts. Eine wie auch immer geartete Konzeption der Gegenwart Christi ist seiner Auffassung nach nicht über die historische Persönlichkeit, sondern allein im Ereignis des subjektiven Getroffenseins durch das Wort Christi, das Kerygma, möglich. Die historische Persönlichkeit Christi verschwindet dabei dann ganz hinter diesem Kerygma. Dieser Streit hat keinen Gewinner, und das sollte nachdenklich machen. Offensichtlich führt keine der Positionen zum Ziel. Weder der Bezug zu einer historischen Persönlichkeit noch das Kerygma-Christentum kann die Gegenwart Christi überzeugend entfalten.

II.

Christusgegenwart im Geist

1.

Christus und der Geist: Zur systematischen und historischen Einordnung

Wie die Gegenwart Christi im Christentum wirksam sein und denkend begriffen werden kann, ist eine Frage, der sich das Christentum von Beginn an ausgesetzt sieht. Dazu gehören zunächst erstens die Reflexionsanstrengungen, die sich mit dem Wesen der Person Jesu Christi auseinandersetzen, traditionellerweise die Frage nach der Göttlichkeit und der Menschlichkeit Jesu. Damit verbunden ist zweitens der soteriologische Aspekt: Was war der Sinn seines Daseins, wozu war er hier, warum starb er einen Hinrichtungstod und warum war der Tod offensichtlich doch nicht das Ende seiner Mission? Diese beiden Fragenkomplexe sind 2 Rudolf Bultmann: »Zur Frage der Christologie«, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 91993, 85–113, hier: 93. 3 R. Bultmann: Zur Frage der Christologie, 95. 4 R. Bultmann: Zur Frage der Christologie, 97. 5 Vgl. R. Bultmann: Zur Frage der Christologie, 100f.

Die Gegenwart Christi als Geist des Christentums

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in einer christologischen Thematisierung drittens nicht zu trennen von der Suche nach Wegen, zu verstehen, wie Christus selbst und seine heilbringende Bedeutung auch heute noch gegenwärtig sein können. Man kann diese Fragen im Grunde nicht voneinander trennen, sie sind gegenseitig verschlungen, die vielfältigen Bearbeitungslinien – Person und Werk, Wesen und Funktion und dergleichen – durchdringen sich wechselseitig und gegenseitig. Die Fragerichtung, auf die ich mich nun im Folgenden konzentrieren möchte, ist der dritte Aspekt – eine Fragestellung, die das Christentum von Anfang an interessiert hat: Wie lässt sich die Christusgegenwart konzipieren? Der Modus der persönlichen Begegnung ist bereits der ersten Generation von Christinnen und Christen nicht mehr möglich und doch – das ist das Erstaunliche – kennzeichnet das Urchristentum eine geradezu explosive Dynamik der kräftigen Gegenwart Christi. Diese pulsierende Präsenz der Gegenwart Christi ist vielleicht das größte Wunder in der Geschichte des Christentums. Es handelt sich um einen Modus der Christusgegenwart, der nicht einfach nur in einer kognitiven Anerkennung oder in einer moralischen Imitatio aufgeht. Das Christentum bearbeitet in seiner urchristlichen Erscheinungsform diese Christusgegenwart in einer Vielzahl von Perspektiven. Man könnte allein die großen Traditionsblöcke des Neuen Testaments als eine jeweilige Spielart der Bearbeitung der Christusgegenwart auffassen. Im Folgenden sei exemplarisch die paulinische vorgestellt. Es gilt aber festzuhalten, dass das Neue Testament eine Vielfalt von Modellen kennt. Die johanneische Fassung dürfte neben der des Paulus zweifelsohne die wirkmächtigste sein. In relativ späten Formen steht eine sakramentale Vergegenwärtigung Christi neben einer institutionellen, Paulus hingegen favorisiert ekstatische Beschreibungen.

2.

Leben ist mehr als Worte: Die Entdeckung des Geistes in der religionsgeschichtlichen Schule

Es ist ein an sich freudiges Ereignis, dass in der Exegese die Fragen der religionsgeschichtlichen Schule immer mehr zurückkehren, freilich unter ganz gewandelten Voraussetzungen. Man weiß heute sicher einiges mehr als um 1900, aber einige der Grundfragen kehren dennoch wieder. Die Leistung der religionsgeschichtlichen Schule war es, mit historisch wachen Augen diese Lebendigkeit des frühen Christentums in den Blick genommen zu haben. Das allseits anerkannte Meisterwerk hierzu lieferte Hermann Gunkel: Die Wirkungen des Heiligen Geistes, das er als 26jähriger geschrieben hat.6 Im Vorwort zur zweiten 6 Vgl. Hermann Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 21899. Zitiert wird im

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Auflage heißt es: »Wer am Worte haftet, kann das Leben nicht sehen.«7 Gunkel hebt darauf ab, die Erfahrungskontexte zu erhellen und zu erfassen, die in die neutestamentlichen Schriften Eingang gefunden haben. Diese Erfahrungskontexte sind für ihn ausnahmslos und vorrangig pneumatische Erfahrungen. Gunkels Grundthese ist die: Für das christliche Selbstverständnis sind Erfahrungen ausschlaggebend, die sich als Erfahrungen des Geistes beschreiben lassen. Und diese Geisterfahrungen sind nicht irgendwelche Geisterfahrungen, sondern es sind Geisterfahrungen, die sich als die Präsenz Christi darstellen lassen. Diese Geisterfahrungen gab es in einer von ihm als urapostolisch benannten Zeit, also unmittelbar nach Tod und Auferstehung Jesu. Eine Generation lang äußern sie sich in verschiedenen Bearbeitungsformen – Ekstasen, Glossolalie, Wunderheilungen, Prophetie –, die alle in diesem Kontext anzusiedeln sind und dann in Paulus einen vorläufigen Gipfelpunkt erreichen. Denn Paulus bringt die Leistung zustande, eine erste christliche Selbstreflexion auf die pneumatischen Ereignisse zu leisten. Paulus ist für Gunkel deswegen der interessanteste Kandidat, weil er selbst unter dem Vorzeichen jener pneumatischen Erfahrungen steht. Wir haben es Gunkel zufolge bei Paulus also mit einer Gestalt zu tun, bei der die denkende Reflexion auf etwas zielt, was in ihr selbst stattfindet. Darum betreibt Paulus Pneumatologie als Selbstreflexion. Der methodische Ansatz, dem Gunkel folgt, wird aus zwei markanten Zitaten deutlich. Die Geisterfahrung, über die Paulus nachdenkt, ist zu kennzeichnen als die Erfahrung radikaler Gegenwärtigkeit mit hochgradiger Gewissheitsfolge. »Die Propheten hoffen, Paulus besitzt.«8 Gunkel war ein großer Meister darin, seine Gedanken auf Pointen zu bringen. Ihn interessiert an Paulus, beobachten zu können, wie Paulus selbst darüber nachdenkt, was in ihm diesen Gewissheitsgrad auslöst. Gunkel gelangt zu dem Resultat: »Dem Apostel war sein Leben ein Rätsel, dessen Lösung ihm seine pneuma-Lehre ward; uns ist die pneumaLehre des Apostels ein Rätsel, dessen Lösung sein Leben und nur sein Leben sein kann.«9 Der Begriff des Geistes ist hier als Kausalitätskategorie eingesetzt. Paulus führt den Begriff ein, um das eigene Selbstverhältnis, die Durchsichtigkeit der eigenen Existenz beschreiben zu können. In der inhaltlichen Ausrichtung macht Gunkel zwei Anwendungsfelder aus. Es sind das Christenleben als Ganzes und die Charismen, in denen sich die Geistwirkung zeigt. Naturgemäß besteht ein Folgenden diese zweite Ausgabe, die unverändert zur ersten ist, aber ein neues Vorwort erhalten hat, in dem Gunkel sein Anliegen glasklar auf den Punkt bringt; sehr erhellend zum Geistbuch im Kontext von Gunkels Gesamtwerk: Konrad Hamman: Hermann Gunkel. Eine Biographie, Tübingen 2014, 40–48. 7 H. Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, VIII. 8 H. Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, 78. 9 H. Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, 84.

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großer Unterschied zwischen einem preußischen Professor und einem amerikanischen Pfingstler. Deswegen sollte man bei Gunkels Interesse an dem Heiligen Geist nicht allzu großartig auf die enthusiastische Seite des Geisterlebens abheben, die Gunkel zwar sehr genau und präzise in den Blick nehmen kann, deren Probleme er aber deutlich sieht: »Es besteht eine außerordentliche Gefahr des Selbstverlustes des Christentums, ganz in diesen pneumatischen Ekstasen aufzugehen und sich zu verlieren.«10 In einer bemerkenswerten Einschätzung sieht Gunkel in der aufkommenden Vergegenwärtigung der historischen Gestalt Jesu Christi ein frühchristliches Gegenmittel gegen die Umnachtungsgefahren der Geistekstase. Der »unendlich imponierende Eindruck des historischen Jesus hat es bewirkt, dass das Christentum seinen historischen Charakter nicht eingebüsst hat. Das Andenken an Jesum hat die pneumatischen Erscheinungen des apostolischen Zeitalters hierin paralysiert und nun schon um mehr als Jahrtausend überlebt.«11 Es bedarf eines Korrektivs, das in der Lage ist, die pneumatischen Selbsterfahrungen in ihrer Verursachung und in ihrer Reichweite einzugrenzen.

3.

Christusgegenwart als Gegenwart seines Geistes

Der knappe Hinweis auf Gunkel muss hier genügen. Die neutestamentliche Forschung ist in den Studien über die urchristliche Geist-Theologie auf vielen Wegen weitergeschritten.12 Daraus seien für den hier in Rede stehenden Zusammenhang einige Punkte herausgegriffen. James Dunn regte 1975 mit seinem bedenkenswerten und immer noch lesenswerten Buch Jesus and the Spirit eine interessante exegetische Debatte an. Der pneumatologische Akzent des Urchristentums konnte seiner Einschätzung nach letztendlich nur dadurch plausibilisiert werden, dass Jesus selbst als Geistträger gedacht wurde. Die Kategorien »sonship« und »spirit« sind eng aufeinander bezogen, sie erhellen sich wechselseitig und machen deutlich, dass sich Jesus selbst als Träger des Geistes erfährt. Hieran hat sich eine rege Forschung angeschlossen, die in Dunns Grundannahme einzeichnet, was wir heute über das palästinensische Judentum wissen.13 Der religionsgeschichtliche Hintergrund macht plausibel, was das Urchristentum ausdrücken wollte, wenn es Jesus als einen messianisch Gesalbten 10 H. Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, 56. 11 H. Gunkel: Die Wirkungen des heiligen Geistes, 56. 12 Vgl. exemplarisch Jörg Frey : »Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament«, in: Martin Ebner u. a. (Hg.): Heiliger Geist. Jahrbuch für Biblische Theologie 24 (2009), NeukirchenVluyn 2011, 121–154. 13 Vgl. James R. Levison: Filled with the Spirit, Grand Rapids 2009.

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begriff. Bereits Dunn hatte die Frage aufgeworfen und entschlossen beantwortet.14 Seiner Auffassung nach habe sich Jesu Geisterfahrung darin niedergeschlagen, dass sich Jesus selbst als dieser messianische Gesalbte begriffen habe. Der Geist konnte im Urchristentum Christus vergegenwärtigen, weil es derselbe Geist war, der bereits in Christus wirksam war. Interessanterweise hat das Urchristentum in den Tauferzählungen wie z. B. in Mk 1,9–11 dieses Geistträgertum Jesu narrativ entfaltet und dennoch seine Sonderstellung unangefochten behauptet. Es ist zwar derselbe Geist, der in Jesus und in der Gemeinde wirkt, aber in Jesus wirkt er noch einmal auf eine ganz andere Weise. Der Geist macht ihn zum Messias. Keine der späteren Geisterfahrungen, auch die paulinische nicht, erhebt je für sich den Anspruch, hierzu in Konkurrenz treten zu können. Was ereignet sich in den an Jesus als Geistträger gebundenen und doch von ihm unterschiedenen Geisterfahrungen des Urchristentums? Das führt zurück auf den von Gunkel eingeschlagenen Weg, die Pneumatologie des Paulus exemplarisch in den Blick zu nehmen. Dass es entschieden zu wenig ist, die paulinischen Geisterfahrungen gut lutherisch immerfort in das Korsett der Rechtfertigungslehre hineinzupressen, steht außer Frage. Die umfassende Verwendung des Geistbegriffs bei Paulus lässt sich anhand zweier Linien thematisieren. Einerseits erscheint ihm der Geist als Macht und als Gabe, die von außen auf den Menschen einwirkt, andererseits lässt sich der Geist dynamisch oder personal als Wirkung im Menschen selbst beschreiben. Diesen Zusammenhang hat Samuel Vollenweider in einem einschlägigen Aufsatz untersucht.15 Es zeigt sich, wie die Beschäftigung mit dem Phänomen der urchristlichen Geisterfahrungen ein Umlenken innerhalb der exegetischen Debatte zur Folge hat. Was Vollenweider hier vor Augen führt, ist eine Wiederentdeckung der Bedeutung des Substanzdenkens. Man kann die neutestamentliche Verwendung des Begriffs pneuma nicht vollständig erfassen, ohne damit die Assoziationen aufzurufen, die an einen wie auch immer gefassten Substanzbegriff gebunden sind. Paulus beschreibt den Geist als eine wirksame, pulsierende Kraft. Der Geist wohnt im Menschen. Die Stelle ist entscheidend für die Begründung des Einwohnungsmotivs. Paulus fasst die Einwohnung aber nicht – das wäre nur die Wiederholung falscher Verdächtigungen gegenüber dem Substanzdenken – statisch, sondern dynamisch. Die Einwohnung des Geistes hebt den natürlichen Menschen nicht auf, sondern umgrenzt ihn, sie geht auch nicht über in einen bleibenden Besitz, und doch ist die Gegenwart des Geistes dauerhaft in ihrer Wirkung fühlbar. Die Gegensätze pneuma-sarx und pneuma14 Vgl. James D.G. Dunn: Jesus and the spirit. A study of the religious and charismatic experience of Jesus and the first Christians as reflected in the New Testament, Philadelphia 1975. 15 Vgl. Samuel Vollenweider : »Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden«, in: ZThK 93 (1996), 163–192.

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soma umspannen dieses Moment. Der Geist ist substanzhaft vorhanden, aber substanzhaft nicht in einem statisch ausweisbaren punktuellen Punkt. Die Erfahrung des Geistes gleicht also, so Vollenweider, einer Wirkung, »worin die Kraft des Geistes immer von neuem die sarx annihiliert, einem Sturmwind gleich, der die Wogen des Ozeans vom fruchtbaren Land zurückdrängt.«16 Was daraus folgt, liegt auf der Hand. Es ist die Gegenwärtigkeit der Kraft des Geistes, die als Gegenwart Christi verstanden wird. Bei Paulus fällt eine geradezu dauerhafte Perichorese von Christus und Geist auf. Röm 8,9–11 macht das besonders augenfällig, es ist aber nicht der einzige Hinweis: 9 zlei˜r d³ oqj 1st³ 1m saqj· !kk’ 1m pme¼lati, eUpeq pmeOla heoO oQjei˜ 1m rli˜m. eQ d´ tir pmeOla WqistoO oqj 5wei, oxtor oqj 5stim aqtoO. 10 eQ d³ Wqist¹r 1m rli˜m, t¹ l³m s_la mejq¹m di± "laqt¸am t¹ d³ pmeOla fyµ di± dijaios¼mgm. 11 eQ d³ t¹ pmeOla toO 1ce¸qamtor t¹m YgsoOm 1j mejq_m oQjei˜ 1m rli˜m, b 1ce¸qar Wqist¹m 1j mejq_m f\opoi¶sei ja· t± hmgt± s¾lata rl_m di± toO 1moijoOmtor aqtoO pme¼lator 1m rli˜m.

Es bedarf eigentlich keiner Erwähnung, dass die vorliegende Skizze nicht annähernd die umfangreichen exegetischen Debatten zur Pneumatologie abbilden kann. Festzuhalten sind die einschlägigen Beobachtungen: In Vers 9a heißt es pmeOla heoO, was dann in 9b mit pmeOla WqistoO identifiziert wird, während in Vers 11 das pmeOla als die einwohnende und die gleichzeitig Christus auferweckende Kraft verstanden wird. Logisch gesehen ist das nicht zwingend konsistent. Man kann verstehen, warum die offenen Fragen, die Paulus hinterließ, Jahrhunderte später noch enorme Anstrengungen der begrifflichen Klärung freisetzten. Was an Röm 8,9–11 jedenfalls deutlich wird, ist dies: Es ist zwar eine syntaktisch angezeigte Gleichsetzung von Geist Gottes und Geist Christi möglich, nach Vers 11 kann diese Gleichsetzung aber keineswegs in einer vollständigen Identifikation aufgehen. Wir haben es hier mit einem prominenten Fall begrifflicher Einkreisungen zu tun, die diese inneren Geisterfahrungen zu erfassen versuchen. Paulus denkt sie – und das ist für unseren Zusammenhang das Interessante – als eine Erfahrung der Gegenwart des Geistes Christi, die zwischen Partizipation und Rechtfertigung, zwischen gegenwärtigem, substanzhaft im Menschen auffindbarem Erleben und einem dem menschlichen Erleben dauerhaft entzogenen Grund changiert, oszilliert und schwankt. Wir haben es also mit einer in sich wirksamen Kraft zu tun, die das Individuum nicht zerstört und dennoch in ihm unfassbar präsent und wirksam ist. Die Christusgegenwart wird hier gedacht als eine »erschaffende und erhaltende Kreativität«,17 als eine voranschreitende annihilatio des Alten, als die Idee einer täglichen Erneuerung, und schließlich als eine Kraft, die nach Gestaltwerdung und Umsetzung drängt. 16 S. Vollenweider : Der Geist Gottes, 173. 17 S. Vollenweider : Der Geist Gottes, 185.

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Diese Gestaltwerdung und Umsetzung hat Paulus an einer anderen, sehr prominenten Stelle bearbeitet. An 1Kor 12 ist interessant, wie er diese Gestaltwerdung inhaltlich konzipiert. Paulus tut dies in einem Dreischritt als Gaben, Dienste und Kräfte (1Kor 12,4). Das ist eine an sich schon angezeigte Weitung dessen, was wir üblicherweise unter charisma verstehen. Paulus versucht dann in unmittelbarem Anschluss an die Einteilung in 1Kor 13 eine Fokussierung dieser weiten Dimension der Christusgegenwart vorzunehmen. Die mündet bekanntlich ein in das Hohe Lied der Liebe als höchste und unüberbietbare Form der Christusgegenwart. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Wir haben es hier zu tun mit einer Beschreibung der Christusgegenwart, die unter Aufnahme der gesamten Weite antiker religiöser Geistvorstellungen im Alten Testament, im palästinischen Judentum und auch im Hellenismus dauerhaft changiert zwischen bleibender Transzendenz und wahrnehmbarer Einwohnung, zwischen innerem Bewegungsimpuls und gleichzeitiger Entzogenheit, zwischen einem partizipativen und einem relationalen Verständnis, zwischen einer Sichtbarwerdung und einem Unsichtbaren, und schließlich mit der formativen Kraft der Charismen. Charismen sind vitale Christusgegenwart. Es sind Erfahrungen, die einerseits die Teilhabe an Christus artikulieren, aber auch als Erfahrungen der Liebe, der Freude, der Erleuchtung, der Befreiung und der sittlichen Verwandlung zu verstehen sind.18 Christus ist nach Paulus gegenwärtig in diesen Erfahrungen. Die paulinische Geistchristologie ist ein prominentes Modell, das uns entbindet von der Verpflichtung, Christusgegenwart entweder allein als persönliche Begegnung mit einem Abwesenden oder als Ereigniswerden seines Wortes zu begreifen. Gleichwohl, und das hat schon Gunkel scharfsichtig erkannt, kommt diese Form der Christusgegenwart nicht ohne Verweisungsmodi auf die Person Christi aus. Der einfachste Umstand ist bereits, dass sich das Urchristentum nicht mit den paulinischen Geisterfahrungen zufriedengegeben hat, sondern eine Generation später nach den Evangelien verlangt. Es bedarf eines Verweisungsmodus, eines Inzentivs, das diese Geistvergegenwärtigung überhaupt erst anregt. Gerd Theißen nannte das wiederholt die Fiktionalitätsaura. Es gibt so etwas wie ein narratives Geflecht, in das wir uns hineinbegeben müssen, um überhaupt erst in diesen Erfahrungszusammenhang hineinzukommen.19 Christusgegenwart im Charisma – das ist freilich nicht zu übersehen – ist nicht die einzige Form, die das Neue Testament anbietet. So ist das heute auch. Wir kennen starke institutionelle Formen, wir kennen liturgische Formen, wir kennen eine Konfession, die sich auf die sprach18 Vgl. James D.G. Dunn: (Art.) »Heiliger Geist«, in: RGG4, Bd. 2, Tübingen 2000, Sp. 565–567, hier : Sp. 566. 19 Ein solches Narrativ kann auch das Dogma bieten. Harnack hat auf diese Möglichkeit in seinem Beitrag zum Apostolikumsstreit hingewiesen; vgl. dazu in diesem Band den Beitrag Kontingenz und Varianz. Zur Verbindlichkeit der altkirchlichen Christologie von Uta Heil.

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liche Inszenierung des Gotteswortes konzentriert. Natürlich gibt es auch Versuche, die Charismen werktätig zu realisieren und zwar in einer außerordentlichen Bandbreite, und schließlich ist es aus dem Christentum nicht wegzudenken, dass es Formen einer ganz persönlich gedachten Christusbegegnung gibt.

III.

Christusgegenwart als Gegenwart seines Geistes in der Geschichte

Abschließend sei in wenigen Bemerkungen skizziert, wie eine an der paulinischen Charismenlehre ausgerichtete Theorie der Christusgegenwart sich denken ließe als eine Gegenwart Christi im Geiste des Christentums. Ein Satz, der hierfür sehr treffend erscheint, stammt aus der ersten Fassung der Loci von Philipp Melanchthon: »Hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere«.20 Nicht ein wie auch immer gearteter persönlicher Umgang mit Christus ist das Entscheidende, Christus wirkt fort in den Wirkungen, die er entfaltet. Es ist einzuräumen, dass Melanchthon seine Beneficia-Lehre an dieser Stelle nicht pneumatologisch entfaltet. Das muss man ergänzen. Die entscheidende Wohltat Christi ist darum die fortgesetzte und vielfältige Wirksamkeit seines Geistes in der Geschichte. Wo dieser Geist wirkt, ist Christus gegenwärtig. Seine Wirkung besteht darin, ideale Kräfte, religiöse Motive und Bewegungen in der Welt freizusetzen, mit denen das Christentum getragen von der Überzeugung eines geheimen, göttlichen Weltgrundes den großen Fragen des Daseins Sinn stiftet und in die Welt hineinwirkt, und zwar auf eine doppelte Weise: einerseits individuell als innewohnende motivationale Kraft, andererseits aber auch in der sozialen Dimension der Weltgestaltung. Die Frage der Christusgegenwart als Gegenwart seines Geistes in der Geschichte wäre dann m. E. an folgenden Punkten entlang zu entfalten. Es liegt auf der Hand, dass das Einwohnungsmotiv zentral ist. Es ist natürlich nicht nur individuell zu denken. Alles, was in der Theologie des Sakraments, der Institution und des Amtes verhandelt wird, ist Resultat eines Modells der Christusvergegenwärtigung durch das Motiv der Einwohnung. Die Einwohnung ist nicht nur formal zu denken, sie ist auch inhaltlich zu denken. Christusgegenwart bewirkt Erlösung. Schließlich ist die Erlösung verbunden mit einer Veränderung des Blicks auf den Menschen selbst. Ein Beispiel dafür ist der Freiheitsbegriff. Die Einsicht, dass Christusgegenwart in ihrer Weite immer mehr ist, als Menschen erfassen und gestalten können, schlägt um in eine grandiose Erfahrung der Freiheit. Freiheit ist immer auch eine Freiheit von den Bindungen der eigenen 20 Philipp Melanchthon: Loci communes von 1521. Melanchthon Werke in Auswahl II/1, bearbeitet v. Hans Engelland, fortgeführt v. Robert Stupperich, Gütersloh 1978, 20, Z. 27f.

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Tradition und kirchlichen Überlieferung. Auszuführen wäre dann, wie die Christusgegenwart in den Ideen der Utopien, im Verständnis der Natur und im Verstehen der Geschichte wirksam wird. Zu verweisen wäre auch auf die werktätige Realisierung, die im 20. Jahrhundert, das an sich ja eines der schwierigsten und schlimmsten in der Menschheitsgeschichte ist, zu einer der prägendsten Signaturen der Christusgegenwart geworden ist. Man muss nur an Namen wie Albert Schweitzer oder Mutter Teresa erinnern, um zu begreifen, wie sich im 20. Jahrhundert die Christusgegenwart in diesem ganz eminent praktischen Sinne begreifen lässt als die Taten der Liebe und die Kraft der Versöhnung. Die eingangs erwähnten Quäker haben übrigens genau in diesem Geiste durch die Taten der Liebe und die Kraft der Versöhnung im Jahre 1947 den Friedensnobelpreis bekommen für ihre Arbeit in der Flüchtlings- und Migrationsunterstützung. Als Fazit ist festzuhalten: Christus ist vermittelt durch seinen Geist gegenwärtig in seiner Geschichte. Dies ist er nicht nur im lutherischen Katechismus und auch nicht nur in der katholischen Eucharistie. Konfessionelle oder theologisch positionelle Beschreibungen der Christusgegenwart bleiben immer zurück hinter dem, was sie beschreiben sollen. Sie stellen eine dogmatische Domestizierung dar. Christusgegenwart ist vielmehr die treibende Kraft der Geschichte des Christentums, die sich dauerhaft realisiert, auch dann, wenn dies in der Perspektive modernitätsangefressener und verlustneurotischer Mitteleuropäer in Reflexionsschleifen und dauerhaftem Krisenbewusstsein angezweifelt wird. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als ausnahmsweise und einzigartig auf die ansonsten unzitierbare Gestalt Sepp Blatter zu verweisen und mit ihm zu sagen: ›Krise, welche Krise?‹

Wilhelm Gräb

Christologie als Arbeit am religiös grundierten Lebenssinn

Die Christologie stellt bekanntlich jenes theologische Lehrstück dar, das die Bedeutung herausarbeitet, die der christliche Glaube mit Jesus, dem Christus, verbindet. So gesehen kann man, ohne mit Widerspruch rechnen zu müssen, sagen, in der Ausbildung der Christologie gibt der christliche Glaube über seinen Grund und Inhalt Auskunft oder auch, dass die Christologie den religiösen Geist des Christentums beschreibt. Doch gewinnt diese Christologie, wie sie in den entsprechenden Lehrstücken christlicher Dogmatiken entfaltet wird, einen Bezug zu den Krisenerfahrungen unserer Zeit? Es will selten so scheinen. Wen interessieren die Fragen, die ins Zentrum der dogmatischen Christologie führen, wie etwa die nach dem Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und dem verkündigten Christus? Zumeist geht es um theologische Problemstellungen, die allenfalls den engeren Kreisen kirchlicher Religionspraktikanten verständlich sind. Unter dem nachhaltigen Eindruck des Säkularisierungsnarrativs, das seine scheinbare Plausibilität aus den offenkundig dahinschwindenden Bindungskräften der Kirchen gewinnt, ist die Christologie zudem aus den öffentlichen Religionsdebatten herausgedrängt worden. Erst allmählich kommt die Religion als eine der bewegenden gesellschaftlichen Kräfte wieder in den Blick. Dabei wird deutlich, dass die Rede von der Säkularisierung zumindest insofern im Recht ist, als der Religion nicht mehr die Zuständigkeit für alles zukommt. Ebenso deutlich ist jetzt aber auch, dass sie ihre Zuständigkeit fürs Ganze behält, eben für die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Die aufs Ganze gehende Sinnfrage ist heute das gesellschaftlich zentrale Bezugsproblem der Religion. Zugleich sind es die persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Krisenerfahrungen, die das Vertrauen in den Sinn des Ganzen immer wieder erschüttern. Krisenerfahrungen, wie sie mit Leiden und Sterben, Krankheit und Hunger, Krieg und Umweltzerstörung verbunden sind, bringen das uns alltagspraktisch begleitende und stützende Vertrauen ins Wanken, dass der Welt und unserem eigenen Dasein in ihr ein Sinn innewohnt, wir uns somit in ein – trotz allem – letztlich verstehbares Ganzes einbezogen wissen können.

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Erst mit der Frage nach dem Sinn des Lebens bzw. nach dem, was das Ganze des Weltgeschehens überhaupt soll, gewinnt die Religion heute ihren existentiellen, durch keine funktionalen Äquivalente austauschbaren Bezug zu den Krisen unserer Zeit, dazu, wie wir sie erleben und was uns den Mut gibt, in ihnen zu bestehen. In der Beantwortung der Sinnfrage kann die Religion somit auch ihr Krisenbewältigungspotential freilegen. Was daran ist aber das spezifisch Christliche? Was hat die christliche Religion in den Sinnkrisen unserer Zeit zu bedeuten? Wie geht gerade sie mit ihnen um? Sofern wir der Religionsthematik diese Wende hin zum Christlich-Religiösen geben, rückt sie auch die Christologie in einen Bezug zu den Krisen unserer Zeit. Sie gewinnt diesen Bezug in der Beantwortung der Frage, was spezifisch der christliche Glaube zur Arbeit an der für die Religion heute zentralen Sinnfrage beiträgt. Es muss sich dann die Christologie von der Sinnfrage her verstehen lassen bzw. es muss gezeigt werden können, wie die Christologie mit der Sinnfrage umgeht, sofern es nur gelingt, sie auf deren Aufstellungen beziehbar zu machen. Zu solch konstruktiv theologischen Bemühungen ist durchaus schon aufgefordert worden, vor allem von Paul Tillich. Tillich hielt daran fest, dass der Gegensatz von Sünde und Erlösung, von altem und neuem Menschen, konstitutiv zur christologischen Selbstauslegung des christlichen Glaubens gehört. Er hat aber ebenso klar gesehen, dass die existentielle Krise zu deren Überwindung der christliche Glaube verhilft, nicht mehr aus der Ewigkeitssehnsucht und auch nicht mehr aus dem Verlangen nach dem im Endgericht gnädigen Gott entspringt. Die Krisen der modernen Zeit, so hat es Tillich hellsichtig diagnostiziert, sind, sofern sie in ihrer religiösen Tiefendimension erkannt werden, die aufs Ganze gehenden Sinnorientierungskrisen. Auf die Sinnkrisenbewältigung der Religion sollte sich deshalb die theologische Gedankenarbeit insgesamt einstellen. Und für die Christologie sollte gelten, dass sie sagen können muss, was sie auf spezifische Weise zur religiösen Sinnstiftung beizutragen in der Lage ist. In der Christologie muss herauskommen, was der christliche Glaube zu einem religiös grundierten, aufs Ganze gehenden Sinnaufbau beiträgt bzw. welche Ermutigung zur Krisenbewältigung von einer christlich-religiösen Sinndeutung ausgeht. Den geschichtlichen, die moderne Situation erfassenden Zeitbezug der christologisch bestimmten Heilsfrage hat Tillich im Auge, wenn er in einem Vortrag von 1929 formuliert: »Welches ist die (religiöse) Frage des modernen Menschen?«, um dann zu sagen: »Es ist nicht die Frage des antiken Menschen, auch des spätantiken der christlichen Zeit – die Frage nach der Erlösung. Es ist nicht die Frage des griechisch-russischen Menschen – die Frage nach dem Leben, das den Tod überwindet. Es ist nicht die Frage des Mittelalters nach der höheren Natur, in der diese Natur aufgehoben und vollendet

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ist. Es ist nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, die der Protestantismus stellte, sondern es ist die Frage nach dem Sinn.«1

Und, fährt Tillich fort: »Nun ist das nicht so gemeint, als ob diese Fragen alle gegeneinander stünden. In der Frage nach dem Sinn des Seins, die der moderne Mensch stellt, sind irgendwie die anderen Fragen enthalten, wie umgekehrt in jeder der anderen Fragen die Frage nach dem Sinn irgendwie enthalten ist.«2

So machte Tillich in der Sinnfrage den Problembezug aus, auf den hin die christliche Erlösungsbotschaft vom modernen Menschen als eine ihn angehende Botschaft müsste gehört werden können.

1.

Harnacks sinntheoretisches Christentumsverständnis

Doch Tillich war nicht der erste. Adolf von Harnack hatte es bereits unternommen, die in der modernen Wissensgesellschaft auf dem Prüfstand stehende Relevanz der christlichen Religion von der Sinnfrage her zu verdeutlichen. Harnack war ja nicht nur ein großer Theologe, sondern zugleich ein bedeutender Wissenschaftsorganisator und als solcher der Begründer der Kaiser-WilhelmGesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft. Er stellte am Ende seiner berühmten Vorlesungen über das Wesen des Christentums im Jahre 1900 fest: »Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt, die Wissenschaft vermag das nicht […]. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie gering schätzt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend Jahren.«3

Auf drei Dinge, die in diesem Zitat wichtig sind, will ich hinweisen. Erstens hebt Harnack darauf ab, dass es die Frage nach dem Sinn des Lebens ist, die die Religionsthematik für eine dem Leben verpflichtete Theologie zur Aufgabe macht. Die im humanen Lebensvollzug unweigerlich aufbrechende Sinnfrage zeigt die anthropologische Notwendigkeit des religiösen Glaubens. Denn dieser greift, indem er eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott bzw. zum göttlichen Sinngrund der Welt herstellt, affirmativ auf die Ganzheitsdimension von Sinn aus. Nur wenn unserem Dasein in dieser Welt als Ganzem ein Sinn zukommt, so 1 Paul Tillich: »Nichtkirchliche Religionen« (1929), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959–1975, Bd. V, 13–31, hier : 22. 2 P. Tillich: Nichtkirchliche Religionen, 22f. 3 Vgl. Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, hg. und kommentiert v. Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, 261f.

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Harnacks Argument, kann den Dingen dieser Welt und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis eine in ihrer Lebensdienlichkeit evidente Sinnbedeutung zuwachsen. Zweitens besteht Harnack darauf, dass der Glaube mit dem Wissen und der Wissenschaft widerspruchsfrei zusammengeht. Harnack argumentiert mit den Grenzen, die dem Wissen gerade dort gesetzt sind, wo es um die Frage nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben geht. Die Sinnfrage wird von der Wissenschaft nicht beantwortet, sehr wohl aber gibt der Glaube eine solche Antwort, indem er uns unsere eigentümliche Weltstellung verstehbar macht und unserem individuellen Leben eine im Sinn des Ganzen verankerte Bedeutung gibt. Der Glaube produziert kein Sachwissen von dem, was in und mit der Welt der Fall ist, sehr wohl aber ein sinnproduktives Deutungswissen. Er bringt uns, sofern wir nach dem Sinn unseres Lebens fragen, in einen Bezug zu dessen Ganzheit, die uns als solche nie gegeben ist und die wir nicht gegenständlich vor uns bringen können. Der Glaube lässt uns zudem eine Auffassung vom Von-Woher und Woraufhin unseres endlichen Weltdaseins gewinnen. Harnack weist der Religion die Bearbeitung der Lebenssinnfrage zu, ohne dabei dem Wissen und der Wissenschaft ihre Lebensbedeutsamkeit in irgendeiner Weise abzusprechen. Harnack weiß sogar die Sinnproduktion des Glaubens als Ressource für den Fortschritt im Gewinn lebensdienlichen wissenschaftlichen Wissens wertzuschätzen. Er plädiert nicht nur für die Freiheit der Wissenschaft, sondern zeigt, dass die Wissenschaft auf den Glauben geradezu angewiesen ist und bleibt. Die Wissenschaft war ja schon damals, in Verbindung mit der sie in Weltgestaltung umsetzenden Technik in eine zwar nicht unangefochtene, aber doch als alternativlos geltende gesellschaftliche Führungsrolle eingetreten. Drittens verweist Harnack auf die lebensdienlichen Folgen eines die Sinngewissheit menschlichen Lebens grundierenden und so zu einem gesteigerten Wissen-Wollen antreibenden Glaubens. Zu den spezifischen Merkmalen gerade des christlichen Glaubens gehörte für ihn, dass dieser die Gottesliebe mit der Nächstenliebe aufs engste verbindet. Die Vergewisserung im Sinn des Ganzen verklammerte sich für ihn mit der Forderung einer Politik, die für möglichst viele Menschen die gesellschaftlichen Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens herzustellen versucht. Harnack war schließlich nicht nur der zu seiner Zeit herausragendste Wissenschaftsorganisator, er setzte sich auch für die öffentliche Rolle der Theologie durch die Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses ein.4 Es ging ihm dabei um die gesellschaftliche Verantwortung des Christentums und der Kirche angesichts der mit dem Industriezeitalter bedrängend aufkommenden 4 Vgl. Christian Nottmeier: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930: Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2015.

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›sozialen Frage‹ – womit man im Umkreis des politisch konservativen, sozialreformerischen Protestantismus die entscheidende gesellschaftspolitische Herausforderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte. Die auf die Sinnfrage bezogene Verständigung über die Gegenwartsrelevanz und Krisenbewältigungspotenz des christlichen Glaubens hatte für Harnack eine klare christologische Signatur. Es war für ihn die in Jesu Verkündigung und seinem Leben sichtbar gewordene Gottes- und Nächstenliebe, die die Richtung anzeigt, in der der Sinn des Lebens gefunden werden kann. Auf Jesus schauend und sein Evangelium hörend, wird die christliche Religion ihres Wesens ansichtig. Sie blickt in Gottes väterliches Herz, sie erkennt den unendlichen Wert jedes einzelnen Menschenlebens und sie arbeitet hoffnungsvoll für Gottes Reich und sein Kommen. Harnacks Christologie antwortet auf die menschliche Sinnfrage so, dass sie die Antwort vom Selbstverständnis, Gottesverhältnis und Lebensvollzug Jesu her entwirft. Das innige und zu froher Zukunftshoffnung ermutigende Gottesverhältnis Jesu war für Harnack das Evangelium, das zur Bewältigung der mit der modernen Situation verbundenen Sinnkrisen befähigen sollte.

2.

Volker Gerhardts Sinntheologie

Zuletzt hat der Philosoph Volker Gerhardt es unternommen, mit seinem Versuch über das Göttliche5 die Relevanz der Religion in den Krisen unserer Zeit im Ausgang von der Sinnfrage zu klären. Und auch bei ihm tritt die christologische Signatur seiner die Sinnfrage bearbeitenden rationalen Theologie darin hervor, dass im Leben und Geschick Jesu die den Sinn des Ganzen umfassende gnädige Gegenwart Gottes erkennbar wird. Es ist die Auffassung vom Glauben als einem, auch noch kontrafaktisch, sich bewährenden Sinnvertrauen, das uns im Leben und Geschick Jesu anschaulich begegnet. Zu dieser christologischen Formung des Glaubens findet Gerhardt am Ende seines Versuchs über das Göttliche. Zuvor gilt dieser Versuch dem Bemühen, die Notwendigkeit des Glaubens überhaupt von der Sinnfrage her zu plausibilisieren. Religion betreibt in Gerhardts Verständnis keine Verehrung heiliger Dinge, sie überhöht nicht endliche Erfahrungen und Gegenstände ins Göttliche. Sie ist auch kein Glaube an einen der Welt transzendenten Gott. Sie stellt vielmehr eine von 5 Vgl. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014; ders.: »Das Göttliche als Sinn des Sinns. Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen«, in: Michael Kühnlein (Hg.): Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 13–30; ders.: Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart 2016, vgl. in dem genannten Diskussionsband zu Volker Gerhardt auch meinen Beitrag: »Religion als individuelle Erfahrung universalen Sinns«, in: M. Kühnlein (Hg.): Gott und Sinn, 65–78.

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unbedingtem Sinnvertrauen getragene Haltung maximaler Offenheit der Welt gegenüber her. Sie verbindet sich zudem, wie es im Grunde schon Schleiermacher in der zweiten seiner Reden über die Religion ausgeführt hat, mit einer durch die Anschauung des Universums verursachten Rückbetroffenheit des humanen Gefühlsbewusstseins.6 Im Anblick der Unendlichkeit und Unfassbarkeit der Welt wird der einzelne Mensch gesteigert seiner Endlichkeit bewusst.7 Er wird der ebenso natürlichen wie geschichtlich-gesellschaftlichen Grenzen und Kontingenzen menschlichen Daseins ansichtig. Er sieht, dass die Erfahrungen des Geborenwerdens und Sterbens, die Erfahrungen des Glücks wie der Not, des Gelingens wie des Scheiterns, des Schönen wie des Schrecklichen und Absurden den Menschen unweigerlich mit einer letzten Unverfügbarkeit der eigenen endlichen Existenz konfrontieren.8 Die Welt wie zugleich das eigene begrenzte Dasein in ihr entziehen sich dem Sinn, der verstanden werden könnte. Dennoch, obwohl jeder von uns nur einer unter unendlich vielen ist, und ihm, aufs Ganze gesehen, keine besondere Bedeutung zukommt, beziehen wir das Ganze doch auf uns, wird uns die Welt zu dem, was für uns Bedeutung hat. Ebenso glauben wir, dass wir der Welt keineswegs gleichgültig sind. Wenn wir von uns selbst ausgehen und unser eigenes Einbezogensein in das unendliche Ganze einer Welt wahrnehmen, die unserem Erkennen und Handeln, ihrer Unbegreiflichkeit zu Trotz, zugänglich ist, nehmen wir sie somit auf religiös sinninvestive Weise wahr. Man kommt mit dieser Religion nicht zu einer universalen Welterklärung oder Geschichtsdeutung. Nicht einmal in allem Endlichen wird sie des Einbezogenseins des Endlichen in das Ganze seines Sinns gewahr. Sie lebt vielmehr von der gefühlsbewussten Rückbetroffenheit, die mit der eigenen, endlichen Weltstellung konfrontiert, dabei aber gerade die Chancen und Möglichkeit, die im Wissen und Handeln entstehen, bewusst werden lässt. Religion führt nicht zum Pantheismus, wie Gerhardt hervorhebt.9 Denn dieser wäre die alles vergleichgültigende religiöse Überhöhung des Endlichen. Religion produziert ebenso kein absolutes Wissen, erlaubt keine Welt- und keine Geschichtsformel. Sie wird nicht zur Ideologie, liefert keine in eine Lehre zu fassende Weltanschauung. Das religiöse Bewusstsein ist vielmehr dadurch qualifiziert, dass es dem individuellen Lebensvollzug eine universale, aufs Ganze

6 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In ihrer ursprünglichen Gestalt, neu hg. v. Rudolf Otto, Göttingen 61967. 7 F. Schleiermacher: Über die Religion, 67–69. 8 »Geborenwerden und sterben sind solche Punkte, bei deren Wahrnehmung es uns nicht entgehen kann, wie unser eigenes Ich überall vom Unendlichen umgeben ist, und die allemal eine stille Sehnsucht und eine heilige Ehrfurcht erregen.« (F. Schleiermacher : Über die Religion, 154). 9 Vgl. V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 225f.

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gehende Sinngrundierung einschreibt.10 Das religiöse Sinnvertrauen macht es, dass der Mensch die Welt und das eigene Dasein in ihr in ihrer Unendlichkeit, Unverfügbarkeit und Kontingenz anzuerkennen vermag. Von diesem Sinnvertrauen getragen kann er sich auch noch dem Leiden und dem Schmerz stellen, muss er zudem die Augen vor der Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die fortwährend geschehen, nicht verschließen. Sofern er am Sinn des Ganzen, von dem er ausgeht, auch in Erfahrungen des Sinnverlustes festhält, erwächst ihm aus seinem Sinnvertrauen ein auch noch in Grenzerfahrungen zum Handeln befähigender Lebensmut. Wer die Welt religiös, also begleitet von dem Gefühl eines letztlich unzerstörbaren Sinnvertrauens ansieht, dem verliert sie nichts von ihrer Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit und dennoch glaubt er, sich darauf verlassen zu können, dass sie sich seinem Wissen öffnet und die Realisierung seiner Handlungsziele ermöglicht. Gerhardt arbeitet so die universale Bedeutung des religiösen Glaubens heraus. Ohne den Glauben, der das Sinnvertrauen in die von uns zu erkennende und zu gestaltende Welt schafft, so seine These, ist weder ein tätiges und erfolgsorientiertes Leben möglich, noch könnte es uns gelingen, uns so zu uns selbst und zur Welt zu verhalten, dass wir auch noch in den Erfahrungen von Leid und Tod bei der Liebe zum Leben bleiben und die Hoffnung auf Erlösung nicht aufgeben. Diese universale Bedeutung des religiösen Glaubens geht für Gerhardt eng damit zusammen, dass der religiöse Glaube individuell vollzogen werden muss. Er wehrt sich gegen die Einweisung der Religion in den Raum des Privaten, die dem Glauben eine bloß subjektive Relevanz zuerkennt. Es ist ihm wichtig, zu zeigen, dass er eine universale, öffentliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung hat, die er aber nur erfüllen kann, wenn er von den einzelnen Menschen als ihr unvertretbar je eigener Glaube auch vollzogen und von ihnen aus freier Einsicht gelebt wird. Religion funktioniert für Gerhardt nicht als Fremdzuschreibung. Denn im Bekenntnis des Glaubens spricht sich eine letztlich tief persönliche, auf ein allgemeines Wissen gerade nicht abgestützte Überzeugungsgewissheit aus. Das hat aber zur Folge, dass der religiöse Glaube in einer unendlichen Vielfalt individueller Überzeugungen vorkommt. Jedes Individuum, so könnte man auch sagen, das sich, auf je eigene Weise in das unendliche Ganze der Welt einbezogen und in seinem Gefühlsbewusstsein darin gehalten findet, entwickelt seinen eigenen Glauben. Dieser erst macht, indem er individuell vollzogen wird, einen Menschen dann auch seiner je eigenen Daseinsbestimmung gewiss. Der religiöse Glaube ist immer individuell, erfahrungsbezogen, perspektivisch. Das heißt aber gerade nicht, dass er nicht mit dem Anspruch auf allgemeine Wahrheit aufzutreten berechtigt wäre. Im Gegenteil, gerade weil sich im religiösen 10 Vgl. auch zum Folgenden: V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 246–266.

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Glauben die persönlichsten Überzeugungen artikulieren, kann ein Mensch ihn nicht für sich allein haben und behalten wollen. Der Glaube drängt immer ins Gespräch. Er sucht die Gemeinschaft. Er will mitgeteilt und in einem gemeinschaftlich vollzogenen Ritus auch dargestellt und auf allgemein verständliche Weise zur Auslegung gebracht werden. Dahin drängt die Religion der Individuen selbst. Sie weiß sich auf die Ergänzung durch die ihrerseits perspektivisch auf den Sinn des Ganzen ausgreifenden Überzeugungen anderer angewiesen. Mit der Individualität des religiösen Bewusstseins geht dann zudem seine pluralistische Verfasstheit einher – ein Aspekt, der in der globalen religionspolitischen Gegenwartslage nicht minder bedeutsam ist. Mit der Individualität der Religion gehört zusammen, dass die Religion, von sich selbst ausgehend, keine Unduldsamkeit anderen religiösen Positionen gegenüber ausbilden kann. Eine sich ihrer Individualität bewusste Religion behauptet nie, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Sie erhebt keine Absolutheitsansprüche. Die Erkenntnis der Wahrheit wird dem religiösen Bewusstsein vielmehr möglich, im Vorgang der Mitteilung und des Gesprächs und damit einer unendlichen Ergänzung und fortgesetzten Anschlussfähigkeit je individuell bestimmter, religiöser Überzeugungen, durch und an andere. Nur die sich selbst dem unendlichen Ganzen überlassende Religion ist die wahre Religion. Wahr ist sie nur in der unendlichen Anreicherung individueller Ausbildungen der aufs Ganze gehenden Sinngewissheiten. Die Wahrheit der Religion versteht sich somit als eine Wahrheit im Werden, die auf dem Wege der Mitteilung und des kommunikativen Austauschs, nicht über die Lehren der Religion, sondern über die diesen zugrundeliegenden Daseinssinnüberzeugungen, geschieht. Auf der Basis dieses Gedankens kann der weitere Weg aufgezeigt werden, der von der unendlichen Vielfalt der Formen gelebter Religion zu den auf geschichtlichen Überlieferungen aufbauenden und sie weitertragenden Religionsgemeinschaften führt. So kommt Gerhardt am Ende seines Buches auch auf die »göttliche Botschaft« des Christentums zu sprechen.11

3.

Die christologische Signatur von Gerhardts Sinntheologie

Gerhardt betont, in Aufnahme insbesondere des Johannesevangeliums, dass es der Mensch Jesus ist, der die göttliche Botschaft bringt. Jesus, so formuliert er im Anschluss an Joh 8, 24–28, ist der von Gott gesandte Mensch, der von sich selbst sagt, dass er der sei, der »von oben« kommt, während die Menschen, zu denen er als »Menschensohn« gehört, »von unten«, also »aus dieser Welt« sind (Joh 8, 23).12 11 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 288–292. 12 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 289.

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Dass es eine göttliche Botschaft ist, die Jesus bringt, erklärt Gerhardt mit einer interessanten Bezugnahme auf die Gottesoffenbarung im Dornbusch (Ex 3, 14). Gerhardt folgt jener Übersetzung der Selbstvorstellung Gottes, wonach Gott sagt: »Ich bin der ›Ich bin da‹«. Das heißt nach Gerhardt: »Ich bin der immer Anwesende, der jederzeit Daseiende und in allem Gegenwärtige«.13 Gott steht somit für die Medialität von Sinn, dafür, dass dieser in allem auf Verstehen und Verständigung ausgehenden menschlichen Selbst- und Weltumgang immer schon in Anspruch genommen wird. Die Selbstprädikation Gottes in der Erzählung vom brennenden Dornbusch in Ex 3 wendet der Jesus des Joh auf sich selbst an, nicht indem er sich an die Stelle Gottes setzt, wohl aber, indem er als der Mensch auftritt, in dem diese Medialität und Selbstvoraussetzung von Sinn sich in der Gestalt seines menschlichen Selbst- und Gottesverhältnisses vollkommen ausdrückt. Das, so Gerhardt, ist »für die christliche Lehre entscheidend, dass der ›Menschensohn‹ Jesus das Wort aus dem Dornbusch wiederholt und auf sich selbst zur Anwendung bringt. Das erfolgt aber nicht dadurch, dass er sich an die Stelle Gottes setzt, sondern indem er sich auf Gott den ›Vater‹ beruft.«14

Auf das mit der Menschheit Christi zugleich auch dessen Gottheit aussagende christologische Dogma geht Gerhardt nicht ein. Gleichwohl läuft seine Auslegung von Joh 8 darauf hinaus, dass der johanneische Christus die Selbstvorstellung Gottes aus Ex 3 auf sich selbst bezogen hat. Jesus ist der exemplarische Mensch. Exemplarisch ist der Mensch Jesus jedoch, weil er im Bewusstsein einer unverbrüchlichen Präsenz des Göttlichen in der Welt sein Leben geführt hat. Darin besteht die universale Bedeutung seines individuellen Lebens, dass er dieses in allem, auch noch in der Tiefe des Leidens und Sterbens von der Gegenwart Gottes umgriffen und getragen wusste. Auf diese Weise repräsentiert Jesus mit seinem Leben und Geschick die Bedeutung des religiösen Glaubens für das menschliche Leben überhaupt. An Jesus können wir sehen, dass wir durchaus Anlass haben, darauf zu vertrauen, dass der Welt im Ganzen und unserem eigenen Dasein in ihr ein Sinn innewohnt, auch wenn wir ihn oft nicht begreifen können. Indem andere Menschen sich dem Menschen Jesus anschließen, »im gemeinsamen Glauben an Gott«,15 geschieht insofern zugleich mehr, als dass Jesus nur ein Vorbild jener Gottes- und Nächstenliebe wäre, der wir selbst mit unserem Glauben und unserer Liebe nacheifern. Gerhardt zeichnet die christologische Signatur des Glaubens in seine Auffassung von der religiösen Grundierung des humanen Sinnbewusstseins ein. Sie tritt für ihn dort hervor, wo es das Vertrauen in die göttliche Präsenz des Sinns in den Grenzerfahrungen des Lebens festzuhalten gilt. Vom Selbst- und Gottes13 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 288. 14 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 289. 15 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 289.

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verhältnis Jesu sieht er die Ermutigung zu einem solchen, auch den negativen Erfahrungen standhaltenden Sinnvertrauen ausgehen. Es ist keine Vorbildchristologie, die Gerhardt entwickelt, aber auch keine solche, die die spekulative Entfaltung des christologischen Dogmas sucht. Gerhardt ist an dem Menschen Jesus interessiert, den das Johannesevangelium als den im Ganzen seines Lebens und Sterbens mit Gott verbundenen Menschen ins Bild setzt. Wer auf ihn schaut, dem kann sich die tröstliche Einsicht in seinen Lebensvollzug einzeichnen, dass wir in all unserem Wissen und Handeln immer schon vom Sinn ausgehen können und wir ihn auch dann nicht verlieren müssen, wenn wir an die Grenzen unserer analytischen Fähigkeiten, unserer ethischen Sicherheit oder auch unserer Leidensfähigkeit geraten. Das eben macht die »menschheitsgeschichtliche Bedeutung« Jesu aus, dass »sein Leiden als das eines dem umfassenden Ganzen ergebenen Menschen begriffen wird«.16 Als ein dem umfassenden Ganzen ergebener Mensch hat Jesus darauf vertraut, dass diesem Ganzen ein Sinn innewohnt, auch wenn er im Einzelnen, vor allem aber in den Anfechtungserfahrungen des Lebens unbegreiflich bleibt. Auch die Unbegreiflichkeit dessen, dass der Welt im Ganzen ein nachvollziehbarer Sinn innewohnt, eine Unbegreiflichkeit, die besonders in den negativen Erfahrungen des Lebens hervortritt, ist von Jesus artikuliert worden. Auch er ist in der Todesnot in den Schrei der Gottesverlassenheit ausgebrochen. Dieser Schrei der Gottverlassenheit ist in Entsprechung zu einem anderen der letzten Worte Jesu dennoch nicht als Aufkündigung seiner Ergebenheit in den göttlichen Willen zu verstehen, sondern er ist das Zeichen dafür, dass auch sein Vertrauen in den Sinn des Ganzen dem Schrecklichen, Desaströsen und Sinnwidrigen standzuhalten hatte. Zu sehen, dass ein Mensch die Kraft aufbringt, auch noch in sinnwidriger Erfahrung dem Sinn des Ganzen zu vertrauen, macht das Kreuz Jesu zu einem »erlösenden Zeichen«.17 Dazu gehört allerdings, dass andere Menschen es als ein »erlösendes Zeichen« verstehen, indem sie ihr eigenes Selbstverständnis im Aufblick zum Kreuz Jesu neu bestimmen. Dann verstehen sie sich selbst als solche, denen sich der Sinn des Ganzen trotz seiner Unbegreiflichkeit letztlich doch nicht entzieht. Das Kreuz wird ihnen zum »erlösenden Zeichen«, indem es zu neuem Lebensmut befreit und es macht, dass Menschen auch noch in den Erfahrungen des Sinnwidrigen oder gar Sinnlosen am Vertrauen in den Sinn des Ganzen ihres Lebens und dieser Welt festhalten können. Gerhardts christologischer Exkurs gibt damit einen entscheidenden Hinweis auf die Funktion, die die Christologie in der religiösen Grundierung des Lebenssinns gewinnen kann.

16 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 290. 17 V. Gerhardt: Der Sinn des Sinns, 290.

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4.

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Die christologische Auslegung der religiösen Grundierung des Lebenssinns

Die religiöse Grundierung des Lebenssinns zeigt sich, so ist zunächst noch einmal zu sagen, darin, dass sie nur im vertrauensvollen Ausgriff auf den göttlichen Sinn des Ganzen einer Welt, zu der wir mit unserem eigenen Dasein gehören, gewonnen werden kann. Einen solch vertrauensvollen Ausgriff auf den göttlichen Sinn des Ganzen, stellt der religiöse Glaube dar. Er macht zum einen ein konstitutives Moment in einer sinnbewussten Lebensführung aus, zum anderen aber gilt von ihm, dass er lebensführungspraktisch nur wirksam werden kann, wenn er ins Selbstverständnis eines Menschen Eingang findet. Die Erzählungen von Jesus, seinem Leben und seinem Geschick können in diese religiöse Sinndeutung des eigenen Lebens hineinführen. Sie gewinnen ihre religionsproduktive Kraft dadurch, dass sie auf die Frage antworten, wie das auf den göttlichen Sinn des Ganzen ausgreifende Sinnvertrauen auch dann noch soll festgehalten werden können, wenn Menschen die Erfahrung machen müssen, dass aller Sinn sich entzieht. Die Funktion der Christologie, sofern wir darunter die Auslegung der existentiell-religiösen Bedeutung der Erzählungen von dem Menschen Jesus, seinem Leben und Leiden, seinem Reden und Tun, verstehen, verdichtet sich genau deshalb in dem für das Christentum zentralen Symbol des Kreuzes. Das Kreuz Jesu wird zum »Zeichen der Erlösung« (Gerhardt), weil es zum Vertrauen in den Sinn des Ganzen auch noch kontrafaktisch, in manifesten Erfahrungen des Sinnverlustes, ermutigt. So tritt die Einsicht in die existentiell-religiöse Bedeutung des Kreuzes hervor. Sofern diese Bedeutung in das eigene Selbstverständnis Eingang findet, kann das Kreuz zu einem von unverbrüchlicher Hoffnung getragenen Lebensmut anstiften. Eine solche Wirkung wird man dem Kreuz aber gerade nur dann zumessen wollen, wenn man es wahrscheinlich machen kann, dass die Erzählung von Jesus sie freisetzt. Es kommt darauf an, so von Jesu Leben und Geschick, seinem Reden und Tun, seinem Gang ans Kreuz, seinem Tod und seiner Auferstehung zu sprechen, dass Menschen die Stärkung ihres Lebenssinnvertrauens mit ihm in Verbindung bringen. Die Erzählungen von Jesus müssen zu einer den vertrauensvollen Ausgriff auf den Sinn des Ganzen stabilisierenden oder auch neu aufbauenden Lebensermutigung werden. Da diese soteriologische Wirkung der religiös ansprechenden Rede von Jesus eine solche ist, die auf die Veränderung im existentiellen Selbstverständnis eines Menschen zielt, muss sie aber auch das Selbstverständnis Jesu und damit das, was ihm im NT durch die Hoheitstitel zugeschrieben wird, zum Ausdruck bringen. Wir müssen uns überhaupt klar machen, dass das religiös anregende in

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den Erzählungen von Jesus Leben und Geschick darin liegt, dass sie als Angebote an die eigene Lebensinndeutung verstanden werden können. Dann erst werden christologische Aussagen bzw. richtiger, Erzählungen von Jesus, religionsproduktiv, wenn sie Rückschlüsse auf das eigene Selbstverständnis erlauben und zu dessen Neubestimmung anregen. Was die historische Forschung zu sagen weiß über die Erinnerungsspuren, die das Wirken und das Geschick Jesu im Neuen Testament hinterlassen haben, ist wichtig. Ebenso gilt es zum Zweck der religiösen Sinn stiftenden Rede von Jesus herauszuarbeiten, welche Deutungen der Heilsbedeutung seines Todes am Kreuz in den neutestamentlichen Schriften entwickelt worden sind. Dennoch, ob die neutestamentlichen Aussagen über Jesus als den Christus, den Erlöser und Heiland, für die religiöse Kommunikation heute relevant sind, entscheidet sich daran, ob heutige Menschen sich in den immer ambivalenten Sinnerfahrungen ihres Lebens angesprochen und zu neuem Sinnvertrauen ermutigt finden. Ja, ich könnte sogar sagen, ob die Erzählungen von Jesus, seinem Leben und Geschick, ob die Deutungen seines Todes und seiner Auferstehung, die wir in der historisch-kritischen Auslegung der neutestamentlichen Texte anfertigen, wahr sind, entscheidet sich daran, ob sie in die religiöse Lebenssinndeutung auch heutiger Menschen eingehen. Das spezifisch Christliche einer am Zeichen des Kreuzes sich orientierenden religiösen Sinndeutung zeigt sich in einem kontrafaktischen Sinnvertrauen bzw. in einer religiösen Rede, die zu einem unversieglichen Lebensmut und einer auch noch den Tod transzendierenden Ewigkeitshoffnung anzustiften vermag. Die religiöse Grundierung unseres Lebenssinns kommt uns allein dadurch schon zu Bewusstsein, dass ein Sinnvertrauen unserem Lebensvollzug immer schon innewohnt. bzw. der Sinn, in dem das menschliche Leben sich vollzieht, diesem bereits vorauszusetzen ist. Wir bewegen uns immer schon im Sinn, indem wir uns erkennend und handelnd auf die Welt beziehen. Wir verstehen uns im Sinn, indem wir unser Leben bewusst führen. Das unseren Lebensvollzug immer schon tragende Sinnvertrauen wird aber auch erschüttert, oder wir drohen es gänzlich zu verlieren. Das geschieht leicht, wenn wir in grundstürzenden Krisenerfahrungen unserer Zeit oder des eigenen Lebens mit dem Unfasslichen, Absurden und Desaströsen konfrontiert werden. In den Krisenerfahrungen der Zeit und des eigenen Lebens, wenn sich die Zukunftsperspektiven verdunkeln und die Beziehungen, die uns die Lebensfreude erhalten, zerbrechen, kann uns mit unsrem Sinnvertrauen leicht auch dessen religiöse Verankerung und damit der Glaube an den Sinn des Ganzen verloren gehen. Das sind dann aber auch die Erfahrungen, in denen die Christologie ihre Rolle bei der Arbeit an der religiösen Sinngrundierung des Lebens gesteigert aufnehmen sollte, vorausgesetzt, sie spricht so von Jesus, seinem Selbst- und Gottesverhältnis, seinem Leben und Geschick, dass sie zur Erneuerung der Sinngewissheit führt. Das dürfte am ehesten dann der Fall sein, wenn von Jesus als demjenigen

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Menschen erzählt wird, der das Vertrauen auf die barmherzige, väterliche Liebe Gottes sogar im Schrecken der Gottverlassenheit, der auch ihn in der Bitterkeit des Sterbens erfasste, festgehalten hat. Genau im Verweis darauf, dass Jesus auch noch in der Erfahrung der Abwesenheit Gottes an seine Gegenwart geglaubt und seinem unbegreiflichen Willen sich gefügt hat, tritt seine erlösende, göttliche Bedeutung hervor. Er ist nicht nur das Vorbild, dem die Christen nachzueifern streben. Das ist er freilich immer auch. Aber er ist darüber hinaus zugleich, wie Schleiermacher das ausgedrückt hat, das »Urbild« des christlichen Lebens.18 Als das »Urbild« christlichen Lebens motiviert Jesus nicht nur zu seiner Nachfolge, sondern initiiert er diese. Dann können Menschen die Erfahrung machen, dass sie sich in den Erzählungen von ihm und den soteriologischen Deutungen seines Lebens und Geschicks selbst als diejenigen verstehen lernen, die in den Krisen der eigenen Zeit sich gehalten und zur Krisenbewältigung ermutigt wissen können. Das wiederum wird von Schleiermacher so ausgedrückt, dass das christliche Leben ein in der Lebensgemeinschaft mit Christus sich vollziehendes Leben ist.19 Das für das christliche Leben ursächliche Bild, das Christus von sich und seinem Leben gegeben hat, ist uns freilich immer nur im Reflex der textlichen Überlieferungen zugänglich, mit denen das Neue Testament dieses Bild auf vielgestaltige Weise entworfen hat. Wir müssen uns also an die Geschichten und Szenen halten, die die neutestamentlichen Texte vom Leben und Geschick Jesus entwerfen und die Deutungen zu verstehen versuchen, die sie selbst unternehmen. Insofern sind die neutestamentlichen Schriften selbst schon auf dem Weg zur Ausbildung einer Vielfalt von Christologien, die die Heilsbedeutung des Lebens und Geschicks Jesu herausarbeiten. Auch die neutestamentlichen Texte tun dies bereits wie die religiöse Rede auch heute es tun sollte. Sie verfolgen die Absicht, dass Menschen, indem sie die christliche Botschaft aufnehmen, in eine heilsame Beziehung zu sich selbst kommen und ihre Lebenssinngewissheit erneuert finden.

18 Vgl. Friedrich Schleiermacher : Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Martin Redeker, Bd. 2, Berlin 1960, 34, § 93 Leitsatz: »Soll die Selbsttätigkeit des neuen Gesamtlebens ursprünglich in dem Erlöser sein und von ihm allein ausgehen: so mußte er als geschichtliches Einzelwesen zugleich urbildlich sein, d. h. das Urbildliche mußte in ihm vollkommen geschichtlich werden, und jeder geschichtliche Moment desselben zugleich das Urbildliche in sich tragen.« 19 Vgl. F. Schleiermacher: Der christliche Glaube, 29, § 91 Leitsatz: »Wir haben die Gemeinschaft mit Gott nur in einer solchen Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser, worin seine schlechthin unsündliche Vollkommenheit und Seligkeit die freie aus sich herausgehende Tätigkeit darstellt, die Erlösungsbedürftigkeit der Begnadigten aber die freie in sich aufnehmende Empfänglichkeit.«

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Herausforderungen, Christologie und Theonomie. Systematische Überlegungen im Anschluss an Paul Tillich Die »versöhnende Antwort [ist] autonom und theonom zugleich« (GW1 IV, 199). Paul Tillich

1.

Herausforderungen und Krisen

Die Menschen durchschreiten nicht erst in jüngster Zeit politische, wirtschaftliche und soziale Krisen, die Geschichte ist geprägt von diesen, aber ebenso davon, sie überwinden zu können. Dass die globalisierte Welt im 21. Jahrhundert vor gewaltigen Herausforderungen gestellt ist, ist angesichts der ökologischen und weltpolitischen Probleme schwerlich zu bestreiten. Hinzu kommt, dass die zunehmende Technologisierung dazu führt, dass sich die Welt global vernetzt, wodurch nationale und kulturelle Grenzen verstärkt ineinandergreifen. Der Pluralismus der Kultur- und Wertegemeinschaften macht es schwierig, allgemeingeltende Antworten hinsichtlich der Bewältigung der Krisen und Herausforderungen zu formulieren. Wer aber den Wandel bloß als Gefahr wahrnimmt, wird den politischen und sozialen Problemen nicht gerecht, da man sich aufgrund der Abschottung und Abgrenzung immer weiter zurückzieht und sich zunehmend isoliert. Um der geistigen wie praktischen Isolation entgegenzuwirken, ist es geboten, dass die eigene Sichtweise anderen mittelbar ist. Nur so ist es überhaupt möglich, den Problemen offen entgegenzutreten und konstruktiv nach Auswegen zu suchen. Bezüglich der zu suchenden Antworten nimmt die Religion eine besondere Rolle ein. Diese hat sie weniger wegen der institutionellen Bedeutung der Kirche, sondern weil die existentielle Selbstbeschreibung der Kultur in der Religion ihre existentielle Entfaltung erfährt. Damit die Selbstreflexion nicht isoliert bleibt, muss sie anderen zugänglich gemacht werden. Das heißt nichts anderes, als dass die Vollzugsdimension des Glaubens wie das religiöse Selbstverständnis rational 1 Paul Tillich: Gesammelte Werke, hg. v. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959–1975 (im Folgenden zitiert als GW).

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mittelbar werden muss. Nur dann wird die eigene Sichtweise kommunizierbar, wodurch kulturübergreifende Diskussionen über die drängendsten Einzelfragen geführt werden können. Damit die eigene Perspektive kommunizierbar wird, gilt es zunächst begreifbar zu machen – was Paul Tillich in seiner Systematischen Theologie forciert –, wie existentielle Bestimmtheit und die konkret geschichtliche Situation ineinandergreifen. Sind sich die Menschen ihrer Bestimmtheit selbst durchsichtig, wissen sie sich im Kontext ihrer Lebenswelt bzw. ihrer kulturellen Bestimmtheit selbst zu fassen. Diese Einsicht ist es, die Aufschluss über das eigene Sein gibt, und jenes Sein ist es, welchem es gewahr zu werden gilt – auf diese Weise verleiht der Mensch seinem Sein wie seinem Handeln Sinn. Im Grunde findet sich dieser Gedanke bereits bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, denn in der kritischen Auseinandersetzung mit dem, was ist, sucht der Mensch nach Hegel »seine Haltung gegen die Welt an Gott oder an dem, was die Welt ist [zu formulieren]. Jenes gibt dieselbe Sicherheit wie hier, daß man wisse, wie man daran sei« (TWA2 2, 546). Aufgrund der kulturellen Pluralisierung der Gesellschaften fällt es den Menschen zunehmend schwerer, die Welt und die Rolle des Menschen in ihr zu fassen, wodurch es auch immer schwieriger wird, allgemeingeltende Normen und Werte zu formulieren, die sich nicht in der kulturellen Besonderheit verlieren. Um dem entgegenzuwirken ist es zweckhaft, der existentiellen Selbstbestimmtheit auf allgemeine Weise Ausdruck zu verleihen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass im globalen Diskurs die existentielle Bestimmtheit nicht in einem Meer von Bestimmtheiten verlorengeht. Ist die eigene Perspektive artikulierbar, besteht zumindest die Hoffnung, dass die religiöse Sichtweise des Gegenübers wie die eigene Perspektive im offenen Diskurs anderen argumentativ zugänglich wird. Auf diese Weise wird die Religion in den Diskurs eingebunden und in ihrer Eigenheit respektiert. Da die Interaktion zwischen verschiedenen Lebenswelten in einer globalen Welt zunimmt, ist der Diskurs wichtiger denn je, nur so besteht die Möglichkeit, allgemeine Antworten auf die Herausforderungen ›in der Zeit‹ zu formulieren. Um diesen Dialog führen zu können, müssen sich die Menschen ihrer eigenen Identität gewahr sein. Erst auf diesem Grund ist die eigene Sichtweise anderen Menschen auf rationale und allgemeine Weise, heißt begrifflich zu vermitteln. Hegel war davon überzeugt, dass die Weltgeschichte nicht »der Boden des Glücks« ist, vielmehr sind die »Perioden des Glücks […] leere Blätter in ihr ; denn sie sind die Perioden der Zustimmung, des fehlenden Gegensatzes« (TWA 12, 42). Tatsächlich baut der geschichtliche Fortschritt auf Widersprüchen auf. Die Geschichte ist nicht bloß der Boden des Glücks, das Glück besteht darin, die Widersprüche und Krisen zu überwinden. Das Leben ist eine stete Herausfor2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Klaus Markus Michel, Frankfurt/M. 1986 (im Folgenden zitiert als TWA).

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derung, die ganze Welt befindet sich im steten Wandel. Allerdings gibt es keinen Grund, vor den Entwicklungen zu kapitulieren, schließlich bezeugt der geschichtliche Wandel, dass wir tatsächlich fähig sind, Antworten auf die Herausforderungen und Krisen unserer Zeit zu geben und diese zu bewältigen. Wird den Herausforderungen nicht aktiv entgegengetreten, regiert die Ohnmacht und die Sinnlosigkeit, nicht die Freiheit und die Selbstbestimmung. Begreifen wir hingegen die geschichtliche Faktizität und gestalten diese aktiv, findet Sinnstiftung statt. Was sinnstiftend ist, ist nur von der Innenperspektive heraus zu ergründen. Deswegen sind wir in globaler Hinsicht gefordert, die verschiedenen kulturellen wie religiösen Sichtweisen in Einklang zu bringen. Um das leisten zu können, ist vom – um Ernst Troeltschs Topos aufzugreifen – Absolutheitsanspruch einer naiven »religiös-ethische[n] Ideen- und Lebenswelt« abzurücken.3 Denn dieser impliziert, dass im Grunde keine andere Position in ihrem Geltungsanspruch ernst genommen werden kann, da die eigene Perspektive an sich absolute Geltung hat. Plurale Welt- und Wertvorstellungen sind mit einem Absolutheitsanspruch nur bedingt in Einklang zu bringen. Die geforderte Öffnung impliziert freilich nicht, dass Kultur und Religion ohne Bedeutung, gar willkürlich sind, sondern nur, dass sich die jeweiligen Sichtweisen für den Diskurs öffnen müssen, um ihre Sicht auch rechtfertigen zu können.4 Erst wenn die eigene Sicht anderen begrifflich zugänglich gemacht wird – wobei die Gesprächsteilnehmer gefordert sind, sich den vielfältigen Perspektiven zu öffnen –, kann ein vernünftiger Dialog um die Sinnhaftigkeit und die Formulierung der Welt- und Wertvorstellungen stattfinden. Die Gestaltung der Welt- und Wertvorstellungen obliegt uns, sie repräsentieren unsere Sicht auf uns und auf die Welt. Daher sind sie, worauf Rudolf Bultmanns Schüler Hans Jonas hinweist, im Sinne einer »Selbsterfahrung des göttlichen Grundes« zu deuten (KGA5 III/1, 359). Die Selbsterfahrung des göttlichen Grundes, unser existentielles Selbstverständnis ist grundlegend dafür, wie wir den Krisen unserer Zeit entgegentreten. Es liegt in der Natur der Sache, dass die gegebenen Antworten nicht absolut sind, schließlich ist die Konkretion der eigenen Bestimmtheit nur im Wandel begreifbar. Daraus folgt nicht, dass Kultur

3 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1912, 144. 4 Zum Begriff der Rechtfertigung vgl. Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2007, bes. Kap. I. 5 Hans Jonas: Kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Dietrich Böhler/Michael Bonghardt/ Holger Burckhart/Christian Wiese/Walter Ch. Zimmerli, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010ff. Vgl. Rudolf Bultmann: »Neues Testament und Mythologie«, in: Hans-Werner Bartsch (Hg.): Kerygma und Mythos I. Ein theologisches Gespräch, Hamburg, 1967, 15–48, hier : 22; vgl. ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, 4 Bde., Tübingen 1933–1965, Bd. 2, 82.

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und Religion keinen Geltungsanspruch erheben können, schließlich sind sie der Grund der Deutung der existentiellen Bestimmung.

2.

Philosophie und Theologie

Theologisches und philosophisches Wissen sind keinesweigs identischer Natur. Beispielhaft ist es nach Tillich der Theologie nicht möglich, physikalische Erkenntnisse zu erfassen. Dies ist allein der Philosophie möglich, sie beschreibt den »Erkenntnisweg zur Wirklichkeit« (ST6 I, 26). Ihr kommt es aber weniger auf die vollständige Beschreibung des Wirklichen an, denn auf die Darstellung der Wesensstruktur. Daher lässt sich von der Philosophie als die »in ontologischen Begriffen« entfaltete »Analyse jener Strukturen des Seins, die wir in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorfinden« (ST I, 28), sprechen. Ihr Anliegen ist es, das Objektive zu beschreiben, sie ist darauf gerichtet, bei der Darstellung der Strukturen des Seins »persönliche, soziale und historische Umstände« auszuschalten (ST I, 30), während die Theologie die Struktur des Seins existential zu fassen sucht. Der Philosoph ist bestrebt, aufzuzeigen, dass »eine Identität oder wenigstens eine Analogie zwischen objektiver und subjektiver Vernunft, zwischen logos der Wirklichkeit als Ganzem und dem logos, der in ihm wirkt, besteht. Der logos ist also gemeinsam. […] Der Ort […] ist reine Vernunft« (ST I, 32). Die Philosophie versucht einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen, der über die Kategorien des Seins Auskunft gibt. Auch wenn sie damit einen objektiven Standpunkt zu formulieren sucht, bleibt sie eine einseitige Wissenschaft, wendet sich doch der Philosoph durch die Hinwendung zum universalen Logos von seiner existentiellen Bestimmtheit ab. Die eigene Geschichte wie die ihn prägende Kultur bindet er nach Tillich nicht mit ein. Damit wird das eigene Selbst vom Bereich des Wissens ausgeschlossen. Ob die Philosophie als jene Wissenschaft, die die Wirklichkeit in ihrer objektiven Struktur beschreibt, und die Theologie, die die Struktur im Ausgang der existentiellen Situation den »Sinn des Seins für uns« begründet, so klar zu trennen sind, mag zu diskutieren sein, allerdings weist Tillich hiermit sehr klar die differenzierte Bezugnahme im Ausgang auf das Sein als Ganzes aus – nämlich den differenten Blick auf das Sein als Objekt wie auf das Sein im Ausgang der existentiellen Bestimmtheit. Während dem Philosophen an der objektiven Bestimmung der Wahrheit gelegen ist, »die allgemein offen und allgemeiner Kritik unterworfen ist«, geht es dem Theologen um die reflexive Durchsichtigkeit der 6 Paul Tillich: Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 31956/31957/1966 (im Folgenden zitiert als ST).

Herausforderungen, Christologie und Theonomie

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eigenen Existenz. Er nimmt sich als Glaubender der »Heilswahrheit in persönlicher Entscheidung« an (ST I, 30). Der existentielle Glaubensvollzug ist äußerlich nicht herzustellen, durch seinen Vollzug ist er aber präsent, auf diese Weise weiß sich der Mensch selbst zu bestimmen. Zwar sind in der Philosophie und der Theologie ganz unterschiedliche Felder miteinander verknüpft, dennoch muss ihre jeweilige Einsicht mittelbar sein. Das heißt, sie dürfen einander nicht wesentlich widersprechen, andernfalls wäre uns die Struktur des Seins unzugänglich. Gleich von welchem Standpunkt aus, muss sich das Sein gleich gültig erschließen. Um zu beantworten, wie die Welt für uns von Bedeutung ist, kann die Frage nach dem Sinn des Seins für uns nicht von der Struktur des Seins abgekoppelt sein. Erst durch deren Bezugnahme erschließt sich der Sinn des Seins für uns, das Sein ist wesentlich dasselbe. »Was uns unbedingt angeht, läßt keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens zu. Es ist ein Gegenstand unendlicher Leidenschaft. Das Wort ›angehen‹ weist auf den ›existentiellen‹ Charakter der religiösen Erfahrung hin […]. Der Gegenstand der Theologie ist das, was uns unbedingt angeht« (ST I, 19f.).

Weil sich die Theologie mit dem befasst, was uns unbedingt angeht, setzt sie nach Tillich »in jedem Satz die Struktur des Seins, seine Kategorien, Gesetze und Begriffe voraus« (ST I, 29). Folglich ist die kulturell-religiöse Selbstbestimmtheit von der Erfahrung nicht abgeschottet, sie ist durch die Tradition vermittelt, zu der sie gehört. Die theologische Einsicht ist von dem nicht abzukoppeln, was uns unbedingt angeht, erklären lässt sie sich aber nur von der eigenen Selbsterfahrung heraus. Die selbstreflexive Bestimmtheit ist wiederum vom Glaubensbegriff nicht zu trennen, sie schließt an den tradierten Inhalt der Kultur an. Existentielle Bestimmtheit ist nicht willkürlich, sondern steht in Bezug zur eigenen Geschichte. Die Selbsterfahrung, die Selbstsicht ist in der Kultur wie in der Religion grundgelegt. Da die Selbstsicht von der kulturell-religiösen Selbstbestimmtheit abhängt, hängt auch unser Verständnis von der Welt und unsere Begründung der (allgemein-)geltenden Normen davon ab. Wir handeln so, wer und wie wir sind. Die existentielle Entscheidung ist der Grund des sich in der Kultur entfaltenden Selbstverständnisses. Ihre inhaltliche Bestimmung ist nichts Abgeleitetes, sie muss schlechthin akzeptiert werden (ST I, 205). Die sich in der Tradition fortschreibende Bestimmtheit entäußert sich in der Geschichte immer wieder aufs Neue. Philosophisch muss die existentielle Bestimmung fassbar sein, schließlich kann Tillich zufolge »[k]eine Philosophie, die dem universalen Logos gehorsam ist, […] im Widerspruch zu dem konkreten Logos stehen, dem Logos, der ›Fleisch geworden ist‹« (ST I, 37).7 Dementsprechend muss die Konkretion 7 Bzgl. des Zusammenhangs erklärt Tillich: »Kein Theologe sollte als Theologe ernst genommen

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Michael Hackl

der existentiellen Entscheidung philosophisch, das heißt rational zugänglich sein. Indem die eigene Position anderen begrifflich vermittelt wird, wird der Grundstein für einen Dialog der Perspektiven gelegt. Der vernünftige Dialog zwischen mehreren Parteien baut darauf, dass die jeweiligen Positionen wechselseitig begründet, zumindest erläutert, und ergründet werden.

3.

Christus als historisches Faktum

Der offene Diskurs muss vernünftiger Natur sein, schließlich stehen Theologie und Philosophie auf demselben Grund, sie berufen sich auf keine »andere Autorität als die der reinen Vernunft« (ST I, 35), wenngleich sich der Philosoph dem universalen Verständnis vom Sein widmet und der Theologe das Sein in der konkreten geschichtlichen Situation zu fassen sucht. Dass der individuelle Zugang wesentlich ist, zeigt sich mitunter daran, dass selbst die Heilige Schrift als Anleitung für die Menschen nichts ist, was von außen auf ihn wirkt. Ihre konkrete Bedeutung erschließt sich dem Gläubigen erst von der Innenperspektive heraus. Schon aufgrund unseres perspektivischen Zugangs zur Welt kann die Theokratie keine geeignete Form der Normsetzung für uns sein, steht doch der Inhalt, die Ausführung des göttlichen Gesetzes als »Richtschnur« für das eigene Leben unweigerlich im Kontext der individuellen Bezugnahme (GW III, 111). Wie sich uns der göttliche Wille erschließt, hängt von der existentiellen Entscheidung ab. Darüber hinauszugehen heißt das Absolute nicht in seiner existentiellen Bestimmtheit, sondern in seiner Objektivität fassen zu wollen, was fern der menschlichen Situation steht und daher nicht dem Anspruch der Theologie gleichkommt. Weil das nicht ihr Anspruch ist, impliziert dieses Theologieverständnis eine Offenheit gegenüber einem inner- wie interreligiösen Dialog, immerhin sind kulturelle wie religiöse Fragen nicht von außen, heißt objektiv zu beantworten. Die Antworten stehen nie fern der individuellen wie geschichtlichen Konkretion. Damit ist die Auffassung, dass das Gesetz Gottes als fremder Kodex für uns Geltung hat, unbefriedigend. Tillich zufolge ist das auch nicht die Intention des Theologen, dieser fasst die kulturelle wie religiöse Bestimmtheit stets im Kontext seiner Existenz und damit im geschichtlichen Wandel. Ob wir vom Glauben ergriffen sind oder nicht, hängt nicht von unserer Willkür ab, der Glaube ist eine Gabe. Weil das Ergriffensein auf einer existentiellen Entscheidung beruht, erhebt sich der ›Fleisch gewordene‹ Logos nicht über den universalen Logos, er drückt lediglich aus, wie sich uns der Sinn des Seins für uns erschließt. werden, selbst wenn er ein großer Christ und ein großer Gelehrter ist, wenn seine Arbeit beweist, daß er die Philosophie nicht ernst nimmt« (GW V, 142).

Herausforderungen, Christologie und Theonomie

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Sonach fällt es der Theologie zu, die »kognitive Funktion der Vernunft unter den Bedingungen der Existenz [zu] beschreiben. Aber eine Beschreibung der existentiellen Konflikte der Vernunft setzt ein Verständnis ihrer ontologischen Struktur voraus. Es ist die polare Struktur der Vernunft, die ihre existentiellen Konflikte möglich macht und sie zur Frage nach der Offenbarung treibt.«

Die Theologie entfaltet nichts Beliebiges, sie schließt an die Vernunft an. Tillich sieht es als zentrale Aufgabe der Systematischen Theologie, das »Sichtbarwerden des Seinsgrundes für die menschliche Erkenntnis« begrifflich zu entfalten und freizulegen (ST I, 114). Der christliche Seinsgrund hat seinen Ursprung in dem, »was Paulus die neue Kreatur nennt« (ST I, 61; vgl. 2 Kor 5,17). Dieses Neue Sein finden wir in Christus. Dabei hat der Glaube an Jesus als dem Christus für den Gläubigen eine konkret normative Bedeutung – doch selbst dieser Anspruch besteht nur im Rückgriff auf die eigene Existenz in der »konkreten geschichtlichen Situation« (ST III, 287). Mit Jesus Christus ist die Verwobenheit des Göttlichen mit dem Menschen ausgesprochen. Christus ist der, der »Gott den Menschen gegenüber repräsentiert. Er repräsentiert nicht den Menschen Gott gegenüber. Er zeigt vielmehr, was Gott wünscht, daß der Mensch sei. Er zeigt denen, die unter den Bedingungen der Existenz leben, was der Mensch essentiell ist und darum sein sollte« (ST II, 103, 106). Diese Bestimmung ist für die eigene Bestimmtheit maßgeblich, gleichwohl der Mensch »die Gründe für das Wirken der Vorsehung Gottes« nicht einsehen und kein absolutes Wissen vom Göttlichen haben kann. Somit bleibt der individuelle Vollzug des Glaubens »fragmentarisch« (ST I, 305). Dennoch ist der Vollzug nicht ohne Bedeutung: In diesem offenbart sich die existentielle Entscheidung. Entsprechend ist die Christologie8 wesentlicher Bestandteil des Glaubens, in ihr kumuliert die religiöse Selbstreflexion. Durch Christus erschließt sich dem Gläubigen, was er essentiell ist und darum sein sollte. Mit Tillich ist festzuhalten, dass wir erst den »Bedingungen der Existenz unterworfen« sind, wenn uns die »wesenhafte Gott-Mensch-Einheit in der Existenz erschienen ist« – es bedarf dazu der aufnehmenden Seite, ansonsten würde man sich Christus nur als einer »historisch und religiös bedeutsamen Person erinnern« und nicht als die »letztgültige Manifestation des Neuen Seins selbst.« Folglich ist die »aufnehmende Seite des christlichen Ereignisses […] von

8 Die Christologie ist, darauf weist Christian Danz in Grundprobleme der Christologie hin, »Ausdruck der Durchsichtigkeit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins für dieses selbst in seinem individuellen Vollzug. Der Glaube als ein reflexiver Akt stellt sich im Christusbild als personales Gottesverhältnis dar« (Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 222).

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Michael Hackl

ebenso großer Bedeutung wie die faktische Seite« (SW II, 108f., 119). Die existentielle Gewissheit ist an das historische Ereignis rückgebunden: »Christus ist kein isoliertes Ereignis im Sinne des ›es war einmal‹, sondern er ist die Macht des Neuen Seins, das in aller vorhergehenden Geschichte seine letztgültige Manifestation in Jesus als dem Christus vorbereitet und in aller folgenden Geschichte aufgenommen und verwirklicht wird« (ST II, 193).

Das christliche Selbstverständnis ist von Christus wie der geschichtlichen Bestimmtheit der Menschwerdung nicht abzukoppeln. Der ausgesprochene Glaubensinhalt ist nichts von außen Bestimmtes, er ist allein von der Innensicht der existentiellen Entscheidung heraus zu entfalten. Die existentielle Deutung ist der Boden allen theonomischen Inhalts (vgl. ST III, 286f.), der Inhalt ergibt sich aus der individuellen Deutung des Faktischen. Theonomie ist etwas, darauf weist Tillich schon an früherer Stelle hin, »individuell-schöpferisch[es]« und sogleich »konkret-geschichtsgeboren[es]« (GW II, 95). Die Theonomie bringt die existentielle Bestimmtheit in Bezug auf die besondere Situation wie »in der Tiefe des kulturellen Bewußtseins im allgemeinen« hervor (ST III, 289, vgl. 287–289; GW XIII, 49). Der theonomische Inhalt ist nichts Abgeschlossenes, stellt sich doch nach Tillich die Reflexion auf das Faktische in der konkret geschichtlichen Situation unterschiedlich dar. Die theologischen Bestimmungen hängen, wie es Gary Dorrien pointiert, von der »analysis of human situation« ab.9

4.

Theonomie und Dialog

Die auf der analysis of human situation gründende theologische Bestimmung ist für den Menschen insofern normativ von Bedeutung, als dass damit zum Ausdruck gebracht wird, wie sich der Mensch in der Welt sieht. Wie sich ihm die Welt erschließt, so tritt er der Welt und seinen Mitmenschen entgegen, seine Selbstbestimmung ist maßgeblich für seine, um Hegels Worte aufzugreifen, Haltung gegen die Welt an Gott. Man erfährt sich im Sein und im Handeln. Die Entfaltung ist stets in eine konkrete geschichtliche Situation eingebettet, weshalb mit Christian Danz festzuhalten ist, dass Tillich die »normative Dimension des 9 Vgl. dazu die Ausführungen von Gary Dorrien: »In Systematic Theology Tillich offered a method correlation between the existential questions raised in the modern cultural situation and the answers contained in the symbols of the Christian message. Christianity has true answers to the questions raised by modern inquiry, Tillich affirmed, but the agenda for theology is shaped by human questioning and striving, not by the answers. Because relevance is important, and because theology is inherently contextual, the work of theology must begin with an analysis of human situation« (Gary Dorrien: The Making of American Liberal Theology, 3 Bde., Louiseville/London 2001–2006, Bd. 2, 500).

Herausforderungen, Christologie und Theonomie

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Geistes von vornherein mit der geschichtlichen Realisierung in wandelbaren geschichtlichen Formen« verknüpft.10 Die Selbstsicht ist stets in einen geschichtlichen wie kulturellen Horizont miteinbezogen. Für den gläubigen Christen ist die existentielle Bestimmtheit an Jesus Christus rückgebunden.11 Christ zu sein impliziert damit einen grundsätzlichen Bezug auf die Christologie. Christus ist die Macht des Neuen Seins, »das in aller vorhergehenden Geschichte […] vorbereitet und in aller folgenden Geschichte aufgenommen und verwirklicht wird« (ST II, 193). Nach Notger Slenczka ist Jesus Christus für den Christen »Grund und Ursprung einer unverfügbaren Neubestimmung seines Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses.«12 Da Christus für die Selbstbeschreibung des gläubigen Christen wesentlich ist, ist er es auch für diejenigen, die die christliche Perspektive in ihrem Wesen nachzuvollziehen suchen. Ohne der existentiellen Bestimmtheit Ausdruck zu verleihen, kann diese nicht vermittelt werden. Entscheidend für das Verständnis der Theologie ist, dass der universale Logos nicht im Widerspruch zum Logos der ›Fleisch geworden ist‹ steht. Somit darf ihr das philosophische, das ontologische Wissen nicht vollkommen entzogen sein, sie knüpft daran an. Die Systematische Theologie steht damit keineswegs fern des Wissens, ihr Anliegen ist es, die Struktur des Seins existential zu bestimmen. »Da Theologie theonome Philosophie ist, so ist sie geschichtlich und grundsätzlich das Prius der Wissenschaft, nicht umgekehrt. Theonom ist sie, weil ihr radikales Fragen aus einer Begegnung hervorwächst, sie sich als unzugänglich für gegenständliche Erkenntnis erweist, und die sich doch zugleich unter die radikale Frage stellt. Aber diese tiefe Dialektik des theologischen Denkens ist nicht mehr eine Dialektik zwischen Religion und Wissenschaft, sondern sie ist die wesensbegründende Dialektik sowohl der Religion als auch der Philosophie und der Punkt, worin beide eins sind« (GW IV, 38).

Theonomische Bestimmungen stehen der Vernunft nicht entgegen, schließlich ist die »theonome Ethik im vollen Sinne des Wortes eine Ethik, in der unter der Einwirkung des göttlichen Geistes die religiöse Substanz […] sich im unabhängigen, freien Forschen zeigt« (ST III, 307). Dieses freie Forschen entspricht einer autonomen Ethik. Autonomie heißt hier freilich nicht, sich der Autorität der reinen Vernunft zu entziehen, sondern auf deren Boden zu stehen. Auf diese Weise steht das »Gottes Gesetz in Einklang mit der eigentlichen Natur des 10 Christian Danz: »Ethik des ›Reiches Gottes‹«, in: International Yearbook for Tillich Research 10(1) (2015), 1–18, hier : 12. 11 Diese Thematik ist von der Sinnfrage nicht abgekoppelt. Zur Christologie und zur Sinndeutung der Geschichte vgl. Christan Danz: Glaube und Geschichte. Die Christologie Paul Tillichs und die neuere Jesus-Forschung, in: International Yearbook for Tillich Research 6(1) (2011), 121–141, bes. 131–137. 12 Notger Slenczka: »Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins«, in: Jens Schröter (Hg.): Jesus Christus, Tübingen 2014, 181–241, hier : 233.

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Menschen […], die ihm nun als Forderung begegnet« (GW XI, 192). Autonomie heißt nicht, der Willkür Vorschub zu leisten, ihr geht es ganz konkret um den »Gehorsam des Individuums gegenüber dem Vernunftgesetz« (ST I, 102f.). Dem steht die Heteronomie entgegen, denn sie ist es, die von außen Forderungen an uns stellt. Die Theonomie wiederum vereint beide Seiten: Sie ist um eine Mitte bedacht (ST I, 175, 104f., 175f., III, 287) und darf daher als »Synthese der beiden anderen« verstanden werden (GW XII, 49).13 Theonomie heißt gemäß der Autonomie den Strukturgesetzen des Seins zu folgen. »Weil Gott (theos) das Gesetz (nomos) sowohl für die Struktur wie den Grund der Vernunft ist, deshalb sind sie in ihm eins, und ihre Einheit manifestiert sich in einer theonomen Situation. Aber es gibt unter den Bedingungen der Existenz keine vollständige Theonomie. Beide Elemente, die essentiell in der Theonomie verbunden sind, kämpfen unter den Bedingungen der Existenz gegeneinander und suchen sich gegenseitig zu zerstören« (ST I, 103).14

Es mag für Tillich Zeiten geben, in denen sich das Theonomische klarer entfaltet hat als in anderen, das heißt aber nicht, dass diese Zeiten »moralisch besser, geistig tiefer oder in radikalerer Weise auf den letzten Sinn gerichtet waren«, sondern nur, dass jene Zeiten die »Tiefe der Vernunft« stärker im Zentrum ihres Bewusstseins hatten (ST I, 176). Somit sind die moralisch ›besseren‹ Antworten keineswegs per se theonomisch. Die Theonomie ist bezogen auf die letztgültige Offenbarung, jedoch eingebettet in die konkret geschichtliche Situation: Mittelbar ist die christliche Perspektive nur durch die Christologie. Der Inhalt der Theonomie ist an die existentielle Entscheidung rückgebunden, womit dieser stets geschichtlich bedingt ist. Das steht nicht in Differenz zu unserem Bezug zu Jesus Christus, denn auch unser Christologieverständnis wandelt sich und bestimmt sich im Fortschritt der Geschichte. Christus ist und bleibt das Leitende. Damit sich das christliche Selbstverständnis in einer kulturell ineinandergreifenden Welt nicht verliert, sondern mittelbar ist, muss es anderen kommunikativ zugänglich gemacht werden. Ansonsten verliert es sich in der kulturellen Besonderheit, weil die Perspektive für Außenstehende unzugänglich ist und 13 Die theonome Ethik ist somit weder von der Ontologie noch von dem sich uns erschließenden Wissen um Christus zu trennen. Der Anspruch ist es, »Gottes Gesetz in Einklang mit der eigentlichen Natur des Menschen« zu bringen, was sowohl die »Richtigkeit der ontologischen Grundlagen« voraussetzt als auch ein Wissen um die eigene Existenz in einer kulturell geprägten Lebenswelt (GW XI, 192). Vgl. ebenso Werner Schüßler: »Die Vernunft und die Frage nach der Offenbarung (I 87–127)«, in: Christian Danz (Hg.): Paul Tillichs ›Systematische Theologie‹. Ein werks- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin/Boston 2017, 35–65, bes. 50f. 14 Hierauf ist Friedrich Wilhelm Grafs Hinweis zu beziehen, dass mit der »Auslegung von Theonomie als Autonomie […] eine kritische Selbstbegrenzung des Bewußtseins von Autonomie wahrgenommen werden« soll (Friedrich Wilhelm Graf: Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987, 232).

Herausforderungen, Christologie und Theonomie

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ihnen dementsprechend fremd bleibt. Ohne offenen Dialog wird die eigene existentielle Situation im interkulturellen wie interreligiösen Dialog kein Gehör finden, sie bleibt stumm. Der geforderte Austausch strebt danach, die existentielle Bestimmtheit in ihrer Eigenheit zu wahren ohne sie über eine andere Perspektive prinzipiell zu erhöhen. Damit der vernünftige Diskurs Brücken zwischen den kulturellen und religiösen Gesellschaften bauen und allgemeine Normen formulieren kann, ist es nach Karl-Otto Apel nicht mit der bloßen Anerkennung des »Pluralismus besonderer Kulturtraditionen« getan, es bedarf des offenen Austausches ihrer Perspektiven. »Die universelle Norm muß […] sogar der Respektierung des Pluralismus der verschiedenen Kulturwerte und ihrer normative Ansprüche Grenzen setzen. Denn die universelle Gültigkeit der Norm der Gerechtigkeit – hier : der Gleichberechtigung der verschiedenen Kulturtraditionen – ist eine Bedingung der Möglichkeit für die Koexistenz und die Kooperation der verschiedenen Kulturen angesichts gemeinsamer Mehrheitsprobleme.«15

Mittels des Diskurses werden die kulturellen wie religiösen Positionen einander nicht nur näher gebracht, sie werden in ihrem Gehalt tatsächlich ernst genommen. Denn dank dem geforderten vernünftigen Dialog ist es prinzipiell möglich, intersubjektiv geltende Normen in der konkret geschichtlichen Situation zu formulieren, die nicht fern von Kultur und Religion stehen, sondern deren Eigenheiten aufgreifen und diese selbst in einer pluralistischen Gesellschaft bewahren. Der freie und vernünftige Diskurs zwischen Kulturen und Religionen ist das Fundament einer Theonomie der Zukunft.

15 Karl-Otto Apel: Transzendentale Reflexion und Geschichte, hg. v. Smail Rapic, Berlin 2017, 258.

Harald Matern

Christus, das Individuum. Postliberales Denken und soziale Interaktion

1.

Einleitung

Folgt man Intellektuellendiskursen der vergangenen 15–20 Jahre, dann leben wir in einer Zeit der Krisen. Nicht allein deshalb, weil Krisendiagnosen spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die westlich-modernen Selbstverständigungsdebatten aufs Tiefste prägen: Das atomare Wettrüsten und die doomsday machine, die ökologische Krise und der Club of Rome, der Klimawandel und der Weltuntergang, das Ende der Geschichte oder der Untergang der Demokratie, die Krise der Finanzmärkte und der Tod der ›unsichtbaren Hand‹ – all dies sind Krisendiskurse, denen es um das bessere Verständnis der globalen Situierung der westlichen Demokratien geht und die Handlungsappelle in alle Richtungen aussenden. In einer solchen Situation des (imaginierten oder realen) permanenten Ausnahmezustands wird beständig neu um die grundlegende Struktur unserer sozialen Ordnungen gerungen. Die Theologie ist nicht nur deshalb zur Beteiligung an diesen Debatten aufgefordert, weil sie in der Lage ist, deren häufig religiös imprägnierte Semantiken aufzuschlüsseln. Sie ist es auch deshalb, weil sie als Reflexionskultur des Christentums in einem wesentlichen Punkt per se schon in diesen Krisendiskursen verfangen ist: Das Christentum wird gerne etwa als Schuldiges in den ökologischen Debatten auf die Anklagebank gesetzt. Ohne den biblischen Herrschaftsauftrag, so geht das Narrativ, wäre es nie zu jener Entwicklung gekommen, die die Unterjochung der Natur unter das humane Subjekt zum Resultat hätte.1 Dagegengehalten wird dann theologischerseits mit Appellen zur »Bewahrung der Schöpfung«,2 die mittlerweile auch in nicht-theologische Diskurse eingesickert sind, oder mit einem »ökolo-

1 Vgl. nur die ›Erfindung‹ dieses Diskurses bei Lynn Jr. White: »The Historical Roots of our Ecological Crisis«, in: Science 155 (3767) (1967), 1203–1207. 2 Vgl. nur Friedrich Wilhelm Graf: »Von der creatio ex nihilo zur ›Bewahrung der Schöpfung‹. Dogmatische Erwägungen zur Frage nach einer möglichen ethischen Relevanz der Schöpfungslehre«, in: ZThK 87 (1990), 206–233.

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Harald Matern

gischen Jesus«,3 der als Vorbild und Lehrer ein (wiederentdecktes) ganzheitliches Denken repräsentiere. Wenn wir eine Ebene tiefer blicken, nicht auf den Anwendungs-, sondern auf den Entstehungs- und Begründungszusammenhang westlich-moderner Denkund Praxisformen, dann sticht ein weiterer Punkt ins Auge. Dort, wo die ›europäische Kultur‹ oder das westlich-moderne rechtsstaatliche Selbstverständnis insgesamt verhandelt werden, wird von Befürwortern wie Kritikern ebenfalls häufig auf die christliche Tradition gezeigt. In einer Hinsicht stellt sich das Christentum dann als Brunnenstube westlich-liberaler Gesellschaftsordnungen dar. In den theologischen Ausläufern des Kulturprotestantismus wie auch bei nichttheologischen Intellektuellen wird gerne darauf verwiesen, dass westlichmoderne Grundgedanken wie die Menschenwürde oder die bürgerlichen Freiheitsrechte nicht ohne das Christentum gedacht werden könnten. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen wird dann z. B. als Äquivalent des vernunftrechtlichen Würdegedankens der Aufklärung zitiert. Aber jüngste Beiträge zu diesem Diskurs gehen noch einen Schritt weiter – und knüpfen damit an zentrale Gedanken der modernen Theologie an. Denn zusätzlich zu der Vorstellung eines Repräsentationsverhältnisses zwischen Göttlichem und Menschen wird – besonders prominent in jüngster Zeit bei dem Oxforder Historiker Larry Siedentop4 – darauf verwiesen, dass genau dieser Gedanke seine rechtlich prägende Kraft erst dadurch entfalten konnte, dass in der Christologie, die Vorstellung einer nicht nur grundsätzlichen, sondern sogar letztgültigen Veranschaulichung Gottes in einem bestimmten historischen Individuum aufbewahrt wird. Hier ist die Figur des Christus das Paradigma human-individueller Handlungssubjektivität – in einem normativen Sinn. Dass überhaupt die Förderung und der Schutz individueller Personalität für wertvoll gehalten werden, hat sehr wesentlich damit zu tun, dass Gott (auch) als historisch individueller Mensch gedacht oder vorgestellt wird. Gegen diese westlich-moderne Meistererzählung wird allerdings von verschiedenen Seiten Einspruch erhoben. Neben die nahezu klassisch gewordenen politischen Kritiken am Christentum als einer Herrschaftsideologie5 treten die postmoderne Kritik an der Konzeption einer einheitlichen, quasi absoluten 3 Vgl. Franz Alt: Der ökologische Jesus. Vertrauen in die Schöpfung, München 1999. 4 Vgl. Larry Siedentop: Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism, Harvard 2014. Vgl. ähnlich Volker Gerhardt: »Die Religion der Individualität«, in: Richard Schröder/ Johannes Zachhuber (Hg.): Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden, Münster u. a. 2003, 15–34. 5 Vgl. Anton Grabner-Haider/Klaus S. Davidowicz/Karl Prenner: Kulturgeschichtes des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 62–64; prominent: Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, bes. Bd. 9: Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts. Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zum Beginn der Aufklärung, Reinbek 2008; Bd. 10: 18. Jahrhundert und Ausblick auf die Folgezeit. Könige von Gottes Gnaden und Niedergang des Papsttums, Reinbek 2013.

Christus, das Individuum

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Subjektivität und, in deren Gefolge, ein theologischer Postliberalismus, der im westlich-modernen ›Individualismus‹ den Kern aller Übel der westlichen Moderne entdeckt. Nicht die Achtung und rechtliche Sicherstellung individueller Differenzen, so die Kritik, seien dessen Resultate, sondern sozialer Atomismus und Indifferenz, die beide daher stammten, dass im Hintergrund moderner ›liberaler‹ Theologien eine »Ontologie der Gewalt«6 laure, die im letzten Sinne aus einer mangelhaften Christologie stammt. Die Christologie, so kann man folgern, ist der wesentliche Referenzrahmen, innerhalb dessen theologisch die Krise des modernen Individuums verhandelt werden muss. Sie steht gleichermaßen für die Affirmation wie die Kritik westlich-modernen Individualitätsdenkens. Damit hat sie auch fundamentalethische Relevanz. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass die Schlussreihe Christologie – Individualität – Individualismus auf einem Missverständnis beruht. Im Hintergrund steht dabei eine Vermutung begrifflicher Natur : Humane Individualität im theologischen Sinn ist gerade keine Konzeption isolierter Vereinzelung. Wenn ein spezifischer Begriff individueller Personalität, wie er in der modernen deutschsprachigen Theologie gerade in Auseinandersetzung mit der Christologie entwickelt worden ist, dem ethischen Argument zugrunde gelegt wird,7 dann wird das normative Resultat auf symmetrische Strukturen der Interaktion abzielen, in denen dennoch die wechselseitige Anerkennung von Differenz gewährleistet sein soll.8 Auf diese Weise ist, wenigstens argumentativ, kein sozialer Atomismus möglich. Dafür muss allerdings die Christologie in ethischer Perspektive konsequent im Blick auf eine Theorie humaner Individualität und sozialer Interaktion weiterentwickelt werden. Um dies zu tun, verfahre ich im Folgenden dreischrittig. Zunächst werde ich die Individualitätskritik, wie sie im Rahmen des theologischen Postliberalismus entwickelt worden ist, anhand von drei Beispielen skizzieren. Darauf folgend nehme ich Bezug auf die Christologien dreier prominenter Vertreter der modernen, deutschsprachigen, protestantischen Theologie, um diese abschließend in ethischer Perspektive auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten für eine christologisch inspirierte Ethik der Individualität zu befragen. 6 Vgl. John Milbank: Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, London 22005 (1990); ders.: Beyond Secular Order. The Representation of Being and The Representation of the People, London 2014. 7 Vgl. Georg Pfleiderer : »Protestantische Individualitätsreligion?«, in: Wilhelm Gräb/Lars Charbonnier (Hg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, 372–404. 8 Vgl. Falk Wagner : »Religion und die Zweideutigkeit der modernen Individualitätskultur«, in: Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.): Gott im Selbstbewusstsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 140–151; Jörg Dierken: »Riskiertes Selbstsein. Innere Transzendenz des Individuellen« (2012), in: ders.: Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014, 190–203.

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2.

Harald Matern

Die Individualitätskritik des theologischen Postliberalismus

Der theologische Postliberalismus ist, ebenso wie die selbsternannte ›Radical Orthodoxy‹, ein Krisenphänomen. Er reagiert auf die ›Krise des Subjekts‹ gleichermaßen wie auf den Eindruck sozialer Krisen, die mit dem politischen NeoLiberalismus in Verbindung gebracht werden. Damit wollen die Vertreter dieser Bewegung zugleich einer Krise der Theologie begegnen, die sie, wie die frühe dialektische Theologie, mit der Diagnose eines Scheiterns des theologischen Liberalismus verbinden. Theologischer Postliberalismus ist, in dieser Zuspitzung, der Versuch dem liberalen Metanarrativ auf unterschiedlichen Ebenen eine andere, neue Meistererzählung entgegenzustellen. Woraus sich diese speist und wie sie mit der Christologie zusammenhängt, möchte ich im Folgenden mit einem kurzen Blick auf drei ihrer Protagonisten zeigen. Das vielleicht bekannteste Werk des theologischen Postliberalismus ist George Lindbecks The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age.9 Lindbecks Anliegen ist es, vor dem Hintergrund der Anthropologie Clifford Geertz’ und der Religionstheorie Peter Bergers und Thomas Luckmanns sowie unter Zuhilfenahme der Philosophie Ludwig Wittgensteins eine Grundlage, gleichsam Prolegomena, für eine komparative Dogmatik zu schaffen. Der Gestus ist dabei betont antimodern:10 Gegen jeden Versuch, Religion in rationale Allgemeinbegriffe zu übersetzen, stellt er ein kulturell-linguistisches Verständnis von Religion auf. Dieses zielt auf die nicht auflösbare Differenz religiöser Narrative, die nicht einfach ineinander übersetzbar seien. Religiöse Kulturen sind durch autonome, voneinander unabhängige sprachliche Symbolsysteme geprägt. Für das Christentum gilt, dass die kirchlich-gemeinschaftliche Rezeption der biblischen Narrative als Korrelat der innertrinitarischen Gemeinschaft Gottes zu verstehen ist. Kirchliche Verkündigung und die Kommunikation des Glaubens innerhalb der Gemeinden sind die symbolische Inkraftsetzung der göttlichen Wahrheit.11 Während dieser differenztheoretische Zugriff zwar die Betonung der Eigenständigkeit individueller Glaubensarten bzw. religiöser Symbolsysteme zum Ziel hat, bilden dennoch die biblischen Narrative den durch keine externe Instanz korrigierbaren Rahmen, innerhalb dessen die Selbstdeutung des Glaubens das Selbstverständnis des einzelnen prägt. Lindbeck wendet seine kulturanalytischen Referenzgrößen ins Normative um. Die symbolischen Narrative werden 9 George Lindbeck: The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age, Westminster 1984. 10 Vgl. George Hunsinger: Cambridge Companion to Postmodern Theology, Cambridge 2003, 57. 11 Vgl. Chad C. Pecknold: Transforming Postliberal Theology. George Lindbeck, Pragmatism and Scripture. London 2005, 101, 104.

Christus, das Individuum

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dadurch zu einer mehr oder weniger vorgegebenen Realität, in die die Individuen sich hinein-, aus der sie sich aber kaum hinausentwickeln können. Die ethischen Konsequenzen einer solchen Konzeption von Theologie lassen sich am Werk eines weiteren Protagonisten der postliberalen, narrativen Theologie ablesen. Stanley Hauerwas (*1940) vertritt ebenfalls eine Position, die die kirchliche Liturgie und Verkündigung als narrative Formung christlicher Identität versteht. Man könnte Hauerwas’ Position als ethische Wendung des Postliberalismus verstehen. Auch er wendet sich gegen den ›westlichen Individualismus‹, dessen Genese er ausführlich analysiert. Und auch er setzt diesem ein eher kollektivistisch zu nennendes Modell entgegen, das er gerne und häufig in einer Kritik an Paul Tillichs vermeintlich existentialistischer Theologie entwickelt.12 Dabei ist es die Dialektik oder die Kehrseite, des von Hauerwas so genannten Individualismus, die ihm ein Dorn im Auge ist. Die »supreme liberal irony« bestehe in der Tatsache, dass der »individualism, in an effort to secure societal cooperation and justice, must deny individual differences«.13 Genau dieser Dialektik will Hauerwas mit einem relational strukturierten Konzept von Individualität begegnen, das allerdings die konstitutiven Relationen, in denen sich menschliche Individualität ausbildet, für so wichtig hält, dass Individualität nahezu als deren Epiphänomen erscheint. Am deutlichsten wird die begründungstheoretische und ethische Problematik des theologischen Postliberalismus aber wohl im Werk des gegenwärtig intensiv diskutierten John Milbank. Hier wird auch zugleich der Bezug zu unserem christologischen Thema noch deutlicher. Milbanks erklärtes Ziel ist es, eine Metaphysik einer nicht-gewaltvollen Schöpfung zu entwickeln – in der Hoffnung, eine Gegenontologie zu der im christlichen wie im nichtchristlichen Diskurs tief verankerten Metaphysik der Gewalt14 bereitstellen zu können. Die genannte Metaphysik der Gewalt – ein Mythos, wie Milbank betont – ist, seiner Interpretation nach, das Herz derjenigen denkerischen Strömungen, die wir üblicherweise mit den Titeln ›Liberalismus‹ und ›Modernität‹ behaften. Das Prinzip dieser Metaphysik der Gewalt ist der Gedanke der Autonomie. Wer, so Milbank, autonome Subjekte oder auch Substanzen zum Erklärungsprinzip der Wirklichkeit erhebt, für den sind gewaltvolle Konflikte nicht nur vorprogrammiert, sondern im Grunde auch not12 Vgl. nur Stanley Hauerwas/William Willimon: Resident Aliens. Life in the Christian Colony (1989), Expanded 25th Anniversary Edition, Nahsville 2014 sowie Stanley Hauerwas/William Willi: Preaching to Strangers. Evangelism in Today’s World, Westminster 1992. 13 Stanley Hauerwas: A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame/London 1981, 83. 14 Vgl. Stanley Hauerwas: Wilderness Wanderings. Probing Twentieth Century Theology and Philosophy, Boulder 1997, 189f.

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wendig. Das Christentum wird aus dieser Perspektive zu einer antimodernen Gegenerzählung: »Christianity is unique in refusing ultimate reality to all conflictual phenomena«.15 Zentraler dogmatischer Ausdruck dieser gewaltfreien Metaphysik ist die Figur des Christus. Christus steht für die Überwindung des ontologischen Grundkonflikts in einer Person. Allerdings, so Milbank, ist noch einige Arbeit zu tun. Um diesen Frieden auch weltweit zu verbreiten und damit einen genuin christlichen Beitrag zu einer friedlichen Reformation sozialer Ordnung zu leisten, ist die Etablierung einer Alternativgesellschaft vonnöten, in der diese Ordnung bereits Wirklichkeit wird. »In Christ peace has not, indeed, been totally achieved (a building remains to be built) yet it is proleptically given, because only the perfect saving of one man from the absolute destruction of death, this refusal of the loss of any difference, can initially spell out to us perfect peace.«16 Interessant ist dabei Milbanks Interpretation des Todes: Dieser bedeutet den Verlust jeglicher Differenz und Individualität. Christus steht folglich für eine Art Gegenkonzeption der Individualität, die die Bejahung von Differenzen konfliktfrei ermöglichen soll. Die Lehre von der Kirche wird in der Folge bei Milbank zu einer normativen Theorie sozialer Ordnung, in der die symbolische Kommunikation über Christus zur Grundlage der Realisierung eines friedlichen Gemeinwesens in der Welt wird. So weit, so gut. Allerdings lässt sich m. E. zu Recht fragen, ob in dieser Zuspitzung der Ekklesiologie nicht ein zentraler Gedanke des Christentums, der namentlich mit der Christologie in Verbindung steht, verloren geht. Milbank – und mit ihm besonders auch Stanley Hauerwas – verlässt nämlich den Rahmen einer Theorie symbolischer Kommunikation. Die christologischen Aussagen und die an diese anknüpfende Verkündigung sind Narrative, die nicht weiter reflexiv gebrochen werden. Vielmehr gewinnen sie ihren normativen Charakter allererst dadurch, dass das Narrativ nicht als Inszenierung sondern als Inkraftsetzung jener behaupteten Ontologie des Friedens gemeint wird. Hier geht mit einem biblischen ein ekklesiologisch-ethischer Realismus Hand in Hand. Das verdeutlicht das folgende Zitat: »If we are to say ›salvation is a fact,‹ ›salvation has appeared on the historical stage,‹ then we have to enunciate, not just an ecclesiology, but also an ecclesiology which recounts and resumes the church’s actual, concrete intervention in the human social order, where the rules of ›non-interference‹ have not really applied«.17

Hier wird eines der Anliegen eingezogen, das für die kontinentaleuropäische Theologie nach Kant von massiver Bedeutung blieb: Der Aufbau einer reflexiven 15 Vgl. J. Milbank: Theology and Social Theory, 261f. 16 John Milbank: »Enclaves, or Where is the Church?«, in: New Blackfriars 73 (June 1992), 348. 17 John Milbank: »An Essay Against Secular Order«, in: Journal of Religious Ethics 15(2) (1987), 199–224, hier : 207.

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Distanz, die die Theologie als Unterscheidungslehre, namentlich von Theologie und Religion, gestalten ließ. Während es sicher nicht zu leugnen ist, dass das Christentum in irgendeiner Weise auch praktisch an der Gestaltung sozialer Ordnung partizipieren soll, so stellt sich dennoch die Frage, ob dies in der beschriebenen, direkten Weise aus den biblischen Texten abzuleiten ist – oder überhaupt abgeleitet werden sollte. Die Rückbindung dieser Christologie des Friedens an die behauptete Faktizität der Erlösung in dem Individuum Jesus von Nazareth führt folglich zu einer Ethik, die die Kirche in direkter historischer Kontinuität zu dieser Realisierung des Heilsgeschehens sieht. Milbanks Ziel ist es nun, eine solche Ekklesiologie zu entwerfen, in der Identität und Differenz miteinander versöhnt sind. Die Kirche ist diejenige Gemeinschaft, in der das Bewusstsein für die eigene wie die Sündhaftigkeit aller zu einer Anerkennungspraxis führt, in der Versöhnung als Praxis des Friedens die Grundlage sozialer Interaktion bildet: »Given the persistence of the sin of others, (as well as our own sinfulness, which we cannot all at once overcome, but remains alien to our better desires) there is only one way to respond to them which would not itself be sinful and domineering, and that is to anticipate heaven, and act as if their sin was not there, by offering reconciliation.«18

Gerade aufgrund ihres Realismus’ werden die Narrative, die das Selbstverständnis der einzelnen prägen sollen, zu einer unhintergehbaren Realität. Eine reflexive Brechung der Kommunikation, der Hinweis darauf, dass auch die biblischen Texte in keiner Weise mit historischen Tatsachenberichten gleichzusetzen sind, ist gerade das Gegenteil des Anliegens Milbanks. Eine solche reflexive Brechung auch der Christologie würde seine Theologie ›liberalisieren‹, dem perhorreszierten Universalismus und den damit einhergehenden Absolutheitsansprüchen der ›Liberalen‹ Tür und Tor öffnen: »The liberal, despite his or her claims of openness, is really quite imperialistic in insisting that all religions be evaluated on the basis of some allegedly universal criteria.«19 Durch diese Bestimmung der kirchlichen Narrative als Inkraftsetzung einer ihnen vorausliegenden Ontologie kommt es folglich nicht in erster Linie zu einer Anerkenntnis der Unhintergehbarkeit der Individualität der Glaubenden, sondern faktisch zu einer narrativen Überformung des jeweiligen Selbstverständnisses. Offenbar ist eines der ethischen Grundprobleme, die für diese theologische Liberalismuskritik kennzeichnend sind, die mangelnde Unterscheidung zwischen historischer Faktizität und literarischer Deutung. Gleichwohl ist das Anliegen, die Widerständigkeit der biblischen Texte zu behaupten und nicht 18 J. Milbank: Theology and Social Theory, 410. 19 William H. Willimon/Answering Pilate: »Truth and the Postliberal Church«, in: Christian Century (28th January 1987), 82–85, hier: 82.

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sogleich in uns geläufige Denk- und Sprechweisen aufzulösen, durchaus berechtigt. Allerdings muss das Resultat einer solchen Konzeption nicht zwangsläufig darauf hinauslaufen, einen ›biblischen Realismus‹ einem bloß deutungstheoretisch agierenden dogmatischen Liberalismus entgegenzusetzen. Tatsächlich lassen sich Ansätze zu einer vermittelnden Methodik auch in den Ansätzen der Milbank folgenden ›Radical Orthodoxy‹ finden. Im programmatischen Sammelband dieser Bewegung konzentriert Graham Ward seinen christologischen Beitrag auf die Frage nach der »nature of corporeality in Christ«.20 Das Ziel ist es dabei, unser Verständnis von individueller Leiblichkeit im Blick auf die biblischen Texte zu informieren und zu verändern. Ward reagiert dabei in direkter Weise auf feministische Kritiken an einem ›männlichen Erlöser‹. Unter Berufung auf den eschatologischen Charakter der neutestamentlichen Aussagen (»The materiality of this human body is eschatologically informed«21) entwickelt er eine Konzeption von Leiblichkeit, die gerade an den klassischen auch christologisch aufgearbeiteten Stationen Inkarnation, Leid, Tod und Auferstehung ablesen lasse. »The body of Christ keeps absenting itself from the text. Where does it go to? What the body is replaced by is the witness of the Church.«22 Was sich anfänglich als durchaus vielversprechender Ansatz liest, symbolische Ressourcen für alternative Konzepte individueller Leiblichkeit in den biblischen Texten aufzusuchen und für den gegenwärtigen Diskurs fruchtbar zu machen, wird letztlich zu einer metaphysischen Aufladung der kirchlichen Verkündigung. Die ethischen Konsequenzen dieses Schwenks wurden bereits oben beschrieben – und es ließen sich weitere Beispiele aufführen, etwa im Blick auf Milbanks jüngeres Pamphlet unter dem Titel Against Human Rights,23 in dem wir ganz ähnliche Gedanken finden wie weiter oben: Der Gedanke der Menschenrechte wurde letztlich vor einem konzeptuellen Hintergrund ausgeführt, der es nicht erlaubt, ›Rechte‹ unabhängig vom Subjektivitätsgedanken zuzusprechen. Damit aber steht der menschenrechtliche Universalismus letztlich in einer kolonialen Tradition, der ein grundlegendes Differenzdenken nicht anders denn hierarchisch fassen kann. Wie auch immer diese Form neuen/alten Einheitsdenkens’ im Einzelnen ausbuchstabiert wird: Deutlich sollte geworden sein, dass diejenigen Ambivalenzen, die die postliberalen Theologinnen und Theologen, dem theologischen 20 Graham Ward: »Bodies. The Displaced Body of Jesus Christ«, in: John Milbank/Catherine Pickstock/Graham Ward (Hg.): Radical Orthodoxy. A New Theology, London/New York 1999, 163–181, hier : 163. 21 G. Ward: Bodies, 164. 22 G. Ward: Bodies, 174. 23 Vgl. John Milbank: »Against Human Rights. Liberty in the Western Tradition«, in: Oxford Journal of Law and Religion 1(1) (2012), 203–234.

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Liberalismus vorwerfen, in veränderter Gestalt, aber strukturell analog bei diesen wiederkehren. Wo auf der einen Seite die Gefahr eines individualistischen Atomismus besteht, dort ist auf der anderen Seite eine kollektivistische Überformung der einzelnen zu befürchten. Wie lässt sich christologisch auf diese ethische Anfrage und Problemstellung antworten? Ich werde für eine Antwort auf drei Beispiele aus der deutschsprachigen protestantischen Tradition zurückgreifen um diese dann abschließend in eine Skizze einer christologisch inspirierten Ethik der Individualität zu überführen.

3.

Christologie, Individualität und soziale Interaktion

Für die Christologien der modernen deutschsprachigen protestantischen Theologie ist das Auseinandertreten von historischer Jesulogie und dogmatischer Christologie24 von fundamentaler Bedeutung. Die dogmatische Christologie löst sich – ganz besonders in Folge der Untersuchungen Albert Schweitzers – ab von der Frage nach dem ›historischen Jesus‹ – auch deshalb, weil, je länger je mehr, die Aporien einer Verbindung beider Fragestellungen zutage treten. Gleichwohl stellen sie den paradigmatischen Rahmen dar, innerhalb dessen ein theologisches Individualitätsdenken formuliert werden kann, das beide skizzierte ethisch problematische Formen gerade vermeidet. Hierin besteht der produktive Beitrag der Christologie zum Individualitätsdiskurs der Moderne – der in neo- oder radikalorthodoxen Formatierungen dieses Lehrstücks jedenfalls tendenziell wieder unterlaufen wird. Der Grund dafür, das wird im Folgenden deutlich werden, ist die Ersetzung eines differenzgeleiteten Denkens humaner Individualität durch eher abstrakte Konzeptionen der Einheit. Mit einer Fortführung des liberalprotestantischen Individualitätsdiskurses im Rahmen der Christologie ist demgegenüber eine Wiedererschließung der Potentiale der Jesulogie (und damit des vere homo) verbunden. Der Gründervater des Neuprotestantismus, Friedrich Schleiermacher, versuchte in gewisser Weise beide Fragen, die jesulogische wie die christologische, noch zu verbinden. Einerseits wird in seinem Systematischen Hauptwerk, dem »Christlichen Glauben« die Christologie vor dem Hintergrund einer Theorie der Frömmigkeit entfaltet. Das religiöse Bewusstsein, die Frömmigkeit, oder auch das Gottesbewusstsein, ist durch das Bewusstsein der Sünde stets »gehemmt«. Nur in Christus ist die »Kräftigkeit des Gottesbewusstseins« in einer solchen 24 Vgl. nur Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013; ders./Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, Tübingen 2010.

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Intensität ausgeprägt, dass es kontinuierlich und stetig durch dieses bestimmt wird.25 Die Christologie ist hier daher eine paradigmatische Theorie der Frömmigkeit. Die Frömmigkeit als religiöses Bewusstsein ist von einem differenzgeleiteten Begriff seiner Einheit bestimmt, das seinen Übergang in soziale Praxis begrifflich vermittelt. Schleiermacher geht allerdings so weit, dass er diese Theorie an den historischen Jesus zurückbindet. In diesem – und nur in diesem – liegt eine vollumfängliche Bestimmtheit des Selbstbewusstseins durch das Gottesbewusstsein vor. Die christliche Tradition wird damit zur Wirkungsgeschichte dieser Frömmigkeit, in der jene Intensität des Gottesbewusstseins gleichwohl nur fragmentarisch realisiert werden kann. Christologie ist hier folglich zugleich eine paradigmatische Theorie humaner Individualität. Sie nimmt ihren Ausgang in der Beschreibung einer Bewusstseinsstellung, die als wirklich vorgestellt werden soll und die ihren Übergang in symmetrische Formen sozialer Interaktion aus sich selbst extrapolieren soll. Ob dies in allen Teilen gelingt kann zu Recht gefragt werden. Wichtig ist hier, dass die ethischen Konsequenzen von einer gewissen Ambivalenz geprägt sind. Zwar ist es der Gedanke reziproker kommunikativer Interaktion vor dem Hintergrund wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse, der Schleiermachers ethisches Denken prägt. Und der humanen Individualität kommt auch strukturell in der Ausarbeitung seiner philosophischen Sittenlehre ein enormes Gewicht zu.26 Gleichwohl können sich weder seine Theologie noch seine Philosophie gänzlich von der Vorstellung befreien, dass das Ziel der Ausbildung individueller Personalität letztlich in der Überwindung des Individuellen besteht. Die mögliche ethische Konsequenz – die sich bei Schleiermacher zwar nicht zu deutlich zeigt, wohl aber in seinem Denken angelegt ist – wäre folglich gerade das Gegenteil des postliberal kritisierten ›Individualismus‹. Angesichts der Schwierigkeit, die damit verbunden ist, ein historisches Individuum tatsächlich als Grund des Glaubens auszuweisen (wie es später bei Wilhelm Herrmann heißt27) und auch eingedenk der damit verbundenen ethi25 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher : Der Christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 1999, §§ 66–74, § 94. 26 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher : Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun herausgegeben und eingeleitet v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1990. Der Aspekt der »Eigentümlichkeit« bzw. Individualität stellt als Komplement zum Identitätsgedanken, eines der strukturierenden Elemente des Aufrisses kulturellen Handelns dar, den Schleiermacher v. a. in der Güterlehre entfaltet. Vgl. dazu Martin Laube: »Kultur und Individuum. Aspekte ihrer gegenläufigen Verhältnisbestimmung bei Friedrich Schleiermacher und Ernst Cassirer«, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 139–162, bes. 147ff. 27 Vgl. Wilhelm Herrmann: »Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens«, in: ZThK 2 (1892), 232–273.

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schen Ambivalenzen, löst Karl Barth, mein zweites Beispiel, die Christologie vollständig vom historischen Jesus ab. Christologie ist gleichwohl eine paradigmatische und normative Theorie der Individualität, wie es in der Zweitfassung des Römerbriefs formuliert wird,28 nun aber so, dass in dieser die bleibende Differenz von Gott und Mensch mitreflektiert werden soll. In der Christologie werden fortan bei Barth die Brüchigkeit und Fragmentarizität humaner Individualität theologisch-normativ reflektiert. Mit dieser Wendung schießt Barth eine Salve auch in Richtung der Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Herrmann und Hermann Cohen, die wenige Jahre zuvor eine ganz ähnliche Fragestellung – nämlich, wie Individualität theologisch normativ zu denken sei, ohne sie dabei letztlich aus dem humanen Selbstbewusstsein abzuleiten – zum Thema hatte.29 Das ethische Resultat dieser alteritätstheoretischen Wendung der Christologie bei Barth ist dabei wiederum ambivalent. Diese Ambivalenz entsteht dadurch, dass humane Individualität vor dem Hintergrund der Christologie letztlich als Defizienz gedacht wird, ihr zugleich aber aufgebürdet wird, der jeweils im Glauben aktualen Absolutheit der göttlichen Forderung gerecht zu werden.30 Der Vollzug des Glaubens ist allerdings dasjenige Moment, das nicht allein die sittliche Forderung aktualisiert, sondern auch ihre Einlösung ermöglicht. Ethik wird hier ganz auf einen bestimmten Vollzugsaspekt humaner Individualität abgestellt – der von der Praxis gleichsam unterbrochen wird. »Entscheidung«31 ist das normative Label dieser Ethik – und der gerade daraus resultierende Mangel an Konkretion ihre größte Schwierigkeit. Bei Paul Tillich, meinem dritten Beispiel – und dem dritten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kommt die Christologie im Rahmen einer Theorie der Geschichte zu stehen. Christologie ist derjenige Teil der Dogmatik, der die Struktur der geschichtlichen Welt symbolisch reflektiert.32 Auch hier spielt der historische Jesus direkt keine Rolle mehr. Gleichwohl wird der Bezug auf Ge28 Vgl. Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922 (Gesamtausgabe, II. Akad. Werke 1922), hg. v. Cornelis v. d. Kooi/Katja Tolstaja, Zürich 2010, 596. 29 Vgl. Harald Matern: »Das absolute Individuum? Anmerkungen zur Christologie Immanuel Kants und ihrer Rezeption bei Wilhelm Herrmann und Hermann Cohen«, in: ders./Alexander Heit/Enno E. Popkes (Hg.): Bibelhermeneutik und dogmatische Theologie nach Kant, Tübingen 2016, 173–220. 30 Vgl. Karl Barth: Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemster 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930 (Gesamtausgabe, Abt. II Akad. Werke), hg . v. Dietrich Braun, Zürich, 1973; Karl Barth: Ethik II. Vorlesung Münster Wintersemester 1928/29, wiederholt in Bonn, Wintersemester 1930/31 (Gesamtausgabe, Abt. II Akad. Werke), h g . v. Dietrich Braun, Zürich 1978, bes. K. Barth: Ethik I, 115ff.; 215–220; zur Christologie dann bes. K. Barth: Ethik II, 120–155. 31 Vgl. K. Barth: Ethik I, 24 u. ö. 32 Vgl. nur Paul Tillich: »Christologie und Geschichtsdeutung« (1930), in: ders.: Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, 237–260.

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schichte nicht aufgegeben, sondern in eine prinzipielle Reflexion darüber überführt, wie die geschichtliche Struktur des Glaubens beschaffen ist. Der Glaube in seiner Geschichtlichkeit wird hier reflexiv – und die Struktur der Geschichte wird anhand der einzelnen traditionellen Bestandteile der Christologie expliziert. Diese Aspekte sind bekannt – worin aber besteht ihr Beitrag zur Ethik? Tillichs Ethik ist bekanntlich nach ihrer normativen Seite durch den Begriff des Reiches Gottes33 strukturiert, nach ihrer materialen Dimension aber durch Begriffe wie Liebe, Macht und Gerechtigkeit.34 Wenn Christus das Symbol für die theologische Auseinandersetzung mit der Struktur der Geschichte ist, dann gehört der Beitrag der Christologie zur Ethik in den Bereich ihrer materialen Durchführung – die ja nur innerhalb der Geschichte beschrieben werden kann. Christologie ist derjenige Ort, an dem der Glaube in seiner geschichtlichen Struktur reflexiv wird. Diese ist unhintergehbar individuell. Glaube ist individueller Vollzug und in der Christologie wird die Frage danach, wie Freiheit unter den Bedingungen der Geschichte praktisch werden kann, bearbeitet. Denn es sind diese Bedingungen, die immer wieder den Vollzug individueller Freiheit zu einer Form »abstrakter Selbstbestimmung«35 verkommen lassen. Das Symbol des Christus ermöglicht demgegenüber die Explikation einer neuen Form des Selbstverständnisses, in dem die Diastase von normativ Gefordertem (Freiheit) und geschichtlich Möglichem (Selbstbezüglichkeit) als überwunden dargestellt wird. Die Christologie ist damit die Fundamentaltheorie der Materialethik. Während in der Lehre vom Reich Gottes expliziert wird, wie die Struktur sozialer Interaktion normativ zu beschreiben ist, hat die Christologie – in ethischer Perspektive – die Bedingungen ihrer materialen Füllung zum Gegenstand. Zwar wirken diese Ausführungen eminent individualethisch – ihre Pointe liegt aber in der Beschreibung einer sozialen Struktur, in der die Realisierung individueller Freiheit in reziproken symmetrischen Verhältnissen möglich ist. Selbst in der Eschatologie beharrt Tillich darauf, dass die »Essentifikation« keinesfalls eine Auslöschung individueller Differenzen zur Folge haben soll,36 wobei dennoch das Trennende zwischen den Menschen (die Selbstbezüglichkeit) im Ewigen keine Geltung hat. 33 Vgl. nur Paul Tillich: »Eschatologie und Geschichte« (1927), in: ders.: Philosophie und Schicksal (Gesammelte Werke, Bd. IV), Stuttgart 1961, 72–82; ders.: Systematische Theologie III, Stuttgart 1966, 412–477. 34 Vgl. Paul Tillich: Liebe, Macht, Gerechtigkeit, Berlin/New York 1991. 35 Vgl. Christian Danz: Religion als Freiheitsbewusstsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000, 202–217 und vgl. 217ff. 36 Vgl. P. Tillich: Systematische Theologie III, 453f.

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Mit diesen Beispielen habe ich einerseits verdeutlichen wollen, dass die Kritik des theologischen Postliberalismus am westlich-modernen Individualismus ihr Ziel, den theologischen Liberalismus, (wenn man Barth dort einordnen will) verfehlt. Es ist weiter zu bezweifeln, ob ein antagonistischer Individualismus überhaupt als aus der christlichen Tradition hervorgegangene säkulare Gestalt sinnvoll gedeutet werden kann. Ohne damit das ursprüngliche Metanarrativ – das Christentum als ›Erfinder‹ des westlich-modernen Individualitätsdenkens – wieder aufrichten zu wollen, möchte ich doch die Trefflichkeit des postliberalen Gegennarrativs aufs Schärfste bestreiten. In Anknüpfung an die zitierten Positionen möchte ich im Folgenden eine christologisch inspirierte Ethik der Individualität wenigstens in nuce skizzieren.

4.

Christus, das Individuum und die Gemeinschaft Christi

Christologie, Individualität und soziale Praxis stellen innerhalb der Theologie einen eigenständigen Ideenkomplex dar. Die Christologie ist dabei in doppelter Weise in begründender Funktion. Zum einen deshalb, weil in ihr der grundsätzliche Bezug des Glaubens auf Geschichte – und damit auf seine eigene Kontingenz – reflexiv wird.37 Aber Christologie ist nicht nur Reflexion auf die Geschichtlichkeit dieses Vollzugs und damit gewissermaßen Anweisung für eine spezifische Rationalitätsform kommunikativen Prozedierens – die dieser ihrer Struktur jeweils eingedenk sein muss und daher kaum etwa absolute Wahrheitsansprüche aufstellen wird. Über diese sehr formale Dimension hinaus ist die materiale Christologie zugleich theologische Reflexion auf das Menschliche in normativer Hinsicht. Im Symbol des Christus werden Differenzbestimmungen aufgezeigt, die die Struktur humaner Individualität in ihrer grundlegenden Relationalität normativ beschreiben. Christologie ist (auch) eine Theorie über Struktur und Vollzug(-sbedingungen) humaner Individualität. Indem sie diese als relationale Struktur beschreibt, was gerade ihr Spezifikum ausmacht, ist ein theologischer Begriff humaner Individualität nur vollständig explizierbar, wenn seine Einbettung in einen Sozialzusammenhang mitbeschrieben wird. Individualität und Sozialität sind dann einander wechselseitig bestimmende Begriffe, die jeweils nicht in den jeweils anderen auflösbar sind. Steuernd ist, aus der Perspektive der Christologie, aber naturgemäß derjenige der Individualität. Dies möchte ich in 4 Punkten anhand einiger christologischer loci skizzieren.

37 Vgl. Folkart Wittekind: »Christologie im 20. Jahrhundert«, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne I), Tübingen 2010, 13–45.

208 a)

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Inkarnation: Geist-Leiblichkeit

Die erste, grundlegende Differenzbestimmung wird im Rahmen der Christologie im Zusammenhang der Lehre von der Inkarnation thematisch. Dass Christus inkarniertes Wort sei spiegelt sich für die Ebene der Bestimmung des Humanum als Unterscheidung und Wechselbestimmung von Geist und Leib. Mit dieser Differenz soll nicht dem westlich-traditionellen Dualismus von Körper und Seele/Vernunft das Wort geredet werden. Leib und Geist sind weder für sich bestehende Entitäten noch Substanzen. Sie sind die phänomenale Dimension humaner Individualität, die als raumgreifend-geschichtlich auf der einen, reflexiv auf der anderen Seite bestimmt werden kann. Mit der Dimension des Leibes wird nicht allein die Weltlichkeit des Menschen ausgesagt, sondern zugleich seine eminente Sozialität, sein Bezogensein auf anderes und andere, das zu seinem Selbstvollzug hinzugehört. Geistigkeit bedeutet demgegenüber, dass das Menschlich-Individuelle in seiner dinghaften Bezogenheit auf anderes und andere nicht aufgeht, sondern der naturalen und personalen Welt in Freiheit gegenübertritt. Hier wird die Relationalität zur bewussten Kommunikation, in der zugleich die leiblich-geistige Einheit menschlicher Individualität für die einzelnen reflexiv wird – und zwar indem sie sich auf einen dieser Einheit vorausliegenden Grund der Freiheit bezieht und diesen darin ›aktualisiert‹.

b)

Zwei Naturen

Auf der Ebene der Reflexivität der Freiheit, die in zwischenmenschlicher Kommunikation aktualisiert wird, beschreibt die Lehre von der göttlich-menschlichen Natur Christi das Bewusstwerden der Differenz von Aktualisierung und Grund der Freiheit für die einzelnen. Freiheit wird hier zum normativen Maßstab individuellen Vollzugs, der sich als Unterscheidung von Faktizität und Kontingenz zugleich affirmativ wie kritisch zum Selbstbewusstsein individueller Freiheit verhält. Für die Reflexivität des Sozialen bedeutet diese Unterscheidung ein In- und Miteinander von Fremdheit und Nähe des anderen. Individuelle Personalität wird sich als freie in ihrem Vollzug nicht nur der Kontingenz der Möglichkeit dieses Vollzugs selbst bewusst. Sondern dieses Bewusstsein erstreckt sich auch auf die soziale Welt: Die kontingente Faktizität der anderen kommt als Möglichkeitsbedingung fremder Freiheit zum Bewusstsein, die aber nicht radikal von der je meinen unterschieden ist. Der Gedanke einer ›absoluten‹ Alterität legt sich für das individuelle (soziale) Selbstbewusstsein allein als geschichtliche Grenze des Lebens nahe, nicht aber als radikale Alterität fremden Freiheitsvollzugs.

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c)

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Leiden und Tod

Leiden und Tod Christi symbolisieren diese geschichtlichen Grenzen individuellen Freiheitsvollzugs, ihre Gewaltsamkeit und Sinnlosigkeit für das Selbstbewusstsein individueller Freiheit. In ihnen kommt das Bewusstsein der geschichtlichen Grenzbestimmungen humaner Individualität aber zugleich als Wissen um deren Unterschiedenheit von ihrem ›transzendenten‹ Grund zum Ausdruck. Gleichwohl wird das hier zum Ausdruck kommende Grenzbewusstsein nicht als ›absolutes‹ Ende vorgestellt oder als radikale Getrenntheit individueller Freiheit von ihrem Grund:

d)

Auferstehung

Die Zusammengehörigkeit von Leiden und Tod am Kreuz mit der Auferstehung verweist vielmehr auf den übergeschichtlichen Charakter humaner Individualität, die in ihrer Bezogenheit auf die naturale und die personale Welt aber auch in dem Bewusstsein ihrer kontingenten Faktizität über ihre eigenen Grenzen beständig hinausweist. Der Tod ist zwar die Grenze der Freiheit, nicht aber ihr Ende. Erst vom Gedanken der Auferstehung her wird deutlich, warum christologisch der Vollzug endlicher Freiheit gleichwohl nicht als sinnlos beschrieben werden muss. Allerdings: Der Tod ist zwar nicht das Ende, wohl aber eine Grenze der Freiheit, die diese nicht einfach als aufgehoben erfährt, sondern im Rahmen ihrer geschichtlichen Existenz als bleibend sinnwidrig. Dass auch die Auferstehung Differenzen nicht aufhebt, wohl aber dazu beiträgt, sie nicht auch kommunikativ als absolute Grenzen zu verstehen, wäre nur eine der ethischen Pointen der Christologie.

e)

Die Gemeinschaft Christi

Ein christologisch inspiriertes Verständnis humaner Individualität hat erhebliche sozialethische Implikationen. Diese bestehen einerseits darin, dass individuelle Personalität erst dort sinnvoll beschrieben wird, wo ihre grundlegende Bezogenheit auf anderes – aber auch auf andere mitberücksichtigt wird. Menschliche Individualität hat eine grundlegend soziale Dimension. Ethisch wirksam wird diese aber erst dort, wo ihre Aktualisierung in zwischenmenschlichen Anerkennungsprozessen und deren kommunikativen Ausdrucksformen berücksichtigt wird. So verstanden zielt die Christologie auf bestimmte Formen sozialen Miteinanders, in der die Anerkennung fremder Freiheit nicht zu Formen des Bewusstseins radikaler Getrenntheit führt und in

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Harald Matern

der das Bewusstsein um die Kontingenz der Faktizität eigener Freiheit nicht den Verzicht auf den Versuch sinnvoller Formen der Kommunikation mit sich bringt. Die Gemeinschaft Christi ist eine solche, in der gerade die geschichtlichen Grenzen individueller Freiheit auf befreiende Kommunikationsprozesse verweisen, in denen diese nicht aufgehoben werden aber auch nicht bleibend bestimmender Natur sind. ›Individualität‹ kommt erst dort vollumfänglich zu sich, wo sie sich in solchen Formen humaner Sozialität vollzieht. Aus dieser Perspektive wird einmal mehr deutlich, dass der Gegensatz von theologischem Liberalismus und Postliberalismus möglicherweise eine Scheinalternative darstellt – dass aber andererseits ein harmonistisches Verständnis gerade der Christologie zur Aufgabe spezifischer Differenzbestimmungen im Bereich des Humanen führen könnte, die aus meiner Perspektive allererst einen Sinn bleibender sozialer Pluralität auch theologisch beschreibbar werden lassen.

Renate Jost

Themen feministischer/gendergerechter Christologien

0.

Einführung

Obwohl Alttestamentlerin, habe ich mich als Feministische Theologin und Genderforscherin an verschiedenen Stellen mit Fragen der Christologie befasst.1 Die Anzahl von Untersuchungen aus dieser Perspektive ist in den letzten dreißig Jahren so groß geworden, dass ich hier nur eine kleine begrenzte, subjektive Auswahl treffen kann. Meinen Hintergrund für die Auswahl und meine Fragestellungen beruhen auf meinen hermeneutischen Voraussetzungen, die ich deshalb zunächst beschreiben möchte. Als feministisch-sozialgeschichtlich arbeitende Exegetin haben neutestamentliche Arbeiten besonderes Gewicht, mein gegenwärtiges Interesse liegt im Bereich popularer Spiritualität in Vergangenheit und Gegenwart.2 Anschließend werde ich folgende Themen, die in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert wurden, darstellen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Relationales Jesusbild Kreuzestod und Gewalt Kritik am männlichen Christusbild Christus und seine Geschwister Kontextuelle Theologien und Christaphanien … nicht männlich und weiblich (Gal 3,28) Exklusivität Spiritualität

1 Vgl. Renate Jost/Eveline Valtink (Hg.): Ihr aber, für wen haltet ihr mich?, Gütersloh 1996. 2 Vgl. Renate Jost: »Vom Himmel hoch da komm ich her. Martin Luther, Engel und das Christkind«, in: Markus Buntfuß/Friedemann Barniske (Hg.): Luther verstehen. Person – Werk – Wirkung, Leipzig 2016, 311–322. 2019 wird das Buch Das göttliche Mädchen. Jesus als das Weiblich-Göttliche in Vergangenheit und Gegenwart, als Bd. 9 in der Reihe: Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion. Befreiende Perspektiven, erscheinen.

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Renate Jost

Hermeneutische Voraussetzungen Feministische Theologie steht nach ihrem Selbstverständnis zwischen Feminismus und Theologie. Feministisch sind diese Ansätze insofern, als sie sich als Teil gesellschaftskritischer Frauenbewegungen verstehen, die sich für die individuelle Autonomie und Selbstbestimmung für Gleichberechtigung und Gleichbehandlung sowie das Recht auf körperliche und seelische Integrität von Frauen einsetzt. Der Begriff ›Feminismus‹ impliziert darüber hinaus eine theoretische Gesellschaftskritik und eine wissenschaftskritische Ebene, die unterschiedliche, abgestufte Formen von Unterdrückungssystemen analysieren. Um eine Integration möglichst vieler unterschiedlicher Ansätze zu ermöglichen, verwende ich die Begriffe Theologische Frauenforschung, Feministische Theorien/Theologie und ›Gender Studies‹ nebeneinander. ›Frauenforschung‹ ist der Begriff, der sich in der Universitätslandschaft der BRD in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen etabliert hat. Er wird allerdings nicht einheitlich definiert. Doch wird mit ihm in allen Fällen Forschung gekennzeichnet, insoweit sie Frauen und ihre Geschichte zum Gegenstand macht. Die mit dem Begriff ›Feminismus‹ verbundenen Wissenschaften, die im Zusammenhang stehen mit der gesellschafts- und kulturkritischen Bewegung der Neuen Frauenbewegung,3 die in den 70er Jahren entstanden ist, entwickelten ihre Kritik in einer zweiten Phase weiter zu ›Gender Studies‹, zur Analyse der Geschlechterverhältnisse insgesamt, da die Interdependenzen der Lebenswelt und Theoretisierung von Männern und Frauen deutlich geworden war. Inzwischen hat sich der Begriff Gender Studies bzw. Theologische Gender Studies weitgehend etabliert. Im EKD-Papier Förderung theologischer Frauenforschung von 1997 wird der Zusammenhang und die Differenz der drei Begriffe wie folgt beschrieben: »Der Begriff der Frauenforschung erinnert an die Notwendigkeit, die verdrängte und ignorierte Geschichte und Kultur von Frauen zu erforschen. Der Begriff der Geschlechterforschung macht die Frage als Frage einer Interdependenz zwischen den Geschlechtern deutlich und der Begriff der feministischen Forschung hält fest, dass es um die Revision und Korrektur der historischen Asymmetrie in den Geschlechterverhältnissen geht.«4

3 Eine Zeit lang wurde zwischen der ersten und zweiten Frauenbewegung unterschieden. Als erste Frauenbewegung wurden die sich für Wahlrecht, Gleichberechtigung etc. einsetzenden Bewegungen des 19. Jahrhunderts verstanden. Als zweite Frauenbewegung galt der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts beginnende Aufbruch. Dies wird zunehmend problematisiert, da es auch schon zu anderen Zeiten Aufbrüche von Frauen gegeben hat und sich diese Einteilung zu einseitig an der westlichen Kultur orientiert. 4 EKD Informationen: Förderung theologischer Frauenforschung, Hannover 1997, 20.

Themen feministischer/gendergerechter Christologien

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Indem ich versuche, alle drei Begriffe nebeneinander zu verwenden, möchte ich mein Interesse deutlich machen, sowohl deskriptiv Frauenkultur und das Geschlechterverhältnis zu beschreiben, als auch kulturkritisch zu seiner Veränderung beizutragen. Im deutschsprachigen Bereich werden diese unterschiedlichen Ansätze zur theologischen Forschung über Frauen oder das Geschlechterverhältnis meist unter dem Begriff ›Feministische Theologie‹ zusammengefasst. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff. Er kennzeichnet keine einheitliche Richtung oder Position von theologischen Frauenforscherinnen. In den verschiedenen Ansätzen und Entwürfen Feministischer Theologien spiegeln sich unterschiedliche regionale und historische Traditionen des Feminismus ebenso wie Theologietraditionen wider. Feministische Theologie versteht sich von Anfang an im ökumenischen Horizont, doch ist die Bindung an die eigene Konfession und Religion immer erkennbar. Sowohl der Begriff Frauen als auch ›feministisch‹ und ›Gender‹ müssen immer wieder einer Kritik unterzogen werden, damit sie nicht essenzialistisch, sondern historisch und in ihrer kulturellen Verschiedenheit verstanden werden.5

Intersektionalität Eine der großen Herausforderungen für das 21. Jahrhundert ist die Zusammenschau verschiedener Differenz- und Unterdrückungsmechanismen, wie sie seit 1989 mit dem Stichwort ›Intersektionalität‹ beschrieben wurden. Das Konzept der Intersektionalität ist auf dem besten Weg zu einem neuen Paradigma in den Gender- und Queerstudies zu avancieren, bringt es doch auf den Punkt, dass die verschiedenen Kategorien von Differenz und Unterdrückung miteinander verwoben sind. Die historischen Wurzeln der Intersektionalitätsdebatte waren zunächst einmal die Erfahrungen schwarzer Frauen, die sich in dem Feminismus westlicher weißer Mittelschichtsfrauen nicht wiederfinden konnten. Die viel zitierte Rede der schwarzen Sklavin Sojourner Truth Ain’t I a Woman? aus dem Jahr 1851 sowie auch das Buch der in Frankfurt verstorbenen Jüdin Grace Aguilar Women in Israel im 19. Jahrhundert zeigen ein zentrales Thema der Intersektionalitätsdebatte auf. Wer gehört aufgrund welcher Eigenschaften zu unterdrückten sozialen Gruppen? Gesellen sich zum Frausein die Klassenzugehörigkeit und das Schwarzsein als ad on oder ist die Existenz verschiedener Unterdrückungsformen in anderer Weise, nämlich als Herrschaftsverhältnisse, zu fassen? 5 Elisabeth Schüssler Fiorenza (Hg.): Transforming the Legacy, in: dies. (Hg.): Searching the Scriptures, New York 1993, 1–24, hier: 16.

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Im deutschsprachigen Raum wurden ähnliche Debatten schon zu Beginn der ersten Frauenbewegung im 19. Jahrhundert im Zusammenhang der Fragen von Unterdrückung aufgrund von Klasse und/oder Geschlecht in den Auseinandersetzungen zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Frauenbewegung sowie christlichen und jüdischen Frauenverbänden geführt. Als Konsequenz für die Vernetztheit der verschiedenen Formen von Ungleichheiten kam es in den 1970er Jahren zu einer weiteren Analyse, in der Rasse, Klasse und Geschlecht benannt wurden. 1989 wurde dann von der Juristin Kimberley Crenshaw der Begriff ›Intersectionality‹ ins Gespräch gebracht. Um die Verwobenheit der verschiedenen Ungleichheiten zu illustrieren, verwandte Crenshaw das Bild Verkehrskreuzung, an der sich Machtwege kreuzen, überlagern und überschneiden: »Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars travelling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in an intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.«6

Über die Anzahl der zu berücksichtigenden Kategorien gibt es eine Diskussion zwischen den Theoretikerinnen und Theoretikern. Nina Degele und Gabriele Winker nehmen in ihrem Buch Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten die Kategorie ›Körper‹ dazu, um auch Alter und Gesundheit analysieren zu können.7 Helma Lutz und Norbert Wenning haben 14 Kategorien in Differenz aufgestellt. Diese sind Gender, Sexualität, Rasse/Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität/ Staat, Kultur, Klasse, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/Herkunft, Besitz, geografische Lokalität (West/Rest), Religion (religiös-säkular), gesellschaftlicher Entwicklungsstand (modern traditionell). Auch wenn der Begriff Intersektionalität vielfach infrage gestellt wurde, entwickelt er sich inzwischen zu einem Paradigma in den Gender- und Queerstudies. Unter diesem Dach könnten sich nicht immer freundlich gesonnene theoretische Strömungen der Geschlechterforschung in friedlicher Koexistenz wiederfinden, zum Beispiel die oft festgefahrene Auseinandersetzung zwischen politischem Anspruch und postmoderner Dekonstruktion, die auch einen Unterschied zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Schwer6 Vgl. Kimberley Crenshaw: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum Issue 1 (1989), 139–167, hier : 149. 7 Vgl. Gabriele Winker/Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, 15ff.

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punktsetzung widerspiegelt. Während in den US-amerikanischen Diskussionen der Schwerpunkt auf dem politischen Hintergrund und dem Empowerment liegt, liegt in Europa oft die Dezentrierung und die Konstruktion von Geschlecht und anderen binären Oppositionen der Moderne im Mittelpunkt. Intersektionalität Gesellschaftliche Praxis

Doing Gender

Makroebene

Gender Geschlecht Rasse Ethnie Nationalität

Körper Alter Gesundheit / Krankheit Differenz Vielfalt

Symbolische Repräsentation

Diskriminierung Herrschaft

Klasse soziale Herkunft

Sexualität Begehren Religion Kultur

Mikroebene Doing Religion

Wissenschaftliche Praxis

Differenz und Vielfalt – meine Perspektive Meinen Stand in der aktuellen Debatte zur Intersektionalität möchte ich an drei zusammenhängenden Grafiken dokumentieren: 1. Die Kategorien Im Anschluss an Degele und Winker – erweitert durch Religion/Kultur. 2. Der Prozess fortwährender Konstruktionen/Dekonstruktionen Das Problematische an den Kategorien, dass sie das, was sie eigentlich infrage stellen und auflösen möchten, wieder festschreiben, aber dass wir von ihnen nicht absehen können, um gesellschaftliche und Herrschaftsstrukturen zu beschreiben, lässt sich am besten mit dem englischen Doing Gender – Doing Religion beschreiben, wobei auch der Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Praxis eine wichtige Rolle spielt.

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3. Die Ebenen Neben den Kategorien sind auch die verschiedenen Ebenen der Analyse zu unterscheiden, nämlich die Makroebene, das heißt die gesellschaftliche Organisation, die Mikroebene, das heißt die Identität und die Ebene der symbolischen Repräsentation, in der eben Gender, Klasse, Religion konstruiert werden. Dabei hat die Ebene der symbolischen Repräsentation Auswirkungen auf die Mikro- und die Makroebene.

1.

Relationales Jesusbild

Als Ende der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum die ersten Veröffentlichungen erschienen, die sich mit der Rolle Jesu aus feministischer Perspektive befassten, handelte es sich vorwiegend um Übersetzungen aus dem amerikanischen Niederländischen.8 Zu nennen ist hier aber schon die 1980 erschienene Monographie von Elisabeth Moltmann-Wendel Ein eigener Mensch werden – Frauen um Jesus, in der sie zahlreiche Frauenfiguren wie Maria und Martha in Lk 10,38–42, Maria Magdalena in Mk 19,9–11 oder die Unbekannte, die Jesus salbte in Mk 14,3–9 in den Mittelpunkt stellt.9 Dabei ist es ihr Anliegen, alternative frauenbefreiende Zugänge zu ermöglichen. Anfangs der 1980er Jahre kam der von Willy Schottroff und Wolfgang Stegemann zusammengestellte Band Frauen der Bibel heraus,10 der schon zwei Beiträge von feministischen Exegetinnen enthielt: Elisabeth Schüssler Fiorenzas Grundriss einer feministisch-kritischen Revision der Geschichte des Christentums und Luise Schottroffs thesenartiger Abriss der feministischen Sozialgeschichte des frühen Christentums. In den 1980er Jahren konzentrierten sich viele der in den 1980er Jahren sich weiter differenzierenden feministischen Annäherungen an den historischen Jesus und die Darstellungen Jesu Christi in den Evangelien konzentrieren sich auf eine relationale Christologie, auf das Beziehungsnetz, in dem Jesus lebte.11 Besonders zu nennen ist hier Carter Heyward, deren 1982 in den USA erschienene Dissertation The Redemption of God, in der deutschsprachigen Fas-

8 Vgl. Luise Schottroff/Silvia Schroer/Marie-Theres Wacker: Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, 3–33. 9 Vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel: Frauen um Jesus, Gütersloh 2009 (1980). 10 Vgl. L. Schottroff/S. Schroer/M.-T. Wacker : Feministische Exegese. 11 Vgl. zum Folgenden Annette Merz: »Jesus/Jesusbewegung«, in: Elisabeth Gössmann u. a. (Hg.): Wörterbuch der Feministischen Theologie, Gütersloh 21991, 300–304.

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sung den Titel Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung trägt.12 Nach Anette Merz konvergiert dieses Vorgehen zum Teil mit dem kontextuellen Jesusbild sozialgeschichtlicher Forschung in der sogenannten ›Third Quest‹! Diese beschreibt die Jesusbewegung als eine unter verschiedenen jüdischen Erneuerungs- und Befreiungsbewegungen.13 Im Zentrum steht ein charismatischer Wanderprediger, der als Teil des pluralen Jundentums seiner Zeit aufzufassen ist. Das von manchen in den Anfängen feministischer Erkundungen gezeichnete Bild von »Jesus als Feminist!«, der die Frauenfeindlichkeit seiner jüdischen Umwelt überwand, ist historisch falsch. Zudem handelt es sich um ein antijüdisches Konstrukt.14 Wie Brooten15 u. a. betont haben, finden sich die in Jesu Botschaft erkennbaren frauenbefreienden Aspekte auch in anderen Bewegungen jener Zeit. Sicher ist Jesu zentrale Botschaft von der nahen Königsherrschaft Gottes (Mk 1,15; Mt 11,11f.; Lk 17,20f.) radikal und besitzkritisch.16 Gegen die ausbeuterische Praxis der römischen und jüdischen Herrschafts-, Besitz- und Bildungseliten verheißt sie den Armen, Unterdrückten und sozial Marginalisierten volle Anteilhabe an den Gütern der Welt und einen Status von Königskindern unter Gottes Alleinherrschaft (Lk 6,20ff.; 10,21f.; 12,22ff.; Mk 10,42ff.; 12,38ff.). Jesu Nachfolgegemeinschaft im Dienst der Gottesherrschaft bestand aus mit ihm herumziehenden und ortsfesten AnhängerInnen und verstand sich theoretisch als neue Familie von gleichgestellten Geschwistern, in der die Herrschaft der Väter abgeschafft war (Mk 3,31ff.; 10,28ff.; 25,45; Mt 23,8f.). Doch sind die neutestamentlichen Texte nicht alle in gleicher Weise von diesen Vorstellungen durchdrungen. Vielmehr stehen Texte, die kyriarchale Elemente widerspiegeln, wie die Wahl von 12 Männern zu Repräsentanten des neuen Israel (Mk 3,13ff.; Mt 19,28), 12 Carter Heyward: Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986. 13 Vgl. Gerd Theissen/Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen (1996) 2 1997. 14 Judith Plaskow: »Feministischer Antijudaismus und der christliche Gott«, in: Kirche und Israel 5 (1990), 9–25. 15 Bernadette Brooten: »Jewish Women’s History in the Roman Period. A Task for Christian Theology«, in: George W. E. Nickelsburg/George W. Macrae (Hg.): Christians among Jews and Gentiles. Essays in Honor of Krister Stendahl on His Sixty-Fifth Birthday, Philadelphia 1986, 22–30. 16 Luise Schottroff/Wolfgang Stegemann: Jesus von Nazareth, Hoffnung der Armen, Stuttgart (1978) 31990; Luise Schottroff: »Frauen in der Nachfolge Jesu in neutestamentlicher Zeit«, in: Willy Schottroff/Wolfgang Stegemann (Hg.): Traditionen der Befreiung. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen. Bd. 2: Frauen in der Bibel, München 1980, 91–133; Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit, Biblische Enzyklopädie 10, Stuttgart 2009.

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neben Texten, die Streit um die Frauenrolle dokumentieren (Mk 12,18ff.; Lk 10,38–42; 11,27f.) und solchen, die gleichberechtigte Partizipation dokumentieren, wie Mk 7,24ff. Dies lässt fragen: Sind die frauenbefreienden Aspekte von Jesu Botschaft Nebenwirkungen des Armenevangeliums, da Frauen die Mehrheit der Armen und Marginalisierten stellten? Oder muss man schließen, dass die Jesusbewegung ihre egalitäre Vision nicht immer konsequent verfolgte?17

2.

Kreuzestod und Gewalt

Ohne Zweifel können und konnten die Aussagen über Jesu Tod am Kreuz dazu verwendet werden, Menschen in veränderbaren Gewaltverhältnissen festzuhalten. Häufig genannt wird hierfür in feministischer Literatur das Beispiel einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen und misshandelt wird. Sie bleibt in dieser Beziehung mit dem Hinweis auf das Leiden Jesu. Sie müsse eben ihr Kreuz tragen. Ich zitiere aus der EKD Studie Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirchen: »In den Schriften des Neuen Testaments wird Jesus Christus auf vielfältige Weise gedeutet. Im Kontext des Problems der Gewalt gegen Frauen ist besonders relevant, dass er als Opfer dargestellt wird, als ein Gerechter, der um der Liebe willen in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes leidet, der Folter und Demütigungen erträgt. Der leidende Jesus kann zum Vorbild, zum Leidensgenossen und Vertrauten von Frauen werden, die Gewalt erleiden. Manche identifizieren sich in ihrem eigenen Leiden mit Jesus, manche ordnen sich dann aber auch in einer Übernahme einer freiwilligen Unterordnung unter den Willen Gottes Männern unter, die ihnen Gewalt zufügen. In diesem Sinn kann die Vorstellung von Jesus als Opfer Gewaltstrukturen festigen und Opfer in ihrem Opfersein festhalten.«18

Die Kritik an diesen und ähnlichen Fehlinterpretationen der Kreuzestheologie mit ihren fatalen Auswirkungen hat bei einigen feministischen Theologinnen dazu geführt, Aussagen über den Kreuzestod Jesu ganz zu vermeiden. Dies halte ich aus zweierlei Gründen für problematisch. Zum einen wird durch eine solche Verleugnung der Gewaltakt römischer Besatzungspolitik ausgeblendet. 17 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München 1988; dies.: Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, aus dem Engl. übersetzt v. Melanie Graffam-Minkus/Bärbel Mayer-Schärtel, Gütersloh 1997. 18 Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche. Ein Bericht in zwei Teilen, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. v. Kirchenamt der EKD, Teil II, Gütersloh 2000, 137.

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»Die Jerusalemer Tempelaristokratie und die römische Besatzungsmacht hielten die politischen und religiösen Herrschaftsverhältnisse durch Jesus für so stark bedroht, dass sie zu seiner Beseitigung kooperierten. Aber die Kreuzigung durch die Römer konnte Jesus Botschaft nicht zum Schweigen bringen. Die OsterzeugInnen kamen durch eine Engelbotschaft an die Frauen am Grab und Visionen des Auferstandenen zu dem Glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt und damit alle Todesmächte grundsätzlich entmachtet hat. In der Verkündigung wurde nun Wesen, Person, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu in verschiedenster Weise zum integralen Bestandteil der Predigt.«19

In der Deutung seines Todes kann u. a. auch auf Traditionen des unschuldig leidenden Gerechten und auf jüdische Märtyrer- und Märtyrerinnentraditionen zurückgegriffen werden. Zum Verständnis des Todes Jesu auf dem Hintergrund jüdischer Martyriumstheologie schreiben Dorothee Sölle und Luise Schottroff in ihrer Monographie Jesus von Nazaret: »Es gibt eine jüdische Theologie des Martyriums, die das politisch begründete Leiden unter Babyloniern, Persern und Römern auch immer als die Schuld des unterworfenen Volkes selbst versteht. Dieser Hintergrund bestimmt auch die Deutung der Kreuzigung Jesu im Neuen Testament. Sie hat Anteil an der Leidens- und Widerstandsgeschichte des jüdischen Volkes. Die neutestamentliche Verarbeitung des Kreuzestodes Jesus in Ritualen und theologischen Reflexionen gehört in die Geschichte jüdischer Martyriumstheologie. Jesu Tod wurde als Tod für die Sünde des Volkes – ›für unsere Sünden‹ – gedeutet oder auch als Sühnopfer und Lösegeld für das gefangene Volk. […] Nach Jesu Tod haben erst die Frauen und dann auch die Männer, die mit Jesus zusammengearbeitet hatten, begriffen: Dieser Tod war nicht das Ende unserer Hoffnung auf die Befreiung Israels, sondern er brachte Befreiung. Das Volk ist frei von Gefangenschaft, befreit von Schuld, befreit von der Macht der Unterdrücker, vereint mit seinem Gott. Es gibt einen neuen Anfang, überall wo Menschen dieser Befreiung glauben und sie in ihrem Leben verwirklichen. Das christliche Abendmahl war der wirkungsmächtige Ritus, der aus der jüdischen Martyriumstheologie hervorging und die Erinnerung an Jesus im Christentum gestaltet hat. Die Erinnerung an den Tod des Märtyrers wurde zum Mittelpunkt eines gemeinsamen feierlichen Abendessens und zur Quelle der Hoffnung, dass die Macht Gottes größer ist als die Macht des Todes.«20

In meiner Habilitationsschrift habe ich Bat Jephtas Tochter als ein weibliches Beispiel einer unschuldig leidenden Gerechten dargestellt. Der Text lässt unterschiedliche Deutungen zu. Gehe ich von einer Auslegung aus, die annimmt, dass die Erzählung von einem tatsächlichen Opfer, im Anschluss an die Worte Bals, einem Tochtermord, ausgeht, wird Sheila/Bat zu einer Protagonistin der 19 A. Merz: Jesus/Jesusbewegung, 302. 20 Dorothee Sölle/Luise Schottroff: Jesus von Nazaret, München 72010, 126f.

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unschuldig leidenden Gerechten, wie sie später in den Gottesknechtliedern besungen werden, wie viele Märtyrerinnen vor und nach ihr. Ihr Tod erinnert, wie das Leiden Jesu am Kreuz, an die vielen unschuldigen Opfer in Vergangenheit und Gegenwart.21 Die Ausblendung des Kreuzestodes und der Versuch, ihn auf dem Hintergrund der politischen und sozialen Situation seiner Zeit zu verstehen, halte ich aus einem weiteren Grund für problematisch. Es droht, die Geschichte jener Frauen und Männer zu vergessen, die in ihrem Leiden Trost finden konnten und ihr Leiden in der Nachfolge des Gekreuzigten verstanden haben und darin Trost und Hoffnung finden konnten. Es ist zugleich ständige Mahnung, Hinweis und Erinnerung an die Leidenden dieser Welt.

3.

Kritik am männlichen Christusbild

In den Anfängen der feministisch-theologischen Debatten um die Christologie stand – vor allem bei katholischen Theologinnen – folgende Frage im Zentrum: Was kann der wirkungsgeschichtlichen Absicherung von männlichen Superioritätsansprüchen unter Berufung auf die Männlichkeit des Erlösers entgegengesetzt werden? Mary Daly hat das Problem eines männlichen Erlösers schon in den 1970er Jahren auf den Punkt gebracht: »Der Gedanke einer einmaligen Menschwerdung Gottes in Gestalt eines Mannes ist sexistisch und öffnet der Unterdrückung Tür und Tor.«22 Aus der Männlichkeit Jesu werden bis heute Schlussfolgerungen gezogen, die für Frauen diskriminierend sind. In der katholischen Kirche zeigt sich dies darin, dass mit Hinweis auf das Mannsein des Erlösers der Ausschluss von Frauen aus dem Priesteramt legitimiert wird. Die Wirkungsgeschichte dieses Frauen ausschließenden Anspruchs ist jedoch auch im protestantischen Bereich in der noch immer marginalen Repräsentanz von Frauen in der wissenschaftlichen Theologie und in kirchlichen Leitungsämtern sichtbar. Christlich-feministische Theologinnen haben inzwischen den Zusammenhang zwischen der theologischen Überhöhung der Männlichkeit des Erlösers und der Identifizierung des weiblichen Geschlechts als sündig und damit als Inbegriff menschlicher Erlösungsbedürftigkeit deutlich gemacht. Sie haben diesen Zusammenhang als

21 Vgl. Renate Jost: Gender, Sexualität, und Macht in der Anthropologie des Richterbuches, Stuttgart 2006, 186ff. 22 Mary Daly : »Der qualitative Sprung über die patriarchale Religion«, in: Frauenoffensive 9 (1978), 2–13, hier : 2. Vgl. auch dies.: Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 1980 (amerikanisches Original 1973).

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ideologisches heilsgeschichtliches Konstrukt und als Ausdruck von Herrschaftschristologie herausgearbeitet. Dazu hält Elisabeth Schüssler Fiorenza fest: The*logische Geschlechterkonstruktionen sind ein »spezifischer Effekt eines Komplexes gesellschaftlicher Beziehungen, die Weiblichkeit (und Männlichkeit) spezifisch definieren und die Homogenität des Geschlechterunterschieds in und quer durch die aktuellen konkreten Lebensfelder von Menschen herstellen.«23 Frauen haben erst in der Neuzeit der Exklusivität des männlichen Priestertums, die durch körperliche Ebenbildlichkeit mit dem Mann Jesus Christus gerechtfertigt wird, systematisch zu kritisieren begonnen. Zu den ersten gehören Elisabeth Malo24 und Elizabeth Cady Stanton.25 Bahnbrechend waren für den Beginn der wissenschaftlichen feministischen Theologie Ende der 1960er Jahre die Arbeiten von Mary Daly The Church and the Second Sex26 und Beyond God the Father.27 Von ihr stammen auch die häufig zitierten Worte: »Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott« (1973).28 Im Neuen Testament finden sich, wie vor allem Elisabeth Schüssler Fiorenza 1983 in ihrem Buch In Memory of Her29 herausgearbeitet hat, Überlieferungen, die den Glauben an Jesus Christus zur Stabilisierung der Herrschaft der Herrschenden über die Untertanen, der Herrinnen über die Sklavinnen und der Männer über Ehefrauen und Kinder instrumentalisiert (vgl. Kol 3,18–4,1; 1Petr 2,13–3,7) und männliche Superioritätsansprüche unter Berufung auf die Männlichkeit des Erlösers legitimiert (vgl. Eph 5,22ff.) haben. Auf diesem Hintergrund ist die Suche nach nicht androzentrischen christologischen Konzepten zu verstehen. Dabei spielt für viele die in Spr 8 weiblich vorgestellte Weisheitstradion eine wichtige Rolle. Jesus selbst hielt sich für einen Gesandten oder Propheten der Sophia (Lk 7,35; 11,31.49.51; 13,36f.). Elisabeth Johnson,30 Silvia Schroer31 und Elisabeth Schüssler 23 Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Gender, Sprache und Herr-schaft. Feministische The*logie als Kyriarchatsforschung«, in: Renate Jost/Klaus Raschzok (Hg.): Gender – Religion – Kultur. Biblische, interreligiöse und ethische Aspekte (Theologische Akzente 6), Stuttgart 2011, 17–35. 24 Elisabeth Malo: Das Recht der Frau in der christlichen Kirche, Züllsdorf 1896. 25 Elizabeth Cady Stanton: The Woman’s Bible, 1895. 26 Mary Daly : The Church and the Second Sex, New York 1986. 27 Mary Daly : Beyond God the Father. Toward a Philosophy of Women’s Liberation, Boston 1973 (dt.: Jenseits von Gottvater Sohn & Co., Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 51988). 28 Mary Daly : Jenseits von Gottvater, Sohn & Co. Aufbruch zu einer Philosophie der Frauenbefreiung, München 51988. 29 Elisabeth Schüssler Fiorenza: In Memory of Her. A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1983. 30 Elizabeth A. Johnson: »Jesus the Wisdom of God. A Biblical Basis for a Non-Androcentric Christology«, in; EThl 61(4) (1985), 261–294.

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Fiorenza32 (1997) haben darauf hingewiesen, dass Erzählungen von Jesus Christus, hymnische Texte auf Christus oder den Logos-Sohn-Gattungen, Vorstellungen und Bilder verwenden, die der jüdischen Weisheitstheologie entstammen. Nach Schüssler Fiorenza ist Jesu, nicht wie bei Johnson u. a., die personifizierte Weisheit, sondern Botschafter der Weisheit. Wesentlich ist aber nicht allein Christus, sondern sind die Gemeinschaften, die seine Botschaft über die Jahrhunderte zu befreiendem Handeln inspirierten.33

4.

Christus und seine Geschwister34

In diesem Zusammenhang kann auf herrschaftskritische neutestamentliche Traditionen verwiesen werden. »Wo in neutestamentlichen Texten die betonte Ver-herrlichung Christi sich gegen irdische Herren und Herrschaftsverhältnisse wendet und ihnen die Legitimation entzieht (z. B. 1Kor 7,22f.; 8,5f.), wo sie eine auf Gegenseitigkeit und Geschwisterlichkeit basierende Gemeinschaft fundiert (z. B. 1Kor 12), wo sie die Identifikation des Weltenrichters mit den Geringsten beinhaltet (Mt 25,40–45) und auf die Partizipation der Gläubigen an der Herrschaft Christi hin ausgerichtet ist (z. B. Röm 8,14–39), bleibt sie der egalitären Vision Jesu treu.«35

Dieser Ansatz ist konsequent in den Übersetzungen der Bibel in gerechter Sprache weitergedacht worden: In dieser Bibelübersetzung finden sich für das griechische Wort ›kyrios‹ neben der traditionellen Übersetzung mit ›Herr‹ neue Lösungen wie ›der Befreier‹, ›zu dem wir gehören‹ oder ›der uns leitet‹. Das griechische Wort ›christos‹ wird neben der geläufigen Wiedergabe mit Christus auch ins Deutsche übersetzt und mit ›der Gesalbte‹ oder ›der Messias‹ wiedergegeben. Der griechische Ausdruck ›hyos tou antropou‹ wird statt dem sonst gewählten wissenschaftlichen Kunstwort ›Menschensohn‹ mit ›Mensch‹ übersetzt. Dahinter steht, dass im Griechischen ›hyos‹ nicht Sohn, sondern auch Kind bedeuten kann. In der Bibel in gerechter Sprache werden diese Übersetzungsentscheidungen offengelegt und überprüfbar gemacht. Dies geschieht dadurch, dass in Umschrift die griechi31 Silvia Schroer : Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996, 126–175. 32 Elisabeth Schüssler Fiorenza: Jesus. Miriams Child, Sophias Prophet. Critical Issues in Feminist Christology, London/New York 1994 (dt.: Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet, Gütersloh 1997). 33 Thomas Bohache: Christology from the Margins, London 2008. 34 Marlene Crüsemann/Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.): Christus und seine Geschwister. Christologie im Umfeld der Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2009. 35 A. Merz: Jesus/Jesusbewegung, 302.

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schen Begriffe am Rand des Textes erscheinen und die Wörter in der Übersetzung grafisch gekennzeichnet sind. Ein Glossar erläutert diese und andere wichtige theologischen Begriffe. Das Buch Christus und seine Geschwister, das von Marlene Crüsemann und Carsten Jochum-Bortfeld herausgegeben wurde, arbeitet heraus, was diese partiellen Abweichungen von einer Übersetzungstradition, die versucht, den biblischen Texten näher zu kommen, für eine gegenwartsrelevante Christologie bedeuten. Die exegetischen Beiträge dieses Bandes widmen sich dem in diesen Übersetzungen erkennbaren Zusammenhang zwischen Christologie und Ekklesiologie. Im Hintergrund steht dabei die Auffassung, dass eine hoheitliche Abstammung im Sinne von Hierarchie, Dominanz und Unterwerfung zwischen Jesus als einem besonderen Hoheitstitelträger und den Menschen nicht in den Texten erkennbar sei.

5.

Kontextuelle Theologien und Christaphanien

Einige Ansätze sprechen im Zusammenhang herrschaftskritischer Christologie von »Christaphanien« und verweisen auf kontextuelle Christologien.36 Die Bedeutung von ›Kontext‹ wird weltweit unterschiedlich definiert. Kontextuelle Christologien Asiens verstehen »Kontext« als »Kultur«; Afroamerikanische oder Schwarze Theologie als »Rasse« (Race).37 In Lateinamerikanischer Befreiungs-Christologie geht es um den für das gekreuzigte Volk gekreuzigten Gott.38 Gott ist immer auch der Gekreuzigte, der am Ende dennoch siegen wird. In Womanistischer Theologie können sich im weiblichen schwarzen Christus (female Black Christ) Frauen und Männer wiederfinden.39 Für die lateinamerikanische Mujerista Theologie kann Jesus Mann oder Frau sein, da sein Geschlecht (gender) nicht wichtig ist, sondern seine Solidarität in Mitten des menschlichen Leidens. Für die katholische brasilianische Theologin Ivone Gebara ist dabei auch das Leiden der Natur und der Tiere eingeschlossen. Sie stellt dem männlichen Erlöser Jesus die weibliche Erlöserin Maria zur Seite. In Asien kann Jesus als göttliche Weisheit u. a. auch mit Aspekten des Konfuzianismus verbunden werden. Indische Frauen können in Jesus das weibliche Prinzip sehen, das in einem Mann verkörpert wurde, z. B. ›shakti‹, das Prinzip, das Gegensätze überwindet. Nach Chung kann Christus als Schamanin mit lebenspendender Spiritualität oder auch 36 Vgl. Manuela Kalsky : Christaphanien. Die Re-Vision der Christologie aus der Sicht von Frauen in unterschiedlichen Kulturen, Gütersloh 2000. 37 T. Bohache: Christology, 67. 38 T. Bohache: Christology, 81. 39 T. Bohache: Christology, 34.

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in der Kwan In, der Göttin der Barmherzigkeit, Weisheit und Geborgenheit, gesehen werden. Für ostasiatische Frauen ist diese ein erleuchtetes Wesen, das ungehindert ins Nirwana eingehen könne. Aus Mitleid mit allen Leidenden, um sie zu erleuchten, bleibe sie auf der Erde. Ihre Weisheit sei heilend und sie gäbe allem Lebendigen die Kraft, ans Ufer des Nirwana zu schwimmen.40 Ihr entspricht die japanische Kannon, ebenfalls eine Retterinnenfigur. Die koreanisch-amerikanische Theologin Grace Ji-Sun Kim verbindet Christus sowohl mit Hokmah/Sophia als auch mit der buddhistischen mütterlichen Göttin Prajnaparamita. Die indonesische Theologin Asnath Niwa Natar führt die als Reiskorn sterbende und wiederauferstehende Mbiri Koni als weibliches Christusbild in ihre Seelsorgeberatung für die Gewalt erfahrenden Frauen auf der Insel Sumba ein.41 Die aus Ghana stammende Theologin Mercy Amba Oduyoye kann Christus mit der Matriarchin Eku der Fante vergleichen, die ihr Leben riskierte, um ihr Volk vor dem Verdursten zu retten.42 Für die womanistische Theologin Delores Williams lebt Christus im biblischen Bild der Hagar.43 In Heywards Queerer Christologie wird in der gemeinsamen Arbeit für eine gerechtere Welt Christi erotische Kraft (Power) verkörpert.44 Nach Isherwood verkörpert sie sich in Christus als Freund_in und Liebhaber_in. Christus/Christa kann die Züge aller annehmen: asiatisch, männlich, weiblich, queer gay, lesbian, behindert oder neuerdings auch fett (fat), wie ihn Lisa Isherwood45 beschreibt.

6.

… nicht männlich und weiblich (Gal 3,28)

Für die Kritik an androzentrischen, Herrschaft legitimierenden Christologien aus feministischer Perspektive war von Anfang an und ist bis heute Gal 3,26–28 bedeutsam: »Hier gilt nicht Jude, noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich und weiblich, sondern ihr seid alle einer in Christus Jesus.« Dass im Text männlich und weiblich verwendet wird und nicht Mann und Frau, verweist auf 40 Vgl. Hyun Kyung Chung: Schamanin im Bauch – Christin im Kopf. Frauen Asiens im Aufbruch, Stuttgart 1992. 41 Asnath N. Natar: Möglichkeiten und Perspektiven einer feministischen Seelsorgeberatung für die Frauen auf Sumba. Ein interkultureller Entwurf, Internationale Forschungen in Feministischer Theologie und Religion (Befreiende Perspektiven 2), Berlin 2012, 219ff. 42 Vgl. Mercy Amba Oduyoye: »Women and Ritual in Africa«, in: dies./Musimbi R.A. Kanyoro: The Will to Arise. Women, Tradition, and the Church in Africa, Eugene 1992, 9–24. 43 Delores S.Williams: Sisters in the Wilderness. The Challenge of Womanist God-Talk, New York 1993. 44 Vgl. C. Heyward: Kleid. 45 Lisa Isherwood: The Fat Jesus. Christianity and Body Image, New York 2008.

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Gen 1,27, wo ebenfalls männlich und weiblich steht. Umstritten ist die zeitliche Einordnung von Gal 3,26–28. Ist die hier erkennbare explizite Verneinung geschlechtsspezifischer Hierarchien, die in der (vor-)paulinischen Gemeinschaft der auf Christus Getauften vertreten wurde, schon auf Jesus zurückzuführen (Schüssler Fiorenza) oder handelt es sich um eine spätere Entwicklung? Nach Brigitte Kahl verkörpert für Paulus Christus von nun an die Einzigartigkeit und Einheit Gottes auf neue, messianische Weise im Einswerden mit den »anderen« und gibt »dem jüdischen Monotheismus eine radikal inklusiv-universale und antihierarchische Definition«. In dieser Christusgemeinschaft werden die alten nationalen, religiösen, sozialen und Geschlechteridentitäten transzendiert.46 Wie das Bilderverbot im Ersten Testament, betont dieses frühchristliche Bekenntnis, dass trotz einseitig männlicher Darstellungen von Gott und Christus und einer androzentrischen Sprache, die bis heute dominieren, das Göttliche unsichtbar ist bzw. jenseits aller unserer Vorstellungen liegt.

7.

Exklusivität

Wie ist mit dem Exklusivitätsanspruch Jesu umzugehen? »Die Kreuzigung Jesu war kein Einzelfall, eher ein typisches Geschehen. Für die römischen Herren hat die Kreuzigung eine wichtige öffentliche Aufgabe: Sie soll die Bevölkerung abschrecken, sich an solchen Bewegungen zu beteiligen; sie soll die Anhängerschaft der Gekreuzigten zerstreuen; sie soll sichtbar machen, wer die Herrschaft im Lande hat. Aus diesen Gründen wurde die Hinrichtung so öffentlich wie möglich vollzogen. Die Hingerichteten starben langsam und sehr qualvoll. Ihre Leichen sollten in der Regel hängen bleiben, bis sie von Tieren gefressen waren.«47

Dennoch konnte der Tod Jesu und seine Auferstehung eine besondere Bedeutung erlangen. Wie schon zu Beginn ausgeführt, finden sich die in Jesu Botschaft erkennbaren frauenbefreienden Aspekte auch in anderen Bewegungen jener Zeit. Einige Wurzeln der Vorstellungen von Egalität und einer damit verbundenen Aufhebung der Geschlechterrollen, wie sie sich in der Jesusbewegung bzw. in einigen Gruppierungen der frühen christlichen Gemeinden finden, sind schon

46 Brigitte Kahl: »Der Brief an die Gemeinden in Galatien. Vom Unbehagen der Geschlechter und anderen Problemen des Andersseins«, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh (1998) 32007, 603–611, hier : 607. 47 D. Sölle/L. Schottroff: Jesus von Nazaret, 109.

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Renate Jost

im Ersten Testament greifbar.48 Kulturanthropologische Belege verweisen darauf, dass Gleichwertigkeitsbestrebungen jenseits hierarchischer Strukturen keine geniun-christlichen Wurzeln haben, sondern »hellenistischen Einheitsverlangen« zugeordnet werden können.49 Die Einzigartigkeit von Tod und Botschaft Jesu zu betonen, ist also, historisch betrachtet, falsch. Feministische Kritikerinnen, Stimmen aus der Ökumene, dem jüdischchristlichen und interreligiösen Dialog haben gezeigt, wie die Lehre von der absoluten Einzigartigkeit Jesu auf der Ebene der Ekklesiologie zu einer Geschichte von Ausgrenzung und Unterwerfung geführt hat: zu kirchlichem Triumphalismus und Imperialismus, zu einer durchgängigen Tradition christlichen Antijudaismus’, zur Abwertung anderer Religionen, Kulturen und Völker in Form von Rassismus und Kolonialismus und zu einer Geschichte des Sexismus als Form theologischer und praktischer Marginalisierung und Abwertung von Frauen. Wie kann auf diesem Hintergrund angemessen von Jesus Christus heute gesprochen werden? Wie kann dies im Kontext anderer Religionen geschehen? Warum glaube ich an Jesus Christus und wende mich nicht einer anderen Religion zu? Dies führt zu meinem 8. Thema.

8.

Spiritualität

Angemessenes Sprechen von Christus, so Luise Schottroff, Dorothee Sölle u. a., ist nur möglich im Sprachgestus des Bekenntnisses (z. B. »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!«, Mt 16,16) und in der Sprache des Gotteslobes (z. B. »Schönster Herr Jesus«, EG 403).50 Die Beispiele feministisch inspirierter Christus/Christa/Christ*spiritualität sind vielfältig und zahlreich. Ich möchte mich auf zwei bildliche Aspekte popularer Religiosität beschränken: – Die Darstellungen Gekreuzigter – Das weibliche Christkind 48 Vgl. R. Jost: Gender, 49–69, 140–143. 49 Daniel Boyarin: A Radical Jew. Paul and the Politics of Idendity (Contraversions 1), Berkeley/ Los Angeles/London 1994, 7. 50 Vgl. Dorothee Sölle: »Der Erstgeborene aus dem Tod. Dekonstruktion und Rekonstruktion der Christologie«, in: R. Jost/E. Valtink (Hg.): Ihr aber, für wen haltet ihr mich?, 64–77, hier: 75. Luise Schottroff: »Kreuz, Opfer und Auferstehung. Geerdete Christologie im Neuen Testament«, in: R. Jost/E. Valtink (Hg.): Ihr aber, für wen haltet ihr mich?, 102–122, hier: 118–122.

Themen feministischer/gendergerechter Christologien

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Die Darstellungen Gekreuzigter Das Kreuz als Symbol christlichen Glaubens war und ist eine Provokation. Seine Bedeutung wurde und wird auch in feministischen Theologien, wie ich schon kurz dargestellt habe, kontrovers diskutiert. Häufig verweisen Darstellungen Gekreuzigter mehr oder weniger provozierend auf aktuelle Leidenssituationen aufgrund ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Motiv weiblicher Gekreuzigter findet sich zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Kulturen, mit unterschiedlichem ethnischem und sozialem Hintergrund weltweit. Bildendende Kunst der Neuzeit (z. B. das Bild der gekreuzigten Hermaphrodite von Horst Wackerbarth)51 und Film52 nehmen auch queere und transgender Aspekte auf. Im westlichen und mittleren Europa gibt es eine lange Tradition weiblicher Gekreuzigter.53 Dabei handelt es sich um eine hauptsächlich vom Volk im westlichen und mittleren Europa und hier besonders in den deutschen Alpenländern angerufene und verehrte Heilige, die unter unterschiedlichen Namen angerufen wurde: virgo fortis, hilge vratz, Uncumber, Ontcommer, Liberata und Kümmernis. Meist wird sie wie auf diesem Bild aus der Abtei Frauenwörth auf Frauenchiemsee/Oberbayern aus dem 15. Jahrhundert dargestellt: eine weibliche Gestalt mit Brüsten, am Kreuz hängend, mit einem Bart oder auch ohne Bart, in ein langes Gewand gehüllt und mit einer Krone auf dem Haupt, die von Nägeln durchbohrten Hände am Querbalken, die ungenagelten beschuhten Füße auf einer Stütze (Brett, Steinblock) oder frei. Nach einer Legende soll die Heilige die Tochter eines heidnischen Königs aus Portugal gewesen sein, nach anderen Fassungen eines anderen Herrschers. Es heißt, der eigene Vater habe sie kreuzigen lassen, weil sie, um keinem irdischen Manne anzugehören und einer Verheiratung zu entgehen, sich vom Himmel einen Bart erbeten habe. Für Kreuzesdarstellungen vor dem Hintergrund feministischer Christologien möchte ich drei Darstellungen vorstellen, die in meiner Biographie eine Rolle gespielt haben: Einige Wochen nach Ostern 1984 besuchte ich das Union Theological Seminary (UTS), an dem ich 1981–1982, ermöglicht durch ein Stipendium des Ökumenischen Rates der Kirchen, Feministische Theologie studiert hatte. Ob51 Vgl. Jürgen Zänker : Crucifixae. Frauen am Kreuz, Berlin 1998, 121. 52 Z. B. Lars van Trier : Dancer in the Dark, 2000; Jaco van Dormael: Das brandneue Testament, 2015. 53 Ilse E. Friesen: The Female Crucifix: Images of St. Wilgefortis Since the Middle Ages, Waterloo 2001.

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wohl das UTS zu diesem Zeitpunkt der Ort für Feministische Befreiungstheologien weltweit war, wurde die Skulptur »Christa« der britischen Künstlerin Edwina Sunday, die während der Osterzeit in der New Yorker Kathedrale St. John the Divine gezeigt worden war, heftig und kontrovers diskutiert. Die gekreuzigte »Christa« erinnert an das Leiden unzähliger schwarzer Frauen und Männer durch die Sklaverei und ihre Diskriminierung bis heute, wie es die aktuellen Auseinandersetzungen nach Erschießung unbewaffneter Schwarzer durch meist weiße Polizisten in den USA zeigen.

Das zweite Bild zeigt ein Geschenk aus El Salvador – die Augustana-Hochschule unterhält eine Partnerschaft zur dortigen Universität – und hängt im Rektorat: Frauen und Männer aus El Salvador haben das Martyrium einer Lehrerin in einem Kreuz dargestellt. Das Kreuz spricht deutlich die Sprache einer Theologie der Befreiung: Es zeigt eine Lehrerin, die vor ihrer Schule von den Militärs ermordet wurde, vermutlich weil sie das diktatorische Regime kritisiert hatte. Ihr Tod ist auch Ausdruck des Leidens der politischen und ökonomischen Unterdrückung der Menschen, vor allem auch der Frauen in El Salvador und ganz Mittel- und Lateinamerika. Die Darstellung ist paradox. Denn obwohl sie durch das Kreuz auf die Ermordung dieser Frau hinweist, ist sie voll Leben. Das wird allein schon deutlich durch die bunten Farben der Darstellungen, aber auch durch das, was abgebildet wird, das reiche Leben dieser Frau. Sie wird beim Unterrichten, beim Wiegen eines Kindes, beim Kaffeebeerenpflücken und beim

Themen feministischer/gendergerechter Christologien

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Hüten der Kühe gezeigt. Ihre Haltung ist nicht nur die einer Gekreuzigten. Die Haltung der Frau kann aber auch, wie es auch sonst aus der Ikonographie bekannt ist, eine segnende Haltung sein und damit auch Sinnbild der Hoffnung auf Auferstehung und Befreiung symbolisieren.

Das dritte Kreuz kommt aus Neuendettelsau. Es ist das Werk von Manuela Hui, Abiturientin des Gymnasiums. Das Kunstwerk von Manuela Hui trägt den Titel: Des Leibes Feind oder Das Kreuz der Kirche mit dem Körper der Frau. An diesem Kreuz sind kopflose nackte Frauenkörper in verschiedenen Posen befestigt. Ich verstehe diese Darstellung so, dass sie einerseits auf die Verbannung des erotischen, sexuellen, symbolisiert durch die unterschiedlichen Frauenkörper am Kreuz aus dem Raum der Kirchen, hinweist. Gleichzeitig wird auf die vielfältigen Formen der Gewalt aufmerksam gemacht, die dem Körper von Frauen in Vergangenheit und Gegenwart zugefügt wurden und werden – auch im Namen der Kirche und eines falsch verstandenen Christentums. Angefangen von abwertenden Äußerungen, die Frauen als minderwertig im Vergleich zum Mann be-

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schreiben, über Anschuldigungen wegen ihrer sexuellen Anziehung als Verführerin, bis hin zu körperlicher Gewalt, wie sie in der Hexenverbrennung kulminierte. Auch das Bild: Das erste Abendmahl, hängt an unserer Hochschule.

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Die Künstlerin Susan White schreibt dazu: »›Das Erste Abendmahl‹ ist gemäß dem ›Letzten Abendmahl‹ von Leonardo da Vinci aufgebaut. Obwohl ›das Letzte Abendmahl‹ ein großartiges Werk ist, wollte ich die Zustimmung zu dieser Darstellung von 13 Männern an einer Seite eines Tisches als gefeiertes Symbol einer patriarchalischen Religion in Frage stellen. Anstelle der Männer, alle mit ähnlichen Zügen, malte ich 13 Frauen aus verschiedenen Regionen der Erde. […] Die 200-Jahrfeier Australiens im Jahr 1988 beeinflußte mein Gemälde. Die Einstellungen zu diesem 200sten Jahrestag der Ankunft der ersten englischen Siedler in Australien waren widersprüchlich. Viele feierten dieses Ereignis, Aboriginals und ihre Freunde sahen es dagegen als Gedenken an eine Weißeninvasion an und protestierten. Die zentrale Stellung von Leonardos Christusfigur nimmt eine Aboriginalfrau ein, die ein T-shirt mit der Flagge der Landesrechte der Aboriginals trägt. Die anderen Personen stellen Frauen von verschiedenen Regionen der Erde dar, welche heute der australischen Gesellschaft angehören. Die Gestalt in der Position von Leonardos Judas ist eine blonde Person mit karierter Bluse und Jeans; anstatt des Geldbeutels hält sie ein ›dilly-bag‹ (Beutel der Aboriginalfrauen zum Sammeln von essbaren Pflanzen, Früchten und kleinen Tieren) in der Hand.«54

Die Gekreuzigten bzw. leidenden Personen selbst können zu Inkarnationen Christi, oder wie es Manuela Kalsky in einem anderen Zusammenhang formuliert, zu Christaphanien werden. Umgekehrt spiegeln sie Leidens-, Todes- und Auferstehungserfahrungen der Frauen aus den dargestellten Kontexten wider, als Schwarze Frau auf dem Hintergrund der Gewalterfahrungen von ehemaligen Sklavinnen, die anhaltend trotz formaler Gleichstellung unter Diskriminierung leiden, als politisch Verfolgter in El Salvator, als ihres Landes beraubter Aborigine in Australien oder Intersexueller. Allerdings hängen auch diese Deutungen wieder davon ab, wer sie macht und mit welcher Absicht.

Das weibliche Christkind Die in Unterfranken aufgewachsene und heute in Harvard lehrende katholische feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza beschreibt in ihrem Buch Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie ein Erlebnis mit ihrer Tochter, um zu veranschaulichen, warum unterschiedliche Vorstellungen von Jesus als dem heute erfahrbaren Christus für die Identität von Kindern und das eigene Leben wichtig sein können: »Als Chris vier Jahre alt war, kam sie eines Tages weinend und völlig aufgelöst aus dem Kindergarten nach Hause. Nach viel gutem Zureden erzählte sie, daß sie mit den anderen Kindern über das neugeborene Kind, dessen Geburtstag wir an Weihnachten 54 Susan Dorothea White: The First Supper. Artist Comment, 1999, verfügbar unter : http://www. susandwhite.com.au/enlarge.php?workID=94 [4. 4. 2018], übersetzt v. Renate Jost.

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feiern, gestritten hatte. Ihre SpielkameradInnen hatten behauptet, Jesus sei ein Junge, Chris dagegen war leidenschaftlich dafür eingetreten, daß das Christkind ein Mädchen sei. Als schließlich die Kindergärtnerin eingriff und bestätigte, daß Jesus ein Junge war, war Chris völlig am Boden zerstört. Da wir immer betont hatten, wie sehr wir uns freuten, daß sie ein Mädchen sei, und ihr den Namen Christina gegeben hatten, war sie überzeugt, daß das neugeborene Baby, um das soviel Aufhebens gemacht wurde, natürlich ein Mädchen sein mußte. Ihre Tränen und ihr Zorn bezeugten die unsichtbaren Narben, die Frauen bei der häufig unbewußten Wahrnehmung davontragen, daß Jungen, nicht Mädchen, Söhne, nicht Töchter, im Mittelpunkt unseres kulturellen und religiösen Erbes und Brauchtums stehen.«55

Da auch in meiner Kindheit das weibliche Christkind eine wichtige Rolle spielte und ich in der Nähe Nürnbergs (das weltberühmte Nürnberger Christkind) arbeite, abschließend noch ein Beispiel aus der Region. Auf einer Postkarte der Nürnberger St. Egidien Kirche ist die wohnsitzlose Ruth als Christkind abgebildet.

55 E. Schüssler Fiorenza: Jesus – Miriams Kind, 65.

Themen feministischer/gendergerechter Christologien

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Schon als kleines Mädchen hatte Ruth den Wunsch, das Christkind darstellen zu können. Dieser Wunsch wurde ihr verwehrt, da sie klein und pummelig war und somit nicht dem Idealbild des Christkindes entsprach. In der Gemeinschaft von St. Egidien konnte ihr nun dieser Wunsch erfüllt werden. Die leider viel zu früh verstorbene, aus Argentinien stammende postkoloniale feministisch/queere Befreiungs-Theologin Marcella Althaus-Reid beschreibt in ihrem Buch Indecent Theology (Unanständige Theologie) einen Karnevalsumzug durch ein Armenviertel in Buenos Aires, bei dem Jesu als Transvestit (S. 25) erscheint und kritische politische Lieder gesungen werden. Dieser Christus repräsentiert für sie nicht allein Gottes Option für die Armen. Vielmehr ist nach Althaus-Reid Carneval in Lateinamerika das Weihnachten der Unanständigen, z. B. Schwule, Lesben, ›Queere‹, die im theologischen Diskurs unsichtbar sind: »Carnivals in Latin America are the Christmas of the indecent, and yet they are invisible in theological discourse.«56 Die Christaphanien57 und Queere Christ*logien können dazu beitragen, die überwiegend männlich bzw. binär geprägten Bilder, die durch eine androzentrische Sprache verstärkt werden, zu dekonstruieren bzw., im Anschluss an Butler, für ein ›undoing gender‹58 und können den Freiraum für neue, vielfältige Imaginationen des Heiligen und mystischer Verschmelzung öffnen. Natürlich können alle diese Vorstellungen auch missbraucht werden. Doch letztlich geht es dabei auch um Würde (dignity) und Bestärkung (empowerment), darum, an etwas Teilzuhaben, das größer ist als wir selbst, an Transzendenz, und dem Geheimnis des Göttlichen. Dies gilt für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, sozialer Herkunft.

56 Marcella Althaus-Reid: Indecent Theology – Theological Perversions in Sex, Gender and Politics, London 2000, 25. 57 Vgl. auch M. Kalsky : Christaphanien. 58 Im Anschluss an Butler wäre dies dann »undoing gender«.

Ulrike Swoboda

Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden

1.

Einleitung1

Die Fragen, was ist der Mensch, ab wann ist der Mensch ein Mensch und was und wer ist Familie, werden heute durch die Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin neu gestellt. In der Öffentlichkeit ist das Thema Reproduktionsmedizin omnipräsent. In Deutschland brachte im Mai 2015 eine 65-jährige 13-fache Mutter Vierlinge zur Welt.2 Am Ende des Jahres 2014 machten die Konzerne Google und Facebook mit der Meldung auf sich aufmerksam, ihre Mitarbeiterinnen bei der Kryokonservierung (Einfrieren) ihrer Eizellen finanziell zu unterstützen.3 In vielen europäischen Ländern werden derzeit Änderungen der Fortpflanzungsmedizingesetze vollzogen als Reaktion auf die medizinischtechnischen Weiterentwicklungen.4 Zahlreiche Monographien, die sich kritisch mit dem Thema des ›Kinderkriegens‹ auseinandersetzen, sind auf dem Büchermarkt erschienen.5 Inwieweit diese Entwicklungen bezüglich Reproduktion 1 Für den folgenden Abschnitt vgl. Ulrike Swoboda: »Bezüge zum Leben. Eine empirischqualitative Analyse evangelischer Stimmen in Europa zur Reproduktionsmedizin«, in: Uta Heil/Annette Schellenberg (Hg.): Frömmigkeit. Historische, systematische und praktische Perspektiven, Göttingen 2016, 275–287, hier: 279f. und dies.: »Konstanten schaffen: Zwischen Theologie, Anthropologie und Christologie«, in: Review of Ecumenical Studies 8 (3/2016) 372–390, hier: 374–376. 2 Vgl. Martin Spiewak: Dubioser Rekord, 16. 4. 2015, verfügbar unter : http://www.zeit.de/2015/ 16/kuenstliche-befruchtung-schwangerschaft-vierlinge-berlin [21. 2. 2017]. 3 Vgl. Kolja Rudzio: Ein Kind von Apple, 6. 11. 2014, verfügbar unter : http://www.zeit.de/2014/ 44/egg-social-freezing-apple-facebook-eizellen [21. 2. 2017]. 4 Z. B. trat in Österreich mit 23. 2. 2015 das Fortpflanzungsmedizinrechts-Änderungsgesetz in Kraft. Einen guten Überblick bieten hierfür Peter Barth/Martina Erlebach: Handbuch des neuen Fortpflanzungsmedizinrechts, Wien 2015. In der Schweiz wurde im Juni 2015 eine Verfassungsänderung zur Präimplantationsdiagnostik angenommen. In England sind seit 2. 2. 2015 Drei-Eltern-Babys erlaubt, um die Weitergabe von mitochondrialen Krankheiten von der Mutter auf das Kind zu verhindern. 5 Angelika Walser : Ein Kind um jeden Preis? Unerfüllter Kinderwunsch und künstliche Befruchtung. Eine Orientierung, Innsbruck 2014. Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. Samenspender, Leihmütter, Künstliche

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europaweit auch im Aufmerksamkeitshorizont der evangelischen Kirchen vorhanden sind, lässt sich anhand einer Sammlung von rund 100 historischen Dokumenten belegen, die von einzelnen Mitgliedskirchen der GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa) in den letzten Jahrzehnten herausgegeben wurden.6 Seit 2012 hat die GEKE einen besonderen Fokus auf die Beschäftigung mit Fragen rund um Schwangerschaft und Geburt gelegt. In dem von ihr eingesetzten Fachkreis für Ethik ist ein Dokument entstanden, das sich umfassend den Fragen und Problemen des Lebensanfangs widmet.7 Der Fokus des GEKE-Dokuments und vieler evangelischer Dokumente zu reproduktionsmedizinischen Fragen liegt vor allem in neuerer Zeit auf umfangreichen Sachinformationen zu den verschiedensten reproduktionsmedizinischen Techniken und Möglichkeiten (In-vitro-Fertilisation [IVF], Interzytoplasmatische Spermieninjekition [ICSI], Leihmutterschaft, Gametenspende, Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen, reproduktives Klonen, etc.).8 Einige Dokumente bieten in der Behandlung dieser Themenkreise eine explizite Auseinandersetzung mit dem christlichen Menschenbild, andere Dokumente lassen Bilder von Gott und Mensch scheinbar unreflektiert neben den ethischen Auseinandersetzungen mitlaufen. Sowohl bei der expliziten als auch bei der impliziten Auseinandersetzung mit der christlichen Anthropologie wird das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit strapaziert, um darüber sowohl Gott selbst als auch den Menschen als auch die Beziehung zwischen Gott und Mensch zu beschreiben. Ein christologischer Bezug zur Gottebenbildlichkeit wird dabei nur selten hergestellt. In einem ersten Schritt soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Gottebenbildlichkeit in evangelischen Dokumenten zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin verhandelt wird. Darin wird gesondert auf die Darstellung des Zusammenhangs von Gottebenbildlichkeit und Christologie fokussiert. Der zweite Schritt ist einer spezifisch feministischen Perspektive gewidmet und der Frage, ob die Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes und das Geborensein aus einer Frau über die Christologie in Verbindung gebracht werden können. Befruchtung, Frankfurt/M. 2014. Eva Maria Bachinger : Kind auf Bestellung. Ein Plädoyer für klare Grenzen, München 2015. 6 Diese Sammlung an Dokumenten wurde u. a. im Büro der GEKE (engl. CPCE) erstellt und durch die Autorin in den letzten drei Jahren ergänzt. Die Dokumente stellen die Forschungsgrundlage einer empirischen Analyse dar, deren Zwischenergebnisse diesem Artikel zugrunde liegen. 7 Für einen Überblick vgl. Community of Protestant Churches in Europe: »A Protestant Guide to Reproductive Medicine«, in: focus 27 (1/2016), 4–12 in Englisch, Deutsch und Französisch, verfügbar unter : http://www.cpce-repro-ethics.eu [4. 4. 2018]. 8 Das ist einerseits sehr zu würdigen, weil eine ethische Urteilsbildung umfangreiche Sachinformationen zur Voraussetzung hat. Andererseits geht diese intensive Beschäftigung möglicherweise auf Kosten eines umfassenden theologischen Nachdenkens.

Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden

237

2.

Die Gottebenbildlichkeit in Dokumenten evangelischer Kirchen in Europa zu reproduktionsmedizinischen Fragen

2.1

Hinführung

Ren8e Schröder, eine österreichische Biochemikerin, die viele Jahre der Bioethik-Kommission der österreichischen Bundesregierung angehörte, schreibt: »Die meisten Menschen hätten gerne, dass sie etwas Besonderes und Einzigartiges sind, zum Beispiel das Ebenbild Gottes. Sein kulturgeprägtes Wunschdenken steht dem Menschen da wirklich im Weg. Ich möchte erst gar nicht darauf eingehen, denn damit kommen wir nicht weiter.«9 Ganz anders argumentieren hier Dokumente evangelischer Kirchen in Europa. In diesen Dokumenten gilt die Gottebenbildlichkeit vielmehr als der schlechthinnige Ausgangspunkt anthropologischer Definitionsversuche. In einer Publikation der GEKE zum Thema Gerechtigkeit heißt es nach der Durchsicht einiger evangelischer Dokumente zusammenfassend: »Wenn die Dokumente über das Leben als Gabe sprechen, betonen sie, dass Menschen nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Diese aus Gen 1–2 gewonnene anthropologische Einsicht dient dann als Grundlage für die Begründung der Menschenwürde aus christlicher Sicht«.10 In einer Handreichung für Gemeinden für den Umgang mit Rechtsradikalität und Fremdenfeindlichkeit mit dem Titel Nächstenliebe leben. Klarheit zeigen der ökumenischen AG Kirche für Demokratie und Menschenrechte der evangelischen Kirche Sachsen wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage für »Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Recht und Gerechtigkeit«11 gedeutet. Ähnlich argumentieren die Dokumente evangelischer Kirchen in Europa, wenn es um ethische Fragen der Reproduktionsmedizin geht. Stets wird die Gottebenbildlichkeit als anthropologische Grundbestimmung angeführt und mit weiteren moralischen Begriffen in Verbindung gesetzt oder überhaupt in diesen nahezu aufgelöst, wie es z. B. häufig bei der Menschenwürde der Fall ist. Auf der einen Seite haben wir somit eine formale Konstante in der gemeinsamen Verwendung der Gottebenbildlichkeit zur anthropologischen Bestimmung, welche sich durchgängig durch viele evangelische Dokumente zieht – und das unabhängig vom materialethischen Thema. Andererseits wird bei genauerer Analyse erkennbar, dass die Dokumente mit der Gottebenbildlichkeit im Detail unter9 Ren8e Schröder: Die Erfindung des Menschen. Wie wir die Evolution überlisten, Salzburg/ Wien 2016, 47. 10 Vgl. Michael Bünker/Frank-Dieter Fischbach/Dieter Heidtmann: Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge (Leuenberger Texte 15), Leipzig 2013, 109. 11 Vgl. Ökumenische Arbeitsgemeinschaft »Kirche für Demokratie und Menschenrechte«: Nächstenliebe leben. Klarheit zeigen. Handreichung für Gemeinden zum Umgang mit Rechtsradikalität und Fremdenfeindlichkeit, Dresden 2016, 27–33, hier : 33.

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Ulrike Swoboda

schiedliche Denkwege verfolgen. Die christologische Deutung der Gottebenbildlichkeit stellt dabei ein maßgebliches Unterscheidungsmerkmal in der Interpretation der Gottebenbildlichkeit dar.

2.2

Evangelische Dokumente in ihrer Verwendung der Gottebenbildlichkeit im Vergleich

In diesem Abschnitt wird versucht, die Denkwege der evangelischen Dokumente, die sich mit reproduktionsmedizinischen Themen auseinandersetzen, anhand der Gottebenbildlichkeit nachzuzeichnen. Dabei wird folgenden Fragen nachgegangen: 1. Welche Grundlagen führen die Dokumente für die Beschreibung der Gottebenbildlichkeit an? 2. In welche Kontexte wird die Gottebenbildlichkeit in den Dokumenten gestellt? 3. Welche Bedingungen haben auf die Gottebenbildlichkeit Auswirkung bzw. keine Auswirkung? 4. Welche Strategien werden in den Argumentationen verfolgt, um 5. zu welchen Konsequenzen zu gelangen? Als Grundlage der Gottebenbildlichkeit wird wenig überraschend die biblische Schöpfungsgeschichte aus Gen 1,26–27 verwendet. Den Versen aus dem ersten Buch Mose wird in den Dokumenten mehr oder weniger Gewicht beigemessen. In einigen Dokumenten wird die Gottebenbildlichkeit gänzlich ohne biblischen Bezug ins Spiel gebracht. Die Gottebenbildlichkeit dient zur Beschreibung des Wesens Gottes, der Beziehung zwischen Gott und Mensch und der Beschreibung des Menschen. So ist die Gottebenbildlichkeit ein Zeichen für Gottes schöpferische Liebe.12 Die Gottebenbildlichkeit drückt das relationale Wesen Gottes aus, ähnlich wie die Trinität, die ihn letztlich vom Menschen unterscheidet.13 Viele Beschreibungen der Gottebenbildlichkeit fokussieren auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Durch die Gottebenbildlichkeit bejahe Gott den Menschen, nehme den Menschen bedingungslos an und berufe den Menschen zum Leben mit ihm. Gottebenbildlichkeit wird als Zusage,14 Bejahung,15 Annahme,16 Berufung17 und Begabung18 des Menschen durch Gott 12 Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche im Rheinland: Menschenwürde von Anfang an. Zur theologischen Orientierung in der bioethischen Debatte, 2005, 33. 13 Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image. An Ecumenical Report on Contemporary Challenges and Principles Relating to Early Human Life, 2008, 210. 14 Vgl. Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung u. a.: Pränataldiagnostik und Schwangerschaftskonflikt aus ethischer Sicht. Positionspapier der evangelischen Verbände EKFuL, BeB und DEKV als Grundlage für die Kooperation bei der Beratung und Begleitung schwangerer Frauen und ihrer Partner, Berlin 2013, 8. 15 Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 33. 16 Vgl. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland: Stellungnahme des Diakonischen Werkes der EKD zu Schwangerschaftsabbrüchen nach Pränataldiagnostik (so genannte Spätabbrüche), Stuttgart 2001, 9. Vgl. auch Bundesverband evangelische Behin-

Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden

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qualifiziert. Auch das Wesen des Menschen wird durch die Gottebenbildlichkeit beschrieben. So manifestiere die Gottebenbildlichkeit den Menschen als Beziehungswesen,19 drücke das Wesen und die Würde des Menschen20 aus und sei eine grundlegende anthropologische Bestimmung des christlichen Glaubens. Die Einstiftung des Ebenbildes mache den Menschen zum Menschen.21 »Die Erschaffung des Menschen falle mit dem Schöpfungsakt zusammen.«22 Die Gottebenbildlichkeit beschreibe den Menschen als von Gott angesprochen und zur Antwort aufgefordertes Wesen.23 Die Gottebenbildlichkeit ziele auf den Menschen als Person ab.24 Neben der Bestimmung von Gott, des Menschen und der Beziehung zwischen diesen beiden Größen begegnen auch allgemeine Aussagen über die Gottebenbildlichkeit wie z. B., dass die Gottebenbildlichkeit eine theologische Erkenntnis25 darstelle. Gottebenbildlichkeit sei eine Überzeugung26, ein Gedanke27, eine Einsicht28 oder Beziehungswirklichkeit29. In den Dokumenten zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin wird der Gottebenbildlichkeit kaum grundsätzliche Aufmerksamkeit geschenkt. Sie begegnet beinahe ausschließlich im Kontext weiterer moralischer oder theologischer Termini. Die Würde30 des Menschen wird genannt, im weiteren Kontext auch Liebe31, Freiheit32 und Verantwortung33. Der Zusammenhang zwischen diesen

17 18 19 20 21 22 23

24 25 26 27 28 29 30 31

dertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik. Empfehlungen an evangelische Dienste und Einrichtungen für eine geregelte Kooperation, Berlin 2009, 9. Vgl. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung, 9. Vgl. Beratungskommission »Biotechnologie und Gentechnik« bei der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: Forschung an humanen Stammzellen. Eine Argumentationshilfe für die ethische Bewertung, Darmstadt 2004, 17. Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 10. Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 9. Vgl. auch Ulrich H.J. Körtner : Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin, Wien 2001, 21. Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 8. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 8. Vgl. Wolfgang Huber: Das Ende der Person? Zur Spannung zwischen Ethik und Gentechnologie, Ulm 2001, o. S., verfügbar unter : https://www.ekd.de/20420.html [15. 3. 2018]. Vgl. auch Church of Scotland: Report of the Working Group on Embryo Research, Human Stem Cells and Cloned Embryos, Edinburgh 2006, 57. Vgl. U.H.J. Körtner : Verantwortung für das Leben, 21. Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 8. Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 210. Vgl. GEKE: Gesetz und Evangelium. Eine Studie auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen (Leuenberger Texte 10), Frankfurt/M. 2007, 74. Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 210. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 10. Vgl. U.H.J. Körtner Verantwortung für das Leben, 21. Vgl. Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland: Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen (EKD-Texte 71), Hannover 2002, 19.

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Termini reicht in den Dokumenten von synonymer Austauschbarkeit von Gottebenbildlichkeit und z. B. des Begriffs der Menschenwürde oder des Begriffs der Liebe bis hin zu losen Umschreibungsversuchen, bei denen bewusst oder unbewusst verabsäumt wird, ihr Verhältnis genauer zu definieren oder zu erklären. Ebenfalls im Zusammenhang der Gottebenbildlichkeit werden die Themen Krankheit, Behinderung, Schwangerschaftsabbruch, Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten und der Mensch als Belastung für seine Mitmenschen aufgegriffen, um in weiterer Folge darauf aufmerksam zu machen, dass diese Bedingungen auf die Gottebenbildlichkeit keine Auswirkung haben. Die Gottebenbildlichkeit stehe nicht im Zusammenhang mit dem »Götzendienst gegenüber dem Vitalen, Starken und Leistungsfähigen«.34 Daran schließt die Hauptstrategie der Argumentation der meisten Dokumente an, nämlich, dass die Gottebenbildlichkeit ausnahmslos und bedingungslos auf jeden Menschen zutreffe. Wird der Mensch als Bild Gottes verstanden, breche das Argument, dass das Personsein des Menschen von seinen Fähigkeiten und seiner Funktionalität abhängig ist, in sich zusammen.35 Ein an Bedingungen und Eigenschaften orientiertes Verständnis vom Menschen widerspreche der Gottebenbildlichkeit.36 Die Gottebenbildlichkeit begründe die Würde jedes menschlichen Lebens. Die Gottebenbildlichkeit wird also als eine ›Gleichmacherin‹ und zur selben Zeit als eine Schützerin der Individualität interpretiert. Die Gottebenbildlichkeit begründe das Tötungsverbot und lehre, jeden Menschen als Ebenbild Gottes zu sehen und zu achten. Einige Dokumente – vor allem die englischsprachigen – stellen einen unmittelbaren Bezug zwischen der Gottebenbildlichkeit und den Fragen der Reproduktionsmedizin her. Es wird ausführlich diskutiert, ab wann die Gottebenbildlichkeit in der embryonalen Entwicklung des Menschen als realisiert angesehen werden könne.37 Etwas polemisch wird gefragt, ob »jedes unserer 3 Millionen genetischen Basenpaare das Ebenbild Gottes trage oder, ob mit der Gottebenbildlichkeit nicht doch der gesamte Mensch«38 gemeint werden müsse. Die Konsequenzen, die die Dokumente aus ihren Überlegungen zur Gottebenbildlichkeit ziehen, können unter drei Anliegen gesammelt werden. 32 Vgl. Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung u. a.: Pränataldiagnostik und Schwangerschaftskonflikt, 8. 33 Vgl. Wolfgang Huber : Das Ende der Person? Vgl. auch Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 9, 17. Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 203. 34 Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik, 9. 35 Vgl. Church of Scotland: Report, 33. 36. 36 Vgl. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik, 9. 37 Vgl. Church of Scotland: Report, 39. 38 Vgl. Church of Scotland: Report, 6, 30, Caroline Berry zitierend.

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Erstens wird die Berufung auf die Gottebenbildlichkeit dazu verwendet, um den Schutz des Menschen begründen zu können. Zweitens wird durch die Gottebenbildlichkeit eine Verkündigung, sowohl im ermahnenden als auch im ermutigenden Stil, versucht. Drittens werden durch die Beschäftigung mit der Gottebenbildlichkeit Forderungen gestellt, mit dem Anspruch ein umfassenderes Nachdenken über die Gottebenbildlichkeit anzuregen. Die Gottebenbildlichkeit wird vor allem für den Schutz der Menschenwürde in Anspruch genommen.39 Dabei ist nicht immer klar, worin letztlich der Unterschied zwischen Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit besteht. Beide schließen das Recht auf genetische Individualität und das Recht auf Unversehrtheit an Leib und Leben ein. Als Beispiel für einen Anschlag auf die Menschenwürde wird das Klonen von Menschen angeführt.40 Ob dieses auch ein Angriff auf die Gottebenbildlichkeit darstellt, wird nicht näher verhandelt. Von der Gottebenbildlichkeit wird die Maxime der Unantastbarkeit des Lebens, die Unverfügbarkeit oder die Heiligkeit menschlichen Lebens abgeleitet.41 Die Gottebenbildlichkeit in jedem Menschen sei zu achten und jedes Leben muss in voller Würde anerkannt werden, da es von Gott zu seinem Ebenbilde geschaffen wurde. Wert und Würde des Menschen liegen in der Gottebenbildlichkeit begründet. Die Gottebenbildlichkeit stehe für die Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit und Unverfügbarkeit des Lebens. Die Gottebenbildlichkeit diene dem Schutz der Embryonen, sie nicht zu Forschungszwecken zu verwenden, wenn man der Auffassung folgt, dass alle Embryonen unabhängig von ihren Entwicklungsmöglichkeiten mit der Gottebenbildlichkeit begabt seien.42 Die Gottebenbildlichkeit begründe die Schutzrechte für das Lebewesen Mensch. Im verkündigenden Stil richten manche Dokumente aus, die Gottebenbildlichkeit sei ein Prädikat wie die Menschenwürde und könne nicht auf die befruchtete Eizelle übertragen werden.43 Die befruchtete Eizelle ist demnach kein Ebenbild Gottes. Gott schenke dem Menschen als seinem Ebenbild »Sinn, Ziel und Würde«44 und in jedem Menschen sei das Abbild Gottes zu sehen.45 Fachkräfte diakonischer Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen

Vgl. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 22. Vgl. U.H.J. Körtner Verantwortung für das Leben, 26. Vgl. U.H.J. Körtner Verantwortung für das Leben, 7. Vgl. Beratungskommission »Biotechnologie und Gentechnik«: Forschung an humanen Stammzellen, 17. 43 Vgl. Beratungskommission »Biotechnologie und Gentechnik«: Forschung an humanen Stammzellen, 17. 44 Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a., Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik, 9. 45 Vgl. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik, 9.

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dürfen auf die Zusage der Gottebenbildlichkeit vertrauen.46 »Aus der Zusage der Gottebenbildlichkeit erwächst die Freiheit zu Entscheidungen, die im Zusammenhang mit großer Verantwortung stehen.«47 Weil der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen ist, sei er fähig theologisch zu reflektieren und Prinzipien aufzustellen, um aufgrund dieser Entscheidungen zu treffen.48 Die Forderungen, die ein umfassenderes Nachdenken über die Gottebenbildlichkeit beinhalten, konzentrieren sich in den Dokumenten zumeist darauf, der Plausibilität des Gedankens der Gottebenbildlichkeit verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken. So heißt es, dass die Gottebenbildlichkeit »nicht aus biologischen Befunden ableitbar sei, aber zu ihnen in eine plausible Korrelation gebracht werden sollte«, sonst verkomme die Gottebenbildlichkeit zu einer »willkürlichen, ontologischen, metaphysischen oder religiösen Setzung«.49 Die Gottebenbildlichkeit sei eine Überzeugung, die sich bewähren müsse angesichts von kranken, behinderten und sterbenden Leben, heißt es in einem Dokument.50 Es wird auch beklagt, dass wenige Anstrengungen unternommen werden, um den Zusammenhang zwischen der theologischen Auffassung der Gottebenbildlichkeit und den physiologisch beschriebenen Vorgängen der Fortpflanzung und Embryologie nachvollziehbar zu machen.51 An dieser Stelle wird die katholische Kirche als Beispiel herangezogen, die den Überlegungen zu Fragen des Personseins, der Beseelung und dem Geist des Menschen durchaus Aufmerksamkeit schenkt, um das Bestehen der absoluten Würde des Menschen zu argumentieren.52 In einem anderen Dokument wiederum wird vor einer Resakralisierung des Natürlichen gewarnt, über welche kein neuer Zugang zur Gottebenbildlichkeit des Menschen möglich sei.53 In zwei Dokumenten kommt es zu einer gezielt christologischen Forderung angesichts der Gottebenbildlichkeit. So heißt es in einem, dass die Gottebenbildlichkeit am leidenden und gekreuzigten Christus Maß nehmen

46 Vgl. Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung u. a., Pränataldiagnostik und Schwangerschaftskonflikt, 8. 47 Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung u. a.: Pränataldiagnostik und Schwangerschaftskonflikt, 8. 48 Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 178. 49 U.H.J. Körtner Verantwortung für das Leben, 21. 50 Vgl. Ulla Schmidt: »Church, Public and Bioethics. Religion’s Construction of Public Significance through the Bioethical Discourse«, in: Leslie J. Francis/Hans-Georg Zieberts (Hg.): The Public Significance of Religion, Leiden 2011, 191–214, hier : 207. Vgl. auch Ulla Schmidt: »Religion in Norwegian Bioethical Discourse«, in: Friedemann Voigt (Hg.): Religion in bioethischen Diskursen. Interdisziplinäre, internationale und interreligiöse Perspektiven, Berlin u. a. 2010, 159–185, hier: 165f. Vgl. auch Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. u. a.: Beratung und Begleitung bei pränataler Diagnostik, 9. 51 Vgl. U. Schmidt: Religion in Norwegian Bioethical Discourse, 163. 52 Vgl. U. Schmidt: Religion in Norwegian Bioethical Discourse, 163. 53 Vgl. GEKE: Gesetz und Evangelium, 84f.

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müsse54 und in einem weiteren Dokument, dass sowohl die Gottebenbildlichkeit als auch die Inkarnation ihre Eignung als Grundlage für eine plausible Darstellung von moralischen Strukturen unter Beweis stellen müsse.55

3.

Christologie und Gottebenbildlichkeit in den Dokumenten evangelischer Kirchen in Europa zu reproduktionsmedizinischen Fragen

Bei aller Unterschiedlichkeit der Beschreibung der Gottebenbildlichkeit, eint doch viele Belege bis zu diesem Punkt der Denkweg, dass die Gottebenbildlichkeit den Menschen bedingungslos und ausnahmslos gilt.56 Der Mensch hat durch die Gottebenbildlichkeit eine besondere Beziehung zu Gott, da nur von ihm in der Bibel berichtet wird, dass er im Bild Gottes geschaffen ist.57 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen scheint unangreifbar zu sein, so lange bis der christologische Bezug hergestellt wird, was in nur wenigen Dokumenten überhaupt der Fall ist. Teilweise werden die Inkarnation Gottes und die Gottebenbildlichkeit parallelisiert. Beide bringen die unendliche Liebe Gottes für den Menschen und den einzigartigen Status des menschlichen Lebens zum Ausdruck.58 In diesem Fall wird eine Brücke zwischen Christologie und Gottebenbildlichkeit über das liebevolle Handeln Gottes geschlagen. In wiederum anderen Dokumenten begegnet Jesus als das vollkommene Bild Gottes, welches durch neutestamentliche Bibelstellen belegt wird.59 In diesem Fall kommt es zu einem spannungsreichen Nebeneinander der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner Sonderstellung, wie sie viele Dokumente aus dem Alten Testament interpretieren, und dem noch vollkommeneren Bild Jesu im Neuen Testament. Im Denkverlauf begegnet dieser Spannungszustand besonders stark, wenn zuvor die Erklärung verabsäumt wurde, dass der Mensch nicht vollkommen im Bild Gottes geschaffen sei oder es eine Wiederherstellung des Bildes Gottes in der Nachfolge Jesu bedürfe. Diese Erklärung wird auch nach dem klaren Verweis, dass Jesus allein vollkommen im Bild Gottes geschaffen wurde, vielfach nicht nachgereicht. Dadurch bleibt die Frage offen, wie die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit der Gottebenbildlichkeit Jesu in Zusammenhang steht.60 Die Vgl. U.H.J. Körtner Verantwortung für das Leben, 12. Vgl. U. Schmidt: Church, Public and Bioethics, 207. Vgl. U. Schmidt: Church, Public and Bioethics, 196. Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 195. Vgl. U. Schmidt: Church, Public and Bioethics, 198, 204. Vgl. Methodist Church in Britain: Created in God’s Image, 201, 203. Vgl. auch GEKE: Gesetz und Evangelium, 40. 60 Christoph Markschies geht in Gottes Körper. Jüdische, Christliche und Pagane Gottesvor-

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ständige Erneuerungsbedürftigkeit der Gottebenbildlichkeit kommt zum Ausdruck, wenn ausgesagt wird, dass nach reformiertem Verständnis die Intensität und die Länge von Gebeten dazu beitragen können, immer mehr zum Ebenbild Gottes erneuert zu werden.61 Nach lutherischer Tradition solle der Christ mehr und mehr dem Ebenbild Gottes ähnlich werden,62 was wiederum auf eine Fragmenthaftigkeit der Gottebenbildlichkeit schließen lässt. Nach biblisch-reformatorischem Verständnis sei der Mensch in seinem irdischen Leben nur bruchstückhaft Gottes Ebenbild und erst im ewigen Leben werde die Gottebenbildlichkeit vollendet. Gottebenbildlichkeit sei eine eschatologische Würde mit der Zusage derselben von Anfang an.63 Nach methodistischer Lehre stehe die Gottebenbildlichkeit in Zusammenhang mit der Heiligung der Gläubigen, die weder »als moralische Perfektionierung« verstanden werden solle, noch als »sittlich religiöse Vervollkommnung«, sondern »als Wirkung des Heiligen Geistes«.64 Der Heilige Geist erneuere »die durch die Sünde beschädigte und verkehrte Gottebenbildlichkeit des Menschen nach dem Bild Christi«.65 Es wird betont, dass auch »das Christentum mit seiner Rede von der Gottebenbildlichkeit des von Gott geschaffenen Menschen« zur »Vorgeschichte der Menschenrechte«66 gehöre und dass in Christus alle weltlichen Unterschiede zwischen Menschen ihren letzten normativen Anspruch verloren haben.67 Christus schenke sich den Glaubenden, »um sie durch seinen Geist nach dem Bild Gottes zu gestalten«.68

4.

Gottebenbildlichkeit und eine feministische Perspektive

Die christologische Deutung der Gottebenbildlichkeit bricht bis zu einem gewissen Maß die bedingungslose Zusprechung derselben. Die leidende und gekreuzigte Gestalt Jesu, an der es Maß zu nehmen gilt, stellt die Niedrigkeit des

61 62 63 64 65 66 67 68

stellungen in der Antike, München 2016, im siebenten Kapitel zur antiken Christologie auf den Zusammenhang von Ebenbild und menschlichem Körper ein, S. 418: »Die Vorstellung von einem menschlichen Körper Gottes ist vielleicht die wirkmächtigste Form, in der die antike Vorstellung eines göttlichen Körpers die heftige religiöse und philosophische Kritik an diesem Gottesbild überlebt hat – und vielleicht die radikalste Form, in der die ursprünglich jüdische Idee, dass der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen wurde, weitergedacht wurde: Der göttliche Körper ist eben der menschliche Körper – und umgekehrt.« Vgl. GEKE: Gesetz und Evangelium, 19, mit Verweis auf den Heidelberger Katechismus. Vgl. GEKE: Gesetz und Evangelium, 13. Amt für Sozialethik Evangelische Kirche: Menschenwürde von Anfang an, 33. Alle Verweise GEKE: Gesetz und Evangelium, 26. GEKE: Gesetz und Evangelium, 26. GEKE: Gesetz und Evangelium, 74. Vgl. GEKE: Gesetz und Evangelium, 74. GEKE: Gesetz und Evangelium, 29.

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Menschen in den Vordergrund. Zusätzlich kann behauptet werden, dass über die männliche Gestalt des leidenden und gekreuzigten Christus die Gottebenbildlichkeit als ›Gleichmacherin‹ und Schützerin der Individualität ein Stück weit an Identifikationsmöglichkeiten für Frauen verliert. Zumindest macht sich diese christologische Interpretation der Gottebenbildlichkeit aus feministischer Perspektive unter Umständen angreifbar und sollte eine nähere Bestimmung erfahren – wie in den Dokumenten zur Reproduktionsmedizin gefordert. Auf die Gestalt Jesu muss dabei nicht verzichtet werden, vielmehr soll nach einem weiteren Anknüpfungspunkt der Gottebenbildlichkeit an die Christologie gesucht werden. Für diese Reflexion wird an dieser Stelle der Entwurf der narrativen Theologie von Karin Ulrich-Eschemann vorgestellt. Sie versucht eine Interpretation des Geborenwerdens des Menschen. Was geschieht, wenn man die Gottebenbildlichkeit nicht ausschließlich vom Kreuzesgeschehen Jesu her bestimmt, sondern zusätzlich mit dem Geborenwerden Jesu aus einer Frau ins Verhältnis setzt? Neben Ulrich-Eschemann hat sich Christiane Kohler-Weiß um das Thema Geburt und Schwangerschaft sehr verdient gemacht. Bereits 2003 weist sie auf das Defizit hin, dass es »weder ein philosophisches Nachdenken über Schwangerschaft und Geburt noch eine Theologie der Schwangerschaft oder der Geburt«69 gebe. »Wer hier nach Worten sucht, betritt Neuland«.70 Insofern scheint es einerseits nicht verwunderlich, dass Themen wie Schwangerschaft und Geburt in historischen Dokumenten zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin keinen Platz finden, da zum Zeitpunkt ihrer Abfassung noch nicht genügend Vorarbeiten geleistet waren, auf die man hätte zurückgreifen können. Auf der anderen Seite verlangt es eine große Anstrengung bei Fragen der Fortpflanzungsmedizin das Thema Schwangerschaft und Geburt zur Gänze auszublenden, egal zu welcher Zeit. Christina Schües weist darauf hin, dass einige feministische Kreise von »Muttermord«71 sprechen, wenn das Thema Geburt schlicht und einfach vergessen wird und in weiterer Folge, »dass Menschen von einer Frau geboren wurden und dass diese Tatsache Implikationen hat für das (Selbst-)verständnis der Menschen«.72 Im Epilog ihrer Studie unter dem Titel »Der Angriff auf die Gebürtlichkeit« geht Schües auf »die Machtergreifung der Biotechnologien und der Künstlichen-Intelligenz-Forschung«73 ein und fragt 69 Christiane Kohler-Weiß: »Reproduktionsmedizin im Horizont der Geschöpflichkeit«, in: Bulletin Texte 25 (2003), 62–73, hier : 67. 70 C. Kohler-Weiß: Reproduktionsmedizin, 67. 71 Christina Schües: Philosophie des Geborenseins, Freiburg/München 2008, 15 Anm. 7. 72 C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 16. Vgl. auch Peter Trawny : »Was heißt Geburt?«, in: Philosophische Rundschau 56 (2009), 17–37, hier : 21, mit Berufung auf Schües. 73 C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 471–480, hier : 471: »Unter höchstem Rechtfertigungsdruck muss der Technologe die bestmögliche Kopie vom Besten machen. Aber wer oder was ist das Beste? Gott? Der Wissenschaftler? Der Auftraggeber?«

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nach dem Maßstab des Optimierungsdrangs der Anthropotechnik.74 Wessen Bild ist es eigentlich nach dem der Mensch versucht sein Bild zu schaffen, fragt Schües im Hinblick auf die Möglichkeit des Klonens von Menschen.75 Schües definiert ihre Studie als eine Philosophie des Geborenseins und weist darauf hin, dass jede Vorstellung von Geburt immer schon persönlich, gesellschaftlich, kulturell und medizinisch vermittelt ist.76 Das Geborensein hingegen, »ist eines der wenigen Charakteristika, das für alle Menschen gilt und somit universal ist, denn alle Menschen sind von jemandem, einer Frau, geboren worden.«77 In Berufung auf L8vinas beschreibt Schües Mutterschaft als »nicht substituierbare Basis für die Hervorbringung einer ethischen Subjektivität«.78 Es sind nach Schües die Frauen, die durch neun Monate Schwangerschaft, »Menschen zu moralischen Subjekten machen«.79 Da es sich bei Schües’ Werk um eine Philosophie und keine Theologie des Geborenseins handelt, begegnet keine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit an sich. Für UlrichEschemann drückt, wie in vielen evangelischen Dokumenten zu Fragen der Reproduktionsmedizin beobachtbar, die Gottebenbildlichkeit eine Sonderstellung des Menschen »gegenüber dem anderen Geschaffenen«80 aus. Allerdings geht sie im Gegensatz zu den meisten evangelischen Dokumenten auf die in Gen 1,27 beschriebene Geschlechterdifferenz ein und deutet die Erwähnung von Mann und Frau so, dass beide von Gott in Kooperation berufen werden. Diese Kooperation drücke sich nicht in einer abstrakten Verantwortung aus und schon gar nicht im Menschen als Mitschöpfer, sondern beide »bleiben Geschöpfe des Schöpfers in der dramatischen Geschichte Gottes mit den Menschen«.81 UlrichEschemann ist überzeugt, dass mit Gen 1,26f. und mit der Erwähnung von Mann und Frau nicht an die Zeugungsfähigkeit der beiden gedacht ist, sondern diese 74 C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 479. 75 Vgl. C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 479. 76 Vgl. C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 14. Vgl. Henning Theißen: »Natalität. Eine noch junge Begriffskarriere in der Anthropologie«, in: NZSTh 54(3) (2012), 258–311, hier : 306, mit Berufung auf Schües, die nach Ansicht Theißens »die Korrektur eines falschen Naturalismus der Natalität« erreicht. Vgl. auch Ulrich H. J. Körtner : Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Arbeiten zur Pastoraltheologie (Liturgik und Hynmnologie 61), Göttingen 2010, bes. 60–68, hier : 67f., der auf die Geburt als »kein biologisches brutum factum, das von der kulturellen Existenz des Menschen abgelöst ist, sondern ein Zeichen, das seine Bedeutung immer nur in unterschiedlichen kulturellen Interpretationspraxen gewinnt« verweist. 77 C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 13f. 78 C. Schües: Philosophie des Geborenseins, 304. 79 H. Theißen: Natalität, 304. 80 Karin Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen. Theologische und philosophische Erkundungen (Studien zur Systematischen Theologie und Ethik 27), Münster 2000, 151. 81 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 151.

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erst in Vers 28 durch ein besonderes Segenswort in den Blick kommt. Die Gottebenbildlichkeit ist damit von der Zeugungsfähigkeit des Menschen abgehoben, jedoch nicht unabhängig von ihr. Für Ulrich-Eschemann ist die Schöpfungsgeschichte Ausdruck dafür, dass der Mensch seine Mehrzahl nicht erst hervorbringt, sondern sich immer schon in der Gemeinschaft von Menschen vorfindet.82 »Des Menschen Gottebenbildlichkeit impliziert also dessen sozietäre Struktur. Der Mensch tritt als geselliges Wesen ins Dasein und entspricht darin dem schöpferischen Gott.«83 Ulrich-Eschemann hebt hervor, dass die feministische Theoriediskussion die Geschlechterdifferenz »als ein neues Paradigma für die Wahrnehmung des Menschen«84 etabliert hat. Sie möchte aber die Verschiedenheit von Mann und Frau in der biblischen Erzählung einzig in dem Sinn verstanden wissen, dass jeder Mensch einzigartig ist. »Diese Einzigartigkeit ist unaufhebbar wie die Unterscheidung der Geschlechter«,85 schreibt sie. Mit Hannah Arendt gesprochen ist es »eine weitere Bedingung des Menschseins«,86 »dass Menschen als je einzigartige verschieden voneinander sind. Diese Menschen sind Einzelne in einer Welt, in der viele einzelne Menschen sind. Diese Menschen sind einerseits gleich und doch jeder vom anderen verschieden.«87 Ulrich-Eschemann betont, dass die Geschöpfe seit jeher mit einander verbunden sind: »Keines hat einen Anfang. Alle haben einen Ursprung.«88 Der Mensch ist immer schon eingebettet in die Geschichte eines anderen Geschöpfes.89 In ihren weiteren Überlegungen bezieht Ulrich-Eschemann Gen 1,28f. ein. »In Gen 1,28f. ergehe der Schöpfungsauftrag an Adam und Eva gemeinsam – ohne eine Anweisung, wer für welche Aufgabe zuständig wäre, wer welche Eigenschaften hätte

82 Vgl. Karin Ulrich-Eschemann 2000, 44. Eberhard Jüngel: »Der Gott entsprechende Mensch«, in: Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler: Philosophische Anthropologie Erster Teil, Stuttgart 1974, 341–371, hier : 351: »Ontologisch früher als das Selbstverhältnis des Menschen ist also das Verhältnis eines anderen zu ihm. Der Mensch könnte sich gar nicht zu sich selber verhalten, wenn er nicht immer schon aus dem Verhältnis eines anderen zu ihm existierte. Ontologisch ist der Mensch das ganz und gar nicht in sich selbst begründete Wesen.« 83 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 44. 84 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 43. 85 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 46. 86 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 42. 87 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 42. 88 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 251. Vgl. auch U.H.J. Körtner Leib und Leben, 68: »Was aber die Transzendentalität der Person betrifft, so ist zwischen Anfang und Ursprung zu unterscheiden. Die Anfänglichkeit […], nämlich das beständige Anfangenkönnen des Menschen, setzt zwar sein Geborensein voraus. Es entspringt aber einem Ursprung, der nicht mit der Geburt zu identifizieren ist, sondern durch diese nur zeichenhaft repräsentiert wird.« 89 Vgl. U.H.J. Körtner Leib und Leben, 61: »Eben weil der Mensch gezeugt und geboren, nach seiner Geburt aber auf extreme Fürsorge, auf Erziehung und Bildung angewiesen ist, ist er ein f\´ om pokitij|m.«

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oder welche Eigenschaft die bessere wäre«.90 Schließlich macht Ulrich-Eschemann auf eine Parallele zwischen der Schöpfungsgeschichte und der Geburtsgeschichte91 Jesu aufmerksam: »Wenn uns die Schöpfungsgeschichte lehrte, dass Mann und Frau in diese Kooperation berufen werden, dann kann die Geburtsgeschichte Jesu lehren, wie Maria92 in diese Kooperation berufen wird. Sie wird in die Kooperation berufen, gemeinsam mit Gott zu handeln, damit dieser Christus auf die Welt kommen kann: geworden in einer Frau und geboren aus einer Frau.«93

Ulrich-Eschemann vergleicht die Kooperation zwischen Gott und Maria mit der Kooperation zwischen den ersten Menschen und Gott. Als das verbindende Element zwischen der Schöpfungsgeschichte und der Geburtsgeschichte Jesu stellt sie die Gottebenbildlichkeit heraus: »Wir entdecken ähnliche Strukturelemente: Die Menschen (Mann und Frau) als Ebenbild Gottes werden gerade durch diese Ebenbildlichkeit in die Kooperation mit Gott hineingestellt, sie sind berufen zu solcher Kooperation, berufen dazu, gemeinsam mit Gott zu handeln.«94 Das Geschaffensein als Ebenbild Gottes versteht Ulrich-Eschemann so, dass dem Menschen gerade nicht ein Bild seiner selbst vor Augen gestellt wird, vielmehr wird dem Menschen das Bild Gottes vor Augen gestellt, aber ohne Anspruch diesem gerecht werden zu müssen.95 »Der Mensch braucht nicht ein Gott zu werden, er darf wirklicher Mensch bleiben […] – dazu wird er beru90 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 47. 91 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2001, 216: »Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird immanent bleiben, solange es Menschen gibt«. Vgl. auch U.H.J. Körtner : Leib und Leben, 63: »Hannah Arendt sieht in der Geburt – notabene nicht in der Zeugung! – eine Wiederholung und Bestätigung des Schöpfungsaktes Gottes.« 92 Zur Diskussion, ob Maria in die Christologie einbezogen werden soll, vgl. K. UlrichEschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 176 und ihre Anmerkung man müsse »vor der Gefahr warnen, die Mariologie zu isolieren«, denn sie hätte »doch ihren festen Ort in der Christologie und der Ekklesiologie«. Mit Verweis auf die christlich orthodoxe Tradition und die Bedeutung der Gottesgebärerin in der Liturgie verweist Ulrich-Eschemann auf die »Mitarbeit« der Maria am Erlösungswerk Gottes, vgl. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 177. Aus evangelischer Sicht scheint die Beschäftigung mit der Mariologie »marginal« zu sein, vgl. z. B. Renate Jost: »Von altorientalischen Göttinnen zu Marienvorstellungen. Eine feministisch-evangelische Perspektive«, in: dies./Klaus Raschzok: Gender – Religion – Kultur 6, Stuttgart 2011, 37–54, hier : 37: »Als evangelische Professorin für Theologische Frauenforschung/Feministische Theologie mit einem Schwerpunkt im Alten Testament werde ich mich nicht auf das weite Parkett katholischer Mariologie wagen – zumal die Beschäftigung mit Maria in der evangelischen Theologiegeschichte marginal ist.« 93 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 157. 94 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 156. 95 K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 156f.

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fen.«96 Durch sein Geborenwerden hat jeder Mensch teil am Ursprung: »So tritt mit dem Geborenwerden die Geschöpflichkeit des Menschen in Erscheinung.«97 Wenn überhaupt, dann will Ulrich-Eschemann nur in diesem narrativen Kontext von der Würde des Menschen sprechen. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde sind in diesem Fall für sie synonyme Begriffe.98 Dass das Geheimnis Mensch über das Geheimnis der Gottebenbildlichkeit in Parallelität zur Unverfügbarkeit Gottes erklärt wird, qualifiziert Ulrich-Eschemann als negative Theologie und Anthropologie, von der nichts bleibt außer die Unverfügbarkeit des Menschen:99 »Doch was kann den Menschen schützen, wenn er als ›unverfügbar‹ erklärt wird? Wie und worin erscheint diese seine Unverfügbarkeit? Worin und wie tritt sie uns entgegen? Gibt es hier keine Beschreibungen dessen, dann bleibt es nur bei einer Abgrenzung, die unabsehbar bleibt: der Mensch, der ›letztlich‹ ein Geheimnis ist.«100

Spekulationen in diese Richtung bezeichnet Eschemann als aporetisch und gefährlich: Gefährlich deshalb, »weil jede Abgrenzung das, was jenseits liegt, freisetzt«101 und aporetisch, »weil keine endgültige Abgrenzung gefunden werden wird«:102 Ulrich-Eschemann versagt sich einer Definition und einer Verortung des »humanum«, denn sie will den Menschen in der je eigenen Geschichte entdecken. In seiner Geschichte ist der Mensch nicht unverfügbar, sondern tritt in Erscheinung ohne zum Gegenüber gemacht zu werden, sondern indem der Mensch zum Gegenüber wird.103 Aus eben dieser Geschichte kann der werdende Mensch nicht herausgenommen werden.104 Ohne Mutter würde die Geschichte des Geborenwerdens verloren gehen. Was den Entwurf von Ulrich-Eschemann anschlussfähig an die Verhandlung der Gottebenbildlichkeit in den Dokumenten zur Reproduktionsmedizin macht, ist, dass sie davor warnt, den Menschen zu definieren. Ulrich-Eschemann hebt hervor, dass »die Bestimmung des Menschen von seiner Geburtlichkeit her« sicher nicht die lang ersehnte Definition des Menschen darstelle.105 Im Geborenwerden scheint Ulrich-Eschemann eine 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105

K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 156f. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 44. Vgl. Gunda Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, Göttingen 2004, 328. E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 374: »Man bestimmt […] den Menschen selber als eine jede Antwort notwendig transzendierende Frage, als radikale Fraglichkeit.« K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 248. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 249. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 248f. Vgl. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 249. G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 24: »Menschen leben in Geschichten. Wer sie sind, das zeigt sich in den Geschichten, durch die sie geworden sind und die sie selbst wirken. Die vielen Geschichten der Menschen sind verwoben in die Geschichte Gottes.« Vgl. E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 345f.: »Lässt sich der Mensch definieren? Die Erkenntnisse der neueren Anthropologie sprechen dagegen. Spätestens seit Lessing

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Anthropologie mit fundamentaltheologischem Anspruch entdeckt zu haben, die den Menschen in seinem Werden dynamisch und prozesshaft eingebettet in seine Geschichte106 beschreibt. »Im Werden ist der Mensch unantastbar, nicht aber in einer festellbaren Eigenschaft oder einem ihm zugesprochenen Prädikat […]. Das Werden des Menschen, das Werden in und mit einer Mutter, das immer wieder neue Werden und immer wieder neue In-Erscheinung-Treten als ein Gegenüber macht die Würde des Menschen aus«.107

Ulrich-Eschemann will den Menschen nicht als eine physisch-psychische Entität fassen, sondern den Menschen in seiner leiblichen Existenz interpretieren, wie er/sie von einer Mutter geboren wird.108 Schlussendlich bringt Ulrich-Eschemann doch eine Definition des Menschen, die aber in ihrer Offenheit nicht genügend gewürdigt werden kann und mit der Erschaffung des Menschen im und zum Ebenbild Gottes in Zusammenhang gestellt werden sollte: »Ein Mensch ist jeder/jede, der/die von einer Mutter geboren wird«.109 Dieser Satz kann sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft gerichtet interpretiert werden. Die Frage nach dem Zeitpunkt, ab wann der Mensch geboren wird, lehnt UlrichEschemann jedoch von vornherein ab, da hier nicht das Geborenwerden des Menschen, sondern seine potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten im Fokus stehen, was wiederum der »fatalen Strategie des Zuerkennens von Eigenschaften oder Wesensmerkmalen«110 folgt.

106 107 108 109 110

(›Die Religion‹) erscheint der Mensch als eine undefinierbare Synthese von Zufall und Notwendigkeit.« Vgl. U.H.J. Körtner Leib und Leben, 61: »In Geschichten verstrickt zu sein, bedeutet, in einer Generationenfolge zu stehen.« K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 249. Vgl. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 250f. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 250. Vgl. H. Theißen: Natalität, 304 unter Berufung auf Schües: »Als moralisches Subjekt geboren zu werden, ist gleichbedeutend damit, von einer (schwangeren) Frau (aus-) getragen worden zu sein.« K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen, 250. Vgl. zum Thema Rationalität als Eigenschaft des Menschen G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 328f.: »Damit ist das Verständnis der Person als definiert durch Rationalität, wie es seit der Antike, insbesondere seit der Stoa und danach im Humanismus bis hin zum Verständnis des Menschen als autonomen Vernunftwesen bei Kant und in seinem Gefolge heute bestimmend ist, insofern eingeschränkt, als für die Anerkennung eines Menschen als Person nicht seine Ausstattung mit Vernunft, sondern allein die ihm von außerhalb zugesprochene Anerkennung grundlegend ist.«

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Diskussion

Die Christologie als Lehre vom Heil durch Jesus Christus und müsste grundsätzlich von einer ›Theologie der Geburt‹ unterschieden werden. Aber zur Christologie zählen auch die Debatten über das Leben Jesu. Die Frage ist, ob aus evangelischer Sicht grundsätzlich der Geburt Jesu und damit der Geburt des Menschen Bedeutung in der Christologie zukommen soll. Die Veröffentlichungen von evangelischen Kirchen in Europa zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin provozieren geradezu eine Beschäftigung mit der Frage, ob das Geborenwerden und das Geborensein im christlichen Menschenbild eine Rolle spielen soll oder nicht. Angesichts der Ausarbeitung einer Philosophie des Geborenseins durch Christina Schües betritt man auch nicht länger völliges Neuland im Nachdenken über die Geburt des Menschen. Eine ›Theologie der Geburt‹, die Begriffe wie Natalität und Geborensein in Bezug auf Jesus Christus und den Menschen aufnehmen könnte, existiert aber bis jetzt noch nicht. Das christliche Menschenbild wird grundlegend durch das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit bestimmt. Wie anhand vieler Beispiele gezeigt werden konnte, ist die inhaltliche Bestimmung derselben aber keineswegs einheitlich innerhalb der evangelischen Konfessionen. Der christologische Bezug wird in den meisten Dokumenten ausgespart und man begnügt sich mit dem Zuspruch einer universalen Gottebenbildlichkeit, die den Menschen gegenüber dem Rest der Schöpfung zu etwas Besonderem macht.111 In einigen Dokumenten wird die Gottebenbildlichkeit Jesu erwähnt, aber anschließend verabsäumt, die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit der Gottebenbildlichkeit Jesu ins Verhältnis zu setzen.112 Die Körperlichkeit der Geburt Jesu (und damit Marias auf die Weltbringen Jesu) und die Körperlichkeit des »Gottmenschen Jesus Christus« wird im Hinblick auf die Gottebenbildlichkeit nicht bedacht.113 Ulrich-Eschemann versucht mit ihrem Beitrag diesen Defizitanzeigen entgegenzuwirken. Sie bemüht sich um einen Umgang mit der Spannung, das christliche Menschenbild grundsätzlich offen zu halten, um es einerseits vor Prädikatszuschreibungen, die über Mensch- und Nichtmenschsein entscheiden könnten, zu schützen und 111 Vgl. G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 329: »Der Zuspruch der Gottebenbildlichkeit ist gleichsam der unbedingte Schutzraum eines jeden Menschen, unabhängig von seinen Kräften und Fähigkeiten.« 112 Vgl. E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 350: »Denn die Kategorie der Imago Dei (Gottebenbildlichkeit) ist mit dem geschichtlichen Namen Jesu Christi identisch. Die mit diesem Namen genannte Person ist der Gott entsprechende Mensch.« 113 C. Markschies: Gottes Körper, 418: »Wir vernachlässigen normalerweise die Bedeutung dieser Vorstellungen über den menschlichen Körper des Gottmenschen Jesus Christus – weil es, wie wir gesehen haben, von der Antike an große Schwierigkeiten mit jeder anthropomorphen Vorstellung von Gott gab, in paganen philosophischen Traditionen, aber auch in jüdischer und christlicher Literatur seit nachbiblischen Zeiten.«

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Ulrike Swoboda

andererseits die Undefinierbarkeit des Menschen aber doch so weit zu definieren, dass etwas da ist, das man schützen kann – in diesem Fall ist es die Geschichte des Menschen. Ihre Pointe im Bezug auf die Gottebenbildlichkeit ist, dass dem Menschen nicht sein eigenes Bild, sondern das Bild Gottes vor Augen gestellt ist, es aber nicht erfüllt werden muss. Nicht zum Gottsein ist der Mensch berufen, sondern zum Menschsein und zur Kooperation mit Gott. Damit ist ihr Ansatz mit einer Christologie kompatibel, die von der Gebrochenheit der menschlichen Gottebenbildlichkeit ausgeht, die Jesus Christus allein in Vollkommenheit abbildet. Ihre Definition des Menschen von der Geburt her (Ein Mensch ist jeder/jede, der/die von einer Mutter geboren wird) drückt die Geschichtlichkeit des Menschen aus, die das ständige Werden des Menschen in den Vordergrund stellt. Gunda Schneider-Flume setzt die Geschichtlichkeit des Menschen direkt mit der Gottebenbildlichkeit in Zusammenhang: »Der Begriff Gottebenbildlichkeit verweist darauf, dass der Mensch eine offene Geschichte ist, in der er mehr ist, als er selbst aus sich macht und machen kann.«114 Das Mehrund Offensein des Menschen ermöglicht überhaupt erst eine theologische Anthropologie, weil durch das Bild Gottes der Mensch eine Perspektive einnehmen kann, um sich von außen zu betrachten.115 Den Hinweis auf dieses Mehr des Menschen sollte man in den Dokumenten evangelischer Kirchen zu materialethischen Themen nicht vergessen, vor allem nicht, wenn sie einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Zu selbstverständlich scheint in kirchlichen Kreisen der Perspektivengewinn durch das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit zu sein, als dass noch eigens darauf hingewiesen werden würde. Der Mensch ist in der Lage sich sowohl zu seiner Geburt aus einer Frau als auch zum biblisch vermittelten Schöpfungsgedanken ins Verhältnis zu setzen. Damit die Verhältnisklärung gelingen kann, ist es entscheidend, die Gottebenbildlichkeit nicht reduziert zu transportieren. Bei allen Schwierigkeiten, die dieser Begriff traditionsgeschichtlich mit sich bringt,116 sollte die Gottebenbildlichkeit umfassend erklärt werden. Zur Erklärung der Gottebenbildlichkeit gehört biblisch der Bezug auf die Schöpfungsgeschichte wie auch auf die Geschichte von Jesus Christus. Den biblischen Belegen sollte eine umfassende

114 Vgl. auch G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 328. 115 Vgl. E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 345: »Weil der Mensch mehr als sich selbst und insofern erst sich selbst als ganzen Menschen erfahren kann, gibt es überhaupt theologische Anthropologie, gibt es so etwas wie eine theologische Definition des Menschen.« 116 G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 328: »Die Schwierigkeiten in den Auseinandersetzungen über die Gottebenbildlichkeit in der dogmatischen Tradition haben ihre Ursache darin, dass in der scholastischen Theologie die imago Dei als substanzhafte Ausstattung des Menschen verstanden wurde, während die Reformatoren und die evangelische Dogmatik in der Nachfolge der Reformatoren die Gottebenbildlichkeit relational verstehen.«

Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden

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systematische Reflexion folgen,117 die weder die Geburt Jesu, sein Leben, sein Sterben am Kreuz noch seine Auferstehung vernachlässigt. In einem Dokument der Church of Scotland zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin begegnet eine Erklärung der Gottebenbildlichkeit – die hier zurecht als nur eine unter vielen Möglichkeiten genannt wird, um den Menschen aus christlicher Sicht zu beschreiben –, die als Vorbild für das Zusammendenken von Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden Jesu in und aus einer Frau dienen könnte: »The creation of human beings ›in the image of God‹ implies, amongst other principles, the dignity of every human life (Gen. 1:26). Each individual is loved by God and is of inestimable value, exactly as he or she is. We understand the human person in the light of the incarnation, life, death and resurrection of Jesus Christ, who, while being in the form of God, was born of a woman’s womb as a baby like any other, and became a man (Phil. 2:6), living and dying for all humanity, imputing a special value to all human life.«118

6.

Ausblick

Das letztgenannte Zitat der Church of Scotland zeigt, dass die Gottebenbildlichkeit, in eine umfassende christologische Deutung eingebettet, erklärt werden kann. Es ist entscheidend, dass die evangelischen Kirchen Europas in der Öffentlichkeit ein Menschenbild vermitteln, das in einem ausgewogenen Verhältnis vom Menschen als Geschöpf Gottes und von der Geburt des Menschen aus einer Frau zu erzählen weiß. Angesichts der Geschichte Jesu, die seine Geburt einschließt, wäre eine Gottebenbildlichkeit, die auf die Geburt des Menschen Bezug nimmt, verallgemeinerungsfähig.119 Die christologische Deutung der Gott117 G. Schneider-Flume: Grundkurs Dogmatik, 324: »Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt aus der Wahrnehmung des Menschen in Gottes Geschichte. Sie kann und darf nicht abgeleitet werden von den wenigen biblischen Textstellen, die diesen Begriff nahelegen. Vielmehr müssen auch diese Textbelege im Gesamtzusammenhang der biblischen Rede vom Menschen gelesen werden. Erst dann lässt sich Gottebenbildlichkeit als Grundbegriff theologischer Anthropologie verstehen.« 118 Church of Scotland: Report, 25. 119 E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 344: »Die ursprüngliche Einheit von höchster Konkretheit einerseits und höchster Allgemeinheit andererseits, die die christliche Theologie für Gott und für ihn allein in Anspruch nimmt, nötigt die theologische Anthropologie zu Aussagen, deren Allgemeingültigkeit auch dann noch vertretbar sein muß, wenn Gott als Ens concretissimum (konkretestes Wesen) sozusagen sistiert wird. Nur der Gottesbegriff ist dieser ›theoretischen Selbstlosigkeit‹ fähig, die es erlaubt, die nur unter seiner Voraussetzung formulierbaren anthropologischen Sätze zugleich so zu formulieren, daß sie auch dem Gottlosen anthropologisch verständlich werden. Man muß also jeden Satz theologischer Anthropologie so umformulieren können, daß er auch, ohne Gott zu nennen, verständlich und einleuchtend ist.«

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Ulrike Swoboda

ebenbildlichkeit darf dabei nicht fehlen, um Missverständnissen durch eine unterkomplexe und allzu einseitige Bestimmung der Gottebenbildlichkeit zu vermeiden, die ausschließlich auf die Sonderstellung des Menschen abzielt und auf das Erlösungsgeschehen am Kreuz vergisst. Auf solche einseitigen Erklärungen der Gottebenbildlichkeit rekurriert Ren8e Schröder, wenn sie beanstandet, »der Mensch ist weder die Krone einer Schöpfung noch das Ziel der Evolution. Auch wenn sich einige Menschen für das Ebenbild Gottes halten: Dieses spiegelt eher den Charakter seiner Erfinder wieder als die universelle Stellung der Menschheit.«120 Zu Recht fordern deshalb einige evangelische Dokumente zu Fragen der Reproduktionsmedizin die Bezugnahme auf physiologisch beschriebene Vorgänge und auf Erkenntnisse der Naturwissenschaft bei der Beschreibung des christlichen Menschenbildes. Auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse bedürfen der narrativen Vermittlung und wollen in ein größeres Ganzes gestellt werden. Die Frage ist, ob das christliche Menschenbild hierzu einen Beitrag leisten kann oder bereits ausgedient hat und man in der Theologie Genanalysen mehr zutraut, etwas über die Definition des Menschen auszusagen, als dem Erzählen aus christlicher Perspektive.121 Es kann gerade in der evangelischen Ethik nicht darum gehen, die eine theologische Definition des Menschen anzubieten.122 Gerade in ihrer Offenheit liegt die Stärke evangelischer Ethik. Trotzdem darf diese Offenheit nicht zu einer Unterbestimmung der Gottebenbildlichkeit oder der Christologie führen. Der Entwurf Ulrich-Eschemanns und ihr Konzept vom Geborenwerden des Menschen aus einer Frau bauen einer solchen Unterbestimmung vor. Auf der einen Seite schafft sie es den Menschen in seiner Unbestimmtheit zu schützen und andererseits mit dem Geheimnis Mensch einen Umgang zu finden. Mit der Betonung des Werdens des Menschen beugt sie einer Fixierung des Menschenbildes vor und zeigt einen Weg, das Geborenwerden des Menschen aus einer Frau mit dem Geschaffensein im Bilde Gottes über den Kooperationsgedanken in Zusammenhang zu setzen. Die umfassendere Bestimmung der Gottebenbildlichkeit und der Christologie 120 R. Schröder : Erfindung des Menschen, 37. Vgl. H. Arendt: Vita activa, 216: »Dieser Anfang, der der Mensch ist, insofern er Jemand ist, fällt keinesfalls mit der Erschaffung der Welt zusammen; das, was vor dem Menschen war, ist nicht Nichts, sondern Niemand«. Vgl. auch E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 346: »Der bloße Zufall kommt deshalb ebensowenig als Wesensursprung des Menschen in Frage wie die reine Notwendigkeit.« 121 Thomas Krüger: Das menschliche Herz und die Weisung Gottes. Studien zur alttestamentlichen Anthropologie und Ethik (AThANT 96), Zürich 2009, 1: »Heute ließe sich wahrscheinlich durch eine Genanalyse einigermaßen klar bestimmen, ob etwas oder jemand ein Mensch ist oder nicht. Aber das ist nicht die Art und Weise, wie wir im alltäglichen Leben feststellen, ob wir es mit einem Menschen zu tun haben oder nicht.« 122 E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 345: »Es gehört zu den anthropologischen unbestreitbaren Einsichten der Theologie, daß der Mensch sich selbst – im Bösen wie im Guten! – entzogen ist.«

Gottebenbildlichkeit, Christologie und Geborenwerden

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über das Geborenwerden des Menschen aus einer Frau ist angesichts der komplexen Fragestellungen der Reproduktionsmedizin dringend erforderlich.123 Eine über das Geborenwerden geführte Gottebenbildlichkeit in christologischer Deutung in Form der leidenden (männlichen) Gestalt Jesu am Kreuz, käme nicht nur reproduktionsmedizinischen Fragen in der evangelischen Ethik und feministischen Anliegen, die den »Muttermord« beanstanden, entgegen,124 sondern beuge bis zu einem gewissen Grad auch der Entmenschlichung des Menschen vor, indem sowohl Jesus Christus als auch der Mensch, beide als Ebenbilder Gottes, mit ihren offenen (Geburts-)Geschichten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Paul Tillich bringt es in Das religiöse Fundament des moralischen Handelns auf den Punkt: »Ich schließe mit der Hoffnung, daß der immer wachsende Protest gegen die Entmenschlichung des Menschen nicht durch Wissenschaft und Technik, sondern durch ihre Absolutsetzung in Theorie und Praxis bald mehr als ein Protest werden möge: der Sieg eines Selbstverständnisses des Menschen, das alle Dimensionen der vieldimensionalen Einheit, die der Mensch ist, in Betracht zieht.«125

123 E. Jüngel: Der Gott entsprechende Mensch, 347: »Der Zuwachs an spezieller Erkenntnis über den Menschen ist zweifellos enorm. Die Frage nach dem Menschen selbst jedoch bleibt unbeantwortet – es sei denn, man wolle die vielen positiven Erkenntnisse mehr sagen lassen, als sie besagen.« 124 C. Kohler-Weiß: Reproduktionsmedizin, 67: »Ich bin davon überzeugt, dass grundlegend für die Ethik in Fragen der Reproduktionstechnologien das Verständnis von Schwangerschaft ist. Wenn wir nicht verstehen, was die Schwangerschaft ist und was sie für das Frausein und für unser Menschenbild bedeutet, dann verstehen wir auch nicht, auf welche Weise die Veränderungen durch die Reproduktionsmedizin unser Frausein und unser Menschenbild verändert. Gefährdungen kommen nur in den Blick, wenn wir wissen, was es zu verteidigen gilt. Und hier stehen wir erst ganz am Anfang.« Und weiter S. 69: »Dass Menschen auf dem Wege der Schwangerschaft ins Leben treten, hat seinen theologischen Sinn gerade darin, dass in der Schwangerschaft die Erfahrung der Geschöpflichkeit bewahrt wird und somit am Anfang jedes Menschenlebens steht. Geschöpflichkeit bedeutet Abhängigkeit, aus der heraus wir zur Selbständigkeit reifen«. Es ist anzumerken, dass Kohler-Weiß sich hier auf die Geschöpflichkeit und nicht auf die Gottebenbildlichkeit bezieht. 125 Paul Tillich: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns. Schriften zur Ethik und zum Menschenbild (Gesammelte Werke, Bd. III), Stuttgart 1965, 217.

Manuel Zelger

Ein funktionales Äquivalent der Christologie in der Theo-Logie1

Der im Folgenden unterbreitete Vorschlag, in der Theologie die Christologie durch ein funktionales Äquivalent zu substituieren, beruht auf der Voraussetzung, dass Theologie, soll sie Wissenschaft von Gott2 sein, als Universaltheorie zu begreifen ist. Eine solche Theorie ist dadurch gekennzeichnet, die gesamte Mannigfaltigkeit dessen, was es geben kann, auf eine letzte, unbedingte Einheit als deren Bedingung zurückführen zu können.3 Im Rahmen der so konzipierten Theologie4 kommt die Christologie als ein möglicher Lösungsvorschlag für einen Problemkomplex in den Blick, der gelöst werden muss, soll die Universaltheorie konsistent aufgebaut werden können. Aussagen der Christologie fungieren demzufolge als für die Konstruktion der Universaltheorie notwendige und damit unbedingt geltende Sätze. Als funktionales Äquivalent gilt dann, was ebenfalls als ein Lösungsvorschlag auf dasselbe Problem bezogen werden kann. Im Fol1 Dem Andenken Peter Reisingers († 14. 1. 2018) gewidmet. 2 Die Schreibweise ›Theo-Logie‹ in der Überschrift will als Hinweis auf das Verständnis der Theologie als Wissenschaft von Gott verstanden werden. 3 Was hier unter Universaltheorie verstanden wird, ist nicht mit einer theory of everything (vgl. Nicholas Rescher: »The Price of an Ultimate Theory«, in: Philosophia Naturalis 37(1), 1–20) zu verwechseln. Es geht nicht darum, sämtliche Phänomene als durch eine Theorie, z. B. die Physik, beschreibbar auszuweisen. Eine Theorie, die beansprucht, in einem einheitlichen theoretischen Rahmen Aussagen über alles treffen zu können, nimmt ja nicht in Anspruch, dass die Mannigfaltigkeit der Phänomene durch die Einheit der Theorie bedingt wäre. Die Universaltheorie hingegen sieht ihr vornehmliches Ziel aber gerade darin, Mannigfaltigkeit auf Einheit als ihre notwendige Bedingung zurückzuführen. 4 Will eine Theologie den Monotheismus, also Gott als den einzigen vertreten, dann muss sie im Kern Universaltheorie sein. Es sei angenommen, etwas sei ohne Gott möglich. Von allem, das ohne Gott möglich wäre, sich also nicht auf die eine unbedingte Einheit als Bedingung seiner Möglichkeit zurückführen ließe, gilt, es verdanke seine Möglichkeit entweder sich selbst oder etwas anderem als Gott. Somit wäre entweder das seine Möglichkeit sich selbst Verdankende oder das Andere, dem es seine Möglichkeit letztendlich verdankt, in seiner Unbedingtheit auch nicht anders als Gott. Es wäre Bedingung der Möglichkeit, dessen Möglichkeit nicht durch anderes bedingt wäre. Die Behauptung Gottes als des einzig Unbedingten wäre damit hinfällig. Kann die Universaltheorie konsistent aufgebaut werden, dann ist die Theologie als eine Theorie, die Gott als den einen zu ihrem Gegenstand hat, notwendigerweise Universaltheorie.

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Manuel Zelger

genden sollen deshalb das Problem benannt und die Christologie als ein möglicher Lösungsprätendent beschrieben (I.), die Gründe für das Scheitern des christologischen Lösungsvorschlags ausgeführt (II.), das die Problemlösung bietende funktionale Äquivalent der Christologie eingeführt (III.) und ein Umgang mit den Folgeproblemen, die die Substitution der Christologie durch ihr funktionales Äquivalent erzeugt, angedeutet werden (IV). Die gesamten nachfolgenden Überlegungen, die wohl den meisten Theologen keine Theologie mehr sind, verstehen sich als das explizit theologische Anliegen, Gott als möglichen Gegenstand von Theorie zu erweisen.

I. Vor der Exposition des Problems, auf das die Christologie als ein möglicher Lösungsvorschlag zu beziehen ist, sei noch das Verhältnis des Problems zu den auf es bezogenen Lösungsvorschlägen auf den hier vorliegenden Anwendungsfall spezifiziert. Im Gegensatz zu Luhmanns Systemtheorie,5 der der Begriff der funktionalen Äquivalenz entnommen ist, wird das Bezugsproblem nicht in einem System als das seiner Autopoiesis, sondern in einer Theorie als das ihrer Folgerichtigkeit platziert. Auch bestimmt die Systemtheorie dasjenige, was sie jeweils auf ein bestimmtes Problem bezieht, nicht als Lösungsvorschlag, sondern einfach als Lösung. Im Rahmen der Konstruktion der auf unbedingte Einheit rekurrierenden Universaltheorie kann es sich jedoch nur um Lösungsvorschläge handeln. Da in der Universaltheorie das Problem immer in der Rückführung von Vielheit auf Einheit besteht, ergäben mehrere Problemlösungen auch mehrere Einheiten, auf die die Vielheit jeweils zurückgeführt werden kann. Ließe sich eine Vielheit folgerichtig auf mehrere Einheiten zurückführen, bedeutete dies mehrere Universaltheorien. Als zu unterscheidende könnten die Theorien nicht mehr Universalität in Anspruch nehmen, da sie nur an einem Ort außerhalb ihrer vergleichend in Beziehung gesetzt werden könnten. Dieser Ort ließe sich dann in den beiden Theorien nicht mehr auf eine unbedingte Einheit zurückzuführen und würde damit deren Universalitätsanspruch unterlaufen. Das Problem,6 die Universaltheorie aufzubauen, ist allerdings nicht dadurch 5 Niklas Luhmann: »Funktion und Kausalität«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1991, 9–30; ders.: »Funktionale Methode und Systemtheorie«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 1, 31–53; ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, 83–91. 6 Die Exposition verdankt, ohne dass es in Zitaten ausgewiesen wird, fast alles der Theorie des Absoluten Wolfgang Cramers. Verwiesen sei nur auf: Wolfgang Cramer : Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff, Frankfurt/M. 21976; ders.: Gottesbeweise und ihre Kritik. Prüfung ihrer Beweiskraft, Frankfurt/M. 1967; ders.: Die absolute Reflexion.

Ein funktionales Äquivalent der Christologie in der Theo-Logie

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gelöst, einfach nur zu behaupten, alles, was sein kann, sei letztlich bedingt durch das Unbedingte. Ließe sich nämlich von der unbedingten Einheit einzig aussagen, sie sei Bedingung der Möglichkeit von welchem Seienden auch immer, dann hinge diese ihre Bestimmtheit von dem ab, für das sie Bedingung ist. Für die Bestimmung der Einheit als Bedingung der Möglichkeit von beliebigem Seienden ist zumindest die Möglichkeit von Seiendem in Mehrzahl vorausgesetzt. Die Qualifizierung der Einheit als Bedingung der Möglichkeit von vielen Seienden ist selbst bedingt durch das bereits als möglich gedachte Mannigfaltige. Kann die unbedingte Einheit einzig als die Bedingung der Möglichkeit einer Vielheit von Seiendem ausgesagt werden, dann setzt diese Bestimmung die Möglichkeit einer Vielheit von Seiendem schon voraus und kann die unbedingte Einheit als Bedingung dieser Möglichkeit nur noch auf Kosten eines Zirkels bestimmen. Folglich gilt es das Problem zu lösen, die unbedingte Einheit abgelöst von der Ermöglichung von Vielheit zu bestimmen, zugleich aber diese absolute Eigenbestimmtheit dann noch als die Bedingung dafür auszuweisen, dass Mannigfaltiges kontingent gegeben sein kann. Die Bestimmungen, die die Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit ausmachen, können einzig ihr zukommen. Kämen sie auch anderem zu, dann besäße die unbedingte Einheit Eigenschaften, die einem unter vielen zukommen kann. Da die Möglichkeit einer Vielheit von Seienden die Bedingung dafür ist, dass mehrere eine Eigenschaft haben können, müsste die unbedingte Einheit eine von vielen möglichen und zugleich die Bedingung deren Möglichkeit sein. Wie kommt aber die Universaltheorie zu der absoluten Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit, die nicht die Bestimmung sein kann, Bedingung des gegebenen Mannigfaltigen zu sein? Steht nicht jede Bestimmtheit unter der Bedingung von Mannigfaltigkeit, insofern etwas nur bestimmt ist, wenn es in seinem So-Sein unterschieden werden kann, von etwas, das nicht so ist, so dass anders Bestimmtes Bedingung seiner Bestimmtheit ist? Diesem grundsätzlichen Einwand, die Bestimmung der unbedingten Einheit wäre nur auf die widersprüchliche Weise möglich, dass sie eines nur unter Bedingung von anderem wäre, kann nur entgangen werden, wenn die Universaltheorie in der Lage ist, die unbedingte Einheit so zu bestimmen, dass sie noch die Einheit ihrer selbst und dessen ist, von dem sie sich als unbedingte Einheit unterscheidet, also dem, was nicht unbedingte Einheit ist. Wollte man das Problem so lösen, die unbedingte Einheit gegen die mögliche Vielheit als das von ihr unterschiedene zu setzen, so wäre man zur Verhinderung von Zweiheit gezwungen, die Einheit noch zur Bedingung der Vielheit zu machen. Das hieße aber, nur im Kreis gelaufen und

Schriften aus dem Nachlass, hg. v. Konrad Cramer in Verbindung mit Titus Oliver Cramer, Frankfurt/M. 2012, insbes. 181–303.

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beim Ausgangsproblem der absoluten Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit wieder angekommen zu sein. Zugegebenermaßen bietet es sich auf den ersten Blick nicht gerade an, Aussagen der Christologie als Lösungsvorschläge auf die eben benannten Probleme einer, sich auf unbedingte Einheit gründenden Theorieform zu beziehen. Dem näheren Hinsehen allerdings wird der Blick freigegeben, Aussagen der Christologie als sich der Komplexität der genannten Problemlage stellende theoretische Sätze begreifen zu können. Mit dem Anspruch ausgestattet, als die Universaltheorie zu gelten, erhält die, sich an die vorgegebene christliche Religion bindende Theologie die Möglichkeit, die von der Religion vorgegebenen Aussagen auf ihre theoretische Lösungstauglichkeit zu testen, sie mit anderen Angeboten zu vergleichen und sie eventuell durch angemessenere zu ersetzen. Erkenntnisgewinn verspricht eher, die Christologie auf eine ihren eingespielten Selbstverständlichkeiten befremdliche Problemstellung zu beziehen, als auf den eingefahrenen dogmatischen Bahnen weiterzufahren. Dass der Theologie der Anspruch, alles, was es geben kann, auf unbedingte Einheit als dessen Bedingung zurückführen zu können, nicht ganz fremd ist, spricht sie in ihrem monotheistisch verfassten Gottesgedanken explizit aus oder schließt es zumindest in diesen implizit ein.7 Nur Gott ist Unbedingtes, alles andere letztendlich durch ihn Bedingtes. Das theoriebautechnische Problem, mit der Beschränkung der Bestimmtheit der unbedingten Einheit auf die einzige Bestimmung, Bedingung dafür zu sein, dass Seiendes in Vielheit möglich ist, die Möglichkeit der Vielheit zur Bedingung ihrer unbedingten Bedingung zu machen und sich somit selbst zu widersprechen, wird dadurch gelöst, dass zur Konstruktion Gottes als unbedingter Einheit die menschliche Subjektivität als Modell genutzt wird. Die Möglichkeit einer Mannigfaltigkeit von Seiendem hat in diesem Vorschlag zum Aufbau der Universaltheorie das Handeln des absoluten Subjekts zu seiner notwendigen Bedingung. Da es als Bedingung der Möglichkeit alles Seienden bestimmt sein soll, sind die Handlungsmöglichkeiten des absoluten Subjekts als unbeschränkt aufzufassen. Wäre das absolute Subjekt auf bestimmte Handlungen beschränkt, dann wäre es nicht die Bedingung der Möglichkeit all dessen, was sein kann. Um absolutes Subjekt sein zu können, muss es keine bestimmte Handlung ausführen. Das gegebene Mannigfaltige lässt sich folglich auf das Handeln des einen 7 Wenn im Folgenden Aussagen der christlichen Religion als solche der Universaltheorie behandelt werden, dann macht dieses Unternehmen, wie jede systematisch gearbeitete Dogmatik auch, einen hochgradig selektiven Gebrauch von dem durch die Tradition angebotenen Begriffsapparat. Der Anspruch, den Intentionen der Tradition, seien es Schrift, Bekenntnisse, Dogmen, usw. Geltung zu verschaffen, wird erst gar nicht erhoben, da die hier vorgelegten Überlegungen davon ausgehen, dass solche Intentionen selbst nur theoretische Konstrukte gegenwärtiger hermeneutischer Anstrengungen sind.

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absoluten Subjekts zurückführen, ohne seine Kontingenz einbüßen zu müssen. Es muss nämlich nicht sein, damit das absolute Subjekt es selbst sein kann. Gleichwohl produziert der Lösungsvorschlag, die unbedingte Einheit als Subjekt zu konzipieren ein noch zu lösendes Folgeproblem. Da neben dem gegebenen Mannigfaltigen aufgrund der absoluten Potentialität der unbedingten Einheit auch noch anderes möglich wäre, muss das absolute Subjekt so bestimmt werden, dass es selbst der Grund für die Einschränkung seiner Potentialität ist. Gelöst wird dieses Folgeproblem, indem das Handeln des absoluten Subjekts in einer weiteren Hinsicht dem Modell menschlicher Subjektivität angeglichen und als intentionales qualifiziert wird. Es sind einzig die freien Zwecksetzungen des absoluten Subjekts, die seine wirklichen Handlungen gegenüber den möglichen einschränken. Alles ist so, weil Gott es so will und entsprechend handelt. Mit der Entscheidung, das absolute Subjekt mit einem Willen auszustatten, wäre allerdings für den konsistenten Aufbau der Universaltheorie noch nichts gewonnen. Führte man kontingentes Mannigfaltiges nämlich derart auf die Intentionen des absoluten Subjekts zurück, dass es jeweils unmittelbares Resultat einer Intention ist, dann ginge der Wille im Wollen des jeweils Gewollten, im Tun der jeweiligen Tat vollständig auf.8 Ist der Wille des absoluten Subjekts so konstruiert, dass er nur im Wollen von jeweils Gewollten besteht, dann bleibt seine Einheit unbestimmt. Sie löst sich auf in die Bestimmtheit der mannigfaltigen jeweils durch das Gewollte bestimmten Willensakte. In Form der mannigfaltigen Willensakte wird das gegebene Mannigfaltige einfach nur wiederholt, aber nicht auf die unbedingte Einheit zurückgeführt. Der Wille als die den einzelnen Willensakten zugrunde liegende unbedingte Einheit löst sich in seiner Unbestimmtheit in die jeweilige Bestimmtheit der einzelnen Willensakte auf. Bei endlichen Subjekten zeigen sich deren intendierte Handlungen an Bestimmungen des Subjekts gebunden, die im Wechsel des je Intendierten dieselben bleiben. Dies können z. B. physische, psychische oder soziale Bestimmungen sein. Da diese Bestimmungen aber zugleich solche sind, die die möglichen Handlungen des endlichen Subjekts einschränken, weil sie selbst nicht Resultate freier Handlungen sind, muss die von den jeweiligen Handlungen ablösbare Bestimmtheit des absoluten Subjekts eine andere sein als bei den endlichen. Wie lässt sich aber im Falle des absoluten Subjekts dessen konstitutive Bestimmtheit jenseits immer auch anders möglicher Handlungen bestimmen? Die Bestimmtheit des absoluten Subjekts kann jedenfalls kein Resultat des Willens sein, weil sie dem Willen gerade zu Grunde liegen soll. Mittels des Willens lässt sich das Problem der Eigenbe8 Für das absolute Subjekt als uneingeschränkte Potentialität können keine Bedingungen angegeben werden, die die Ausführungen einer intendierten Handlung verhindern. Solche Bedingungen würden die möglichen Handlungen und damit die Potentialität einschränken. Deshalb müssen hier Wollen und Tun identifiziert werden. Die nicht getane Tat ist nicht gewollt.

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stimmtheit des absoluten Subjekts nicht lösen, da eine Bestimmtheit des Willens durch ihn als unbeschränkten nicht erklärt werden kann. Das Problem, wie die autonome Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit zu erfassen ist, wenn Bestimmtheit nur unter der Voraussetzung von anderer Bestimmtheit möglich ist, die Eigenbestimmtheit als absolute aber von jeder Voraussetzung zu lösen ist, kann dann gelöst werden, wenn die unbedingte Einheit als eine solche konzipierbar ist, die in ihre Einheit dasjenige, dem gegenüber sie als solche bestimmt ist, als notwendigerweise die Einheit ausmachendes einschließt. In der als dogmatische Theologie aufgebauten Universaltheorie wird die Christologie als Lösung dieses Problems vorgeschlagen. Der Bauplan des Lösungsvorschlags, der auf das in Rede stehende Konstruktionsproblem der Universaltheorie zu beziehen ist, lässt sich in seiner generellen Form an den knappen Formulierungen des Chalcedonense ablesen, wenn man es, wie von den Konzilsvätern intendiert, in der Perspektive des Nicänums liest. So wie das Nicänum das Zeugen des Sohnes durch den Vater bestimmt, konstruiert es damit die vom kontingenten Mannigfaltigen abgelöste Eigenbestimmtheit des absoluten Subjekts. Das absolute Subjekt kann nicht nicht Zeugen sein. Besonders die antiarianischen Zusätze des Nicänums bringen deutlich zum Ausdruck, dass das Zeugen des absoluten Subjekts nicht ein solcher kontingenter Schöpfungsakt ist, der die Eigenbestimmtheit des absoluten Subjekts nicht tangiert, so dass das absolute Subjekt also auch ohne den Schöpfungsakt das ist, was es ist. Indem die unbedingte Einheit das Zeugen ist, bestimmt sie sich als solches gegen das Gezeugte, welches somit als das für die Bestimmtheit des absoluten Subjekts benötige Anderssein fungiert. Durch das Zeugen bestimmt sich das Zeugen gegenüber dem Gezeugten selbst als Zeugen. Das Gezeugte wiederum ist nur möglich unter der Bedingung, dass die unbedingte Einheit notwendigerweise Zeugen ist, also nicht durch willentlichen Entscheid, der auch unterbleiben könnte. Kann zunächst einmal das Problem der abgelösten Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit als Zeugen des Sohnes christologisch gelöst werden, so stellen sich sogleich zu bearbeitende Folgeprobleme ein. Besteht die Eigenbestimmtheit des absoluten Subjekts darin, Zeugen des einzig von ihm Gezeugten zu sein, dann kann das Gezeugte vom Zeugen einzig dadurch unterschieden werden, dass es nicht das Zeugen ist.9 Folglich ist das Gezeugte nur durch die Bestimmung, Gezeugtes zu sein, vom Zeugen unterschieden. Da das absolute 9 Durch den hiermit dargelegten Gedankenzug wird dem bloors_or des Nicänums seine tragende Stelle im Bau der als Universaltheorie konstruierten Dogmatik angewiesen. Allerdings verfügt die vorgetragene Konstruktion nicht über Bestimmungen, die für Zeugen und Gezeugtes identisch sind.

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Subjekt nicht sein kann, ohne Zeugen des Gezeugten zu sein, muss es immer schon gezeugt Habendes sein. Wollte man nämlich für das Zeugen einen Zeitraum veranschlagen, der genutzt werden muss, damit das Gezeugte ist, dann hätte das Zeugen als ein Geschehen einen Beginn und ein Ende. Somit würde sich aber sofort die Frage nach der Bestimmung des absoluten Subjekts vor dem Beginn des Zeugungsgeschehens einstellen. Aber auch die Qualifizierung des absoluten Subjekts als das immer schon das Gezeugte gezeugt Habende führt in eine aporetische Situation. Unter dieser Bedingung kollabiert nämlich die Relation von Zeugen und Gezeugten, weil dem Zeugen dem Gezeugten gegenüber kein Voraus mehr eingeräumt werden kann, das immer ein Zeitliches sein muss, wenn man es mit Aktivitäten wie dem Zeugen zu tun hat. Fällt aber die Relation von Zeugen und Gezeugten verbleiben zwei nur mehr numerisch zu unterscheidende aber ansonsten unbestimmte absolute Subjekte. Der Lösungsvorschlag des Nicänums scheitert daran, dass er es nicht vermag, die Bestimmungen zu generieren, die die Eigenbestimmtheit der absoluten Einheit ausmachen und diese somit von solchen zu sondern, die einem unter möglichen anderen zukommen können. Für dieses Folgeproblem der Aufgabe, die Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit zu bestimmen, kann das Chalcedonense – jedoch nur mit sehr viel Großzügigkeit – als ein Lösungsvorschlag angesehen werden. Streng genommen, handelt es sich allerdings nur um einen heuristischen Wink, in welcher Richtung eine Lösung zu suchen ist. Indem das Chalcedonense darauf besteht, dass der Sohn, der immer schon gezeugt sein muss, damit Gott konstitutiv Vater ist, als ein und derselbe auch ein Mensch von möglichen vielen zu sein vermag, kann das, was die unbedingte Einheit ausschließen muss, damit ihr autonome Eigenbestimmtheit zuzusprechen ist, in diese als konstitutives Moment eingeschlossen werden. Gott der Vater wird somit als in der Zeugung des Sohnes sich konstitutiv auf die Menschen beziehender und darin sich von ihnen Unterscheidender konstruiert. Allerdings kann das Chalcedonense die für den Aufbau der Universaltheorie notwendige Konstruktion, die Bestimmung, die allgemein das auszeichnet, was von der unbedingten Einheit zu unterscheiden ist, als in deren Eigenbestimmtheit inhärierende auszuweisen, nur so ausführen, dass sie neben der unbedingten Einheit und der Mannigfaltigkeit des kontingent Gegebenen (Schöpfer und Geschöpfe) ein Drittes aufbaut, in dem die sich ausschließenden Bestimmungen der beiden anderen sich vereinigen lassen.

II. Auch wenn der vom Chalcedonense unterbreitete Vorschlag, die Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit, die die Bestimmung des Anderen ihrer selbst als ihre Bestimmung enthält, in ein Drittes, die personale Einheit Jesu

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Christi, zu verlegen, spätestens mit Beginn der Neuzeit zu Recht nicht mehr zu überzeugen vermag, so halten die Christologien in der Regel auch dann noch am in Chalcedon skizzierten Bauplan fest. Dem in seiner Bestimmung als Mensch sich von anderen Menschen nicht unterscheidenden Jesus von Nazareth werden zugleich Bestimmungen zugesprochen, die unmittelbar auf Gott zutreffen oder zumindest auf solche schließen lassen.10 Diese Bestimmungen Gottes wiederum, sollen selbst so bestimmt sein, dass sie Gott unabhängig von dem historisch kontingenten Auftreten des Menschen Jesus von Nazareth zukommen. In universaltheoretischer Perspektive sind es diese Bestimmungen, die als die die Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit ausmachenden anzusehen sind. Mit der Übernahme des chalcedonensischen Bauplans wird allerdings auch dessen Konstruktionsfehler übernommen. Aus Sicht des sich beim Aufbau der Universaltheorie stellenden Problems, wie die von jeder möglichen Art des kontingent Gegebenen abzulösende unbedingte Einheit zu bestimmen sei, lässt sich dem Bauplan keinerlei Grund entnehmen, aus dem sich mit Folgerichtigkeit ergibt, weshalb die Bestimmung, Mensch zu sein, diejenige ist, die notwendigerweise zur Bestimmung der unbedingten Einheit gebraucht wird. Dieser Konstruktionsfehler, der, als ein im Bau von Theorien auftretender, ein Mangel an Folgerichtigkeit ist, stellt sich in den Christologien, die nicht mehr mit dem Gottmenschen operieren, als das problematische Verhältnis des historischen Jesus zum geglaubten Christus11 dar. Mit der Frage nach dem historischen Jesus stellt sich das Problem, wie bei Ausfall des vermittelnden Dritten von einem – historisch nur unter bestimmten Bedingungen so gewordenen – Menschen der Absprung in die von allem Bedingten abgelöste Bestimmung des Unbedingten zu leisten sei. Tatsächlich zeitigt die konsequente Anwendung geschichtswissenschaftlicher Methoden dann das Ergebnis, dass der Sprung nicht zu leisten ist. Jesus von Nazareth erweist sich als ein Phänomen unter vergleichbar anderen, das von bestimmten Bedingungen in der Entwicklung der jüdischen Religion 10 Vgl. Ingolf U. Dalferth: »Gott für uns. Die Bedeutung des christologischen Dogmas für die christliche Theologie«, in: ders u. a. (Hg.): Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 51–75, der anhand des Bauplans des Chalcedonense die möglichen Christologien kategorisiert. Das Schema, das er seinen Kategorien zugrunde legt, ist die Bestimmung des jeweiligen Verhältnisses Jesu Christi zu Gott und den Menschen (sic!). Auch seine »Konzentration auf Offenbarung«, die die Zentrierung der Person Jesu Christi verabschieden möchte, nimmt noch Bezug auf den Menschen Jesus als den »faktische[n] Ort der Gottesoffenbarung« (S. 65) und unterstellt sich damit dem Bauplan des Chalcedonense. 11 Im Gegensatz zu den gebräuchlicheren terminis technicis wie ›der dogmatische Christus‹, ›der biblische Christus‹ oder ›der kerygmatische Christus‹ wird im hiesigen Zusammenhang der Terminus ›der geglaubte Christus‹ bevorzugt, weil er am besten zum Ausdruck bringt, dass die neuzeitlichen Konstruktionen der Christologie den Ausweis der universalen Bedeutung des Menschen Jesus Christus an solche religiösen Vollzüge wie z. B. Glaubensakte binden.

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ermöglicht wurde. Sogar der geglaubte Christus, der verkündigte Sohn Gottes lässt sich dann als eine kontingente, weil anders mögliche und wahrscheinlich auch wirkliche Folge des Auftretens des Jesus von Nazareth erfassen. In konsequenter Verfolgung der Frage nach dem historischen Jesus lässt sich auch die Zuschreibung göttlicher Attribute als kontingentes und vielfältig variables Phänomen der Religionsgeschichte verstehen, das letztlich durch eine entsprechende Variierbarkeit der religiösen Semantik freigesetzt werden musste. Aus universaltheoretischer Sicht beleuchtet die mit der Frage nach dem historischen Jesus möglich gewordene konsequente Historisierung in aller wünschenswerten Klarheit die unlösbaren Probleme, den Bauplan des Chalcedonense so auszuführen, dass durch Bezugnahme auf kontingent Gegebenes wie einen bestimmten Menschen die Bestimmungen des Unbedingten zu generieren seien, die seine Eigenbestimmtheit ausmachen. Allerdings sind die Aussichten, die Universaltheorie nach Maßgabe des Plans von Chalcedon durch das Konstrukt des geglaubten Christus aufzubauen, auch nicht rosiger als der Versuch, das Problem mittels des Bezugs auf den Menschen Jesus von Nazareth zu lösen. Dem Konstruktionsfehler, mittels der Bezugnahme auf einen bestimmten, gelebt habenden Menschen über den Bereich des historisch Faktischen hinauskommen zu wollen, kann die Bauweise des geglaubten Christus allerdings entgehen. Sie gibt nämlich von vornherein zu, dass jede historisierende Referenz auf den Menschen Jesus von Nazareth, nicht in der Lage ist, dort die Bestimmungen zu erkennen, die die Eigenbestimmtheit Gottes ausmachen. In spezifischer Weise teilt die Christologie, die sich unter Zugrundelegung des geglaubten Christus aufbaut, die in Abschnitt I. begründete Einsicht, es könne die Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit nicht aus kontingent Gegebenem gewonnen werden. Eine Lösung des ihr mit dem Chalcedonense aufgegebenen Problems kann die auf dem geglaubten Christus aufbauende Christologie jedoch nicht anbieten. Indem sie nämlich die Erkenntnis der Eigenschaften Gottes in Jesus Christus auf die glaubende, oder allgemeiner formuliert, religiöse Bezugnahme einschränkt, bindet sie wiederum die Bestimmung der unbedingten Einheit, die anders sein muss als die Bestimmungen all dessen, was es geben kann, an die Kontingenz von Glaubensvollzügen, bzw. religiösen Evidenzerlebnissen. Da die so aufgebauten Christologien alles daran setzen, ihre, unter den Bedingungen spezifisch religiöser kognitiver Sonderformate geltenden Aussagen von denen abzugrenzen, die im Rahmen von Theorien Allgemeingültigkeit beanspruchen, entziehen sie sich der universaltheoretischen Problemstellung.12 Offensichtlich ist es also die Bindung an das kontingente Faktum Jesus von Nazareth, die es verhindert, die Christo12 Auf diese auffällige Theorieabstinenz, die mit der Berufung auf nur Religion oder Glauben zukommenden Wissensformen einhergeht, wird im Abschnitt IV. zurückzukommen sein.

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logie als Lösung auf das Problem der Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit zu beziehen.

III. Soll die Universaltheorie aufgebaut und damit der Gottesfrage theoretischer Status verliehen werden können, dann muss der gescheiterte Lösungsvorschlag der Christologie durch ein funktionales Äquivalent ersetzt werden können. Das Problem der Universaltheorie, für das ein der Christologie äquivalenter Lösungsvorschlag unterbreitet werden muss, besteht darin, unbedingte Einheit so zu bestimmen, dass die Bestimmung, dessen, was sie nicht ist, in ihre Bestimmtheit noch eingeschlossen wird. Da die Einführung des die Problemlösung bietenden funktionalen Äquivalents der Christologie nur im Rahmen des gesamten Aufbaus der Universaltheorie geschehen kann, dies aber den vorliegenden Überlegungen zur Verfügung stehenden Raum sprengen würde, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass mit Hegels Wissenschaft der Logik der konsistente Aufbau der Universaltheorie bereits vorliegt. Das hier also nur zu referierende Ergebnis des Aufbaus der Universaltheorie, die sich als die Selbstbegründung der Logik als einer Theorie des Begriffs als solchem erweist, besteht darin, dass die unbedingte Einheit als der Begriff als solcher, d. h. als der Begriff des Begriffs zu begreifen ist. Obwohl mit der einfachen Nennung des Begriffs ›Begriff‹ aus den mannigfaltigen, kontingent vorhandenen Theorien der Logik die unterschiedlichsten, sich widersprechenden Bestimmungen als seine Merkmale herbeizitiert werden können, lässt sich doch aus einem theoretisch wenig vorbelasteten Begriff des Begriffes heraus zumindest plausibel machen, weshalb die Einheit, die das ihr Differente mit sich eint, als der Begriff des Begriffs zu begreifen ist. Begriffe zeichnen sich allgemein dadurch aus, etwas in der Weise als so seiend zu bestimmen, dass es grundsätzlich nicht auszuschließen ist, noch etwas sei als genauso seiend zu bestimmen.13 Was Begriffe allgemein auszeichnet, gilt von allem, was durch den Begriff ›Begriff‹ als ein Begriff Seiendes bestimmt ist. Nun 13 Dass es sich bei dieser Bestimmung des Begriffs um keine spezifische Vorannahme handelt, lässt sich daran ersehen, dass sie sowohl die Begriffsbestimmung in der traditionellen (Kant) als auch in der modernen Logik (Frege) voraussetzen. Wenn Kant den Begriff als »eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist« (Immanuel Kant: »Logik (Jäsche)«, in: ders.: Kants Werke, Bd. VI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, § 1), bestimmt, dann impliziert diese Bestimmung bereits, dass durch den Begriff prinzipiell mehrere Objekte bestimmt werden können. Auch Freges (Gottlob Frege: »Funktion und Begriff« in: ders.: Funktion – Begriff – Bedeutung, Göttingen 2007, 2–22, insbes. 14) Bestimmung des Begriffs als Funktion bestimmt den Begriff so, dass grundsätzlich kein Gegenstand ausgeschlossen werden kann, als Argument für die Funktion zu gelten.

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beinhaltet der Begriff ›Begriff‹ unbestreitbar, dass er selbst und zwar durch sich als ein Begriff Seiendes bestimmt ist. Der Begriff ›Begriff‹ ist folglich durch sich selbst bestimmt, ein Begriff zu sein. Demnach ist es der Begriff ›Begriff‹ selbst, der sich als ein Begriff Seiendes in der Weise auszeichnet, dass neben ihm noch etwas als Begriff Seiendes bestimmbar sein muss. Wenn der Begriff ›Begriff‹ sich selbst als einen solchen bestimmt, neben dem noch durch ihn Bestimmtes möglich sein muss, dann kann dieses nicht der Begriff ›Begriff‹ sein, da ansonsten die Rede von ›noch‹ und ›neben‹ falsch wäre. Mithin ist der Begriff ›Begriff‹ durch sich selbst als ein von einem anderem Begriff unterschiedener bestimmt. Jeder von ihm differente Begriff ist damit durch ihn als einer bestimmt, der nicht durch sich selbst als ein Begriff Seiendes bestimmt ist. Da alles das, was Begriff Seiendes ausmacht, durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmt ist, muss alles durch einen Begriff Bestimmte, der nicht der Begriff ›Begriff‹ ist, anderes sein als ein Begriff. Die Möglichkeit, dass Begriffe etwas bestimmen, das etwas anderes ist als ein Begriff, demnach fremdreferentielle Begriffe sein können, ist also im Begriff ›Begriff‹ inbegriffen. Weil die Selbstreferenz14 des Begriffs ›Begriff‹ ihm gegenüber anderen Begriff einschließt, ist er durch sich selbst als die Möglichkeit fremdreferentieller Begriffe bestimmt. Da ein und derselbe Begriff des Begriffs als Bestimmung seiner selbst zugleich die Bestimmung dessen ist, was er nicht ist, kann in ihm die Lösung des Problems erblickt werden, eine Einheit so aufzubauen, dass sie das zu ihr Differente noch mit sich vereint. Indem plausibel gemacht werden kann, dass der Begriff des Begriffs das Problem der von allem möglichen Vorgegebenen abgelösten Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit löst, ist der Gewinn für den Aufbau 14 Dass es sich beim Begriff ›Begriff‹ um die einzige Selbstreferenz handelt, lässt sich an den Paradoxien ersehen, die daraus entstehen, dass fremdreferentielle Begriffe, also Begriffe die nicht der Begriff ›Begriff‹ sind, sich auf sich selbst beziehen. Bereits der Begriff ›fremdreferentieller Begriff‹ selbst erweist sich als ein eine Paradoxie generierender. Fragt man nämlich danach, ob der Begriff selbst ein fremdreferentieller ist, dann ist er es, wenn er es nicht ist und er ist es nicht, wenn er es ist. Ist der Begriff ›fremdreferentieller Begriff‹ ein fremdreferentieller Begriff, dann bezieht er sich auf sich selbst und ist damit kein fremdreferentieller Begriff. Ist der Begriff ›fremdreferentieller Begriff‹ kein fremdreferentieller Begriff, dann bezieht er sich nicht auf sich selbst und ist deshalb ein fremdreferentieller. Einfach durch den Begriff ›fremdreferentieller Begriff‹ kann nicht entschieden werden, was unter ihn fällt und was nicht. Es kann hier lediglich vermutet werden, dass die Paradoxie des Begriffs ›fremdreferentieller Begriff‹ allgemein zum Zuge bringt, was Paradoxien ausmacht. Zu dem Versuch, eine allgemeine Struktur der Paradoxien der Selbstreferenz auf der Basis einer mengentheoretischen Sprache zu entwickeln, vgl.: Graham Priest: »The Structure of Paradoxes of Self-Reference«, in: Mind 103(409) (1994), 25–34; Noson S. Yanofsky : »A Universal Approach to the Self-Referential Paradoxes, Incompleteness and Fixed Points«, in: Bulletin of Symbolic Logic 9(3) (2003), 362–386. Dass die Universaltheorie nicht umhin kommt, Paradoxien ins Auge zu sehen, ist bei Patrick Grim: The Incomplete Universe. Totality, Knowledge and Truth, Cambridge, Mass./London 1991 nachzulesen, der an einer Reihe von Kandidaten für die unbedingte Einheit zeigt, dass sie sich in Paradoxien verstricken.

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der Universaltheorie allerdings noch ziemlich gering einzuschätzen. Die von allem anders Seienden unabhängige Bestimmung des Begriffs ›Begriff‹ durch sich selbst müsste darüber hinaus als die Bedingung der Möglichkeit alles dessen bestimmbar sein, was sein kann. Erst dann könnte die Wissenschaft der Logik als Theorie des Begriffs den Anspruch erheben, die verlangte Universaltheorie zu sein. Es sei deshalb im Folgenden angedeutet, wie Hegels Wissenschaft der Logik das Problem löst, die absolute Eigenbestimmtheit der unbedingten Einheit als die Bedingung der Möglichkeit auszuweisen, dass überhaupt etwas außerhalb des durch sich selbst bestimmten Begriffs sein kann. Es handelt sich auch hierbei nicht um den schrittweisen, folgerichtigen Aufbau der Universaltheorie, sondern lediglich um eine grob zusammenfassende Darstellung ihrer Resultate in einer Außenansicht. Das bisher über den Begriff ›Begriff‹ Gesagte, das dazu diente, ihn als Lösung des Problems der absoluten Eigenbestimmtheit plausibel zu machen, nutzte zur Bestimmung dessen, was den Begriff ausmacht, Begriffe, die bereits vorgegeben waren und sich nicht dem stringenten Aufbau der Universaltheorie verdankten. Es wurde vorausgesetzt, der Begriff des Begriffs enthalte das Merkmal, etwas in der Weise als so seiend zu bestimmen, dass immer auch anderes so sein kann. Mit Ausnahme des Begriffs ›Begriff‹ ist das durch einen Begriff als so seiend bestimmte selbst kein Begriff. Damit stellt sich aber sofort das Problem, was das durch einen Begriff Bestimmte, der nicht der Begriff ›Begriff‹ ist, von seinem Begriff unterscheidet. Durch einen Begriff kann das den Unterschied ausmachende nicht bestimmt werden, da für diesen Begriff sich das Problem bloß erneut stellt, anstatt gelöst zu werden. Da der Begriff ›Begriff‹ nur so der sich selbst bestimmende sein kann, indem er sich von Begriffen unterscheidet, die anders sind als er selbst, und die Andersheit dieser Begriffe wiederum darin besteht, dass das durch sie Bestimmte von jeglichem Begriff unterscheidbar sein muss, ist die Lösung des Problems für den Beweis der absoluten Eigenbestimmtheit des Begriffs ›Begriff‹ vorausgesetzt. Aber ist das Problem nicht bereits gelöst? Schließlich beantworte sich die Frage, durch was sich Begriff und durch Begriff Bestimmtes unterschieden, von selbst, da sie den Unterschied bereits mache. Bei genauerem Hinsehen sieht man allerdings, dass die sich vermeintlich selbst beantwortende Frage mit dem Unterschied der Begriffe ›Begriff‹ und ›durch den Begriff Bestimmtes‹ operiert und damit lediglich das Problem erneut aufwirft. Was unterscheidet den Begriff ›durch den Begriff Bestimmtes‹ von dem durch den Begriff ›durch den Begriff Bestimmtes‹ Bestimmten? Nimmt man die Frage wieder als Antwort, so erzeugt man nur wieder eine Frage. Gelöst werden kann das Problem nur, wenn es möglich ist, das, was das durch fremdreferentielle Begriffe Bestimmte im Unterschied zum bestimmenden Begriff ausmacht, als durch keinerlei Begriffe

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Bestimmtes zu konstruieren. Auf einem anderen Anmarschweg15 kommt auch die Wissenschaft der Logik zu dem Ergebnis, dass die Konstruktion des Begriffslosen die Voraussetzung dafür ist, begreifen zu können, was der Begriff im Allgemeinen ist, d. h. den Begriff des Begriffs bilden zu können. Auch hier lässt sich behaupten, die Konstruktionsaufgabe sei gelöst, denn das, was den Unterschied von Begriff und dem durch den Begriff Bestimmten ausmacht, sei doch als das, was durch keinen Begriff bestimmbar ist, bereits erfolgreich konstruiert. Man übersieht dabei aber, dass in dieser Behauptung der Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ verwendet wird. Folglich ist das durch keinen Begriff Bestimmbare nur so zu konstruieren, dass man hierfür einen Begriff verwendet, der es damit als durch einen Begriff Bestimmtes ausweist. Der Einstieg in die Universaltheorie / la Wissenschaft der Logik geschieht nun genau mit der Einsicht, dass es unumgänglich ist, einerseits den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ als einzig mögliche Bestimmung dessen zu verwenden, was das durch fremdreferentielle Begriffe Bestimmte von den Begriffen selbst unterscheidet, und andererseits sich diese Bestimmung zu versagen, weil sie als Begriff nicht das durch keinen Begriff Bestimmbare bestimmen kann. Das durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Bestimmte dementiert als dieses Bestimmte zugleich, dieses Bestimmte zu sein, da es als das durch keinen Begriff Bestimmbare auch nicht durch diesen Begriff bestimmt sein kann. Zugleich ist das Dementi aber ein Dementi seiner selbst, da das nicht einmal durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Bestimmbare, das absolut durch keinen Begriff Bestimmbare und somit das einzige den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Erfüllende ist. Das durch keinen Begriff Bestimmbare ist also das, was es ist, indem es das nicht ist, und indem es das nicht ist, ist es das.16 15 Im Gegensatz zum hier verfolgten, stark abgekürzten Weg, mit bereits zur Verfügung stehenden Bestimmungen, d. h. Begriffen des Begriffs einzusetzen, startet Hegel sein Unternehmen – methodisch sauberer – ohne eine solche Voraussetzung. Der Beginn mit dem durch keinen Begriff Bestimmbaren dient Hegel zu einem Theorie-Start, der ohne jeglichen, der Theorie des Begriffs vorgegebenen Begriff auskommt. Im Resultat des vollständig ausgeschrittenen Weges ist der Begriff des Begriffs deshalb auch nicht gegenüber irgendwelchen fremdreferentiellen Begriffen besonderer Begriff, sondern als der rein durch sich bestimmte Begriff als solcher ist er es nur gegenüber dem Ausschluss des Begriff-Seins als solchem, dem Begriff ›Nicht-Begriff‹. Vgl. dazu unten, S. 272. 16 Die soeben generierte Paradoxie kann zum einen als eine Spezifikation der Paradoxie des Begriffs ›fremdreferentieller Begriff‹ (vgl. Anm. 14) verstanden werden, zum anderen aber auch als Versuch, sie zu lösen. Der Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ ist ein fremdreferentieller Begriff, der sich durch die Bezugnahme auf Begriffe auf sich selbst bezieht. Zugleich gibt er aber auch ein Merkmal fremdreferentieller Begriffe an, das den Begriff ›fremdreferentieller Begriff‹ von der nicht durch ihn selbst zu lösenden Aufgabe befreit, die fremdreferentiellen Begriffe gegenüber dem selbstreferentiellen zu sondern. Die Paradoxie zeigt ja genau die Unmöglichkeit, diese Aufgabe zu lösen. Die Angabe des generellen Unterschieds von Begriff und durch den Begriff Bestimmtem kann den Unterschied des selbstreferentiellen Begriffs von fremdreferentiellen bestimmen, ohne in die Fänge der Pa-

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Das heißt aber wiederum nichts anderes, als dass die Aufgabe, das durch keinen Begriff Bestimmbare zu konstruieren, nun einzig so ausgeführt werden kann, dass es das nicht einmal durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Bestimmbare ist und zugleich mit dem Ausschluss auch dieses Begriffs als das jeden Begriff Ausschließende den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ erfüllt. Es erweist sich also das durch den Begriff bestimmte als nicht durch ihn bestimmt und umgekehrt das nicht durch ihn bestimmte als durch ihn bestimmt. Damit ist die Aufgabe, das durch keinen Begriff Bestimmbare zu konstruieren, aber noch nicht erfüllt. Dies lässt sich einsehen, wenn man darauf achtet, dass es ein und dasselbe sein muss, durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ bestimmt zu sein und nicht durch ihn bestimmt zu sein. Der Ausweis des durch den Begriff Bestimmt-Seins mittels des nicht durch ihn Bestimmt-Seins und des nicht durch ihn Bestimmt-Seins mittels des durch ihn Bestimmt-Seins impliziert nämlich, dass das durch den Begriff Bestimmte genau das nicht durch den Begriff Bestimmte ist. Daraus ergibt sich also das neue Problem, das Bestimmt-Sein durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ nicht so zu konstruieren, dass es als begriffliches in sein Dementi umschlägt, sondern so, dass das durch den Begriff Bestimmte zugleich das nicht durch den Begriff Bestimmte ist. Zu lösen wäre das Problem nur dann, wenn das Bestimmt-Sein durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ implizierte, dass das durch den Begriff Bestimmte nicht einzig durch ihn Bestimmtheit erlangt. Dieses Bestimmt-Sein über den Begriff hinaus kann allerdings kein weiterer Begriff sein. Sonst träfe auf das weiter Bestimmte der Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ gar nicht zu. Gelänge es das zusätzliche BestimmtSein ganz ohne Begriff zu konstruieren, dann wäre das hierdurch Bestimmte durch keinerlei Begriff bestimmt. Die begriffslose Eigenbestimmtheit erfüllte damit den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ und wäre zugleich in ihrer Eigenbestimmtheit nicht durch ihn bestimmt. Nun hat das einzig durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Bestimmte tatsächlich seine Bestimmtheit nicht nur durch den Begriff. Das ›das‹ in ››das durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ Bestimmte‹‹ verweist auf das, was durch den Begriff bestimmt ist und eine von seinem Bestimmt-

radoxie des Begriffs ›fremdreferentieller Begriff‹ zu geraten. Theorien gegenüber, die aus einer allgemeinen Strukturanalyse von Paradoxien, die sich selbst nicht in Paradoxien bewegt, Gewinn ziehen wollen für eine allgemeine Theorie der Dialektik, sei Skepsis angemeldet. Vgl. zu entsprechenden Versuchen: Thomas Kesselring: Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der formalen Logik, Frankfurt/M. 1984; Dieter Wandschneider: Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels »Wissenschaft der Logik«, Stuttgart 1995.

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Sein durch den Begriff unabhängige Eigenbestimmtheit besitzt. Das Das17 ist in eins Bestimmtes und die Bestimmtheit, die es zum Bestimmten macht. Wollte man ›Das‹ als Begriff von dem durch den Begriff Bestimmten trennen, so müsste man es genau dadurch in seiner Ungetrenntheit wieder voraussetzen, weil in dem ›dem‹ in ›dem durch den Begriff Bestimmten‹ auf das Das verwiesen wird. Das, was das Das ist, ist das Das selbst. In seiner selbstgenügsamen Eigenbestimmtheit ist das Das folglich durch keinen Begriff bestimmbar. Wenn das Das also das durch keinen Begriff Bestimmbare ist, dann ist es damit das Das, das durch den Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ bestimmt ist. Damit ist aber seine Selbstgenügsamkeit unterlaufen, weil es nicht nur einfach das Das ist, sondern auch das durch keinen Begriff Bestimmbare.18 Das einfache, selbstgenügsame Das ist deshalb auch die Negation des durch keinen Begriff Bestimmbaren. Es ist einfach nur Das und nicht Das durch keinen Begriff Bestimmbare. Nun besagt die Einfachheit und Selbstgenügsamkeit des Das nichts anderes als den Ausschluss hinzukommender Bestimmung und somit nichts anderes als durch keinen Begriff bestimmbar zu sein. Die Negation des Das, das durch keinen Begriff bestimmbar ist, ist mithin auch die Negation dieser Negation. Das Das ist Was, nämlich das durch keinen Begriff Bestimmbare, nur so, dass es die Negation der Negation seines Was-Seins ist. Das Das ist das, was es ist, nur in der Negation dessen, das sein Was negiert. Um nun skizzieren zu können, wie sich aus der Lösung des Problems, die Bedingung der Möglichkeit fremdreferentieller Begriffe anzugeben, der Weg ergibt, den Begriff des Begriffs als Bedingung der Möglichkeit alles dessen zu bestimmen, was er nicht ist, reichen die bis hierhin ausgeführten ersten Konstruktionsversuche19 des durch keinen Begriff Bestimmbaren aus. Verständlich wird der Weg zur Bestimmung besonderer Begriffe, die die Bestimmtheit von Nicht-Begrifflichem konstituieren, erst unter der Voraussetzung, dass der Weg, das durch keinen Begriff Bestimmbare zu konstruieren, ausgeschritten wurde und im Begriff des Begriffs sein Ziel gefunden hat. Erst aus dem Blickwinkel des 17 ›Das Das‹ wird im Folgenden als das verstanden, worauf der Ausdruck ›das‹ in dem Ausdruck ›das so und so Bestimmte‹ verweist. Das Wort ›verweisen‹ ist bewusst gewählt, weil im Das die allgemeine Bestimmung des in Indikatoren wie ›hier‹ ›jetzt‹, usw. Gemeinten verstanden wird. Die Großschreibung des zweiten Ausdrucks in ›das Das‹ verdankt sich nur der besseren Lesbarkeit des Textes. Sachgemäßer wäre ›das das‹. 18 Die Schreibung mit Kapitälchen möchte schon durch das Schriftbild den Unterschied zwischen einfachem Das und nicht-einfachem Das veranschaulichen. 19 Die Ausführung der ersten Schritte, das durch keinen Begriff Bestimmbare zu konstruieren, versteht sich als Rekonstruktion des ersten Kapitels und des Abschnitts A des zweiten Kapitels des ersten Abschnitts des ersten Buches der Wissenschaft der Logik (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Wissenschaft der Logik«, in: ders.: Gesammelte Werke Bd. 21, hg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke, Hamburg 1984, 68–104) unter der Bedingung des vorgegebenen Begriffs des Begriffs. Es geht hier allerdings nicht um Hegel-Philologie, sondern um Sachfragen der Universaltheorie.

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entwickelten, absolut durch sich selbst bestimmten Begriffs zeigt sich nämlich, dass der Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ ein, durch die Bestimmung des Begriffs ›Begriff‹ durch sich selbst, bestimmter ist. Als allein durch sich bestimmter Begriff kann der Begriff des Begriffs in seiner Besonderheit nicht durch den Ausschluss anderer Begriffe bestimmt sein. Diese müssten für ihren Ausschluss vorausgesetzt werden. Damit wäre der Begriff des Begriffs durch anderes als er selbst bestimmt. Da im vollständig, sprich, rein durch sich selbst bestimmten Begriff des Begriffs der besondere Begriff der allgemeine ist und deshalb der Begriff ›Begriff‹ allein Begriff ist, muss das, was nicht durch ihn bestimmt, kein Begriff ist, allein durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ bestimmt sein, da ja andere Begriffe, die das bestimmen, was nicht durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmbar ist, in der vollständigen Bestimmung des Begriffs ›Begriff‹ durch sich selbst nicht ausgesondert werden. Der Begriff ›Begriff‹ erfüllt also als allgemeiner das ihm inhärierende Merkmal, besonderer Begriff zu sein, weil das nicht durch ihn Bestimmbare durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ bestimmt wird. Durch keinen Begriff bestimmbar zu sein, heißt dann nichts anderes als nicht durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmbar zu sein. Aus der Perspektive des rein durch sich selbst bestimmten Begriffs ist der Begriff ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ mit dem Begriff ›Nicht-Begriff‹ äquivalent.20 Der Begriff ›Nicht-Begriff‹ als der besondere Begriff, der allgemein das bestimmt, was der Begriff ›Begriff‹ als besonderer ausschließt, dementiert, bloß als die Negation des Begriffs ›Begriff‹ genommen, seine Bestimmung, ein Begriff zu sein. Der Begriff ›Nicht-Begriff‹ schließt aus dem durch ihn bestimmten Einzelnen generell das aus, was den Begriff ›Begriff‹ ausmacht. Da der Begriff ›Begriff‹ als der Begriff überhaupt damit auch das einzige begrifflich bestimmte Einzelne ist, ist das durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ bestimmte Einzelne zugleich auch nicht durch ihn bestimmt. Durch den Verlust der Bestimmung, für Einzelnes bestimmend zu sein, verliert die Negation des Begriffs, der Begriff ›Nicht-Begriff‹ den Status als Begriff begreifbar zu sein. Der Beginn beim durch keinen Begriff Bestimmbaren erweist sich vom begriffenen Begriff aus, als ein durch diesen bestimmter und deshalb notwendiger. In der Auflösung dieses Begriffs ›Nicht-Begriff‹ zeigt sich jedoch zugleich das, sich sowohl der Bestimmung durch den Begriff ›Begriff‹, als auch der durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ entziehende Einzelne dennoch als das begrifflicher Bestimmung vollständig Entzogene. Es ist das reine Einzelne, das dem Begriff ›Begriff‹ als dem durch den Begriff bestimmten Einzelnen gegenüber steht. Das Das als Resultat der Auflösung des Begriffs ›durch keinen Begriff bestimmbar‹ ist 20 Das entspricht dem Anfang der Hegelschen Wissenschaft der Logik, die Wissen vom Begriff gewinnen will, ohne Begriffe des Begriffs als bereits bekannte voraussetzen zu müssen. Vgl. Anm. 15.

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eben als das einfache, rein nur mit sich selbst bestimmte Einzelne das einzige, das durch den Begriff ›Begriff‹ nicht bestimmt ist. Dieses Einfache, das mit seiner Bestimmung in eins fällt, kann in dieser seiner Besonderheit nicht begriffen werden, da es auch die Negation dieser Besonderheit ist. Als Einfaches, als mit seiner Bestimmung in eins Fallendes kann das reine Einzelne nicht begriffen werden, weil gerade die begriffliche Bestimmung, vollständig begrifflicher Bestimmung entzogen zu sein, die Reinheit des Einzelnen negiert. Erst das Einzelne, das seine Negation, durch den vollständigen Ausschluss begrifflicher Bestimmung begrifflich bestimmt zu sein, selbst noch negiert, ist das aller begrifflichen Bestimmung entzogene, reine Einzelne. Das reine Einzelne erweist sich als die komplette Negation des Begriffs ›Begriff‹, des durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmten Einzelnen, indem es auch noch die Negation seiner negativen Bestimmung ist, nicht der Begriff ›Begriff‹ zu sein. Aufgrund des zuvor Ausgeführten dürfte plausibel sein, dass der gesamte Kreislauf, in dem Begriffe aus sich dementierenden entstehen, nur um sich wieder zu dementieren, von seinem Resultat her – dem in sich, durch sich selbst Halt findenden Begriff ›Begriff‹ – einzig als das nicht durch ihn Bestimmbare, nicht Begriff Sein Könnende bestimmt ist. Das Resultat der gescheiterten Versuche, das zu bestimmen, was das Nicht-Begriffliche ausmacht, ist die vorerst ernüchternde Einsicht, dass es dabei bleibt, das Nicht-Begriffliche sei nur ganz allgemein als die Negation des Begriffs ›Begriffs‹ zu bestimmen. Der nur durch sich selbst bestimmte Begriff des Begriffs bestätigt sich in diesem Resultat als einziger Begriff und als das allein durch ihn Bestimmte und damit, dass es für das von ihm Ausgeschlossene keinem Begriff geben kann. Wie kann dieses vollkommen in sich geschlossene Singulum, das nichts außer sich zulässt, noch als Bedingung der Möglichkeit von mannigfaltig Bestimmten begriffen werden? Der Lösungsweg muss über das Resultat, das geschlossene Singulum des vollständig durch sich selbst bestimmten Begriffs ›Begriff‹ führen. Der Begriff des Begriffs ist dadurch vollständig durch sich bestimmtes Singulum, dass er zugleich allgemeiner und besonderer Begriff und deshalb anderen Begriff als Nicht-Begriff Seiendes ausschließt, d. h. alleine Begriff ist. Als der All-Eine ist der Begriff ›Begriff‹ der eine, der alles ist, was durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmt ist. Fallen allgemeiner und besonderer Begriff in eins, dann bedarf es des Begriffs, der allgemein die Besonderheit dessen bestimmt, was nicht Begriff ist. Damit der allgemeine auch besonderer Begriff sein kann, muss das, dem gegenüber er als besonders bestimmt ist, auch Begriff sein. Ansonsten wäre er eben kein besonderer Begriff. Die geschlossene einzig durch sich selbst bestimmte Einheit ist der Begriff des Begriffs also erst dann, wenn der Begriff ›Nicht-Begriff‹ seine bestimmende Funktion auch erfüllen kann. Durch die Selbstbestimmung des Begriffs des Begriffs ist der Begriff ›Nicht-Begriff‹ so bestimmt, dass er alleine für die Be-

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stimmtheit des durch ihn bestimmten Einzelnen nicht einstehen kann. Das, was einzig negativ als das vom Begriff ›Begriff‹ Ausgeschlossene bestimmt ist, entzieht sich der bestimmenden Funktion des Begriffs und dementiert ihn damit als Begriff. Offensichtlich lässt sich mittels der Fortbestimmung des Begriffs durch sich selbst die für seine vollständige Selbstbestimmung benötigte Eigenbestimmtheit desjenigen, welches generell von ihm ausgeschlossen ist, nicht ermitteln. Es ist der Begriff des Begriffs selbst, der besagt, dass das von ihm Ausgeschlossene durch ihn allein nicht bestimmbar ist. Damit bestimmt er sich selbst als den, der die Bestimmtheit dessen, was er nicht ist, durch sich nicht zu bestimmen vermag. Folglich bleibt nichts anderes übrig, als das vollkommen vom Begriff ›Begriff‹ Unterschiedene einfach zu nennen, um dann an dem, auf das der Name referiert, zu demonstrieren, dass an ihm nichts auszumachen ist, was den Begriff ›Begriff‹ ausmacht. Die allgemeine, in jeder Beziehung geltende Negation des Begriffs ›Begriff‹ ist der Raum. Verstände man den Term ›der Raum‹ generisch z. B. im Sinne von ›Raum im Allgemeinen‹, ›das allen Räumen Gemeinsame‹ oder im Sinne einer Kennzeichnung als ein singuläres Einzelnes das durch den Begriff ›Raum‹ bestimmt ist, z. B. im Sinne von ›der alles umfassende Raum‹, könnte das durch den Term Bestimmte nicht als das vom Begriff des Begriffs generell Ausgeschlossene bestimmt sein. Es wäre durch den Begriff ›Raum‹ bestimmtes Einzelnes.21 Dass er nicht ein durch einen Begriff bestimmbares Einzelnes ist, muss sich am Raum zeigen lassen. Der Raum muss sich so präsentieren, dass seine Bestimmungen nicht von ihm trennbar sind und für mögliches anderes Einzelnes bestimmend sein können. Dass was Raum ist, ist der Raum selbst und deshalb ist er nur der Raum als der Ausschluss von anderem Raum. Als dieser Ausschluss ist der Raum leerer Raum.22 Der Ausschluss all dessen, das die Bestimmtheit des Raumes mit ihm teilen könnte, d. h. seine Leerheit ist aber als Negation der begrifflichen Bestimmung, ein Raum unter möglichen anderen zu sein, noch 21 In sprachphilosophischer Terminologie könnte formuliert werden, es ließe sich am Raum zeigen, dass der Ausdruck ›der Raum‹ keine Kennzeichnung sondern ein Eigennamen im Sinne von Kripkes rigid designator (Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit, Frankfurt/M. 1981) sei. Vielleicht ist der Ausdruck ›der Raum‹ streng genommen der einzige starre Bezeichner, da das durch ihn Bezeichnete kein Einzelnes ist, das mit anderem identisch bestimmten zu verwechseln ist. Kripkes rigid designators hängen nämlich davon ab, dass Einzelnem der Eigenname – quasi in einer Taufe (S. 112f.) – gegeben wird. Dafür muss das zu Benennende aber schon ohne Eigennamen eindeutig identifizierbar sein. Für diese Identifikation werden aber Kennzeichnungen benötigt, die für die geforderte Starrheit nicht aufkommen können. Zu den Voraussetzungen der sogenannten Taufsituation vgl. Ernst Tugendhat/Ursula Wolf: Logisch semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 163–166. 22 Die Leerheit des Raumes besagt im hiesigen Zusammenhang nur, dass der Raum anderes, mit dem er seine Bestimmtheit teilt, ausschließt. Der Raum ist nicht dadurch Raum, dass er Raum für Räume wie z. B. Körper ist, oder von diesen abstrahiert wird.

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selbst nur ein begrifflicher und würde darin erneut von einem Begriff ›Raum‹ Gebrauch und somit die Bestimmtheit des Raumes zu einer begrifflichen machen. Auf nicht durch Begriffe vermittelte Weise zeigt der Raum seine Leerheit im Punkt. Auch hier ist daran zu erinnern, dass jegliches Bestimmt-Sein durch Begriffe von dem im Term ›der Punkt‹ Angezeigten fernzuhalten ist. ›Der Punkt‹ meint nicht einen ausgezeichneten Punkt mit einem Ort, neben dem es andere Punkte geben kann, wie z. B. den Nullpunkt in einem Koordinatensystem.23 Als die Negation des Raumes, also als das von der Bestimmtheit des Raumes komplett Ausgeschlossene entspricht das in ›der Punkt‹ Angezeigte zwar dem über die Leerheit Gesagten, ist aber als das von der Bestimmtheit des Raumes Ausgeschlossene nicht mehr die Leere des Raumes, die ja seiner Bestimmtheit angehört. Die Leere als Bestimmtheit des Raumes kann durch den Punkt nicht präsentiert werden, sofern er nur der Ausschluss aller Bestimmtheit des Raumes ist. Das in ›der Punkt‹ Angezeigte muss als die Negation des Raumes auch noch die Leere des Raumes als dessen Bestimmtheit präsentieren können. Die Leere des Raumes ist nicht nur die Singularität des Raumes allen Raum aus dem Raum ausschließende, sondern zeigt gerade darin das ›Innen‹ des Raumes. Das Innen des Raumes ist keine Bestimmtheit, die dem Ausschluss begrifflich inhäriert. Die Singularität des Raums bedeutet nicht das Innen des Raumes. Umgekehrt, dass der Raum Singularität ist und nur er ist, was ihn ausmacht, erweist sich dadurch, dass kein Raum im Innen des Raumes ist. Wie kann der leere Raum aber dann das, was in ihm ist, von sich als dem, in dem dieses ist, unterscheiden? Es ist der Punkt, der für den leeren Raum den Unterschied ausmacht von Innen des Raumes und dem Raum dessen Innen es ist. Das im Name ›der Punkt‹ Angezeigte zeigt die Leere im Raum so, dass ihr Unterschied vom Raum, in dem sie ist, gewahrt bleibt. Als das alle Räumlichkeit Ausschließende ist der Punkt der absolute Unterschied zum Raum als dem einzig Räumlichen, ist er die Negation des Raumes. Den Unterschied dessen, das im Raum ist, und dem Raum, in dem es ist, zeigt der Punkt. Ansonsten kollabierte der Unterschied. Das Innen des leeren Raumes wäre der leere Raum selbst. Nur durch den Raum kann der allgemeine Begriff ›Begriff‹ zugleich der be23 Dem Einwand, dass der Raum sich doch unbestreitbar als eine Mehrzahl von Punkten enthaltend darbietet, kann hier leider nicht begegnet werden. Verwiesen sei auf die Schwierigkeiten, die eine solche Annahme mit den Paradoxien des Zenon hat. Vgl. Wolfgang Cramer : »Die Aporien des Zeno und die Einheit des Raumes«, in: Blätter für Deutsche Philosophie 12 (1938/39), 347–364. Die Raumtheorie, die aus der Theorie des Begriffs zu entwickeln ist, muss aber nachweisen, dass der Unterschied von Punkt und anderem Punkt sich als Bestimmtheit des einen einfachen Raumes zeigen kann. Es sei hier als Vermutung geäußert, dass dies die Bestimmtheit der Ausdehnung leisten könne.

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sondere Begriff ›Begriff‹ sein, da der Raum das ist, mittels dessen die vollständige Negation des Begriffs ›Begriff‹ bestimmende Funktion erhält und somit auch die allgemeine Negation ›Nicht-Begriff‹ als Begriff, d. h. durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmt ist. Der Begriff ›Nicht-Begriff‹ ist in der Lage Einzelnes zu bestimmen, weil er selbst nicht mehr dafür aufkommen muss, dass das Einzelne so bestimmt ist. Der leere singuläre Raum ist es, der dafür einsteht, dass er der Ausschluss begrifflicher Bestimmtheit, also kein durch den Begriff des Begriffs Bestimmtes ist. Gerade weil das Singulum Raum in seiner singulären Eigenbestimmtheit auf die Bestimmung durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ nicht angewiesen ist, ist es durch diesen bestimmbar. Während der Begriff des Begriffs das in sich geschlossene Singulum nur ist, indem er sich durch sich selbst durch den allgemeinen Begriff ›Begriff‹ bestimmt, ist der Raum das in sich geschlossene Singulum, indem er unmittelbar zeigt, was er ist. Er zeigt sich so, dass er kein durch den Begriff ›Raum‹ bestimmtes Einzelnes ist. Wenn der Begriff ›Nicht-Begriff‹ in der Bestimmung des Raumes sich als Begriff erweist, der sich in Wahrnehmung seiner bestimmenden Funktion nicht mehr auflöst, dann stellt sich die Frage, wie es um die anderen Begriffe steht, die quasi aus seiner Auflösung entstanden sind, um sich selbst wiederum aufzulösen. In der Tat zeigt sich der die Leere im Raum zeigende Punkt als das Das, das reine Einzelne. Als die reine Leere, die nicht der Raum ist, in dem sie ist, muss der Punkt als Negation des Raumes bestimmt werden. Sonst wäre er ein Raum und der Raum nicht mehr einziger Raum. Erst als die Negation des Raumes kann die Leere als das Im-Raum-Sein vom Raum, in dem sie ist, unterschieden werden. Als das die Leere des Raums Ausmachende, zur Bestimmtheit des Raumes Gehörende ist der Punkt zugleich auch die Negation der Negation des Raumes. Die Leere des Raums ist als Abwesenheit von Raum die Anwesenheit des Punktes im Raum. Die genannten begrifflichen Bestimmungen des Raumes springen zugegebenermaßen nicht einfach aus der Raumanschauung heraus. Sie zeigen sich unter der Bedingung, dass der Raum das den Begriff ›Nicht-Begriff‹ erfüllende ist und dadurch das die vollständige Bestimmung des Begriffs durch sich selbst ermöglichende ist. Dass der Raum notwendig und vollständig, durch die Begriffe bestimmt ist, die nicht durch den Begriff des Begriffs allein, sondern erst durch ihn als fremdreferentielle Begriffe bestimmbar werden, muss sich aber an, oder besser in ihm zeigen. Ist den durch den Begriff des Begriffs ermöglichten Begriffen durch den Raum ihre bestimmende Funktion gegeben und sind sie damit als durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmte, d. h. als wahrhaft Begriff Seiende verwirklicht, dann sind sie als Kategorien ausgewiesen.24 Das heißt auch, dass 24 Die Aufgabe, die Kategorien, deren Möglichkeit durch die absolute Selbstbestimmung des Begriffs bedingt ist, als Bestimmungen des Nicht-Begrifflichen auszuweisen, kann mit Kants

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Bestimmungen des Raumes, die den Kategorien widersprechen, sich in ihm nicht zeigen lassen. Auf den ersten Blick präsentiert sich der Anschauungsraum z. B. doch eher als erfüllter also als Raum für einzelne Räume. Es lässt sich aber zeigen, dass die Annahme, der Raum sei nur Raum für Räume, gerade bestätigt, dass er derselbe auch ohne diese Annahme ist. Räume, die auf den Raum, den sie erfüllen,25 nicht angewiesen sind, um ein Raum zu sein, seien Körper genannt. Die Bestimmung des Körpers, ein Raum zu sein, soll sein Volumen heißen. Nun lehrt einen die Raumanschauung, dass der Raum, den der Körper mit seinem Volumen einnimmt, derselbe bleibt, auch wenn der Körper ihn nicht mehr einnimmt, z. B. wegbewegt wird. Damit zeigt sich auch das Volumen des Körpers als begrenzter leerer Raum. Der Raum ist ohne seine Identität zu verlieren beliebig in einen begrenzten und einen diesen begrenzenden Raum zu unterteilen. Die Notwendigkeit, den leeren Raum als Begrenzungen ermöglichenden zu bestimmen, resultiert daraus, dass ›Grenze‹ ein durch den Begriff des Begriffs ermöglichter Begriff ist und deshalb den Raum unabhängig davon, was in ihm ist, a priori formatiert. Die unbedingte Einheit, der nur durch sich selbst bestimmte Begriff des Begriffs lässt sich also als Bedingung der Möglichkeit fremdreferentieller Begriffe bestimmen.26 Das Einzelne, welches durch diese Begriffe bestimmt wird, ist das Transzendentaler Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft verglichen werden. Kant stellen sich demzufolge dieselben Probleme, die hier als die der Universaltheorie behandelt wurden. Auch bei Kant sollen die Kategorien als allein durch den Verstand als das Vermögen der Begriffe (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1971, A 68/B 93) bestimmt sein. Im Gegensatz zum hier beschrittenen Weg verfolgt Kant das Programm, die Kategorien nicht aus den allgemeinen Bestimmungen des Begriffs, speziell der der Fremdreferenz, sondern aus den Funktionen der Einheit in Urteilen heraus zu bestimmen. Da nach Kant die Funktionen der Einheit in Urteilen allein aus den Formen des Denkens in Urteilen in Abstraktion »von allem Inhalt« (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 70/B95) bestimmbar sind, stellt sich für die Metaphysische Deduktion das Problem der Fremdreferenz zunächst einmal nicht. Die Behandlung dieses Problems in der Transzendentalen Deduktion setzt die Kategorien als rein durch den Verstand bestimmte Formen voraus und fragt dann nach der Rechtfertigung, sie auf Objekte der Anschauung zu beziehen. Auf dem hier eingeschlagenen Weg stellt sich das Problem der Fremdreferenz bereits in der Bestimmung des Denkens durch sich selbst. Indem vom Raum gezeigt wird, dass er das Einzelne ist, in dem die Begriffe erfüllt sind, die durch sich selbst nicht als NichtBegriffliches bestimmende bestimmbar sind, lässt sich ein Prozedere sehen, das Kants Metaphysische Deduktion, Transzendentale Deduktion und Schematismus in eins zusammenzieht. Für welche Lösung des Kategorienproblems man sich entscheidet, mag dahingestellt bleiben. Hier geht es hauptsächlich um den Hinweis, dass die behandelten Probleme allgemein sachlicher Natur und nicht an irgendwelche historisch vorgegebenen Positionen gebunden sind. 25 Zur Möglichkeit der Raumerfüllung, ohne die Bestimmtheit des leeren Raums zurücknehmen zu müssen, vgl. S. 278. 26 In der vorliegenden Skizze war es allerdings nur möglich, die ersten Schritte zu tun, um zu

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Singulum Raum. Ist aber nur der eine einfache Raum der Referent der fremdreferentiellen Begriffe, wie kann der Begriff des Begriffs dann die Bedingung der Möglichkeit von vielen und kontingenten Einzelnen sein? Auf der Basis des bereits Ausgeführten soll äußerst knapp und deshalb wohl nicht befriedigend angedeutet werden, wie die Frage sich beantworten lässt. Auch ›Vielheit‹ und ›Kontingenz‹ erweisen sich als Begriffe, die der Raum in seiner leeren Einfachheit als seine Bestimmungen zeigt. Dass der eine Raum durch den Begriff ›Vielheit‹ bestimmt sein kann, hat seine Unterteilbarkeit mittels Grenzen zur Voraussetzung. Als Vieles zeigt sich der eine Raum im gegeneinander Abgegrenzten. Da der Begriff der Kontingenz im Aufbau der Wissenschaft der Logik27 am Ende der Wesenslogik sehr weit weg vom Ausgang bei dem durch keinen Begriff Bestimmbaren und sehr nah am Resultat dem Begriff des Begriffs zu stehen kommt, kann nur angedeutet werden, wie der Raum durch ihn bestimmt ist. Die Kategorien der Wesenslogik zwingen dazu, den Raum als das vom Anschauen nicht zu trennende Angeschaute zu bestimmen. Da aber umgekehrt das Anschauen nur im Anschauen des Angeschauten Anschauen ist, schaut es seine Zeitlichkeit im Wandel des Angeschauten an. Auch das eine Anschauen, das im Anschauen des Angeschauten dasselbe bleibt, muss sich in das Angeschaute übersetzen lassen, wenn das Anschauen nur im Angeschauten zur Geltung kommen soll. Es ist die Identität des einen Raumes, in dem, als ein und demselben der Wandel angeschaut wird. Der Raum ist demnach Anschauung, und zwar in beiderlei Sinn: als Anschauen und als Angeschautes. Die Bestimmtheit des Raumes, der einzige und einfache Raum zu sein, ist damit nicht aufgehoben. Was sich in ihm auch wandelt, ändert nichts an seiner einfachen Bestimmtheit. Somit ist der Raum als erfüllbarer bestimmt, ohne die Bestimmungen seiner Leerheit zu verlieren. Die Bestimmung des Raumes durch den Begriff der Kontingenz besagt dann, dass die Identität des einen angeschauten Raumes durch den Wandel in ihm nicht tangiert ist. Das, was im Raum angeschaut wird, ist auch anders möglich, ohne dass die Anschauung des Raums, in dem der Wandel angeschaut wird, eine andere wäre. Die eine Anschauung schaut sich in der Einheit des Angeschauten selbst an.28 zeigen, wie der Raum es möglich macht, den Begriff des Begriffs als Bedingung der Möglichkeit fremdreferentieller Begriffe auszuweisen. 27 Der Begriff ›Kontingenz‹ kommt in Hegels Wissenschaft der Logik als Kategorie nicht vor, hat aber seinen Platz im zweiten Kapitel des letzten Abschnitts der Wesenslogik (G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, 380–392), das die Modalkategorien abhandelt. 28 Die Überlegungen zu den wesenslogischen Raumbestimmungen sind weniger Hegel als Wolfgang Cramer (Wolfgang Cramer : »Raum, Zeit, und transzendentaler Schein«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), 568–582, insbes. 579–582) geschuldet. Ihnen liegt allerdings die Annahme zugrunde, dass die von Cramer in seiner Subjektivitätstheorie stets herausgestellte Eigenzeitlichkeit der Subjektivität nur mit Mitteln der Hegelschen Wesenslogik adäquat zu erfassen ist.

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Da sich Vieles und Kontingentes nur in der Art im Raum zeigen können, wie dieser durch die Begriffe ›Vielheit‹ und ›Kontingenz‹ bestimmt ist, ist der Begriff des Begriffs als die Bedingung der Möglichkeit des kontingenten Vielen ausgewiesen. Kontingentes Vieles ist nur so möglich, dass es in dem einen Raum ist, der sich unabhängig davon, was in ihm ist, als durch die Begriffe ›Vielheit‹ und ›Kontingenz‹ bestimmt erweist. Generell und in thesenartiger Zusammenfassung gilt damit, dass die Wissenschaft der Logik als das Begreifen dessen, was den Begriff als solchen ausmacht, diejenigen Begriffe ermöglicht, die als notwendige Bestimmungen des einen Raumes a priori vorgeben, auf welche Weise kontingentes Vieles sich im Raum zeigen muss. Zur Vielheit von Einzelnen wird das Viele und Kontingente, das in räumlichen Grenzen erscheint, erst durch Begriffe. Durch sie wird das Räumliche, dessen Erscheinen der eine Raum ist, zur Eigenschaft eines durch die Eigenschaft bestimmten Einzelnen. So wenig wie durch die Bestimmung des Raumes a priori bestimmt ist, was im Raum erscheint, so wenig ist durch den Begriff des Begriffs bestimmt, welche bestimmten Eigenschaften es sind, die Einzelnes als durch die Begriffe bestimmtes möglich machen. Allerdings ist der Begriff des Begriffs Voraussetzung dafür, dass Wörter, die zunächst auch nur Angeschautes sind, als Bestimmung von dem durch sie bestimmten Einzelnen unterschieden sind. Nachdem das Vorhergehende versuchte, skizzenhaft plausibel zu machen, dass eine Theorie im Design von Hegels Wissenschaft der Logik gute Aussichten hat, als Universaltheorie aufgebaut werden und somit die Christologie durch ein problemlösendes funktionales Äquivalent ersetzen zu können, sollen im Folgenden zumindest noch einige Hinweise gegeben werden, weshalb eine als Universaltheorie betriebene Theologie nicht einen Totalschaden für die Christologie bedeuten muss.

IV. Das wesentliche Problem, mit dem sich die Christologie seit ihren antiken Anfängen konfrontiert sieht, besteht darin, die Voraussetzungen zu benennen, unter denen der Mensch Jesus von Nazareth als eine bzw. die Manifestation Gottes begriffen werden kann. Ganz schematisch betrachtet, bieten sich zwei Lösungswege für das benannte Problem an. Entweder man geht von Gott aus und konstruiert ihn so, dass aus diesem Konstrukt seine Manifestation in Jesus begreifbar wird, oder man geht von dem Menschen Jesus aus und macht einsichtig, wie dieser als Manifestation Gottes bestimmbar ist. Den ersten Weg bestreitet die altkirchliche Hochchristologie wie sie im Nicänum und Chalcedonense niedergelegt ist. Indem Gott so aufgebaut wird, dass es zu seiner notwendigen Eigenbestimmtheit gehört, den, bis auf sein Gezeugt-Sein von demselben Wesen sei-

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enden Sohn zu zeugen, lässt sich über das Konstrukt des sich in der Inkarnation identisch durchhaltenden Wesens des Sohnes der Mensch Jesus als Manifestation Gottes begreiflich machen. Spätestens mit Beginn der Aufklärung weiß der altkirchliche Lösungsweg nicht mehr zu überzeugen. Von nun an bewegt sich die Christologie auf dem zweiten Lösungsweg und hat ihn bis dato auch nicht mehr verlassen. Eng verbunden mit dem Beschreiten des zweiten Lösungswegs ist die mit der beginnenden Neuzeit einsetzende Ausdifferenzierung von Religion als etwas Eigenständigem, das durch anderes nicht substituierbar ist. So reizvoll es wäre, die Entwicklung der neuzeitlichen Christologie als Ausdruck der zunehmenden Ausdifferenzierung von Religion gerade gegenüber Wissenschaft begreifbar zu machen, so muss hier mit den Ergebnissen dieses Prozesses vorliebgenommen werden. Wenn es auch nicht immer explizit formuliert wird, so werden die Christologien zunehmend so aufgebaut, dass es nur die spezifisch religiöse Zugangsweise, der Glaube ist, der sich der Mensch Jesus als die Manifestation Gottes erschließt. Der Glaube besteht darin, dass ihm der Mensch Jesus bereits als Offenbarung Gottes gegeben ist. Der Streit darüber, was es ist, das der Mensch Jesus von Gott zu erkennen gibt, ist dann nur noch als religiöse Kommunikation zu führen. Im Glauben, der sich immer schon gegeben sein muss, damit ihm der geglaubte Inhalt nachvollziehbar ist, spricht sich die operative Schließung der Religion in der Moderne besonders deutlich aus.29 Nun ist die eben skizzierte Entwicklung der Christologie nicht zwangsläufig! Die Problemstellungen und Lösungsvorschläge, die die Christologie auszumachen scheinen, sind kontingente Fakten, die sich dem nun mal so verlaufenen Prozess der Ausdifferenzierung von Religion verdanken. Von daher bietet es sich an, noch einmal einen Blick auf den ersten, mit Beginn der Neuzeit abgebrochenen Lösungsweg zu werfen, der seinen Ausgang bei Gott nimmt. Es war bereits gesagt worden, dass die Lösung in zwei Schritten angestrebt wird, die beide darin bestehen, dass Gott sich in seiner wesentlichen Bestimmtheit in anderes transformiert (Zeugen des Sohnes, Inkarnation des Sohnes), ohne dass diese eine Veränderung erfährt. Neben derselben Bestimmung, Übersetzen des identischen Wesens in Anderes zu sein, unterscheiden sich die beiden Schritte jedoch auch gravierend. Während die Inkarnation des Sohnes keine wesentliche Bestimmtheit Gottes ausmacht, ist Gott notwendigerweise das Zeugen des 29 Die beiden hier benannten Lösungswege für das Problem der Christologie sind nicht mit dem in den Ausdrücken ›Christologie von oben‹ und ›Christologie von unten‹ Gemeinten zu verwechseln. Sowohl die von unten anfangenden als auch die oben anfangenden Christologien gehen von dem nur religiös bestimmten Faktum aus, an oder in dem Menschen Jesus manifestiere sich Gott. Insofern sind beide Verfahrensweisen dem zweiten Lösungsweg zuzuschlagen. Zur Unterscheidung von ›Christologie von oben‹ und ›Christologie von unten‹ vgl. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie Tübingen 2013, 181–185.

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Sohnes. Gott kann nicht Gott sein, ohne Vater zu sein. Da der Ausgang bei Gott in der altkirchlichen Christologie immer schon vom Ziel, der Inkarnation her determiniert ist, ist das Problem der notwendigen Zeugung des Sohnes oder – um es mit dem Johannesevangelium auszudrücken – der Notwendigkeit, dass Gott den Logos bei sich hat, nicht bearbeitet worden. In den Worten des Nicänums stellt sich das Problem so dar, dass es die Frage zu beantworten gilt, weshalb der Vater als der Schöpfer des Sichtbaren und Unsichtbaren des Sohnes bedarf, durch den alles geworden ist, sowohl im Himmel als auch Erden. Nimmt man den Ausgang bei Gott als Ausgang ernst und bestimmt ihn nicht von vornherein durch das Ziel, dann bleibt das Problem des Logos30 ungelöst. Als Lösung des Problems des Logos bietet sich nun die Universaltheorie an, wie sie in Abschnitt III. skizziert wurde. Der eVr ¢]or, der nur sich selbst bestimmende Begriff des Begriffs ist aufgrund seiner Selbstbestimmung das Einssein von allgemeiner Bestimmung und dem durch die Bestimmung Bestimmten. Der Begriff ›Begriff‹ als die unbedingte Einheit führt seine Bestimmung, den Begriff ›Begriff‹ notwendig mit sich, da er als ein und derselbe der durch sich selbst bestimmte ist. Als ein und derselbe ist der Begriff ›Begriff‹ aber zugleich in den allgemeinen Begriff und das durch den Begriff bestimmte Einzelne unterschieden. Durch die Brille der Universaltheorie betrachtet, ließe sich der Logos, der bei Gott ist, als der Begriff ›Begriff‹ in seiner bestimmenden Funktion sehen. Er ist aber nur so bestimmend, dass er zugleich das eine durch ihn bestimmte ist. Dem im bloors_or des Nicänums nur benannten, aber nicht gelösten Problem, mit der Wesensverdoppelung im Sohn nicht den einen Gott zu zerstören, kann somit durch die universaltheoretische Sichtweise des Logos eine Lösung gegeben werden. Auch die Rede vom Logos, durch den alles geworden ist, ergibt in der Universaltheorie einen Sinn. Der Begriff ›Begriff‹ ist nur dann die unbedingte Einheit, die durch den Begriff ›Begriff‹ bestimmt ist, wenn die durch den Begriff ›Begriff‹ ausgesagte Bestimmtheit eine besondere ist. Nur wenn das durch den Begriff ›Begriff‹ Bestimmte von dem nicht durch ihn Bestimmten unterschieden werden kann, wenn also Einzelnes durch den Begriff ›Nicht-Begriff‹ bestimmt werden kann, ist der Begriff ›Begriff‹ etwas Bestimmtes. Wie in Abschnitt III. skizziert, eröffnet der Begriff ›Nicht-Begriff‹, der durch den Begriff ›Begriff‹ allein nicht als Begriff bestimmbar ist, die Möglichkeit, den Begriff des Begriffs als Bedingung der Möglichkeit alles dessen, was sein kann, zu bestimmen. Substituiert das, nur unter seinen eigenen Bedingungen bestimmte Singulum 30 Es hätte auch ›Problem des Sohnes‹ heißen können. Im hiesigen Zusammenhang sei aber der Ausdruck ›Logos‹ bevorzugt. Zum einen lässt sich ›Logos‹ zwanglos mit den Ausdrücken ›Wort‹, ›Begriff‹ und ›Logik‹ in Verbindung bringen und zum anderen vermeidet er Anthropomorphismen und signalisiert damit die Abkoppelung von dem Problem der Inkarnation in dem Menschen Jesus.

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Raum den Menschen Jesus, der als ein Mensch das, was er war, nur unter kontingenten Bedingungen geworden ist, kann auch der Inkarnation des Logos eine universaltheoretische Fassung gegeben werden. Damit der Begriff des Begriffs seine bestimmende Funktion für das, was er nicht ist, wahrnehmen kann, muss sich das durch ihn Bestimmte im Raum zeigen. Erst als in den Raum eingegangener, sich als Bestimmtheit des Raumes offenbarender ist der Begriff bestimmender Begriff. Erst durch seine Inkarnation im Raum ist der Begriff des Begriffs der, durch den alles, was sein kann, bestimmt ist. Von der Universaltheorie aus beobachtet, lässt sich sehen, dass der zweite Schritt vom Logos zu dem Menschen Jesus für eine Christologie, die konsequent von Gott ausgeht, verbaut ist. Insofern ist es folgerichtig, dass man den Weg nicht mehr beschritt, Jesus Christus als ein menschliches Individuum zu konzipieren, in das Gott sein Wesen ohne Identitätsverlust transformieren konnte. Das bedeutet jedoch nicht, dass man den Weg beschreiten muss, den die neuzeitliche Christologie gegangen ist, und den Ausgang bei dem in der gegebenen Religion mitgegebenen Faktum der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus nimmt. Fällt die Entscheidung anders und bildet Gott als die unbedingte alles bestimmende Einheit den Ausgang, dann verliert die Theologie zwar zwangsläufig den Menschen Jesus und mit ihm Jesus Christus, gewinnt aber Gott für die Wissenschaft (zurück?). Indem die Universaltheorie Vorgaben der Religion als der Theorie fremde von sich ausschließt, vollzieht sie die Autopoiesis der Wissenschaft, in der letztlich die Theorie autonom darüber entscheidet, ob ihr Vorgegebenes in ihr gilt und nicht die Faktizität des Vorgegebenen. Im Gegenzug überlässt es die Wissenschaft aber auch der Religion, sich einen Reim darauf zu machen, was es mit Jesus auf sich hat. In der Form der Universaltheorie kann die Theologie sogar für sich in Anspruch nehmen, als die Wissenschaft von den Wissenschaften zu fungieren. Die Theorie des Begriffs bestimmt a priori die Bedingungen, unter denen Theorien in ihren Begriffen Einzelnes bestimmen können. Zu guter Letzt stellt die Universaltheorie auch einen begrifflichen Rahmen für eine Theorie der Religion in Aussicht, die den Blick dafür schärft, dass wissenschaftliche Theologie und Religion ganz gut ohne einander auskommen.

Raul Heimann

Jesu Weg zur Vollkommenheit. Entwurf eines Neuansatzes innerhalb der philosophischen Christologie

1.

Einleitung

›Wer war Jesus Christus und welche Bedeutung hat er für uns?‹ Diese Frage kann als die Leitfrage der Christologie betrachtet werden. Im Laufe von 2000 Jahren wurden verschiedenste Ansätze entwickelt, um dem geschichtsgewaltigen Phänomen ›Jesus Christus‹ auf die Spur zu kommen. An diese Tradition knüpfe ich an, wenn ich im Folgenden einen philosophischen Ansatz vorstelle, der eine neuartige Perspektive auf den in den Quellen erscheinenden Jesus eröffnet und zu interessanten Einsichten für die Christologie führt. Dazu werde ich in drei Schritten vorgehen. Im ersten Teil werde ich überblickshaft die wichtigsten Ansätze der Christologie, insbesondere der philosophischen Christologie, darstellen und einige zentrale Probleme markieren. Die vorgestellte analytisch-hermeneutische Methode der Textinterpretation soll dadurch in die Tradition der christologischen Forschung eingeordnet als eine mögliche Lösung ihrer Probleme verstanden werden. Im zweiten Teil möchte ich diese philosophische Methode exemplarisch an einem kurzen Textabschnitt anwenden: die Antithesen der ›Bergpredigt‹ innerhalb des Matthäus-Evangeliums. Dies dient der Veranschaulichung der Methode und der Herleitung einiger christologischer Einsichten. Der letzte Teil skizziert mögliche Folgen für das Verständnis von Jesus und für die philosophische Christologie. Hierdurch soll die Fruchtbarkeit des Ansatzes für christologische Fragestellungen verdeutlicht werden.

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Raul Heimann

2.

Hauptansätze der Christologie

a.

Theologische Christologie

Die christologische Forschung lässt sich anhand ihrer zentralen Annahmen grob in drei Hauptrichtungen unterteilen, die ich im Folgenden als theologische, historische und philosophische Richtung bezeichnen werde.1 Die längste Tradition hat die theologische Christologie. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt im Neuen Testament. Dieses konvergiert nach Kühn in dem Glaubensbekenntnis »dass in Jesus von Nazareth, der von den Toten auferweckt wurde, Gott selbst zum Heil der Welt gehandelt hat.«2 Ausgehend hiervon lässt sich die dogmatische Leitfrage formulieren: Was ist der Sinn und der Grund der Wahrheit dieses Bekenntnisses zu Jesus Christus?3 In der langen und differenzierten Geschichte der theologischen Christologie entwickeln sich zwei grundlegende Ansätze, das Verhältnis von der transzendenten Wirklichkeit Gottes und der Immanenz des Menschen zu denken. Der erste Ansatz betont die Göttlichkeit Jesu und versteht ihn als ein bestimmtes Handeln Gottes in der Welt. Insofern hier Jesus von Gott her zu verstehen ist, wird dieser Ansatz oft als »Christologie von oben«4 bezeichnet. Diese Sicht trägt erstmals im Konzilsentscheid von Nicäa Früchte, in dem die »Wesenseinheit«5 Jesu mit dem Vater formuliert wird. Später nehmen herausragende Theologen im Mittelalter wie Anselm (Cur Deus homo/Warum Gott Mensch geworden ist, 1094) und in der Reformation Luther (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520) diesen Gedanken wieder auf, indem sie Jesus als das Opfer Gottes zur Erlösung der Menschheit von ihren Sünden deuten. Hieran knüpfen in neuerer Zeit z. B. Barth (Kirchliche Dogmatik, 1932) und Bultmann (Theologie des Neuen Testaments, 1948–53) an, wenn sie Jesus ganz vom Kreuz und von der Auferstehung her verstehen, durch die Gott sich in der Welt offenbart. Der zweite Ansatz, oft als »Christologie von unten«6 benannt, legt das Schwergewicht auf das Menschsein Jesu, das ein besonderes Verhältnis zu Gott auszeichnet. Diese Deutung Jesu geht prominent zuerst in den Konzilsentscheid von Chalzedon ein, in dem Jesus 1 Neben diesen drei Hauptrichtungen finden sich in der Christologie weitere, weniger verbreitete Ansätze, wie z. B. die der Befreiungstheologie (Ulrich Kühn: Christologie, Göttingen 2003, 71–81) oder der nicht-christlichen, jüdischen, islamischen und buddhistischen Forschung (U. Kühn: Christologie, 17–29). Im Rahmen dieses Aufsatzes beschränke ich mich auf die gängigsten Ansätze. 2 U. Kühn: Christologie, 149. 3 U. Kühn: Christologie, 14. 4 Z. B. U. Kühn: Christologie, 56. 5 Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, Gütersloh 22000, 27. 6 Z. B. U. Kühn: Christologie, 54.

Jesu Weg zur Vollkommenheit

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verstanden wird als »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch […] in zwei Naturen«.7 Den Gedanken der zwei Naturen arbeiten in der Scholastik Thomas v. Aquin (Summa theologica, 1265–73) und in der Reformation Calvin (Institutio Christianae Religionis, 1541) wegweisend aus. Jesus erscheint hier jeweils als die Verkörperung des Weges zu Gott, dem alle Menschen aus freier Entscheidung zu folgen haben. In jüngerer Zeit schließen sich dieser Sicht z. B. Ebeling (Das Wesen des christlichen Glaubens, 1959) und Pannenberg (Systematische Theologie, 1991) an, indem sie Jesus als einen exemplarisch Gläubigen verstehen, der sich vollständig der Herrschaft Gottes unterordnet. Trotz der grundlegenden Unterschiede beider Ansätze und der z. T. erheblichen Differenzen innerhalb dieser beruhen sie alle auf dem Bekenntnis zum Evangelium und zum christlichen Glauben. Die Wahrheit des christlichen Dogmas selbst bleibt unangetastet. An der Dogmatik setzt die Kritik vor allem aus der Richtung der historischen Christologie an. Erstens enge sie die Perspektive so ein, dass die historische Person Jesu kaum oder gar nicht zur Geltung komme. Ohne die historische Person wäre der christliche Glaube weder möglich noch verstehbar und jede Christologie bliebe spekulativ.8 Zweitens bliebe die Bedeutung Jesu und seiner Botschaft gegenüber dogmenskeptischen Adressaten unter Bedingungen der Aufklärung nur schwer vermittelbar.9 Dies muss, so lässt sich daraus schließen, wiederholt zu Krisen der theologischen Christologie führen und die Suche nach alternativen Ansätzen provozieren.

b.

Historische Christologie

Eine prominente Alternative stellt die erwähnte historische Jesusforschung dar. Sie versucht, vor allem die historische Person Jesu, ihre sozialen Kontexte und literarischen Wirkungen zu ermitteln. Ihre Leitfrage lässt sich formulieren als: ›Wer war der Mensch Jesus?‹. Bei dieser Frage kommt der Unterscheidung zwischen Jesus als einem jüdischen Prediger und Christus als einem Gegenstand der apostolischen Erzählungen eine zentrale Bedeutung zu. Zur Beantwortung der Frage erschließt die historische Jesusforschung verschiedene, über das Neue Testament hinausgehende Quellen, z. B. die Qumran-Rollen, die Rückschlüsse auf sein Leben und Wirken erlauben sollen. Die historische Jesusforschung hat auf diesem Weg nicht nur maßgeblich zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode beigetragen, ohne die Christologie heute kaum noch denkbar ist. Auch öffnet sie die Christologie für die Methoden verschiedenster empirischer Wis7 Vgl. U. Kühn: Christologie, 158. 8 Z. B. Angelika Strotmann: Der historische Jesus. Eine Einführung, Paderborn 22015, 15f. 9 A. Strotmann: Der historische Jesus, 15f.

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Raul Heimann

senschaften, z. B. Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften und Archäologie.10 Die Jesusforschung lässt sich mit Wright11 in drei Phasen unterteilen, in denen sich die Quellenbasis und die Methoden sukzessive erweitern. Die erste Phase (›Old Quest‹) wird im Zuge der Aufklärung von Reimarus (Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, 1774) und Strauß (Das Leben Jesu, 1835) eingeleitet und mündet im 19. Jahrhundert in die sogenannte ›Leben-Jesu-Forschung‹ u. a. die von Holtzmann (Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, 1863). Sie ist von der Annahme geprägt, die Evangelien würden den historischen Jesus dort darstellen, wo sie weder der Vernunft noch den Naturgesetzen widersprächen. Jesus erscheint hier oft als ein jüdischer Prophet und Weisheitslehrer, der mit einem inneren Reich Gottes eine moralische Erneuerung des Menschen verkündet.12 Die zweite Phase (›New Quest‹) leitet Schweitzer (Von Reimarus zu Wrede, 1906) mit seiner prominenten Kritik an der Leben-Jesu-Forschung ein: die entworfenen Jesusbilder seien keine historisch adäquaten Berichte, sondern in erster Linie Ausdruck der individuellen moralischen Weltanschauungen der jeweiligen Autoren. Dies zeige sich vor allem in der systematischen Vernachlässigung des eschatologischen Momentes von Jesu Botschaft, das ihn aus seiner Zeit heraushebe. Käsemann (Das Problem des Historischen Jesus, 1953) entwickelt aus dieser Idee das methodische Differenzkriterium, nach dem nur diejenigen Jesus-Berichte als historische Darstellungen zu werten sind, die weder dem Judentum noch dem frühen Christentum zuzurechnen sind. Konsequenterweise erscheint hier Jesus als ein aus seiner Zeit gefallener, genialer Endzeitprediger.13 Die dritte, gegenwärtige Phase der historischen Jesusforschung (›Third Quest‹) lehnt diese Isolierung Jesu ab. Sie versucht, den historischen Jesus wieder stärker in den gesellschaftlichen, historischen, ökonomischen, politischen und religiösen Kontext einzubetten und vor dorther zu verstehen. Das Differenzkriterium wird durch das Ähnlichkeitskriterium ersetzt, welches gerade dasjenige an Jesus als historisch annimmt, was er mit seiner Zeit teilt. Jesus erscheint hier als Prophet in jüdischer Tradition oder z. B. bei Crossan (Der historische Jesus, 1995) als jüdischer Weisheitslehrer.14 Bei allen Unterschieden zwischen den drei Phasen zieht sich in der historischen Jesusforschung die Annahme durch, dass Jesus ein mit den Mitteln der empirischen Wissenschaften erfassbarer Mensch sei. Die tiefergehende theologische Dimension der Göttlichkeit Jesu spielt in dieser Perspektive keine Rolle. 10 11 12 13 14

A. Strotmann: Der historische Jesus, 32. Stephen Neill/Tom Wright: The Interpretation of the New Testament, Oxford 1988, 379. U. Kühn: Christologie, 236f. A. Strotmann: Der historische Jesus, 30. A. Strotmann: Der historische Jesus, 30.

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Kritik an dieser Herangehensweise äußert nicht nur die Theologie, die im Absehen von der Göttlichkeit Jesu zugleich den zentralen Gehalt des christlichen Glaubens verloren gehen sieht. Außerdem verzichte der historische Ansatz keineswegs auf Voraussetzungen, sondern ersetze die theologischen Dogmen durch empiristische, historische oder literaturtheoretische Annahmen, ohne jedoch ihre gedankliche Tiefe zu wahren.15 Auch innerhalb der historischen Jesusforschung wird bemerkt, dass die wechselnden Hypothesen zu einer gewissen Beliebigkeit in der Auslegung der Quellen führen.16 Daraus lässt sich schließen, dass die historische Jesusforschung zwar den Zugang zu neuen Quellen ermöglicht, jedoch keinen übergeordneten Maßstab ihrer Bewertung enthält. Kühn fasst dieses Problem folgendermaßen zusammen: »Entscheidendes von dem, was sachlich über Jesus von Nazareth auszusagen ist, entzieht sich grundsätzlich der rein historischen Fragestellung, weil es dabei um eine Tiefendimension geht, die nur dem Wagnis von Deutungen zugänglich ist.«17 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob sich ein Ansatz formulieren lässt, der sowohl auf eine dogmatische Einengung der Perspektive auf Jesus verzichtet als auch interpretative Aussagen zur Bedeutung von Jesus zulässt. Ein solcher Ansatz beansprucht die philosophische Christologie zu sein. Sie versucht, die Person Jesu und das Glaubensbekenntnis allein mit den Mitteln der Vernunft zu verstehen. Wenngleich diese Versuche das Christentum seit seinen Anfängen begleiten, ist der Begriff der »philosophischen Christologie« erst 1961 von Gouhier eingeführt worden.18 Als einer der wenigen erinnert Tilliette in seiner Monographie Philosophische Christologie (1998) an die Versuche verschiedenster Philosophen, Jesus mit den Mitteln ihrer jeweiligen Philosophie zu verstehen. Dabei fällt auf, dass die Gestalt Jesu in der Geschichte der Philosophie ein wiederkehrendes Thema ist, jedoch nur selten mit umfassenden Darstellungen bedacht wird.19 Dies ist vermutlich auch der Grund, warum die philosophische Christologie als eigenständige Disziplin bislang weitgehend unerforscht ist.20 Der folgende Überblick über die wichtigsten Positionen innerhalb der philosophischen Christologie kann daher nur vorläufigen und skizzenhaften Charakter haben.

15 U. Kühn: Christologie, 51. 16 Beispielhaft für verschiedene Versuche, Jesus für das jeweils eigene Weltbild zu instrumentalisieren: Roman Heiligenthal: Der verfälschte Jesus, Darmstadt 1997. 17 U. Kühn: Christologie, 52. 18 Xavier Tilliette: Philosophische Christologie, Freiburg 1998, 26. 19 U. Kühn: Christologie, 31. 20 X. Tilliette: Philosophische Christologie, 27.

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Philosophische Christologie

Wie bereits angedeutet, ist das verbindende Motiv der philosophischen Christologie der Versuch, Jesus und seine Botschaft ohne Rückgriff auf christologische Dogmen allein mit den Mitteln der Vernunft zu erfassen. Die Reflexion der Person Jesu steht dabei zumeist im Kontext der epistemologisch-ontologischen Frage nach dem Verhältnis von Relativem und Absolutem, der ethischen Frage nach der personalen Vollkommenheit sowie der anthropologischen Frage nach den Grenzen des Menschseins. Ausgehend von den unterschiedlichen begrifflichen und methodischen Voraussetzungen lassen sich drei grundlegende Ansätze innerhalb der philosophischen Christologie identifizieren: der theologische, systematische und existentielle Ansatz. Der theologisch-philosophische Ansatz verfolgt vornehmlich die Frage, wie sich das christliche Verständnis von Jesus mit philosophischen Mitteln verstehen und begründen lässt. Von der Philosophie entwickelte ontologische, epistemische, anthropologische und ethische Kategorien und Argumente sollen nicht durch biblische oder lehramtliche Autorität begründet werden, sondern umgekehrt sollen jene diese begründen.21 Als einer der herausragenden Vertreter der theologischen Richtung gilt der bereits erwähnte Thomas v. Aquin (Summa theologica, 1265–73). Er baut die Christologie systematisch in eine theologisch-philosophische Gesamtsicht von Gott, Welt und Mensch ein und verbindet so biblische Einsichten mit philosophischen.22 Sein Verständnis Jesu als ein allgemein verbindlicher Weg des Menschen zu Gott entwickeln später Nikolaus v. Cusanus (De docta ignorantia, 1440) und in neuerer Zeit Rahner (Christologie – systematisch und exegetisch, 1972) jeweils zu transzendentalen Christologien weiter. Dazu fragen sie nach den Bedingungen, unter denen ein Mensch Gott werden oder sein kann.23 Jesus gilt hier als die Verwirklichung der anthropologischen Grundanlage des vollständigen menschlichen Bezogenseins auf die absolute Größe Gott.24 Noch stärker auf das Menschsein Jesu fokussiert Schleiermachers »bewusstseinstheologischer Ansatz«.25 Dieser findet in Jesus das Urbild des Gottesbewusstseins als ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Die Gemeinsamkeit der genannten Ansätze besteht darin, dass sie zwar ihre Begriffe und Argumente der Philosophie entnehmen. Das Beweisziel, die Wahrheit des christlichen Dogmas, bleibt jedoch vorausgesetzt. Damit teilt dieser Ansatz eine wesentliche Prämisse mit der eingangs dargestellten theolo21 22 23 24 25

U. Kühn: Christologie, 30. U. Kühn: Christologie, 182. X. Tilliette: Philosophische Christologie, 69. U. Kühn: Christologie, 67. U. Kühn: Christologie, 224.

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gischen Christologie. Insofern lässt sich der theologisch-philosophische Ansatz als eine theologische Christologie mit philosophischen Mitteln verstehen. Deren Vertreter werden daher oft der theologischen Christologie zugeordnet.26 Allerdings ist nicht nur fraglich, ob dieser Ansatz die bereits an der Theologie geäußerte Grundsatzkritik überzeugend beantworten kann. Auch innerhalb der Theologie wird der philosophische Ansatz kritisch betrachtet: die Betonung des Menschseins Jesu vernachlässige die christologische Bedeutung des Christusglaubens von Kreuzigung und Wiederauferstehung.27 Eine Alternative zu diesem Ansatz besteht darin, nicht nur die Mittel des Verständnisses von Jesus und seiner Botschaft philosophisch zu verstehen, sondern auch die Voraussetzungen dieses Verständnisses. Die Christologie wird hierbei aus einem umfassenden philosophischen System abgeleitet und von diesem her verstanden. Die Leitfrage des systematisch-philosophischen Ansatzes lautet: Wie erscheinen Jesus und seine Botschaft aus der Perspektive des jeweiligen philosophischen Systems? Dieser Ansatz entwickelt sich vor allem in der Zeit der Aufklärung, als sich die Philosophie schrittweise von der lehramtlichen Autorität löst, und erreicht im Deutschen Idealismus seinen Höhepunkt. Zu den ersten herausragenden Vertretern zählen z. B. Rousseau (Emile oder über die Erziehung, 1762), Lessing (Erziehung des Menschengeschlechts, 1780) und Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793). Sie entwickeln Konzepte einer vernünftigen Religion bzw. einer Religion unter den Geltungsbedingungen der Vernunft. Entsprechend prägen deren Vernunftkategorien die Interpretation der Religion im Allgemeinen und die moralisch-praktische Perspektive die Deutung der Person Jesu im Besonderen. Bei Lessing erscheint Jesus als ein moralischer Lehrer auf dem Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts. Kant geht einen Schritt weiter, indem er Jesus nicht nur als Wegweiser, sondern als »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit« fasst.28 Der Kant-Kritiker Hegel (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 1821–1831) will den Gottmenschen Jesus nicht von menschlichen Bewusstseins- oder Moralkategorien her verstehen, sondern vom absoluten Geist her. Das Einzelne sei nur ein Moment des Prozesses des Geistes, der sich in der Geschichte entäußert und in sich zurückkehrt. So sei auch Jesus Christus zu verstehen, in dem der göttliche Geist konkret wird als die unmittelbare Einheit von Mensch und absoluter Wahrheit. Hegels Entwurf provozierte seinerseits wirkmächtige Reaktionen. Einen materialistischen Gegenentwurf zu Hegels idealistischem System formuliert Feuerbach (Das Wesen des Christen26 Vgl. Kühns Kritik am Philosophieverständnis Tilliettes (U. Kühn: Christologie, 31). 27 Vgl. z. B. Kühns Kritik am transzendentalphilosophischen Entwurf Rahners (U. Kühn: Christologie, 67f.). 28 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders.: Werke, Bd. IV, Wiesbaden 72011, 714.

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tums, 1841), der die Religion auf eine Projektion menschlicher Gemütszustände ins Jenseits reduziert. Jesus steht bei ihm für die Erfüllung aller menschlichen Bitten. Eine weitere Alternative zu Hegel entwirft Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819) mit einer Willensmetaphysik, nach der alles Sein durch einen irrationalen, ewigen Willen bestimmt ist. Jesus erscheint hier als die Personifikation der Überwindung des Willens zum Leben. Den genannten Entwürfen des systematisch-philosophischen Ansatzes ist gemeinsam, dass sie Jesus Christus von ihren je eigenen philosophischen Kernbegriffen her verstehen. Sonderfeld weist auf die besondere Stellung Jesu innerhalb des Entwurfes hin: »So sehr die Denker einfühlend verstehen wollen, so sehr stilisieren sie Jesus zum Lehrer und zur personalen Exemplifikation ihrer jeweiligen höchstrangingen philosophischen Begriffe und Werte«.29 Die Wahrheit des jeweiligen philosophischen Systems wird in der Deutung Jesu vorausgesetzt und das theologische Dogma durch ein philosophisches ersetzt. Entsprechend erfährt dieser Ansatz vor allem aus der theologischen Richtung immer wieder Kritik. Die Perspektive auf Jesus werde vereinseitigt, weil nur das an Jesus zur Kenntnis genommen werden könne, was im Rahmen des vorausgesetzten philosophischen Systems relevant sei.30 Auch fällt eine gewisse Beliebigkeit der Jesus-Bilder auf, was letztlich Ausdruck der vorgängigen existentiellen Grundentscheidung für ein bestimmtes philosophisches System ist, die ihrerseits nicht wieder allein aus dem System heraus begründet werden kann. Vor dem Hintergrund der wechselseitigen Einwände der beiden betrachteten Ansätze liegt der Versuch nahe, auf jegliches Dogma zu verzichten. Statt eine theologische oder philosophische Wahrheit vorauszusetzen, kann die existentielle Wirklichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt gemacht werden. Schließlich entscheidet sich jemand auf ihrer Grundlage für oder gegen ein Dogma. Entsprechend verstehen die Vertreter des existenzphilosophischen Ansatzes die grundlegenden philosophischen Kategorien von der Existenz des Menschen her, nicht umgekehrt wie bisher. Die christologischen Fragen konzentrieren sich folglich auf die personale Wirklichkeit Jesu und ihre Wirkung auf den Rezipienten. Einer der ersten herausragenden Vertreter dieses Ansatzes ist Søren Kierkegaard (Einübung in das Christentum, 1850). Dessen Ausgangspunkt ist das existentielle Scheitern des Menschen in seinen Versuchen, positiv zu sich selbst Stellung zu nehmen. Dieses Scheitern könne erst in einer existentiellen Beziehung zu Jesus Christus überwunden werden. Hier zeige er sich als die »Einheit

29 Ulrich Sonderfeld: »Einleitung«, in: ders.: (Hg.): Jesus bei den Philosophen, Münster 2006, 2. 30 Z. B. U. Sonderfeld: Einleitung, 2.

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von Gott und einem einzelnen Menschen«.31 Als solcher sei Jesus ein absolutes Paradox, das sich historischem und spekulativem Verstehen vollständig entziehe. Ein prominenter Gegenentwurf zu Kierkegaards Verzweiflung am Dasein ist Nietzsches radikale Lebensbejahung (Der Antichrist, 1888). Die Hoffnung auf eine bessere, göttliche Daseinsweise, ist nach Nietzsche ein Irrtum. Weil Jesus das Wesen des Lebens nicht verstanden habe, wende er sich gegen dessen Dynamik zugunsten einer ewigen ›Hinterwelt‹. Jesus musste daher notwendig am Leben scheitern. Die späteren Philosophen Jaspers (Die großen Philosophen, 1957) und Sandvoss (Die Wahrheit wird euch freimachen, 2001) versuchten eine Brücke zu schlagen zwischen radikaler Diesseits- und Jenseitsverneinung. Sie betonen die Notwendigkeit des menschlichen Bezugs auf das Ganze des Daseins und die es begründende Transzendenz. Durch die Radikalität seines Gottesglaubens vollbringe Jesus eine einzigartige Wandlung. In seiner Haltung gegenüber Leben, Leiden, Tod erweist er sich als ein »maßgebender Mensch«.32 Das Gemeinsame dieser existenzphilosophischen Entwürfe besteht darin, dass sie nicht von einem bestimmten theologischen, historischen oder philosophischen Dogma ausgehen, sondern, wie es Jaspers selbst beschreibt: »aus eigenem Ergriffensein das Verlässliche, Wahrscheinliche und nur Mögliche zusammenordnen und zum Bild werden lassen. Die Grundhaltung solcher Darstellung darf unsere menschliche Beziehung zum Menschen Jesus sein.«33 Diese Selbstbeschreibung lässt erkennbar werden, dass an die Stelle der Dogmen die Subjektivität des jeweiligen Interpreten tritt. Dadurch rückt die Reflexion der Wirkung der Transzendenzausrichtung auf das Subjekt stark in den Vordergrund gegenüber der Frage nach dem Ziel und Gegenstand der Ausrichtung. Die dadurch drohende Beliebigkeit der Perspektiven zeigt sich an den diametral entgegengesetzten Urteilen über die personale Wirklichkeit Jesu. Blickt man zurück auf die drei vorgestellten Ansätze der philosophischen Christologie, dann lässt sich feststellen, dass sie bei allen Unterschieden die Gemeinsamkeit teilen, eine Außenperspektive auf Jesus einzunehmen. Auch wenn der Anspruch zumeist ein anderer ist, gehen sie bewusst oder unbewusst von theologischen, systematischen oder subjektiven Prämissen aus und tragen deren Inhalte an Jesus und die Quellentexte heran. Dadurch gerät Jesus unter der Hand zur Bestätigung der je eigenen Vorentscheidungen und Wertvorstellungen. Die Vielheit der so gewonnenen Perspektiven auf Jesus droht den Eindruck zu erwecken, jeder könne alles mit gleichem Recht in Jesus hineindeuten.34 31 Søren Kierkegaard: Einübung ins Christentum, übers. v. Hermann Gottsched/Christoph Schrempff, Jena 1933, 23. 32 Karl Jaspers: Die großen Philosophen, München 82007, 214. 33 K. Jaspers: Die großen Philosophen, 186. 34 Tilliette sieht umgekehrt die Ursache für die Pluralität der Perspektiven in der Vielgestaltigkeit der Person Jesu: »›Jesus hat so viele Gesichter‹, dass jeder ihn für sich in Anspruch

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3.

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Analytisch-hermeneutischer Ansatz in der philosophischen Christologie

Im Folgenden soll ein philosophischer Ansatz vorgestellt werden, der möglicherweise diese Schwierigkeiten zu vermeiden hilft. Einerseits will er den existenzphilosophischen Versuch wiederaufnehmen, auf inhaltliche Vorentscheidungen zu verzichten. Andererseits beabsichtigt er, das Problem des Subjektivismus zu umgehen, indem er ein nachprüfbares Kriterium zum Verständnis von Jesus formuliert. Der Ansatz beruht auf der von der Philosophin Barbara Zehnpfennig entwickelten »analytisch-hermeneutischen Methode«.35 Diese Methode der Textauslegung orientiert sich anders als die historisch-kritische Methode nicht an historischen Tatsachen, sondern an den gedanklichen Zusammenhängen eines Textes. Für die Anwendung dieser Methode spricht prima facie, dass der Gehalt der Botschaft Jesu, sich nur gedanklich ermitteln lässt. Die Methode besteht aus zwei Momenten.36 Das analytische Moment ermittelt die formale Struktur eines Textes. Dazu gehören die Identifikation der Ausgangsproblematik, der Hauptthesen, ihrer Begründungen und eventueller Beispiele. Daraufhin wird nach dem logischen Zusammenhang dieser Elemente gefragt: Welche Elemente folgen notwendig auseinander oder bilden sie eigenständige Einheiten? Das hermeneutische Moment der Methode bezieht sich auf die inhaltliche Seite des Textes. Zehnpfennig unterscheidet hier noch einmal den subjektiven Sinn vom objektiven Sinn. Der subjektive Sinn meint die Bedeutung eines Begriffs oder eines Beispiels, die der Autor selbst ihm gibt. Dieser wird durch eine Definition oder durch die logischen Zusammenhänge für den Interpreten erkennbar. Der objektive Sinn dagegen bezeichnet das in dem Gesagten notwendig Implizierte, die sachlichen Voraussetzungen und die logischen Folgen des Textes. Dieser Schritt ermöglicht ein Urteil über die sachliche Bedeutung und Konsistenz des Gesagten, ohne einen externen Maßstab anzulegen. Nicht der Interpret oder ein Dogma sind Maßstab der Deutung, sondern (inhaltlich) der Text und (formal) die Logik.37 Die analytisch-hermeneutische Methode ist vornehmlich zur Interpretation

nehmen und nach seiner Weise gestalten möchte […]!« (X. Tilliette: Philosophische Christologie, 138). Dabei übergeht Tilliette, dass die Gesichter an Jesus herangetragen sind, d. h. die Vielgestaltigkeit Folge, nicht Ursache der Perspektivenvielheit ist. 35 Barbara Zehnpfennig: Adolf Hitler. Mein Kampf, München 2011, 11. 36 Die Darstellung folgt im Wesentlichen der von Zehnpfennig. 37 Mit ›Logik‹ sind hier die Regeln des folgerichtigen Schließens gemeint. Dazu gehören z. B. der Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs oder der Satz des zureichenden Grundes. Diese Regeln sind die Voraussetzung jedes gehaltvollen Redens und dürfen daher als Voraussetzungen eines jeden Textes verstanden werden, der eine inhaltliche Botschaft zu vermitteln beansprucht.

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philosophischer Texte entwickelt, da diese durch einen Wahrheitsanspruch und durch Argumentationsstrukturen charakterisiert sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass andere Texte für diese Methode unzugänglich wären.38 Der immanente Wahrheitsanspruch der christlichen Quellentexte und deren Versuch, diesen Anspruch zu begründen, erlaubt es, die analytisch-hermeneutische Methode auch auf diese anzuwenden. Der hier vorgeschlagene Ansatz besteht also darin, diese Methode für die Deutung der christologischen Quellentexte fruchtbar zu machen und eine philosophische Christologie auf der Grundlage dieser Deutung zu entwickeln. Der Ausgangspunkt ist zunächst die Frage, welche Sachverhalte in den Quellentexten die Figur Jesus formuliert und wie er sie begründet. Es geht also weniger um die spezifisch historischen oder theologischen Aspekte seiner Botschaft, sondern mehr um deren gedanklichen Zusammenhang. Als Quellentext erscheint für diese Absicht besonders die ›Bergpredigt‹ im Matthäus-Evangelium geeignet (Mt 5–7). Sie gilt zum einen formal als die längste und wirkmächtigste zusammenhängende Rede Jesu. Die Aufschlüsselung ihres gedanklichen Gehaltes verspricht einen guten Zugang zu dem zugrunde liegenden Denken. Auch inhaltlich gilt die Bergpredigt als ein programmatischer Text. Tilliette betont ihre universelle Bedeutung: »Die Bergpredigt erlässt die Charta des Gottesreiches, ein fundamentaler Text nicht nur für die Aufklärung und den Idealismus, sondern für alle, die von der christlichen Revolution her den Weg aufwärts zur Erhabenheit und vielleicht Göttlichkeit des Inspirierten gehen wollen«.39 Da die Bergpredigt nicht von Jesus selbst, sondern von dem frühchristlichen Autoren Matthäus verfasst wurde, stellt sich notwendig die Frage nach ihrer Historizität: Hat Jesus selbst die Predigt gehalten oder ist sie eine Erfindung von Matthäus? Die historisch-kritische Forschung hat gezeigt, dass die Bergpredigt im Wesentlichen eine wohlkomponierte Zusammenstellung überlieferter Sprüche Jesu aus verschiedenen schriftlichen und mündlichen Quellen ist.40 Ob eine historische Person die Predigt tatsächlich einmal so gehalten hat oder zumindest hätte halten können, ist eine historische Frage und lässt sich auch mit der analytisch-hermeneutischen Methode nicht beantworten. Was die Methode erfassen kann, ist das sich im überlieferten Text entfaltende Denken, d. h. dasjenige Denken, das von Matthäus dem Protagonisten seines Evangeliums zugeschrie38 Zehnpfennig interpretiert nach dieser Methode fruchtbar das politische Propagandawerk Mein Kampf. 39 X. Tilliette: Philosophische Christologie, 159. Stärker die theologische Bedeutung betont z. B. Luz: »Die Bergpredigt setzt also das Evangelium des Reichs nicht voraus, sondern sie ist es.« (Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), Neukirchen-Vluyn 31992, S. 183). 40 Autorenschaft von Matthäus betont z. B. Luz: »Die Bergpredigt ist eine vom Evangelisten Matthäus gestaltete Komposition. Wir setzen voraus, dass die Logienquelle der Bergpredigt zugrunde liegt.« (U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 187).

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ben wird. Wenn also nach dem Denken Jesu gefragt ist, dann zunächst nicht nach dem Denken einer historisch schwer ermittelbaren Figur, sondern nach dem gedanklichen Gehalt der literarischen Figur. Die Frage, inwieweit beide Figuren letztlich koinzidieren, muss und darf in dieser Perspektive offen bleiben. Allerdings ließe sich ausgehend von der philosophischen Analyse der literarischen Figur die Frage nach der zugrundeliegenden historischen Person nachdrücklicher stellen und möglicherweise ihre epochale Wirkung plausibler erklären.41 Im folgenden Kapitel möchte ich die vorgeschlagene Methode veranschaulichen und die aus ihr folgenden christologischen Aussagen nachvollziehbar machen. Da eine detaillierte Analyse der gesamten Bergpredigt den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, werde ich mich nach dem Prinzip ›Pars pro toto‹ auf den Abschnitt der ›Antithesen‹ (Mt 5,17–48) konzentrieren.

4.

Der Denkweg Jesu in den Antithesen

a.

Thema der Antithesen

Innerhalb der Bergpredigt folgen die Antithesen auf die einleitenden Seligpreisungen (Mt 5,3–12) und das Gleichnis vom Salz und Licht der Welt (Mt 5,13–16). Die vorbereitenden Logien (Mt 5,17–20) benennen das Thema der Antithesen.42 Es geht Jesus um sein Verhältnis zum jüdischen Gesetz und zur Gerechtigkeit.43 Er betont zunächst, dass er das überlieferte jüdische Gesetz nicht infrage stellt: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Mt 5,17). Die Erfüllung des Gesetzes wird im Folgenden als Gerechtigkeit zusammengefasst. Worin das Gesetz und dessen Erfüllung selbst bestehen, bleibt an dieser Stelle noch offen. Allerdings ist hier bereits deutlich, dass Jesus mit der Gerechtigkeit weder eine Eigenschaft von »allgemeinen Gesetzesvorschriften«44 meint, noch eine »Tugend sozialer Institutionen«.45 Vielmehr bezeichnet Gerechtigkeit ein bestimmtes Verhältnis des einzelnen Menschen zum Gesetz. Dass dieses Verhältnis auch unerfüllt, d. h. verfehlt sein kann, macht Jesus deutlich, indem er zwei Arten von Gerechtigkeit unterscheidet: »Wenn eure Gerechtigkeit 41 Einige mögliche Folgerungen für die Frage nach dem historischen Jesus werden im dritten Teil des Aufsatzes gezogen. 42 Diese formale Einteilung folgt der von Luz (Das Evangelium nach Matthäus, 197ff.). 43 Vgl. U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 230. 44 So z. B. Aristoteles: »Alles Gesetzliche ist im weitesten Sinn etwas Gerechtes.« (Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. v. Franz Dirlmeier, Ditzingen 1999, 1129b). 45 So z. B. Rawls: »Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.« (John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000, 19).

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nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen« (Mt 5,20). Die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten wird als eine Scheingerechtigkeit markiert, die im Gegensatz zur Gerechtigkeit Jesu ihr angestrebtes Ziel, das Himmelreich, nicht erreicht. Worin diese beiden Arten der Gerechtigkeit bestehen, wird an dieser Stelle nicht geklärt. Aber diese Frage wird aufgeworfen und lässt sich als die Leitfrage der folgenden Antithesen verstehen. Die Unterscheidung bestimmt entsprechend die dialektische Struktur der Antithesen: zunächst gibt Jesus ein bestimmtes Gebot und dessen Interpretation durch die Schriftgelehrten wieder, um anschließend ein neues Gebot dagegenzusetzen. Folgt man dem inhaltlichen Gedankengang, lassen sich die Antithesen als eine dialektische Entfaltung der beiden Arten von Gerechtigkeit verstehen, die deren Verständnis jeweils stufenweise vertiefen. Dies soll im Folgenden gezeigt werden.

b.

Antithesen

Die ersten vier Antithesen geben zunächst Gebote wieder, die ein bestimmtes Verhalten vorschreiben oder verbieten. »Du sollst nicht töten« (Mt 5,21); »Du sollst nicht ehebrechen« (Mt 5,27); »Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben« (Mt 5,31); »Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten« (Mt 5,33). Die genannten Gebote stehen beispielhaft für Gesetze, die als allgemeine Handlungsnormen gelten. Damit ist ein verbreitetes Gerechtigkeitsverständnis dargestellt, das die Gerechtigkeit mit Gesetzesgehorsam gleichsetzt.46 Wer sich gesetzesgemäß verhält, ist gerecht.47 Das Problem dieser Auffassung besteht darin, dass eine blinde Regelbefolgung ohne die Beachtung der spezifischen Situation leicht das Gegenteil der Absicht des Gesetzes bewirken kann, z. B. wenn das Festhalten am Tötungsverbot Unschuldigen Schaden zufügt. Selbst, wenn die Regelbefolgung im Einzelfall einen Nutzen bewirkt, bleibt dieser Erfolg vom Zufall abhängig und nicht das bewusste Werk des Handelnden. Damit die Gesetzesbefolgung tatsächlich gerecht genannt werden kann, bedarf es einer situationsspezifischen Interpretation nach einem Maßstab, der nicht wiederum das Gesetz ist. Von diesen Überlegungen her ist nachvollziehbar, warum Jesus den ge46 Die Frage, inwiefern sich die jüdische Tradition auf dieses nominalistische Gerechtigkeitsverständnis reduzieren lässt oder es weitergehende Tendenzen gibt (vgl. U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 254f), ist gegenüber der Sachproblematik zweitrangig, auf die der Text hier anspricht. 47 Dass dieses Verständnis durchaus verbreitet ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass schon Aristoteles die Gerechtigkeit über das Gesetz definiert: »Das Gerechte ist folglich die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit« (Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1129a).

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nannten Verhaltensvorschriften keine alternativen Verhaltensvorschriften entgegen hält, sondern Gebote, die sich auf innere Motive beziehen: Zorn (Mt 5,22), sexuelles Begehren (Mt 5,28), Hochmut (Mt 5,33). Mit diesen Motiven spricht Jesus offenbar verschiedene Motive für das ungerechte Brechen von Gesetzen an: Zorn als Motiv für Mord, Begehren als Motiv für Ehebruch, Hochmut als Motiv für falsches Schwören. Auf dieser Ebene wird erkennbar, dass auch der Gesetzesgehorsam ungerecht sein kann, wenn er aus diesen Motiven heraus geschieht.48 Die entgegenstehenden subjektiven Dispositionen, die den gerechten Handlungen zugrunde liegen, benennt Jesus ebenfalls: Vergebung (Mt 5,24), Beherrschung der Triebe (Mt 5,29f.), Demut vor Gott (Mt, 5,36). Dadurch wird nochmals deutlich: nicht die objektiven Gesetze allein garantieren die Gerechtigkeit des Einzelnen, sondern das subjektive Motiv ihres Einhaltens. Umgekehrt lässt sich vermuten, dass die von Jesus geforderten Haltungen die richtig verstandenen Intentionen des Gesetzes sind, denn wer diese Haltungen in sich verwirklicht, erfüllt das Gesetz. Der Überschritt zur Motivebene löst das Problem der Regelgerechtigkeit, verlangt aber eine weitergehende Begründung für die unterschiedliche Bewertung der Motive. Diese erfolgt durch die Offenlegung des allgemeinen Prinzips des falschen und des richtigen Motivs. Die letzten beiden Antithesen sprechen das Prinzip hinter dem nominalistischen Gerechtigkeitsverständnis an: »Auge um Auge« (Mt 5,38) und »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen« (Mt 5,43).49 Zur Sprache kommt hier das Prinzip der Reziprozität, d. h. den Mitmenschen genauso zu behandeln, wie er einen selbst behandelt. Das Gute, z. B. der Tötungsverzicht, kommt nur dem Nächsten zu, weil es von ihm ebenfalls erwartet wird. Dieses Gerechtigkeitsverständnis ist in der Philosophie weit verbreitet in Form der Gesellschaftsvertragstheorien.50 Die Leistung dieses Verständnisses besteht darin, dass es aufgrund seines höheren Abstraktionsgrades einen Maßstab zur Bewertung konkreter Gesetzesnormen darstellt. Problematisch am Reziprozitätsprinzip ist, dass es lediglich eine partikulare Binnenmoral begründet, zugleich aber als Prinzip der Gerechtigkeit universellen Wert beansprucht. Dadurch gerät diese Auffassung in die Aporie, im Fall einer Feindschaft es für gerecht zu erklären, einem Menschen Böses zu tun. Die Reziprozität ist das Prinzip einer partikularen Gerechtigkeit, m. a. W. einer Scheingerechtigkeit. Als 48 Das hat auch Aristoteles erkannt, indem er die Billigkeit als situationsspezifische Korrektur notwendig allgemeiner Gesetze einführt, ohne jedoch daraus den Schluss zu ziehen, dass Gerechtigkeit etwas anderes sein muss als Gesetzesgehorsam (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik,1138a). 49 Auch sprachlich lässt sich die Sonderstellung dieser Antithesen gegenüber den vorangegangenen zeigen. Vgl. U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 305f. 50 Als Beispiel seien nur die beiden Klassiker der philosophischen Vertragstheorien Hobbes (Leviathan, 1651) und Rawls (A Theory of Justice, 1971) genannt.

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universeller Wert kann die Gerechtigkeit denknotwendig nur durch ein Prinzip erfasst werden, das uneingeschränkt gut ist.51 Dieses Prinzip benennt der Text mit dem Liebesgebot »Widerstrebt nicht dem Übel« (Mt 5,39) und »Liebet eure Feinde« (Mt 5,44). Die Ausweitung der Nächstenliebe auf die Feinde hebt die Reziprozität auf, denn die Liebe gilt jedem Menschen, unabhängig von seiner Einstellung zu dem Liebenden. Das Liebesprinzip hebt die Unterscheidung der Menschen in Freund und Feind, Gut und Böse auf. Es gilt universell und lässt sich daher als ein Prinzip der Gerechtigkeit verstehen, das die Partikularität und Ambivalenz der Reziprozität überwindet. Ob dieses Prinzip einen einzelnen Menschen oder ein Rechtssystem überfordern würde, ist für diese Überlegung nebensächlich. In ihr geht es allein um die Denknotwendigkeit, dass ein Prinzip nicht sein Gegensatz bewirken kann. Auf diese Weise muss schließlich auch Gott gedacht werden: als schlechthin Gutes tut Gott niemandem Böses und lässt alle an seinem Guten teilhaben. Der Text formuliert den Gedanken plastischer : »denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45). Die Begründung des Liebesprinzips durch die universelle Güte Gottes verweist ihrerseits auf Gott als tragenden Grund der Gerechtigkeit.52 Da auch für das Reziprozitätsprinzip ein tragender Grund angenommen wird, ist an dieser Stelle die Klärung des richtigen Verständnisses des letzten Grundes notwendig. In den abschließenden Logien der Antithesen deutet der Text zwei gegensätzliche Gottesverhältnisse an, ohne sie an dieser Stelle weiter auszuführen. Zunächst spricht der Text einen bestimmten Anspruch der Adressaten an: »Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?« (Mt 5,47). Die Entgegensetzung zu den Heiden, die nicht an den Gott Israels glauben, bringt den Anspruch der Adressaten zur Sprache, in einem besonderen Verhältnis zu Gott und damit zum Grund der Gerechtigkeit zu stehen. Dieser Anspruch erscheint als selbstverständlich, denn die Unterteilung der Menschen in Freund und Feind sowie jedes Urteil über Gut und Böse setzt die Gewissheit voraus zu wissen, was gut und böse ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist das Reziprozitätsprinzip sinnvoll anwendbar.53 Der

51 Ausführlich findet sich diese Kritik am Reziprozitätsprinzip in: Raul Heimann: Die Frage nach Gerechtigkeit. Platons Politeia I und die Gerechtigkeitstheorien von Aristoteles, Hobbes und Nietzsche, Berlin 2015, 88f. und 195ff. 52 Luz betont ebenfalls die nicht nur ethische Funktion der Feindesliebe: »Taten der Feindesliebe sind von Jesus her Ausdruck des bedingungslosen Ja Gottes zum Menschen um seiner selbst willen.« (U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 318). 53 Dass dieses Wissen vom Guten eine kaum hinterfragte Selbstverständlichkeit zu sein scheint, zeigt schon ein kurzer Blick in die Gerechtigkeitstheorien der beispielhaft genannten Philosophen, die jeweils davon ausgehen, jeder würde selbstverständlich wissen, was ihm nutzt bzw. gut für ihn ist, z. B. Hobbes: »was immer das Objekt von jemandes Trieb oder Verlangen

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letzte Grund der Gerechtigkeit, der göttliche Maßstab von Gut und Böse, ist damit in die Hände der Menschen gelegt. Das Gottesverständnis bleibt abhängig von den für wahr gehaltenen Wertvorstellungen. Das Problem dieser Gewissheit ist, dass offensichtlich verschiedene Menschen verschiedenes für gut halten, während sie gleichzeitig ihre Vorstellungen für allgemeingültig wahr halten. Das bedeutet, der Glaube, in einem ausgezeichneten Verhältnis zum Guten zu stehen, ist selbst begründungsbedürftig und kann als solches noch kein tragender Grund von Wertvorstellungen sein. Worin bestünde ein tragender Grund der Gerechtigkeit und wie wäre er zu erkennen? Dieser Grund scheint indirekt im letzten Satz des Kapitels angesprochen: »Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5,48). Die Forderung nach Vollkommenheit steht dem Anspruch entgegen, schon gut zu sein und den Maßstab von Gut und Böse in den Händen zu halten. Sie setzt die Einsicht voraus, nicht schon vollkommen gut zu sein. Denn wer glaubt, im Grunde schon vollkommen zu sein, wird sich nicht ändern wollen. Die Forderung nach Vollkommenheit bezieht sich demnach weder auf eine bestimmte Praxis noch ein bestimmtes Wissen, sondern auf den personalen Grund, der beidem vorausgeht. Allein die Person kann ihre Praxis verantworten und ihr Wissen begründen. Die tatsächliche Fähigkeit dazu lässt sich als die geforderte Vollkommenheit verstehen. Dazu muss die Person etwas werden, was sie noch nicht ist, sie muss ihr faktisch unbegründetes, personales Sein transzendieren. An dieser Stelle ist schon erkennbar, dass der gesuchte Grund der Gerechtigkeit keine externe Wirklichkeit sein kann, sondern die Wirklichkeit des Menschen selbst sein muss. Es bleibt die Frage: Worin besteht die geforderte Vollkommenheit? Die Rückführung der gewöhnlichen Gerechtigkeitsvorstellungen auf ihren letzten Grund zeigt, dass die gesamte personale Wirklichkeit eines Menschen zunächst von seinem unbegründeten Wissens- und Seinsanspruch als deren letzter Grund getragen ist. Insofern sich die Forderung nach Vollkommenheit auf diesen Grund bezieht, lässt sich folgern, dass vor allem der unbegründete Anspruch überwunden werden muss. Diese Überwindung würde zugleich eine fundamentale Änderung der Grundlagen der je eigenen Wirklichkeit bedeuten. Insofern lässt sich die Einsicht in die Unbegründetheit des je eigenen Anspruchs und das Streben nach Vollkommenheit selbst schon als Transformation der bisherigen personalen Wirklichkeit verstehen. Die Suche nach eigener Vollkommenheit, nicht nach eigenem Maß, sondern nach dem Maß des vollkommen Guten, scheint somit nicht nur der Weg zur Vollkommenheit zu sein, sondern

ist, das nennt er für sein Teil gut« (Thomas Hobbes: Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, hg. v. Hermann Klenner, Hamburg 1996, 42).

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offenbar selbst schon die dem Menschen mögliche Vollkommenheit.54 Angesicht des tatsächlichen Begründungsmangels, wie er von Jesus aufgezeigt wird, erscheint das Vollkommenheitsstreben als einzig haltbarer Grund des Lebens und der Gerechtigkeit. Wie lässt sich die potentielle Identifizierung von geforderter Vollkommenheit und dem Vollkommenheitsstreben verstehen?

c.

Der Weg der Vollkommenheit

Versteht man den analysierten Textabschnitt der Antithesen als die Entfaltung eines Denkweges vom Alltagsverständnis der Gerechtigkeit bis zum letzten Grund, dann lässt sich vielleicht genau hierin der Weg Jesu zur Vollkommenheit erkennen. Denn dieser Weg vollzieht sich in Form einer dialektischen Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Gerechtigkeitsvorstellungen auf drei Stufen. Das erste, praktische Verständnis von Gerechtigkeit als Gesetzesgehorsam führt Jesus auf die subjektiven Motive mit ihrem allgemeinen Prinzip der Reziprozität zurück, deren letzte Voraussetzung wiederum ein unbegründeter Wissensanspruch ist. Auf jeder Ebene misst Jesus die Vorstellungen nicht an einem externen Maßstab, sondern am implizit vorausgesetzten Maßstab des vollkommen Guten bzw. Gottes. Dadurch zeigt Jesus, dass die Vorstellungen der Gerechtigkeit ihrem eigenen Anspruch nicht genügen. Gleichzeitig bringt Jesus in der Entgegensetzung den Maßstab selbst zur Geltung und lässt ein alternatives Verständnis von Gerechtigkeit zutage treten: von der Umwendung des Gesetzesgehorsams zu den gerechten Motiven und deren zugrunde liegendem Prinzip der universellen Liebe bis schließlich zum letzten tragenden Grund des je eigenen Vollkommenheitsstrebens. Da dieses stufenweise Durchdenken der Vorstellungen jede Ebene der Existenz neu begründet und ihre inneren Widersprüche überwindet, lässt es sich selbst als die Verwirklichung der geforderten Vollkommenheit verstehen. Der in den Antithesen vollzogene dialektische Weg wäre demnach ein möglicher Weg zur Selbstvervollkommnung. Dieser Weg lässt sich weder mit einer bestimmten Praxis, noch mit einem bestimmten Wissen identifizieren, sondern vielmehr als die stufenweise Etablierung eines neuen personalen Verhältnisses zur Praxis und zum Wissen. Um diesen Weg erfolgreich zu beschreiten, bedarf es einer Umkehr von der existentiellen Grundhaltung, selbst schon den Maßstab der Vollkommenheit zu haben. Voraussetzung dazu ist die Einsicht in die Grundlosigkeit der je eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen. 54 Luz deutet die Vollkommenheit als die Güte Gottes: »Konkret hat Matthäus wohl vor allem an die Feindesliebe gedacht, bei der Vollkommenheit Gottes wohl von V45 her an die Güte Gottes« (U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 313). Der Begriff der Güte bleibt allerdings ungeklärt.

300

Raul Heimann

Erst wenn diese Einsicht erreicht ist, kann der geforderte Weg zur Vollkommenheit tatsächlich gegangen werden. Insofern lassen sich die Antithesen selbst als ein Akt der unbedingten Liebe verstehen: sie zeigen allen Menschen einen Weg zur Erfüllung ihres Menschseins.

d.

Überblick zur Bergpredigt

Von der vorgeschlagenen Deutung der Antithesen her lässt sich die gesamte Bergpredigt aufschlüsseln. Das sei hier in aller Kürze angedeutet. Die einleitenden Seligpreisungen (Mt 5,3–12) können als Benennung der existentiellen Bedingungen und Folgen des Weges zur Vollkommenheit verstanden werden.55 Zu den Bedingungen gehören insbesondere die »Armut im Geiste« (Mt 5,3) als Ausdruck eigenen geistigen Mangels und der »Hunger nach Gerechtigkeit« (Mt 5,6) als Konsequenz und Inhalt des Mangels. Zu den Folgen gehören z. B. die »Schau Gottes« (Mt 5,8), aber auch die soziale »Verfolgung« (Mt 5,10). Das anschließende Gleichnis vom Salz und Licht der Erde will dazu auffordern, den Weg nicht als private Erkenntnissuche zu begreifen, sondern als eine Wirklichkeit, die – einmal erreicht – allen Menschen mitzuteilen ist. Die Kernpredigt (Mt 5,17–7,12) vollzieht den Weg anhand von drei fundamentalen Verhältnissen des Menschen: dem Verhältnis zu anderen Menschen (Mt 5,17–48), dem Verhältnis zu Gott (Mt 6,1–34) und schließlich dem Selbstverhältnis (Mt 7,1–12). Bei jedem Verhältnis durchdenkt Jesus die üblichen Vorstellungen, beginnend auf der praktischen Ebene über die zugrunde liegende Motivebene bis zur letzten Ebene der Begründung. Jede Vorstellung misst Jesus am widerspruchsfreien Maßstab Gottes und lässt dadurch die bisher nur beanspruchte Erfüllung der Verhältnisse erkennbar werden: Gerechtigkeit im Verhältnis zu anderen,56 Frömmigkeit im Verhältnis zu Gott57 und Vollkommenheit im Verhältnis zu sich.58 Als Ergebnis kann die Einsicht gelten: »wer da sucht, der findet« (Mt 7,8), denn die vollkommene Suche erweist sich selbst als die gesuchte Vollkommenheit. Die Schlussworte (Mt 7,12–48) warnen abschließend vor einer unbegründeten Beanspruchung des Weges oder seiner 55 Luz nennt drei Grundtypen der Auslegung: (1) Gnadenzuspruch (z. B. Bornhäuser), (2) ethischer Stufenweg (z. B. Gregor v. Nyssa), (3) Lebensordnung der Gemeinde (U. Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 202ff.). Diese Deutungen setzen gegenüber der vorgeschlagenen Deutung das christliche Dogma voraus. 56 Die universelle Liebe: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen« (Mt 5,44). 57 Die kompromisslose Gottessuche: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.« (Mt 6,33). 58 Dauernde Selbstprüfung und Selbstüberwindung: »Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.« (Mt 7,5).

Jesu Weg zur Vollkommenheit

301

Ergebnisse (Mt 7,13–23) und fordern zur aktiven Nachfolge auf (Mt 7,24–27). Im Ganzen lässt sich die Bergpredigt als Vollzug und Reflexion eines Weges zur Selbstvervollkommnung verstehen.59

5.

Konsequenzen

a.

Jesusbild

In dem analytisch-hermeneutischen Nachvollzug der Antithesen zeigt sich ein dialektischer, in sich notwendiger und rational nachvollziehbarer Denkweg. Woher kommt dieser Weg, wer hat ihn erfunden? Die Vermutung liegt auf der Hand, dass dessen Urheber ihn selbst gegangen sein muss, so dass der Autor Matthäus ihn mitteilen konnte. Den Urheber dieses Weges zur Vollkommenheit nennt Matthäus Jesus von Nazareth. Dieser lässt sich als die Realisierung dieses Weges in der Geschichte verstehen.60 Die Mitteilung von dessen Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit kann als seine frohe Botschaft verstanden werden, als sein Evangelium. Als Beweis, dass eine reale, historische Person den Weg tatsächlich beschritten und vermittelt hat, kann die Existenz der Bergpredigt selbst angesehen werden, da sie notwendig auf einen Urheber verweist. Die Frage nach dem historischen Jesus lässt sich somit zur Frage nach demjenigen Menschen, der den Weg der Bergpredigt verwirklicht hat, konkretisieren. Theologisch gesprochen verbindet der dargestellte Weg das ImmanentMenschliche mit dem Transzendent-Göttlichen. Durch den vorurteilsfreien Bezug aller relevanten Ebenen der menschlichen Existenz auf Gott wird der transzendente Maßstab Gottes dem Menschen Jesus immanent. In der Person Jesu kommen die Immanenz des Menschlichen und die Transzendenz des Göttlichen zusammen.61 Der Weg Jesu lässt sich als ein Weg zur Selbsttranszendenz verstehen, ein Weg zur Überschreitung des natürlichen Menschseins, 59 Zehnpfennig schlägt eine ähnliche Deutung vor. Die Bergpredigt sei »ein Weg der Selbstveränderung als Annäherung an Gott. […] Es ist ein höchst rationaler Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen, an dessen Ende die ›Verähnlichung mit Gott‹ steht.« (Barbara Zehnpfennig: »Der Menschengott«, in: Michael Kühnlein (Hg.): Gott und Sinn. Im interdisziplinären Gespräch mit Volker Gerhardt, Baden-Baden 2016, 103–112, hier: 112). 60 Ähnliches deutet Zehnpfennig an: »Die Fleischwerdung Gottes ist ein mächtiges Symbol für die Wirklichkeit des Guten, wie sie im Menschen sein kann, wenn er denn davon ablässt, die Welt nach eigenem Maß zu entwerfen und zu beurteilen.« (B. Zehnpfennig: Der Menschengott, 112). 61 Zehnpfennig formuliert dieses Ergebnis philosophisch: »Das Gute ist nicht länger transzendent, es ist zunehmend Teil der eigenen Wirklichkeit geworden.« (B. Zehnpfennig: Der Menschengott, 112).

302

Raul Heimann

das von einem unerfüllten Wissens- und Seinsanspruch getragen ist. Der Glaube, dass dieser Weg möglich ist und tatsächlich von einem Menschen gegangen worden ist, lässt sich als der rationale Kern des christlichen Glaubens vermuten. Unschwer ist an dieser Stelle zu erkennen, dass diese Deutung weitreichende Folgen für das Verständnis des Christentums und der Religion im Allgemeinen hätte. Diese zu entfalten, geht jedoch über die spezifisch christologische Fragestellung hinaus und wäre Aufgabe weiterer Untersuchungen. Auf einen möglichen Einwand aus christlich-theologischer Perspektive sei an dieser Stelle eingegangen. Insofern die vorliegende Deutung nahelegt, dass der Weg Jesu prinzipiell für jeden Menschen nachvollziehbar ist, birgt sie für die Gefahr einer Vereinseitigung oder Verallgemeinerung von Jesus, was in jedem Fall mit dem Verlust seiner Einmaligkeit einherginge.62 Dazu lässt sich sagen, dass erstens Jesus bzw. der Urheber des Weges die Nachfolge nicht ausschließt, sondern sogar zu ihr auffordert (vgl. z. B. Mt 7,2463). Zweitens deuten die tiefgreifenden intellektuellen und existentiellen Anforderungen für den Weg bereits an, dass nur wenige Ausnahmemenschen imstande sind, diesen Weg tatsächlich zu vollziehen (vgl. Mt 7,1464). In der Geschichte, das hat der Überblick über die christologische Forschung gezeigt, ist Jesus faktisch einmalig geblieben.65 Wird damit im Umkehrschluss der Weg Jesu zu einem Eliteprogramm für wenige Hochbegabte? Nicht ganz, denn insofern Jesus jede Ebene der menschlichen Existenz auf Gott bezieht, kann jeder Mensch je nach seinen individuellen Fähigkeiten Anteil an dem Weg haben, sei es stärker praktisch-ethisch oder stärker theoretisch-intellektuell. Für den vollendeten Nachvollzug von Jesu Weg bedarf es nicht nur besonderer ethischer und intellektueller Fähigkeiten, sondern vor allem die existentielle Bereitschaft der Aufgabe des Anspruchs, Maßstab des Guten zu. Ob ein Mensch diese Begabungen hat, lässt sich nicht vorherbestimmen. Dies zeigt sich erst, wenn er tatsächlich versucht, diesen Weg gegen alle inneren und äußeren Widerstände zu gehen. Der Jesus der Bergpredigt mag faktisch einmalig sein, kategorisch ist er es nicht.

62 Dieser Einwand wird oft von theologischer Seite gegen Ansätze der philosophischen Christologie vorgebracht, z. B. Kühn gegen Kants moralphilosophische Jesus-Deutung (U. Kühn: Christologie, 223). 63 »Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute.« (Mt 7,24). 64 »Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!« (Mt 7,14). 65 Zehnpfennig rückt Sokrates stark in die Nähe von Jesus, unterscheidet aber die »platonische Rationalität« und die »jesuanische Spiritualität« (B. Zehnpfennig: Der Menschengott, 112).

Jesu Weg zur Vollkommenheit

b.

303

Christologie

Für die Christologie bedeutet die vorgeschlagene analytisch-hermeneutische Methode einen neuen Ansatz für einen, an den Quellentexten orientierten Zugang zum Phänomen Jesus Christus. Die Deutung der Antithesen und der Bergpredigt kann freilich nicht beanspruchen, Jesus Christus vollständig in seiner vielschichtigen Wirklichkeit zu erfassen. Dazu wäre es nötig, den Ansatz auch auf die übrigen, neutestamentlichen Texte anzuwenden. Dadurch ließe sich kritisch prüfen, ob die vorgeschlagene Deutung der Bergpredigt widerspruchsfrei mit den anderen Textzeugnissen vereinbar ist. Es ließe sich z. B. überprüfen, ob die Gleichnisreden Jesu als bildhafte Verweise auf verschiedene Aspekte des Weges verstehbar sind oder ob die Schilderungen von Jesu Leben und Tod als sichtbare Zeugnisse und Symbole der Wirklichkeit des Weges zu deuten sind, oder auch, ob die nachevangelischen Schriften Paulus’ als ein Versuch gedeutet werden können, die personale Wirklichkeit Jesu als einen eigenen Glaubensinhalt zu vermitteln und in den jüdisch-biblischen Glaubenskontext einzubetten. Unabhängig vom Ergebnis dieser Überprüfung verspricht der Ansatz, eine philosophische Textinterpretationsmethode mit traditionell religiösen Texten zu verbinden, einen neuen Raum zu schaffen zur Vermittlung von säkularem und religiösem Denken. Auf der wissenschaftlichen Ebene ermöglicht die Verbindung einen vertieften Dialog zwischen der Philosophie und der Theologie. Die Forderung nach einer möglichst vorurteilsfreien und voraussetzungsarmen Herangehensweise an die Quellentexte kann zur gegenseitigen Öffnung der Perspektiven beitragen und beiden Disziplinen neue Impulse verleihen. Insbesondere die Christologie könnte nach jahrzehntelanger Vernachlässigung durch die Philosophie wieder produktiv wahrgenommen werden, z. B. in der Diskussion um den epistemischen Status religiöser Erfahrung. Auf der Ebene des Alltags kann die philosophische Methode dazu verhelfen, den rationalen Gehalt der christlichen Texte nicht nur einem religionsfernen, aufgeklärten Publikum näherzubringen. Darüber hinaus könnte sie dem, von der Postmoderne verunsichertem, christlichem Selbstverständnis einen Weg zur rationalen Verständigung und Vergewisserung bieten. Der eigentliche Adressat des Ansatzes bleibt der Einzelne, da der aufgezeigte Weg Jesu auf die Transformation der personalen Wirklichkeit jedes einzelnen Menschen zielt. Ein Mensch, der den Weg Jesu tatsächlich noch einmal bis zur Vollkommenheit verwirklichen würde, hätte damit wohl schon die entscheidende Antwort auf die eingangs gestellte Frage der Christologie nach der Bedeutung von Jesus für uns heute gegeben. Hierin ließe sich auch der Sinn der Christologie in der Gegenwart sehen: den Weg Jesu erkennen, um ihn zu gehen.

Autorenverzeichnis

Christian Danz, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie A.B. am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien. Wilhelm Gräb, Dr. theol., 1993–2016 Professor für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2016 Leiter des Forschungsbereiches »Religiöse Gemeinschaften und Nachhaltige Entwicklung« der HUB, seit 2011 Extraordinary Prof. Stellenbosch University, RSA. Michael Hackl, Promotion in Wien und Berlin, 2013–2018 Universitätsassistent am Institut für Systematische Theologie A.B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, derzeit HR Consultant in Wien. Uta Heil, Dr. theol., seit 2015 Professorin für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Raul Heimann, Dr. phil., seit 2014 Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, später auch an den Universitäten Passau und Vechta. Renate Jost, Dr. theol., Professorin für Feministische Theologie und Gender Studies an der Augustana Hochschule Neuendettelsau. Ulrich H.J. Körtner, Dr. theol., Dr. theol. h.c. mult., seit 1992 Ordinarius für Systematische Theologie (reformiert) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

306

Autorenverzeichnis

Jörg Lauster, Dr. theol., 1996 Promotion in München, 2002 Habilitation in Mainz, 2006–2015 Professor für Systematische Theologie in Marburg, seit 2015 an der LMU in München. Harald Matern, Dr. theol., Studium der evangelischen Theologie und Philosophie in Freiburg i. Br., Heidelberg, Buenos Aires und Basel, Oberassistent für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel. Peter Schüz, Dr. theol., Akademischer Rat für Systematische Theologie am Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ulrike Swoboda, wissenschaftliche Referentin des Instituts für Öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie Österreich, derzeit Lehrvikarin in der Christuskirche in Innsbruck. Henning Theißen, Dr. theol., Heisenbergstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, apl. Professor für Systematische Theologie (Greifswald). Julius Trugenberger, 2009–2015 Studium der ev. Theologie in Tübingen, Zürich und Göttingen, 2015–2019 Promotionsstudium in Wien und Tübingen, seit April 2019 Vikar der Ev. Landeskirche Württemberg. Folkart Wittekind, Dr. theol., Professor für Evangelische Theologie/Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen. Manuel Zelger, Dr. phil., Studium der Theologie, Promotion in Philosophie.

Personenregister

Althaus, Paul 120 Althaus-Reid, Marcella 233 Anselm von Canterbury 284 Apel, Karl-Otto 193 Apollinaris von Laodicaea 25 Aquilas, Grace 213 Arendt, Hannah 247 Aristoteles 104f. Assmann, Jan 17, 90 Athanasius von Alexandrien 25f., 31 Auxentius von Mailand 29 Bach, Johann Sebastian 85, 119 Barth, Karl 74, 96f., 108, 114f., 119, 155, 160, 205, 207, 284 Basilius von Cäsarea 33 Bauman, Zymunt 53 Belting, Hans 78 Berger, Peter 198 Blatter, Joseph 168 Blumenberg, Hans 85, 105f., 108 Brooten, Bernadette 217 Bruckmann, Florian 151f. Brunner, Emil 119 Bultmann, Rudolf 49, 90, 98f., 111, 115, 123f., 159f., 185, 284 Calixt, Georg 18 Calvin, Johannes 285 Cohen, Hermann 205 Constantius, Kaiser, II 21f. Crenshaw, Kimberley 214 Crossan, John Dominic 286 Crüsemann, Marlene 223

Cyrill von Alexandrien 25f., 34f. Da Vinci, Leonardo 231 Daly, Mary 220f. Danz, Christian 90, 190 Degele, Nina 214f. Dibelius, Martin 90 Diem, Hermann 96f. Dilthey, Wilhelm 65, 68 Dittmann, Frank 94 Dorrien, Gary 190 Duhm, Bernhard 70 Dunn, James 163f. Ebeling, Gerhard 108, 115f., 285 Feige, Andreas 54f. Feuerbach, Ludwig 61, 289 Fichte, Johann Gottlieb 46f. Gebara, Ivone 223 Geertz, Clifford 198 Gerhardt, Paul 84f. Gerhardt, Volker 173–179 Geyer, Hans-Georg 89, 91–102 Goethe, Johann Wolfgang von 62f. Gouhier, Henri 287 Gregersen, Niels Henrik 149–152 Gunkel, Hermann 161–164, 166 Häring, Theodor von 66f. Harnack, Adolf von 16, 38, 66, 68f., 76, 79, 85f., 150, 171–173

308 Hauerwas, Stanley 199f. Hauschild, Wolf-Dieter 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 89, 95f., 184, 190, 266, 268, 279, 289f. Heine, Heinrich 62 Hermann, Rudolf 91, 98f. Herrmann, Wilhelm 67f., 79, 86, 204f. Heyward, Carter 216, 224 Hick, John 149 Hirsch, Emanuel 41–53, 55–59, 61, 159f. Holl, Karl 46 Holtzmann, Heinrich 286 Hui, Manuela 229 Husserl, Edmund 98 Isherwood, Lisa 224

Personenregister

Luhmann, Niklas 258 Luther, Martin 46f., 57, 64, 75, 79–88, 154, 284 Lutz, Helma 214 Malo, Elisabeth 221 Marheineke, Philipp Konrad 96 Marion, Jean-Luc 151 Matthiae, Karl 91 Melanchthon, Philipp 167 Meletius von Antiochien 33 Merz, Anette 217 Milbank, John 199–202 Moltmann, Jürgen 98, 150 Moltmann-Wendel, Elisabeth 216 Mutter Teresa 168

Jaspers, Karl 291 Jochum-Bortfeld, Carsten 223 Joest, Wilfried 26 Johnson, Elisabeth 221f. Jonas, Hans 185 Jovian, Kaiser 25 Julian, Kaiser 21f. Jüngel, Eberhard 91, 101, 107f. Juvenal von Jerusalem 35

Natar, Asnath Niwa 224 Nektarius von Konstantinopel 24, 32f. Nestorius von Konstantinopel 25f., 34f. Nietzsche, Friedrich 291 Nikolaus von Cusanus 288

Kahl, Brigitte 225 Kähler, Martin 90f., 99, 117 Kalsky, Manuela 231 Kant, Immanuel 12, 46, 51, 106, 200, 289 Käsemann, Ernst 89–91, 98, 101, 286 Kattenbusch, Ferdinand 67f. Kierkegaard, Søren 46f., 290f. Kim, Grace Ji-Sun 224 Kirn, Otto 66 Kohler-Weiß, Christiane 245 Konstantin, Kaiser 21, 28 Korsch, Dietrich 92 Kühn, Ulrich 284, 287 Kümmel, Werner Georg 98

Pannenberg, Wolfhart 119, 285 Paulus von Tarsus 76, 110, 161f., 164–166, 189, 225, 303

Lessing, Gotthold Ephraim 26, 89, 289 L8vinas, Emmanuel 107, 151 Lindbeck, George 198 Luckmann, Thomas 198

Oduyoye, Mercy Amba 224 Oetinger, Friedrich Christoph Otto, Rudolf 72f., 79, 85f.

115

Rahner, Karl 151f., 288 Reimarus, Hermann Samuel 89, 93, 95, 286 Ricœur, Paul 90, 105, 107 Ristow, Helmut 91 Ritschl, Albrecht 10, 65–67, 155f. Ritter, Adolf Martin 23 Rousseau, Jean-Jacques 289 Sandvoss, Ernst 291 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 12 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 10, 45, 50, 96f., 108, 129, 174, 181, 203f., 288 Schneider-Flume, Gunda 252

309

Personenregister

Schopenhauer, Arthur 61, 290 Schottroff, Luise 216, 219, 226 Schottroff, Willy 216 Schröder, Ren8e 237, 254 Schroer, Silvia 221 Schröter, Jens 90f., 93, 101 Schües, Christina 245f., 251 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 216, 221f., 225, 231 Schweitzer, Albert 168, 203, 286 Siedentop, Larry 196 Simon Petrus 136 Slenczka, Notger 191 Sokrates 24 Sölle, Dorothee 219, 226 Staats, Reinhart 23 Stanton, Elizabeth Cady 221 Stead, Christopher 111 Stegemann, Wolfgang 216 Storm, Theodor 61f., 88 Strauß, David Friedrich 10, 61, 95–98, 286 Theißen, Gerd 90, 166 Theodosius, Kaiser 32

Thomas von Aquin 285, 288 Tillich, Paul 108, 120, 154, 157, 170f., 183f., 186–190, 192, 199, 205f., 255 Tilliette, Xavier 287, 293 Troeltsch, Ernst 45, 70–72, 79, 86, 185 Truth, Sojourner 213 Ulrich-Eschemann, Karin

245–251, 254

Vollenweider, Samuel 164f. Wackerbarth, Horst 227 Wagner, Falk 43f. Ward, Graham 202 Welker, Michael 156 Wellhausen, Julius 70 Wengst, Klaus 100 Wenning, Norbert 214 White, Susan 231 Williams, Delores 224 Winker, Gabriele 214f. Wittgenstein, Ludwig 198 Zehnpfennig, Barbara 292