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German Pages 438 Year 2020
Cornelius Stöhr
Schöner Sterben
Cornelius Stöhr
Schöner Sterben Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis in klassischer und hellenistischer Zeit
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Inhalt Danksagung.............................................................................................................................................7 Einleitung.................................................................................................................................................9 1. Der patrios nomos in Athen............................................................................................................ 20 I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen.......................................... 20 II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens................................................................................ 26 Die Beisetzung der Gefallenen und der Grabkult............................................................... 26 Aufnahme, Kremation und Rückführung...................................................................... 26 Die prothesis....................................................................................................................... 27 ekphora und Grablege....................................................................................................... 32 Der epitaphios logos........................................................................................................... 38 Der Abschluss des Rituals?............................................................................................... 44 Der epitaphios agon .......................................................................................................... 47 Andauernde Fürsorge der polis....................................................................................... 51 Die Monumente im demosion sema...................................................................................... 53 Das demosion sema als zentraler Ort der Kommemoration........................................ 53 Die Form der Gräber ....................................................................................................... 56 Die Grabepigramme......................................................................................................... 64 Die Gefallenenlisten.......................................................................................................... 65 III. Zwischenfazit Athen................................................................................................................ 74 2. Das Gefallenengedenken außerhalb Athens................................................................................. 77 I. Boiotien........................................................................................................................................ 77 Akraiphia............................................................................................................................ 77 Kopai................................................................................................................................... 83 Leuktra................................................................................................................................ 86 Orchomenos....................................................................................................................... 87 Plataiai................................................................................................................................. 87 Tanagra............................................................................................................................. 111 Theben ............................................................................................................................. 115 Thespiai............................................................................................................................. 148 Zwischenfazit Boiotien:......................................................................................................... 188 5
II. Die Peloponnes........................................................................................................................ 192 Koinon der Achaier......................................................................................................... 192 Argos................................................................................................................................. 197 Epidauros.......................................................................................................................... 225 Kleonai.............................................................................................................................. 228 Korinth.............................................................................................................................. 230 Mantineia.......................................................................................................................... 242 Megalopolis...................................................................................................................... 259 Megara.............................................................................................................................. 261 Messene............................................................................................................................ 273 Phigaleia........................................................................................................................... 281 Sparta................................................................................................................................ 282 Sikyon................................................................................................................................ 306 Tegea................................................................................................................................. 309 Thelphousa....................................................................................................................... 321 Zwischenfazit Peloponnes.................................................................................................... 323 2. Das Gefallenengedenken außerhalb Athens.....................................................................................329 3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis................................................................. 329 I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung ..................................................................... 329 Gleichheit................................................................................................................................ 330 Patris........................................................................................................................................ 337 Partizipation........................................................................................................................... 343 Autonomie der polis.............................................................................................................. 345 Bedingungen und Möglichkeiten........................................................................................ 348 II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen................................................................... 349 Demokratie............................................................................................................................. 350 Die Abwehr der Perserinvasionen....................................................................................... 355 Der patrios nomos und das attische Imperium.................................................................. 361 Der Aufstieg und das Scheitern Thebens............................................................................ 381 Die makedonische Expansion und die Diadochenkriege................................................ 386 III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens.................................................................... 392 Was vom Tode übrigbleibt …........................................................................................................... 407 Bibliographie....................................................................................................................................... 411 Anhang ............................................................................................................................................... 435 Tabelle der auf den attischen Gefallenenlisten verzeichneten Offiziere, Funktionsträger und Verbündeten............................................................................................ 435 6
Danksagung
Danksagung Das vorliegende Buch stellt die in Teilen überarbeitete Fassung meiner im Sommer 2016 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereichten Dissertation dar. Wie es sich üblicherweise mit derartigen Projekten verhält, nahm auch diese Arbeit Ihren Anfang bereits viel früher noch während meines Studiums, wurde über die Jahre Ihrer Entstehung von einer Vielzahl von Personen und Arbeiten beeinflusst und wäre ohne die Unterstützung einer ganzen Reihe von Freunden, Kommilitonen und Kollegen nicht möglich gewesen. Zuvorderst möchte ich daher Kai Trampedach danken, der mir während meiner gesamten Zeit in Heidelberg stets und in jeglicher Hinsicht seine Unterstützung gewährte, der meine Beobachtungen und Thesen immer mit Freude und Leidenschaft mit mir diskutierte, sie in Frage stellte und mich beständig dazu anregte, noch mutiger zu sein und in meiner Interpretation einen Schritt weiterzugehen. Ich schätze ungemein, dass er mir dabei immer völlige Freiheit ließ und damit auch erhebliches Vertrauen in mich zeigte. Auch möchte ich es nicht missen, mich bei meinem Zweitgutachter Reinhard Stupperich zu bedanken, dessen eigene Arbeiten die Grundlage für viele der Überlegungen und Ansätze auch in diesem Buch gelegt haben und dessen Kritik ich mit großer Wertschätzung angenommen habe. Nicht möglich gewesen wäre meine Promotion ohne die großzügige Unterstützung der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir nicht nur ihre finanzielle Förderung zukommen ließ, sondern mir auch eine Vielzahl an spannenden und anregenden Möglichkeiten zum Austausch mit fachverwandten und -fremden Kommilitonen ermöglichte. Gerne möchte ich mich daher auch bei Ulrich Gotter und Peter Scholz bedanken, die mein Promotionsvorhaben für förderungswert befanden und der Studienstiftung empfohlen. Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Seminar für Alte Geschichte und dem gesamten Kollegium, das in der einen oder anderen Form Anteil an meiner Arbeit nahm und mir Unterstützung gewährte, auch wenn dies nicht immer in fachlicher oder inhaltlicher Form geschehen musste. Mit Christian Witschel, Marion Süffling, Francisca Feraudi-Gruénais, Hilmar Klinkott, Loránd Dészpa, Irene Berti, Ludwig Meier und Wolfgang Havener seien hier nur einige wenige der zahlreichen Begleiter genannt. Darüber hinaus gilt es einer ganzen Reihe an Kollegen und Kommilitonen zu danken, deren Anregungen im Rahmen von Konferenzen, Kolloquien oder privaten Diskussionen sich auch inhaltlich niederschlugen. Im Einzelnen möchte ich Steven Lambert, Elizabeth A. Meyer, Julia Shear, Rafał Matuszewski, Nadine Viermann, Daniel Kanzleiter, Janett Schröder und Nathan 7
Danksagung
Arrington nennen. Besonders fruchtbar waren auch die intensiven Diskussionen mit Johannes Wienand im Sommer 2018, deren Denkanstöße sich in der Überarbeitung des letzten Hauptteils der Arbeit für die Publikation niedergeschlagen haben. Schließlich sind hier die zahlreichen Wegbegleiter zu nennen, deren Gesellschaft mir die Stunden und Tage in der Bibliothek erleichterte, deren Fachkenntnis und Charaktere Seminare und Exkursionen prägten und deren Freundschaft mir über die Jahre den Rücken stärkte: Christian Süß, Matthias Aulenbacher, Jon Cosme Cubas Dias, Stephanie Reiß, Philippe Baeriswyl, Alexander Hoer, Alexander Puk und mit speziellem Dank für ihre Geduld und ihren Einsatz beim Korrekturlesen Felix Schulte, Isabelle Diez, Katharina Bolle, Michael Kiefer, Sebastian Bender, Marjanko Pilekić und Otto Ritter. Einen besonderen Dank möchte ich Norbert Kramer aussprechen, mit dem ich nicht nur meinen Einstand in Heidelberg gemein hatte, sondern mit dem ich auch zahlreiche Whiskeys, zahllose Kaffees und viele Stunden intensiver Gespräche teilte. Schließlich möchte ich meiner Frau Anne danken, die während der Arbeit an meiner Dissertation und diesem Buch fest an meiner Seite stand, die mich fachlich, moralisch und in jeglicher anderen Hinsicht unterstütze und dies auch weiterhin tut. Ihr Beitrag zu diesem Buch ist größer als sie vermutlich selbst ahnt. Zu guter Letzt möchte ich meinen Eltern danken, die mich auf meinen Weg schickten, die stets bemüht waren, meinem Bruder und mir neue Dinge nahe zu bringen und die mir nie Wege versperrten und mir stattdessen die Freiheit und die Mittel gaben, meiner Leidenschaft zu folgen. Ohne ihre Unterstützung wäre dieses Buch nie entstanden und daher möchte ich es ihnen widmen.
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Einleitung
Einleitung Wer einen Bürger einer der heutigen westlichen Demokratien fragt, wie seine jeweilige Heimatnation mit ihren gefallenen Soldaten umgeht, wird wohl eine recht einheitliche Antwort erhalten. Seit Beginn des sog. „Krieg gegen den Terror“ Anfang des 21. Jahrhunderts sind schließlich auch in deutschen Medien vermehrt entsprechende Bilder zu sehen, die stets eine ähnliche Abfolge bieten: die Ankunft der sterblichen Überreste an einem Flughafen, wo sie durch offizielle militärische und manchmal auch politische Vertreter empfangen werden; der Transport der mit der Staatsflagge geschmückten Särge durch eine Abteilung uniformierter Soldaten; die Trauerfeier für einen oder mehrere der Gefallenen, bei der ein ranghoher Vertreter der Regierung – oftmals sogar die Bundeskanzlerin bzw. der Bundeskanzler – eine Rede hält, die den Angehörigen Trost spenden und der Nation erklären soll, wofür die Toten starben und warum ihr Opfer nicht sinnfrei war. Ergänzt wird dieses Bild insbesondere durch Eindrücke des amerikanischen Gefallenengedenkens, die durch Filme und Serien vermittelt werden: die militärische Ehrengarde bei der Beerdigung, die Salutschüsse abgibt; das Spielen von Taps auf der Trompete; die schier endlosen Reihen einheitlicher, weißer Grabmarker; schließlich Denkmäler wie das ikonische Vietnam Veterans Memorial in Washington D.C. Fast in Vergessenheit geraten gegenüber diesen eindrücklichen Bildern die unauffälligeren aber ubiquitären Monumente für Kriegstote, die sich in den meisten europäischen Städten an zentralen Plätzen, Rathäusern, Kirchen und anderen öffentlichen Orten finden. Auch sie tragen jedoch dazu bei, dass wir eine recht feste Vorstellung davon haben, wie ein Staat für Bürger, die in seinem Auftrag ihr Leben ließen, zu sorgen hat. So muss der Staat für die Rückführung und Bestattung der Kriegstoten sorgen, ihrer in offizieller Form gedenken und sich der Versorgung ihrer Hinterbliebenen annehmen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Maßnahmen betrachten, trügt. Sie ist historisch gewachsen. Schließlich hatten sich Formen staatlicher, kollektiver Kommemoration von Kriegsgefallenen bereits im 19. Jh. in den meisten modernen westlichen Nationen etabliert. Die Weltkriege des 20. Jh. trugen dann weiter zur Ausformung und Verstetigung der Bräuche bei, wenn sie auch – gerade in Europa – neue Formen des Gedenkens mit sich brachten, die auf die neuen Dimensionen des Krieges und des Leids reagierten. Betrachtet man jedoch das Gefallenengedenken in historischer Perspektive, zeigt sich, dass die staatliche Kommemoration der Kriegstoten keineswegs die Regel, sondern die Ausnahme ist.1 Weder im antiken Rom, noch im 1
Siehe Kruse 2008, 33: „In historischer Perspektive ist die öffentliche Erinnerung an gefallene Soldaten keine Selbstverständlichkeit.“; vgl. auch Low/Oliver 2012, passim; Koselleck 1979, 258f.; 1994, 10–13;
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Einleitung
europäischen Mittelalter oder der Frühen Neuzeit finden sich Belege regelmäßiger kollektiver Gefallenenkommemoration durch den ‚Staat‘. Gleichwohl handelt es sich nicht um ein exklusives Phänomen der Moderne. Wie nämlich ein Blick auf die Zeugnisse des antiken Griechenland zeigt, wurde der staatliche Gefallenenkult bereits in vielen poleis der klassischen und hellenistischen Zeit praktiziert – mehr als zweitausend Jahre, bevor die modernen Nationalstaaten Modi der kollektiven Kommemoration ihrer Kriegstoten entwickelten. Wichtig ist, hierbei klarzustellen, dass nicht die Bestattung der Kriegstoten das bemerkenswerte Element ist. Krieger, die in der Schlacht gefallen waren, hatten in allen Gemeinwesen der europäischen Geschichte einen Anspruch auf ein Begräbnis, das entweder durch die jeweiligen Kommandierenden oder durch die Kameraden und Angehörigen der Soldaten durchgeführt werden musste. Des Weiteren finden sich zahllose Beispiele, in denen – zumeist adlige oder anderweitig hochrangige – Einzelpersonen, die in der Schlacht getötet worden waren, aufwendig bestattet und erinnert wurden.2 Sowohl die antike griechische als auch die moderne westliche Praxis unterscheiden sich von diesen Praktiken, indem der Staat sich aller gefallenen Krieger annimmt und sich dabei in seiner Sorge nicht nur auf die Bestattung beschränkt, sondern die Toten in Form von Monumenten oder Ritualen auch dauerhaft kommemoriert. Bekannt ist für die klassische Antike vor allem der patrios nomos der Athener, die Ende eines jeden Jahres ihre gefallenen Mitbürger in einem aufwendigen Ritual unter Teilhabe der gesamten Gemeinschaft bestatteten, monumentale Grabbauten mit Listen der Toten errichteten, eine Rede auf die Verstorbenen halten ließen und zu ihren Ehren Agone und jährliche Totenkultrituale abhielten. Doch finden sich auch in zahlreichen anderen poleis Belege ähnlicher Bräuche und Monumente, die von einer besonderen Sorge für die Kriegstoten zeugen. Es stellt sich daher die Frage, warum das staatliche, kollektive Gefallenengedenken in den poleis des klassischen und hellenistischen Griechenland praktiziert wurde, aber in keinem anderen Gemeinwesen der europäischen Vormoderne. Ebendiese Frage will die vorliegende Arbeit beantworten, indem sie das Gefallenengedenken in den poleis des griechischen Kernlandes in vergleichender Perspektive betrachtet und versucht, jene Faktoren zu identifizieren, die die Entstehung des staatlichen Gefallenenkultes in
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Hettling 2013, 12f.; Ders./Echternkamp 2013, 123–127. 258f.; 1994, 10–13; Hettling 2013, 12f.; Ders./Echternkamp 2013, 123–127. Zur römischen Praxis s.u. Anm. 1381. Ähnlich wie dort gestaltete sich auch die Praxis im antiken Ägypten. Gefallene wurden standardmäßig durch ihre Kameraden oder Kommandanten bestattet; Rückführungen wurden jedoch nur in Ausnahmefällen durchgeführt, wenn die Angehörigen der Toten sich dies leisten konnten. Vgl. hierzu Vogel 2016, passim. Siehe auch Borg 1991 für die Praxis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Der Autor beschreibt anschaulich, wie herausragende Einzelpersonen in diesen Epochen mit besonderen Ehren bestattet und kommemoriert werden konnten. Freilich ist seine Gleichstellung dieser Praxis mit dem staatlichen, kollektiven Gefallenengedenken abzulehnen. Siehe hierzu das Folgende.
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Einleitung
den griechischen Stadtstaaten des 5. bis 2. Jh. v.Chr. begünstigten. Gleichzeitig fragt die Untersuchung danach, warum die Praxis in manchen poleis überhaupt nicht oder nur zeitweise etabliert wurde, wie sich die Unterschiede in Form, Ausmaß und Intensität des Gedenkens in den verschiedenen Gemeinwesen erklären lassen und welche Rückschlüsse die jeweilige Form des Gefallenengedenkens über die ausrichtende polis ermöglicht. Bei der Beantwortung dieser Fragen sind verschiedene Felder in den Blick zu nehmen. So soll danach gefragt werden, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen das Gefallenengedenken sich in den einzelnen Städten zum ersten Mal fassen lässt, ob sich im Laufe der Zeit Veränderungen feststellen lassen und worin diese begründet lagen. Darüber hinaus soll betrachtet werden, wo die Gefallenen bestattet wurden und welche Aussagen dieser topographischen Verortung hinsichtlich der Einordnung der Kriegstoten in der jeweiligen Gesellschaft zu entnehmen sind. Wurden die Gefallenen etwa am Schlachtort bestattet oder in die Heimat zurückgeführt und dort in einer der Nekropolen oder an einem zentralen Ort der Stadt beigesetzt? Auch die materielle und die rituelle Form der Bestattung sollen untersucht werden: Wie wurden die Gräber und Monumente für die Gefallenen gestaltet? Wurden sie durch architektonischen Schmuck oder Bildprogramme aufgewertet? Wurden die Gefallenen durch eine Inschrift, ein Epigramm oder möglicherweise sogar namentlich kommemoriert? Wurde die Bestattung selbst durch Reden, Agone oder andere Rituale begleitet und wurde der Gefallenen auch in späteren Jahren von offizieller Stelle gedacht? Aus dieser Analyse der Formen soll auch die Semantik der Monumente und Rituale bestimmt werden. So wird zu untersuchen sein, wie die Toten und ihre Leistung in den historischen, politischen und sozialen Kontext des Gemeinwesens eingeordnet wurden. Wurden beispielsweise die einzelnen Individuen gegenüber dem Kollektiv ausgeblendet oder gewährte die polis Raum zur Anerkennung individueller Errungenschaften oder auch persönlicher Bindungen? Schließlich gilt es, zu fragen, wann und warum das Gefallenengedenken aus dem öffentlichen Leben der griechischen poleis verschwand und erst seit dem 19. Jh. erneut einen Platz in den westlichen Gemeinwesen zugewiesen bekam. Bevor ich aber darlege, wie ich diese Aspekte konkret mit den zentralen Fragen der Arbeit verknüpfen werde, will ich zunächst auf die bisherigen Arbeiten zum modernen und antiken Gefallenengedenken eingehen, da sich hieran einige zentrale methodische Probleme deutlich machen lassen. Insbesondere das moderne Gefallenengedenken hat in den letzten Jahren wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfahren, was sowohl auf die eingangs geschilderte Präsenz des Themas in der öffentlichen Wahrnehmung als auch auf das zunehmende Interesse der Forschung an Fragen der Memorialkultur zurückzuführen ist. Während ältere Arbeiten häufig dazu tendierten, vor-
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Einleitung
nehmlich die Kommemoration der Gefallenen der beiden Weltkriege in den Blick zu nehmen,3 widmen sich die neueren Arbeiten dabei auch weniger präsenten und schlechter aufgearbeiteten Kontexten wie beispielsweise dem Amerikanischen Bürgerkrieg.4 Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten Manfred Hettlings und Jörg Echternkamps, die 2008 und 2013 mit zwei Sammelbänden die Diskussion signifikant erweitert haben. Während der ältere Band sich ausschließlich dem Gefallenengedenken in der Bundesrepublik widmet,5 eröffnet insbesondere das umfangreiche, jüngere Sammelwerk neue Blickwinkel, indem es nicht nur westliche Kommemorationspraktiken betrachtet, sondern in globaler Ausrichtung u.a. auch in den Nahen Osten, nach Asien und Südamerika blickt.6 Gerade diese Erweiterung der Perspektive ist von großem Wert, da sich hierin zeigt, dass das europäische und nordamerikanische Gefallenengedenken, das sich aus der Entstehung der Nationalstaaten und der Ausweitung der politischen Teilhabe der Bürgerschichten entwickelte, nicht als universales Modell für die staatliche Gefallenenkommemoration gelten kann. In Japan etwa gründete das Gefallenengedenken des 19. und 20. Jh. in der Loyalitätsbekundung gegenüber dem Kaiser sowie in den konkreten Jenseitsvorstellungen und unterschied sich damit signifikant von der (fast) ausschließlich politisch determinierten westlichen Praxis.7 Andere Beispiele verdeutlichen wiederum, wie in verschiedenen Ländern einzelne Institutionen auch unterschiedlich starken Einfluss auf die Form des Soldatengedenkens haben können. Während die Praxis nämlich in manchen Staaten stark von oben gesteuert wird bzw. wurde,8 verfügen beispielsweise in Israel die Hinterbliebenen über besonders starke Interessenverbände, die auch einen entsprechenden Einfluss von unten auf die Behandlung und Kommemoration der Gefallenen garantieren.9 Für die Untersuchung des antiken griechischen 3
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Insbesondere ist diese Tendenz in der britischen Forschung zu beobachten. Siehe beispielsweise Winter 1995; King 1983; McIntyre 1990; Laqueur 1994. Borg 1991 versucht zwar, eine diachrone Perspektive einzunehmen, fokussiert jedoch letztlich wiederum stark auf die Kommemoration der Weltkriegsgefallenen und kann sich nicht von einer dezidiert britischen Sichtweise freimachen. Auch Koselleck (1976 und 1994) bezieht sich vor allem auf diesen Kontext, wenn er auch bemüht ist, durch das Heranziehen anderer Beispiele einige allgemeingültige Aussagen zu treffen. Auch aktuell entstehen freilich noch neue Abhandlungen zum Gedenken an die beiden großen Katastrophen des 20. Jh. Vgl. etwa Ben–Amos 2012; Goebel 2007. Siehe Faust 2008. Besonders hervorheben will ich die Beiträge von Hettling und Münkler (beide 2008). Siehe Hettling/Echternkamp 2013. Neben Beiträgen zu Russland (Hausmann), Israel (Azaryahu), Irak (Zeidel/Rohde/Baram), China (Diamant), Japan (Schölz) und Chile (Rinke/Dümmer Scheel) finden sich auch Abhandlungen zu einigen wenig wahrgenommenen europäischen Fällen wie etwa der Schweiz (Kreis). Vgl. Schölz 2013, passim zum japanischen Gefallenengedenken. Auch der westliche Brauch ist freilich in gewissem Maße durch andere Faktoren, wie etwa christliche Traditionen und Vorstellungen, geprägt. Siehe insbesondere Diamant 2013 zu China, aber auch Hausmann 2013 zu Russland. Vgl. Azaryahu 2013.
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Einleitung
Gefallenengedenkens sind diese Studien, die davor warnen, allzu schnell kausale Parallelen zwischen formal ähnlichen Phänomenen zu ziehen, enorm wertvoll. Auch die Erforschung des griechischen Gefallenengedenkens hat in den letzten Jahren einige Aktivität erlebt. So hat Nathan Arrington sich in den letzten Jahren in seiner Dissertation und mehreren Aufsätzen erneut dem attischen patrios nomos zugewandt,10 der in den späten 70er und den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zuletzt größere Aufmerksamkeit erfahren hatte. Arrington widmet sich dabei vor allem der materiellen Evidenz des attischen Gefallenengedenkens und ordnet seine Dissertation um die beiden Paarungen von Sieg und Niederlage sowie polis und oikos an. So versucht er auf der einen Seite, zu zeigen, wie die negativen Folgen gemeinschaftlicher und individueller Niederlagen – denn jeder Gefallene habe eine individuelle Niederlage erlitten – durch die attischen Kommemorationsformen aufgefangen und nach Möglichkeit in eine positive Botschaft umgewandelt wurden.11 Auf der anderen Seite fragt er, wie das Verhältnis von oikos und polis im attischen patrios nomos, der schließlich empfindlich in die Sphäre der Familie eingriff, indem er sie von ihrer Pflicht, aber eben auch ihrem Recht, zur Bestattung und Kommemoration ihrer Angehörigen entband, ausgehandelt wurde.12 Er kann sich hierbei auf eine Reihe älterer Arbeiten zum attischen Gefallenengedenken stützen, von denen ich hier nur die wichtigsten kurz nennen will. Eine der ältesten Abhandlungen stammt von Felix Jacoby, der sich 1944 des Themas annahm, dabei aber fast ausschließlich an der Genese des patrios nomos interessiert war und keine dezidierte Untersuchung der eigentlichen Praxis anstrebte.13 Die erste umfassende Arbeit verfasste erst etwas mehr als 30 Jahre später Reinhard Stupperich, der den Vergleich des staatlichen Gefallenenbegräbnisses mit der privaten Bestattungspraxis unternahm, den in den letzten Jahren Arrington und in gewissem Maße auch die vorliegende Arbeit wiederaufgreifen.14 Nicht nur sind Stupperichs Arbeit wichtige Erkenntnisse bezüglich der Form und Ikonographie der Monumente zu verdanken, auch versuchte er eben als erster Autor, das attische Gefallenenbegräbnis unter Berücksichtigung aller verfügbaren Quellengattungen in seiner Gänze zu erfassen. Ihm folgten andere Autoren, wie etwa Christoph Clairmont, dessen Verdienst vor allem in der systematischen Sammlung der wichtigsten Quellen zum Staatsbegräbnis in Athen – und zum Teil auch außerhalb – besteht.15 Bedauerlicherweise 10 11 12
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Siehe insbesondere Arrington 2010a; 2015 und 2010b, aber auch 2011; 2012; 2014. Vgl. hierzu auch Low 2010. Diesen Aspekt behandelt er vor allem in der überarbeiteten Version seiner Dissertation (Arrington 2015). Auf die Dichotomie zwischen oikos und polis gehen auch Brown-Ferrario 2006 und Clostermann 2006 ein. Sie greifen dabei zumindest teilweise die früheren Arbeiten von Humphreys 1983, Holst-Warhaft 1992 und Tyrrel/Bennet 1999 zur Rolle der Frau im attischen Gefallenenbegräbnis wieder auf. Vgl. Jacoby 1944. Auch Czech-Schneider 1994 widmet sich der Entstehung des patrios nomos. Siehe Stupperich 1977 sowie auch 1994. Clairmont 1983.
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Einleitung
fehlt seinem katalogartigen Werk, das lediglich einige einleitende analytische Kapitel bietet, eine auswertende Synthese der gesammelten Materialien, sodass das Werk hinter seinen Erkenntnismöglichkeiten zurückbleibt. Ähnlich muss das Urteil zu William K. Pritchetts Behandlung des Themas im vierten Band von The Greek State at War ausfallen.16 Anders als Clairmont fokussiert seine Untersuchung nicht primär auf Athen und widmet sich stattdessen auch den außerathenischen Zeugnissen. Jedoch fehlt auch seiner Arbeit, die die Befunde überdies nicht nach poleis, sondern nach Quellengattungen ordnet und sie somit losgelöst als Einzelbelege präsentiert, ein übergreifendes Fazit. Am einflussreichsten war schließlich ohne jeden Zweifel die Arbeit Nicole Lorauxs zu den attischen Gefallenenreden.17 Ihre Arbeit, die in zwei Sprachen in insgesamt vier unterschiedlichen Auflagen erschienen ist, bestimmt noch heute zu weiten Teilen das Bild des attischen patrios nomos als eine Praxis, die eine offizielle Version attischer Geschichte vermitteln und somit auch zur Ausbildung und Perpetuierung einer konkreten athenischen Identität beitragen sollte. Wie viele andere Arbeiten zum attischen Gefallenengedenken konzentriert auch ihre Monographie sich jedoch zu stark auf eine bestimmte Quellengattung – in ihrem Fall die Gefallenenreden und insbesondere den thukydideischen epitaphios logos des Perikles – und versäumt es somit, die Praxis in Wort, Schrift, Monument und Ritual in ihrer Gänze zu betrachten.18 Neben diesen zentralen Werken ließen sich noch eine Reihe weiterer Abhandlungen anführen, die sich den unterschiedlichsten Aspekten des patrios nomos zuwandten. Erwähnt werden soll hier noch Johannes Wienands Habilitationsschrift aus dem Jahr 2018, deren Ergebnisse nur zum Teil in die Druckversion dieser Arbeit eingehen konnten. Trotz all dieser Aufmerksamkeit, die das attische Gefallenengedenken bereits erfahren hat, bleiben einige zentrale Fragen jedoch weiter offen. Nur unzureichend erforscht ist beispielsweise die Entwicklung, die die attische Praxis im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. offensichtlich durchlief. Insbesondere der auffällige Rückgang und das scheinbar schleichende Verschwinden des Gefallenenbegräbnisses im 4. Jahrhundert v.Chr. stellen die Forschung noch immer vor ein Rätsel. Wie bereits erwähnt wurde, besteht ein zentrales Anliegen des geplanten Vorhabens darin, auch für dieses Phänomen eine Erklärung zu erarbeiten. Vergleichsweise wenig Beachtung wurde dem Gefallenengedenken außerhalb Athens gewidmet. Zwar finden sich Fallstudien zu bestimmten poleis19 oder einzelnen Monumenten,20 und 16 17 18
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Siehe Pritchett 1985, 94–259. Loraux 1981. Diese Kritik trifft etwa auch für Bradeen 1964 und Clairmont 1983 zu, ließe sich aber auf zahlreiche andere Studien ausweiten. Siehe beispielsweise Ehrhardt 2008 und die wichtige Arbeit von Low 2006. Zu letzterer Abhandlung siehe auch im Folgenden. Vgl. etwa Schilardi 1977 zum Grab der gefallenen Thespier vom Delion oder die zahlreichen Arbeiten zum Grab der Thebaner bei Chaironeia (zuletzt Ma 2008).
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Einleitung
auch Versuche übergreifender Arbeiten finden sich durchaus. Doch handelt es sich bei Letzteren entweder um katalogartige Werke, wie die beiden angesprochenen Monographien Clairmonts und Pritchetts, die auf eine übergreifende Auswertung des gesammelten Materials verzichten, oder die Studien begnügen sich damit, lediglich kurze Schlaglichter auf die Bräuche einzelner poleis zu werfen und vorschnell Schlüsse zu ziehen.21 Polly Low hat in den letzten Jahren versucht, die Problematik dieser Situation aufzuzeigen, indem sie in einer Studie zum spartanischen Gefallenengedenken und einigen weiteren Aufsätzen aufzeigte, wie schlecht sich das attische Gefallenengedenken auf andere poleis übertragen lässt.22 Hierin besteht ein zentrales Manko gerade der älteren Forschung. Viele der älteren Arbeiten fallen nämlich einem grundlegenden Problem in der Auseinandersetzung mit der klassischen Zeit anheim, indem sie die außerattische Evidenz in das besser bekannte athenische Modell zu pressen versuchen, obwohl doch gerade dieses stets als spezifisch athenisch und somit einzigartig deklariert wird. Für den Großteil dieser Arbeiten muss zudem beanstandet werden, dass sie die Befunde zu oberflächlich analysieren und nicht hinreichend im jeweiligen historischen und kulturellen Kontext verorten, sodass die gewonnenen Ergebnisse häufig nur bedingte Aussagekraft besitzen oder gar falsche Vorstellungen evozieren. Um nun nicht selbst diesen Problemen anheim zu fallen, will ich für die Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen einen dreischrittigen Ansatz wählen. Zunächst soll im ersten Hauptteil noch einmal der Fall Athens thematisiert werden. In Anbetracht der gerade beschriebenen Zahl von Publikationen zum attischen Staatsbegräbnis mag es redundant erscheinen, die unterschiedlichen Elemente der Praxis hier noch einmal einzeln aufzuzählen und zu besprechen. Eine schrittweise Analyse ist jedoch aus mindestens zwei Gründen geboten. Zum einen wurden in den jüngeren Arbeiten zum patrios nomos meist nur einzelne Aspekte des Gefallenengedenkens im Detail besprochen und demgegenüber das Ensemble von Ritualen, Monumenten und sonstigen Vorkehrungen als Ganzes oftmals vernachlässigt. Diesen Umstand gilt es zu adressieren. Zum anderen macht der komparatistische Ansatz der Arbeit eine solche Analyse notwendig. Das athenische Gefallenenbegräbnis soll nämlich aufgrund seiner einzigartigen Überlieferungslage, die es uns erlaubt, die Praxis in all ihren Facetten zu erfassen, sowie aufgrund seiner dominanten Position in der bisherigen Forschung auch der vorliegenden Arbeit als Ausgangspunkt dienen. Eben daher ist es aber auch notwendig, die Praxis zunächst einmal grundlegend zu beschreiben und zu untersuchen, bevor die Vergleichsobjekte angegangen werden können. Dies scheint vor allem deshalb notwendig, da einige der älteren, aber nach wie vor prominenten, Forschungsmeinungen einer Revision oder zumindest einer Relativierung und Konkretisierung bedürfen. 21 22
Vgl. Robertson 1983; Welwei 1991, Müller 1989. Siehe insbesondere Low 2003 sowie 2006, aber auch 2012.
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Nachdem mit dieser umfassenden Behandlung des attischen patrios nomos der vermeintliche Archetypus staatlichen Gefallenengedenkens in der griechischen Welt betrachtet wurde, wendet sich die Untersuchung im zweiten Hauptteil zunächst bewusst von dessen ‚Vorbild‘ ab und widmet sich den Formen der Gefallenenkommemoration außerhalb Athens. Eine gewisse Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes ist dabei aufgrund arbeitsökonomischer Überlegungen unumgänglich. Untersucht werden daher die Zeugnisse der Praxis in den Städten Boiotiens und der Peloponnes – also des griechischen Kernlandes, die sich aufgrund der Quellendichte und ihrer Bedeutung für die behandelte Epoche besonders für Detailstudien anbieten. Zeitlich konzentriert sich dieser Teil der Untersuchung – ebenso wie die gesamte Arbeit – vor allem auf die klassische Epoche, da hier die Genese und Blütezeit des staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens zu veranschlagen ist. Jedoch finden auch Zeugnisse der archaischen und der hellenistischen Zeit Aufnahme in die Untersuchung, insofern sie Relevanz für die hier diskutierten Fragen haben. So sind beispielsweise gerade die Befunde der ersten Hälfte des 3. Jh. v.Chr. von Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach dem Verschwinden der Praxis. Auch sollen nicht lediglich Monumente für Gefallene ‚historischer‘ Schlachten berücksichtigt werden, sondern auch solche, die sich der Kommemoration mythischer Kriegstoter widmeten, solange sie im untersuchten Zeitraum entstanden sind. Die oben angesprochenen Missstände in der Untersuchung des außerathenischen Gefallenengedenkens sollen adressiert werden, indem alle verfügbaren Zeugnisse zunächst separat herangezogen und untersucht, dann aber wieder zusammengeführt werden, um das Gefallenengedenken als Einheit von Ritualen (in Wort und Tat!) und Monumenten zu rekonstruieren und zu analysieren. Erst eine solche holistische Betrachtungsweise kann die Semantik dieser Praktiken offenbaren und ein besseres Verständnis ermöglichen. Hierbei ist es zwingend notwendig, die Untersuchung zunächst nach einzelnen poleis zu strukturieren, statt sofort eine systematische Analyse anzustreben. Derart soll zum einen der oben kritisierten Übertragung des athenischen Modells auf andere Gemeinwesen vorgebeugt werden. Zum anderen aber müssen die Gefallenenbegräbnisse stets zunächst vor dem Hintergrund ihrer spezifischen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Eigenheiten betrachtet und die einzelnen Monumente und Rituale in den konkreten historischen Kontext eingeordnet werden. So ist es etwa unumgänglich, den staatlichen Gefallenenbegräbnissen die Konventionen privater Begräbnisse gegenüberzustellen, wo dies möglich ist. Erst nach Feststellung des ‚Normalfalles‘ kann adäquat bewertet werden, inwiefern die staatlichen Vorkehrungen als außergewöhnlich zu betrachten sind, und welche Erkenntnisse sich aus diesen Unterschieden für Funktion und Semantik der Gefallenenbegräbnisse ergeben. Dies bedeutet nicht, dass innerhalb dieses Teils der Arbeit völlig auf Vergleiche zwischen verschiedenen Formen und Modi verzichtet werden soll. Dies zu tun, würde bedeuten, sich eines effektiven heuristischen Werkzeugs zu berauben. Jedoch sollen Vergleiche mit Bedacht gezogen werden, um nicht Analogien zu suggerieren, wo diese möglicherweise nicht existieren. Stattdessen soll der historische 16
Einleitung
Vergleich in diesen Kapiteln vor allem dazu dienen, die Besonderheiten bestimmter Formen des Gefallenengedenkens hervorzuheben. Punktuell wird hierfür auch Evidenz aus poleis außerhalb des gesetzten geographischen Rahmens in die Untersuchung einbezogen, wo dies sinnvoll und gerechtfertigt erscheint. Erst im letzten Teil der Arbeit will ich die gesammelte Evidenz noch einmal in der Gesamtschau betrachten und eine übergreifende Analyse des Gefallenengedenkens in Hinblick auf die oben skizzierten zentralen Untersuchungsfragen versuchen. So sollen zum einen einige grundlegende Faktoren identifiziert werden, die den poleis gemein waren und die die Entstehung des Gefallenengedenkens begünstigten. Zum anderen sollen einige zentrale historische Ereignisse thematisiert werden, die die tatsächliche Ausformung der Praxis veranlassten oder signifikante Entwicklungen der Gedenkformen und -modi bedingten. Schließlich sollen mithilfe der Ergebnisse dieser beiden Abschnitte in einem letzten Kapitel noch einige Überlegungen zum Verschwinden des Gefallenengedenkens angestellt werden, ohne dass hier der Anspruch erhoben wird, eine umfassende oder allgemeingültige Erklärung des Phänomens zu bieten. Vielmehr soll diskutiert werden, inwiefern das zuvor erarbeitete Schema dabei helfen kann, das langsame ‚Ausklingen‘ des staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens ab dem 4. Jh. v.Chr. zu verstehen, und wo gegebenenfalls Schwächen des Modells liegen. Ein zentrales Problem des dargelegten Unterfangens besteht in der Heterogenität und der schwankenden Verfügbarkeit der Quellen in den jeweiligen poleis. So mögen zwischen einzelnen Zeugnissen des Gefallenengedenkens in einer polis ganze Jahrhunderte liegen, ohne dass sich für die Zwischenzeit Aussagen irgendeiner Art treffen ließen. Zudem können sich die Quellen sowohl in ihrer Natur als auch in ihrer Überlieferung komplett unterscheiden. In ein und demselben Stadtstaat mag daher ein literarisch überliefertes Gefallenenepigramm des mittleren 5. Jh. v.Chr., eine Inschrift mit einer möglichen Gefallenenliste des frühen 4. Jh. v.Chr. und ein archäologischer Hinweis auf einen Agon für die Kriegstoten im späten 3. Jh. v.Chr. zu finden sein. So lassen sich in verschiedenen poleis – zum Teil aber eben auch in einer einzigen polis – meist nur unterschiedliche Aspekte des Gefallenengedenkens zu unterschiedlichen Zeiten beleuchten. Dies erschwert die Beantwortung von Fragen nach der Kontinuität und Entwicklung der Praxis oder nach Gemeinsamkeiten der Formen in verschiedenen Gemeinwesen. Auch sind einzelne Untersuchungsaspekte von diesen Problemen besonders betroffen. So will ich – wie oben dargelegt – stets versuchen, Zeugnisse des privaten Totenkultes und Totengedenkens in die Untersuchung einzubeziehen und den staatlichen Vorkehrungen gegenüberzustellen. Da jedoch für diesen Bereich die geschilderten Probleme der Überlieferung, der Datierung und der Kontextualisierung der antiken Zeugnisse in besonderem Maße bestehen, wird dies nur in wenigen Fällen überhaupt in einem Umfang möglich sein, der auch konkrete Rückschlüsse auf das Gefallenengedenken erlaubt. Obwohl sich daher aber nicht für alle poleis alle Fragen be17
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antworten lassen, hoffe ich dennoch, dass sich aufgrund der Masse der behandelten Beispiele in der Gesamtschau einige plausible Hypothesen und Resultate ergeben. Zweifelsohne sind der Belastbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse jedoch Grenzen gesetzt. Schon die Auswahl der Quellen stellt eine immense Herausforderung dar. Aufgrund der divergierenden Natur und des schwankenden Erhaltungszustands der Zeugnisse lassen sich hier nämlich kaum systematisch Kriterien für die Aufnahme in die Untersuchung festlegen. Ab wann etwa ein Massengrab als Polyandrion für gefallene Krieger oder eine inschriftliche Liste mit den Namen von Bürgern als Gefallenenliste interpretiert werden sollte, ist nicht immer sofort ersichtlich und hängt stark vom jeweiligen Kontext ab. Die Zahl der möglichen Gefallenenmonumente ist daher groß und eine individuelle Prüfung eines jeden Falles in Anbetracht des weit gesteckten geographischen und chronologischen Rahmens kaum möglich. Aufgrund dieser Problematik kann an dieser Stelle auch kein Vollständigkeitsanspruch vertreten werden. Dennoch habe ich versucht, unter Zuhilfenahme der existierenden Arbeiten zum Gefallenengedenken und durch systematische Durchsicht der einschlägigen Corpora und Zeitschriften möglichst alle relevanten Zeugnisse zu identifizieren und jeweils deutlich zu machen, warum ein Befund gemäß meiner Einschätzung als Gefallenenmonument zu erachten ist. Auch finden sich in der Arbeit wiederholt knappe Kommentare zu Quellen, die andere Autoren m.E. fälschlicherweise mit dem Gefallenengedenken in Verbindung setzen wollen. Findet eine polis keine Erwähnung in der Arbeit, sind keine Zeugnisse bekannt, die als Hinweise auf staatliche Gefallenenkommemoration interpretiert werden können. Einer besonders genauen Prüfung werden jene Monumente und Rituale unterzogen, die einzig in den Beschreibungen des Pausanias und anderer später Autoren erwähnt werden. Hier wird jeweils einzeln diskutiert, welche Anzeichen dafür sprechen, dass ein Denkmal oder ein Ritual bereits in klassischer oder hellenistischer Zeit existierte und nicht erst in späterer Zeit eingerichtet wurde. Insbesondere die entsprechenden Berichte zur Kommemoration der Perserkriege müssen kritisch betrachtet werden, da das Gedenken an die Abwehr des Dareios und des Xerxes im 1. und 2. Jh. n.Chr. eine Renaissance erlebte, die teils zur Aktualisierung alter Monumente und Bräuche führte, mancherorts aber auch völlig neue Gedenkformen hervorbrachte.23 Dies bringt uns zu einem letzten gravierenden Problem hinsichtlich der Quellen: der Unsicherheit in der Datierung der meisten Zeugnisse des Gefallenengedenkens. In den wenigsten Fällen lassen sich einzelne Befunde zweifelsfrei konkreten Ereignissen zuordnen. Weder finden sich nämlich immer Hinweise in der literarischen Überlieferung oder Details im archäologischen oder epigraphischen Befund – wie beispielsweise die Nennung eines eponymen Archonten oder eines Schlachtortes – die eine entsprechende Einordnung erlauben; noch sind wir über 23
Siehe insbesondere die exzellente Aufarbeitung durch Jung 2006, 344–383 (dort auch weitere Literatur).
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Einleitung
alle Konflikte, Kriege und Schlachten informiert, an denen die poleis im gegebenen Untersuchungszeitraum teilnahmen. Selbst wenn wir also über entsprechende Details zu den betreffenden Schlachten oder Kriegen, in denen die Gefallenen umkamen, informiert werden, ist nicht garantiert, dass wir diese auch tatsächlich zuordnen können. Zwar lässt sich in einer Vielzahl von Fällen aufgrund paläographischer, stilistischer oder kontextueller Kriterien eine grobe zeitliche Verortung der Zeugnisse vornehmen. Doch erlauben diese ungenauen Datierungen nur selten eine zweifelsfreie Zuordnung der Befunde zu konkreten historischen Ereignissen und Kontexten. In diesen Fällen können daher lediglich die möglichen Deutungen diskutiert und eine Tendenz zur plausibelsten Variante festgehalten werden. Gerade aufgrund dieser Problematik hinsichtlich der Identifikation, Datierung und Zuordnung der Quellen, habe ich mich schließlich auch dazu entschieden, die Zeugnisse des außerathenischen Gefallenengedenkens nicht in Form eines Kataloges zu sammeln und zu präsentieren. Eine solche Auflistung mit festen Kategorien und einer fixen Anordnung wäre der extrem heterogenen und komplexen Materie schlichtweg nicht gerecht geworden. Überdies ist diese Form nur schlecht dazu geeignet, die vielfältigen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Belegen – auch nur innerhalb einer einzigen polis – darzustellen. Indem ich mich für eine ausführliche Darstellung des Materials entschieden habe, nehme ich daher bewusst einen gewissen Verlust in der Übersichtlichkeit der Untersuchung in Kauf, hoffe aber, dass dieser Nachteil durch eine präzisere Analyse des Materials und eine klarere Darstellung der Zusammenhänge aufgewogen wird.
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1. Der patrios nomos in Athen
1. Der patrios nomos in Athen I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen Obwohl die Frage, seit wann die Athener ihrer Kriegsgefallenen von offizieller Seite her im Kollektiv gedachten, in der Forschung seit der Mitte des 20. Jh. mit gewisser Regelmäßigkeit und auch großer Sorgfalt diskutiert wurde, konnte bis dato doch kein Konsens in ihrer Beantwortung erreicht werden. Für diese Uneinigkeit gibt es zwei Gründe. Zum einen werden die erhaltenen materiellen und literarischen Zeugnisse von der Forschung sehr unterschiedlich interpreteiert. Zum anderen warten die antiken Autoren, die sich zu der Frage äußern, mit sehr widersprüchlichen Aussagen auf. Die drei gängigen Theorien zur Entstehung des patrios nomos plädieren dafür, dass dieser entweder zu Beginn der sogenannten ‚Kimonischen Ära‘ in den frühen 470er Jahren v.Chr.,24 gegen Ende dieser Phase in der Mitte der 460er v.Chr.25 oder aber bereits in der Zeit zwischen den Kleisthenischen Reformen und dem ersten Persereinfall institutionalisiert wurde.26 Gerade die Vertreter der beiden späteren Datierungsvorschläge stützen sich in ihren Argumentationen stark auf die Evidenz der epitaphioi 24
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Ich nenne jeweils nur die wichtigsten Vertreter der Thesen. Für den ersten Fall siehe Clairmont 1983, 10–15, der vorschlägt, der Brauch könne von Kimon eingeführt worden sein, der sich auch für die Rückführung der vermeintlichen Gebeine des Theseus verantwortlich zeichnete und hier möglicherweise eine Analogie schaffen wollte. Auch Wienand 2015, 80–88 spricht sich jüngst für eine Einführung unter Kimon aus, wenn auch anhand anderer Argumente. Jacoby 1944, 39–55 und Pritchett 1985, 112–124 fassen die Aussage von Pausanias „πρῶτοι δὲ ἐτάφησαν οὓς ἐν Θρᾴκῃ ποτὲ ἐπικρατοῦντας μέχρι Δραβησκοῦ τῆς χώρας Ἠδωνοὶ φονεύουσιν ἀνέλπιστοι ἐπιθέμενοι“ (1.29.4) als temporale Angabe auf und gehen davon aus, dass das Staatsbegräbnis tatsächlich 464 v.Chr. eingeführt bzw. institutionalisiert wurde. Beide Autoren geben dabei an, dass es auch zuvor durchaus zu Fällen staatlicher Gefallenenkommemoration gekommen sei, dass es sich hierbei aber um Vorläufer des Brauches gehandelt habe, der erst im Jahr 464 v.Chr. formal ausgeschmückt und verstetigt worden sei. Auch Loraux 1981, 56–72 hält eine Einführung in den 460er Jahren v.Chr. für wahrscheinlicher und argumentiert hierfür vor allem anhand der topoi, die in den Gefallenenreden verwendet werden. Diese ließen sich weitaus besser mit dem politischen Kontext dieser Zeit verknüpfen, als mit der Anfangsphase der ‚Kimonischen Ära‘ oder gar der vorigen Jahrzehnte. So vor allem Stupperich 1977, 209–211; 1994, 93f. sowie zuletzt Arriington 2015, 39–49. Siehe hierzu weiter im Haupttext. Low 2012, 28 ist vorsichtiger, kommt aber auch zu dem Schluss, dass bereits vor dem ersten Persereinfall ein Staatsbegräbnis existiert haben könnte.
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I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen
logoi. Literarische wie materielle Zeugnisse, die eine frühere Entstehung nahelegen, zweifeln sie entweder in ihrer Glaubwürdigkeit an oder bezeichnen sie als Ausnahmen und Vorläufer der späteren Praxis.27 Obwohl bezüglich vieler der frühen Zeugnisse tatsächlich starke Unsicherheiten und Probleme bestehen, bringt auch diese Fokussierung auf die epitaphioi logoi gewisse Schwierigkeiten mit sich, auf die ich weiter unten noch genauer eingehen werde. Es scheint in jedem Fall problematisch, die frühen Zeugnisse allzu schnell als Ausnahmen abzutun. Vielmehr bedürfen insbesondere die materiellen Zeugnisse für ein früheres Entstehen des patrios nomos einer genaueren Prüfung, so wie sie erst jüngst Nathan Arrington in seiner Monographie zum attischen Gefallenenbegräbnis unternahm. Ich will nicht alle Details seiner Analyse wiedergeben, sondern seine Ausführungen lediglich knapp zusammenfassen und kommentieren. Arrington argumentiert, ähnlich wie Reinhard Stupperich fast 40 Jahre vor ihm, für eine Entstehung des patrios nomos kurz nach den Reformen des Kleisthenes. Er führt hierbei zunächst eine Reihe bereits bekannter Zeugnisse zu frühen Fällen des Gefallenengedenkens an – namentlich das bei Pausanias überlieferte Grab für die Athener, die noch vor den Perserkriegen im Kampf gegen Aigina umgekommen waren,28 zudem ein nur literarisch überliefertes Epigramm, das möglicherweise Athenern galt, die 507/6 v.Chr. im Kampf gegen Chalkis auf Euboia fielen,29 sowie schließlich eine Inschrift des Jahres 498 v.Chr., die auf der Insel Lemnos gefunden wurde und mit großer Wahrscheinlichkeit als attische Gefallenenliste zu identifizieren ist.30 Darüber hinaus stützt er sich in seiner Argumentation für eine frühe Datierung der Praxis aber auch auf einen Neufund sowie neue Erkenntnisse bezüglich eines schon länger bekannten Monuments. Wenden wir uns zunächst dem Neufund zu. Es handelt sich um einen Komplex mehrerer Grabbauten, der bei Bauarbeiten in der Salaminosstraße in Athen entdeckt und von Charis Stoupa aufgenommen wurde. Obwohl das Ensemble bereits vor knapp 20 Jahren ausgegraben
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Vgl. insbesondere Pritchett 1985, 122–124 aber auch Jacoby 1944, 48–50. Siehe Paus. 1.29.7 mit Arrington 2015, 40–43; Stupperich 1977, 208; Clairmont 1983, 9. Der Konflikt mit Aigina wird zumeist recht kurz nach den Kleisthenischen Reformen datiert. Siehe Anth. Pal. 16.26; GV 1 Nr. 1; Page 1981, 189–191 Nr. II; Arrington 2015, 42; Stupperich 1977, 206f. Die Datierung und Zuordnung des Epigramms sind ausgesprochen problematisch. Page gibt überdies zu bedenken, dass das Epigramm, das berichtet, die Toten seien am Euripos bestattet worden, möglicherweise den geschlagenen Euboiern und nicht den Athenern zuzuordnen sei. Es handelt sich um IG XII Suppl. 337, die in Hephaistia gefunden wurde. Aus der Inschrift wird nicht deutlich, um welche Art von Dokument es sich handelt, doch ähnelt sie den Gefallenenlisten stark, indem sie eine Reihe einfacher männlicher Namen ohne Patronym unter den Überschriften der attischen Phylen auflistet. Überdies wurde sie im attischen Alphabet eingeschrieben. Es könnte sich also durchaus um ein Monument für Athener handeln, die bei der von Miltiades geleiteten Eroberung der Insel fielen (vgl. hierzu Hdt. 6. 140). So Jeffery 1990, 299f.; Arrington 2015, 42f.; Stupperich 1977, 207. Siehe auch Pritchett 1985, 165; Clairmont 1983, 89f. Nr. 3.
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1. Der patrios nomos in Athen
wurde, ist bis heute lediglich ein vorläufiger Bericht veröffentlicht, dessen Schlussfolgerungen dringend einer genaueren Prüfung bedürfen und daher nur mit einiger Vorsicht wiedergegeben werden sollen.31 Der Komplex setzt sich aus fünf langrechteckigen Grabbauten zusammen, die in zwei Reihen L-förmig angeordnet sind und so einen Peribolos-Bezirk bilden. Die Form und Bauweise der Gräber entspricht also einem für die attischen Gefallenengräber gängigen Typus.32 Überdies weisen die Reste von Kremationen einer größeren Anzahl von Personen in einigen der Gräber darauf hin, dass es sich zumindest bei diesen um Massengräber und vielleicht um Gefallenengräber handelte. Auch wenn wohl nicht alle Gräber zeitgleich errichtet wurden, lasse sich laut Aussage der Ausgräberin zumindest eines der vermutlichen Polyandrien aufgrund der hierin gefundenen Keramikreste bereits in das erste Viertel des 5. Jh. v.Chr. datieren. Demnach läge mit dem Grab also möglicherweise der früheste archäologische Beleg einer Rückführung und Bestattung von athenischen Kriegsgefallenen in Athen vor. Wie wir dank neuerer Erkenntnisse wissen, ist diese Datierung jedoch falsch. Eine genauere Untersuchung der Keramiküberreste ergab nämlich, dass der Grabkomplex nicht in das erste, sondern das letzte Viertel des 5. Jh. v.Chr., genauer noch in die 420er Jahre v.Chr., zu datieren ist.33 Es handelt sich demnach eben nicht um einen Beleg eines frühen Polayndrions in Athen, sondern vielmehr um ein Beispiel für ebenjene peribolen Grabbezirke, die in der Zeit des Peloponnesischen Krieges vermehrt für die Bestattung der Kriegstoten genutzt wurden. Tat Arrington in diesem Fall aufgrund der schlechten Publikationslage also ganz richtig daran, diesen Komplex nur am Rande zu behandeln, argumentiert er im Fall des zweiten von ihm angeführten Monumentes – des Kenotaphs der Athener für die Gefallenen von Marathon – deutlich mutiger. Das vielfach diskutierte Monument besteht aus einer mehrteiligen Basis, auf der sich die Reste zweier Epigramme erhalten haben, die Kriegsgefallene kommemorieren. In der älteren Forschung wurde es meist dem zweiten Perserfeldzug zugeordnet, jedoch kann es heute dank der jüngeren Arbeiten von Angelos Matthaiou, dem es gelang, der Inschrift ein weiteres Fragment (lapis C) aus den Magazinen der Ephorie zuzuordnen, mit einiger Sicherheit der Schlacht von Marathon zugewiesen werden.34 Da das dritte Fragment im Gebiet des Kerameikos gefunden wurde und die Basen mit den Resten des Epigramms zudem Spuren der Aufstellung
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Die vorläufigen Ergebnisse wurden in Stoupa 1997 publiziert und später von Rose 2000, passim und Arrington 2010b, 517f.; 2015, 43 besprochen. Oakley 2004, 215f. erwähnt kurz die Keramik, die in dem Komplex gefunden wurde, ohne diese allerdings genauer zu besprechen. In einer jüngeren Arbeit liefert Agelarakis 2013 eine anthropologische Untersuchung der gefundenen Gebeine sowie einige weitere wichtige Details zu den Gräbern. Siehe zum Peribolos Typus weiter unten 1. II. Die Form der Gräber. Vgl. Agelarakis 2013, 383 Anm. 32 sowie Wienand 2018, 99–103. Siehe Matthaiou 2000–2003, passim; Tracy 2000–2003, passim sowie Arrington 2015, 43–48. Alle drei Fragmente der Inschrift sind als IG I3 503/4 veröffentlicht.
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I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen
von Inschriftenstelen aufweisen, lässt sich schlussfolgern, dass zusätzlich zum Soros der Athener bei Marathon auch ein Kenotaph für die Gefallenen dieser Schlacht im demosion sema angelegt wurde. Nun kann bezüglich der Datierung dieses Monumentes nicht ausgeschlossen werden, dass es erst im Nachhinein, mit einem gewissen zeitlichen Abstand errichtet wurde.35 In Anbetracht der oben erwähnten Zeugnisse ist das Szenario der Errichtung eines Kenotaphs für die Gefallenen von Marathon kurz nach der Schlacht aber durchaus plausibel.36 Denn wenn sich auch keine definitiven Belege dafür finden lassen, dass die polis von Athen ihre Gefallenen auch vor 490 v.Chr. kollektiv in gemeinsamen Gräbern bestattete und kommemorierte, legen die genannten Zeugnisse in ihrer Gesamtheit dies doch nahe. Zumindest kann mit Sicherheit konstatiert werden, dass den attischen Gefallenen auch vor den Perserkriegen bereits eine gewisse Fürsorge von staatlicher Seite aus zukam, wenn auch die konkrete Form womöglich noch stark variieren konnte.37 M.E. ist daher der Einschätzung Arringtons und Stupperichs zuzustimmen: Die Idee der staatlichen Sorge für die Gefallenen muss bereits direkt nach den Kleisthenischen Reformen in Athen Fuß gefasst haben und umgesetzt worden sein. Der neue Brauch war sicherlich noch nicht in allen Details voll entwickelt, doch spiegelte er offenbar von Beginn an die neue gesellschaftliche und politische Ordnung wieder, indem er die zehn neu gegründeten Phylen berücksichtigte.38 Auch lässt sich die Sorge für die Bestattung und Kommemoration der Gefallenen besonders gut als parallele Maßnahme zum kleisthenischen Grabluxusgesetz verstehen, das die luxuriöse Bestattung und Kommemoration einzelner Bürger verbot und ebenfalls direkt in Folge der umfassenden Reformen in Kraft getreten sein muss.39 Es zeigt sich hier die Problematik einer Argumentation für eine spätere Entstehung der Praxis, die sich primär auf die Evidenz der epitaphioi logoi stützt. Nicht nur stammen alle erhaltenen Beispiele solcher Reden aus späteren Phasen der athenischen Demokratie und somit auch aus deutlich veränderten politischen Kontexten, die sich zwangsläufig auf die Inhalte ausgewirkt haben müssen. Überdies ist nicht einmal klar, ob der epitaphios logos überhaupt von Beginn an Teil des Staatsbegräbnisses war. Im Gegenteil legt schon der erste Satz des thukydideischen epitaphios logos des Perikles nahe, dass es sich bei der Rede um einen späteren Zusatz handelte. Der Sprecher lässt hier nämlich verlauten:
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Arrington 2015, 47 erwägt diese Möglichkeit ebenfalls, tut sie jedoch etwas leichtfertig ab. Bereits Stupperich 1977, 209–211 und 1994, 93f. hatte für eine Zuordnung der Epigramme zur Schlacht von Marathon sowie für eine frühe Errichtung des Kenotaphs argumentiert. So auch Arrington 2015, 48f. Dies legen die Stelen am Soros in Marathon sowie die Einlassungen für Stelen auf dem Kenotaph wie auch die Inschrift auf Lebsos nahe. So schon Stupperich 1977, 219. Auch Arrington 2015, 51 greift diesen Gedanken wieder auf. Zum sog. post-aliquanto Gesetz s.u. Anm. 76.
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1. Der patrios nomos in Athen
οἱ μὲν πολλοὶ τῶν ἐνθάδε ἤδη εἰρηκότων ἐπαινοῦσι τὸν προσθέντα τῷ νόμῳ τὸν λόγον τόνδε, ὡς καλὸν ἐπὶ τοῖς ἐκ τῶν πολέμων θαπτομένοις ἀγορεύεσθαι αὐτόν40
Auch Dionysios von Halikarnassos äußert sich dementsprechend, wenn er schreibt: ὀψὲ γάρ ποτε Ἀθηναῖοι προσέθεσαν τὸν ἐπιτάφιον ἔπαινον τῷ νόμῳ, εἴτ᾽ ἀπὸ τῶν ἐπ᾽ Ἀρτεμισίῳ καὶ περὶ Σαλαμῖνα καὶ ἐν Πλαταιαῖς ὑπὲρ τῆς πατρίδος ἀποθανόντων ἀρξάμενοι, εἴτ᾽ ἀπὸ τῶν περὶ Μαραθῶνα ἔργων,41
Weniger deutlich präsentiert sich schließlich der Bericht Diodors, der schreibt: ὁ τῶν Ἀθηναίων δῆμος ἐκόσμησε τοὺς τάφους τῶν ἐν τῷ Περσικῷ πολέμῳ τελευτησάντων, καὶ τὸν ἀγῶνα τὸν ἐπιτάφιον τότε πρῶτον ἐποίησε, καὶ νόμον ἔθηκε λέγειν ἐγκώμια τοῖς δημοσίᾳ θαπτομένοις τοὺς προαιρεθέντας τῶν ῥητόρων.42
Sein Zeugnis könnte sich auch auf die Gesamtheit des patrios nomos mit der Hervorhebung der Gräber, dem Feiern eines Agons und dem Halten der Rede beziehen. Doch fällt auf, dass alle drei Autoren den epitaphios logos als eigenständiges Element hervorheben, das der Bestattung erst angegliedert werden musste. Sicherlich handelte es sich bei der Rede auf die Gefallenen um das bekannteste Element des attischen Gefallenenbegräbnisses und in gewissem Maße auch um ein Alleinstellungsmerkmal des patrios nomos, dem deshalb auch verstärkte Aufmerksamkeit zukam. Doch sollte deshalb keineswegs davon ausgegangen werden, dass die antiken Autoren unter dem Begriff des epitaphios logos Generalisierungen bezüglich des gesamten patrios nomos verbreiteten, und gerade die genaue Distinktion einer so wichtigen Quelle wie Thukydides in dieser Angelegenheit sollte Beachtung finden. Zumindest bei der Rede auf die Gefallenen handelte es sich also wahrscheinlich um ein späteres Addendum zu der bereits seit Endes des 5. Jh. v.Chr. existierenden Praxis.43 Doch auch im Falle des epitaphios agon ist eine Einführung während oder kurz nach den Perserkriegen wahrscheinlich. Immerhin wird Diodors Schilderung nämlich durch einige athenische Bronzegefäße bekräftigt, die offenbar den Siegern der Grabagone als Preise überreicht wurden und deren ältestes kurz nach den Perserkriegen datiert wird. Dem Befund kann keine endgültige Be-
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Thuk. 2.35.1. Jacoby 1944, 39f. spricht sich explizit dagegen aus, Thukydides’ Zeugnis in diesem Punkt zu folgen, und will an der Einheit Staatsbegräbnisses festhalten. Dion. Hal. Ant. Rom. 5.17.4. Siehe zur Stelle auch Loraux 1981, 56f. Diod. Sic. 11.33.3. So auch Arrington 2010b, 503f.
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I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen
weiskraft zugesprochen werden, da sich lediglich drei solcher Gefäße erhalten haben, die alle in die Zeit zwischen 480 und 450 v.Chr. datiert werden.44 Zusammengenommen mit den anderen Zeugnissen erscheint eine Einführung des epitaphios agon kurz nach der Abwehr der persischen Invasion aber ausgesprochen wahrscheinlich. Ohne dass hier also ein eindeutiger Beleg oder eine genaue Rekonstruktion der Entstehung des Gefallenenbegräbnisses geboten werden können, will ich mich daher dennoch für eine schrittweise Entstehung der Praxis aussprechen. Zumindest ließe ein solches Entstehungsmodell, das den patrios nomos nicht als monolithischen Block versteht, der schon voll ausgeformt in einem einzigen Akt eingeführt wurde, die unterschiedlichen Zeugnisse zur Frühzeit der Praxis besser miteinander vereinen. Nicht ohne Grund wurde diese Rekonstruktion schließlich nicht nur von den Advokaten einer frühen Entstehung des patrios nomos vertreten, sondern auch von William K. Pritchett, einem der prominentesten Verfechter einer späteren Formierung, zumindest erwogen.45 Gemäß der hier verfolgten Argumentation ergibt sich also eine Rekonstruktion, in der bereits mit den Kleisthenischen Reformen oder zumindest kurz danach eine erste Form des staatlichen Gefallenenbegräbnisses praktiziert wurde, bei der die Toten wohl noch nicht regelmäßig zurückgeführt aber doch im Kollektiv beigesetzt und durch eine Gefallenenliste kommemoriert wurden. Mit der steigenden militärischen Belastung aber auch den zunehmenden Erfolgen auf dem Schlachtfeld – insbesondere nach den Perserkriegen und mit dem Aufstieg des Attischen Seebundes – entwickelte sich die Praxis dann rasch weiter, sodass wohl schon bald standardmäßig die Rückführung der kremierten Überreste der Gefallenen besorgt wurde und auch der epitaphios agon und der epitaphios logos sowie vielleicht auch die Versorgung der Kriegswaisen feste Bestandteile des Gefallenenbegräbnisses wurden. Nathan Arrington fasst in seinem Kapitel zur Entstehung des patrios nomos treffend zusammen: „The institution of public burial, whatever its precise date, accompanied the rise of democracy at Athens“.46 Tatsächlich spiegelt die Entwicklung des Staatsbegräbnisses jene der Demokratie wieder und wuchs gemeinsam mit dem neuen System. Der patrios nomos wurde eingeführt als Ausdruck der neuen politischen Ordnung. Als sich dann diese neue Ordnung insbesondere auf der militärischen Ebene als ausgesprochen erfolgreich erwies, gewann auch das
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Die Inschriften der Gefäße sind in IG I3 523–525 veröffentlicht. Siehe auch Vanderpool 1969, passim; Amandry 1971, 602–609 mit Abbildungen aller drei Gefäße. Die Inschrift lautet bei allen drei Gefäßen gleich („Ἀθεναῖοι ἆθλα ἐπὶ τοῖς ἐν τõι πολέμοι.“) und ist jeweils auf dem Rand des Gefäßes angebracht. Bei den Vasen handelt es sich um zwei Bronzelebetes, die in Marathon bzw. Ampelokipi gefunden wurde, und eine bronzene Hydria, die nahe Thessaloniki entdeckt wurde. Siehe weiter Pritchett 1985, 107f.; Clairmont 1983, 24f.; Stupperich 1977, 55 mit Anm. 5. Vgl. Pritchett 1985, 112–124, wo der Autor dies nie direkt ausspricht, der Gedanke aber doch deutlich zu Tage tritt. Arrington 2015, 49. Ähnlich auch Low 2010, 341.
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1. Der patrios nomos in Athen
Staatsbegräbnis, das die essentielle Verbindung von Bürger und Soldat im Bürgerheer kommemorierte, an Bedeutung und wurde ausgebaut, um diesen Umstand weiter zu zelebrieren. Der patrios nomos leistete damit einen wesentlichen Beitrag dazu, den Erfolg des neuen Systems zu kommunizieren und zu perpetuieren. Aus diesen Überlegungen erklärt sich wohl auch, warum Herodot in seinem Geschichtswerk bezüglich des Erfolges des attischen Staates zu folgendem Schluss kam:47 Ἀθηναῖοι μέν νυν ηὔξηντο. δηλοῖ δὲ οὐ κατ᾽ ἓν μοῦνον ἀλλὰ πανταχῇ ἡ ἰσηγορίη ὡς ἔστι χρῆμα σπουδαῖον, εἰ καὶ Ἀθηναῖοι τυραννευόμενοι μὲν οὐδαμῶν τῶν σφέας περιοικεόντων ἦσαν τὰ πολέμια ἀμείνους, ἀπαλλαχθέντες δὲ τυράννων μακρῷ πρῶτοι ἐγένοντο. δηλοῖ ὦν ταῦτα ὅτι κατεχόμενοι μὲν ἐθελοκάκεον ὡς δεσπότῃ ἐργαζόμενοι, ἐλευθερωθέντων δὲ αὐτὸς ἕκαστος ἑωυτῷ προεθυμέετο κατεργάζεσθαι.48
II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens Die Beisetzung der Gefallenen und der Grabkult Aufnahme, Kremation und Rückführung Zwar stellte die prothesis die erste Station im offiziellen Ablauf des Staatsbegräbnisses dar, doch mussten die Leichname der Gefallenen, bevor das eigentliche Bestattungsritual in Athen vollzogen werden konnte, zunächst an den jeweiligen Schlachtorten aufgenommen, kremiert und die Asche daraufhin nach Athen überführt werden, um dort dann bis zur Beisetzung aufbewahrt zu werden. Die Kremation noch vor Ort war nötig, da die Leichname der Gefallenen nicht alle einzeln nach Athen zurückgebracht werden konnten. Weder waren hierzu die Ressourcen vorhanden, noch hätten die sterblichen Überreste eine längere Reise überstanden, ohne bereits die ersten Stufen der Verwesung zu durchlaufen. Über diesen Teil des Brauches ist wenig bekannt, da die literarischen Quellen hierzu schweigen und höchstens die Aufnahme der Toten durch die beteiligten Parteien feststellen.49 Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch die Kremation der
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Siehe hierzu schon Stupperich 1977, 216–219 und eben neuerdings auch Arrington 2015, 49–54. Hdt. 5.78. Eine Ausnahme stellt Thuk. 6.71 dar, wo der Historiker die Verbrennung der Toten nach einem der Gefechte der Athener gegen die Syrakusaner schildert. Oftmals verwenden die literarischen Quellen mit
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
Toten von rituellen Handlungen – vermutlich unter Leitung des jeweiligen Kommandanten – begleitet wurde, wenn auch die akuten Zwänge des Krieges sicherlich eine gewisse Flexibilität in dieser Hinsicht nötig machten. Ebenfalls ist nicht bekannt, wo die Asche der Gefallenen, die bereits nach Phylen geordnet gewesen sein muss, bis zum Staatsbegräbnis im Winter des jeweiligen Jahres aufbewahrt wurde. Da sterbliche Überreste ihrer Umgebung stets rituelle Unreinheit brachten,50 mag ein Ort außerhalb der Stadt wahrscheinlicher anmuten. Doch wie weiter unten noch deutlich werden wird, gab es durchaus Mittel, um ein solches miasma zu vermeiden bzw. einzudämmen, sodass auch ein Aufbewahrungsort innerhalb der Stadtmauern nicht ausgeschlossen werden kann. Jeder Versuch, den Ort genauer bestimmen zu wollen, ist bei aktuellem Kenntnisstand reine Hypothese, sodass ich diese Frage hier nicht weiter verfolgen und mich stattdessen der prothesis der Gefallenen zuwenden will.
Die prothesis Am Anfang des Bestattungsrituals für die gefallenen Athener eines Jahres stand wie im Falle einer privaten Beisetzung die Aufbahrung der Toten bzw. ihrer sterblichen Überreste. Thukydides beschreibt den Akt wie folgt: „τὰ μὲν ὀστᾶ προτίθενται τῶν ἀπογενομένων πρότριτα σκηνὴν ποιήσαντες, καὶ ἐπιφέρει τῶ αὑτοῦ ἕκαστος ἤν τι βούληται.“51 Die zehn larnakes, in denen die Asche der Toten gesammelt und später bestattet wurde, waren also drei Tage lang in einem Zelt aufgebahrt, wo sie den Hinterbliebenen frei zugänglich waren, sodass diese ihren verstorbenen Angehörigen Gaben beibringen konnten, ‚so wie sie dies für richtig erachteten‘.52
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Bezug auf die attischen Gefallenen das Verb θάπτω (so etwa Xen. Hell. 1.2.11 und Diod. Sic. 12.74.2). Jacoby 1944, 37 Anm. 1 argumentiert jedoch zurecht dafür, dass hierbei die Verbrennung und keine eigentliche Bestattung gemeint sein muss. Gerade die zitierte Stelle bei Diodor spricht für diese Lesart, berichtet der Autor hier doch, dass die Athener ihre Toten nach der Schlacht, in der Kleon und Brasidas fielen, ‚begraben‘ hätten („θάψαντες“), bevor sie nach Athen zurückgekehrt seien. Wenn die Athener ohnehin kurz davor standen, nach Athen zurückzukehren, bestand eigentlich keine Notwendigkeit, die Toten vor Ort beizusetzen. Stattdessen wäre es weitaus sinnvoller gewesen, die Leichen zu verbrennen und die kremierten Überreste dann direkt mit nach Athen zu nehmen. Jacoby mag „θάψαντες“ in diesem Fall also richtig als etwas weiten Begriff für die Verbrennung verstanden haben. In jedem Fall stellte das bei Thukydides geschilderte Vorgehen wohl den Normalfall dar. So auch Clairmont 1983, 16f. und Stupperich 1977, 31f. Vgl. Parker 1983, 32–48 und 63–73, der eine ausgezeichnete Zusammenstellung und Auswertung der verfügbaren Evidenz aus dem gesamten griechischen Raum bietet. Auch Hoessly 2001, 44–46; 52f. und Garland 1985, 43–47 behandeln das Thema knapp aber gründlich. Thuk. 2.34.2. Welche Gaben genau hier gemeint sind, ist schwierig zu erschließen, da jegliche Dinge, die in Konnex mit der Herrichtung des Leichnams benötigt wurden, wegfielen. Denkbar wären allerdings bestimm-
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Wo das Zelt für die prothesis errichtet wurde, ist nicht überliefert. Es muss sich jedoch um einen frei zugänglichen öffentlichen Ort gehandelt haben, der nicht nur den larnakes, sondern vor allem auch der großen Zahl von trauernden Angehörigen genügend Raum bot. Aufgrund dieser Kriterien und aufgrund der Überlegung, dass überdies ein Ort gewählt worden sein dürfte, der nicht zu weit vom demosion sema entfernt lag, wurden in der Forschung als Möglichkeiten die Agora53 und der weitläufige Platz vor dem Dipylon diskutiert. Reinhard Stupperich weist darauf hin, dass eine Aufbahrung auf der Agora die dortigen wirtschaftlichen und öffentlichen Aktivitäten stark beeinträchtigt, wenn nicht völlig zum Erliegen gebracht hätte, und spricht sich daher für eine Lokalisierung vor dem Dipylon aus, da hier die Alltagsgeschäfte der Athener doch zumindest in geringerem Maße gestört worden wären.54 Nun könnte aber genau solch eine Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens, die eine Aufbahrung auf der Agora bewirkt hätte, beabsichtigt gewesen sein, um dem Staatsbegräbnis hierdurch noch größere Aufmerksamkeit zu sichern bzw. diese gar zu erzwingen. Dass ein solcher Gedanke keineswegs abwegig ist, zeigen entsprechende Beispiele aus anderen poleis. In Sparta etwa waren sämtliche Bürger sowie ein signifikanter Teil der perioikoi dazu verpflichtet, an der Bestattung der Könige teilzunehmen. Überdies durften zehn Tage lang keine Geschäfte auf der Agora getätigt oder politische Versammlungen abgehalten werden.55 Ähnliche Bestimmungen sind auch aus Kyzikos und Olbia bekannt, wo für die Dauer des Staatsbegräbnisses alle Heiligtümer geschlossen blieben bzw. Kaufläden den Betrieb einstellen mussten.56 Es liegt auf der Hand, dass durch diese Maßnahmen, die wohl zu Recht als ‚Staatstrauer‘ bezeichnet werden können, die Aufmerksamkeit auf die Bestattungen gelenkt und die Bedeutung des Verlustes des Königs bzw. der Mitbürger betont und spürbar gemacht werden sollte. Auch in Athen, wo die Teilnahme am patrios nomos – wie wir weiter unten noch sehen werden57 – einer Bürgerpflicht gleichkam, wäre eine ähnliche Praxis absolut denkbar
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te Kräuter, die der Abwehr böser Geister dienten (vgl. Alexiou 2002, 5), Kränze und Girlanden zur Schmückung der Trauernden und der Umgebung (vgl. Garland 1985, 26) oder aber kleinere Beigaben anderer Art, die normalerweise am Grab dargeboten wurden (vgl. deSchutter 1989, 56). Vor allem für den letzteren Fall müsste angenommen werden, dass eine Überführung dieser Gegenstände zum Grab organisiert wurde. So etwa Loraux 1981, 20, die an eine Aufbahrung vor dem Monument der eponymen Phylenheroen denkt, aber auch Kavoulaki 2005, 138 und auch Herrman 2009, 14 in seiner Edition von Hypereides’ epitaphios logos. Siehe Stupperich 1977, 32 mit Anm. 6. Auch Clairmont 1983, 3 spricht sich für diese Lösung aus, ohne jedoch konkrete Argumente hierfür anzuführen. Siehe für die wichtigsten Informationen Hdt. 6.58 sowie für weitere Informationen unten 2. II. Sparta mit Anm. 1094. Vgl. Ehrhardt 2008, 191. Die Schließung der Heiligtümer in Kyzikos muss wohl nicht zwingend dadurch begründet werden, dass hier dem Staatsbegräbnis mehr Aufmerksamkeit zugelenkt werden sollte, sondern könnte auch auf das miasma der Gemeinde zurückzuführen sein. S.u. 1. II. ekphora und Grablege.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
und so erschiene in diesem Sinne auch die bewusste Lokalisierung der prothesis auf der Agora plausibel. Zudem hätte sich von hier aus dann der monumentale Dromos für die ekphora angeboten, der auf direktem Wege zum demosion sema außerhalb der Stadt führte und der aufgrund seiner Länge aus performativer Sicht sicherlich attraktiver für eine große Prozession gewesen wäre, als der relativ kurze Weg vom Dipylon zum jeweiligen Grab. Aufgrund mangelnder Belege in die eine oder andere Richtung58 kann diesbezüglich jedoch keine endgültige Entscheidung getroffen werden, sodass es bei diesen hypothetischen Überlegungen bleiben muss. Neben der Vorbereitung des Leichnams für die Beerdigung durch die Akte der Waschung und Salbung,59 machte die Klage um den Verstorbenen üblicherweise den wichtigsten Teil der prothesis aus. Während der Tote in seinem eigenen oder dem Haus seiner nächsten Verwandten aufgebahrt lag, wurde sein Dahinscheiden kontinuierlich von seinen Angehörigen beklagt, wobei die Frauen lautstark weinten, sich die Haare rauften und teils gar Brust und Gesicht zerkratzen,60 während die Männer gefasster aufzutreten hatten61 und vermutlich dafür verantwortlich waren, kondolierende Besucher zu empfangen und den oikos – wie auch bei anderen Gelegenheiten – nach außen zu repräsentieren.62 Die prothesis mit ihrer ostentativen Klage bot einerseits Raum, um der genuinen Trauer um den Verstorbenen Ausdruck zu verleihen und seinen Verlust zu verarbeiten. Andererseits diente sie auch dazu, der größeren Gemeinschaft den Verlust des Individuums zu kommunizieren. Der Tod des Familienmitgliedes, das ja immer auch Mitglied der größeren Gemeinschaft war, musste dieser kenntlich gemacht werden und die Gemein58
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Einzig die vor dem Dipylon gefundenen Pfostenlöcher werden immer wieder als Argument für eine Errichtung des Zeltes an diesem Ort angeführt. So etwa von Stupperich 1977, 30f. und Clairmont 1983, 35f. Allerdings könnten diese auch der Aufstellung von Tribünen gedient haben und wären damit eher dem Kontext der Panathenäenprozession oder aber des Vortrages der Gefallenenreden zuzuordnen. So etwa Knigge 1988, 68f.; 157–159. Auch Stupperich 1977, 30f. erwähnt diese Möglichkeit. Vgl. hierzu Alexiou 2002, 5; Garland 1985, 24–26; deSchutter 1989, 54; Huber 2001, 126. Gerade die Darstellungen der prothesis auf Vasenbildern zeigen dies seit der geometrischen und archaischen Zeit eindeutig (siehe hierzu auch die folgende Anmerkung). Zur weiblichen Klage siehe Alexiou 2002, 5; Humphreys 1983, 86; Huber 2001, 128. Insbesondere die weißgrundigen Lekythen, die im 5. Jh. v.Chr. besonders populär waren und häufig Darstellungen der prothesis tragen, belegen dies anschaulich. Vgl. v.a. die exzellente Studie Oakleys zu dieser Gattung: Oakley 2004, 11f.; 75f. Für die geometrischen Vasen siehe Ahlberg 1971. Für eine gute Zusammenfassung der literarischen Quellen siehe Huber 2001, 32–44. Auch in Euripides’ Alkestis überlässt Admetos die Vorbereitung des Leichnams seiner Frau den Dienerinnen, während er selbst Herakles empfängt. Allerdings thematisiert das Stück gerade den falschen Umgang mit Bestattungsriten und so empfängt Admetos Herakles als Gast in seinem Haus, obwohl dies im Trauerfall nicht geschehen durfte (420–434; 509–567). Die Eingangsszene des Stückes zeigt in jedem Fall, dass kondolierende Besucher wohl üblich waren, da der Chor sich als solche Gruppe versteht und sich darüber wundert, dass er nicht empfangen wird (77–111; 213–217). Auch hier muss jedoch erwähnt werden, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt, weil mit Admetos der Herrscher von Pherai betroffen ist und kein Normalbürger.
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schaft selbst (zumindest der nähere Umkreis des betroffenen oikos) musste durch entsprechende Trauerbekundungen darauf reagieren und somit den Status des Verstorbenen und seines oikos innerhalb der Gemeinschaft anerkennen und würdigen.63 Zu diesem Zweck wurde das Haus, in dem der Verstorbene aufgebahrt wurde, entsprechend auffällig markiert,64 sodass alle Nachbarn über den Verlust informiert waren und entsprechend hierauf reagieren konnten. Die Bedeutung der prothesis für den jeweiligen oikos kann wohl kaum unterschätzt werden,65 zumal sie als eines der wenigen Elemente des Bestattungsrituals nicht durch die athenische Sepulkralgesetzgebung eingeschränkt wurde. Während nämlich andere Bestandteile wie die ekphora oder die Grabmonumente, die stärker in die Öffentlichkeit wirkten und damit wirksamer zur Selbstdarstellung des oikos und zur Mehrung sozialen und politischen Prestiges hätten genutzt werden können, massiv reguliert und eingeschränkt wurden,66 konnten die Angehörigen bei der Aufbahrung im eigenen Haus den Toten nach eigenem Ermessen ehren und beklagen. Innerhalb des abgeschlossenen Raumes des Privathauses wurden den Familien Freiheiten gewährt, die ihnen im öffentlichen Raum verwehrt blieben. Eben weil die prothesis ein so wenig reguliertes Privileg der Familie war, muss die Übernahme des Begräbnisses durch die polis einen empfindlichen Eingriff für die oikoi dargestellt haben. Nicht nur fielen auf der rituellen Ebene die vorbereitenden Akte der Waschung und Salbung weg, da die Toten ja bereits vor ihrer Rückführung kremiert worden waren. Den Angehörigen stand nicht einmal mehr der individuelle Leichnam ihres verstorbenen Mannes, Vaters, Sohnes oder sonstigen Verwandten zur Verfügung, um von diesem Abschied zu nehmen und ihm in Form von Ritualen und Beigaben die gebührende Fürsorge zukommen zu lassen. Vielmehr sahen sie nur die hölzernen Särge, in der die Asche aller Gefallenen der jeweiligen Phyle aufgehoben wurde, und mussten sich mit diesem kollektiven Fokus des Gedenkens zufrieden geben.67 Neben der rituellen und emotionalen Ebene hatte die Kollektivierung der Gebeine und
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Burkert 2011, 292 schreibt hierzu: „Den Anspruch des Toten anerkennen heißt die Identität der Gruppe bejahen, ihre Regeln akzeptieren und damit ihren Fortbestand sichern“. Üblicherweise geschah dies durch die Aufstellung von Wassergefäßen vor der Haustür, die dann auch der rituellen Reinigung nach dem Besuch des Hauses dienten. Zusätzlich konnten Kränze oder Haarlocken über der Tür angebracht werden. Siehe Alexiou 2002, 5 (mit Quellen); Kurtz/Boardman 1971, 146; Huber 2001, 37. Die Markierung diente gleichzeitig als Warnung vor dem miasma des Hauses. Besonders deutlich wird die Warnung bei Eur. Alc. 98–104. Ebd. 77–111 wird gar die fehlende Markierung des Hauses als schweres Versäumnis bemängelt. Die Bedeutung der prothesis wird auch in der Häufigkeit ihrer Darstellung in der attischen Vasenmalerei deutlich. Siehe hierzu Ahlberg 1971, passim; Oakley 2004, 75f.; 86f.; Huber 2001, 147f. Vgl. auch Morris 1994, 78, auch wenn dessen Behauptung, die prothesis stelle das zweithäufigste Motiv der weißgrundigen Lekythen dar, von Oakley 2004, 219 widersprochen wird. Siehe hierzu weiter unten 1. II. ekphora und Grablege. Siehe auch Low 2012, 15 mit Anm. 11 und 12 sowie Arrington 2015, 30–38.
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der Aufbahrung aber auch massive Auswirkungen auf der kommunikativen Ebene. So stand nämlich nunmehr die gesamte polis im Vordergrund des Rituals und nicht mehr der einzelne oikos, der – gerade in verlustreichen Jahren – wohl im Einzelnen kaum noch auszumachen gewesen sein kann. Wenn auch freilich für betroffene Familien weiterhin die Möglichkeit bestand, ihre Häuser entsprechend zu markieren und wenn auch die lokalen Strukturen sicherlich nicht völlig durch das staatliche Ritual überdeckt wurden, rückten die einzelnen oikoi doch verstärkt in den Hintergrund, indem sie in der Masse aufgingen. Nun waren sich die Urheber des Staatsbegräbnisses der Bedeutung der prothesis und der Problematik dieses Eingriffes in die Sphäre der oikoi zweifelsohne bewusst – zumal sie ja auch ihren Vorschlag zur Gestaltung des Rituals gegenüber den demokratischen Organen der polis vertreten mussten.68 Sie reagierten daher, indem sie der prothesis besonders viel Raum gaben, die Aufmerksamkeit für das Ritual erhöhten und zudem den Angehörigen der Gefallenen innerhalb des vorgegebenen Rahmens weitestgehende Freiheit zugestanden. So wurde zunächst die Dauer der Aufbahrung gegenüber dem Privatbegräbnis deutlich gesteigert. Für den privaten Rahmen war in den Bestattungsgesetzen festgelegt, dass die prothesis nicht länger als einen Tag dauern durfte.69 Für die Aufbahrung der Gefallenen hingegen wurden gleich drei volle Tage angesetzt.70 Dies ermöglichte einer größeren Zahl von Angehörigen und Betroffenen am Ritual teilzunehmen und generierte zugleich eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Ritual und die Gefallenen. Die Aufbahrung auf der Agora oder aber auf dem Platz vor dem Dipylon wird hierbei ihr Übriges getan haben, musste sie dort doch von einem Großteil der Bevölkerung bemerkt werden. Gleichzeitig wurde den Angehörigen – innerhalb des wohl üblichen Rahmens – absoluter Freiraum gewährt. Weder wurde die Teilnahme an der prothesis in irgendeiner Form eingeschränkt, noch wurden
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Vgl. Jacoby 1944, 49f. mit Anm. 63, der davon ausgeht, dass die Einführung der Praxis eines Volksbeschlusses bedurfte. Seiner Ansicht ist zuzustimmen, wurden doch schließlich für das Gefallenenbegräbnis bedeutende finanzielle und organisatorische Ressourcen der polis aufgewandt und sowohl der Polemarch als auch die boule (Bestimmung des Redners) in die Organisation eingebunden. Auch Diod. Sic. 11.33.3 weist mit seiner Formulierung „νόμον ἔθηκε“ darauf hin, dass es sich hier um einen bewussten, formalen Akt handelte. Shear 2013, 535 und Arrington 2015, 49 stimmen Jacoby ebenfalls zu. Auch in Thasos waren die Modalitäten des dortigen Gefallenenbegräbnisses durch einen Volksbeschluss festgelegt worden (s.u. Anm. 257). Demosth. or. 43.62: „ἐκφέρειν δὲ τὸν ἀποθανόντα τῇ ὑστεραίᾳ ᾗ ἂν προθῶνται, πρὶν ἥλιον ἐξέχειν“. Die Schilderung bei Plat. leg. 959A ist etwas undurchsichtig, jedoch scheint für ihn mit dem ersten Tag der Tag des Todes gemeint zu sein, während der zweite alleine der prothesis diente und am dritten dann die ekphora stattfinden sollte. Somit wäre auch hier für die prothesis nur ein Tag angesetzt. Deutlich wird dies bei Antiph. 6.34. So auch Burkert 2011, 293; Garland 1985, 26; deSchutter 1989, 55; Stupperich 1977, 32. Loraux 1981, 19 weist ebf. explizit auf die längere Dauer hin. Thuk. 2.34: „τὰ μὲν ὀστᾶ προτίθενται τῶν ἀπογενομένων πρότριτα σκηνὴν ποιήσαντες“. Im Gegensatz zu „τριταία“ in Plat. leg. 959A (siehe die vorherige Anm.) wird hier durch „πρότριτα“ klar die Dauer von drei Tagen für die prothesis allein ausgedrückt.
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1. Der patrios nomos in Athen
Vorgaben bezüglich der Beigaben und sonstigen Verrichtungen gemacht. Vielmehr lässt Thukydides’ Formulierung „καὶ ἐπιφέρει τῷ αὑτοῦ ἕκαστος ἤν τι βούληται“71 den Teilnehmerkreis völlig offen72 und betont zudem noch die Freiheit in der Darbringung von Grabbeigaben. Zugleich aber wurde die Gruppe der Trauernden visuell und räumlich vom Rest der Gemeinschaft getrennt, indem die Aufbahrung in das von Thukydides erwähnte Zelt verlegt wurde. Dieser Entscheidung mögen zum Teil kultische Überlegungen zugrunde gelegen haben, wie etwa die Notwendigkeit der Abtrennung des Aufbahrungsortes, um eine Verunreinigung der gesamten polis zu vermeiden. Vor allem aber dürfte hinter der visuellen und räumlichen Abgrenzung der Trauergesellschaft die Absicht gestanden haben, den Angehörigen gleichzeitig größtmöglichen Freiraum in ihrer Klage zuzugestehen und dennoch eine gewisse Kontrolle über die Wirkung in den öffentlichen Raum hinein zu wahren.73
ekphora und Grablege Auf die Aufbahrung und Beklagung der Toten folgte die feierliche Überführung ihrer sterblichen Überreste zum Ort der Bestattung. Dieser Teil des Begräbnisses, der als ekphora bezeichnet wurde, war für den privaten Bereich in Athen wie auch in einer Vielzahl anderer griechischer Gemeinwesen bereits seit der Archaik in höchstem Maße reguliert und stark eingeschränkt worden. Tatsächlich diente ein Großteil der frühesten bekannten Gesetze aus dem griechischen Raum der Beschränkung der ekphora,74 was zweifelsohne auf deren enormes Potential zur Selbstdarstellung einzelner oikoi zurückzuführen ist. Die Prozession, die vom Haus des Verstorbenen durch die Stadt zu einem der extraurbanen Friedhöfe führte und dabei nicht nur von Angehörigen, Freunden und Bekannten des Verstorbenen begleitet wurde, sondern zusätzlich noch durch den Einsatz professioneller Klagefrauen oder Musiker verstärkt werden konnte, eignete sich hervorragend zur Darstellung des Vermögens und der sozialen Stellung des Verstorbenen und
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Thuk. 2.34. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Beschränkungen des Teilnehmerkreises bei der ekphora betrachtet. S.u. 1. II. ekphora und Grablege. Bereits Jacoby 1944, 62 sah im starken Freiraum, der den Familien in diesem Punkt zugestanden wurde, einen Kompromiss und ein Entgegenkommen der „movers“ des Gefallenenbegräbnisses. Bedauerlicherweise führte er den Gedanken jedoch nicht weiter aus. Holst-Warhaft 1992, 123 hingegen ist nicht der Ansicht, dass hier im staatlichen Ritual Zugeständnisse gegenüber den oikoi gemacht worden wären. Eine vollständige Auflistung und Diskussion aller überlieferten Sepulkralgesetze inklusive der nicht-athenischen findet sich bei Huber 2001, 40–44.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
des jeweiligen oikos.75 In Athen soll daher bereits unter Solon eine erste Sepulkralgesetzgebung eingeführt worden sein, die u.a. eben auch die ekphora einschränkte. Sie wurde vermutlich im Zuge der Kleisthenischen Reformen oder doch kurze Zeit später durch weitere Bestimmungen ergänzt,76 sodass für die ekphora schließlich der Einsatz von Musikern und Klagefrauen sowie das Singen vorbereiteter Klagegesänge begrenzt oder verboten und überdies der Teilnehmerkreis stark eingeschränkt wurde. So waren Frauen erst ab einem gewissen Verwandtschaftsgrad oder einem bestimmten Alter zugelassen, laute Klage sowie die Klage durch Schlagen der Brust oder Zerkratzen der Arme wurden komplett verboten und überdies musste die ekphora noch vor Sonnenaufgang abgehalten werden. Die Gesetze zielten also – wie auch die Wiedergabe der Bestimmungen in Platons nomoi zeigt – explizit darauf ab, die Wahrnehmbarkeit und die öffentliche Wirkung der Prozession einzuschränken: δακρύειν μὲν τὸν τετελευτηκότα ἐπιτάττειν ἢ μὴ ἄμορφον, θρηνεῖν δὲ καὶ ἔξω τῆς οἰκίας φωνὴν ἐξαγγέλλειν ἀπαγορεύειν, καὶ τὸν νεκρὸν εἰς τὸ φανερὸν προάγειν τῶν ὁδῶν κωλύειν, καὶ ἐν ταῖς ὁδοῖς πορευόμενον φθέγγεσθαι, καὶ πρὸ ἡμέρας ἔξω τῆς πόλεως εἶναι.77
Völlig anders stellte sich demgegenüber die ekphora beim staatlichen Begräbnis der Gefallenen dar. Hier wurde die Aufmerksamkeit der gesamten Gemeinschaft nicht nur gesucht, sondern regelrecht eingefordert. Thukydides beschreibt das Ereignis wie folgt: ἐπειδὰν δὲ ἡ ἐκφορὰ ᾖ, λάρνακας κυπαρισσίνας ἄγουσιν ἅμαξαι, φυλῆς ἑκάστης μίαν· ἔνεστι δὲ τὰ ὀστᾶ ἧς ἕκαστος ἦν φυλῆς. μία δὲ κλίνη κενὴ φέρεται ἐστρωμένη τῶν ἀφανῶν, οἳ ἂν μὴ εὑρεθῶσιν ἐς ἀναίρεσιν. ξυνεκφέρει δὲ ὁ βουλόμενος καὶ ἀστῶν καὶ ξένων, καὶ γυναῖκες πάρεισιν αἱ προσήκουσαι ἐπὶ τὸν τάφον ὀλοφυρόμεναι. τιθέασιν οὖν ἐς τὸ δημόσιον σῆμα.78
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Vgl. Garland 1985, 21–23; Kavoulaki 2005, 133–136; Alexiou 2002, 6f.; Ehrhardt 2008, 190. Für die Gesetze siehe Demosth. or. 43.57–62; Plut. Sol. 21.4f.; Cic. leg. 2.23.59–27.68. Auch Platon scheint in den Nomoi 958D–960B viele bereits existierende Gesetze aufzugreifen. Ob einige der Regelungen wirklich bereits Solon zuzuschreiben sind, ist freilich fraglich. Allerdings spricht einiges dafür, dass viele der Gesetze und v.a. das sog. post-aliquanto Gesetz (Cic. leg. 2.26.64f.) bereits Ende des 6. Jh. v.Chr. in Kraft waren. So scheinen die Regelungen zum einen einem gestärkten egalitären und v.a. explizit antiaristokratischen Geist entsprungen zu sein. Zum anderen weist auch das völlige Verschwinden attischer Grabreliefs gegen Ende des 6. Jh. v.Chr. darauf hin, dass zumindest einige der Gesetze spätestens zur Zeit der Perserkriege entstanden sein müssen. Plat. leg. 959E–960A. Hervorhebungen C.S. Vgl. auch die bereits genannten Stellen bei Cicero, Plutarch und in geringerem Maße auch Demosthenes. Siehe zudem Huber 2001, 39–44. Thuk. 2.34.3–5.
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1. Der patrios nomos in Athen
Betrachtet man zunächst den Kreis der Teilnehmer, fällt auf, dass der Historiker ausdrücklich darauf hinweist, dass sowohl Bürger der Stadt als auch Fremde an der Zeremonie teilnehmen konnten, wenn sie es wünschten. Hingegen war der Kreis der weiblichen Teilnehmer wie auch beim privaten Begräbnis auf die Angehörigen („προσήκουσαι“) der Gefallenen beschränkt.79 Wurde bei der privaten ekphora zudem wenigstens versucht, die Klage einzudämmen, erklärt Thukydides explizit, dass die Frauen wehklagten („ὀλοφυρόμεναι“). Ein Versuch der Einschränkung wird nicht erwähnt. Wichtig ist hierbei, dass „ἐπὶ τὸν τάφον“ aufgrund des Akkusativs so zu verstehen ist, dass die Frauen ‚während des Begräbnisses‘ klagten; d.h. die gesamte Zeremonie unter Klage begleiteten und nicht nur, wie häufig angenommen ‚am Grab‘ klagten.80 Interessant ist außerdem die explizite Offenheit bezüglich der männlichen Teilnehmer, die sowohl Bürger als auch xenoi umfassten. Hierin zeigt sich erneut der Versuch, möglichst große Aufmerksamkeit zu erzeugen und so viele Teilnehmer wie möglich für das Staatsbegräbnis zu mobilisieren. Wie einige Passagen aus attischen Gerichtsreden des 4. Jh. v.Chr. zeigen, muss gerade für die männlichen Bürger Athens die Teilnahme am patrios nomos quasi Pflicht gewesen sein. So wirft etwa Lykurg in seiner Rede gegen Leokrates dem Angeklagten vor, dieser habe weder dabei geholfen, die Leichname der Gefallenen von Chaironeia zu bergen, noch an ihrer ekphora teilgenommen.81 Um den Vorwurf des Hochverrats zu bekräftigen, setzt Lykurg die Teilnahme an der ekphora hier mit Bürgerpflicht gleich. Auch Demosthenes sucht in seiner Kranzrede Aischines zu diskreditieren, indem er beschreibt, wie dieser nach der Schlacht von Chaironeia ungerührt geblieben sei und keine Träne verschüttet habe („οὐδ᾽ ἐδάκρυσεν, οὐδ᾽ ἔπαθεν τοιοῦτον οὐδὲν τῇ ψυχῇ“).82 Dass er hiermit auch auf das Staatsbegräbnis der Gefallenen anspielte, kann nicht bezweifelt werden. Trotz der für die Gerichtsreden üblichen rhetorischen Überformung und emotionalen Aufladung wird deutlich, dass eine starke Erwartung bestand, dass ein Bürger und insbesondere ein führender Politiker am staatlichen Gefallenenbegräbnis teilnahm und seine Trauer um die Toten zeigte. Gerade in Korrelation mit den oben geäußerten Überlegungen zur einer bewussten Blockade des öffentlichen Raumes durch die prothesis erscheint damit die Idee einer von der polis ausgesprochenen ‚Staatstrauer‘ immer attraktiver. Demosthenes’ Aussage, dass „ἅπασα μὲν ἡ πατρὶς“an der Beisetzung der Kriegstoten teilgenommen habe, mag demnach mehr Wahrheit enthalten als zunächst vermutet.83 79
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Es ist wohl berechtigt, zu vermuten, dass hierbei die gleichen Verwandtschaftsgrade zugelassen waren, wie auch beim privaten Begräbnis. Letztere Bedeutung wäre durch einen Dativ angegeben worden. Siehe ebenso Hornblower 1991, 193f. Eine Entscheidung scheut Binder 2007, 271, wo übersetzt wird: „auch die Frauen sind anwesend und halten die Totenklage“. Siehe Lykurg. Leok. 43 und besonders explizit 45. Demosth. or. 18.291. Demosth. or. 60.33.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
Interessant ist bezüglich dieses Komplexes noch die Frage, ob das Gefallenenbegräbnis an eines der staatlichen Feste bzw. Festtage gekoppelt war. In diesem Fall wäre das alltägliche öffentliche Leben ohnehin schon angehalten oder zumindest verlangsamt gewesen, was die Teilnahme einer großen Zahl von Polisbewohnern zusätzlich begünstigt hätte. Schon Felix Jacoby widmete sich diesem Thema und vertrat die These, dass das Gefallenenbegräbnis mit den Genesia, einem öffentlichen Fest für alle Toten, verknüpft gewesen sei.84 Da über dieses Fest allerdings nur ausgesprochen wenig bekannt ist,85 basiert Jacobys These, wie dieser selber eingesteht,86 größtenteils auf Vermutungen und wird dementsprechend skeptisch in der Forschung diskutiert. Christoph Clairmont etwa lehnt Jacobys These ab und spricht sich stattdessen, wie schon Ulrich von Wilamowitz und andere vor ihm,87 für die Verknüpfung des Gefallenenbegräbnisses mit den Theseia aus.88 Diese These ist allerdings ebenfalls höchst problematisch, da sie sich lediglich auf die Verknüpfung der Theseia und der Epitaphia in einigen Inschriften des späten 2. und frühen 1. Jh. v.Chr.89 stützt und es keinerlei Beleg für diese Verbindung in früheren Zeiten gibt.90 Reinhard Stupperich gibt zudem zu bedenken, der Termin der Theseia, die Anfang des Monats Pyanepsion (Oktober/November) abgehalten wurden, habe zu früh im Jahr gelegen, um die Gefallenen des Endes einer Kampagne einzuschließen.91 So spricht Stupperich zwar Zweifel an beiden diskutierten Thesen aus, stimmt aber letztlich zumindest der Überlegung zu, dass es einen festen Termin für das Gefallenenbegräbnis gegeben haben müsse. Einerseits müsse das Ereignis lange genug im Voraus bekannt gewesen sein, damit auch Teilnehmer von außerhalb Athens anreisen konnten. Andererseits hätten die Athener „überhaupt solche Dinge gern fest im Festkalender“
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Siehe besonders Jacoby 1944, 61–63. Die einzigen Quellenbelege bieten Hdt. 4.26, wo gesagt wird, es handele sich um ein jährliches Opferfest der Griechen bei dem die Söhne den Vätern opferten, sowie Philochoros FGrH 328 F 168, der berichtet, Solon habe es in ein öffentliches Fest („ἐπί τῆς δημοτελοῦς ἑορτῆς“) umgewandelt, das am 5. Boedromion stattfinde. Die neuere Behandlung des Themas durch Lambert 2002 macht zwar einige wichtige zusätzliche Erkenntnisse, wie die Involvierung der Demen, wahrscheinlich, kann jedoch in Bezug auf eine Verknüpfung mit dem Gefallenenbegräbnis keine neuen Informationen bieten. Siehe Jacoby 1944, 62. Die älteren Vertreter dieser These listet Stupperich 1977, 235 Anm. 6 auf. Siehe Clairmont 1983, 22–28. IG II/III2 1006 (122/23 v.Chr.); 1008 (118/19 v.Chr.); 1009 (117/16 v.Chr.); 1028 (100/99 v.Chr.); 1029 (95/94 v.Chr.); 1030 (nach 94/93 v.Chr.). Die Datierungen entstammen den Angaben in IG. Siehe Loraux 1981, 29 mit Anm. 89; Stupperich 1977, 236. Clairmont sucht die Verbindung mit den Theseia freilich, um sie als zusätzlichen Beleg seiner ebenfalls stark hypothetischen These der Einführung bzw. Formalisierung des patrios nomos im Zuge der Überführung der Gebeine des Theseus einsetzen zu können. Vgl. Stupperich 1977, 236 und 32. Dieses Argument würde umso stärker für die Genesia gelten, die einen Monat früher abgehalten wurden.
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fixiert.92 Hiergegen ließe sich anführen, dass die jährlich individuelle Festlegung eines Termins für das Gefallenenbegräbnis durchaus genügend Vorlauf gelassen haben könnte, um auch entfernt wohnenden Betroffenen die Teilnahme zu ermöglichen. Die Überreste der Gefallenen waren ohnehin bereits kremiert und so bestand kein Zeitdruck, das Begräbnis sofort nach Ankunft der Gebeine in Athen abzuhalten. Auch zeigt das Beispiel der Königsbestattungen in Sparta, dass eine solche spontane Organisation eines Staatsbegräbnisses auch in einem sehr weitläufigen Territorium durchaus zu leisten war. Die Idee eines festen Termins, der dann auch langfristige Planung seitens der potentiellen Teilnehmer erlaubte, scheint daher durchaus attraktiv, ist aber keineswegs zwingend notwendig.93 Ob das Gefallenenbegräbnis nun mit einem Fest verbunden und damit noch zusätzlicher Aufmerksamkeit ausgesetzt war, kann anhand des vorliegenden Materials schlichtweg nicht entschieden werden. Somit müssen auch alle Schlussfolgerungen bezüglich etwaiger Konsequenzen für den Kreis der Teilnehmer des Rituals nur Spekulation bleiben. Ein letzter Aspekt scheint bezüglich der Teilnahme an der ekphora noch von Bedeutung: die Ordnung der Prozession nach Phylen. Wie Thukydides beschreibt, wurden die Gebeine der Verstorbenen nach Phylen aufgeteilt und jeweils in einem larnax aufgebahrt. Diese larnakes seien dann einzeln auf hohen Wagen zum Ort der Bestattung überführt worden, wobei sie von den bei Thukydides genannten Personengruppen begleitet wurden. Die offensichtliche Bedeutung, die den Phylen bei der ekphora zukam und die sich auch in der Ordnung der Gefallenenlisten zeigt, legt nahe, dass sie auch in die Organisation des Begräbnisses oder zumindest der ekphora involviert waren. So ist auch denkbar, dass die Mitglieder in gewissem Maße zur Repräsentation ihrer Phyle verpflichtet waren oder sich zumindest dazu verpflichtet fühlten.94 Diverse Autoren schlagen zudem vor, dass die Prozession von einer militärischen Eskorte begleitet wurde, was in Anbetracht des militärischen Hintergrundes des Begräbnisses sowie der regelmäßigen Anwesenheit von Kriegern auf frühen Darstellungen der ekphora durchaus wahrscheinlich ist.95 Im-
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Stupperich 1977, 32. Auch Prinz 1997, 28 hält einen festen Termin nicht für nötig. Seine Lesung von Plat. Men. 234B, nach der die boule den Termin für das Gefallenenbegräbnis auswählen würde, ist allerdings nicht korrekt. Dort wird in keiner Weise die Festlegung eines Termins erwähnt. Zur Bedeutung der Phylen im alltäglichen Leben siehe Fredal 1961, 113–117. Gleichzeitig ist klar, dass nicht die Phyle, sondern die Deme die wichtigere soziale Einheit darstellte (vgl. Bruit Zaidman 2006, passim; Whitehead 1986, passim; Connor 1994, 38–40; Fredal 1961, 113–117). Für das vorliegende Argument scheint dies jedoch sekundär, da auch ein Pflichtgefühl gegenüber der Deme sich in der Teilnahme unter dem Schirm der Phyle geäußert hätte. Vgl. Kavoulaki 2005, 138. Zu den Vasenbildern siehe Vermeule 1979, Abb. 15 u. 16 mit Rayet 1884, 6. Loraux 1981, 20 äußert die Ansicht, es könne überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass das Heer in voller Ausrüstung an der ekphora teilgenommen habe. Auch Prinz 1997, 32 geht davon aus und verweist ebenfalls auf die im Folgenden zitierte Stelle aus Platons Nomoi, kennzeichnet dies allerdings als
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merhin handelte es sich bei der Athener Armee ja auch um ein Bürgerheer, sodass die Trennung zwischen Soldaten und Zivilbürgern ohnehin arbiträr war. Platon schildert in den Nomoi seine Vorstellung einer solchen Eskorte für den Fall des Begräbnisses der Euthynen, wobei besonders die Involvierung der neoi interessant ist.96 Auch für das Gefallenenbegräbnis wäre gut vorstellbar, dass die Epheben am Ritual teilnahmen, wurden doch gerade die Söhne der Verstorbenen in den epitaphioi logoi explizit angesprochen und zur Nachahmung der Taten der Gefallenen animiert.97 Auch die demonstrative Hervorhebung der durch die polis ausgerüsteten Kriegswaisen bei den Großen Dionysien lässt eine besondere Involvierung im Begräbnis plausibel erscheinen, wenn sie sich auch freilich nicht belegen lässt. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass die ekphora beim Gefallenenbegräbnis nicht nur einer breiten Masse von Teilnehmern offen stand, sondern dass gerade die attischen Bürger zur Teilnahme angehalten und in gewissem Sinne gar verpflichtet waren. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass selbst in einem Jahr mit nur wenigen Kriegstoten doch auch eine ansehnliche Menschenmenge zusammenkam, um an den Bestattungsriten teilzunehmen. Diese zog dann von der Agora oder aber dem Platz vor dem Dipylon über den monumentalen Dromos, der sowohl Teilnehmern als auch Zuschauern reichlich Platz bot,98 zur jeweiligen Grabstätte. Es wird deutlich, wie erschlagend die staatliche ekphora in ihrer Pracht und der schieren Masse an Teilnehmern im Gegensatz zu ihrem privaten Gegenstück gewirkt haben muss.99 Im Zentrum des enorm gesteigerten Rituals standen dabei die Phylen, die nicht nur die zugrundeliegende
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Beleg der Teilnahme des Heeres, obwohl es allerhöchstens als Hinweis hierauf aufgefasst werden kann. Auch Low 2010, 347f. hebt noch einmal dezidiert die militärische Prägung der Praxis hervor. Plato leg. 947C–D: „ἕωθεν δ᾽ εἰς τὴν θήκην φέρειν αὐτὴν μὲν τὴν κλίνην ἑκατὸν τῶν νέων τῶν ἐν τοῖς γυμνασίοις, οὓς ἂν οἱ προσήκοντες τοῦ τελευτήσαντος ἐπιόψωνται, πρώτους δὲ προϊέναι τοὺς ἠιθέους τὴν πολεμικὴν σκευὴν ἐνδεδυκότας ἑκάστους, σὺν τοῖς ἵπποισι μὲν ἱππέας, σὺν δὲ ὅπλοις ὁπλίτας, καὶ τοὺς ἄλλους ὡσαύτως“. Besonders deutlich wird dieser Aufruf in Thuk. 2.45 und Plat. Men. 247A–C. Die anderen epitaphioi logoi enthalten diesen Aufruf, dem Vorbild der Gefallenen zu folgen, ebenfalls in mehr oder minder direkter Form. Auch im Falle der späteren Epitaphia traten Epheben zu den Wettbewerben an, ohne dass jedoch geklärt ist, inwiefern dies Rückschlüsse auf das Gefallenenbegräbnis zulässt. Siehe hierzu auch Anm. 147. Neben den Söhnen werden auch die Brüder zur Nachahmung aufgerufen. Auch unter diesen mögen sich jüngere Brüder gefunden haben, die noch ihre Ephebie zu absolvieren hatten. Auch wenn der Dromos im 5.Jh. v.Chr. nochmals verbreitert wurde, erreichte er doch schon in archaischer Zeit eine Breite von 30m. Vgl. Clairmont 1983, 35f. Auch ist durchaus denkbar, dass die platzähnliche Anlage vor dem Dipylon – insofern sie nicht für die prothesis genutzt wurde – für die Aufstellung von Tribünen verwendet wurde. Dort aufgedeckte Pfostenlöcher mögen darauf hinweisen, könnten aber auch dem Kontext der Parade anlässlich der Panathenäen zugeordnet werden. Siehe hierzu und auch zur monumentalen Gestaltung des Dromos und des Dipylon: Knigge 1988, 68f.; 157–159, sowie Stupperich 1977, 30f. So auch Kurtz/Boardman 1971, 121.
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1. Der patrios nomos in Athen
Ordnung darstellten, sondern auch rein visuell die dominierende Struktur bildeten.100 Demgegenüber konnten einzelne Familien oder auch Angehörige einer Deme in der langen Prozession, die Teilnehmer wie Zuschauer mit optischen und akustischen Reizen überflutete,101 wohl kaum ausgemacht und zugeordnet werden. Wie also schon bei der prothesis wurde auch bei der ekphora das Ritual amplifiziert, im Gegenzug aber eine Verschleierung der sozialen Herkunft bewirkt, die die Identifikation einzelner Untereinheiten unmöglich machte. Wenig ist bekannt über die Grablege selbst, die diesen Teil des Begräbnisses abschloss. Wahrscheinlich wurde sie von Trankopfern am Grab selbst begleitet, die vom Polemarchen durchgeführt wurden.102 Darüber hinaus lassen sich – neben dem Darbringen von Grabbeigaben – aus den Quellen allerdings nur wenige Informationen gewinnen. Garland äußert hierzu, er könne sich nicht vorstellen, dass nicht wenigstens eine einigermaßen feste Liturgie für die eigentliche Bestattung existiert habe,103 und tatsächlich liegt eine solche Vermutung durchaus nahe. Da jedoch genauere Zeugnisse dieses Teils des Rituals nicht vorliegen und auch das archäologische Material keine aussagekräftigen Informationen liefert, ist es nicht möglich, hierzu genauere Angaben zu machen.
Der epitaphios logos Schon alleine die große Zahl der antiken wie modernen Autoren, die sich zum epitaphios logos für die gefallenen Athener äußern, macht deutlich, von welcher Bedeutung die Rede für das Gefallenenbegräbnis und dessen Verständnis ist.104 Dennoch soll dieser Teil des Brauches hier 100
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Die larnakes, die vermutlich prominent auf hohen Wagen transportiert wurden (für entsprechende Darstellungen von Szenen privater ekphorai siehe Garland 1985, Abb. 9; Vermeule 1979, Abb. 16; Ahlberg 1971, Abb. 54a), boten sicherlich die dominante, wenn nicht einzige, Orientierungshilfe in dem langen Zug aus lauthals klagenden Familienmitgliedern, Bürgern und Fremden, der die Toten zum demosion sema geleitete. Hornblower 1991, 293f. kommentiert etwa die Erwähnung der klagenden Frauen trocken: „We should think of this as noisy“. Dies wird geschlossen aus der leitenden Funktion, die der Polemarch für den epitaphios agon ausübt. Siehe Aristot. Ath. pol. 58.1; Philostr. soph. 2.30.623; Heliod. Aith. 1.17. Vgl. u.a. Stupperich 1977, 56. Rayet 1884, 4 und Garland 1985, 35f. merken zudem an, dass bei privaten Begräbnissen, zumindest solange bei diesen in frühen Zeiten noch Blutopfer üblich waren, wohl eine ἐγχυτρίστρια als Aufseherin für diese bestimmt war. Das Verschwinden der Blutopfer am Grab wird mit der Verlagerung des perideipnon in das Haus des Verstorbenen in Verbindung gebracht. Siehe Burkert 2011, 294f. Siehe Garland, 1985, 35f. Ähnlich auch Kurtz/Boardmann 1971, 144f. Als wichtigste Arbeiten zum epitaphios logos selbst seien hier nur die Abhandlungen von Loraux 1981; Kennedy 1963, bes. 154–195 und Walters 1980 genannt. Auf weitere Werke wird an den entsprchenden Stellen verwiesen.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
nur in seinen Grundzügen besprochen und nicht im Detail behandelt werden. Zum einen würde eine tiefgehende Analyse den Rahmen dieser Arbeit sprengen, ließen sich doch problemlos ganze Monographien zu einzelnen Aspekten der Gefallenenreden verfassen. Zum anderen entbehrt die Rede jeglicher Vergleichsobjekte aus anderen poleis, sodass sie für eine vergleichende Untersuchung des Gefallenengedenkens in den verschiedenen griechischen poleis nur wenige Anknüpfungspunkte bietet. Ich will den Themenkomplex daher nicht in allen Details beleuchten, sondern mich auf die grundlegenden Charakteristiken und primären Funktionen innerhalb des patrios nomos beschränken. Zunächst muss ein grundlegendes Problem bezüglich der Überlieferung zum epitaphios logos konstatiert werden, handelt es sich doch bei einem Großteil der erhaltenen Grabreden nicht um direkte Niederschriften historischer Reden. Der epitaphios logos des Perikles etwa, den Thukydides wiedergibt, müsste gemäß dem Anspruch, den der Historiker in seinem sog. ‚Methodenkapitel‘105 an sich selbst stellt, im besten Fall eine möglichst präzise Rekonstruktion der Rede des attischen Politikers sein. Vor allem aber ist die Rede fest in den Kontext des komplexen thukydideischen Geschichtswerkes eingebunden und muss in ihrer Repräsentativität der Gattung und ihrer Historizität zumindest hinterfragt werden.106 Andere epitaphioi logoi, wie etwa die angebliche Rede der Aspasia in Platons Menexenos, sind reine Produkte der Fantasie ihrer Autoren,107 während es sich bei den Beispielen Lykurgs und Isokrates’ nicht einmal um Grabreden handelt.108 Für den epitaphios logos des Lysias und den stark fragmentarischen des Gorgias wiederum stellt sich die Frage, ob die beiden Autoren überhaupt als Redner in Frage kamen,
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Siehe Thuk. 1.22, wo der Historiker die in seinem Werk wiedergegebenen Reden thematisiert. Zur Diskussion siehe Derderian 2001, 162; Loraux 1981, 9f.; Prinz 1997, 93f. Ziolkowski 1981 versucht in seiner Abhandlung zu zeigen, dass die Rede aus dem Werk des Thukydides im Ganzen durchaus dem ‚gängigen‘ epitaphios logos entspricht, ohne hierbei zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Loraux kann in ihrer Dissertation deutlich ausgereiftere Ergebnisse bieten (siehe die vorherige Anmerkung). Auch wenn Platon (Men. 236B) selber behauptet, der von ihm referierte epitaphios logos basiere zum Teil auf einer Grabrede des Perikles. Gemeint ist wohl nicht der epitaphios logos aus dem Werk des Thukydides, sondern jene Rede, die Perikles auf die Gefallenen des Jahres 440/39 v.Chr. gehalten hatte. Vgl. hierzu Loraux 1981, 10; Derderian 2001, 163; Stupperich 1977, 33f.; 36. Die Auswertung des platonischen epitaphios logos wird zudem dadurch erschwert, dass es sich hierbei eindeutig um eine Parodie handelt. Zwar wird dies von einigen Forschern bestritten, jedoch lässt die Einleitung des Dialogs (234a–236d) hieran wohl keinen Zweifel. Siehe hierzu v.a. die exzellente Arbeit von Haskins 2005, 25–32 aber auch Kennedy 1965, 158–161; Walters 1980, 7; Binder 2007, 92–97. Lykurg fügt in seine Anklagerede gegen Leokrates einen Abschnitt (45–52) zur Ehrung der Gefallenen von Chaironeia ein, der klar an die epitaphioi logoi angelehnt ist. Ähnlich orientiert sich auch das Lob Athens im Panegyrikos des Isokrates stark an der Gattung. Zu Lykurg vgl. Binder 2007, 85. Zu Isokrates siehe ebd. 41–45.
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besaß doch keiner von beiden das athenische Bürgerrecht.109 Jene Rede, die unter dem Namen des Demosthenes überliefert ist, wird schließlich von einem Großteil der Forschung in ihrer Authentizität in Frage gestellt und ist somit ebenfalls nur mit äußerster Vorsicht zu untersuchen, obwohl sich neben den Zweiflern auch eine große Zahl von vehementen Verfechtern ihrer Echtheit findet.110 So bleibt nur die Rede des Hypereides für die Toten des Lamischen Krieges, die als einzige ohne größeren Widerstand als authentische Gefallenenrede angesehen wird.111 Nur wenige Exemplare solcher Reden sind also überhaupt erhalten und von diesen wenigen Beispielen muss für den Großteil zudem gefragt werden, ob sie überhaupt repräsentativ für die Gattung sind. Vera Binder fasst das resultierende Problem wie folgt zusammen: „Wie kann man den Regelfall aus lauter Ausnahmen rekonstruieren? Und wie umgekehrt die einzelnen erhaltenen Epitaphien in ihrer Besonderheit würdigen, ohne über den Regelfall als Maßstab zu verfügen?“112 Eine Antwort auf diese Frage bleibt sie ebenso schuldig wie auch die anderen Autoren, die sich dem Thema widmen und diese Problematik durchaus erkennen.113 Selbst Nicole Loraux, die sich wohl am intensivsten mit der Materie auseinandersetzt, kann das Problem nicht vollends lösen und entwickelt in ihrer Dissertation ein Modell, das letztlich doch wieder zu großen Teilen auf dem thukydideischen epitaphios logos basiert. Auch ich will hier keine Lösung anbieten, da das Ziel dieses Abschnitts nicht in einer intensiven Behandlung der Grabrede als Genre besteht, sondern darin, ihre Funktion innerhalb des Rituals herauszuarbeiten. Daher wird es ausreichen,
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Stupperich 1977, 35; 37; Binder 2007, 154f. und Prinz 1997, 28f. sprechen sich für die Möglichkeit aus, dass auch Metöken als Redner ausgewählt werden konnten. Loraux 1981, 9f. hält es für ausgeschlossen, dass ein Nicht-Bürger mit der Ehre der Rede betraut worden sein solle. Bezüglich der Rede des Lysias wiederum stellen einige Forscher zudem die Echtheit aufgrund stilistischer und sprachlicher Unterschiede in Frage. Binder 2007, 152–155 fasst die diesbezügliche Diskussion anschaulich zusammen und argumentiert für die Zuordnung zum Werk des Lysias. Vgl. hierzu auch Derderian 2001, 163 sowie die folgende Anmerkung zur ähnlichen Argumentation bezüglich der Zuweisung der demosthenischen Rede. Für eine knappe Zusammenfassung der Diskussion siehe Loraux 1981, 9f. sowie Binder 2007, 204f. Die Autoren stellen sich auf den Standpunkt, dass die stilistischen Unterschiede einzig der Besonderheiten der Gattung geschuldet seien. Ähnlich argumentiert auch Stupperich 1977, 37f. Worthington 2003 widmet sich der Frage im Detail, kommt aber ebenfalls zu keinem eindeutigen Schluss und hält beide Optionen für möglich. Vgl. Loraux 1981, 9; Binder 2007, 247; Stupperich 1977, 38. Einen ausgezeichneten Überblick über die Problematik der überlieferten Reden bietet auch Shear 2013, 511f. Binder 2007, 4. Hier folgt die Autorin klar Loraux 1981, 9f. So sind auch die Ergebnisse von Ziolkowski 1981 mit Skepsis zu betrachten. Zwar kann er zumindest eine grobe Liste typischer Elemente inklusive charakteristischer topoi liefern, die auch von Binder 2007 und anderen aufgegriffen wird. Da die Untersuchung aber eben völlig auf der Auswertung von Reden basiert, deren Repräsentativität für die Gattung zumindest fraglich ist, bleiben auch seine Ergebnisse extrem problematisch.
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sich im Folgenden auf das „Grundgerüst“114 an Themen und Motiven des epitaphios logos zu stützen, welches durch die Arbeiten von Loraux und anderen Autoren bereits etabliert wurde.115 Die grundlegende Funktion der staatlichen Grabrede bestand darin, die Bevölkerung der polis hinter ebendieser zu sammeln und ihr gemeinsame Identifikationspunkte zu bieten. Insbesondere nach einer schweren Niederlage sollten so die Bürger zum Weiterkämpfen motiviert und ganz allgemein ein normales Funktionieren der polis ermöglicht werden.116 Dieser Effekt sollte mithilfe unterschiedlicher Mittel, die sich fast durchgängig in allen überlieferten Gefallenenreden finden, erreicht werden. Einer dieser Ansätze bestand dabei in der ‚Umwandlung‘ der Klage um die Toten in das Lob derselben. Ein Begräbnis sollte dem Verstorbenen vor allem Anerkennung und Ehre bringen, aber zugleich auch dessen Andenken sichern und μνήμη stiften.117 Wurde dies beim privaten Begräbnis primär durch die Klage erreicht, wurde das Instrument der Erzeugung von μνήμη im epitaphios logos ausgetauscht.118 Anstelle von Trauer und Klage, sollte den Gefallenen Lob und Ehre – ja gar Neid! – entgegengebracht werden.119 Indem die polis die Toten mit heldengleichen Ehren bedachte, wurde das Andenken an die Gefallenen gesichert, perpetuiert und zugleich die Trauer über den Verlust des Lebens durch die Aussicht auf vermeintlich ‚unsterblichen‘ Ruhm substituiert.120 114 115 116 117 118
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Binder 2007, 4f. Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Binder 2007, 1–10. So auch Walters 1980, 2; 9. Siehe Holst-Warhaft 1992, 123. Bedauerlicherweise ist nicht bekannt, ob auch bei privaten Begräbnissen in Athen Reden auf die Gefallenen gehalten wurden. Die antiken Autoren schweigen weitestgehend zu diesem Komplex und die wenigen Stellen, die eine solche Existenz zu bestätigen scheinen, sind nur mit äußerster Skepsis zu betrachten. Eine der wichtigsten Quellen ist Cicero (leg. 2.26.63–65), der behauptet, dass auch die Griechen solche Reden gehalten hätten. Er versucht dabei aber ganz offensichtlich, die griechischen Sitten als Vorbild der römischen Bräuche darzustellen und blendet dementsprechend möglicherweise die römische laudatio funebris auf die griechische Bestattung zurück. Zudem deuten die Autoren der staatlichen Reden zumindest an, dass die Rede eine Innovation sei, die für das Gefallenenbegräbnis geschaffen wurde. Deutlich wird dies insbesondere bei Demosth. or. 20.141, aber auch bei Thuk. 2.35. In Lykurg. Leok. 51 klingt dieser Gedanke zumindest an. Zwar lässt sich aus dem Schweigen der Quellen und einem vagen Hinweis kein Argument aufbauen, doch sollten zumindest starke Zweifel daran aufkommen, dass ein privates Äquivalent zum staatlichen epitaphios logos bestand. Die Vorstellung, dass einige Worte über den Toten gesprochen wurden ist zwar plausibel, eine eloquente, längere Rede ist hingegen unwahrscheinlich. Die moderne Forschung folgt weitestgehend dem Zeugnis Ciceros (Garland 1985, 26; Kurtz/Boardman 1971, 146; Humphreys 1983, 86), wenn auch einzelne Autoren (siehe etwa Wyse 1967, 606) sich gegen die opinio communis stellen. So u.a. Plat. Men. 247C–D; 248B–C. Huber 2001, 44 weist auf eine ähnliche Ausblendung der Trauer in den staatlichen Grabepigrammen hin. Vgl. auch Derderian 2001, 172; Sourvinou-Inwood 1995, 192f. Siehe etwa Demosth. or. 60.35f. Thuk. 2.43.2; Hyp. or. 6.31–34. Vgl. Derderian 2001, 175–185; Holst-Warhaft 1992, 123.
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Ein weiteres Mittel, das zur ‚Sammlung‘ der polis beitrug, bestand in einem unterschiedlich ausführlichen Abriss der mythischen und historischen Vergangenheit der Stadt, der durch einige Abschnitte über die Grundwerte und die Staatsform Athens ergänzt wurde.121 Durch diese Passagen wurde die polis als historisch verwurzelte Gemeinschaft definiert und zugleich jeder zuhörende Bürger in seinem individuellen Zugehörigkeitsgefühl bestätigt, sodass eine starke Kohäsion der Gruppe von Polisbürgern die Folge war.122 Gleichzeitig wurde den Zuhörern aber auch eine Perspektive auf die Zukunft eröffnet, indem die Redner auf die Hinterbliebenen und explizit die männlichen Nachkommen der Verstorbenen eingingen. Diesen wurde nämlich nicht nur das Vorbild der aktuellen wie der früheren Gefallenen zur Nachahmung vorgehalten.123 Vor allem wurde den Söhnen der Toten die Versorgung und Erziehung durch die polis sowie eine Hoplitenrüstung garantiert, welche die Kriegswaisen im Jahre ihrer Volljährigkeit bei den Großen Dionysien verliehen bekamen.124 Derart wurden also die aktuellen Gefallenen in ein Kontinuum der polis eingefügt,125 das von den mythischen Vorfahren bis zur Gegenwart und darüber hinaus in die Zukunft reichte. Durch ihren Tod garantierten sie – wie auch schon Andere vor ihnen – den Erhalt der Stadt, die wiederum für die Nachkommen der Gefallenen sorgte und somit zum einen das physische Bestehen der Gemeinschaft garantierte, zum anderen hierdurch aber gleichzeitig auch die Bewahrung der μνήμη der Kriegstoten gewährleistete. Der individuelle Verlust wurde somit auf der kollektiven Ebene gerechtfertigt und als notwendig für das Überleben der Gemeinschaft stilisiert. Reinhart Koselleck fasst diesen Gedanken mit Bezug auf moderne Kriegerdenkmäler prägnant zusammen, indem er schreibt: „Das Kriegerdenkmal 121
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Einzig der epitaphios logos des Hypereides übergeht diese Punkte völlig und streift sie nur in Paralipse, um sich ganz den Taten der aktuellen Gefallenen zu widmen. In der thukydideischen Rede des Perikles wird der historische Abriss übersprungen. Dafür werden jedoch die Grundwerte der Athener und deren Lebensweise umso bestimmter betont und die Rede damit stärker in der Gegenwart lokalisiert. Die anderen epitaphioi logoi enthalten – soweit vollständig – alle die genannten Elemente. Binder 2007, 1 formuliert treffend: „Athen erfindet also nicht nur diese Gattung: in dieser Gattung erfindet es auch sich selbst“. Damit spielt sie freilich auf Nicole Lorauxs Arbeit an, die diese These erstmals ausarbeitete. Vgl. Loraux 1981, passim. Siehe zudem auch Prinz 1997, 289–291. Sehr deutlich wird dies im sarkastischen Kommentar Sokrates’ im Menexenos (235a–c), wo er beschreibt, wie er völlig berauscht sei vom Lob Athens und der Athener in den Gefallenenreden. Besonders spitz ist auch die Schilderung der Reaktion seiner auswärtigen Gastfreunde, die nur noch Bewunderung für die Stadt und ihre Einwohner empfinden könnten. Explizite Aufrufe zur Nachahmung finden sich bei Plat. Men. 247A–C und Thuk. 2.45. Siehe auch Hyp. or. 6.31 sowie die in Anm. 119 genannten Passagen, in denen vom Neid auf die Verstorbenen gesprochen wird. Auch die restlichen Hinterbliebenen und explizit die Eltern der Gefallenen, die durch den Verlust ihrer Söhne ihrer Altersversorgung beraubt worden waren, erhielten wohl eine Rente. Jedoch nennen nicht alle epitaphioi logoi diese Versorgung. Siehe Demosth. or. 60.32; Plat. Men. 248D–249B; Thuk. 2.46; Lys. 2.75f. Vgl. hierzu Loraux 1981, 25–28; Kavoulaki 2005, 139f. Ähnlich auch Poulakos 1990, 178.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
erinnert nicht nur an die Toten, es klagt auch das verlorene Leben ein, um das Überleben sinnvoll zu machen.“126 Indem also der Referenzrahmen des Rituals im epitaphios logos neu definiert und auf die Gemeinschaft als historisches Kontinuum ausgerichtet wurde, fand auch eine gewisse Zurückdrängung des Individuums statt. Da dieser Komplex in der Forschung bereits ausgiebig behandelt wurde, ist es hier nicht nötig, in Details zu verfallen.127 Stattdessen soll ein Zitat von Nicole Loraux die gängige Forschungsmeinung wiedergeben: dans l’oraison funèbre, la cité cherchait de priver de tout sens l’existence de chaque citoyen, réduite – on l’a vu – à sa seule dimension biologique […] à l’heure solennelle des funérailles collectives, l’oraison funèbre n’offre au citoyen d’autre famille que la cité. D’autre terre que celle de la patrie.128
Obwohl die individuelle Leistung der Gefallenen in der Rede gelobt wurde, sei diese völlig darauf ausgerichtet gewesen, das Primat der Gemeinschaft zu betonen. Die individuelle Leistung würde aus dem Kollektiv heraus und für das Wohl des Kollektivs erbracht. Individuelle Identität und individuelles Glück würden – wenn auch als Teilprodukt des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens anerkannt – dem Primat der polis untergeordnet. Mag dieses Urteil in seinen Grundzügen absolut zutreffen, scheint mir doch eine gewisse Relativierung notwendig. Denn wenn auch Lorauxs Beobachtungen sicher zutreffend sind, wenn man nur den thukydideischen epitaphios logos betrachtet, zeigen andere Grabreden, dass dem Individuum und vor allem der individuellen Trauer durchaus Bedeutung beigemessen und entsprechender Raum gewährt wurde. So räumen sowohl Platon als auch Demosthenes, Lysias und Hypereides die Notwendigkeit individueller Trauer ein.129 Doch selbst wenn man nicht nach Loraux vom Bild einer absoluten polis sprechen kann, lässt sich die Unterordnung der Interessen
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Koselleck 1979, 256. Vgl. auch Kavoulaki 2005, 144f. Siehe zum gesamten Komplex Loraux 1981; Derderian 2001, 167–177; Brown Ferrario 2006, 85f.; Bosworth 2009, 172. Connor 1994, 41 weist darauf hin, wie die offizielle Ideologie in Athen zwar gegen das einzelne Individuum vorging, wie Individualität auf der Gruppenebene jedoch meist unangefochten blieb. Loraux 1981, 104f. Vgl. Plat. Men. 249C.; Demosth. or. 60.35. Lys. 2.70–74 (und ähnlich auch Hyp. 6.2.41f., der explizit vom Schmerz [„λύπης“] der Hinterbliebenen spricht) betont die Schwere des Verlustes für die Angehörigen und die Notwendigkeit der Trauer in besonderem Maße, nur um dann (77–80) das Glück, welches den Gefallenen eigentlich zuteilwurde, umso stärker zu stilisieren. Auch betont Lys. 2.61 die Notwendigkeit, die Toten öffentlich wie privat zu betrauern: „ἐκείνον δὲ τῶν ἀνδρῶν ἄξιον καὶ ἰδίᾳ καὶ δημοσίᾳ μεμνῆσθαι“ und selbst bei Thuk. 2.45.2 findet sich dieser Gedanke. Vgl. auch Tyrrel/Bennet 1999, insb. 41–49.
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des Individuums gegenüber jenen der Gemeinschaft – frei nach dem Motto „the needs of the many outweigh the needs of the few“130 – doch als ein grundlegendes Charakteristikum und Ziel der Grabrede festmachen.131
Der Abschluss des Rituals? War der designierte Sprecher des epitaphios logos am Ende seiner Rede angelangt, rief er die versammelte Trauergemeinde dazu auf, die Gefallenen noch einmal zu beklagen und sich dann zu zerstreuen.132 Das öffentliche Ritual wurde damit also für beendet erklärt und die Versammlung der Bürger und Angehörigen aufgelöst. Die Erklärung verwundert zunächst etwas, wäre im privaten Ritual auf die Bestattung des Toten doch noch das perideipnon gefolgt, eine Art Leichenschmaus, der im Haus des Verstorbenen bzw. dessen nächsten Verwandten abgehalten wurde und der einen wichtigen Beitrag zur Affirmation der Gruppenidentität leistete.133 Doch scheint das Zeugnis der Reden eindeutig und so wäre wohl davon auszugehen, dass das perideipnon beim Gefallenenbegräbnis schlichtweg wegfiel. Dies scheint auch durchaus schlüssig, wäre es schließlich rein logistisch nur schwer möglich gewesen, ein Mahl für die Tausenden bis Zehntausenden Teilnehmer des patrios nomos zu organisieren. In Demosthenes’ Kranzrede findet sich aber ein einzelner Hinweis, der diese These ins Wanken bringt. Dort behauptet der Autor nämlich, er selbst habe für die Angehörigen der Opfer der Schlacht von Chaironeia das perideipnon in seinem Haus ausgerichtet:
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Spock 1982. Auf die Details kann hier ebenso wenig eingegangen werden, wie auf die Spannung zwischen der Zurückstellung des Individuums und der gleichzeitigen Hervorhebung des individuellen Redners, der den epitaphios logos hielt. So heißt es bei Thuk. 2.46: „νῦν δὲ ἀπολοφυράμενοι ὃν προσήκει ἑκάστῳ ἄπιτε.“; bei Plat. Men. 249C: „νῦν δὲ ἤδη ὑμεῖς τε καὶ οἱ ἄλλοι πάντες κοινῇ κατὰ τὸν νόμον τοὺς τετελευτηκότας ἀπολοφυράμενοι ἄπιτε.“; und bei Dem. or. 60.37: „ὑμεῖς δ’ ἀποδυράμενοι καὶ τὰ προσήκονθ’ ὡς χρὴ καὶ νόμιμα ποιήσαντες ἄπιτε.“. In seiner Beschreibung des patrios nomos schreibt Thukydides (2.34) nur knapp: „ἐπειδὰν δὲ κρύψωσι γῇ, ἀνὴρ ᾑρημένος ὑπὸ τῆς πόλεως […] λέγει ἐπ’ αὐτοῖς ἔπαινον τὸν πρέποντα· μετὰ δὲ τοῦτο ἀπέρχονται“. Die Bedeutung von gemeinsamen Mahlen für Gruppen in ihrer die Gemeinschaft bestätigenden und Identität stiftenden Funktion ist lange bekannt und muss hier nicht ausführlich erläutert werden. Bereits Arnold van Gennep identifizierte das gemeinsame Essen und Trinken nach einer Bestattung als wichtigen Angliederungs- bzw. Binderitus, und so versteht auch die Forschung zum attischen Begräbnis das perideipnon als Ritus, der die Gemeinschaft im Moment der Schwächung in ihrer Gruppenidentität bestärkte. Vgl. van Gennep 1986, 37; Kurtz/Boardman 1971, 146; Garland 1985, 39f.; 111f.; deSchutter 1989, 57–60; Burkert 2011, 291–296.
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καὶ οὐχ ὁ μὲν δῆμος οὕτως, οἱ δὲ τῶν τετελευτηκότων πατέρες καὶ ἀδελφοὶ οἱ ὑπὸ τοῦ δήμου τόθ’ αἱρεθέντες ἐπὶ τὰς ταφὰς ἄλλως πως, ἀλλὰ δέον ποιεῖν αὐτοὺς τὸ περίδειπνον ὡς παρ’οἰκειοτάτῳ τῶν τετελευτηκότων, ὥσπερ τἄλλ’εἴωθε γίγνεσθαι, τοῦτ’ ἐποίησαν παρ’ἐμοί. εἰκότως· γένει μὲν γὰρ ἕκαστος ἑκάστῳ μᾶλλον οἰκεῖος ἦν ἐμοῦ, κοινῇ δὲ πᾶσιν οὐδεὶς ἐγγυτέρω.134
Lässt sich daraus aber schließen, dass das Totenmahl doch offizieller Bestandteil des Gefallenenbegräbnisses war? Zunächst muss hier Demosthenes’ Aussage etwas relativiert werden. Diodor berichtet, dass bei der Schlacht von Chaironeia mehr als 1000 Athener gefallen sein sollen,135 und wenn die Genauigkeit seiner Aussage auch angezweifelt werden mag, lässt sich wohl kaum bestreiten, dass Chaironeia eine verlustreiche Schlacht für die Athener war. Nun ist offensichtlich, dass Demosthenes nicht alle Angehörigen einer so großen Zahl von Gefallenen in seinem eigenen Haus bewirtet haben kann. Selbst wenn er die finanziellen Mittel gehabt haben sollte, hätte ihm der Platz gefehlt.136 Reine Fiktion wird seine Aussage aber sicher auch nicht sein, wenn man sich vergegenwärtigt, wie wichtig der Kranzprozess für ihn persönlich war und welche Aufmerksamkeit das Verfahren auf sich zog. Bedenkt man zudem, dass Demosthenes den Prozess schließlich gewann, darf wohl davon ausgegangen werden, dass er gerade in Bezug auf ein so empfindliches Thema wie die Opfer von Chaironeia keine Falschaussage traf.137 Nimmt man seine Beschreibung also ernst, muss dieses Verständnisproblem aufgelöst werden und so ließe sich z.B. vermuten, dass er nur einen Teil der Angehörigen bei sich zum perideipnon empfangen haben mag. Bedeutet dies aber nun, dass das perideipnon Teil des Gefallenenbegräbnisses war oder nicht? Problematisch für das Verständnis der Stelle ist hierbei die undeutliche Formulierung der Beschreibung des Normalfalles: „ἀλλὰ δέον ποιεῖν αὐτοὺς τὸ περίδειπνον ὡς παρ’οἰκειοτάτῳ τῶν τετελευτηκότων, ὥσπερ τἄλλ’εἴωθε γίγνεσθαι“. Wie ist es zu verstehen, dass das perideipnon beim ‚nächsten Verwandten der Gefallenen‘ abzuhalten war? In seinem Kommentar der Stelle legt Hermann Wankel dar, der Superlativ müsse bedeuten, dass das perideipnon beim nächsten „Verwandten eines der Toten“ stattfand. Zudem sei aufgrund des Plurals „τῶν τετελευτηκότων“
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Dem. or. 18.288. Siehe Diod. Sic. 16.86.5. „Παρ’ἐμοί“ impliziert aber durch den Dativ eben gerade die lokale Bedeutung und ist als ‚bei mir‘ und nicht ‚durch mich‘ zu verstehen. Selbst wenn es aber als ‚durch mich‘ gelesen werden sollte, ist zu bezweifeln, dass ein öffentlicher Platz in der Stadt hierfür zur Verfügung gestellt wurde (siehe die weitere Argumentation). Gerade in Anbetracht der Vorwürfe, er selbst sei aus der Schlacht geflohen (siehe Aisch. Ctes. leg. 152; 155; Plut. Demosth. 20.2), konnte Demosthenes sich keine Fehler bei der Behandlung dieses Reizthemas erlauben.
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1. Der patrios nomos in Athen
klar, dass hier das staatliche Begräbnis und nicht der Normalfall des privaten Begräbnisses gemeint sei.138 Nach Wankels Verständnis hätte also ein staatliches perideipnon für alle Angehörigen bei einem Verwandten eines der Toten stattgefunden. Die Vorstellung aber, dass ein Einzelner das Mahl für die ganze Trauergemeinschaft gestellt haben soll, ist, wie oben bereits angemerkt, abzulehnen. Einerseits wäre der finanzielle und logistische Aufwand enorm gewesen. Andererseits ließe sich der hohe Prestigegewinn, der durch das Ausrichten eines solchen Bankettes, bei dem die gesamte Bevölkerung effektiv von einem Mann gespeist worden wäre, hätte erreicht werden können, nur schwer mit der demokratischen Ordnung verbinden.139 Nicht ohne Grund wurden schließlich auch die Opfer bei den Panathenäen, die zu gleichen Teilen an die Bürger verteilt wurden, durch die polis und nicht eine Einzelperson finanziert.140 Es liegt daher nahe, die Stelle so zu lesen, dass das Totenmahl jeweils beim nächsten Verwandten eines jeden der Toten abgehalten wurde; dass also das perideipnon auch beim staatlichen Gefallenenbegräbnis ganz in der Hand der oikoi lag und von diesen individuell und somit losgelöst vom öffentlichen Bestattungsritus zelebriert wurde.141 Demosthenes mag nun 338 v.Chr. von sich aus angeboten haben, für einen gewissen Teil der Angehörigen ein perideipnon auszurichten. Auf diese Weise hätte er seine Verbundenheit mit den Gefallenen, zu deren Ehren er ja schon den epitaphios logos gehalten hatte, besonders zum Ausdruck bringen142 und derart seine Position gegenüber seinen Kritikern weiter stärken können.143 Konsequenterweise stellte er die Situation in der Kranzrede dann so dar, als seien die Angehörigen an ihn herangetreten und nicht umgekehrt, um auf diese Weise die Wirksamkeit seiner Aussage zu erhöhen. Wieder müssen die Überlegungen bezüglich der Details in Anbetracht des Quellenmangels Spekulation bleiben. Dennoch lassen sich auch hier einige Ergebnisse festhalten. Die Auffor138 139
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Wankel 1976, 1228f. Vgl. hierzu die Überlegungen zu den Patron-Role Feasts in Dietler 1996, 96f., wo die Speisung einer Gemeinschaft durch einen Einzelnen thematisiert wird. Man könnte entgegnen, dass auch jene Männer, die als Redner für die epitaphioi logoi ausgewählt wurden, besonders hervorgehoben wurden. Jedoch ist hier deutlich zwischen einer Rede, welche als politisches Mittel in Athen wie vielleicht nirgendwo sonst anerkannt war, und dem Ausrichten eines Mahles für einen Großteil der Bevölkerung zu differenzieren. Siehe. Ps.-Xen. Ath. pol. 2.9 sowie Garnsey 1999, 132f., der sich hier stark auf die bei Jameson 1988, 96 vorgestellte Evidenz beruft. Auch Loraux 1981, 25 liest diese Stelle so, ohne sie allerdings im Detail zu erläutern. Sie spricht von einem Kompromiss zwischen Familie und polis in diesem Punkt. Entsprechend ihrer These betont sie aber, dass dieser Kompromiss sich eben nur auf das perideipnon beschränke und dass die polis die anderen Teile des Rituals dominiere. So heißt es ja auch in der Stelle: „κοινῇ δὲ πᾶσιν οὐδεὶς ἐγγυτέρω“. Zwar zeigt die Tatsache, dass Demosthenes dazu auserwählt wurde, die Rede auf die Gefallenen zu halten, dass die Angriffe seiner Gegner offensichtlich recht wenig Wirkung zeigten. Jedoch konnte es nicht schaden, sich weiter abzusichern und den eigenen Vorteil weiter auszubauen. Dies wird gerade aus der Tatsache deutlich, dass der Bericht einer Gerichtsrede zu seiner eigenen Verteidigung entstammt.
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derung zum ‚Weggehen‘ am Ende der epitaphioi logoi impliziert, dass mit der Rede und der anschließenden gemeinsamen Klage das staatliche Begräbnisritual abgeschlossen wurde und ein kollektives Totenmahl nicht Bestandteil der öffentlichen Zeremonie war. Zugleich spricht Demosthenes’ Aussage in der Kranzrede dafür, dass das perideipnon dennoch weiterhin abgehalten wurde, dass aber die Ausrichtung in der Verantwortung der Angehörigen lag. Wie genau sich der Vollzug dann gestaltete ist aufgrund der spärlichen Evidenz nicht zu klären. Es kann jedoch wohl davon ausgegangen werden, dass jeder betroffene oikos das Totenmahl für sich selbst veranstaltete. Auch in diesem Punkt wurde den Familien der Angehörigen also größtmögliche Freiheit zur Gestaltung des Rituals gelassen und somit ein Ausgleich für die Übernahme des restlichen Bestattungsrituals durch die polis geschaffen.
Der epitaphios agon Besser informiert als über das perideipnon sind wir über den epitaphios agon, der zu Ehren der Gefallenen von der polis ausgerichtet wurde. Doch obwohl zahlreiche Zeugnisse die Praxis erwähnen, bleiben auch hier viele Detailfragen offen. Platon, Demosthenes und Aristoteles wissen über die Wettkämpfe das Folgende zu berichten: καθ’ ἕκαστον ἐνιαυτὸν αὐτὴ (ἡ πόλις) τὰ νομιζόμενα ποιοῦσα κοινῇ πᾶσιν ἅπερ ἑκάστῳ ἰδίᾳ γίγνεται, πρὸς δὲ τούτοις ἀγῶνας γυμνικοὺς καὶ ἱππικοὺς τιθεῖσα καὶ μουσικῆς πάσης.144 σεμνὸν δέ γ᾽ ἀγήρως τιμὰς καὶ μνήμην ἀρετῆς δημοσίᾳ κτησαμένους ἐπιδεῖν, καὶ θυσιῶν καὶ ἀγώνων ἠξιωμένους ἀθανάτων.145 ὁ δὲ πολέμαρχος θύει μὲν θυσίας τῇ τε Ἀρτέμιδι τῇ ἀγροτέρᾳ καὶ τῷ Ἐνυαλίῳ, διατίθησι δ᾽ ἀγῶνα τὸν ἐπιτάφιον, καὶ τοῖς τετελευτηκόσιν ἐν τῷ πολέμῳ καὶ Ἁρμοδίῳ καὶ Ἀριστογείτονι ἐναγίσματα ποιεῖ.146
Demnach wurden für die Gefallenen gymnische und vielleicht auch musische und hippische Agone unter Leitung des Polemarchen abgehalten,147 die vermutlich in unmittelbarer Nähe zu 144 145 146 147
Plat. Men. 249B. Demosth. or. 60.36. Aristot. Ath. pol. 58.1. Einzig Plat. Men. 249B erwähnt alle drei Disziplinen explizit, während Lys. 2.80 etwas kryptisch von „ἀγῶνες […] ῥώμης καὶ σοφίας“ spricht, aber möglicherweise das Gleiche meint. Mit großer Sicherheit waren Waffen- und Fackelläufe Teil des Programms, doch auch für musische Agone findet sich einige
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den Staatsgräbern auf dem Dromos und dem Platz vor dem Dipylon ausgetragen wurden. Letzteres legen zumindest eine Vielzahl literarischer, epigraphischer und archäologischer Zeugnisse, die die Agone im Kerameikos verorten, stark nahe.148 Tatsächlich wäre eine Austragung an den Gräbern nur angemessen gewesen, waren es doch schließlich die Gefallenen, die mit den Wettkämpfen geehrt werden sollten. Überdies bot sich die breite und prächtige Gräberstraße als monumentale Kulisse für die Austragung der Agone an. Die Ehrung mit einem Agon, die noch in der Archaik bei der Bestattung einflussreicher Aristokraten durchaus gängig war,149 stellte in klassischer Zeit eine außergewöhnliche Maßnahme dar, waren solche Wettkämpfe hier doch Heroen- und Götterkulten vorbehalten. Die Beobachtung deckt sich mit den Berichten des Demosthenes und des Aristoteles, dass neben den Agonen zudem noch „θυσία“150 bzw. „ἐναγίσματα“151 für die Gefallenen abgehalten würden. Beide Begriffe bezeichneten größere Brand- und Blutopfer152 und bezogen sich daher sicherlich nicht auf
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Evidenz. Die Quellen sind erschöpfend bei Stupperich 1977, 54f. und auch Clairmont 1983, 22–25 (jeweils inkl. der ausführlichen Anmerkungen) behandelt und sollen hier nicht neu diskutiert werden, da die dort getroffenen Schlüsse überzeugend sind. Beide stützen sich bei der Rekonstruktion u.a. auch auf die Evidenz bezüglich der Epitaphia, welche erst ab dem 2. Jh. v.Chr. belegt sind. Jacoby 1944, 65 geht davon aus, dass diese eine künstliche Wiederbelebung des epitaphios agon darstellten und daher nur bedingt Rückschlüsse auf das ältere Ritual zulassen würden. Auch wenn seine Mahnung berechtigt scheint, können Clairmont und Stupperich ihre Argumentation aber doch mit genügend Quellen aus klassischer Zeit stützen, um ihre Rekonstruktionen der Wettkämpfe, die sich untereinander wenig unterscheiden, weitestgehend plausibel zu machen. Eine der Behauptungen, die klassischer Zeugnisse entbehrt, ist Clairmonts Verknüpfung des epitaphios agon und somit auch des gesamten Begräbnisses mit den Theseia. Diese Verbindung ist eben nur für die späteren Epitaphia belegt. Vgl. oben Anm. 90. Der Großteil der Zeugnisse bezieht sich dabei auf die Epitaphia, die in hellenistischer Zeit gegründet wurden. Sie hatten den epitaphios agon wohl explizit als Vorbild und lassen daher auch Rückschlüsse auf den älteren Brauch zu (siehe die vorige Anmerkung). Zwei späte Quellen nennen explizit die Akademie als Ort der Opfer bzw. als Startpunkt der Agone (Heliod. Aith. 1.17; Philostr. Soph. 2.30.623) und auch in Aristoph. Ran. 127–133 werden Fackelläufe im Kerameikos erwähnt. Häufig angeführt wird auch eine weißgrundige Lekythe, die einen Jüngling zeigt, der eine Fackel in der Hand trägt und an einem Grabstein vorbeiläuft (Kurtz 1975, Taf. 45.2). Eine Inschrift (IG II/III2 1006, Z.22) vermerkt zudem, dass ein Waffenlauf bei den Epitaphia an einem Polyandrion begonnen habe. Zur Lokalisierung siehe auch Stupperich 1977, 55 mit Anm. 4; Clairmont 1983, 22; Knigge 1988, 157–159. Vgl. Stupperich 1977, 60; Clairmont 1983, 25f. Siehe die oben zitierte Stelle aus Demosth. or. 60.36. Vgl. die oben zitierte Stelle aus Aristot. Ath. pol. 58.1. Das καὶ nach „ἐπιτάφιον“ wird von einigen Editoren als Abschreibfehler gesehen, ließe aber, insofern es beibehalten würde, auf ἐναγίσματα für die Gefallenen wie auch für Harmodios und Aristogeiton schließen. Kaibel/Wilamowitz 1891 behalten das καί bei und punktieren nach „ἐπιτάφιον“ wie oben angegeben. Auch Stupperich 1977, 54, Anm. 2 schließt sich dieser Lesart an. Hingegen bezeichnet Kenyion 1891 das καί als „a mere clerical blunder“ und findet Unterstützung bei Sandys 1912 (Tilgung ohne besondere Bemerkung) und Rhodes 1981. Die Diskussion um die konkrete Verwendung religiöser Begrifflichkeiten ist mühselig und oft uneindeutig, wie ein Blick auf die einschlägige Literatur schnell zeigt. Im OCD (Eitrem, S.: s.v. ‚sacrifice‘,
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die regulären Trankspenden, die Teil des regelmäßigen Grabkults waren, den Plato in der oben zitierten Stelle als „τὰ νομιζόμενα“ bezeichnet.153 Bei beiden Elementen – den θυσία/ἐναγίσματα ebenso wie den Agonen – handelte es sich also um zusätzliche Verrichtungen, die eigentlich Heroen und Göttern vorbehalten waren. Die Tatsache, dass sie auch für die Gefallenen abgehalten wurden, zeigt, dass den Kriegstoten in Athen zumindest heroenähnliche Ehrungen zugesprochen wurden.154 Zwar wird sicherlich noch ein Wesensunterschied zwischen den Toten und den Heroen der attischen Vergangenheit festgemacht worden sein – immerhin waren die Toten als Personen noch fassbar und erfahrbar gewesen und erhielten daher auch noch den regulären Totenkult. Doch wurden sie deutlich in die Nähe der mythischen Gründungs- und Heldenfiguren der Gemeinschaft gerückt, die ja auch wiederholt in den epitaphioi logoi als Vorbilder und Vergleichsbeispiele der Gefallenen angeführt werden.155 Ziel dieser Assoziation war es wohl kaum, die aktuellen Gefallenen als ‚übermenschliche‘ Wesen darzustellen, sondern vielmehr eine historische Kontinuitätslinie von den mythischen Anfängen Athens bis zur Gegenwart aufzuzeigen bzw. zu konstruieren.156 Mittels dieser Darstellung wurde gleichzeitig die geteilte Polisidentität gestärkt und zudem die Gemeinschaft als historisches Kontinuum präsentiert, das sich in vergangenen Konflikten als widerstands- und überlebensfähig erwiesen hatte. Schließlich ist noch zu klären, wann der Agon für die Gefallenen abgehalten wurde. Ich schließe mich hierbei der Auffassung Reinhard Stupperichs und Christoph Clairmonts an, die
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in: OCD [51961], 787) heißt es diesbezüglich: „θύω originally means to ‚fumigate‘, later commonly to ‚sacrifice‘, as contrasted with ἐναγίζειν, which is used of offerings to the dead and heroes“. Ekroth 2000 zeigt, dass θυσία Blutopfer bezeichneten, bei denen i.d.R. auch die Opfernden einen Teil des dargebrachten Tieres verzehrten, und dass sie durchaus auch Teil von Heroenkulten sein konnten. Ob auch im Falle der Riten für die gefallenen Athener ein Verzehren der Opfergabe stattgefunden hat, ist gerade aufgrund der unterschiedlichen verwendeten Terminologie schwierig zu beurteilen. Siehe auch Welwei 1991, 55–57; Clairmont 1983, 14, Anm.1. Plat. Men. 249B. Auch Shear 2013, 511 ist der Ansicht, dass hier Elemente des Götterkultes mit dem Begräbnis verknüpft worden seien. Zur Frage, ob die Gefallenen als Helden verehrt wurden oder diesen nur angenähert wurden, siehe Arrington 2015, 113–120; Loraux 1981, 39–42; Clairmont 1983, 2f.; 8; Stupperich 1977, 62; Jacoby 1944, 39; Welwei 1991; Prinz 1997, 22f.; Boedeker 2001, passim; McCauley 1993, 151–155. Besonders interessant ist diesbezüglich das Konzept der relative divinity, das Gradel 2002 für den römischen Kaiserkult entwirft, dessen Gültigkeit aber auch für die klassischen Kulte überdacht werden sollte. Zur Gleichsetzung oder zumindest Annäherung der Gefallenen an die mythischen Helden in den epitaphioi logoi siehe u.a. Lys. 2.80: „ὡς ἀξίους ὄντας τοὺς ἐν τῷ πολέμῳ τετελευτηκότας ταῖς αὐταῖς τιμαῖς καὶ τοὺς ἀθανάτους τιμᾶσθαι“. Hypereides (or 6. 35–39) stellt gar ‚seinen‘ Helden Leosthenes über die Heroen von Troja und die Tyrannenmörder. Vgl. auch Demosth. or. 60.34. Auch Shear 2013, passim sieht in dem Vergleich der aktuellen Gefallenen mit den mythischen Heroen den Versuch, eine Kontinuitätslinie zu konstruieren.
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den epitaphios agon als eng mit dem eigentlichen Begräbnis verknüpft sehen.157 Sie glauben, die Wettstreite hätten einen oder mehrere Tage nach dem eigentlichen Begräbnis stattgefunden158 und hätten somit vornehmlich der Ehrung der Gefallenen des jeweiligen Jahres gedient. Der epitaphios agon hätte also nur in Jahren stattgefunden, in denen auch Kriegstote zu verzeichnen waren. Gemäß der von Stupperich und Clairmont vorgeschlagenen Rekonstruktion birgt dieser Vorschlag eine gewisse Problematik in sich, da beide Autoren auch den regelmäßigen Grabkult für die Gefallenen vorheriger Jahre eng mit dem Wettkampf verknüpfen. Dies würde aber bedeuten, dass in Jahren, in denen keine neuen Gefallenen zu verzeichnen waren, weder der epitaphios agon noch der reguläre Grabkult für die früheren Kriegstoten ausgerichtet worden wären. Letzterer musste jedoch im privaten Rahmen jedes Jahr vollzogen werden, und nimmt man Platons Aussage ernst, dass der Staat jedes Jahr ebenjene Riten für die Gefallenen beging, die auch Privatleute für ihre Toten vollzogen,159 müsste hier ein Ersatz durch die polis geleistet worden sein. Clairmont sucht eine Lösung dieses Problems in der Verknüpfung des Gefallenenbegräbnisses mit den Theseia und kommt zu der Überlegung, dass dieses Fest in einem Jahr ohne Gefallene das Bedürfnis nach Kommemoration der früheren Kriegstoten habe decken können.160 Akzeptiert man aber die hier vorgeschlagene Trennung von epitaphios agon und regelmäßigem Grabkult (τὰ νομιζόμενα), wäre eine solch umständliche Konstruktion erst gar nicht notwendig, da der reguläre Grabkult, den der nomos verlangte, ohnehin jedes Jahr vollzogen worden wäre. Die Wettkämpfe hätten hingegen eine zusätzliche Ehrung dargestellt, die eben nur in Jahren dargebracht wurde, in denen auch Kriegstote zu verzeichnen waren. Ein ähnliches Vorgehen lässt sich schließlich auch im Falle der Eleutheria in Plataiai feststellen. Laut Plutarch seien zwar jedes Jahr Abgesandte der Griechen in der Ebene von Plataiai zusammengekommen, um die von ihm beschriebenen Riten an den Gräbern zu vollziehen. Die Wettkämpfe zu Ehren der Gefallen hät157
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Siehe hierzu und zum Folgenden Stupperich 1977, 54–56; Clairmont 1983, 22–28 (insb. 26f.). Jacoby 1944, 59–61 weist zurecht darauf hin, dass die Quellen die Verknüpfung von eigentlichem Begräbnis, Grabkult und epitaphios agon nicht explizit feststellen. Vgl. hierzu auch Stupperich a.a.O., 56, Anm. 1. Auch Jacoby spricht sich schlussendlich aber für eine enge zeitliche Verbindung aus. Die Argumentation von Clairmont und Stupperich kann hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden, ist aber bezüglich der Verknüpfung von Begräbnis und Agonen insgesamt überzeugend. Stupperich 1977, 56 erwägt gar, dass die Agone möglicherweise zwischen ekphora und Schließung des Grabes stattgefunden haben könnten. Jedoch erscheint dies gerade in Anbetracht der überlieferten Vielfalt und dem damit notwendigen Zeitaufwand der Wettbewerbe ausgesprochen fraglich. So äußert er selber auch (ebd. Anm. 3): „Vielleicht fanden sie auch am 1. oder 3. Tag danach statt?“. Clairmont 1983, 28 setzt die Agone am Tag nach der Bestattung an. Siehe das Zitat zu Beginn dieses Kapitels (Plat. Men. 249B.). Clairmont 1983, 27: „the Theseia, an annual festival, satisfied the need for commemoration of Athenian warriors who died in previous years and whose fate was so much like that of Theseus“. Wie bereits oben (Anm. 90 und 147) dargelegt wurde, ist die Verbindung des Gefallenenbegräbnisses mit den Theseia ohnehin mit einiger Skepsis zu betrachten.
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ten jedoch nur alle vier Jahre stattgefunden.161 Auch hier wären also der regelmäßige Grabkult jährlich, die zusätzlichen Ehrungen aber nur in einem gewissen Intervall vollzogen worden. Im Falle Athens hätten die Agone damit den imposanten Abschluss des mehrere Tage währenden Staatsbegräbnisses dargestellt.
Andauernde Fürsorge der polis Die Sorge der polis für ihre Gefallenen endete nicht mit dem Staatsakt im Winter eines Jahres. Vielmehr nahm sie sich der Toten sowie derer Hinterbliebenen auch nach dem eigentlichen Begräbnis weiter an. So haben wir im Vorangegangenen bereits gesehen, dass die polis sich dazu verpflichtete, den regelmäßigen Kult am Grab zu vollziehen, der üblicherweise jährlich zu bestimmten Festtagen oder Jubiläen von den Angehörigen der Toten verrichtet wurde. Im privaten Rahmen bestand er aus Libationen und Klage am Grab, aber auch im Schmücken des Grabmarkers mit Bändern und Kränzen sowie in der Darbringung von Opferkörben.162 Welche Verrichtungen zum staatlichen Grabkult für die Gefallenen gehörten, ist nicht überliefert. Jedoch ist wahrscheinlich, dass auch hier am Grab Opfer dargebracht wurden und das Monument gereinigt oder geschmückt wurde.163 Es darf zudem angenommen werden, dass der Polemarch, 161
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Siehe Plut. Arist. 21.1f. Auch Paus. 9.2.6 berichtet, dass die Agone nur alle vier Jahre stattfanden. In Thuk. 3.58.4 betonen die Plataier gegenüber den Thebaern explizit, dass sie jedes Jahr die Grabriten an den Gräbern der Gefallenen der Schlacht vollzögen. Die Spiele bleiben hingegen unerwähnt. Diod. Sic. 11.29.1 berichtet, dass die Griechen gelobt hätten, die Eleutheria am Tag der Schlacht zu feiern (also jedes Jahr?) und Agone zu veranstalten, ohne dass wirklich deutlich wird, ob diese beiden Elemente getrennt sind. Insgesamt scheint Plutarchs Aussage aber durchaus plausibel, wenn auch zu fragen bleibt, ob sie auch für klassische Zeit Gültigkeit beanspruchen kann. Siehe hierzu auch weiter unten 2. I. Plataiai mit Anm. 360. Auch Loraux 1981, 38f. äußert die Überzeugung, dass die einzelnen Bestandteile des Brauches keine untrennbare Einheit bildeten, sondern möglicherweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfanden. Zum Grabkult und seinem Ursprung siehe Garland 1985, 104–121; Kurtz/Boardman 1971, 147f.; Alexiou 2002, 7–9; Humphreys 1983, 14; 87; Stupperich 1977, 57–59; Huber 2001, 34; 129; 147f.; 199; Oakley 2004, 226–230. Besonders informativ sind die häufigen Darstellungen des Besuchs am Grab in der Vasenmalerei. Neben Abbildungen auf rot- und schwarzfigurigen Loutrophoroi sind hierbei als wichtigste Gruppe vor allem die weißgrundigen Lekythen zu nennen, auf denen Grabbesuchsszenen ab 480–470 v.Chr. auftreten und ab der Mitte des 5. Jh. v.Chr. bei weitem das häufigste Motiv bilden. Zu den Vasenbildern siehe u.a. Oakley 2004, 145f.; Huber 2001, 129; 147f.; Morris 1994, 78; Brown Ferrario 2006, 83f. Zumindest ist so wohl Platons Aussage zu interpretieren, dass die polis für die Gefallenen ebenjene Riten vollzog, die auch die Familie privat für ihre verstorbenen Angehörigen verrichtette (Plat. Men. 249B.). Bezeichnenderweise berichtet auch Plutarch zu seinen Lebzeiten anlässlich der Epitaphia noch von solchen Verrichtungen am Grab der Gefallenen in der Ebene von Plataiai (s.u. 2. I. Plataiai mit Anm. 353).
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der für die Ausrichtung des epitaphios agon und der Opfer für die Gefallenen zuständig war, sich auch für den Vollzug des regulären Grabkultes verantwortlich zeichnete. Jedoch wird er wohl kaum persönlich das Ritual an jedem einzelnen Gefallenengrab geleitet haben. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er diese Aufgabe delegierte und für die Finanzierung der Verrichtungen zuständig war. Die eigentlichen Rituale wurden dann vermutlich etwa zeitgleich an den einzelnen Gräbern und unter Teilnahme der Angehörigen der Gefallenen vollzogen. Die polis nahm sich aber eben nicht nur ihrer Toten, sondern auch derer Hinterbliebener an. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurden die Söhne der Gefallenen bedacht, deren Unterhalt und Erziehung vom Staat garantiert wurde. Überdies bekamen sie nach Erlangen der Volljährigkeit in einer feierlichen Zeremonie vor der gesamten Bürgergemeinschaft bei den Großen Dionysien eine Hoplitenrüstung verliehen.164 Bei weiblichen Hinterbliebenen sowie den Eltern gefallener Athener, die durch den Verlust ihrer Söhne ihrer Altersversorgung beraubt waren, beschränkte sich die staatliche Unterstützung wohl auf eine Grundversorgung.165 Die Höhe der Unterhaltszahlungen ist nicht sicher überliefert, lag aber wahrscheinlich ebenso wie die Invalidenrente bei einer oder zwei Obolen am Tag.166 Vielleicht erhielten aber auch unterschiedliche Zensusklassen unterschiedliche Unterstützung. Schließlich wurde auch die Versorgung für Kriegsversehrte gemäß Aristoteles nur jenen gewährt, die über weniger als drei Minen Besitz verfügten.167 Dementsprechend mag auch nicht jedem Sohn eines athenischen Gefallenen eine Hoplitenrüstung verliehen worden sein, sondern nur Angehörigen der entsprechenden Zensusklassen.168 Dies soll aber nicht die Bedeutung dieser Regelungen schmälern, die ohnehin vor allem auf der symbolischen Ebene wirkten. Die polis zeigte hier jedes Jahr aufs Neue, dass sie das Opfer des Einzelnen für die Gemeinschaft wertschätzte, und bot sich als erweiterter oikos an. Dass die Söhne der Gefallenen im Zentrum dieser Sorge standen, kann kaum überraschen. Schließlich waren sie es, die in zukünftigen Konflikten die Gemeinschaft der Athener verteidigen und deren Interessen nötigenfalls auch militärisch durchsetzen sollten. Besonders bemerkenswert ist daher auch der Rahmen, innerhalb dessen die Söhne der Gefallenen ihre Panhoplie verliehen bekamen. Diese 164
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Siehe Plat. Menex. 249A–B; Aisch. Ktes. 154; Isok. or. 8.82. Thuk. 2.46 erwähnt nur die Versorgung der Waisen, nicht aber die Verleihung einer Panhoplie. Einen guten Überblick über die Regelungen bietet Stroud 1971, 288–290. Siehe Plat. Menex. 248E–249A. Demosth. or. 60.32 berichtet nur von der Versorgung (γηροτροφήσονται) der Eltern. Lys. 2.75 erwähnt ganz allgemein die Unterstützung der Kinder und Eltern. Vgl. Stroud 1971, 290 mit dem Kommentar bei Christ 2012, 20f. Anm. 36. Siehe auch Feyel 2009, 81–85. In Aristoph. Thesm. 443–449 berichtet eine Frau, wie schwer sie arbeiten müsse, um ihre fünf Kinder durchzubringen, nachdem ihr Mann im Krieg gefallen war. Das Zeugnis würde zumindest bestätigen, dass die Zahlungen nicht besonders hoch ausfielen. Siehe Aristot. Ath. pol. 49.4. Vgl. auch Feyel 2009, 73–81 zur dokimasia männlicher Waisen, wenn auch hier nicht explizit die Nachkommen von Kriegsopfern behandelt werden. So auch Raaflaub 1996, 157.
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wurde ihnen nämlich nicht, wie wohl denkbar wäre, im Rahmen des epitaphios agon oder einer sonstigen Zeremonie, die direkt mit dem Gefallenenbegräbnis verbunden war, übergeben. Stattdessen erhielten sie Rüstung und Waffen bei den Großen Dionysien – jenem Fest, in dessen Rahmen auch jährlich die Tributzahlungen an den attischen Seebund präsentiert wurden. In Form der halbwaisen Epheben wurden hier also die Kosten der athenischen Hegemonie anerkannt, gleichzeitig aber auch die Vorteile und Möglichkeiten, die sich aus der attischen Vormachtstellung für die polis und den Einzelnen ergaben, demonstrativ in Szene gesetzt und der individuelle Verlust somit relativiert.169 Sowohl in der Versorgung der Hinterbliebenen als auch in der Übernahme des Grabkultes manifestiert sich einmal mehr die fictive kinship170 der polis als erweiterte Familie, die sie sich zentraler Pflichten und Bedürfnisse jener oikoi annahm, die für das Wohl der größeren Gemeinschaft ein so schweres Opfer gebracht hatten.
Die Monumente im demosion sema Das demosion sema als zentraler Ort der Kommemoration In seiner Beschreibung des attischen Staatsbegräbnisses berichtet Thukydides, dass die gefallenen Athener im schönsten Vorort der Stadt beigesetzt worden seien: „τιθέασιν οὖν ἐς τὸ δημόσιον σῆμα, ὅ ἐστιν ἐπὶ τοῦ καλλίστου προαστείου τῆς πόλεως”.171 Nun können wir zwar nicht nachvollziehen, ob sich der Kerameikos tatsächlich in solcher ‚Schönheit‘ darbot, doch können wir versuchen, den Aufbau des demosion sema und die Semantik des Ortes zu verstehen. Ich will mich hierbei kurz fassen, da sich Nathan Arrington erst unlängst in einer umfangreichen und detaillierten Studie ebendiesen Fragen gewidmet hat und zu einigen überzeugenden Schlüssen gelangt ist.172 Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Arringtons Arbeit besteht in der Feststellung, dass es sich beim demosion sema keineswegs um einen geschlossenen Komplex handelte. In der älteren Forschung wurde stets davon ausgegangen, dass die Gefallenengräber sichy Seite an Seite ent169
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Auch Isok. or. 2.82 weist auf diese Verbindung von Vorteilen und Kosten der athenischen Herrschaft hin, wenn er sie auch gemäß dem Ziel seiner Rede deutlich negativer auslegt. Arrington 2015, 113 sieht die Gefallenenlisten als komplementäre Monumente zu den Tributlisten an und stellt somit ebenfalls diese Verbindung her, ohne allerdings auf die Verleihung der Panhoplie an die Kriegswaisen einzugehen. Siehe hierzu das 2. Kapitel in Winter 1995. Thuk. 2.34. Vgl. Arrington 2010b, passim und auch 2015, 55–90.
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lang des Dromos aufreihten und somit gleichsam einer geschlossenen Wand die Straße zwischen Dipylon und Akademie flankierten.173 Durch eine minutiöse Kartierung aller bekannten Hinweise auf Gefallenengräber ist es Arrington nun aber gelungen, wahrscheinlich zu machen, dass sich die Gräber eben nicht alle entlang des Dromos aufreihten. Stattdessen hätten sich die Monumente in zwei Clustern nahe des Dipylon und nahe der Akademie gesammelt und hätten dabei auch etwas abseits der Hauptachse in den ‚Nebenstraßen‘ liegen können.174 Die beiden Ansammlungen seien dabei um das Grab des Kleisthenes (und später das Kenotaph der Marathonomachai) am Anfang des Dromos sowie das Grab der Tyrannenmörder an der Akademie entstanden, die als Architekt bzw. Wegbereiter der demokratischen Lebensform durch die Athener verehrt wurden. So überzeugend Arringtons Argumentation allerdings bezüglich eines Clusters nahe des Dipylon ist, so schwach fällt sie bezüglich der zweiten Ansammlung nahe der Akademie aus. Die angeführten Belege für die von ihm als Pol5 und Pol6 bezeichneten Gräber in diesem Areal lassen sich nämlich nur mit äußerster Zurückhaltung als Gefallenengräber identifizieren. So schließt Arrington im Falle von Pol5 einzig aufgrund der Ähnlichkeiten in der Länge des Komplexes und der Beschaffenheit des Bodenbelages in diesem Grab zu jenem in der Salaminosstraße (Pol4), dass es sich möglicherweise um ein Polyandrion gehandelt habe.175 Ähnlich beruht die Annahme bezüglich Pol6 einzig auf der Ähnlichkeit in den Ausmaßen und der Bauweise zwischen diesem Bezirk und Pol4.176 Gerade dieses Kriterium ist allerdings wohl kaum ausreichend, da doch Periboloi im Laufe des 5. Jh. v.Chr. zu einem der gängigsten Grabtypen wurden und in vielerlei Varianten existierten.177 Vor allem aber bedürfte der Komplex in der Salaminosstraße (Pol4) selbst erst einer grundlegenden Untersuchung. Denn wenn wir auch wenigstens eines der Gräber des Komplexes aufgrund der ersten Grabungsberichte sowie der anthropologischen Untersuchung der gefundenen Gebeine mit einiger Sicherheit als Gefallenengrab identifizieren können, ist weiterhin über den Komplex als Ganzes sowie über die archäologischen und archi-
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Siehe u.a. Knigge 1988, 68f.; 157–159; Stupperich 1977, 4; 30f.; Clairmont 1983, 34–36; Loraux 1981, 21. Siehe Arrington 2010b, 510–524 (mit Abb. 2 für einen hilfreichen Plan); 2015, 58–65 sowie Low 2012, 30–32. Auch Clairmont 1983, 34–36; 364–369; 372–374 mit Abb. 1–7 versuchte sich bereits an einer Kartierung der bekannten Gefallenengräber, verließ sich dabei jedoch zu weiten Teilen auf das nur unvollständige und insgesamt problematische Zeugnis Pausanias’. Arrington konzentriert sich hingegen fast ausschließlich auf die Fundorte epigraphischer oder archäologischer Überreste möglicher Gefallenengräber und liefert somit weitaus belastbarere Ergebnisse. Vgl. Arrington 2010b, 519; 2015, 62. Siehe Arrington 2010b, 520f.; 2015, 63. Zu den Periboloi siehe: Clostermann 2006, 56–59; Koeller 2010, passim; Marchiandi 2011, 19– 34; 47–52.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
tektonischen Details äußerst wenig bekannt.178 Da aber Arrington keine weiteren Zeugnisse für das zweite Cluster vor der Akademie anführen kann, ist seine Existenz zumindest fragwürdig. Dies soll jedoch nicht die wichtige Erkenntnis schmälern, dass die Monumente des demosion sema eben nicht als geschlossener Komplex existierten, sondern sich stattdessen als Cluster in einem bestimmten Areal verteilten. Eine ähnliche Ansammlung miteinander ‚verwandter‘ Gräber findet sich etwa auch im Areal des sogenannten ‚Südhügel‘ im Kerameikos, das vor allem der Bestattung von Gesandten und Fremden diente.179 Neben der offensichtlichen Beziehung zum Grab des Kleisthenes (und vielleicht jenem der Tyrannenmörder) habe sich das Gebiet um den Dromos laut Arrington noch aus drei weiteren Gründen als Ort für die Gefallenengräber angeboten. Erstens sei das Areal noch nicht so stark von älteren Gräbern und damit auch konkreten ideologischen (d.i. aristokratischen) Konnotationen besetzt gewesen wie andere Orte. Zweitens habe die Straße, die zur Akademie, dem Heiligtum des Dionysos Eleuthereus und einer Reihe weiterer Heiligtümer führte und überdies in der Panathenäenprozession eine wichtige Rolle spielte, enorme kultische Bedeutung für die polis gehabt. Drittens habe sie eine direkte Verbindung zur Agora, dem zivilen und administrativen Herz der Stadt, hergestellt, über die etwa auch die Festprozessionen zu den Panathenäen oder den Großen Dionysien liefen.180 Indem der Dromos – so Arrington weiter – für die Gefallenengräber ausgewählt wurde, seien diese in einem Areal lokalisiert worden, das für die demokratische polis zwar durchaus von Bedeutung war, das aber zugleich im Alltag nicht allzu viel Aufmerksamkeit erfuhr. Es habe sich bei der Straße, die vom Dipylon zur Akademie führte, nämlich eben gerade nicht um eine der Hauptausfallstraßen gehandelt, auf der Bürger und Fremde in die Stadt hinein oder aus ihr heraus verkehrt seien. Im Gegensatz zu anderen poleis, die ihre Kriegstoten im Zentrum der Stadt beigesetzt hätten, seien die Athener darum bemüht gewesen, den Gefallenen die ihnen zustehende Position zukommen zu lassen, diese aber nicht zu präsent zu gestalten, um die Mitbürger nicht permanent an die Verluste der Gemeinschaft zu erinnern.181 Arringtons Urteil in diesem Punkt bedarf nun aber einer wichtigen Relativierung und Konkretisierung. Sein Verweis darauf, dass in anderen poleis – er nennt explizit Megara und Sparta – die Gefallenen Grabmale im Zentrum der Stadt erhalten hätten, suggeriert nämlich, dass dies eine gängige Praxis im klassischen Griechenland gewesen sei. Weder aber stellt sich der Quellenbefund für die beiden genannten Städte so eindeutig dar, wie Arrington behauptet, noch war die Bestattung Gefallener im Stadtzentrum in Griechenland besonders verbreitet. So wurden in
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Vgl. oben Anm. 31. Arrington selbst (2015, 61f. Anm. 21) betont, wie wichtig eine ausführlichere und genauere Publikation des Befundes wäre. Siehe hierzu Stroszeck 2014, 168–174. Siehe Arrington 2010b, 525–532. Vgl. Arrington 2010b, 524f.; 2015, 89f.
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1. Der patrios nomos in Athen
Sparta nur die Könige sowie einige wenige besonders verdiente Feldherren mit Staatsgräbern im Zentrum der Stadt bedacht, während die übrigen Kriegsgefallenen dezentral und vor allem privat bestattet wurden. Dass einige der Gräber dabei auch innerhalb der Stadt lagen, erklärt sich durch die besondere Siedlungsgeschichte Spartas, nicht aber durch den Status der Toten.182 In Megara wiederum beschränkt sich die Zahl der staatlichen Gefallenenmonumente auf nur zwei inschriftliche Belege. Zwar argumentiere auch ich weiter unten dafür, dass die Gefallenen hier wohl bewusst im Zentrum der Stadt kommemoriert wurden. Doch stellt sich auch hier die Ausgangslage völlig anders dar als in Athen, fanden sich doch in Megara auf der Agora auch zahlreiche Gräber für die mythischen Vorfahren und Gründerfiguren der Stadt, in deren Reihen die Gefallenen eingeordnet wurden.183 Wie die weitere Untersuchung noch zeigen wird, finden sich neben Megara überhaupt nur wenige poleis, für die die Bestattung der Gefallenen im Stadtzentrum oder an einem anderen spezifizierten Ort überhaupt plausibel gemacht werden kann.184 Schon alleine die Tatsache, dass in Athen für die Bestattung der Gefallenen ein bestimmtes Areal vorgesehen war, zeugt daher von der Bedeutung und der Aufmerksamkeit, die den gefallenen Bürgern hier beigemessen wurde. Zusammen mit dem (relativ) festen Termin des Gefallenenbegräbnisses zeigt sich hier überdies ein Grad der Institutionalisierung, der sich so in keiner anderen polis nachweisen lässt.
Die Form der Gräber Trotz der großen Anzahl literarischer und materieller Quellen zum athenischen patrios nomos lässt sich die Form der Gefallenengräber als eines der zentralen Elemente des Brauches heute nur noch in ihren Grundzügen fassen. Grund hierfür ist die Tatsache, dass das Gebiet um den 182
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Könige wurden ohnehin stets in der Stadt beigesetzt und Leonidas und Pausanias erhielten nur aus außergewöhnlichen Gründen besonders prominente Gräber. Das Kenotaph des Brasidas wiederum mag eine Ausnahme dargestellt haben. Arrington 2010b, 525 Anm. 139 ist der Ansicht, die Grabsteine für spartanische Gefallene seien zu uniform, um aus privater Hand zu stammen. Die Marker weisen aber durchaus deutliche Unterschiede in Gestaltung und Größe auf. Zum Vergleich weist etwa die Gruppe der athenischen cippi aus der Zeit nach dem Grabluxusgesetz des Demetrios von Phaleron, die zudem noch sehr viel größer ausfällt als die Gruppe der spartanischen Gefallenenmarker (!), kaum eine größere Bandbreite an Varianz auf, obwohl diese Monumente mit Sicherheit nicht aus staatlicher Hand stammten. Siehe zu all diesen Fragen das Kapitel zu Sparta (2. II. Sparta). S.u. 2. II. Megara. Auch für Thespiai und Mantineia (siehe die entsprechenden Kapitel unten) wurde die Möglichkeit eines ‚Staatsfriedhofes‘ ähnlich dem demosion sema erwogen. Während in Thespiai die Quellenlage gegen ein festes Areal für die Gefallenenbegräbnisse spricht, ist der Befund für Mantineia ähnlich dünn wie im Falle Megaras. Einzig für Tegea (s.u. 2. II. Tegea) lässt sich eine solche Institution plausibel machen.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
Dromos und damit auch die Gefallenengräber heute fast vollständig von der modernen Stadt überdeckt werden. Hinzu kommt, dass das Areal, in dem die Staatsgräber lagen, schon früh Zerstörungen und Spoliierung ausgesetzt war, sodass die wenigen Befunde, die überhaupt zu fassen sind, sich oftmals stark gestört oder anderweitig problematisch darbieten.185 Als anschauliches Beispiel kann das Grab der Lakedaimonier im Kerameikos dienen, das ebenso wie das sogenannte Grab am 3. Horos,186 seit 2002 durch Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts neu aufgenommen und untersucht wird. Ich will das Grab weiter unten noch genauer besprechen und beschränke mich daher hier nur auf einige wesentliche Informationen.187 Der Komplex diente als Ruhestätte für jene Spartaner, die 403 v.Chr. zur Unterstützung der athenischen Oligarchen gegen die Demokraten angerückt und dabei ums Leben gekommen waren. Vermutlich wurde das Grab von der oligarchischen Partei Athens angelegt, die zu dieser Zeit noch die Kontrolle über die Stadt hatte und sich der weiteren Unterstützung durch die Spartaner versichern wollte. Die Form des Grabes scheint dies zu bestätigen, entspricht sie doch dem Peribolostypus, der sich in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. auch für die attischen Gefallenengräber durchsetzte. Überdies findet sich auch an diesem Grab eine Inschrift, die die Toten als Lakedaimonier identifizierte und zumindest einige einzelne Gefallene nannte, wie dies auch auf den attischen Gräbern üblich war. Gleichzeitig stellt uns der Befund vor ein Problem, wurde der Komplex doch einerseits in großer Eile und in mehreren Phasen errichtet und nahm er andererseits offensichtlich Rücksicht auf die Bestattungsbräuche der verbündeten Spartaner.188 In Anbetracht dieser Tatsachen kann das Monument wohl nur sehr bedingt oder doch zumindest nur mit äußerster Vorsicht als Beispiel eines typischen attischen Gefallenengrabes herangezogen werden. Nur leidlich minder schwierig präsentiert sich das einzige andere mögliche Beispiel eines Gefallenengrabes in Athen selbst. Der Komplex in der Salaminosstraße wurde bereits mehrfach 185
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So verschwand etwa der Südrand jenes Teils des Dromos, der noch innerhalb der Kerameikosgrabung liegt, bereits Ende des 4. Jh. v.Chr. unter einer Erdschicht, nicht allerdings ohne zuvor stark für Spoliierung (wahrscheinlich zur Verstärkung der Mauer für die geplante Verteidigung gegen Philipp II.) genutzt worden zu sein. Vgl. Stroszeck 2014, 38; Knigge 1988, 158f.; Stupperich 1977, 30f.; Clairmont 1983, 35. Diesen Komplex will ich hier nicht berücksichtigen, da es sich hierbei mit großer Sicherheit nicht um ein Polyandrion, sondern ein Einzelgrab handelte. Siehe Stichel 1998, passim; Valavanis 1999, passim; vonKienlin 2003, 121f. S.u. 2. II. Sparta. Die wichtigsten Daten und Fakten lassen sich Stroszeck 2006, passim und vonKienlin 2003, 113–118 entnehmen. Das Verständnis des Monuments wird nicht dadurch begünstigt, dass von Kienlin und Stroszeck, die doch in demselben Projekt arbeiten, zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Konstruktionsweise des Baus und der Zeitstellung der einzelnen Kompartimente kommen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Unklarheiten durch Stroszecks Endpublikation zu den Neuuntersuchungen, die derzeit in Vorbereitung ist, beseitigt werden. Auch dies wird unten genauer ausgeführt.
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1. Der patrios nomos in Athen
angesprochen, sodass deutlich geworden sein sollte, wie problematisch die Arbeit mit dem nur unzureichend publizierten Befund ist.189 Zwar lässt sich aufgrund der mittlerweile publizierten Ergebnisse der anthropologischen Untersuchung der Gebeine mit einiger Sicherheit bestätigen, dass es sich zumindest bei einem der Gräber um ein Gefallenengrab handelte. Doch ist weiterhin weder mit ausreichender Sicherheit geklärt, dass hier tatsächlich mehrere Polyandrien aufgedeckt wurden, noch sind deren Beziehung zueinander oder auch die archäologischen und architektonischen Details ausreichend erarbeitet. Für den Moment bleibt daher wohl nur festzuhalten, dass auch diese Gräber, bei denen es sich vermutlich um Gefallenenmonumente handelte, dem Peribolos-Typus folgten. Alle weiterführenden Fragen bezüglich der Bestattung selbst sowie der Beigaben sind hingegen hintenanzustellen. Aufgrund dieser problematischen Quellenlage beruhen die wenigen Informationen, über die wir bezüglich der Grabformen verfügen, vorwiegend auf nur unsicher zuzuordnenden bildlichen Darstellungen, auf Analogieschlüssen zu anderen Grabmonumenten und auf jenen Beobachtungen, die sich aus den erhaltenen Gefallenenlisten und Grabreliefs ergeben. Auch Pausanias’ Beschreibung des Kerameikos, die zahlreiche Polyandrien einschließt, ist in dieser Hinsicht bedauerlicherweise keine Hilfe, da der Perieget zum konkreten Aussehen der Monumente weitestgehend schweigt.190 Gleichwohl lassen sich trotz all dieser Widrigkeiten anhand der erhaltenen Quellen zumindest einige gemeinsame Merkmale der Gefallenengräber herausarbeiten. So führen Reinhard Stupperich und Christoph Clairmont, die sich am ausführlichsten mit der Materie auseinandergesetzt haben, überzeugende Argumente dafür an, dass es mehrere Typen von Staatsgräbern gegeben haben muss, können allerdings beide weitestgehend nur Spekulationen bezüglich der konkreten Gestaltung der einzelnen Typen bieten.191 Christoph Clairmont will gleich ein halbes Dutzend unterschiedlicher Grabtypen rekonstruieren können, wobei er sich zum Teil auf die eigentlichen archäologischen Überreste – also primär die Inschriftenstelen – stützt, vor allem aber auch anhand der Darstellung von Gräbern auf den weißgrundigen Lekythen argumentiert.192 Seine These lautet, dass die auf den Vasen dargestellten Gräber von den Staatsgräbern inspiriert worden sein müssten, da diese im Produktionszeitraum der weißgrundigen Lekythen die einzigen Gräber gewesen seien, die aufwendigere Grabmale tragen
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Vgl. oben 1. I. Die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens in Athen mit Anm. 31 und 1. II. Die Form der Gräber. Siehe Paus. 1.29.1–16. Die neueren Arbeiten von Arrington 2010a, 51–59; 2015, 78–82 und Low 2010, passim; 2012, insb. 26–28 haben den Abhandlungen von Stupperich 1977 und Clairmont 1983 zu den Formen kaum mehr etwas hinzuzufügen und stimmen ihnen weitestgehend zu. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf diese beiden sehr detaillierten Untersuchungen und ergänze sie nur wo nötig mit neueren Funden und eigenen Beobachtungen. Vgl. Clairmont 1983, 60–75. Auch Arrington 2010a, 52f.; 2015, 79–82 folgt diesem Ansatz.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
durften. Alle anderen Grabmonumente seien schließlich durch das sogenannte post-aliquanto Gesetz193 in Größe und Aufwand eingeschränkt worden. Auch wenn diese Argumentation nicht einer gewissen Plausibilität entbehrt, birgt sie doch auch eine Reihe Probleme in sich. So ähneln viele der auf den Vasen dargestellten Grabtypen vor allem Formen, die sich für die Zeit nach 430 v.Chr. belegen lassen, einer Zeit, in der auch die weißgrundigen Lekythen langsam verschwanden.194 Sie scheinen also vielmehr spätere Entwicklungen vorwegzunehmen oder gar zu inspirieren, als zeitgenössische Gräber darzustellen. Auch John Oakley warnt daher davor, sich zu stark auf die Rekonstruktion von Gräbern anhand der Darstellungen auf den Lekythen zu stützen und verweist auf einige Beispiele, die zweifelsohne allein der Phantasie des Künstlers entsprungen waren. Dennoch spricht Oakley sich insgesamt für die Plausibilität von Clairmonts These aus und zeigt sich gerade in Bezug auf einzelne Grabtypen von dessen Argumentation überzeugt.195 In der Tat argumentiert Clairmont auch nicht nur anhand der Vasenbilder, sondern sucht sie stets in Verbindung zu erhaltenen Teilen der Gefallenenlisten zu setzen und so lassen sich durch diese Kombination von Quellen immerhin einige wesentliche Erkenntnisse gewinnen. Zunächst zeigt die Bearbeitung der Stelen, dass diese sowohl einzeln als auch als Teile durchgängiger Wände aufgestellt werden konnten. Hierbei konnten einzeln errichtete Stelen entweder sämtlichen Gefallenen gelten196 oder aber auch nur bestimmte Untereinheiten innerhalb der 193 194
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S.o. Anm. 76. Einen zeichnerischen Überblick der Grabtypen bietet Oakley 2004, Abb. 154. Ein Vergleich mit dem Katalog in Hildebrandt 2006 zeigt, dass die Stelen auf den Vasen, die häufig von Giebeln, Palmetten oder simpleren Leisten gekrönt werden, v.a. den Namenstelen ähneln. Ebd. Taf. 1 bietet auch Hildebrandt einen zeichnerischen Überblick der Typen von Namenstelen. Vgl. Oakley 2004, 195–199. Als Beispiel einer reinen Erfindung führt der Autor ein Monument an, das wohl eine nur aus Arkanthusornamenten bestehende Säule darstellen soll (Abb. 161). Auch weniger offensichtliche Phantasiegebilde entbehren jedoch einem realen Gegenüber, wie etwa das auf einer in Berkeley aufbewahrten Vase dargestellte Grabmonument, das zwei Bekrönungen (eine auf halber Höhe, eine am oberen Ende des Steins) mit Mäander und stilisierter Palmette aufweist: CVA Berkeley (1) Taf. 243. Eindeutig wird dies anhand einer Stele, die Clairmont dem Jahr 447/6 v.Chr. zuordnet (Clairmont 1983, 165–169 Nr. 32b; IG I3 1162, hier Abb. 2). Die kaum beschädigte Stele ist an den Schmalseiten glatt abgearbeitet und wird von einer simplen Leiste gekrönt, die auf beide Schmalseiten umläuft. Die Inschrift listet in zwei Spalten, die jeweils einem Schlachtort zugeordnet werden, die Gefallenen nach Phylen geordnet auf. Einige weitere Opfer aus ‚anderen Kriegen‘, d.i. Kriegsschauplätzen/Konflikten, sind am Ende der zwei Spalten aufgelistet. Schließlich folgt direkt unter diesen nachgetragenen Opfern ein vierzeiliges Epigramm. Die Gestaltung der Stele sowie die aus der Inschrift greifbaren Informationen zeigen, dass sie die einzige Stele war, die für die Gefallenen dieses Jahres aufgestellt wurde. Clairmont (a.a.O. 60–62) meint, für dieses Beispiel sei ein Grab oder zumindest Grabmal zu rekonstruieren, das dem bekannten Gesandtengrab des Pythagoras (Vgl. Stroszeck 2014, 168–170 Nr. 29) ähnelte. Stelen, die von simplen Leisten bekrönt werden und somit der vorliegenden Gefallenenliste stark ähneln, finden sich in der Tat auch in großer Zahl auf den weißgrundigen Lekythen. Die Basis ist in diesen Darstellungen meist, wie bei der Pythagoras-Stele, aus mehreren Stufen zusammengesetzt.
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1. Der patrios nomos in Athen
Gruppe der Gefallenen bezeichnen.197 In letzterem Fall wurden die einzelnen Stelen dann wohl nebeneinander auf einer gemeinsamen Basis oder aber innerhalb desselben Grabbezirkes aufgestellt.198 Nur bedingt lassen sich hieraus Rückschlüsse auf die Gesamtform gerade der frühen Gräber gewinnen. Während klar ersichtlich ist, dass die Größe der Gräber sowie die Anzahl und Größe der benötigten Stelen schwanken konnte, bleibt die eigentliche Grabform unklar. Jedoch spricht Reinhard Stupperich sich dafür aus, dass die frühen Polyandrien als tumuli gestaltet waren, und tatsächlich lässt sich eine Reihe von Indizien für die Anlage solcher Grabhügel für die Gefallenen im demosion sema anführen, sodass seine These in der jüngeren Forschung einigen Zuspruch erhielt. Neben den tumuli bei Marathon und Plataiai, die in gewissem Maße eine Vorbildfunktion gehabt haben könnten, wird hier wiederum auf die Evidenz der Vasendarstellungen wie auch auf die Existenz eines tumulus in dem Komplex an der Salaminosstraße verwiesen, der möglicherweise in Verbindung mit einem Gefallenengrab stand.199 Daneben muss es wohl
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Siehe z.B. Oakley 2004, Abb. 137; 171; 1997, Taf. 139c–d; 140c–d. Eine weitere Stele, die definitiv alleine ein Grabmonument bildete, wurde erst 1995 in Athen gefunden und trägt neben der Inschrift noch ein Relief. Auch hier finden sich glatt bearbeitete Schmalseiten und eine umlaufende Leiste. Vgl. Parlama/Stampolidis 2000, 396–399, Nr. 452. Vgl. hierzu Clairmont 1983, 62f. Mehrere Beispiele, bei denen die Bearbeitung nahe legt, dass sie einzeln aufgestellt waren, der Inhalt der Inschrift aber darauf hindeutet, dass sie nicht die einzige Stele gewesen sein können, zeigen, dass auch mehrere alleinstehende Stelen zur Markierung der Gefallenengräber verwendet werden konnten. Auch die von Clairmont als sunken channels beschriebenen vertikalen Rillen, die häufig einzelne Spalten voneinander abtrennen, sollten wohl an solche Reihen von einzelnen Stelen erinnern. Vgl. ebd., 47; 128f. Der beste Beleg für mehrere einzelne Stelen direkt nebeneinander stammt wiederum von einem Vasenbild (Clairmont 1983, Taf. 3c). Teile von fünf Stelen mit Inschriften sind erkennbar und auch wenn der untere Abschnitt des Bildes verloren ist, ist die Annahme, dass sie doch auf der gleichen Basis stehen, plausibel. Bradeen 1967 schlägt eine solche Rekonstruktion für das Grab, das den 464 v.Chr. Gefallenen zugeordnet wird, vor. Clairmont 1983, 127–130 Nr. 18 widerspricht dieser Rekonstruktion. Ein gesichertes Beispiel einer solchen alleinstehenden Stele, der in jedem Fall noch weitere Steine zuzuordnen sind, ist Clairmonts Nr. 20a (IG I3 1147), die er in die Jahre 459 oder 458 v.Chr. datieren will und die allein die Gefallenen der Phyle Erechtheis auflistet. Evtl. zugehörig ist auch IG I3 1147bis. Siehe Stupperich 1977, 22f. sowie Arrington 2010a, 52–56. Die Gefallenen von Marathon und Plataiai wurden bekanntermaßen in solchen Grabhügeln bestattet, die dann noch durch Inschriftenstelen markiert wurden. Zu Marathon vgl.: Clairmont 1983, 106–111 Nr. 6A; Steinhauer 2009, 117–123. Zu Plataiai: Clairmont 1983, 121–123 Nr. 11A+B. Die Hypothese, dass die frühen Polyandrien in Athen sich an solchen Gräbern und explizit jenen der Gefallenen der Schlachten von Marathon und Plataiai orientiert haben mögen, erscheint durchaus plausibel und gewinnt noch weiter an Attraktivität, wenn man berücksichtigt, welcher Stellenwert und Vorbildcharakter gerade diesen beiden Schlachten und den in ihnen Kämpfenden zukam. Man bedenke etwa die Rolle, die ihnen im Großteil der epitaphioi logoi zugewiesen wird. Gleichzeitig liegt auf der Hand, dass die Rahmenbedingungen der Errichtung der Gräber völlig unterschiedlich waren. Der tumulus war die gängigste Grabform, die gewählt wurde, wenn es nötig war, Gefallene einer Schlacht noch vor Ort zu begraben. Er erlaubte die problem-
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
noch eine Reihe anderer möglicher Typen gegeben haben, von denen einer dem bereits erwähnten Grab des Pythagoras mit mehrstufiger Basis und dort eingelassener Stele entsprochen haben mag.200 Tatsächlich belegen lässt sich anhand des vorhandenen Materials allerdings nur ein einziger Grabtypus: jener des Peribolos-Grabes. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine große Zahl der Stelen klare Hinweise dafür liefern, dass sie einst als Kompartiment einer durchgehenden Wand aufgestellt waren. Aus dem Material wird zudem ersichtlich, dass diese Wände häufig die zur Straße hin ausgerichtete Seite periboler Grabbezirke bildeten.201 Obwohl das Material stark fragmentarisch und die Datierung der einzelnen Überreste ausgesprochen schwierig ist, lässt sich doch die Tendenz ausmachen, dass diese Periboloi sich in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. als dominanter, wenn auch nicht einziger Typus für Gefallenengräber durchsetzten.202 Immerhin bildeten auch die nur schlecht
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lose Bestattung auch einer großen Zahl von Gefallenen und war zudem einfach zu errichten. Zwar war eine recht große Zahl an Arbeitskräften vonnöten, um den Hügel aufzuschütten, da jedoch bei solchen tumuli am Schlachtort i.d.R. auch auf Grabkammern verzichtet wurde, waren die eigentlichen Aufgaben simpel und benötigten keine aufwendige Vorbereitung, wie etwa das maßgenaue Vorbereiten von Steinen etc. Die Aufgaben konnten also von den Überlebenden verrichtet werden, ohne dass diese Spezialkompetenzen besitzen mussten. Für die jährlichen Gefallenenbegräbnisse stellten sich nun andere Rahmenbedingungen, die auch die Konstruktion eines zeit- und materialaufwendigeren Grabes erlaubt hätten. Dennoch bleibt der tumulus als frühe Form der Gefallenengräber weiterhin eine attraktive Lösung. Siehe weiter Arrington 2015, 79 zum tumulus in der Salaminosstraße sowie Clairmont 1983, 60, der bezüglich der Möglichkeit von Gefallenengräbern in Form von tumuli auf einige weißgrundige Lekythen verweist, auf denen ebensolche Gräber dargestellt werden. Siehe z.B. die bei Kurtz 1975, Taf. 27.1 u. Oakley 2004, Abb. 168 abgebildeten Beispiele. Folgt man Clairmonts These, dass die auf den weißgrundigen Lekythen dargestellten Gräber durch Staatsgräber inspiriert worden seien, könnte man annehmen, dass solche tumuli auch für die Gefallenen errichtet wurden. Oakley 2004 198f. betont, dass er gerade die These von den tymboi bzw. tumuli besonders überzeugend finde. Vgl. oben Anm. 196. Als Beispiel sei hier alleine auf drei mit einem Epigramm versehene Basisblöcke verwiesen, die in der Nähe des Dipylon gefunden wurden. Die auf ihnen angetragene Anathyrose zeigt deutlich, dass es sich um einen solchen Grabbezirk gehandelt haben muss. Besonders anschaulich sind die Rekonstruktionen gerade auch der Fassade bei Bradeen 1964, 21–28 inkl. Abb. 1 u. 2 und jüngst Tsiriyioti–Drakotou 2000, insb. Abb. 14 gelungen. Vgl. auch Clairmont 1983, 159–164 Nr. 31b sowie die zugehörigen Stelen in 31a und bei Tsiriyioti-Drakotou a.a.O. So auch Stupperich 1977, 22f.; 1994, 94; Arrington 2015, 80–82. Clairmont äußert sich nicht explizit zu einer Entwicklung hin zu peribolen Gräbern. Jedoch zeigt seine Behandlung der Inschriftenstelen im Katalogteil seiner Monographie, dass auch er davon ausgeht, dass die Stelen vermehrt zu Wänden zusammengestellt wurden, wenn er auch weiterhin von diversen unterschiedlichen Typen ausgeht. Vgl. hierzu Clairmont 1983, 60–73. Das früheste Beispiel, das einer solchen ‚Inschriftenwand‘ zuzuordnen ist, datiert ders. ebd., 145f. Nr. 25 in die 450er Jahre v.Chr. (Bradeen datiert die Fragmente in IG I3 1150 etwas vorsichtiger vor die Mitte des 5. Jh. v.Chr.). In die zweite Hälfte des 5. Jh. v.Chr. werden die drei bereits erwähnten Basisblöcke datiert, die offensichtlich einen solchen Grabbezirk begrenzten (Bradeen 1964, 21–28; Clairmont 1983, 158–164 Nr. 31+ b mit den Stelen unter
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untersuchten Polyandrien aus der Salaminosstraße, die der Zeit des Peloponnesischen Krieges zuzuordnen sind, einen Peribolosbezirk.203 Wie bei den zunehmend ebenfalls als Periboloi gestalteten Familiengräbern des späten 5. und des 4. Jh. v.Chr.204 konnten diese Grabbezirke zusätzlich durch das Aufstellen großer Reliefs geschmückt werden, die ausschließlich kämpfende Reiter und Hopliten zeigten.205 Neben den Reliefs führen sowohl Stupperich als auch Clairmont Argumente dafür an, dass die Gräber der Kriegstoten zudem auch mit Skulpturen dekoriert werden konnten. Jedoch lassen sich hierfür keine aussagekräftigen Belege finden, sodass der Vorschlag hypothetisch bleiben muss.206
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31a. IG I3 1163 sowie 1155 [d]). Ebf. zuzuordnen ist die Stele, die im Jahr 2000 nahe der Fundstelle der drei Basisblöcke entdeckt wurde und welche die Gefallenen der Phyle Erechtheis auflistet (Tsiriyioti-Drakotou 2000; SEG 52.60). Tsiriyioti-Drakotou will dabei die Datierung auf 412/11 v.Chr. ändern und zumindest Teile der Gefallenen der Sizilienexpedition zuordnen, jedoch kann ihre Argumentation nicht überzeugen. Ab den 440er Jahren v.Chr. finden sich dann vermehrt Fragmente, die Anathyrose aufweisen und damit klar in einen Verbund einzugliedern sind. Auch die Zahl der Stücke mit sunken channels steigt an und legt damit eine Stelenwand nahe. Siehe hierfür die vier Fragmente einer Gefallenenliste der 440er oder 430er Jahre v.Chr. (Bradeen 1974, Nr. 15; Clairmont 1983, 171f. Nr. 37; IG I3 1175) und ein Fragment aus dem gleichen Zeitraum (Bradeen 1974, 19; Stupperich 1977, 6, Anm. 1; Clairmont 1983, 172 Nr. 38; IG I3 1177). Vgl. auch fünf Fragmente einer Liste, die mit einiger Sicherheit den 430ern v.Chr. zugewiesen werden können (Bradeen 1974, Nr. 17; Stupperich 1977, 19, Anm. 3; Clairmont 1983, 178–180, 178–180 Nr. 43; IG I3 1180). Die Datierungen stammen jeweils von Clairmont. Bradeen datiert in den IG etwas vorsichtiger, was sicherlich auch zu empfehlen ist, stimmt jedoch jeweils der bei Clairmont angegebenen Tendenz zu, sodass die Angaben (wenn auch mit leichtem Vorbehalt) von Clairmont übernommen wurden. Weitere Beispiele könnten genannt werden, sollen hier aber aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden. Eine ausgiebige Studie des ausgezeichneten Katalogs bei Clairmont zeigt jedoch deutlich, dass zumindest immer mehr der Gefallenenlisten als Teile von Wänden konzipiert wurden, wenn auch sicher nicht alle. Zwar kann nicht belegt werden, dass diese dann alle eine Wand eines Peribolos bildeten, jedoch liegt dieser Schluss nahe. Vgl. Stoupa 1997; Rose 2000; Arrington 2015, 80f. Die Zuordnung zur Zeit des Peloponnesischen Krieges beruht auf der Datierung der Keramik, die zumindest einen terminus post quem angibt. Vgl. hierzu oben Anm. 31. Siehe Marchiandi 2011, passim. Clostermann 2006, 58f. weist auf das peribole Staatsgrab als mögliches Vorbild der Familienperiboloi hin. Siehe das Fragment bei Kaempf-Dimitriadou 1986, 23–30; Taf. 2., sowie das sog. Relief Albani, das evtl. einem Staatsgrab zuzuordnen ist (vgl. ebd., 31f., Taf. 4.3; CAT 2.131; Goette 2009, 196). Ders. nennt ein weiteres Fragment und bietet eine aktuelle und vollständige Liste der Reliefs (ebd., 189) ebenso wie Arrington 2015, 99–104, der auch die Problematik der Ausblendung der Ruderer aus der visuellen Repräsentation am Grab diskutiert. Siehe auch Stupperich 1978, 87–93; Taf. 14, der meint, ein Bruchstück eines Staatsgrabreliefs in Oxford identifizieren zu können. Vgl. weiter ders. 1977, 16– 20; sowie für eine generelle Behandlung der Reiterreliefs im staatlichen wie privaten Kontext Schäfer 2002, 181–224. Vgl. Clairmont 1983, 63–65. Die dort aufgegriffene These Karouzous, den Hermes Ludovisi als Hermes Psychopompos zu interpretieren und ihn auf einem Gefallenengrab zu lokalisieren, kann Stupperich 1977, 16 überzeugend widerlegen. Dennoch will auch er Skulpturen als Dekoration von Ge-
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
Ein idealtypischer Aufbau eines solchen Grabkomplexes bestand also aus einer Basis, die häufig das Epigramm für die Gefallenen trug.207 Hierauf folgten die Stelen mit der Liste der Gefallenen, die von einer Kopfzeile überschrieben wurde, die mit „οἵδε ἐν τõι πολέμοι ἀπέθανον“ oder einer ähnlichen Formulierung begann und evtl. auch auf einem separaten Block angebracht werden konnte.208 Die Stelen konnten schließlich entweder direkt selbst über eine Abschlussleiste verfügen oder aber von einem Relief gekrönt werden.209 Es lässt sich also durchaus ein gewisser Prozess der Angleichung und Uniformisierung der Gräber beobachten, auch wenn dieser nie so weit ging wie etwa im Falle moderner Gefallenengräber und die Einheitlichkeit der Monumente zudem durch die räumliche Verteilung aufgebrochen wurde. Dennoch waren die staatlichen Polyandrien auf den ersten Blick als solche zu erkennen und müssen gerade in der Phase zwischen der Frühzeit des Brauches und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges, in der sich kaum monumentale Privatgräber fanden, besonders hervorgestochen sein. Selbst in späteren Phasen, als auch im privaten Raum wieder aufwendigere Gräber errichtet wurden, müssen die
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fallenengräbern rekonstruieren. Vgl. ebd. 21, sowie 1994, 90–100. Insbesondere Löwen erscheinen ihm demnach als wahrscheinliche Motivwahl, ebenso wie Kampfszenen. In der Tat finden sich auch auf den weißgrundigen Lekythen Grabmale mit statuarischer Dekoration. Siehe Oakley 2004, Abb. 96; 156; 157; 165. Ob die bei Clairmont 1983, Taf. 5a abgebildete Vase, die einen Krieger (eine Kriegerstatue?) zeigt, der mit der Hüfte auf einem tumulus aufsitzt, einen Hinweis auf statuarische Dekoration bietet, muss fraglich bleiben. Solange solche Skulpturen nicht direkt durch den Fundkontext mit den Gräbern in Verbindung zu bringen sind, müssen alle etwaigen Rückschlüsse reine Hypothese bleiben. Zumindest können aber das Polyandrion der 424 v.Chr. gefallenen Thespier (s.u. 2. I. Thespiai) und das Grab der gefallenen Thebaner bei Chaironeia (s.u. 2. I. Theben), die beide mit Marmorlöwen dekoriert waren, als Belege solcher Ausstattung in anderen poleis dienen. Vgl. Clairmont 1983, 61 sowie den Kommentar zu Nr. 32b (165–169). Wie 32b zeigt, konnte das Epigramm auch durchaus mit auf der Stele angebracht werden. Auch auf der 1995 in Athen gefundenen Stele ist das Epigramm am oberen Ende, sogar noch über der Kopfzeile angebracht. Siehe Parlama/ Stampolidis 2000, 396–399, Nr. 452 inkl. Abbildungen; SEG 46.29; 48.83. Clairmont jedoch hält diese Anbringung für eine Ausnahme und meint, i.d.R. sei das Epigramm wie bei 31b direkt auf der Basis angebracht worden. Möglicherweise wurde das Epigramm auf den hier genannten Beispielen direkt auf der Stele angebracht, weil das Monument eben nur aus einer Stele bestand und die Basis sich vielleicht nicht für eine solche Anbringung eignete. Siehe zu den Epigrammen weiter Stupperich 1994, 94; 1977, 5; 12–14. Ein Beispiel hierfür wäre Clairmont 1983, 174–177 Nr. 41, bei dem sowohl Epigramm als auch Kopfzeile auf einem separaten Block angebracht waren, der dann wohl auf die Stelen aufgesetzt wurde. Siehe zum Stück weiter Bradeen 1974, Nr. 16; Stupperich 1977, 17, Anm. 1; IG I3 1179. So etwa bei dem Grabmonument für die Gefallenen des Jahres 394 v.Chr. (Clairmont 1983, 68a) und dem Relief aus dem Palaiologos-Schacht (siehe Anm. 207). Die Inschrift auf letzterem Relief ist noch immer nicht publiziert und nur eine grobe Ordnung sowie Teile des Epigramms sind durch die bisherigen Publikationen bekannt. Bei Parlama/Stampolidis 2000, Nr. 452 finden sich immerhin einige hochauflösende Abbildungen, die zumindest ein grobes Erfassen der Inschrift, wenn auch keine vollständige Lesung erlauben.
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1. Der patrios nomos in Athen
Gefallenengräber, wenn schon nicht durch ihre Form, so doch in jedem Fall durch die auf ihnen angebrachten Gefallenenlisten noch von weitem erkenntlich gewesen sein.
Die Grabepigramme Bevor wir uns den Gefallenenlisten zuwenden, soll hier zumindest kurz noch auf die Epigramme eingegangen werden, die ebenfalls an den Gefallenengräbern angebracht waren. Auch diese Gattung ist freilich nicht ohne Probleme, ist ein signifikanter Teil der Epigramme doch nur mittels der literarischen Quellen auf uns gekommen, sodass die Authentizität dieser Gedichte oftmals nur schwer zu überprüfen ist. Dennoch findet sich für den Fall Athens eine ausreichend große Zahl an Epigrammen, die entweder durch eine verlässliche Quelle überliefert sind oder sich gar auf den Monumenten selbst erhalten haben, sodass zumindest ein Überblick über die Themen und Motive der Gattung gegeben werden kann. Bereits Nicole Loraux stellte diesbezüglich fest, dass die Epigramme kaum Unterschiede zu den epitaphioi logoi aufweisen, sondern diese ergänzen.210 Tatsächlich wird in fast allen erhaltenen Epigrammen die ἀρετή gepriesen, die die Gefallenen durch ihren Schlachtentod bewiesen hätten.211 Die jungen Männer hätten ihr Leben hingegeben und durch ihren Tod zur Mehrung des Ruhmes ihrer πατρίς beigetragen.212 Diese wiederum versicherte, die Leistung und das Opfer der Toten auf alle Zeit durch Ehrerweisungen zu vergelten.213 Doch nicht nur für die πατρίς hatten die jungen Krieger in der Schlacht ihr Leben gegeben. Viele der 210
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Siehe Loraux 1981, 54–56. Eben weil die Epigramme in ihren Themen derart eng mit den epitaphioi logoi übereinstimmen, werden sie in den Arbeiten zum attischen Staatsbegräbnis meist nur knapp behandelt. Siehe Stupperich 1977, 12–14. Arrington 2015 kommt an verschiedenen Stellen auf sie zurück (siehe etwas ebd. 96–100; 116f.). Clairmont 1983 erwähnt konsequent alle überlieferten Epigramme in seinem Katalog, geht oftmals aber etwas zu unkritisch mit den Texten um und führt viele Gedichte an, die mit Sicherheit nicht authentisch sind. Ich werde im Folgenden nur solche Epigramme diskutieren, die inschriftlich überliefert sind oder deren Überlieferung als zuverlässig gelten kann. So etwa im Epigramm für die Gefallenen der Phyle Erechtheis auf der Marathonstele aus der Villa des Herodes Atticus (SEG 56.430; Steinhauer 2004–2009, passim), auf dem Kenotaph der Gefallenen Marathonkämpfer in Athen (IG I3 503/4; Page 1981, 219–225; Arrington 2015, 43–48) und auf einer Reihe von Gefallenenmonumenten der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. (IG I3 1162 = GV 18; IG I3 1167; IG I3 1163 = GV 17; IG I3 1179). Die Zeugnisse aus dem 4. Jh. v.Chr. sind deutlich unsicherer, weshalb ich sie hier nicht aufführen will. Vgl. SEG 56.430; IG I3 1181 mit Anth. Pal. 7.254; IG I3 1162 = GV 18; IG I3 1179; Demosth. or. 18.289; IG II/III2 5226 mit Anth. Pal. 7.245; IG II/III2 5225. Siehe IG I3 503/4; IG I3 1181 mit Anth. Pal. 7.254; IG I3 1162 = GV 18; IG I3 1179; IG II/III2 5226 mit Anth. Pal. 7.245. Sourvinou-Inwood 1995, 192–207 (insb. 192–194) glaubt, an den Epigrammen ablesen zu können, dass den Gefallenen Heldenstatus zugewiesen werde. Siehe hiergegen Arrington 2015, 116f.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
Epigramme weisen auch darauf hin, dass die gefallenen Athener im Kampf für die Freiheit und gegen die Versklavung aller Griechen gefallen seien.214 Dieser topos setzt bereits mit der Schlacht von Marathon ein und findet sich bis zur Mitte des 5. Jh. v.Chr. häufig in Verbindung mit dem Kampf gegen die Perser.215 Die Verknüpfung ist naheliegend, war der Seebund doch für die Weiterführung des Kampfes gegen die Perser gegründet worden, weshalb es den Athenern doch nur recht sein konnte, so oft wie möglich auf ihre Mühen im Kampf gegen diesen Erzfeind hinzuweisen. Mit den zunehmenden Spannungen innerhalb Griechenlands verschwand der topos des Kampfes für die Freiheit von ganz Hellas aus den Epigrammen. Erst ein gutes Jahrhundert später, nachdem die Versuche der Spartaner und der Thebaner, eine eigene Hegemonie in Griechenland zu errichten, gescheitert waren und die Makedonen als neue Bedrohung der griechischen Selbstbestimmung auftraten, wurde auch dieser topos wieder aufgegriffen.216
Die Gefallenenlisten Wie oben bereits dargelegt wurde, stellten die Inschriftenstelen, auf denen die Kriegstoten des jeweiligen Jahres angegeben waren, als eigentliche Grabmarker das zentrale Element der Polyandrien dar und nahmen einen dementsprechend prominenten Platz auf den Grabmälern ein. Je nach Anzahl der Toten und der unterschiedlichen Kriegsschauplätze konnte dabei auch die Anordnung der Namen leicht variieren, sodass manchmal erst nach Phylen und sekundär nach Schlachtorten, ab der Mitte des 5. Jh. v.Chr. dann aber fast ausschließlich primär nach Schlachtorten und sekundär nach Phylen sortiert wurde.217 Die einzelnen Gefallenen wiederum wurden
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Siehe etwa das Marathonkenotaph in Athen IG I3 503/4. Neben einigen der genannten Epigramme bieten Anth. Pal. 7.258 und Diod. Sic. 11.62 noch zwei unsichere Belege dieser Verknüpfung. So SEG 28.240 mit Clairmont 1983, 215 Nr. 75; IG II/III2 5226 mit Anth. Pal. 7.245; Demost. Or. 18.289. Auch IG II/III2 5225 aus dem letzten Drittel des 4. Jh. v.Chr. greift den Freiheitstopos wieder auf, setzt ihn allerdings wohl nur in Bezug zur polis. Die Ordnung lässt sich nur für eine begrenzte Zahl der Inschriften feststellen. Dabei sind aber alle Inschriften, die nach dem Phyle/Schlachtort-System ordnen, vor der Mitte des 5. Jh. v.Chr. zu veranschlagen. Siehe IG I3 1144 sowie möglicherweise IG I3 1147 und 1184. Die Schlachtort/Phyle-Ordnung hingegen ist erstmals für das Grab der Argiver des Jahres 458/7 v.Chr. belegbar: IG I3 1149 (Clairmont 1983, 136–138 Nr. 21a). Weitere Denkmäler mit diesem Ordnungsprinzip sind IG I3 1162; 1183; 1184; IG II/III2 5220; SEG 48.83 sowie wahrscheinlich IG I3 1161; 1163; 1190; 1191. Eine Phylenordnung lässt sich zudem für IG I3 1147; 1186; 1193 und SEG 56.430 erkennen, ohne dass Klarheit über Ortsangaben herrscht. Bei der in der Villa des Herodes Atticus gefunden Stele der
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1. Der patrios nomos in Athen
nur mit ihrem Eigennamen ohne Patronym oder Demotikon aufgelistet, wobei jedoch gewisse Funktionsträger und Untergruppen durch zusätzliche Beischriften gekennzeichnet werden konnten. Bereits auf der Gefallenenstele der Phyle Erechtheis aus dem Jahr 459/8 v.Chr. wurden Strategen explizit als solche bezeichnet218 und die Benennung der Heerführer findet sich noch auf zwei weiteren Stelen, von denen eine dem Jahr 394 v.Chr. zuzuordnen ist.219 Trierarchen wurden im späten 5. Jh. v.Chr. auf den Stelen gekennzeichnet, sind dann aber gleich in großer Zahl zu vermerken. Christoph Clairmont will diese Beobachtung dadurch erklären, dass es nun häufiger zu schwereren Gefechten zur See kam und dass daher ganz automatisch auch die Zahl der gefallenen Trierarchen gestiegen sein müsse. Doch fällt auf, dass alle Monumente, die Trierarchen nennen, ausschließlich aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges stammen, sodass diese Erklärung zu kurz zu greifen scheint.220 Schließlich mutet es in Anbetracht der regen mi-
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Gefallenen der Phyle Erechtheis, die bei Marathon gekämpft hatten, erübrigte sich die Nennung des Schlachtorts. Siehe zur Stele SEG 56.430; 51.425; 53.354; 55.413; Steinhauer 2004–2009, passim; ders. 2009, 122f. Clairmont 1983, 130–135 Nr. 20a; IG I3 1147, Z. 5ff. u. 62f. IG gibt die Datierung mit „460 (?)“ an. Der Plural „στ[ρα]τεγõν“ im Vergleich zum Singular in Z. 62 mag implizieren, dass mehrere Strategen ihr Leben verloren, ohne dass deren Zahl genauer benannt werden könnte. Möglicherweise handelt es sich aber auch um ein Partizip. Vgl. hierzu auch Bradeen 1969, 147, der meint, es möge sich um einen „phylarch acting as general“ handeln, sowie Clairmont 1983, 51. Die beiden Autoren sowie Stupperich 1977, 11f. stellen die relevante Sekundärliteratur bezüglich der Nennung von Funktionären zusammen. Im Folgenden wird aus Gründen der Übersicht nicht jedes Mal erneut auf diese Stellen verwiesen. Auf die Katalognummern bei Clairmont oder andere Sekundärliteratur wird nur verwiesen, insofern sie wichtige Informationen oder Kommentare enthält. Auf dem Monument für die Gefallenen des Jahres 394 v.Chr. werden zwei Strategen genannt (IG II/III2 5221; Clairmont 1983, 209–212 Nr. 68a). Spätere Nennungen finden sich nicht, was aber auch mit dem rapiden Abfall verfügbarer Evidenz in Verbindung gebracht werden mag. Einzig in IG I3 1162 werden die Strategen nicht ihrer jeweiligen Phyle zugeordnet. Clairmont 1983 will noch seine Nr. 78 (=IG II/III2 5225) einem Strategen zuordnen, jedoch handelt es sich nicht um eine Liste, sondern ein Epigramm und zudem bleibt eine explizite Bezeichnung als Stratege aus. Für eine Übersicht der auf den Listen genannten Funktionsträger siehe Anhang. Die früheste Nennung eines Trierarchen, die mit einiger Sicherheit datierbar ist, findet sich auf der Stele, die ungefähr dem Jahr 411 v.Chr. zugeordnet wird (IG I3 1186; Clairmont 1983, 207 Nr. 65). Auch IG I3 1190 (Clairmont 1983, 195–197 Nr. 56), die in diesen Zeitraum datiert, nennt mehrere Trierarchen, ebenso wie die etwas zögerlicher datierte Liste IG I3 1192 (Clairmont 1983, 201f. Nr. 58c). Einzig IG I3 1166 (Clairmont 1983, 207 Nr. 65) ist möglicherweise noch früher zu datieren, wird aber ebenfalls dem Ende oder frühestens der Mitte des 5. Jh. v.Chr. zugeordnet. Bemerkenswert ist IG I3 1191, auf der möglicherweise bis zu 17 Trierarchen genannt werden. Allerdings sind viele der Bezeichnungen nur fragmentarisch erhalten und so mag es sich bei einigen der Genannten nicht um Trierarchen, sondern etwa um Taxiarchen gehandelt haben, die sich ebf. auf derselben Liste verzeichnet finden und die gleiche Zahl an Buchstaben einnehmen. Bradeen 1964, 43–55 kann eine Datierung in das Jahr 409 v.Chr. oder kurz danach recht wahrscheinlich machen und auch Clairmont 1983, 198 Nr. 58a schließt sich Bradeen hierin an.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
litärischen Aktivität der athenischen Flotte sehr unwahrscheinlich an, dass sich die Namen gefallener Trierarchen exklusiv auf den Listen ebenjener Epoche erhalten haben sollen. (Ich werde weiter unten noch einmal auf das Thema zurückkommen).221 Neben den beiden Ämtern des Strategen und des Trierarchen werden auf den Listen auch andere Offiziere und Funktionäre explizit als solche benannt, wobei einige der überlieferten Titel einzig aus den Inschriften bekannt und nicht genau zu fassen sind. Auch hier sollte erwähnt werden, dass fast alle Beispiele von einigen wenigen Stelen aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges oder zumindest der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. stammen. Unter den gekennzeichneten Funktionsträgern finden sich auf einer Inschrift zweimal der Titel „ἄρχον τõ ναυτικõ“;222 jeweils ein einziges Mal der Titel „[περι]πόλαρχος“ und „τόχσαρχος“ auf einer Stele223 sowie möglicherweise gleich dreimal je ein „φρούαρχος“ auf vier unterschiedlichen Stelen, wobei es sich allerdings wahrscheinlich um Eigennamen handelt.224 Eine Stele nennt zwei Taxiarchen,225 während jeweils ein Phylarch auf zwei unterschiedlichen Inschriften genannt wird.226 Neben Offizieren konnten aber auch Personen mit besonderen Funktionen benannt werden, wie die Bezeichnung von einem „μάντις“, einem „[ἰα]τρηος“ sowie evtl. einem „φυσικός“ auf drei unterschiedlichen Stelen zeigt.227 Auch einzelne Waffengattungen wurden regelmäßig unterschieden. Am häufigsten wurden dabei „τοχσόται“ und insbesondere „τοχσόται βάρβαροι“ benannt, während sich die explizite Kennzeichnung von berittenen Bogenschützen und Reitern jeweils nur einmal auf unterschiedlichen
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S.u. 3. II. Der patrios nomos und das attische Imperium. IG I3 1191, Z. 105–109. IG I3 1186, Z. 77 u. 80. IG I3 1147, Z. 49; 1190, Z. 73; 1191, Z. 94; 1192, Z. 123. Ein Blick auf PAA 964685–964750 zeigt, dass der Name sehr selten vorkommt, aber durchaus existierte. Für IG I3 1147 und 1191 lässt sich eine Amtsbezeichnung wohl ausschließen, da alle anderen Offiziere jeweils am Anfang der Spalten aufgelistet werden. In IG I3 1190 ist die Rekonstruktion ohnehin schwierig, da nur die ersten drei Buchstaben erhalten sind. Einzig in IG I3 1192 könnte ein Titel wahrscheinlich gemacht werden, da hier auch andere Offiziere inmitten der Spalten genannt werden. In Anbetracht der Zweifel bezüglich der anderen Beispiele erscheint ein Titel aber auch hier unwahrscheinlich. Vgl. auch Bradeen 1969, 147, Anm. 13. IG I3 1191, Z. 111 u. 113. IG I3 1190, Z. 179; IG II/III2 5222, Z. 2. μάντις: IG I3 1147, Z. 129; [ἰα]τρηος: IG I3 1160, Z. 6; φυσικός: IG I3 1190, Z. 152. Bei letzterem Eintrag wird mittlerweile angenommen, dass es sich wohl doch um einen Namen handelt und dass hier lediglich aus Platzgründen zwei Namen in der gleichen Zeile eingetragen wurden. Vgl. Wright 1977, Anm. 5; Lewis’ Kommentar in Bradeen/Lewis 1979, 245 mit Bezug auf Rhodes per epist.; Clairmont 1983, 196 sowie den Kommentar in IG I3. In der Tat fällt auf, dass alle anderen Titel in der Liste nach dem Namen stehen und dass einzig im Falle des φυσικός der Titel zuerst stünde. PAA 966945 erfasst ihn zwar als einzige Person dieses Namens, vermerkt allerdings Zweifel an der Lesung als Eigenname.
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1. Der patrios nomos in Athen
Stelen findet.228 Die singuläre Markierung von Hopliten auf einer Inschrift ist hingegen als falsche Ergänzung abzulehnen.229 Wie schon das Beispiel der „τοχσόται βάρβαροι“ zeigt, wurden auf den Listen nicht nur attische Bürger erfasst, sondern auch Nicht-Athener, die im Kampf auf Seiten der polis gestorben waren. Söldner wurden scheinbar unter der Rubrik „χσένοι“ auf mehreren Stelen erfasst, während Verbündete unter ihrem Ethnikon aufgeführt wurden.230 Drei Beispiele von unterschiedlichen Stelen scheinen zu belegen, dass Metöken innerhalb der Phylenordnung genannt werden konnten.231 Jedoch handelte es sich möglicherweise auch bei den „τοχσόται“ (ohne „βάρβαροι“)
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Einige Bogenschützen werden auf der Stele der Phyle Erechtheis in IG I3 1147 genannt, wobei zu fragen bleibt, ob diese wirklich der Phyle zuzuordnen sind oder ob hier nicht vielmehr in Zuge des Nachtrages von Opfern auch einige nicht-athenische Bogenschützen aufgeführt wurden. Auch für IG I3 1184 ist der Bürgerstatus anzuzweifeln. Die Betroffenen werden außerhalb der Phylenordnung aufgelistet und sind zwischen dem Eintrag „ἔνγρα[φοι]“ (= eingezogene Metöken? Siehe unten Anm. 233) mit Nennung von zwei Namen und der Kategorie „χσένοι“ eingefügt. In beiden Fällen mag es sich also um Metöken handeln, die zum Kriegsdienst verpflichtet wurden. Dies ließe sich auch mit Thuk. 4.94 übereinbringen, wo der Autor berichtet, die Athener hätten in dieser Zeit, also 424/3 v.Chr. – dem Jahr, in das auch IG I3 1184 datiert wird – über keine eigenen Leichtbewaffneten verfügt. „Τοχσόται βάρβαροι“: IG I3 1172; 1180; 1190; 1192. „Hιππο[τοχςότες]“: IG I3 1192. Ἱππέης wurden wohl separat durch das bekannte Denkmal des Jahres 394/3 v.Chr. geehrt, auf dem auch ein Phylarch genannt wird (IG II/III2 5222). Hierbei ist weiter ungeklärt, ob es sich um eine staatliche oder private Ehrung handelte. Vgl. Clairmont, 1983, 212–214 Nr. 68b. Bradeens Ergänzung hοπλ[ῖται] in IG I3 1191 wäre singulär und wird von Stupperich 1977, 9 Anm. 7 zurecht stark angezweifelt, gerade weil Bradeen selber auf den Namen „Ὅπλων“ als mögliche Ergänzung hinweist. PAA listet immerhin drei Vertreter dieses Namens auf (748425; 748430; 748435). Bradeen 1974, 33 kommentiert, dass eine Ergänzung als „hοπλ[ῖται]“ notwendig sei, da andernfalls dem Titel „τριέ[ραρχοι]“ aus Z. 56 mindestens 13 Namen zuzuordnen seien. Dabei scheint er zu übersehen, dass er selbst diesen Titel im Plural ergänzt hat, und dass eine Ergänzung im Singular, der dann nur der direkt folgende Name zuzuordnen wäre, dieses Problem auflösen würde. Immerhin werden die Trierarchen und sonstige Offiziere auch in den anderen Spalten jeweils mit dem Titel im Singular und ihrem Namen aufgelistet, selbst wenn mehrere Gefallene des gleichen Ranges zu verzeichnen waren (vgl. Z. 32–43; 104–121; 197–204). Was Bradeen irritiert, ist die Tatsache, dass nur in Col. III zuerst der Titel stand und dann erst der Name folgte, während die anderen Coll., für die dies noch erkennbar ist, mit dem Namen begannen und den Titel folgen ließen. Jedoch sollte eine Unregelmäßigkeit, die vermutlich ohnehin nur auf einen Flüchtigkeitsfehler zurückzuführen ist, nicht durch eine größere Unregelmäßigkeit erklärt werden. So scheint die plausibelste Lösung darin zu bestehen, den Titel im Singular zu ergänzen, auch wenn dies bedeutet hätte, das die Phyle Pandionis deutlich weniger Offiziere verloren hätte, als die anderen Phylen. „Χσένοι“: IG I3 1180; 1184; 1190. Verbündete mit Ethnikon: IG I3 1144; 1164; 1165. Zur Identifikation der „χσένοι“ als Söldner siehe Bradeen 1969, 150; Clairmont 1984, 50; Loraux 1981, 35f. Hierbei handelt es sich um die Nennungen von „Κάλλιπος Ἐρετριεύς“ (IG I3 1190, Z. 13f.), „Καλλικλε̑ς Ἐλευθερᾶθεν“ (IG I3 1162, Z. 95f.) sowie „Δελόδοτος: Κέιο[ς]“ (IG I3 1150, Z. 13).
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
um Metöken,232 ebenso wie bei den beiden Gefallenen, die unter der unsicher als „ἔνγ̣ρ̣α̣[φοι]“ gelesenen Überschrift auf der Stele des Jahres 423 v.Chr. aufgenommen wurden.233 Singulär ist die Bezeichnung „[θ]εράποντες“, die auf die Bestattung von Sklaven im demosion sema verweist. Da aber auch Pausanias in seiner Beschreibung der Gefallenengräber ein Monument erwähnt, auf dem „δούλοι“ verzeichnet waren, kann wohl tatsächlich davon ausgegangen werden kann, dass auch Sklaven im demosion sema bestattet werden konnten.234 Die Art und Weise, in welcher die Gefallenen in den Listen kommemoriert wurden, muss sich massiv auf die Wahrnehmung und Wirkweise der Grabmonumente niedergeschlagen haben. Die einzigen Informationen, die die Listen der Gefallenen vermittelten, bestanden im Eigennamen, der Phylenzugehörigkeit sowie in wenigen Einzelfällen noch einer Amts- oder Funktionsbezeichnung. Ohne Patronym oder Demotikon aber war eine zweifelsfreie Identifikation der Toten nicht möglich und gerade bei hohen Verlusten müssen Namensdoppelungen auch in derselben Phyle häufig vorgekommen sein, wie dies ein Beispiel des Jahres 460/59 v.Chr. deutlich zeigt.235 Christoph Clairmont geht gar so weit, vorzuschlagen, dass bei enorm hohen Verlusten, wie etwa der sog. ‚Sizilischen Katastrophe‘, bei der 10000 Mann oder mehr umgekommen sein sollen, nicht einmal mehr die einzelnen Namen aufgelistet worden wären, sondern nur die Namen der Phylen mit einer Bezifferung der jeweiligen Verluste, eventuell unter Angabe der
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S.o. Anm. 228. Loraux 1981, 33f. ist hingegen der Ansicht, dass es sich bei den „τοχσόται“ um leichtbewaffnete Athener gehandelt haben müsse. IG I3 1184, Z. 76–78. Es handelt sich um den einzigen Beleg für den Terminus. Bradeen 1969, 150 will die „ἔνγραφοι“ als eine Gruppe von Metöken mit besonderen Rechten aber eben auch Pflichten sehen. Stupperich 1977, 11 mit Anm. 6 meint nach Autopsie, dass nur die ersten beiden Buchstaben sicher gelesen werden könnten. Anstelle von „ἔνγραφοι“ schlägt er daher vor, evtl. eine Ortsangabe zu rekonstruieren (ἐν + Ortsangabe im Dativ). Lewis schließt sich Stupperichs Meinung an. Siehe seinen Kommentar in Bradeen 1969, 244, demgemäß auch Bradeen wohl geneigt war, Stupperichs Annahme zuzustimmen. Siehe IG I3 1144 und Paus. 1.29.7. Vgl. auch Welwei 1974, 41–45; 54. Problematisch ist Pausanias’ (1.32.3) Beschreibung der Gräber bei Marathon. Er behauptet, die attischen Sklaven, die in der Schlacht gefallen waren, seien zusammen mit den verbündeten Plataiern bestattet worden. Wie ich weiter unten (2. I. Plataiai) argumentiere, ist dies aber ein unrealistisches Szenario, da die Sklaven wohl kaum mit den Plataiern zusammen bestattet worden wären. In den beiden genannten Fällen wurden die Sklaven ebenso wie Verbündete, Metöken und Söldner in anderen Fällen zusammen mit den Athenern bestattet. Es ist allerdings nicht gesagt, dass dies bereits zur Zeit der Schlacht von Marathon der Fall war. Im Falle der Opfer der Phyle Erechtheis (IG I3 1147) treten diverse Namensdoppelungen auf, so bei den Namen Ἀναχσίλας (Z. 112; 138), Ἀπολλόδορος (18; 87), Γλαύκον (69; 139), Δεμέτριος (153; 156), Ἐπιχάρες (110; 169), Ἐυθύδεμος (31; 77), Λυσίας (93; 99), Μνεσιγένες (58; 83), Χαιρίας (113; 152), Χαρίσανδρος (25; 50). Dreimal tritt gar der Name Φιλῖνος (79; 95; 101) auf. Auch auf IG I3 1190 findet sich der Name Ἀρίσταρχος gleich dreimal (44; 89; 127), ohne dass jedoch die Phylenzugehörigkeit geklärt werden kann. Clairmont 1983, 325–363 ist die prosopographische Erfassung der Opfer zu verdanken.
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1. Der patrios nomos in Athen
jeweiligen Strategen und Kommandeure.236 Dies mag extrem erscheinen; bedenkt man jedoch den Zeitaufwand, den die Erstellung einer solchen Liste bedeutet hätte, sowie den Platz, den sie am Grab benötigt hätte, wirkt der Gedanke nicht abwegig. Aber selbst wenn eine Liste mit den Namen aller Gefallener erstellt worden wäre, wäre es ohnehin fast unmöglich gewesen, die einzelnen Individuen in der Masse der Namen und zudem ohne Patronym auszumachen. Jeder, der einmal das Denkmal für die über 50000 Gefallenen des Vietnamkrieges in Washington D.C. besucht hat, vermag sich vorzustellen, welch ein Unterfangen es bedeuten würde, einen bestimmten Namen unter 10000 gleichmäßig in stoichedon eingemeißelten, nicht weiter erkenntlich sortierten Einträgen auszumachen.237 Brian Bosworth beschreibt den Effekt treffend, indem er festhält: The very number of the fallen reduces each individual name to anonymity, like so many leaves in a forest of dead. […] The separate casualties might be remembered in their families […], but in the collective monument they are lost, insignificant components of the tribal sacrifice.238
Selbst wenn es in einem Jahr nur wenige Kriegstote gab und die Angehörigen somit problemlos ‚ihre‘ Toten in der Liste identifizieren konnten, war doch zum einen die zweifelsfreie Identifikation durch Dritte nicht garantiert und zum anderen die Zuordnung zum jeweiligen oikos unterbunden. Tatsächlich schiene es daher wohl berechtigt, von einer Anonymisierung des individuellen Gefallenen zu sprechen, wie sie Bosworth und auch andere postulieren.239 Zwei Bemerkungen müssen dieser These jedoch entgegengestellt werden. Zum einen weist Sarah Brown Ferrario darauf hin, dass sich in der Zeit zwischen 480 und 430 v.Chr. viele private Grabmäler in Athen nicht nur durch ein gewisses „anti-display“ in der Form der Grabmarker auszeichneten, sondern dass sich auch die Inschriften lediglich auf die nötigsten Informationen beschränkten und teilweise sogar auf die Nennung des Patronyms und des Demotikons ver236
237
238 239
Clairmont 1983, 18. Plat. Men. 242e–243a erwähnt das Grab dieser Gefallenen, nennt jedoch keine weiteren Details. Auch Paus. 1.29.12 erwähnt das Grab und merkt noch an, dass Nikias nicht in die Liste der gefallenen Strategen aufgenommen worden sei, weil er sich den Syrakusanern freiwillig ergeben habe. Tsiriyioti-Drakotou 2000 will die ebd. erstmals publizierte und mit IG I3 1163 und 1155 (d) zu verbindende Stele der Sizilienexpedition zuordnen, kann allerdings kaum überzeugende Argumente anführen. Vgl. auch Anm. 202. Auch in Washington gelingt dies nur anhand bereitgestellter, alphabetisch sortierter Verzeichnisse, in denen die genaue Mauersektion aufgelistet ist, auf der der Name des jeweiligen Verstorbenen festgehalten ist. Bosworth 2009,168f. So etwa besonders Loraux 1981, 104. Vgl. aber auch Derderian 2001, 161; 167–177; Arrington 2011, 189–191; 2015, 120f.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
zichteten.240 Die genaue Kennzeichnung des Verstorbenen durch Angabe des Vaternamens und der Herkunft war also nicht zwingend nötig oder gar gewünscht. Erst ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. gewannen Patronym und Demotikon wieder klar an Bedeutung, was sicherlich primär auf das 451/0 v.Chr. verabschiedete Bürgerrechtsgesetz des Perikles zurückzuführen ist, das dem Abstammungsnachweis erhöhtes Gewicht zukommen ließ.241 Zum anderen ist anhand der Gefallenenlisten selbst deutlich erkennbar, dass große Mühe darauf verwendet wurde, innerhalb des demokratisch-egalitären Aufzählungsprinzips der Stelen eine möglichst genaue Zuordnung der einzelnen Toten zu ermöglichen.242 Nicht nur wurde jeder einzelne Gefallene erfasst, selbst wenn dies zu Mehrfachnennungen diverser Namen innerhalb derselben Phyle führte. Auch zeigen zahlreiche Nachträge in den Listen, dass nicht nur jeder Gefallene erfasst werden sollte, sondern dass besonderer Wert darauf gelegt wurde, dass die Toten auch an der richtigen Stelle genannt wurden. Die Stelen, die wahrscheinlich den Gefallenen der Schlacht von Drabeskos gewidmet waren, dienen als geeignetes Beispiel.243 Stele A weist auf der Front die Reste von 2 Spalten auf und trägt zudem auch auf der rechten Schmalseite noch einige Namen. Von den auf der Schmalseite verzeichneten Gefallenen wurden die letzten drei (Z. 51-53) deutlich von einer anderen Hand eingeschrieben und sind demnach wohl als Nachträge zu interpretieren. Zudem finden sich aber auch auf der Front, zur Linken der ersten Spalte zwei vertikal eingetragene Namen (Z. 39 u. 40), die wohl ebenfalls Nachträge darstellen. Das sich hieraus ergebende Problem fasst Christoph Clairmont wie folgt zusammen: „We are at a total loss how to explain the two names at the left edge (ll. 39-40), especially since there was plenty of room to add them above or below l. 41 and 53 respectively on the r(ight) h(and) s(small) s(ide).“244 Die Antwort auf Clairmonts Problem hat Donald Bradeen bereits 1974 gegeben, wenn auch nicht explizit geäußert. In seiner Edition der Inschrift überschreibt er die Spalte rechts von den vertikalen Nachträgen mit „col. II“ und schlägt damit vor, dass links der beiden erhaltenen Spalten, ursprünglich eine weitere vorhanden war, der dann auch die beiden Namen in Z. 39 u. 40 zuzuordnen wären.245 Die Tatsache, dass die beiden Nachträge an ebendieser Stelle und nicht auf der rechten Schmalseite angebracht wurden, impliziert, dass sie gemäß des angewandten Ordnungssystems eben 240
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Siehe Brown Ferrario 2006, passim, besonders prägnant aber 82, sowie die aufschlussreichen Tabellen. Siehe auch Morris 1994, insb. 73. Ein Teil der dokimasia bestand darin, die Gräber der Vorfahren identifizieren und zudem zeigen zu können, dass diese regelmäßig gepflegt wurden. Eine ausgezeichnete Darstellung hierzu findet sich bei Hildebrandt 2006, 187–191. Ähnlich auch Low 2012, passim. IG I3 1144. Zum Folgenden siehe Clairmont 1983, 127–130 Nr. 18 mit Taf. 15; Bradeen 1967, 21; 1974, Nr. 1. Weitere Beispiele für Nachträge explizit dieser Art finden sich u.a. in IG I3 1147, Z. 70; 1147bis, Z. 50 u. 51; 1177, Z. 10. Clairmont 1983, 128. Siehe Bradeen 1974, Nr. 1. Auch in IG I3 1144 erwähnt er die Problematik mit keinem Wort.
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1. Der patrios nomos in Athen
zur heute verlorenen ersten Spalte gehörten und nicht auf die rechte Schmalseite.246 Sie sollten nicht einfach am Ende der Liste angefügt werden, sondern eben an genau der Stelle, die ihnen zustand. So wird anhand dieses Beispiels also das Bestreben deutlich, den Einzelnen so genau wie möglich innerhalb der Gemeinschaft zu verorten. Auch die auf fast allen Stelen zu beobachtende optische Hervorhebung von Phylennamen oder anderen Überschriften247 sowie die Kennzeichnung von Kriegsschauplätzen diente wohl der Erleichterung der Zuordnung. Schon alleine die Tatsache, dass die Gefallenen überhaupt mit Namen verzeichnet waren, ist bemerkenswert, wäre es doch auch problemlos denkbar gewesen, ein Monument zu errichten, das nicht jedes einzelne Opfer aufführte, sondern das nur allgemein in einem Epigramm auf die gefallenen Athener und ihre Gegner verwies. Solche Monumente finden sich schließlich außerhalb Athens vom Epigramm für die dreihundert Spartaner bei den Thermopylen bis zum Grab der Thebaner, die bei Chaironeia fielen, zuhauf.248 Demnach hat auf den Gefallenenlisten keineswegs eine Anonymisierung der Toten stattgefunden. Im Gegenteil – zwar wurde durch das Weglassen von Patronym und Demotikon die soziale Herkunft der Gefallenen kaschiert, doch wurden sie so genau identifiziert, wie dies die egalitär-demokratische Grundkonzeption der Inschriften eben zuließ. Die Kennzeichnung durch mit der demokratischen Ordnung zu vereinbarende Ämter- und Funktionsbezeichnungen – die auf den privaten Grabmälern im Übrigen fehlten249 – und vor allem die möglichst genaue Verortung innerhalb der jeweiligen Phyle oder ethnischen Gruppe zeugen hierbei gerade vom Bestreben, dem Individuum seinen angemessenen Platz zuzuweisen.250 Besonders sollte zudem noch einmal die Inklusivität der Listen betont werden, die neben den eigenen Bürgern nicht nur Metöken und Verbündete aufzählen konnten, sondern überdies auch Söldner und gar Sklaven. Die Sorge für gefallene Verbündete und Metöken ist auch aus anderen 246
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Möglicherweise gehörten die Gefallenen von Z. 39 und 40 einfach einer anderen Phyle an. Vielleicht orientierte sich die Anordnung der Namen aber auch an den Listen der Demarchen oder einzelnen militärischen Einheiten, die hier in aller Genauigkeit nachvollzogen wurden. Siehe auch Stupperich 1977, 9 Anm. 8 für einige Thesen bezüglich der Anordnung. Besonders gut ist dies etwa auf IG I3 1162 zu erkennen. Nur einige wenige Stelen stellen Ausnahmen dar, indem auf ihnen die Phylenüberschriften oder andere Bezeichnungen nicht optisch hervorgehoben wurden, sondern sich in das regelmäßige stoichedon der Namen einfügen. So etwa IG I3 1164, Z. 2, 6, 14 u. 18 und möglicherweise IG I3 1160, Z. 1. In allen anderen Fällen sind die Überschriften, soweit nachvollziehbar, durch größere Buchstaben, Absätze oder das Einrücken der Zeile hervorgehoben. Einige weniger auffällige Beispiele bieten IG I3 1184 (Phylenüberschriften in gleicher Schriftgröße und stoichedon wie Namen, jedoch durch Absätze hervorgehoben) und 1190 (leichte Einrückung der Namen gegenüber Überschriften, ansonsten gleiches stoichedon). Auch Arrington 2015, 95 betont, dass Listen nicht die naheliegendste Lösung zur Kommemoration der Gefallenen gewesen seien. Vgl. Bergemann 1994, 288; Schmitz 2007, 40f. Ähnlich auch Low 2012, 16–18.
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II. Die Form(en) des Gefallenengedenkens
poleis bekannt251 und ist wohl auf eine naheliegende Erklärung zurückzuführen: Beide Gruppen hatten ihren Militärdienst freiwillig und aus dem einzigen Grund der Pflichterfüllung heraus angetreten. Es war daher nur angemessen, wenn die polis ihr Opfer dementsprechend würdigte und sich so der Unterstützung der Angehörigen dieser Gruppen auch für die Zukunft versicherte. Söldner und Sklaven hingegen hatten keinen Wehrdienst abgeleistet, sondern wurden durch die Zahlung einer Geldsumme bzw. durch den Zwang des Sklavendaseins zum Kriegsdienst verpflichtet. Dieser Wesensunterschied der Beziehung zwischen gefallenem Söldner/Sklaven und polis hätte den Staat eigentlich von seiner ‚Verpflichtung‘, diese Toten zu kommemorieren, entbunden. Ihr Tod bedurfte keiner politischen Legitimation. Dass die Athener diese Gruppen dennoch in ihr Staatsbegräbnis einschlossen, bezeugt einmal mehr, dass sie das Prinzip, dass jeder, der für ihr Gemeinwesen im Krieg sein Leben gab, auch entsprechend geehrt und erinnert werden müsse, weiter trugen als andere griechische poleis. Weder spielte es eine Rolle, ob ein Toter als Reiter, Hoplit oder Ruderer252 gedient hatte, noch ob er dies aus Bürgerpflicht oder gegen Geld getan hatte. Wichtig war, dass er in der Schlacht seine Pflicht erfüllt hatte und für die polis gefallen war.253 Natürlich waren es dennoch die eigenen Bürger, die beim Staatsbegräbnis im Fokus standen. Ein anderes Verfahren wäre schließlich nicht zu erwarten. Die Tatsache aber, dass überhaupt so viele nicht-bürgerliche Gruppen einbezogen wurden, ist an sich absolut bemerkenswert. 251
252
253
Man bedenke alleine die Verrichtung des Grabkultes für die Gefallenen der Schlacht von Plataiai. Andere Beispiele finden sich in Epidauros; Megara; Phigaleia; Megalopolis sowie in der Bestattung des Pelopidas und des Gryllos durch die Thessalier bzw. die Mantineier (siehe die jeweiligen Kapitel zu den einzelnen poleis weiter unten). In der älteren Forschung herrscht weitestgehend die Ansicht vor, dass die Ruderer kein Staatsbegräbnis im demosion sema erhielten, sondern dass dieses Privileg der Infanterie und Kavallerie vorbehalten bliebe. Neben technischen und logistischen Einwänden führen die Autoren dabei vor allem an, dass sich die Leistung der Ruderer in ihrem Wesen von jenem der Landstreitkräfte unterschied, die sich durch das ‚Standhalten‘ in der Schlacht ausgezeichnet und so ihre Tugendhaftigkeit bewiesen hätten. Siehe etwa Wilamowitz 1880, 84–86; Raubitscheck 1943, 48 Anm. 102. Mattingly 1966, 191f. Die jüngere Forschung stimmt jedoch darin überein, dass die Ruderer sehr wohl wie auch die anderen Gefallenen Aufnahme im Staatsfriedhof der Athener fanden. Siehe insbesondere Pritchard 1999, passim sowie weiter Stupperich 1977, 8f.; Loraux 1981, 34f.; Clairmont 1983, 21; Bradeen 1969, 153f.; Strauss 2000, 167f. Etwas inkonsequent argumentiert Arrington 2015, 96f., wenn er postuliert, dass zwar sowohl Ruderer als auch Nicht-Bürger erfasst würden, dass aber Sklaven und Söldner, die als Ruderer gedient hatten, nicht aufgelistet worden seien. Die Frage wird im letzten Hauptteil noch einmal thematisiert werden (s.u. 3. I. Gleichheit). Ähnlich auch Arrington 2011, 187f. Low 2010, 344f. glaubt, dass hierbei nicht einmal die kriegerische Natur der Leistung der Gefallenen, sondern alleine der Dienst für das Gemeinwesen ausschlaggebend für die Ehrung gewesen sei. Sie verweist dabei darauf, dass auch andere Bürger und Fremde, die der Stadt einen Dienst erwiesen hätten, mit Staatsgräbern ausgezeichnet worden seien. Zwar trifft dies freilich zu, doch stellt sich die Ehrung der Kriegsgefallenen in Athen in ihrer Qualität und ihrem Aufwand doch deutlich anders dar als in den von Low angeführten Fällen. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass die Monumente einzig der Kommemoration der Gefallenen dienten und nicht der Krieger Athens insgesamt.
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1. Der patrios nomos in Athen
III. Zwischenfazit Athen Möchte man einige Charakteristika benennen, die das attische Gefallenenbegräbnis auszeichneten, so ist zuvorderst wohl der enorme Aufwand zu nennen, den die Athener für die Bestattung ihrer Kriegstoten betrieben. Nicht nur nahmen sie die Mühe auf sich, alle Gefallenen zunächst zu kremieren und dann nach Athen zurück zu überführen. Zudem richteten sie noch ein aufwendiges, mehrtägiges Ritual zu ihrer Bestattung aus, das athletische und musische Agone ebenso einschloss wie auffällige Monumente und welches nicht nur die Aufmerksamkeit der gesamten eigenen polis auf sich zog, sondern auch in den anderen griechischen Stadtstaaten wahrgenommen wurde.254 Aller Unterschiede bezüglich der Überlieferungslage zum Trotz kann wohl schon hier festgestellt werden, dass kein anderes griechisches Gemeinwesen die Bestattung und Kommemoration seiner Kriegsgefallenen auch nur in einem annähernden Maße betrieb.255 Interessant ist auch zu sehen, wie die Bestattung der Kriegstoten konkret organisiert war. Wurden nämlich durch die klare Ordnung des Begräbnisses und der Gefallenenlisten nach Phylen sowie durch die Themen und Motive, die im epitaphios logos und in den Grabepigrammen propagiert wurden, eindeutig die staatliche Ordnung und die Ideale der demokratischen polis ins Zentrum gestellt, wurde doch auch versucht, zwischen den Bedürfnissen der Angehörigen der Gefallenen und den Ansprüchen der polis zu vermitteln. Dies war nötig, weil der Staat mit seiner Übernahme des Bestattungsrituals in den Bereich des oikos eingriff, und die Tatsache, dass das Gefallenenbegräbnis in Athen überhaupt derart erfolgreich werden konnte, ist sicherlich zu einem großen Teil seinen Ähnlichkeiten mit dem privaten Begräbnis und seiner Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der oikoi geschuldet. Hierbei sind für die verschiedenen Elemente des Begräbnisses auch unterschiedliche Arten des Umgangs mit diesen Bedürfnissen festzustellen. So wurden den Angehörigen der Gefallenen in der prothesis deutliche Freiräume gewährt und auch ihr Verhalten bei der ekphora wurde weniger restringiert, als im privaten Ritual. Gleichzeitig waren den Freiräumen, die hier für die Familien geschaffen wurden, klare Grenzen gesetzt. Die prothesis wurde etwa in einem Zelt an einem zentralen Ort der Stadt abgehalten und befand sich damit zugleich im Zentrum der Öffentlichkeit und wurde doch auch von ihr abgeschirmt. Bei der ekphora wiederum wurde eine gewisse Restriktion gewahrt, indem die Teilnahme der Frauen auf Verwandte eines bestimmten Grades beschränkt wurde. In beiden Fällen blieben dabei 254
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Platon erwähnt im Menexenos (235b–c) ausdrücklich, dass das Gefallenenbegräbnis zahlreiche auswärtige Zuschauer anzog und Thukydides (2.34) betont explizit, dass Fremde zur Teilnahme am Ritual eingeladen waren. Demosthenes (or. 20.141) merkt zumindest an, dass die Athener die Einzigen seien, die eine Grabrede auf die Gefallenen hielten. Low 2012, 15 mit Anm. 9 verweist darauf, dass auch die Hervorhebung der Listen durch Pausanias die attische Praxis gegenüber anderen poleis absetze.
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III. Zwischenfazit Athen
die einzelnen oikoi in der Außenwahrnehmung quasi unsichtbar, sodass einzig die polis – und in gewissem Maße noch die Phylen als Untereinheiten ebendieser – wahrnehmbar waren. Die bereits etablierten rituellen Elemente des privaten Sektors wurden für die Bestattung der Kriegstoten übernommen und den Erfordernissen des Staates angepasst, ohne dass sie ihre ursprüngliche Funktion verloren. Zugleich wurde den persönlichen Bedürfnissen der Hinterbliebenen in kontrolliertem Rahmen Raum gewährt, sodass der Übernahme der Pflichten und Rechte der Familie durch die polis etwas von ihrer invasiven Wirkung genommen wurde. Obwohl die polis also darum bemüht war, den Eingriff in die Sphäre des oikos so akzeptabel wie möglich zu gestalten, stellten die Maßnahmen offenbar nicht alle Hinterbliebenen zufrieden. So findet sich nämlich eine größere Zahl von Grabmonumenten in Athen, die offensichtlich als private Kenotaphe für Männer errichtet wurden, die im Krieg gefallen und daher im demosion sema bestattet worden waren.256 Die polis akzeptierte jedoch wohl auch die Errichtung dieser zusätzlichen, individuellen Kenotaphe und demonstrierte damit erneut ihr Entgegenkommen gegenüber den Hinterbliebenen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, zeigt ein inschriftlich überlieferter Volksbeschluss aus Thasos, der auf die Mitte des 4. Jh. v.Chr. datiert und die Modalitäten des dortigen staatlichen Gefallenenbegräbnisses regelte.
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Das bekannteste Beispiel eines solchen Kenotaphs ist sicherlich das Grabrelief für Dexileos. Jedoch stellt es bei weitem nicht den einzigen solchen Fall dar, sodass sich insgesamt die folgenden 14 Monumente anführen lassen, für die diese Konstellation nachgewiesen oder zumindest als wahrscheinlich gelten kann. (1) Stele und Epigramm für Melanopos und Makartatos: IG I3 1288 +1288bis; Bradeen 1974, Nr. 375; Stupperich 1977, 16; Clairmont 1983, 140f. Nr. 21e; Meritt 1947, 147f.; Taf. 23.35. (2) Stele und Epigramm für Glaukiades: IG II/III2 10998; CAT 2.768; Brown Ferrario 2006, 91–93. (3) Stele für –ulos: IG II/III2 7716; CAT 2.130; Stupperich 1977, 20; Clairmont 1983, 147 Nr. 28; Brown Ferrario 2006, 93–95. (4) Stele für –teles: IG I3 1381; Bradeen 1974, Nr. 1028. (5) Grabepigramm für Phormos: IG II/III2 6609; SEG 52.206; Weber 2001, 91–95. (6) Grab für Diodotos: nur bei Lys. 32.21 erwähnt; Stupperich 1977, 20, Anm. 5. (7) Stele für Lykeas und Chairedemos: IG II/III2 13030; CAT 2.156; Clairmont 1983, 19, Anm. 13; 70f., Anm. 60; 200, Anm. 70. (8) Stele für einen Trierarchen: Stupperich, 1977, 20f.; Piräusmuseum Nr. 1452; Despinis 1991. (9) Stele für Dexileos: IG II/III2 6217; CAT 2.209; Stupperich 1977, 20; Clairmont 1983, 219–221 Nr. 68A; Vermeule 1970. (10) Basis mit drei Reiterreliefs: CAT 2.213; Clairmont 1983, 41. (11) Stele des Demokleides: IG II/ III2 11114; CAT 1.330; Kaltsas 2002, 163; Abb. 320. (12) Grabepigramm des Diognetos: CEG 594; Tsagalis 2007. Siehe zudem zwei Stelen, die außerhalb Attikas gefunden wurden und wahrscheinlich gefallenen Athenern zuzuordnen sind: (13) Stele für einen unbekannten Athener: IG I3 1507 und (14) –ysikides IG I3 1506. Als problematisch erachte ich Christoph Clairmonts These (1972, 56f.), dass jeder Tote, der auf seinem Grabrelief als Krieger dargestellt wurde, auch wirklich in einer Schlacht gefallen sei (dem folgt auch Brown Ferrario 2006, 88–91). Eine solche Behauptung lässt sich nicht halten, da das Motiv des Kriegers ebenso wie jenes des Athleten oder des betagteren Atheners mit Bürgerstab Standardmotive darstellten. Diese konnten entsprechend der persönlichen Vorlieben des Toten oder seiner Hinterbliebenen ausgewählt werden und sollten lediglich einen unterschiedlichen Aspekt des Bürger-Seins akzentuieren. Siehe zu diesem Punkt Bergemann 1994, 286f.; Arrington 2015, 205–237.
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1. Der patrios nomos in Athen
Hier wurde u.a. explizit bestimmt, dass jegliche privaten Begräbnisfeierlichkeiten – und damit sicherlich auch das Errichten eines privaten Grabmonuments – verboten und unter Strafe zu stellen waren.257 Ob die privaten Gefallenenkenotaphe in Athen bereits in der Frühphase des staatlichen Gefallenenbegräbnisses toleriert wurden, lässt sich nicht sagen. Die frühesten Beispiele solcher Kenotaphe datieren in das dritte Viertel des 5. Jh. v.Chr.,258 doch lässt sich aufgrund der dünnen Quellenlage für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts nicht ausschließen, dass auch zuvor schon solche Monumente geduldet wurden. Sie könnten allerdings auch Teil einer allgemeinen Entwicklung der zweiten Hälfte und insbesondere des letzten Drittels des 5. Jh. v.Chr. sein, in deren Zuge die Darstellung des Individuums und seiner Leistungen wieder zunehmend an Bedeutung gewann. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass in dieser Zeit auch die Zahl der genannten Funktionäre auf den Gefallenenlisten merklich anstieg. Möglicherweise lässt sich auch an dieser Entwicklung eine Reaktion des Staatsbegräbnisses auf die gewandelten Bedürfnisse der einzelnen Bürger erkennen, die eine stärkere Anerkennung besonderer Einzelleistungen wünschten. Immerhin setzte in Athen in diesem Zeitraum auch die Produktion privater Grabreliefstelen wieder ein,259 sodass gefragt werden muss, ob der Peloponnesische Krieg hier nicht eine Vielzahl einschneidender Veränderungen im politisch-sozialen Geflecht Athens auslöste, die sich auch auf den patrios nomos auswirkten. Auffällig ist etwa auch, wie wenige Zeugnisse des Brauches sich für das 4. Jh. v.Chr. und insbesondere für die Zeit zwischen dem Korinthischen Krieg und der Schlacht von Chaironeia finden. Diese ‚Flaute‘ im patrios nomos bedarf ebenso wie das endgültige Verschwinden des Brauches nach dem Lamischen Krieg noch immer einer Erklärung. Bevor ich mich aber an einem solchen Lösungsvorschlag versuchen will, soll hier zunächst das Gefallenengedenken in den anderen griechischen poleis untersucht werden. Ich erhoffe mir von diesem Schritt grundlegende Erkenntnisse über die Bedingungen und die Funktionsweise des Gefallenengedenkens in der griechischen Antike, die dann auch neue Rückschlüsse auf den athenischen patrios nomos zulassen.
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Siehe vor allem die Edition von Fournier/Hamon 2007, 316f., Z. 4–7 mit Abb. 1–3 (= SEG 57.820) aber weiter auch Pouilloux 1954, 371–380, Nr. 141; Sokolowski 1963, 122–23, Nr. 64; Hamon 2010, passim; Chaniotis 2012, 51f. Es handelt sich konkret um die Monumente 1 (ca. 410 v.Chr.), 4 (letztes Drittel 5. Jh. v.Chr.), 6 (410/9 v.Chr,), 7 (420–410 v.Chr.) aus Anm. 256. Die frühestens Beispiele sind wohl 13 (1. Hälfte 5. Jh. v.Chr.) und 14 (450–425 v.Chr.). Jedoch wurden sie beide außerhalb Attikas gefunden und mögen daher Sonderfälle darstellen. Vgl. auch Arrington 2015, 48f. mit dem Hinweis, dass akute Umstände gerade in der Frühzeit des Brauches eine gewisse Flexibilität bedingt haben könnten. Siehe u.a. Hildebrandt 2006, 79–84; Stupperich 1977, 86–128; Clairmont 1983, 19.
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I. Boiotien
2. Das Gefallenengedenken außerhalb Athens I. Boiotien Akraiphia Nur ein einziges Monument aus Akraiphia ist von Interesse für meine Untersuchung des Gefallenengedenkens. Dabei handelt es sich nicht um ein kollektives Gefallenendenkmal, – solche Monumente sind im Falle der Akraiphier weder literarisch noch archäologisch oder epigraphisch belegt – sondern um eine Ehrenstatue des 3. Jh. v.Chr., die einem gefallenen Reiterführer gewidmet wurde und wahrscheinlich auf der Agora der Stadt aufgestellt war.260 Erhalten sind von dem Monument einige Fragmente dreier Kalksteinplatten, mit denen einst die Basis der Statue verkleidet war. Der Wiederverwendung der Platten als Fußbodenbelag in einer byzantinischen Kirche ist die gute Erhaltung der Inschriften auf den Fragmenten geschuldet. Neben einigen Militärkatalogen des frühen 2. Jh. v.Chr. und einigen Proxeniedekreten der Mitte desselben Jahrhunderts, die später auf der Basis eingeschrieben wurden,261 ist auch das ursprüngliche Weihepigramm für Eugnotos, den Honoranden der Statue erhalten. Es befand sich auf der Frontorthostatenplatte der Basis, deren Maße mit einer Höhe von 1,3–1,4m, einer Breite von 0,7m und einer Länge von über 1,6m rekonstruiert werden können, und die somit klar als Basis einer etwa lebensgroßen Reiterstatue identifiziert werden kann.262 Der Text des Epigramms lautet: 260
261
262
Die wichtigste Literatur zu dem Epigramm und dem Monument ist Perdrizet 1898, 241–243; 1900 (ed. prin. des Epigramms); ISE 69; GV 1603; Wilhelm 1980, 66–68. Nr. 87; Stecher 1981, 41f.; deVottéro 2002, 98f. Nr. 37; Hardie 2003, 29f.; Ma 2005, passim; Cairon 2009, 150–158; Kalliontzis 2014, 363 inkl. Abb. 17. Insbesondere der ausgezeichnete Artikel von John Ma bietet wichtige Ansätze für die Interpretation dieses Monumentes, geht er doch als einzige der genannten Abhandlungen deutlich über eine Befundbeschreibung und Edition des Textes hinaus. Ein großer Teil der folgenden Ausführungen ist seinen Beobachtungen verpflichtet. Ma 2005 behandelt die spätere Nutzung der Basis als Anbringungsort für öffentliche Inschriften ausführlich. Auch wenn dies einen interessanten Aspekt dieses Monumentes und auch der Rezeption solcher Monumente darstellt, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Siehe Ma 2005, 155–162.
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Τοῖος ἐὼν Εὔγνωτος ἐναντίος εἰς βασιλῆος χεῖρας ἀνηρίθμους ἦλθε βοαδρομέων, θηξάμενος Βοιωτὸν ἐπὶ πλεόνεσσιν Ἄρηα. ού δ᾽ ὑπὲρ Ὀγχηστοῦ χάλκεον ὦσε νέφος· ἦ δὴ γὰρ δοράτεσσιν ἐλείπετο θραυομένοισιν, Ζεῦ πάτερ, ἄρηκτον λῆμα παρασχόμενος· ὀκτάκι γὰρ δεκάκις τε συνήλασεν ἰλαδὸν ἵππω[ι] ἥσσονι δὲ ζώειν οὐ καλὸν ὡρίσατο, ἀλλ᾽ ὅγ᾽ ἀνεὶς θώρακα παρὰ ξίφος ἄρσενι θυμῶι π[λή]ξατο, γενναίων ὡς ἔθος ἁγεμόνων. τὸμ μὲν ἄρ᾽ ἀσκύλευτον ἐλεύθερον αἷμα χέοντα δῶκαν ἐπὶ προγόνων ἤρια δυσμενεές· νῦν δέ νιν ἔκ τε θυγατρὸς ἐοικότα κἀπὸ συνεύνου χαλκεον[---]ΟΝ ἔχει π[έ]τρος Ἀκραιφιέων ἀλλὰ, νέοι, γί[ν]εσθε κατὰ κλέος ὧδε μαχηταί, ὧδ᾽ ἀγαθοί, πατέρων ἄιστεα [ῥ]υόμενοι.263
Wir erfahren, dass Eugnotos in einer Schlacht nahe Onchestos in Boiotien auf Seiten der Boioter gegen die ‚zahllosen‘ („ἀνηρίθμους“) Truppen eines nicht weiter bezeichneten Königs gekämpft und dabei eine große Zahl von Attacken gegen die feindlichen Truppen geführt hatte. Als all seine Mühen ohne Erfolg geblieben waren, habe er seinen Brustpanzer gelöst, sich dem Feind erneut entgegengeworfen und somit seinen Tod in der Schlacht besiegelt.264 Anhand der Schrift wird das Epigramm in die erste Hälfte des 3. Jh. v.Chr. datiert und bereits der erste Editor der Inschrift, Paul Perdrizet, identifizierte den König, gegen den Eugnotos gekämpft hatte, als Demetrios Poliorketes, hatten die Boioter doch in den 290er Jahren v.Chr.
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264
Text nach Ma 2005, 142, der nach Autopsie und unter Mithilfe von V. Aravantinos eine gegenüber den älteren Editionen aktualisierte Edition bietet. Cairon 2009, 150–158 beruft sich noch auf die ältere Edition Morettis in ISE 69. Diese Stelle des Epigramms wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert. Der Text legt nahe, dass Eugnotos sich selbst mit seinem Schwert tötete, nachdem er seinen Brustpanzer geöffnet hatte. Jedoch meinen einige Autoren, dies sei im griechischen Kontext kaum vorstellbar. Hingegen habe Eugnotos wohl seinen Brustpanzer mit dem Schwert losgeschnitten und sei dann ‚mutigen Herzens‘ auf den Feind losgestürmt und habe so den Tod durch die Waffen der Feinde gesucht. Zuletzt vertrat Cairon 2009, 154f. diese Ansicht. Auch Ma 2005, 143 mit Anm. 2 hält diese Deutung wohl für plausibler, weist aber darauf hin, dass sowohl Selbstmord als auch die freiwillige Tötung durch den Feind ungewöhnlich für griechische Kommandeure gewesen seien. Letztlich ist diese Detailfrage für die vorliegende Fragestellung nicht von Bedeutung, wenn doch auch ich Cairons und Mas Überzeugung teile.
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gleich zweimal gegen diesen rebelliert.265 In beiden Fällen hatte Demetrios schnell reagiert und war mit einem Heer aus Thessalien kommend gegen die Boioter gezogen.266 Daher ist eine Schlacht in der Nähe von Onchestos, wie sie das Epigramm beschreibt, im Vorfeld der beiden Belagerungen Thebens durch Demetrios durchaus denkbar, wenn sie sich auch in den anderen Quellen nicht fassen lässt. Die Identifikation des Konfliktes, in dessen Verlauf Eugnotos starb, scheint damit also wenig problematisch.267 Jedoch weist John Ma in seinem Artikel zu dem Monument berechtigterweise darauf hin, dass die Datierung des Todeszeitpunktes des Eugnotos nicht zwangsläufig mit der Datierung des Monumentes übereinstimmen muss.268 Seiner Meinung nach sei ein Denkmal und insbesondere ein Epigramm wie jenes für Eugnotos nicht denkbar im Kontext der direkten Niederlage der Boioter gegen Demetrios. Stattdessen müsse das Denkmal, das die Akraiphier als „active, military, free“269 darstelle, einem Zeitraum zugeordnet werden, in dem die Akraiphier (und die Boioter) wieder autonomer agierten und somit auch ihr „Boiotian pride“ wiederaufgelebt sei.270 Dies sei frühestens nach 288 v.Chr., als der Status der Boioter durch Demetrios’ Sohn Antigonos Gonatas verbessert wurde, oder aber nach 279 v.Chr., als die Boioter militärische Erfolge gegen die Galater verbuchen konnten, denkbar. Erst vor diesem Hintergrund hätten die Akraiphier zurückgeblickt und versucht, die einstige Niederlage gegen Demetrios umzudeuten und ihr etwas Positives abzuringen. Eine ähnliche Interpretation schlagen Yannis Kalliontzis und Nikolaos Papazarkadas auch für ein anderes Monument aus Akraiphia vor, welches den Metöken, die zusammen mit den Akraiphiern gegen Demetrios gekämpft hatten, isoteleia gewährte.271 Auch dieses sei vermutlich erst errichtet worden, nachdem die Autonomie der boiotischen poleis weitestgehend wiederhergestellt worden war. Wie wichtig die Überwindung der Kontrolle durch Demetrios für die boiotischen Städte war, zeigen schließlich auch eine Reihe anderer Quellen. So belegt eine Inschrift aus Oropos, dass die Stadt
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Vgl. Perdrizet 1900, 73f. sowie ausführlich Ma 2005, 144f. Siehe auch Gullath 1982, 186–193. Plut. Demetr. 39f. beschreibt die Ereignisse. Auch die anderen Arbeiten, die sich dem Monument widmen (s.o.), sprechen sich für diese Identifikation aus. Freilich kann nicht ausgeschlossen werden, dass Eugnotos in einem anderen Konflikt mit einem anderen hellenistischen König starb, jedoch scheint die aufwändige Form des Monumentes wie auch der Ton des Epigramms klar für ein Ereignis von größerer Bedeutung zu sprechen und dies wiederum legt die vorgeschlagene Identifikation nahe. Implizit findet sich dieser Gedanke auch bei Ma 2005. Siehe hierzu und zum Folgenden Ma 2005, 144–154, insbesondere 153f. Die anderen Arbeiten zu dem Stück gehen jeweils davon aus, dass das Monument zeitnah zu Eugnotos’ Tod in der Schlacht errichtet worden sei. Ma 2005, 153. Ma 2005, 154. Die Stele wird kurz erwähnt bei Kalliontzis/Papazarkadas 2014, 550f. Die ed. prin. wird von Y. Kalliontzis vorbereitet.
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sich nach der Wiedererlangung ihrer Autonomie sofort Geld lieh, um ihre Mauern wieder aufzubauen,272 und eine weitere Inschrift aus Orchomenos zeugt von den zusätzlichen militärischen Schutzmaßnahmen des koinon für die neuen Bundesmitglieder Theben und Oropos.273 Mit seiner These berührt Ma in jedem Fall einen zentralen Aspekt des Gefallenengedenkens. Da der politische Totenkult immer versucht, dem Tod der für das Gemeinwesen Gefallenen eine positiven Sinn zu geben,274 ist es per se nicht notwendig, dass ein Gefallenenmonument erst mit zeitlichem Abstand und aus einem wiedererstarkten Selbstbewusstsein oder gar einem Hochgefühl heraus entsteht. Im Gegenteil ist der Legitimationsbedarf direkt nach dem Verlust und insbesondere nach einer Niederlage am höchsten. So finden sich auch in den antiken poleis zahlreiche Monumente, die direkt im Anschluss an schwere Niederlagen zum Gedenken an die Gefallenen errichtet wurden.275 Dennoch aber ist eine erst später einsetzende Kommemoration oder auch eine Aktualisierung des Gedenkens keineswegs ausgeschlossen, sondern kann durchaus sinnvoll und sinnstiftend sein, wie auch zahlreiche Zeugnisse aus anderen poleis belegen.276 Im Falle des Eugnotos-Monumentes lässt sich letztlich nicht zweifelsfrei entscheiden, ob die Statue zeitnah zu seinem Tod in der Schlacht oder doch erst mit einiger Verzögerung errichtet wurde, da sich aus dem Monument selbst (neben dem wahrscheinlichen Todesdatum des Eugnotos) einzig die paläographische Datierung ergibt. Auch hat sich die Beschlussformel der polis, die sicherlich in der einen oder anderen Form am Monument angebracht war277 und die eventuell weitere Datierungshinweise gegeben hätte, bedauerlicherweise nicht erhalten. Dennoch erscheint Mas Vorschlag plausibel. Hierbei ist zuvorderst auf die Form und den Aufstellungsort des Monumentes hinzuweisen. Einer der späteren Inschriften auf der Basis lässt sich entnehmen, dass diese in der Nähe der Statue des Zeus Soter stand, die auf der Agora von Akraiphia lokalisiert wird.278 Wie auch aus dem übrigen Befund deutlich wird, handelte es sich bei der Statue für Eugnotos nicht um ein Sepulkralmonument, das in einer der Nekropolen der Stadt aufgestellt worden war, sondern um ein Ehrenmonument, das im Zentrum der antiken polis stand. Auffällig ist zudem auch die Form
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IG VII 4263. Siehe Mackil 2013, 429–432 Nr. 15. Es handelt sich um eine Vereinbarung zwischen Orchomenos und Chaironeia über die Organisation der gemeinsamen Kavallerieeinheit. Unter Anderem werden in diesem Zusammenhang auch regelmäßige Patrouillen im Gebiet von Theben und Oropos erwähnt. S.o. 1. II. Der epitaphios logos. Siehe etwa die Monumente für gefallene Boioter nach der Niederlage gegen die Aitoler bei Chaironeia 245 v.Chr. oder die athenischen Gräber für die gefallenen Argiver und Athener der Schlacht von Tanagra 458/7 v.Chr. (siehe die Behandlung der Monumente in den jeweiligen Abschnitten). Siehe hierzu insbesondere im letzten Hauptteil 3. II Der Aufstieg und das Scheitern Thebens. Diese Überzeugung teilen auch Hardie 2003, 29f. und Ma 2005, 144. Vgl. Perdrizet 1900, 77; Ma 2005, 162–164.
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des Monumentes. Eugnotos ist als Reiter dargestellt, eine Statuenform die, wie Ma richtig bemerkt, insbesondere für die hellenistischen Könige verwendet wurde und in dieser Verwendung eine neue Blüte erlebte.279 Die polis von Agraiphia griff also diese Form auf, verwendete sie für einen ihrer Bürger, den sie für seine Leistungen für die polis auszeichnete, und deutete sie damit in einem bürgerlichen Kontext um. Nun sollte man sich zwar davor hüten, sich zu sehr von Mas extrem suggestiver ‚Rekonstruktion‘ der Statue im Typus eines siegreich in der Schlacht agierenden Königs leiten zu lassen.280 Jedoch kann die Anlehnung an die Semantik der königlichen Sieghaftigkeit, die in der Form des Reiterstandbildes vorgenommen wurde, nicht bestritten werden. Insofern erscheint Mas Überlegung, dass die Statue erst vor dem Hintergrund eines wiedererstarkten Selbstbewusstseins der Akraiphier errichtet wurde, durchaus nachvollziehbar.281 Kommen wir aber schließlich noch auf das Epigramm für Eugnotos zu sprechen. Dieses fokussiert zu einem großen Teil auf die Leistung des Gefallenen und hebt dessen Mut, Ehrbewusstsein und Standhaftigkeit für seine Heimat hervor. Seine Tugendhaftigkeit sei so beeindruckend gewesen, dass selbst die Feinde dem Respekt gezollt und seinen Leichnam unberührt und mit all seiner Ausrüstung zurückgegeben hätten. Seine individuelle Leistung wird dabei noch besonders hervorgehoben, indem Eugnotos’ Individualität mit der Namenlosigkeit und der Masse der Truppen des ebenfalls nicht benannten Königs kontrastiert wird.282 Gleichzeitig aber wird auch deutlich gemacht, dass Eugnotos nicht allein aus sich selbst heraus und v.a. nicht für sich selbst handelte. Vielmehr verwendet das Epigramm viel Raum darauf, ihn innerhalb der Bürgergemeinschaft wie auch seiner Familie zu verorten.283 So werden auf der einen Seite mit dem Verweis auf den boitoischen Ares (Z. 3) sowie Zeus (Z. 6) und insbesondere dem Aufruf an die neoi (Z. 15f.) die Sphären des koinon bzw. der polis angesprochen und auf der anderen Seite klar die Familie als Kerngemeinschaft hervorgehoben (Stiftung durch Mutter und Tochter 279 280
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Vgl. Ma 2005, 166f. Ma 2005, 164f. schildert eine stark bewegte, massige Statue, die Eugnotos mitten in der Schlacht dargestellt habe. Zum einen ist diese Schilderung problematisch, da sich aus dem archäologischen Befund keinerlei Rückschlüsse auf den konkreten Statuentypus ergeben (wie auch Ma zugesteht), wenn auch das Epigramm eine bewegte Figur durchaus nahe legt. Zum anderen nutzt Ma hier eben ganz bewusst die suggestive Wirkung seiner Beschreibung, um seiner These Akzeptanz zu verschaffen. Auch die Verwendung der Formel „ἐλεύθερον αἷμα“ in Zeile 11 des Epigramms könnte zur Stärkung von Mas Interpretation angeführt werden. Auch Ma 2005, 151f. weist auf diese Gegenüberstellung hin. Besonders auffällig ist die Namenlosigkeit auch im Vergleich zu dem oben (s. Anm. 271) erwähnten Dekret der Akraiphier, das den Metöken, die sie im Kampf gegen Demetrios unterstützt hatten, isoteleia verlieh. Dort wurde Demetrios nur mit seinem Namen und ohne Titel genannt, womit sein Anspruch auf den Königstitel wohl demonstrativ negiert wurde. Im vorliegenden Fall wurde zwar sein Titel genannt, dafür aber nicht einmal sein Name und damit seine individuelle Person anerkannt, während Eugnotos als schillerndes Individuum gefeiert wurde. Ähnlich auch Ma 2005, 152f.
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sowie Bestattung bei den Vorfahren). Die Tugend des Eugnotos und damit die Grundlage seiner Leistung entstand aus der polis und dem oikos heraus, aus dem Vorbild der progonoi (Z. 12) wie auch explizit jenem – wohlgemerkt erfundenen!284 – Beispiel der anderen hegemone (Z. 10), und wurde ebenso erbracht für die Gemeinschaft, nämlich die nachfolgenden Bürger in Form der neoi (Z. 15) und auch seiner Hinterbliebenen (Z. 13). Mit diesem Verweis auf Vorfahren und Nachkommen285 betont der Autor des Epigramms die Kontinuität der Polisgemeinschaft, die trotz des Verlustes des Einzelnen weiterexistiert und zwar gerade weil einzelne Mitglieder der Gemeinschaft eben so handelten und handeln, wie auch Eugnotos es tat. Während sich das Epigramm mit dieser Betonung des Kontinuitätsaspektes in die Tradition vieler anderer klassischer Gefallenenmonumente einfügte,286 fällt auf, wie es dies unter besonders starker Vermischung der Sphären von oikos und polis tat. Oikos und polis wurden nicht nur im Epigramm für Eugnotos als komplementäre Elemente dargestellt, sondern agierten in der gesamten Aufstellung seines Monumentes auch als solche. Immerhin war die Statue von der polis beschlossen, dann aber durch die Tochter und die Ehefrau des Geehrten finanziert worden. Nicht Konkurrenz, sondern Kooperation der beiden Sphären prägte das Monument für Eugnotos.287 Möglicherweise liegt diese problemlose Vermischung der Sphären von oikos und polis auch darin begründet, dass es sich bei dem Denkmal nicht um ein Grabmonument, sondern eben um ein Ehrenmonument handelte; dass also die heikle Komponente des Grabkultes, der ja traditionell in der Hand der Hinterbliebenen lag, nicht umstritten war. Überhaupt sticht das Reiterstandbild für Eugnotos in der Arena des politischen Totenkultes gegenüber den Monumenten des 5. und 4. Jh. v.Chr. hervor. Bei diesen handelte es sich eben meistens um Grab- und nicht reine Ehrenmonumente, die zudem in der Regel nicht einem Einzelnen gewidmet waren, sondern einem Kollektiv; und auch die Art der Leistung des Eugnotos unterschied sich signifikant von jener, die üblicherweise im staatlichen Gefallenengedenken kommemoriert wurde: Nicht das Standhalten – gegebenenfalls auch bis zum letzten Mann, so wie etwa an den Thermopylen – zeichnete Eugnotos aus, sondern dessen aktive Suche nach dem Tod. Hier ist ein qualitativer Unterschied zwischen der ἀρετή des akraiphischen Reiterführers und jener des standhaltenden Hopliten zu konstatieren. 284 285
286 287
S.o. Anm. 264. Ma 2005, 150 meint, in Bezug auf die Familie des Eugnotos würde im Epigramm eben gerade auf einen Abbruch der Kontinuität verwiesen: „Discreetly, but poignantly, the mention of the unnamed female relatives, in the absence of any son, hints at the end of the male line: Eugnotos’ burial among his ancestors’ tombs, also marks the disappearance of his house.“ Gerade sein letzter Punkt erschließt sich mir allerdings nicht und auch insgesamt scheint mir der vermeintliche Hinweis auf das Ende der männlichen Linie nicht so schneidend, wie Ma ihn darstellt. Siehe hierzu weiter unten 3. I. Patris. Zur Kooperation in der Aufstellung siehe v.a. Hardie 2003, 29f. Hierzu wie auch zur Rolle der beiden Gruppen im Epigramm vgl. Ma 2005, 144 sowie 152f.
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So wird also deutlich, dass wir es in diesem Fall in mehrfacher Hinsicht mit einem außergewöhnlichen Gefallenenmonument zu tun haben: Die besondere Form und der spezifische Aufstellungskontext, die Kooperation und Kombination der Sphären von oikos und polis sowie schließlich auch die Qualität der kommemorierten Leistung unterscheiden es signifikant von den meisten anderen Formen staatlichen Gefallenengedenkens, die hier behandelt werden. Dies mag zum einen darin begründet liegen, dass es sich bei dem Denkmal für Eugnotos eben nicht um ein Grabmonument, sondern um ein Ehrenmonument für einen Gefallenen handelte. Vor allem aber muss gefragt werden, ob die Unterschiede nicht dem deutlich veränderten politischen Kontext des frühen 3. Jh. v.Chr. geschuldet waren. Ich werde auf diesen Punkt weiter unten zurückkommen.288
Kopai Auch aus Kopai ist nur ein einziges Gefallenenmonument erhalten, dessen Zuordnung und Datierung überdies noch so unsicher sind, dass es hier nur knapp besprochen werden soll. Es handelt sich um drei fragmentarische Zeilen eines Epigramms, die auf einem trapezförmig nach unten zulaufenden Block aus mattem, bräunlich-weißem Kalkstein (H. 0,61m; B. 0,95 bzw. 0,65m; D. 0,45m) eingeschrieben sind.289 Der Stein wurde in einer Nekropole nordwestlich des Stadthügels gefunden und war ursprünglich wohl in die einlagige Umfassungsmauer eines Grabbezirkes eingelassen.290 Das Epigramm ist auf der oberen, geglätteten Hälfte des Steins angebracht und erfuhr im Laufe der Jahre unterschiedlichste Rekonstruktionen und Ergänzungen.291 Ich gebe hier die von John Fossey vorgeschlagene Edition wieder, da dieser zum einen als einziger Editor den Stein noch am Fundort begutachten konnte, bevor dieser in das Museum von Theben verbracht und auf dem Weg weiter beschädigt wurde. Zum anderen erscheint mir seine Interpretation und Ergänzung wohldurchdacht und gut argumentiert, während die anderen Editoren entweder zu zaghaft oder zu forsch an ihre Arbeit gingen. Der Text nach Fossey lautet: 288 289
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Siehe 3. II. Die makedonische Expansion und die Diadochenkriege. Zu dem Monument siehe CEG 114; Koumanoudis 1969, 80–83; Peek 1970, 87–89; Wallace 1970, 104; Clairmont 1970, 167f.; Fossey 1991, 169–180; Knoepfler 1992, 500 Nr. 178ter; Schachter 2003, 71 Nr. 6. Während die anderen Arbeiten das Monument nur sehr knapp behandeln, bietet Fossey eine längere, detaillierte und wohldurchdachte Abhandlung. Siehe Fossey 1991, 169f. für den genauen Fundkontext. Koumanoudis 1969, 80 weist noch darauf hin, dass der Stein auf der linken und der rechten Seite Anathyrose aufweist, was sich auch deutlich aus seiner Abb. 2 ersehen lässt. So durch Koumanoudis 1969, besonders großzügig durch Peek 1970 und zuletzt durch Fossey 1991. Einzig Hansen verzichtet in CEG 114 fast vollständig auf Ergänzungen und gibt stattdessen nur das jeweilige Versmaß an.
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[name μ’ ἔθ]ραφσεν · ἐπ’ Ἀσοπο͂ι δὲ δαμασθὲς [μάχῃ ματέρ’ ἐμαῖ πένθος πολύ]θρενον ἔθεκα, hὲ τόδ’ ἐπέστ[εσε σε͂μα ˘̱˘̱- ˘˘ - ˘̱] [-˘̱˘̱ δακρυ]οῖσα τὸν hυιὸν Καφι[σόδορον]292
Aus dem erhaltenen originalen Text lässt sich lediglich schließen, dass der Verstorbene, Καφι[---],293 am Asopos umgekommen war und dass ihm nun ein Grabmal errichtet wurde. Die weitere Interpretation hängt ganz von der jeweiligen Ergänzung der Fehlstellen ab. In Bezug auf die Todesursache des Καφι[---] herrscht hierbei weitestgehend Übereinstimmung dahingehend, dass der Verstorbene wahrscheinlich in einer Schlacht an dem genannten Fluss umgekommen war.294 Einzig Fossey weist darauf hin, dass diese Tatsache aus dem erhaltenen Text nicht eindeutig hervorgeht und dass eine andere Todesart durchaus möglich ist. Auch das entscheidende Verb δαμάζω (Z. 1) müsse nicht immer ‚in der Schlacht überwunden‘ heißen, sondern könne auch auf andere Todesarten verweisen. Dennoch hält auch er es für sehr wahrscheinlich, dass die Ortsangabe „ἐπ’ Ἀσοπο͂ι“ auf eine Schlacht verweisen sollte.295 Umstrittener ist, gerade zwischen den beiden primären Editoren der Inschrift, die Frage, wer den Verstorbenen bestattete und sein Grabmal errichtete. So will Fossey in Zeile 1 seiner Edition unter seiner Angabe „name“ den Namen der Mutter des Verstorbenen ergänzen und das Grabmal als privates Monument identifizieren, während Werner Peek die Zeile etwas anders ergänzt („[Γᾶ πατρίς μ᾽ ἐθ]ραφσεν ἐπ᾽ Ἀσοπο͂ι δὲ δαμασθὲς [ἐμ πολέμοι γενέται]“), dort die Heimatpolis des Geehrten rekonstruiert und das Monument als eine staatliche Stiftung interpretiert.296
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295 296
Der hier verwendete Zeilensatz folgt aus Gründen der Verständlichkeit der Darstellung bei Fossey und entspricht nicht der Anordnung der Schrift auf dem Stein. Dort findet sich der Text auf drei Zeilen verteilt, so wie ihn auch Peek 1970 wiedergibt (der allerdings ebenfalls die hier wiedergegebene Verseinteilung hat). Fotos des Steins findet sich bei Koumanoudis 1969, Abb. 1 und 2 und Fossey 1991, Taf. 46. Die Ergänzung des Namens als Καφισόδωρος wurde erstmals von Peek 1970 vorgeschlagen und Fossey 1991, 173 spricht sich explizit für deren Wahrscheinlichkeit aus, passe sie doch auch metrisch in das Epigramm. Freilich handelt es sich bei dem ergänzten Namen um einen der häufigsten Eigennamen in der griechischen Welt, der auch in Kopai und Umgebung zahlreich belegt ist (siehe LGPB III B s.v. Καφισόδωρος). Dennoch wären auch andere Namen denkbar, wie z.B. Καφισόδωτος, Καφισότιμος, Καφισόφιλος. Dementsprechend fällt auch Peeks unten zitierte Ergänzung in Zeile 1 aus. Siehe weiter Koumanoudis 1969, 81f.; Wallace 1970, 104; Clairmont 1970, 167f. Siehe Fossey 1991, 176f. Peeks gesamte Edition (Peek 1970, 87–89) lautet: „[Γᾶ πατρίς μ᾽ ἐθ]ραφσεν ἐπ᾽ Ἀσοπο͂ι δὲ δαμασθὲς [ἐμ πολέμοι γενέται] / [τε πόλει τε θ]ρε͂νον ἔθεκα· hὲ τόδ᾽ ἐπέστ[εσεν μνε͂μά μοι ἀΐδιον] / [Κάφονα κλέ]οισα τὸν hυιὸν Καφ̣ι[σοδόρο].“
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Es kann an dieser Stelle nicht auf alle Details der Argumentation eingegangen werden, jedoch liefert meiner Auffassung nach auch hier Fossey die überzeugenderen Argumente. Insbesondere „τὸν hυιὸν“ aus der letzten Zeile – eine Lesung, die von allen Editoren akzeptiert wird – scheint mir für seine Interpretation zu sprechen. Zwar zeigt die Reiterstatue für Eugnotos von der Agora von Akraiphia deutlich, dass Kooperationen von oikos und polis durchaus möglich waren.297 Jedoch handelte es sich bei diesem Denkmal um ein Ehren- und kein Grabmonument, was durchaus einen signifikanten Unterschied darstellen mag. Vor allem aber bewegen wir uns mit dem Grabdenkmal für Καφι[---] im 5. Jh. v.Chr. und somit auch in einem völlig anderen politischen Kontext.298 Was lässt sich also in Hinblick auf das Gefallenengedenken über das Monument für Καφι[---] festhalten? Insofern man die Interpretation der Ortsangabe in Zeile 1 des Epigramms als Hinweis auf den Schlachtentod des Verstorbenen akzeptiert, sollte zuvorderst festgehalten werden, dass hier wiederum keine Gruppe von Gefallenen kommemoriert wurde, sondern ein Einzelner. Bedenkt man, dass es sich wahrscheinlich um ein privat finanziertes und kein staatliches Grabmal handelte, kann diese Feststellung kaum überraschen. Dennoch sollte sie festgehalten werden, spricht sie doch dafür, dass in Kopai zum bedauerlicherweise nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt der Errichtung des Monumentes die Sorge für die Bestattung der Gefallenen entweder vollständig bei deren Angehörigen lag oder aber dass zusätzlich zur staatlichen Kommemoration noch weiteres, privates Gedenken auch in Form von Monumenten stattfinden konnte. Freilich sind diese Überlegungen vor dem Hintergrund der unsicheren Datierung wie auch des insgesamt ausgesprochen fragmentarischen Befundes mit entsprechender Vorsicht zu betrachten und halten kaum einer größeren Belastung stand.
297 298
S.o. 2. I. Akraiphia. Ich möchte die Datierungsfrage an dieser Stelle nicht zu umfassend behandeln, da auch hier letztlich keine zweifelsfreie Entscheidung möglich ist. Die Inschrift wird aufgrund paläographischer Kriterien in die 1. H. 5. Jh. v.Chr. datiert und in der Folge mit unterschiedlichen Schlachten auf boiotischem Boden assoziiert (Plataiai 479 v.Chr.; Tanagra 457 v.Chr.; Oinophyta ebenfalls 457 v.Chr.). Siehe hierzu Koumanoudis 1969, 81f. Fossey 1991, 177–179 merkt jedoch ganz zurecht an, dass eine paläographische Datierung vor dem Hintergrund der Spärlichkeit inschriftlicher Vergleichszeugnisse aus Kopai ausgesprochen unzuverlässig ist und dass somit selbst die Einschränkung auf die erste Jahrhunderthälfte möglicherweise ausgeweitet werden müsse (somit käme beispielsweise auch noch die Schlacht vom Delion 424 v.Chr. in Frage). Er selbst allerdings möchte dann wiederum aufgrund einiger Charakteristika des Epigramms sowie dessen Qualität doch wieder einen Bezug zur Schlacht von Plataiai herstellen. M.E. lässt sich eine Entscheidung anhand des Befundes schlichtweg nicht treffen, sodass ich auf der vorsichtigen Datierung ins 5. Jh. v.Chr. verharre.
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Leuktra Nur kurz soll hier auf ein Monument aus der Nähe von Leuktra eingegangen werden, das möglicherweise einen oder auch zwei Gefallene kommemorierte. Auf dem Fragment aus grauem Kalkstein, das nur an der Oberseite nicht gebrochen ist und das einst Teil einer Grabstele war, sind drei Zeilen einer Inschrift erhalten: Ἀγάθω[ν], [Μ]νασαρέτο[υ] [ἐ]ν Χηρωνείη.
Die Rekonstruktion des Textes ist nicht völlig unproblematisch. Während Elena Vlachogianni (ed. prin.) noch Namen, Patronym und Ethnikon einer weiblichen Verstorbenen rekonstruierte,299 schlug Denis Knoepfler vor, in den ersten beiden Zeilen zwei männliche Namen im Nominativ zu lesen, behielt aber die Herkunftsangabe in der letzten Zeile mit einer leichten Variation bei.300 In der neuesten Edition kommt Yannis Kalliontzis schließlich nach einer Neuuntersuchung des Steins und in Rücksprache mit Knoepfler zu dem Urteil, dass in der letzten Zeile wohl kein Ethnikon, sondern eine Ortsangabe zu rekonstruieren sei. Diese habe laut Kalliontzis darauf verwiesen, dass die beiden Männer in einer Schlacht bei Chaironeia gefallen seien. Die Buchstabenformen würden eine Datierung in die Mitte des 3. Jh. v.Chr. nahelegen – die freilich mit gewisser Skepsis betrachtet werden muss – und somit für eine Zuordnung zur Schlacht des Jahres 245 v.Chr. sprechen, in welcher der Boiotische Bund bei Chaironeia den Aitolern unterlag.301 Sowohl die Ergänzung der Präposition ἐν in der letzten Zeile als auch die Interpretation als Angabe eines Schlachtortes können überzeugen.302 Zweifelhaft scheint mir hingegen, dass hier gleich zwei Männer kommemoriert worden sein sollen. Die von Knopefler vorgeschlagene Ergänzung eines Nominativs in Zeile 2 resultierte schließlich nur aus seiner etwas ungelenken Rekonstruktion der letzten Zeile. Da diese mit Kalliontzis’ wesentlich eleganterer Lösung nicht mehr nötig ist, ließe sich an dieser Stelle ebenfalls ein Patronym im Genitiv ergänzen, wie dies
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Siehe Vlachogianni, in: Arch.Delt. 54.B1 (1999) [2005], 331f. + Abb. 22. Die Inschrift hätte demnach gelautet: „Ἀγαθὼ | [Μ]νασαρέτο[υ] | Χηρωνείη“. „Χηρωνείη“ hätte dabei die weibliche Form des Ethnikons dargestellt – eine These, der Knoepfler, in: BE (2007), 308 widerspricht. Vgl. Knoepfler, in: BE (2007), 308. Sein Vorschlag liest: „Ἀγάθω[ν], | [Μ]νασάρετο[ς], | [το]ὶ̣ Χηρωνείη[ς]“. Siehe Kalliontzis 2014, 366. Die Schlacht ist überliefert bei Plut. Arat. 16.1 und Polyb. 20.4.4–7. Beide Autoren beschreiben eine empfindliche Niederlage der Boioter. Vgl. zur Angabe von Schlachtorten die vermutliche Ortsangabe im Epigramm für Καφι[---] aus Kopai (2. I. Kopai) sowie Anm. 217 und die Liste im Anhang.
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bereits Vlachogianni vorgeschlagen hatte. Letztlich lässt sich die Frage nicht klären und so mögen hier entweder zwei Männer oder aber ein einzelner Mann mit Angabe seines Patronyms kommemoriert worden sein. Entscheidend ist ohnehin, dass hier wahrscheinlich einem oder zwei Gefallenen einer Schlacht bei Chaironeia ein Grab oder ein Kenotaph in der leuktrischen Heimat errichtet wurde sowie dass dies vermutlich durch private und nicht öffentliche Hand geschah. Zumindest sprechen sowohl die Beschaffenheit des Steines als auch die Qualität und das Formular der Inschrift dafür, dass es sich nicht um ein staatliches Monument handelte. Dies ist insbesondere von Bedeutung, da gleich zwei weitere Gefallenenmonumente für einen Thespier und einige Orchomenier – wie wir im Folgenden noch sehen werden – sehr wahrscheinlich ebenfalls dieser Schlacht zuzuordnen sind.
Orchomenos Erst kürzlich wurde in Orchomenos ein Monument gefunden, das möglicherweise ebenfalls Gefallene der Schlacht von 245 v.Chr. kommemorierte. Der Fund ist noch nicht veröffentlicht und wird in einem seiner jüngsten Artikel nur kurz von Yannis Kalliontzis erwähnt,303 der zusammen mit Vassilis Aravantinos die editio princeps übernimmt. Der kurzen Ankündigung lässt sich nur entnehmen, dass das Monument Soldaten kommemorierte, die in einer Schlacht gegen Aitoler gefallen waren und dass die Inschrift erst deutlich nach dem eigentlichen Ereignis eingeschrieben worden sei. Zwar bleibt die Veröffentlichung des Stückes abzuwarten, sollten die Editoren mit ihren Vermutungen jedoch richtig liegen, wäre insbesondere die Verzögerung in der Kommemoration der Gefallenen von besonderem Interesse für die hier aufgeworfenen Fragen.304 Für den Moment muss es bei dieser kurzen Erwähnung bleiben.
Plataiai Mit Plataiai wenden wir uns dem ersten Fall einer polis zu, in der staatliches, kollektives Gefallenengedenken in einer gewissen Häufigkeit und in größerem Maße fassbar wird. Bereits jetzt darf wohl vorweggenommen werden, dass ein Grund für die relativ reiche Ausprägung des Gefallenengedenkens in dieser polis wahrscheinlich in ihrer besonderen geographischen wie politischen
303 304
Siehe Kalliontzis 2014, 348f. Nr. 8. Siehe insbesondere 3. II. Der Aufstieg und das Scheitern Thebens zu Fällen der Aktualisierung oder verzögerten Einrichtung von Gefallenenmonumenten.
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Position und ihrer daraus resultierenden Nähe zu Athen lag.305 Vor allem aber dürfte auch die besondere Verstrickung der Plataier in die Kommemoration der Perserkriege für die Entwicklung der staatlichen Gefallenenkommemoration in diesem Gemeinwesen von Bedeutung gewesen sein. Gleich als Erstes will ich das Gedenken an die Toten der Schlacht von Marathon betrachten. Als einziger der antiken Autoren berichtet Pausanias vom Grab der gefallenen Plataier dieser Schlacht. Er schreibt: τάφος δὲ ἐν τῷ πεδίῳ Ἀθηναίων ἐστίν, ἐπὶ δὲ αὐτῷ στῆλαι τὰ ὀνόματα τῶν ἀποθανόντων κατὰ φυλὰς ἑκάστων ἔχουσαι, καὶ ἕτερος Πλαταιεῦσι Βοιωτῶν καὶ δούλοις.306
Demnach seien die Plataier also in einem einzigen Grab gemeinsam mit jenen Sklaven bestattet worden, die auf Seiten der Athener gekämpft und hierfür die Freiheit erhalten hatten.307 Dieses Grab glaubte Spyridon Marinatos gefunden zu haben, als er in den Jahren 1969 und 1970 am Eingang des Vranatals, ca. 2,5km entfernt vom Soros der Athener, einen Grabhügel frühklassischer Zeit ausgrub.308 Der Tumulus, der auf der Ostseite – wohl erfolglos309 – bereits 305
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Vgl. zu diesem Themenkomplex Henning 1992 und Hammond 1992. Auch Badian 1993 berührt immer wieder die Frage nach dem Verhältnis der Athener und der Plataier. Paus. 1.32.3. Die anderen literarischen Quellen zu den Vorkommnissen direkt nach der Schlacht (maßgeblich Hdt. 6.112–117 und Plut. Arist. 5.5) fokussieren ausschließlich auf die gefallenen Athener. Zu diesem Phänomen des Ausblendens der Plataier in der Erinnerung an die Schlacht von Marathon siehe Jung 2006, 131–133. Die Freilassung wird konkret nur bei Paus. 7.15.7 überliefert. Eine Beteiligung der Sklaven in der Schlacht und deren Bestattung erwähnt er allerdings noch an weiteren Stellen (1.29.7 und 10.20.2). Keine der anderen Quellen berichtet von Sklaven, die bei Marathon gekämpft hätten. Siehe hierzu auch weiter unten. Marinatos verstarb, bevor er seine Funde endgültig publizieren konnte. Allerdings lässt sich anhand seiner vorläufigen Berichte, die er während der andauernden Grabung sowie kurz nach deren Beendigung veröffentlichte, ein recht deutliches Bild des Befundes gewinnen. Siehe Marinatos 1970a, 164–166; 1970b, 357–366 sowie 1970c, 20–28. Callipolitis-Feytmans 1971 bietet zudem einen kurzen Kommentar zu zweien der Teller, die im Tumulus gefunden worden. Die weitere Literatur bestätigt im Wesentlichen die Aussagen über den archäologischen Befund, variiert jedoch stark in dessen Interpretation. Einen guten Überblick über den Befund und die Diskussion des Grabes in der Forschung bietet Mersch 1995, 59–61. Siehe auch die neuere Publikation von Goette/Weber 2004, 83–85. Vgl. Steinhauer 2009, 117–120 und die folgenden Abbildungen für einige ausgezeichnete Fotos der Keramikfunde. Siehe außerdem Schuchhardt 1973; Hammond 1973, 197f.; 1992, 147–150; Burn 1977, 91f.; Welwei 1979; Clairmont 1983, 99–101 Nr. 6b; Pritchett 1985, 127–129; Jung 2006, 65 Anm. 152. Zu Dank bin ich Janett Schröder für einige interessante Anregungen zum Grab der Plataier in Marathon verpflichtet. Marinatos 1970a, 164f. vermutet, die Grabräuber hätten wohl von ihrem Vorhaben abgelassen, nachdem sie in den ersten Gräbern keine Beigaben fanden. In jedem Fall fand er die meisten der freigelegten Gräber noch ungestört vor.
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von Grabräubern angegangen worden war, misst ca. 30–35m im Durchmesser und wurde auf über drei Meter Höhe aus Bruchsteinen und Geröll angeschüttet. Marinatos entschloss sich dazu, nur die südliche Hälfte des Hügels zu ergraben und stieß dabei zunächst auf eine Brandschicht, in der sich Tierknochen sowie Scherben von mindestens 25 Keramikgefäßen – größtenteils Lekythen in einheitlichem attisch-schwarzfigurigem Stil – fanden, jedoch keine menschlichen Überreste. Unterhalb dieser Schicht entdeckte er insgesamt elf Einzelgräber, für deren Untersuchung er auch einen Anthropologen hinzuzog. Bei sieben der Gräber handelte es sich um Körperbestattungen von Männern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. An zweien der Skelette seien dabei noch Verletzungen zu erkennen gewesen, die einen Tod durch Waffen nahelegten.310 Zudem fanden sich zwei Brandbestattungen, von denen zumindest eine noch die Schätzung des Alters des Verstorbenen erlaubte. Wiederum handelte es sich wohl um einen Mann zwischen 20 und 30 Jahren. Die zwei verbleibenden Gräber schließlich, stechen besonders hervor. Bei dem ersten handelt es sich um die Körperbestattung eines ca. 10 Jahre alten Jungen, dessen Leichnam bei der Beisetzung bis zur Hüfte in ein liegendes Gefäß geschoben worden war. Im zweiten Grab wurde ein etwa 40 Jahre alter Mann bestattet, dessen Kopf und Oberkörper zusätzlich mit zwei aneinandergestellten Steinplatten geschützt wurden. Die beiden Bestattungen stechen also sowohl durch das Alter der Toten als auch durch die besonderen Maßnahmen zum Schutz ihrer Leichname hervor. Waren zudem auch einige der anderen Gräber durch einen unbearbeiteten, aufrecht gestellten Stein markiert,311 fand sich einzig auf dem ansonsten ebenfalls unbearbeiteten Stein, der das Grab des älteren Mannes markierte, eine Inschrift, die den Toten als „Ἄρχια[ς]“ identifizierte.312 Auch war ihm als einzigem Verstorbenen simple Gebrauchskeramik in der Form einer Kotyle und einer kleinen Schale beigegeben,313 während die anderen Gräber keinerlei Beigaben enthielten. In der Forschung ist die Identifikation dieses Fundes als das Grab der Plataier und der Sklaven heftig umstritten. Auf Seiten der Befürworter werden primär drei Argumente für die Identifikation hervorgebracht, die bereits Marinatos in seinen ersten Publikationen anführte.314 So 310
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Bedauerlicherweise sind die Ergebnisse der anthropologischen Untersuchung der Gebeine nicht gesondert publiziert und auch die Fotos erlauben es nicht, Marinatos’ Aussagen nachzuvollziehen. Zumindest aber meldete keiner der späteren Autoren, welche die Überreste zum Teil persönlich begutachten konnten, Zweifel an diesen Ergebnissen an. Besonders gut zu erkennen bei Marinatos 1970a, Abb. 18; 1970b, Abb. 15. Zudem noch einmal verdeutlicht in der Zeichnung bei Dems. 1970c, Abb. 6. Publiziert in IG I3 1362. Ein gutes Foto des Steins findet sich bei Marinatos 1970b, 358f. + Abb. 16. Abbildungen der beiden Gefäße finden sich bei Marinatos 1970b, Abb. 17 (noch in situ) sowie Abb. 23 und 24. Siehe hierzu Marinatos 1970a; 1970b und 1970c. Ihm folgen Mersch 1995; Hammond 1973 und 1992; Burn 1977; Schuchhardt 1973; Goette/Weber 2004 und Steinhauer 2009. Vehement gegen die Identifikation stellen sich Koumanoudis 1978 und Welwei 1979. Auch Pritchett 1985 zweifelt
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sei (1.) auffällig, dass es sich bis auf den zehnjährigen Jungen bei allen Bestatteten um Männer im wehrfähigen Alter handelte, derer zwei Skelette zudem noch Kampfverletzungen aufwiesen. Außerdem sei (2.) die Form der Bestattungen sehr einheitlich. Es handele sich nämlich größtenteils um Körperbestattungen; alle Gräber waren mit Erde und Geröll verfüllt und mehrere der Gräber waren bei ihrer Entdeckung noch mit einem aufrecht stehenden Stein markiert. Zudem befanden sich alle Bestattungen auf demselben Niveau.315 Schließlich bestünde (3.) der Großteil der Keramikreste aus der Brandschicht aus attisch-schwarzfigurigen Lekythen, die sich in die Jahre zwischen 500 und 490 v.Chr. oder doch zumindest auf den frühen Anfang des 5. Jh. v.Chr. datieren lassen und die zudem noch aus der gleichen Werkstatt stammten wie jene Lekythen, die im Soros der athenischen Marathongefallenen gefunden wurden.316 Diesen Argumenten wurden von anderen Autoren zahlreiche Einwände gegenübergestellt. Eine ganze Reihe von Kritikpunkten gruppiert sich dabei um die Form der Einzelgräber und deren vermeintliche Einheitlichkeit. Wahrscheinlich am häufigsten wird hierbei die Bestattung des zehnjährigen Jungen als Einwand gegen die Identifikation der Toten als Marathonkämpfer genannt und in der Tat stellt dieses Grab ein Faktum dar, das einer Erklärung bedarf. Bereits Marinatos schlug deshalb vor, der Junge möge in der Schlacht als Späher oder als Bote zwischen den unterschiedlichen Flügeln eingesetzt und dabei getötet worden sein; ein Vorschlag, der von anderen Autoren – zum Teil unter Verweis auf entsprechende Parallelen in verschiedenen antiken und vormodernen Kontexten – aufgegriffen wurde.317 Walter-Herwig Schuchhardt bot schließlich noch eine weitere Erklärung an und wollte den Jungen aufgrund einer entsprechenden Darstellung auf der bekannten Chigivase als Flötenspieler identifizieren.318 Trotz der anhaltenden
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an der Identifikation, während Clairmont 1983 keine Entscheidung treffen möchte (für genaue Stellenangaben s.o. Anm. 308 sowie im Folgenden). Welwei 1979, 105 behauptet, das Grab des Jungen habe etwas höher gelegen und sei somit einer anderen Zeitstufe zuzuordnen. Diese Behauptung lässt sich den Grabungsberichten allerdings nicht entnehmen. Im Gegenteil scheint sich aus diesen klar zu ergeben, dass die Gräber alle auf einem Niveau lagen. Auch sprechen alle anderen Anzeichen für eine zeitgleiche Anlage. Zur Keramik vgl. neben den Publikationen Marinatos’ auch Callipolitis-Feytmans 1971; Mersch 1995, 59f. und Clairmont 1983, 99–101 Nr. 6b. Auch Pritchett 1985, 128f., der sich eigentlich gegen die Identifikation ausspricht, muss zugeben, dass die Datierung der Keramik ein gewichtiges Argument darstellt. Neben den Lekythen fanden sich in beiden Gräbern auch noch andere Gefäße, die insbesondere im Fall des Soros durchaus auch deutlich älter sein konnten. Bei der Keramik aus dem Grab des Archia[s] handelt es sich um Gebrauchskeramik, die sich nur schwer datieren lässt. Vgl. Marinatos 1970b, 361f., der selbst bereits auf entsprechende Berichte in anderen antiken Quellen verweist. Siehe weiter Mersch 1995, 61f. und Clairmont 1983, 100 inkl. Anm. 25. Siehe Schuchhardt 1973. Hammond 1973, 197 schlägt vor, es möge sich um einen Sklaven gehandelt haben, der seinem Herrn während der Schlacht assistierte. Hier scheint mir aber die Kritik von Welwei 1979, 102f. berechtigt. Siehe zur Frage der Bestattung der Sklaven in der Schlacht zudem weiter unten.
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Skepsis einiger Kritiker,319 erscheinen mir diese Erklärungsangebote als absolut plausibel und die Zweifel in diesem Punkt damit als unbegründet. Wenden wir uns daher dem nächsten Teil des Befundes zu: dem Grab des Archia[s], an dem gleich eine Vielzahl von Problemen konstatiert wurde. So verwies Karl-Wilhelm Welwei darauf, dass das Χ in der Inschrift die attische und eben nicht die boiotische Form habe und dass es sich bei Archia[s] und den anderen Toten daher auch nicht um Boioter gehandelt haben könne.320 Andrea Mersch suchte diesen Einwand zu entkräften, indem sie postulierte, dass für die Inschrift wie auch für die Keramikbeigaben auf lokale, attische Werkstätten zurückgegriffen worden sei.321 Dabei böten sich auch viel einfachere Erklärungen an. So meinen etwa die Editoren von IG I3 1362, der Name ließe sich im boiotischen Alphabet auch als Ἀρξία[ς] = Arxia[s] lesen. Vor allem aber sollte die Buchstabenform nicht übermäßig belastet werden. Wie die Abbildungen bei Marinatos zeigen und wie dieser auch selbst anmerkt, ist die Inschrift sehr unsauber ausgeführt und wurde wahrscheinlich von einem Laien eingeschrieben.322 Es bleibt daher zu fragen, ob es sich bei dem Schreiber um einen Boioter handelte oder doch um einen Athener, der bei der Bestattung der Verbündeten half, oder aber ob ein Laie aus dem boiotisch-attischen Grenzgebiet überhaupt für derartige orthographische Feinheiten sensibilisiert war.323 Überdies berühren wir hier einen kritischen Punkt, nämlich die Frage danach, wer überhaupt die Bestattung der Gefallenen übernahm. Irrigerweise dominiert in der Forschung die einheitliche Vorstellung, die gefallenen Plataier seien von den Athenern bestattet worden, obwohl es doch weitaus plausibler und wahrscheinlicher ist, dass sie von ihren plataiischen Kameraden beigesetzt wurden. Immerhin waren die Plataier bei Marathon laut Herodot mit ihrem vollen Kontingent angerückt,324 sodass sich bei den offenbar geringen Verlusten mehr als genug Soldaten gefunden haben müssen, die für die Bestattung ihrer Kameraden und gegebenenfalls Angehörigen Sorge tragen konnten und wollten. Diese Überlegung muss auch in Hinblick auf weitere Kritikpunkte hinsichtlich der Identifikation des Grabes berücksichtigt werden. So bemängeln einige Autoren unter dem Verweis auf die Koexistenz von Brand- und Körperbestat-
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So etwa Koumanoudis 1978 und ganz explizit Welwei 1979, 101–103. Siehe Welwei 1979, 105. Vgl. Mersch 1995, 60. Laut Marinatos 1970b, 358f. sei es „undoubtedly the work of a soldier“. Ebd. findet sich auch ein Foto des Steins (Abb. 16). Zu diesem Problem vgl. deVottéro 1996 sowie Taillard/Roesch 1966 und auch Hall 1997 insb. 177. Luraghi 2010 und auch Larson 2007, 111f. weisen auf das bewusste Einsetzen von Dialekten und dialektalen Schriftsystemen hin, beziehen sich dabei aber vorwiegend auf offizielle, staatlich sanktionierte Inschriften. Es ist fraglich, ob ihre Forschungsergebnisse im vorliegenden Fall Gültigkeit besitzen. Siehe Hdt. 6.108.1.
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tungen sowie auf die herausgehobenen Bestattungen des Jungen und des Archia[s], dass die Gräber sich eben gar nicht derart einheitlich darstellen würden, wie es bei einem Gefallenengrab zu erwarten sei.325 Zumindest implizit äußern sie hierbei auch die Vorstellung, dass ein Gefallenenbegräbnis uniform und egalitär ausfallen müsse und projizieren damit ganz offensichtlich Vorstellungen vom athenischen Staatsbegräbnis auf die Bestattung der Plataier, ohne dass dies in irgendeiner Hinsicht gerechtfertigt wäre. Zum einen stellte auch das attische Gefallenenbegräbnis noch eine Neuheit dar, die in ihrer späteren Form noch lange nicht gefestigt war und diese im Gegenteil überhaupt erst noch entwickeln musste. Zum anderen ist nicht einfach – quasi a priori – zu erwarten, dass die Plataier dem athenischen Vorbild folgten und völlig egalitäre Bestattungsformen wählten. Vielmehr sollte es Aufgabe des Forschers sein, die Partikularismen der einzelnen Gemeinwesen zu erkennen und herauszuarbeiten. In diesem Sinne ließen sich die Unterschiede in den einzelnen Bestattungen also dadurch erklären, dass die Plataier eben nicht so stark auf völlig einheitliche Bestattungsformen achteten und stattdessen den familialen und individuellen Bräuchen mehr Raum ließen. So durften die Kameraden und Angehörigen frei entscheiden, wie sie ihre Toten bestatteten – also auch ob sie ihre Toten kremierten oder den intakten Leichnam bestatteten. Auch die gesonderte Behandlung des Jungen und des Archia[s] lassen sich so erklären. So ist schließlich bekannt, dass Kindern bei der Bestattung häufig andere Sorge zuteil wurde als Erwachsenen326 und der besondere Aufwand für Archia[s] ließe sich gut dadurch erklären, dass es sich um einen Offizier oder aber eine anderweitig höhergestellte Persönlichkeit handelte.327 In jedem Fall scheint es mir nicht zulässig, anhand dieser mutmaßlich nicht-egalitären Elemente der Bestattungen gegen eine Zuordnung der Gräber zur Schlacht von Marathon zu argumentieren. Vielmehr sollte betont werden, dass die Gräber sich in ihrer Schlichtheit stark ähnelten und eventuell vorhandene Statusunterschiede in der Bestattung nur minimal sichtbar waren. Die Frage, wer sich für die Bestattung der gefallenen Plataier verantwortlich zeigte, ist schließlich auch entscheidend für einen weiteren zentralen Einwand der Kritiker von Marinatos’ These. 325
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Wiederum sind hierbei Welwei 1979 und Koumanoudis 1978 die schärfsten Kritiker. Pritchett 1985, 127f. greift ihre Argumente auf. In der Regel äußerte sich dies in weniger aufwendigen Bestattungen, jedoch mag hier eine Mischform vorliegen und der Junge zusammen mit den anderen Gefallenen bestattet worden sein, weil er quasi als ‚Kriegsdienstleistender‘ starb. In jedem Fall wurden Kinder in dieser Zeit sehr häufig immer in Keramikgefäßen inhumiert. Vgl. Garland 1985, 78–86 sowie Kurtz/Boardman 1971, 70–74 und 97–99. Diesen Vorschlag unterbreitet bereits Marinatos 1970b, 359f. mit dem Verweis auf das höhere Alter des Toten. Man könnte mutmaßen, dass Archia[s] vielleicht auch ein politisches oder priesterliches Amt innehatte oder einst als Athlet erfolgreich gewesen war. Entsprechende Parallelen, in denen solche Personen besonders hervorgehoben wurden, finden sich in anderen Gefallenenbegräbnissen. Siehe hierzu das Kapitel zu Athen oder auch das Epigramm für den Seher Megistias, der an den Thermopylen fiel (s.u. 2. II. Sparta mit Anm. 1017).
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Sowohl Karl-Wilhelm Welwei als auch Stephanos Koumanoudis lehnen Marinatos’ Identifikation des Tumulus als Grab der Plataier ab, da Pausanias in der oben zitierten Stelle ganz klar von einem einzigen Grab spreche, in dem sowohl die gefallenen Plataier als auch die athenischen Sklaven beigesetzt worden seien. Die Überlegung scheint zu sein, dass, selbst wenn man – entgegen ihrer eigenen Überzeugung – Marinatos’ Einschätzung der Gräber als relativ einheitlich in ihrer Form akzeptiere, sich ja eigentlich wohl klare Unterschiede in der Bestattungsform der freigelassenen Sklaven und der Plataier hätten finden lassen müssen.328 Dabei lehnen sie Hammonds Vorschlag, die Brandbestattungen den Plataiern und die Körperbestattungen den Sklaven zuzuordnen, völlig zurecht ab.329 Gleich eine ganze Reihe von Problemen ergeben sich in der Frage nach der Bestattung der Sklaven. Zunächst ist einzig bei Pausanias überliefert, dass bei Marathon überhaupt Sklaven an der Seite der Athener gekämpft hätten und dass diese zudem hierfür ihre Freiheit erhalten hätten.330 Alle anderen Quellen berichten lediglich davon, dass neben den Athenern auch die Plataier an der Schlacht teilgenommen hätten. Ließe sich ein Verschweigen der Beteiligung von Sklaven in den literarischen Quellen aber vielleicht noch erklären,331 muss die Möglichkeit ihrer Freilassung insgesamt hinterfragt werden. Zwar sind aus Quellen des 5. Jh. v.Chr. durchaus Situationen bekannt, in denen die Athener im Angesicht höchster Not Verbannte zurückriefen oder Verbündeten das Bürgerrecht verliehen;332 und vermutlich wurde den Sklaven, die in der Arginusenschlacht kämpften, tatsächlich die Frei-
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So Welwei 1979 und Koumanoudis 1978. Siehe Hammond 1973, 197f. Sowohl Welwei 1979, 102f. als auch Mersch 1995, 59f. weisen darauf hin, dass eine Brand- gegenüber einer Körperbestattung nicht auf einen Statusunterschied hinweisen muss, sondern dass diese im Griechenland klassischer Zeit gleichberechtigt nebeneinander existierten. Später versuchte Hammond 1992, 149f. seine These zu retten, indem er postulierte, in dem Grab seien nur die Sklaven beigesetzt worden, während die Plataier zwar am Ort des Hügels verbrannt, ihre Knochen aber gesammelt und nach Plataiai verbracht worden seien (bis auf die zwei Brandbestattungen?!). Gleichzeitig will er die gemeinsame ‚Bestattung‘, die ja laut seiner eigenen Aussage aber eigentlich keine gemeinsame Bestattung gewesen sei, dadurch erklären, dass die freigelassenen athenischen Sklaven für ihren Kampfeinsatz das plataiische Bürgerrecht verliehen bekommen hätten. Es liegt auf der Hand, dass dieser Lösungsvorschlag extrem konstruiert und absolut nicht plausibel ist. Vgl. o. Anm. 307. Siehe hierzu Jung 2006, 131–133, der darlegt, dass in den literarischen Quellen bezüglich der Schlacht von Marathon zunehmend einzig auf die Athener fokussiert wurde und dass selbst die Plataier mehr und mehr aus den Darstellungen verschwanden. Vor diesem Hintergrund ist durchaus denkbar, dass die Sklaven noch eher als die athenischen Verbündeten aus der Erinnerung getilgt wurden. Xen. Hell. 2.2.11 berichtet von der Wiederherstellung des Bürgerstatus der atimoi nach der Niederlage von Aigospotamoi. Beispiele einer Bürgerrechtsverleihung an Verbündete finden sich für die Plataier 427 v.Chr. und für die Samier, die den Athenern trotz deren Niederlage im Peloponnesischen Krieg die Treue gehalten hatten. Siehe hierzu Osborne 1982, 11–16 Nr. D1 und 25f. Nr. D4.
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heit und das Bürgerrecht angeboten.333 Jedoch muss fraglich bleiben, ob eine solche Maßnahme im frühen 5. Jh. v.Chr. tatsächlich bereits vorstellbar und politisch durchzusetzen war, weshalb Michael Jung die von Pausanias berichtete Freilassung m.E. völlig überzeugend als eine invented tradition späterer Zeit erklärt.334 Selbst wenn man aber sowohl die Beteiligung als auch die Freilassung der Sklaven als Fakt akzeptieren möchte, muss immer noch ernsthaft bezweifelt werden, dass diese zusammen mit den Plataiern bestattet worden sein sollen, hätten die Plataier es doch wohl nur schwerlich akzeptiert, dass ihre Toten als Vollbürger einer mit Athen verbündeten polis zusammen mit gerade erst freigelassenen Sklaven bestattet wurden.335 Vor allem aber liegt der Vorstellung eines gemeinsamen Grabes für Sklaven und Plataier wiederum die Überzeugung zugrunde, die Toten seien von den Athenern bestattet worden. Dass diese Idee völlig unbegründet und gar höchst unwahrscheinlich ist, wurde oben bereits dargelegt. Die einfachste Erklärung der Unstimmigkeiten liegt daher nicht in komplizierten historischen Erklärungsmodellen, sondern in einem Irrtum des Pausanias, der an dieser wie an anderer Stelle, gut sechseinhalb Jahrhunderte nach den eigentlichen Ereignissen, wohl schlichtweg einer Fehlinformation aufsaß oder sich nicht präzise genug ausdrückte.336
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Explizit überliefert ist dies in einem Scholion zu Aristoph. Ra. 694, demzufolge Hellanikos die Sklavenbefreiung und Bürgerrechtsverleihung berichte (Harding 2008, 136, Hellanikos F25). Auch die Anspielung in der Stelle bei Aristophanes ist recht deutlich. Xen. Hell. 1.6.24 bezeugt lediglich den Einsatz von Sklaven in der Entsatzungsflotte der Arginusenschlacht. Der Einsatz von Unfreien als Ruderer ist allerdings breit bezeugt und stellt keine Besonderheit dar. Siehe etwa IG I3 1032, einen Katalog von Schiffsmannschaften, die sich zu gut einem Drittel aus Sklaven zusammensetzten. Zur Bürgerrechtsverleihung an die Sklaven der Arginusenschlacht siehe die Diskussion bei Osborne 1983, 33–37 T 10 (mit Zitat aller relevanten Quellenstellen) und Harding 2008, a.a.O. sowie Hunt 2001 und Asmonti 2006, 3–5). Vgl. Jung 2006, 174f. inkl. Anm. 17. Hypereides hatte im Lamischen Krieg sowohl Verbannte zurückrufen lassen als eben auch Sklaven im Gegenzug für ihren Kriegseinsatz die Freiheit versprochen. Jung meint nun, damals sei die Geschichte der Sklavenbefreiung bei Marathon propagiert worden, um ein historisches Vorbild zu schaffen und der Maßnahme auf diese Weise etwas von ihrer sozialen und politischen Brisanz zu nehmen. Jung versäumt es allerdings, die Bürgerrechtsverleihung an die Sklaven, die in der Arginusenschlacht dienten, zu thematisieren. Osborne 1983, 37 hält es allerdings ebenfalls für unwahrscheinlich, dass eine ähnliche Bürgerrechtsverleihung zuvor jemals stattgefunden habe. Siehe hierzu die vorangehende Anmerkung. Marinatos 1970b, 361f. meint, ein solches Verfahren seitens der Athener wäre hybris gleichgekommen. Auch Goette/Weber 2004, 84f.; Jung 2006, 174f.; Mersch 1995, 60; Clairmont 1983, 99f. äußern starke Zweifel an der Historizität eines solchen Vorgehens. Auch das oben angesprochene Zitat aus Aristophanes Fröschen (693f. – s. Anm. 333) macht schließlich deutlich, dass eine solche Gleichstellung von Plataiern und Freigelassenen 406 v.Chr. als Affront aufgefasst wurde. So auch Mersch 1995, 60 und Clairmont 1983, 99f. Marinatos 1970b, 361f. hatte einen Fehler in den Manuskripten vermutet und vorgeschlagen den Text bei Pausanias anstelle von „καὶ ἕτερος Πλαταιεῦσι Βοιωτῶν καὶ δούλοις“ als „καὶ ἕτεροι Πλαταιεῦσι Βοιωτῶν καὶ δούλοις“ zu lesen. Dieser Eingriff wurde allerdings – ganz zurecht – von allen nachfolgenden Autoren abgelehnt.
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Damit sind die zentralen Kritikpunkte an einer Zuordnung des Grabes zu den plataiischen Marathongefallen entkräftet und auch einige minder schwerwiegende Einwände wie das Fehlen von Waffen im Grab337 oder auch seine Lage weitab vom Soros der Athener338 können mit guten Argumenten zurückgewiesen werden. So sehe ich keinen Grund, an der Identifikation des Grabes, wie Marinatos sie vorschlägt, zu zweifeln. Mit dem Problem der Identifikation sind jedoch noch nicht alle das Grab betreffenden Fragen geklärt. So legt die Markierung einiger der Einzelgräber mit aufrecht stehenden Steinen – und im Falle des Archia[s] gar mit einer Inschrift – nahe, dass diese Gräber zunächst nicht von dem heute sichtbaren Tumulus bedeckt wurden, sondern dass sie unter freiem Himmel lagen. Demnach wäre also die Monumentalisierung der Gräber durch die Anschüttung des Grabhügels erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand zur Bestattung erfolgt.339 Nun lässt sich die Anlage des Tumulus anhand der Keramik aus der Brandschicht datieren, da Brandschicht und Grabhügel gewiss zusammen entstanden. Wäre dem nicht so, wäre die Ascheschicht sicherlich stärker gestört gewesen, als sie sich Marinatos bei der Ausgrabung darbot. Damit ist aber auch deutlich, dass die Monumentalisierung, insofern man die hier vertretene Zuordnung der Gräber akzeptiert, nur mit geringem zeitlichen Abstand zur eigentlichen Bestattung erfolgt sein kann, da die Keramik aus der Brandschicht mit jener aus dem Soros der Athener auf das Engste verbunden ist.340
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Sowohl Goette/Weber 2004, 83f. als auch Pritchett 1985, 127 weisen hierauf noch einmal dezidiert hin, ziehen jedoch ganz zurecht keine Konsequenzen aus dieser Beobachtung, blieben Waffenfunde doch auch in anderen Gefallenengräbern aus. Als Beispiele seien hier nur der Soros der Athener in Marathon, das Grab der 424 v.Chr. beim Delion gefallenen Thespier und das Grab der gefallenen Thebaner von Chaironeia genannt. Siehe die Befundbeschreibungen an den entsprechenden Stellen der Untersuchung. Die Frage der Lage des Grabes wird meist verknüpft mit den leidlichen Versuchen einer Rekonstruktion des Schlachtenherganges (vgl. u.a. Hammond 1973, 197f.; Welwei 1979, 103f.; Pritchett 1985, 128f.). Solche Versuche sind dabei nicht nur ausgesprochen mühselig und unzuverlässig, sondern versprechen auch keinen wirklichen Erkenntnisgewinn. Zudem können eine ganze Reihe von Faktoren ausschlaggebend für die Ortswahl des Grabes gewesen sein. So meint z.B. Burn 1977, 91f., das Grab sei an der Stelle des Lagers der Plataier errichtet worden, während Hammond 1973, 197f. vorschlägt, dass die prähistorischen Gräber in der Nähe eine Rolle gespielt haben mögen. Siehe auch Clairmont 1983, 99. Eine Entscheidung lässt sich freilich nicht treffen, jedoch sollte angemerkt werden, dass auch der Transport von schätzungsweise 20 bis 30 Leichnamen über die letztlich doch recht kurze Distanz wenig problematisch gewesen sein dürfte. Vgl. Marinatos 1970b, 165f.; Welwei 1979, 105. Koumanoudis 1978 nutzt die Beobachtung als zentrales Argument für seine Theorie, dass hier einzelne Bewohner eines umliegenden Dorfes bestattet worden seien, deren Gräber zu einem späteren Zeitpunkt in einem großen Grab zusammengefasst wurden. Parallelen für dies Praxis führt er jedoch nicht an. S.o. Anm. 316.
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Entschlossen sich die Plataier also, kurz nachdem sie die Gräber angelegt hatten, dazu, diese doch in einem einzigen monumentalen Grabdenkmal zu fassen? Hatten sie vielleicht den Soros der Athener gesehen und beschlossen, dass eine Kommemoration in größeren Dimensionen angemessen war? Geschah die Monumentalisierung der Gräber möglicherweise durch die Athener, die ihre Verbündeten damit ehren und zugleich auch den eigenen Sieg kommemorieren wollten?341 Oder ist vorstellbar, dass der gesamte Komplex doch von vorneherein in dieser Form geplant war und dass die Markierung der Gräber überhaupt nicht bedeutet, dass diese auch für den Betrachter zu sehen waren? Möglicherweise lässt sich die Form der Bestattungen auch schlichtweg auf die Eile bei der Beisetzung direkt nach der Schlacht zurückführen, auf die dann etwas später – vielleicht anlässlich eines der späteren ‚Gedenktage‘ (τὰ τρίτα; τὰ ἔνατα; τὰ τριακόστια?)342 – eine aufwendigere ‚Bestattung‘ unter Beteiligung weiterer Teile des plataiischen Gemeinwesens folgte. Eine Entscheidung lässt sich beim aktuellen Forschungsstand schlichtweg nicht treffen, jedoch sollte die Beobachtung zumindest festgehalten werden. Kommen wir nun zur zweiten großen Landschlacht der Perserkriege: der Schlacht von Plataiai. Die Kommemoration der Gefallenen dieser Schlacht stellte für die Plataier einen Sonderfall dar, trugen sie doch primär Sorge für den Grabkult für die Gefallenen anderer poleis und nicht ihrer eigenen. Zwar zogen 479 v.Chr. nach der Verwüstung ihrer polis im Vorjahr auch 600 Plataier gegen die Perser ins Feld, sodass auch von Gefallenen auf plataiischer Seite auszugehen ist.343
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Janett Schröder nannte diese Möglichkeit in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit aus dem Jahr 2011 (Universität Jena). Als mögliche Anlässe schlug sie die Verleihung des attischen Bürgerrechts an die Plataier 427 v.Chr. oder die Wiederherrichtung der Marathongräber nach den Perserzerstörungen 480/ 79 v.Chr. vor. Beide Anlässe scheiden aufgrund der hier vertretenen Datierung der Monumentalisierung aus. Auch wenn die Erklärung durchaus möglich ist, halte ich sie für unwahrscheinlich und sehe die Monumentalisierung des Grabes als eine plataiische Maßnahme an und nicht als eine athenische. Zu den möglichen Gedenktagen am dritten, neunten, und dreißigsten Tag siehe Kurtz/Boardman 1971, 147f.; Garland 1985, 104f. Hdt. 9.28.6 erwähnt die 600 Plataier. Freilich berichtet er später, einzig die Spartaner, Athener, Tegeaten sowie die Megarer und Phliasier (in einem Gefecht auf einem Nebenschauplatz) hätten Verluste erlitten. Jedoch scheinen die von ihm angeführten Verlustzahlen nicht realistisch (Hdt. 9.70.5: 91 Lakedaimonier, 16 Tegeaten, 52 Athener sowie 9.69.2: 600 Megarer und Phliasier – wobei letztere Angabe durchaus möglich ist). Bereits Plutarch meldet (freilich keineswegs objektiv) Zweifel am herodoteischen Bericht an (Plut. Arist. 19.4–6; de mal. Herod. 872A–873E). Er selbst behauptet, auf griechischer Seite seien 1360 Mann gefallen, nennt dann aber in Bezug auf die einzelnen Poleis doch wieder die Zahlen Herodots (Arist. 19.4.f.). Diod. Sic. 11.33.1 spricht generisch von 10000 gefallenen Griechen und will damit verdeutlichen, dass die Griechen durchaus auch empfindliche Verluste erlitten, wenn auch die eigentliche Zahl nicht belastbar ist. Ohne hier zu sehr in die Details verfallen zu wollen, darf wohl davon ausgegangen werden, dass Herodots Bericht an dieser Stelle nicht vollständig ist und dass die militärische Beteiligung von Hopliten anderer Poleis und eben auch Plataiais durchaus gegeben war. Plut. Arist. 20.2f. behauptet gar, die Aristeia seien den Plataiern zugesprochen worden, auch wenn
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Jedoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der Grabkult, den die Plataier vollzogen, vor allem Angehörigen anderer poleis galt. Bevor aber dieser Aspekt genauer beleuchtet wird, muss zunächst geklärt werden, in welcher Form die Gefallenen der Schlacht von Plataiai überhaupt kommemoriert wurden. Wenden wir uns zunächst den Gräbern zu: Diese sind heute verloren oder wurden zumindest noch nicht identifiziert, sodass wir für ihre Rekonstruktion vollständig auf die literarischen Quellen angewiesen sind. Die früheste Beschreibung stammt von Herodot, der angibt: οἱ δὲ Ἕλληνες ὡς ἐν Πλαταιῇσι τὴν ληίην διείλοντο, ἔθαπτον τοὺς ἑωυτῶν χωρὶς ἕκαστοι. Λακεδαιμόνιοι μὲν τριξὰς ἐποιήσαντο θήκας: ἔνθα μὲν τοὺς ἰρένας ἔθαψαν, τῶν καὶ Ποσειδώνιος καὶ Ἀμομφάρετος ἦσαν καὶ Φιλοκύων τε καὶ Καλλικράτης. ἐν μὲν δὴ ἑνὶ τῶν τάφων ἦσαν οἱ ἰρένες, ἐν δὲ τῷ ἑτέρῳ οἱ ἄλλοι Σπαρτιῆται, ἐν δὲ τῷ τρίτῳ οἱ εἵλωτες. οὗτοι μὲν οὕτω ἔθαπτον, Τεγεῆται δὲ χωρὶς πάντας ἁλέας, καὶ Ἀθηναῖοι τοὺς ἑωυτῶν ὁμοῦ, καὶ Μεγαρέες τε καὶ Φλειάσιοι τοὺς ὑπὸ τῆς ἵππου διαφθαρέντας. τούτων μὲν δὴ πάντων πλήρεες ἐγένοντο οἱ τάφοι: τῶν δὲ ἄλλων ὅσοι καὶ φαίνονται ἐν Πλαταιῇσι ἐόντες τάφοι, τούτους δέ, ὡς ἐγὼ πυνθάνομαι, ἐπαισχυνομένους τῇ ἀπεστοῖ τῆς μάχης ἑκάστους χώματα χῶσαι κεινὰ τῶν ἐπιγινομένων εἵνεκεν ἀνθρώπων, ἐπεὶ καὶ Αἰγινητέων ἐστὶ αὐτόθι καλεόμενος τάφος, τὸν ἐγὼ ἀκούω καὶ δέκα ἔτεσι ὕστερον μετὰ ταῦτα δεηθέντων τῶν Αἰγινητέων χῶσαι Κλεάδην τὸν Αὐτοδίκου ἄνδρα Πλαταιέα, πρόξεινον ἐόντα αὐτῶν.344
Demnach hätten also die beteiligten poleis, nämlich die Spartaner, Athener, Tegaten, Megarer und Phliasier, ihre Toten kata polin jeweils in einem eigenen Grab bestattet.345 Zudem fänden sich Scheingräber346 jener poleis, die später hätten vorgeben wollen, an der Schlacht teilgenom-
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dieser Bericht wohl ebenfalls zu bezweifeln ist. Clairmont 1983, 103–105 Nr. 11a–c bietet eine übersichtliche Zusammenfassung der unterschiedlichen Zeugnisse, kann aber auch keine zufriedenstellende Lösung für die widersprüchlichen Angaben liefern. Auch Pritchett 1985, 174f. Nr. 17 führt die relevanten Quellen an, ohne sich auch nur an einem Lösungsansatz zu versuchen. Hdt. 9.85. Jung 2006, 259 inkl. Anm. 115 meint, die Gräber müssten dabei in einem wahrnehmbaren Gesamtzusammenhang gestanden haben. Wie aber etwa das Beispiel aus Marathon zeigt, ist dies keinesfalls nötig, da die Verbindung mit der Schlacht auch hergestellt werden konnte, wenn die Gräber nicht enger miteinander verknüpft waren. Immerhin würden sich die Unsicherheiten bezüglich der Gräber ja auch gerade dann erklären lassen, wenn kein sichtbarer Zusammenhang existierte. Clairmont 1983 103–105 Nr. 11a–c weist darauf hin, dass zumindest die Gräber der Megarer und Phliasier an einem anderen Ort als jene der übrigen Griechen lokalisiert werden müssten. Es handelt sich nach Herodots Beschreibung nicht um Kenotaphe, da sie nicht als Grab tatsächlicher Gefallener dienten, deren Leichname lediglich nicht an diesem Ort bestattet wurden, sondern als Grabanlagen für fiktive Gefallene. Siehe auch Hartmann 2010, 317.
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men zu haben. Dieses Phänomen der angeblichen Scheingräber weist – völlig abgesehen davon, ob Herodots Bericht hier der Wahrheit entspricht oder nicht – bereits deutlich auf die panhellenische Bedeutung der Erinnerung an die Schlacht hin und soll weiter unten noch genauer thematisiert werden.347 Ebenso soll auch die auffällige Zahl von gleich drei Gräbern für die Spartaner und ihre Heloten nicht an dieser Stelle, sondern im Kapitel zur spartanischen Gefallenenkommemoration besprochen werden.348 Für den Moment genügt die Feststellung, dass laut Herodot die Bestattung der Gefallenen nach poleis getrennt vollzogen wurde. Dem widerspricht zunächst die Beschreibung des Pausanias, in der es heißt, einzig die gefallenen Athener und Lakedaimonier hätten ein eigenes Grab erhalten, während die übrigen Griechen in einem gemeinsamen Grab beigesetzt worden seien: κατὰ δὲ τὴν ἔσοδον μάλιστα τὴν ἐς Πλάταιαν τάφοι τῶν πρὸς Μήδους μαχεσαμένων εἰσί. τοῖς μὲν οὖν λοιποῖς ἐστιν Ἕλλησι μνῆμα κοινόν: Λακεδαιμονίων δὲ καὶ Ἀθηναίων τοῖς πεσοῦσιν ἰδίᾳ τέ εἰσιν οἱ τάφοι καὶ ἐλεγεῖά ἐστι Σιμωνίδου γεγραμμένα ἐπ᾽ αὐτοῖς.349
Wiederum bleibt jedoch zu fragen, wie zuverlässig Pausanias’ Bericht in diesem Fall überhaupt ist und wie viel zu seiner Zeit überhaupt noch von den Gräbern zu sehen war. Zwar impliziert auch Plutarch in de Herodoti malignitate, dass die Gräber zu seinen Lebzeiten noch zu sehen waren: ὁ δὲ προλαμβάνων τὸν ἔλεγχον τοῦ ψεύσματος τῶν ἐρησομένων, ‘πόθεν οὖν πολυάνδρια καὶ θῆκαι τοσαῦται καὶ μνήματα νεκρῶν, ἐν οἷς ἐναγίζουσιν ἄχρι νῦν Πλαταιεῖς τῶν Ἑλλήνων συμπαρόντων’350
Jedoch muss hierbei der polemische Charakter seiner gegen Herodot gerichteten Schrift, die zudem an der zitierten Stelle noch in die Zeit Herodots zurückblendet, bedacht werden, sodass die Stelle nicht als Beleg für die Sichtbarkeit der Gräber zu Plutarchs und weitergedacht vielleicht noch Pausanias’ Lebzeiten gelten kann. Zweifel hieran schürt schließlich auch das Zeugnis Strabons, der an dieser Stelle von einem „ταφή […] δημοσία“ im Singular spricht und die Situation, die ohne den archäologischen Befunde ohnehin nicht zu klären ist, damit noch zusätzlich
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S.u. 3. II. Die Abwehr der Perserinvasionen. S.u. 2. II. Sparta. Paus. 9.2.5. Plut. de Herod. malig. 872E–F.
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verkompliziert.351 In jedem Fall scheint die Vorstellung, dass nur die Athener und Spartaner ein bzw. im Falle Spartas sogar drei eigene Gräber erhielten, während die anderen Griechen en bloc bestattet worden sein sollen, problematisch. Auch wenn Athen und Sparta nämlich die Führungsrolle im Kampf gegen die Perser übernommen hatten, darf wohl doch erwartet werden, dass entweder alle Griechen gemeinsam bestattet wurden oder aber dass jede polis sich ihrer eigenen Toten annahm. Wahrscheinlicher scheint, dass weder Strabon noch Plutarch oder Pausanias zu ihren jeweiligen Lebzeiten noch alle Gräber sehen oder zumindest identifizieren konnten und dass sie daher auf Informationen der lokalen Bevölkerung oder ältere Quellen angewiesen waren. Möglicherweise erhielten sie hierbei falsche oder unklare Angaben, die zu den Unstimmigkeiten in ihren Zeugnissen führten. Gerade die Schilderung des Pausanias mit der starken Fokussierung auf Sparta und Athen zeugt dabei deutlich von der langwährenden Instrumentalisierung der Perserkriegserinnerung durch die beiden einstigen Vormächte Griechenlands.352 Immerhin aber berichten abgesehen von Strabon alle antiken Zeugnisse zu den Gräbern in Plataiai eben von mehreren Gräbern und nicht von einem einzigen, gemeinsamen, sodass davon ausgegangen werden muss, dass die Toten kata polin von ihren Kameraden eben so bestattet wurden, wie diese es für richtig erachteten. Letztlich sind mit Blick auf das Gefallenengedenken in Plataiai aber auch nicht so sehr die Gräber von Interesse; sondern vor allem die Riten, mit denen die gefallenen Griechen kommemoriert wurden. Der ausführlichste Bericht hierzu stammt aus der Feder Plutarchs.353 Der gebürtige Boioter behauptet, in Plataiai seien bis in seine Lebzeiten hinein ebenjene Riten vollzogen worden, welche die Griechen bereits direkt nach der Schlacht des Jahres 479 v.Chr. beschlossen hätten. Diese umfassten (1.) ein jährliches Treffen des Synhedrion der Hellenen mit Opfern an Zeus Eleutherios, (2.) alle vier Jahre das Fest der Eleutheria inklusive eines Agons, sowie (3.) in Verbindung mit den jährlichen Treffen eine aufwendige Grabkultzeremonie für die gefallenen Griechen, die er detailliert beschreibt: ἐκ τούτου γενομένης ἐκκλησίας κοινῆς τῶν Ἑλλήνων ἔγραψεν Ἀριστείδης ψήφισμα συνιέναι μὲν εἰς Πλαταιὰς καθ᾽ ἕκαστον ἐνιαυτὸν ἀπὸ τῆς Ἑλλάδος προβούλους καὶ θεωρούς, ἄγεσθαι δὲ πενταετηρικὸν ἀγῶνα τῶν Ἐλευθερίων. εἶναι δὲ σύνταξιν Ἑλληνικὴν μυρίας μὲν ἀσπίδας, χιλίους δὲ ἵππους, ναῦς δ᾽ ἑκατὸν ἐπὶ τὸν πρὸς βαρβάρους πόλεμον, Πλαταιεῖς δ᾽ ἀσύλους καὶ ἱεροὺς ἀφεῖσθαι τῷ θεῷ θύοντας ὑπὲρ τῆς Ἑλλάδος. κυρωθέντων δὲ τούτων οἱ Πλαταιεῖς ὑπεδέξαντο τοῖς πεσοῦσι καὶ κειμένοις αὐτόθι 351 352
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Strab. 9.2.31. Zu dieser Instrumentalisierung siehe eben Jung 2006 passim sowie Étienne/Piérart 1975 und zuvor bereits Guarducci 1961. Auch Hartmann 2010, 318 meint, Pausanias’ Bericht sei von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung beeinflusst. Für das Folgende siehe Plut. Arist. 19.7 sowie 20.4–21.5.
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τῶν Ἑλλήνων ἐναγίζειν καθ᾽ ἕκαστον ἐνιαυτόν. καὶ τοῦτο μέχρι νῦν δρῶσι τόνδε τὸν τρόπον: τοῦ Μαιμακτηριῶνος μηνός, ὅς ἐστι παρὰ Βοιωτοῖς Ἀλαλκομένιος, τῇ ἕκτῃ ἐπὶ δέκα πέμπουσι πομπήν, ἧς προηγεῖται μὲν ἅμ᾽ ἡμέρᾳ σαλπιγκτὴς ἐγκελευόμενος τὸ πολεμικόν, ἕπονται δ᾽ ἅμαξαι μυρρίνης μεσταὶ καὶ στεφανωμάτων καὶ μέλας ταῦρος καὶ χοὰς οἴνου καὶ γάλακτος ἐν ἀμφορεῦσιν ἐλαίου τε καὶ μύρου κρωσσοὺς νεανίσκοι κομίζοντες ἐλεύθεροι: δούλῳ γὰρ οὐδενὸς ἔξεστι τῶν περὶ τὴν διακονίαν ἐκείνην προσάψασθαι διὰ τὸ τοὺς ἄνδρας ἀποθανεῖν ὑπὲρ ἐλευθερίας: ἐπὶ πᾶσι δὲ τῶν Πλαταιέων ὁ ἄρχων, ᾧ τὸν ἄλλον χρόνον οὔτε σιδήρου θιγεῖν ἔξεστιν οὔθ᾽ ἑτέραν ἐσθῆτα πλὴν λευκῆς ἀναλαβεῖν, τότε χιτῶνα φοινικοῦν ἐνδεδυκὼς ἀράμενός τε ὑδρίαν ἀπὸ τοῦ γραμματοφυλακίου ξιφήρης ἐπὶ τοὺς τάφους προάγει διὰ μέσης τῆς πόλεως. εἶτα λαβὼν ὕδωρ ἀπὸ τῆς κρήνης αὐτὸς ἀπολούει τε τὰς στήλας καὶ μύρῳ χρίει, καὶ τὸν ταῦρον εἰς τὴν πυρὰν σφάξας καὶ κατευξάμενος Διῒ καὶ Ἑρμῇ χθονίῳ παρακαλεῖ τοὺς ἀγαθοὺς ἄνδρας τοὺς ὑπὲρ τῆς Ἑλλάδος ἀποθανόντας ἐπὶ τὸ δεῖπνον καὶ τὴν αἱμοκουρίαν. ἔπειτα κρατῆρα κεράσας οἴνου καὶ χεάμενος ἐπιλέγει: ‘προπίνω τοῖς ἀνδράσι τοῖς ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας τῶν Ἑλλήνων ἀποθανοῦσι.’ ταῦτα μὲν οὖν ἔτι καὶ νῦν διαφυλάττουσιν οἱ Πλαταεῖς.354
Pausanias, der einige Jahrzehnte später schrieb, berichtet ebenfalls von einem Altar des Zeus Eleutherios nahe der Gräber sowie von einem großen Agon im Waffenlauf, der noch zu seinen Lebzeiten alle vier Jahre abgehalten wurde,355 und auch Strabon erwähnt zwar keinen Altar dafür aber gar einen Tempel für Zeus Eleutherios sowie einen gymnischen Agon.356 Wie auch Plutarch erwecken die beiden Autoren in ihren Beschreibungen den Eindruck, die Rituale seien bereits direkt im Anschluss an die Schlacht etabliert und kontinuierlich bis in ihre jeweilige Lebenszeit vollzogen worden. Diodor schließlich behauptet, die Griechen hätten das Fest und den Agon sogar noch vor der Schlacht für den Fall ihres Sieges gelobt, und verbindet sie mit dem umstrittenen sog. ‚Eid von Plataiai‘.357 Allen Berichten ist also gemein, dass sie das Fest und die Spiele für Zeus Eleutherios als gemeinsame Institution der siegreichen Griechen schildern, die diese direkt im Anschluss an die Schlacht eingerichtet hätten. Nun weist aber Michael Jung in seiner Monographie zur Erinnerung der beiden großen Perserschlachten ganz zurecht darauf hin, dass alle diese Zeugnisse deutlich später entstanden und
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Plut. Arist. 21.1–5. Siehe Paus. 9.2.5f. Vgl. Strab. 9.2.31. Siehe Diod. Sic. 11.29.1. Zum Eid von Plataiai siehe grundlegend Siewert 1972 sowie die neueren Abhandlung von Krentz 2007 und Kellogg 2008.
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dass sich keine Quellen des 5. Jh. v.Chr. finden, die von einem Fest und einem Agon berichten.358 Auch Herodot erwähnt weder den Grabkult noch ein Fest für Zeus Eleutherios und in der Tat finden sich lediglich zwei Zeugnisse aus dem 5. Jh. v.Chr., die in irgendeiner Form Rituale in der Ebene von Plataiai attestieren, die dem Gedenken an die Schlacht dienten.359 Beide Belege finden sich im Geschichtswerk des Thukydides und entstammen dem Kontext des Angriffs auf Plataiai durch die Spartaner und ihre Verbündeten im Peloponnesischen Krieg. So weisen in Buch 2 des thukydideischen Werkes die Gesandten der Plataier den sie belagernden spartanischen König Archidamos darauf hin, dass der spartanische Feldherr Pausanias nach der gewonnenen Schlacht von 479 v.Chr. auf der Agora Plataiais dem Zeus Eleutherios geopfert und die Plataier für autonom und unverletzlich erklärt habe.360 Zwar wird hier also ein einmaliges Opfer für Zeus Eleutherios bezeugt, nicht aber wird die Einrichtung einer Kultstätte oder gar eines Festes und eines Agons erwähnt. Auch in den Kapitulationsverhandlungen zwischen den Plataiern und den Spartanern kommen erstere noch einmal auf die Verfügungen des Pausanias zurück. Hier heißt es: ἀποβλέψατε γὰρ ἐς πατέρων τῶν ὑμετέρων θήκας, οὓς ἀποθανόντας ὑπὸ Μήδων καὶ ταφέντας ἐν τῇ ἡμετέρᾳ ἐτιμῶμεν κατὰ ἔτος ἕκαστον δημοσίᾳ ἐσθήμασί τε καὶ τοῖς ἄλλοις νομίμοις, ὅσα τε ἡ γῆ ἡμῶν ἀνεδίδου ὡραῖα, πάντων ἀπαρχὰς ἐπιφέροντες, εὖνοι μὲν ἐκ φιλίας χώρας, ξύμμαχοι δὲ ὁμαίχμοις ποτὲ γενομένοις. ὧν ὑμεῖς τοὐναντίον ἂν δράσαιτε μὴ ὀρθῶς γνόντες. σκέψασθέ τε: Παυσανίας μὲν γὰρ ἔθαπτεν αὐτοὺς νομίζων ἐν γῇ τε φιλίᾳ τιθέναι καὶ παρ᾽ ἀνδράσι τοιούτοις: ὑμεῖς δὲ εἰ κτενεῖτε ἡμᾶς καὶ χώραν τὴν Πλαταιίδα Θηβαΐδα ποιήσετε, τί ἄλλο ἢ ἐν πολεμίᾳ τε καὶ παρὰ τοῖς αὐθένταις πατέρας τοὺς ὑμετέρους καὶ ξυγγενεῖς ἀτίμους γερῶν ὧν νῦν ἴσχουσι καταλείψετε; πρὸς δὲ καὶ γῆν ἐν ᾗ ἠλευθερώθησαν οἱ Ἕλληνες δουλώσετε, ἱερά τε θεῶν οἷς εὐξάμενοι Μήδων ἐκράτησαν ἐρημοῦτε καὶ θυσίας τὰς πατρίους τῶν ἑσσαμένων καὶ κτισάντων ἀφαιρήσεσθε.361
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Vgl. zum Folgenden Jung 2006, Kapitel 7.3 und 7.5. Auch andere Autoren wiesen bereits vor Jung auf diesen Umstand hin (vgl. u.a. Étienne/Piérart 1975 und Guarducci 1975), jedoch behandelt Jung den Gegenstand am ausführlichsten. Bereits Étienne/Piérart 1975, 64–67 stellen dies fest. Ebd., 64 findet sich eine übersichtliche Aufschlüsselung der unterschiedlichen Quellen zu den Ritualen rund um den Ort der Schlacht in der Ebene von Plataiai. Siehe Thuk. 2.71. Die Historizität der Unverletztlichkeitsklausel ist dabei zweifelhaft, war doch etwa selbst die Unverletztlichkeit Delphis erst im Nikkias-Frieden formal zwischen den griechischen poleis zugesichert worden. Vgl. Buckler 2003, 399; Thuk. 5.18.2. Thuk. 3.58.4f.
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Auch hier findet sich kein Hinweis auf einen etablierten Kult für Zeus den Befreier. Stattdessen stehen die Gräber der Spartaner (und der anderen Griechen) im Vordergrund, derer sich die Plataier seit ihrer Anlage annähmen, und wo sie Jahr für Jahr den Totenkult vollzögen. Jung folgert, wie bereits vor ihm Roland Étienne und Marcel Piérart,362 aus diesen Beobachtungen richtig, dass zwischen dem Totenkult an den Gräbern der Gefallenen und dem Kult für Zeus Eleutherios unterschieden werden muss, und weiter, dass die Plataier den Grabkult bereits im 5. Jh. v.Chr. seit Anlage der Gräber vollzogen hatten, während die Eleutheria und der Kult für Zeus wohl erst später eingerichtet wurden.363 Zunächst habe also der Totenkult für die Gefallenen im Zentrum der Erinnerung gestanden und nicht der Kult für Zeus Eleutherios.364 Möglicherweise sei letzterer erst Ende des 5. oder Anfang des 4. Jh. v.Chr. durch die Spartaner etabliert worden, um eine neue Form des Erinnerns an die Schlacht von Plataiai zu finden. Eine derartige Aktualisierung der Kommemorationsformen sei nach der Zerstörung von Plataiai durch die Spartaner und ihre Verbündeten nötig gewesen, da die Kommemoration in ihrer bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten war, gleichzeitig aber die Erinnerung an die Schlacht von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis wie auch die Legitimation des Führungsanspruches der Spartaner gewesen sei und damit erhalten werden musste.365 Jungs These zur Einrichtung der Eleutheria durch die Spartaner lässt sich freilich nicht belegen. Eine Etablierung des Festes zu einem späteren Zeitpunkt und durch einen anderen Akteur ist ebenso möglich.366 Zumindest die Überlegung, dass der Kult des Zeus und der hieran angebundene Agon erst mit deutlichem zeitlichen Abstand zur eigentlichen Schlacht entstanden, muss aber vor dem eindrücklichen Schweigen der literarischen wie auch der archäologischen und epigraphischen Quellen im 5. Jh. v.Chr. als wahrscheinlich angesehen werden.367 So zeigt sich, wie wichtig die Schlacht von Plataiai als lieux de memoire bereits im 5. Jh. v.Chr. war. Deutlich wird vor allem aber, von welch besonderer Relevanz die Kommemoration der
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Vgl. Étienne/Piérart 1975, insb. 64–67. Siehe insbesondere Jung 2006, 265–270; Étienne/Piérart 1975, 67f. Besonders explizit: Jung 2006, 259f. Vgl. Jung 2006, 332–334. Isok. 14.61 legt dabei im Übrigen nahe, dass der Kult für die Gefallenen der Schlacht von Plataiai auch im 4. Jh. v.Chr. noch vollzogen wurde oder wieder vollzogen wurde. Möglicherweise wurde er also nach einer temporären Aussetzung wieder aufgenommen und vielleicht in die Eleutheria eingegliedert. Schachter 1994, 138–141 ist überzeugt, dass die Agone erst im 3. Jh. v.Chr. eingeführt wurden. Gerade die Tatsache, dass die beiden großen Historiker des 5. Jh. v.Chr. an dieser extrem wichtigen Stelle keine derartigen Bräuche erwähnen, wiegt schwer für die Beurteilung dieser Frage. Kalliontzis 2014, 343f. weist noch darauf hin, dass insbesondere in der frühen Kaiserzeit der Rückbezug zur historischen und heroischen Vergangenheit gesucht worden sei und dass hierdurch alte Kulte teils wiederbelebt, teils neu eingerichtet wurden. Die wiederbelebten Kulte erfuhren dabei oft eine starke Überformung. Hiervon sind eben insbesondere die Schilderungen Plutarchs und Pausanias’ geprägt.
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Schlacht explizit für die polis von Plataiai war. Glaubt man dem Bericht des Thukydides, war die Erinnerung an die große Perserkriegsschlacht geradezu von existenzieller Bedeutung für die boiotische polis. In den beiden angesprochenen Reden versuchen die Plataier – fern der tagespolitischen Realitäten – mit Rekursen auf den Perserkampf, die Spartaner davon zu überzeugen, von der Belagerung abzulassen bzw. Milde walten zu lassen. So verweisen sie zu Beginn der Belagerung zunächst darauf, dass die verbündeten Griechen ihnen bei der Neugründung der Stadt nach der Schlacht auf Anregung des Pausanias Autonomie und Schutz vor unrechtmäßigen Angriffen zugestanden hätten.368 Michael Jung weist daraufhin, dass sich die konkrete Natur solcher Zugeständnisse nicht mehr genau fassen lasse. Der Begriff der Autonomie etwa sei erst im Laufe des 5. Jh. v.Chr. entstanden und stelle eine Rückblendung durch Thukydides dar. Dennoch sei durchaus vorstellbar, dass den geschwächten Plataiern gewisse Schutzgarantien gegeben worden seien, die sich wohl vor allem gegen Theben gerichtet hätten, das mit den Persern kooperiert und schon länger mit Plataiai in Konflikt gestanden hatte.369 Nichtsdestotrotz bleiben die Spartaner in Thukydides’ Erzählung unbeeindruckt von den Argumenten der Plataier. Zwar bestreiten sie nicht, dass solche Garantien einst gegeben worden waren, jedoch hätten diese nur Gültigkeit, solange Plataiai sich neutral verhalte, was im vorliegenden Fall nicht geschehen sei.370 In der Rede gegen Ende der Belagerung wiederholen die Plataier folgerichtig diesen Punkt in ihrem Plädoyer für die Schonung der Stadt auch nicht noch einmal. Stattdessen weisen sie darauf hin, dass sie sich bis zu diesem Tage der Gräber der spartanischen (und anderen griechischen) Gefallenen annähmen und sich damit als Freunde der Spartaner auswiesen.371 Diesmal argumentieren sie also nicht anhand vertraglicher oder rechtlicher Garantien irgendeiner Art, sondern versuchen mittels eines Verweises auf die historische Freundschaft der beiden poleis und auf ihre eigenen Leistungen in der Vergangenheit, die Spartaner zu Milde zu bewegen. Auch dieser ethisch-moralische Apell bleibt jedoch erfolglos und die Stadt wird erneut zerstört. Jung meint nun, an diesen beiden Reden lasse sich ablesen, dass die Plataier ihre Unabhängigkeit als direktes Resultat der Perserkriege gesehen hätten und schon alleine daher bemüht gewesen seien, die Erinnerung an die Gefallenen der Schlacht (und damit auch an die Schlacht selbst) aufrecht zu erhalten und immer wieder zu aktualisieren. Durch jedes Vollziehen des Grabkul-
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Thuk. 2.71.2: „[Παυσανίας] ξυγκαλέσας πάντας τοὺς ξυμμάχους ἀπεδίδου Πλαταιεῦσι γῆν καὶ πόλιν τὴν σφετέραν ἔχοντας αὐτονόμους οἰκεῖν, στρατεῦσαί τε μηδένα ποτὲ ἀδίκως ἐπ᾽ αὐτοὺς μηδ᾽ ἐπὶ δουλείᾳ“. Nach Plut. Arist. 21.1 seien die Plataier als „ἀσύλους“ erklärt worden, jedoch stellt sich hier wie auch im Falle des thukydideischen „αὐτονόμους“ die Frage, inwiefern diese Rechtstermini nicht anachronistisch sind und spätere Rückblendungen darstellen. Siehe weiter im Text. Vgl. Jung 2006, 283–286. Siehe Thuk. 2.72.1 mit Jung 2006, 286f. Vgl. auch Bauslaugh 1991, 128–132 zur Möglichkeit der Neutralität in diesem Fall. Vgl. Thuk. 3.58.
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tes hätten sie gleichzeitig ihren Autonomieanspruch wiederholt und erneuert. In der Tat lässt sich aus den beiden Reden des Thukydides eine solche Interpretation ableiten.372 Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Reden im thukydideischen Geschichtswerk trotz dessen Bemerkungen in seinem sog. ‚Methodenkapitel‘ weiterhin hochkonstruierte Passagen waren, die einem spezifischen Zweck innerhalb seiner Gesamterzählung dienten. So lässt sich etwa nicht anhand unabhängiger Quellen nachprüfen, ob den Plataiern 479 v.Chr. wirklich ihre Autonomie zugesichert wurde oder wie die Details und Bedingungen dieses Zugeständnisses aussahen. In Anbetracht des werkimmanenten Kontextes könnte durchaus vermutet werden, dass Thukydides an dieser Stelle die Zusagen von 479 v.Chr. etwas ausschmückte, um der Passage eine stärkere Wirkung zu verleihen: Weder mit den historischen Zusagen noch mit den moralischen Apellen an ihre althergebrachte Freundschaft können die Plataier die Spartaner zur Milde bewegen. Stattdessen folgen die Spartaner den Argumenten der Thebaner und verschreiben sich ganz der realpolitischen Position und dem harten Machtdiskurs, die im Werk des Thukydides sonst insbesondere den Athenern unterstellt werden. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass der Verhandlung um das Schicksal Plataiais im Werk des Thukydides die athenische Debatte über die Bestrafung von Mytilene direkt vorausgeht, sollte hier eine gewisse Skepsis gegenüber den Reden gewahrt werden. Dennoch liegt Jung mit seiner These keineswegs falsch. Immerhin zeigen auch spätere Quellen deutlich, dass in außenpolitischen Belangen immer wieder auf die Rolle der Plataier in den Perserkriegen und auf die enge Verknüpfung der polis von Plataiai mit dem Erinnerungsort Plataiai verwiesen wurde.373 Schließlich war es auch naheliegend, diese Verbindung in politischen Diskussionen zu ziehen. Auch die Tatsache, dass die Plataier den Totenkult für die Gefallenen bis ins Jahr 427 v.Chr. über mehrere Generationen aufrecht erhalten hatten, spricht letztlich für dessen Bedeutung für die polis. Demnach hat Jung sicherlich Recht, wenn er darauf verweist, dass die Kommemoration der Schlacht und der Gefallenen für die Plataier im 5. Jh. v.Chr. und auch danach eine besonders wichtige Stellung einnahm. Einzig die konkreten Ausmaße und insbesondere die Frage, welche Rolle die Kommemoration der Schlacht und der Gefallenen für das plataiische Selbstverständnis hatte, lassen sich anhand der erhaltenen Quellen nur unzureichend fassen. Es lässt sich also festhalten, dass die einzige regelmäßige Form der Kommemoration der Schlacht von Plataiai am Schlachtort selbst zunächst wohl ausschließlich im Grabkult für die Gefallenen bestand, der von den Plataiaern stellvertretend für alle Griechen vollzogen wurde. Wie Thukydides berichtet, wurden den Toten dabei wohl auf Kosten der polis („δημοσίᾳ“) Ge372 373
Auch Osmers 2013, 253f. Anm. 857 folgt Jung in seiner Deutung. So etwa naheliegenderweise anlässlich der erneuten Zerstörung Plataiais 373 v.Chr. in Isokrates Plataikos (58–62) oder auch Xen. Hell. 6.3.1.
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wänder sowie Trank- und Nahrungsspenden und alle weiteren „νόμιμοι“ dargebracht.374 Die weiteren Bräuche, von denen Plutarch und Pausanias für das 1./2. Jh. n.Chr. berichten, lassen sich in dieser frühen Phase nicht nachweisen. Sie scheinen in ihrer gesteigerten Kommemorationsform ebenso wie auch der Kult für Zeus Eleutherios und die Eleutheria ein Produkt späterer Jahre zu sein, wenn auch manche Elemente möglicherweise nach dem klassischen Vorbild wiederaufgegriffen wurden.375 Für die weitere Untersuchung gilt es zu fragen, ob die Kommemoration gerade der Gefallenen von Plataiai, aber auch jener von Marathon und den anderen Perserkriegsschlachten, formativ war für die Entstehung des Gefallenengedenkens in anderen griechischen poleis und worin solche Einflüsse gegebenenfalls bestanden. Der nächste Beleg für plataiisches Gefallenengedenken stammt nun nicht aus Plataiai selbst, sondern aus Athen. Pausanias berichtet bei seiner Beschreibung des Kerameikos von einem Grab für gefallene Athener der Sizilienexpedition, in dem auch verbündete Plataier beigesetzt worden seien: τοὺς δὲ ἐν Σικελίᾳ. γεγραμμένοι δέ εἰσιν οἵ τε στρατηγοὶ πλὴν Νικίου, καὶ τῶν στρατιωτῶν ὁμοῦ τοῖς ἀστοῖς Πλαταιεῖς:376
Die Bestattung von Verbündeten durch die Athener im demosion sema ist nicht ungewöhnlich und in diversen weiteren Fällen bezeugt. So wurden beispielsweise die Kleonier und die Argiver, die an der Seite der Athener 458/7 v.Chr. bei Tanagra fielen, ebenfalls in Athen beigesetzt.377
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Thuk. 3.58.4. Denkbar wäre dies v.a. im Falle der Waschung der Grabmäler und ihrer Schmückung mit Binden, von der Plut. Arist. 2–5 berichtet. Immerhin sind entsprechende Bräuche aus klassischer Zeit wohlbekannt und etwa von den attischen weißgrundigen Lekythen auch in bildlichen Darstellungen überliefert. Auch die Durchführung durch den Polemarchen könnte bereits aus klassischer Zeit stammten, ist doch etwa aus Athen bekannt, dass hier der Polemarch die Opfer für die Tyrannenmörder vollzog und den epitaphios agon leitete. Vgl. Arrington 2015, 72. Auch Jung 2006, 262–264 postuliert einen Rückgriff des kaiserzeitlichen auf das klassische Ritual. Paus. 1.29.12. Vgl. auch Clairmont 1983, 191f. Nr. 54. Siehe Paus. 1.29.7–9 sowie IG I3 1149 mit Clairmont 1983, 136–138 Nr. 21a. Zudem berichtet Paus. 1.29.6 von thessalischen Reitern und kretischen Bogenschützen, die im demosion sema bestattet worden seien. Auch auf Resten der Gefallenenlisten finden sich Hinweise auf Verbündete, die zusammen mit den Athenern beigesetzt wurden. Siehe z.B. IG I3 1144 mit dem Kommentar bei Clairmont 1983, 127–130 Nr. 18. Zu einem Teil handelt es sich wohl um separate Gräber, zum anderen aber eben auch um Gräber für die athenischen Gefallenen, in denen dann auch die Alliierten beigesetzt wurden. Die Bestattung von Verbündeten ist zu unterscheiden von der Beisetzung von xenoi. Bei Letzteren handelte es sich wohl nicht um Alliierte der Athener, sondern vielmehr um Söldner oder in Athen ansässige Fremde und Metöken. Vgl. Bradeen 1969, 150; Clairmont 1983, 50; Loraux 1981, 35f.
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Dennoch handelte es sich bei der Beisetzung und Kommemoration der auf Sizilien gefallenen Plataier in mancher Hinsicht um einen Sonderfall. So ist zum einen anzumerken, dass – anders als nach der Schlacht von Tanagra – jene Argiver, die auf der Sizilienexpedition der Athener umkamen, kein Grab in Athen erhielten, sondern in Argos selbst an prominenter Stelle bestattet wurden.378 Zum anderen hatte das Verhältnis von Plataiern und Athenern gerade in jenen Jahren einen ganz besonderen Charakter. Wie bereits oben erwähnt wurde, hatte Plataiai im Jahr 424/3 v.Chr. der Belagerung durch die Spartaner und ihre boiotischen Verbündeten nachgeben müssen und war in der Folge zerstört worden. Jene Plataier, die sich nach Athen hatten retten können, bekamen nun nach dem Fall ihrer polis das athenische Bürgerrecht verliehen und wurden auf die attischen Demen und Phylen verteilt.379 Demnach scheint es nur folgerichtig, dass die gefallenen Plataier in Athen bestattet wurden. Bemerkenswert ist aber, dass sie laut Pausanias weiterhin dezidiert als Plataier gekennzeichnet wurden. Sein Zeugnis lässt kaum Rückschlüsse auf die Form des Monumentes zu, jedoch ist aufgrund ähnlicher Fälle davon auszugehen, dass die Plataier entweder auf der Gefallenenliste unter einer separaten Rubrik geführt wurden,380 dass sie innerhalb der athenischen Phylenordnung aufgelistet, aber speziell gekennzeichnet wurden, 381 oder aber dass sie aufgrund der hohen Verlustzahlen der Sizilienexpedition wie auch die athenischen Gefallenen selbst nur summarisch erwähnt wurden.382
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S.u. 2. II. Argos. Clairmont 1983, 191, Nr. 53 meint zudem, ein bei Paus. 1.29.6 genanntes Grab für kretische Bogenschützen dem 80 Mann starken kretischen Kontingent zuordnen zu können, welches laut Thuk. 6.43 mit den Athenern auf Sizilien kämpfte. Pritchett 1985, 150f. folgt ihm in dieser Interpretation. Die Zuordnung ist allerdings rein hypothetisch und lässt sich auch nicht aus dem Kontext bei Pausanias schließen. Sie wird daher hier nicht weiter thematisiert. Vgl. Demosth. 59.103f.; Isok. 12.94; Lys. 23.2. Eine Synopse und ein hilfreicher Kommentar finden sich bei Osborne 1982, 11–16 Nr. D1. Siehe auch Prandi 1988, 11–120. Dies entspräche dem bekannten Muster für die Nennung von Verbündeten und xenoi. Vgl. etwa IG I3 1144; 1149 (Verbündete) sowie IG I3 1180; 1184; 1190 (xenoi). Ein solches Vorgehen findet sich auf keiner der attischen Gefallenenlisten, ist jedoch etwa für eine Liste aus Tanagra belegt, auf der gefallene Eretreier aufgezählt werden (IG VII 585). In Athen findet sich eine ähnliche Verfahrensweise für die Liste von Schiffsmannschaften, die um 400 v.Chr. auf der Akropolis aufgestellt wurde (IG I3 1032). Hier wurden die xenoi und Metöken, die auf den Schiffen dienten, mit einer kurzen Herkunftsangabe hinter dem Namen versehen. Dabei wurden sie allerdings weiterhin getrennt von den Bürgern aufgezählt. Möglicherweise wurden im vorliegenden Fall aufgrund der besonderen Umstände die Plataier mit einer entsprechenden Kennzeichnung innerhalb der Phylenordnung aufgelistet. Immerhin waren laut der Schilderung in Lys. 23 auch die Demen bzw. Phylen in den bürokratischen und rechtlichen Fragen für die eingebürgerten Plataier zuständig. Ohne entsprechende Parallelen muss dies allerdings eine rein hypothetische Überlegung bleiben. Clairmont 1983, 191f. Nr. 54 vertritt die Ansicht, dass ein Monument, das alle Gefallenen der Sizilienexpedition namentlich aufgezählt hätte, nicht vorstellbar sei, weil es viel zu groß gewesen wäre. Stattdessen glaubt er, Pausanias’ Bemerkungen zu dem Monument müssten so verstanden werden, dass ein Epigramm sich summarisch auf die athenischen und plataiischen Gefallenen bezogen habe und
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In jedem Fall waren die Plataier deutlich als solche gekennzeichnet und wurden nicht einfach in die Reihen der Athener eingeordnet. Dies deckt sich mit den Beobachtungen Michael J. Osbornes, der die Ansicht vertritt, die Plataier seien nicht schlichtweg in der athenischen Bürgerschaft aufgegangen, sondern hätten vielmehr als ‚Enklave‘ innerhalb der Bürgerschaft weiterexistiert.383 Dies folgert er daraus, dass die Plataier in Thukydides’ Bericht über die Eroberung Megaras noch als separate Einheit und nicht als Teil des athenischen Heeres aufgezählt werden.384 Auch wurde den Plataiern 421 v.Chr. von den Athenern Skione als neuer Siedlungsort zugewiesen, nachdem dieses von den Athenern entvölkert worden war. Zwar wurde das Angebot wohl nur von einem Teil der Plataier angenommen, während der Rest in Athen verblieb.385 In der Tat bestätigen aber gerade diese Zuweisung einer neuen polis wie eben auch die Bestimmungen des Einbürgerungsdekretes,386 dass die eingebürgerten Plataier weiterhin deutlich als separate Gruppe wahrgenommen und behandelt wurden. So erklärt sich schließlich auch, dass die gefallenen Plataier der Sizilienexpedition zusammen mit den Athener Bürgern, aber dennoch deutlich abgesetzt aufgelistet worden sein sollen. Immerhin aber wurden sie derart nicht nur Zeugen, sondern auch Teilhaber am attischen patrios nomos in all seinen Facetten. Interessant wäre nun freilich die Frage, ob sich diese Erfahrungen der plataiischen Exilanten in Athen auf ihren Umgang mit den eigenen Kriegstoten auswirkten. Bedauerlicherweise lassen uns diesbezüglich zumindest für das 4. Jh. v.Chr. die Quellen im Stich, was sich aber freilich mit Blick auf das Schicksal Plataiais in dieser Zeit leicht erklären lässt. Schließlich wurde die polis, die nach dem Königsfrieden von 386 v.Chr. neugegründet worden war, bereits 374/3 v.Chr. von den Thebanern erneut zerstört und erst von Philipp von Makedonien nochmals wiederaufgebaut. Selbst wenn daher die Plataier nach ihrer Rückkehr aus dem athenischen Exil Formen des staatlichen Gefallenengedenkens praktizierten, ist davon auszugehen, dass viele der Belege von den Zerstörungen betroffen waren.387
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dass einzig die Strategen (und vielleicht einige weitere Funktionsträger?) namentlich genannt worden seien. S.o. 1. II Die Gefallenenlisten. Siehe Osborne 1982, 15. Ähnlich auch Prandi 1988, 15f. Vgl. Thuk. 4.67. Siehe Thuk. 5.32; Diod. Sic. 12.76.3; Isok. 4.109 und weiter Osborne 1982, 15; Prandi 1988, 118. Dass zumindest ein Teil der Plataier in Athen blieb, legen andere Quellen nahe. So etwa Lys. or. 23, passim und auch Demosth. or. 59. Ebenjene Plataier, die in Athen verblieben, waren es wohl auch, die mit den Athenern nach Sizilien zogen. Demosthenes und Lysias könnten sich in ihren Reden allerdings auch auf Plataier beziehen, die nach Skione umgesiedelt waren, nach Ende des Krieges den Ort aber wieder hatten verlassen mussten und nach Athen zurückgekehrt waren. So etwa die Einschränkungen in der Besetzung von Priesterämtern und dem Archontat. Vgl. Osborne 1982, 14f. und Prandi 1988, 115f. Hinzu kommt, dass, bedingt durch den relativ schlechten Stand der archäologischen Erforschung der polis, von dieser Seite kaum Informationen verfügbar sind. So sind etwa weiterhin die Nekropolen der
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Vor diesem Hintergrund gewinnt das letzte verbleibende Zeugnis für das Gefallenengedenken in Plataiai besondere Bedeutung, gewährt es doch einen kleinen aber wichtigen Einblick in den weiteren Umgang mit den plataiischen Gefallenen. Das Monument fand bisher fast keine Beachtung in der Forschung, da es zwar bereits 1924 östlich der antiken Stadt gefunden worden war, aber erst kürzlich von Yannis Kalliontzis erstmals publiziert wurde.388 Es handelt sich um eine simple Giebelstele aus lokalem Marmor minderer Qualität, die am unteren Ende gebrochen ist und eine verbliebene Höhe von 0,73m und eine Breite von 0,54m erreicht. Die Vorderseite ist abgerieben, jedoch lassen sich die tief eingeschriebenen Buchstaben zumindest auf der linken Seite noch gut erkennen. Unter der größer gehaltenen Überschrift ἐν Ὀλύνθωι schließen zwei Spalten an, in denen die Reste von 22 Namen ohne Patronym erhalten sind. Die Rückseite der Stele ist nur sehr grob behauen, sodass wohl gefolgert werden kann, dass sie frei aber möglicherweise vor einer Wand stand. Die Überschrift in Kombination mit der Namensliste und der Form des Monumentes legen nahe, dass es sich um eine Gefallenenliste handelt. Nun gestaltet sich aber die Datierung des Monuments problematisch, führen doch der Inhalt und der paläographische Charakter der Inschrift in unterschiedliche Richtungen. Wie Kalliontzis richtig bemerkt, wurde Olynth im Jahr 348 v.Chr. durch Philipp II. zerstört und erst später durch Kassander unter dem Namen Kassandreia neugegründet. Demnach müsste wohl davon ausgegangen werden, dass hier Gefallene einer Schlacht vor dem Zeitpunkt der Zerstörung kommemoriert wurden.389 Nur zwei bekannte Konflikte kämen damit in Frage: Entweder waren die Gefallenen 382/1 v.Chr. zusammen mit den Spartanern gegen Olynth gezogen oder aber sie hatten 348 v.Chr. zusammen mit den Athenern versucht, Olynth gegen Philipp II. zu verteidigen. Die Quellen berichten davon, dass die Spartaner 382/1 v.Chr. von Thebanern begleitet wurden und es ist nicht auszuschließen, dass sich auch andere Boioter und eben auch einige Plataier der Expedition anschlossen.390 Im Falle der athenischen Hilfskontingente für die Verteidigung Olynths 348 v.Chr. finden sich nun keinerlei Hinweise auf eine Beteiligung von Boiotern oder Plataiern. In Anbetracht der Tatsache aber, dass die Plataier nach der erneuten Zerstörung ihrer polis im Jahre 374/3 v.Chr. wieder Aufnahme in Athen fanden, entbehrt Kalliontzis’ These, dass sie die Athener, wie schon bei
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antiken Stadt nicht erforscht bzw. nicht einmal fest lokalisiert. Siehe hierzu die jüngste umfasasende Publikation von Konecny/Aravantinos/Marchese 2013. Siehe Kalliontzis 2014, passim. Der Fund wird knapp erwähnt in BCH 49 (1925), 456 sowie Pritchett 1985, 141; 216 (hier allerdings ohne Autopsie und nur auf Grundlage der Notiz in BCH). Vgl. Kalliontzis 2014, 333f.; 339–341 und Pritchett 1985, 216 Nr. 77. Pritchett 1985, 216 Nr. 77 vertritt diese These. Xen. Hell. 5.2.37 erwähnt die Thebaner und zudem andere Griechen, die den Spartanern bereitwillig gefolgt seien. Ebd. 41 spricht er von ‚Boiotern‘, jedoch ist nicht klar, ob er hiermit nicht lediglich die Thebaner meint.
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der Sizilienexpedition, militärisch unterstützten bzw. vielleicht auch unterstützen mussten, nicht einer gewissen Attraktivität.391 Kompliziert wird die Interpretation des Befundes nun, wenn man sich der paläographischen Datierung der Inschrift zuwendet. Kalliontzis meint nämlich, aufgrund des Schriftbildes müsse diese ins 1. Jh. v.Chr. und dabei wohl eher in dessen zweite Hälfte datiert werden. Allerdings gibt er zu bedenken, dass eine Datierung aufgrund des Erhaltungszustandes und der schlechten Qualität des Materials wie auch der handwerklichen Arbeit nur schwer möglich sei. Immerhin handele es sich bei der Stele um „a humble product rather than a luxury good“.392 Selbst wenn aber eine präzise Datierung nicht möglich sei, ließe sich doch in jedem Fall ausschließen, dass die Inschrift im 4. Jh. v.Chr. entstanden sei. Welche Erklärungen lassen sich nun für diese Diskrepanzen in der Datierung geben? Kalliontzis schlägt diesbezüglich vor, das Monument als Teil eines Trends der frühen Kaiserzeit zu sehen, in dem die Erinnerung an die ‚heroische‘ Vergangenheit in den griechischen poleis stark an Bedeutung gewann.393 Insbesondere die Erinnerung an die Schlacht von Plataiai spielte hierbei freilich eine wichtige Rolle und brachte damit auch der polis von Plataiai wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Möglicherweise hätten die Plataier in diesem Kontext versucht, durch die Einrichtung von Monumenten für andere historische Schlachten an ihre eigene Geschichte und Tradition zu erinnern und sich so ihrer Gruppenidentität zu versichern.394 So hätten die Plataier also die Toten von 348 v.Chr. ausgewählt, weil sie, wie schon die Plataiomachai von 479 v.Chr. im Kampf für die griechische Freiheit gestorben seien und weil sich zudem praktischerweise bereits ein Monument in Athen fand, von dem sie die Namen der Toten kopieren konnten.395 Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dass es sich bei dem kommemorierten Ereignis eben doch erst um einen späteren Konflikt handelte. Zwar stimmt es, dass Olynth 348 v.Chr. zerstört und unter anderem Namen wiedergegründet wurde. Jedoch weist Pernille Flensted-Jensen darauf hin, dass das alte Ethnikon auch nach der Zerstörung Olynths durchaus noch verwendet wurde.396 Dem-
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Kalliontzis 2014, 339–341 hält es für wahrscheinlich, dass die Gefallenen dem Jahr 348 v.Chr. zuzuordnen sind, weil dieses (1.) das bedeutsamere Ereignis darstelle und sich (2.) so erklären lasse, wie sich die Namen der Gefallenen erhalten konnten, um später in Plataiai eingeschrieben zu werden. Die gefallenen Plataier seien nämlich ähnlich wie die Toten der Sizilienexpedition zusammen mit den Athenern im demosion sema bestattet worden. Bei der Errichtung der Stele in Plataiai hätten die Steinmetze dann nur auf die Liste aus Athen zurückgreifen müssen. Vgl. hierzu weiter unten. Kalliontzis 2014, 336. Zu dieser ‚Renaissance‘ siehe Spawforth 1994, aber auch oben Anm. 23 sowie unten Anm. 1040. Vgl. Kalliontzis 2014, 343–345. Derart explizit und konzise drückt Kalliontzis dies zwar nicht aus, jedoch scheint diese Interpretation impliziert. Siehe Flensted-Jensen 2004, 834.
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nach wäre eine Datierung des Anlasses auch nach 348 v.Chr. keineswegs ausgeschlossen und so könnte es sich um Gefallene einer späteren, uns nicht überlieferten Schlacht gehandelt haben. Wiederum ist es aufgrund der schlechten Quellenlage unmöglich, eine Entscheidung zu treffen. Um welches Ereignis genau es sich dabei handelte, lässt sich ebensowenig klären wie die Frage nach dem genauen Charakter des Monuments. Existierte etwa in Plataiai bereits ein älteres Monument, das erneuert und durch die vorliegende Stele ersetzt wurde, oder stellt die Stele überhaupt das erste Monument dar, das in Plataiai für die Gefallenen dieser Schlacht errichtet wurde? Festgehalten werden kann wohl lediglich, dass in Plataiai auch zu einem späteren Zeitpunkt das Gedenken an die Gefallenen der polis auch abseits der Kommemoration der Toten der Perserkriege noch eine gewisse Bedeutung hatte und dass für die Kommemoration weiterhin etablierte Formen, nämlich die Listenform, herangezogen wurden. Letzterer Aspekt würde sich freilich leicht erklären lassen, wenn es sich tatsächlich um die Aktualisierung eines Gefallenenmonumentes gehandelt haben sollte. Will man den vorgestellten Zeugnissen nun einige Gemeinsamkeiten entnehmen, muss klar sein, dass dies bei einer so geringen Zahl von Fallbeispielen, die zudem in ihrer Art stark verschieden sind und sich aufgrund der Überlieferung noch zusätzlich heterogen präsentieren, nur schwerlich möglich ist. Dennoch ist gerade vor dem Hintergrund der engen Verwobenheit der plataiischen mit der athenischen Geschichte auffällig, dass drei von vier, wenn nicht gar alle Zeugnisse von plataiischer Gefallenenkommemoration eine mehr oder weniger direkte Verbindung zu Athen aufweisen. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Beteiligung der Plataier an den beiden zentralen Landschlachten der Perserkriege sowie deren Kommemoration. Die besondere Bedeutung, welche die Erinnerung insbesondere an die Schlacht des Jahres 479 v.Chr. bereits im Laufe des 5. Jh. annahm, bedingte eine besondere Verknüpfung des Gedenkens an die Schlacht und ihre Gefallenen mit der polis von Plataiai. Es darf daher wohl guten Gewissens gemutmaßt werden, dass dieser enorm wichtige Präzedenzfall sich auch auf die Kommemoration anderer Gefallener der polis auswirkte. So ließe sich als These festhalten, dass der Einfluss Athens und das Gedenken an die Perserkriegsgefallenen, gerade auch in ihrer gegenseitigen Bedingung und Beeinflussung, wohl die beiden wichtigsten Faktoren für die Prägung des plataiischen Gefallenengedenken darstellten. Ein weiteres wichtiges Element, welches eng mit den beiden genannten Komplexen verbunden ist, stellte wohl die Feindschaft zu Theben dar, die sich, wie auf der anderen Seite die Verbundenheit mit Athen, besonders gut im Gedenken an die Schlacht von Plataiai in Erinnerung rufen ließ. Diesbezüglich wird es auch interessant sein, zu sehen, wie die Thebaner mit ihren Gefallenen umgingen und wie sie sich zum exemplum der Plataiaigefallenen positionierten.
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Tanagra Nur ein einziges Zeugnis kollektiven Gefallenengedenkens findet sich für die ostboiotische polis Tanagra. Es handelt sich um eine Inschriftenstele aus lokalem, dunklen Stein, die 0,85m hoch, 0,8m breit und 0,35m dick ist.397 Der Stein ist an der linken oberen Ecke gebrochen, sodass ein kleiner Teil der Inschrift fehlt. Ansonsten ist er aber unbeschädigt. Auf der Oberseite findet sich eine Vertiefung, die entweder für das Anstücken eines Reliefs oder eines anderen Krönungssteins diente oder aber vielleicht Trankspenden aufnehmen sollte.398 Auf der Stele finden sich die Namen von 63 Männern, die säuberlich im lokalen Alphabet eingeschrieben wurden. Sie sind verteilt auf vier Spalten, die jeweils durch zwei senkrechte Linien voneinander getrennt werden. Die Männer werden, wie dies für Tanagra in klassischer Zeit üblich war, lediglich mit ihrem Namen ohne das Patronym oder eine weitere Kennzeichnung aufgeführt.399 Die einzigen Ausnahmen finden sich am Ende der ersten Spalte, wo den letzten beiden Namen ein Worttrenner und die Beischrift „Ἐρετριεύς“ beigegeben sind. Christoph Clairmont meint, in diesen beiden Namen sowie auch dem letzten Namen in der vierten Spalte eine andere Hand zu erkennen, jedoch lässt sich diese Aussage ohne Autopsie des Steins nicht nachvollziehen.400 In der Tat fällt allerdings auf, dass sich ohne diese drei vermeintlichen Zusätze eine gleichmäßige Verteilung von 15 Namen pro Spalte ergäbe. Es schließt sich die Frage nach der Gattung der Inschrift an, die keine Überschrift trägt und deren originaler Aufstellungskontext nicht bekannt ist. Aufgrund des Listenformats wurde bereits von den ersten Editoren vorgeschlagen, dass es sich um eine Gefallenenliste handele. Während allerdings der Großteil der späteren Bearbeiter dieser Interpretation folgte, sprach sich Duane Roller vehement hiergegen aus.401 Er führte gegen diese Deutung an, dass sich aus dem Stück selbst nicht schließen lasse, dass es sich um eine Gefallenenliste handele und dass zudem nicht einmal die Zugehörigkeit zur polis von Tanagra gesichert sei. Eine onomastisch-prosopographische Analyse zeige, dass weniger als die Hälfte der Namen aus der Liste von anderen Dokumenten aus Tanagra bekannt sei. Zudem sei unvorstellbar, dass die Tanagrer zwei Eretrier,
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IG VII 585; LSAG2 95 Nr. 16b; Venencie 1960, 611–615 und Taf. 11; Clairmont 1983, 230f. Nr. 48b; Pritchett 1985, 192–194; Roller 1989, 81f. Nr. 72; Low 2003, 103f. Letzterer Vorschlag stammt bereits von Roberts 1887, 224. Siehe weiter Schilardi 1977,74; Low 2003, 104. Vgl. Fraser/Rönne 1957, 92f.; Low 2003, 103. Siehe Clairmont 1983, 230f. Nr. 48b. Soweit mir bekannt ist, besteht die einzige veröffentlichte Abbildung des Steins in einem Foto der Abklatsche bei Venencie 1960, Taf. 11. Dieses lässt jedoch keine Beurteilung zu. Keiner der anderen Bearbeiter erwähnt eine zweite Hand. Siehe zum Folgenden Roller 1989, 81f. Nr. 72 sowie 2007, passim.
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die er als „hereditary enemies of Tanagra“ bezeichnet, derart geehrt hätten. Seine Zweifel sind durchaus berechtigt, sodass hier kurz darauf eingegangen werden soll. Zunächst ist zwar korrekt, dass der ursprüngliche Fundort der Stele nicht bekannt ist, sondern dass diese erstmals im Depot in Schimatari erfasst wurde, wohin sie wohl verbracht wurde, um sie vor Raubgräbern zu schützen. Fakt ist jedoch, dass die meisten der nach Schimatari verbrachten Stücke aus den Nekropolen Tanagras stammten,402 sodass durchaus wahrscheinlich ist, dass auch die Stele ursprünglich dort gefunden wurde. Entstammt sie aber einem sepulkralen Kontext, ist mit Blick auf die Listenform wie auch auf die Anzahl der genannten Männer stark davon auszugehen, dass die Inschrift in der Tat einem Gefallenengrab zugehörig war. Hinsichtlich der onomastisch-prosopographischen Untersuchung muss Roller selbst eingestehen, dass sein Argument nur bedingt belastbar ist. Wie er selbst anmerkt, stammt der Großteil der inschriftlichen Quellen, welche die Basis seiner prosopographischen Arbeit darstellen, aus hellenistischer oder gar späterer Zeit. Daher muss fraglich bleiben, wie repräsentativ seine Auswertung für die aus klassischer Zeit stammende Liste ist. Zudem darf wohl auch zumindest in Zweifel gezogen werden, ob eine solche Auswertung gerade bei einer kleineren polis, die zudem in ein derart eng gewobenes regionales Netz eingebunden war, überhaupt sinnvoll ist. Schließlich ist seine Bemerkung bezüglich der beiden Eretrier und der angeblichen Erbfeindschaft zwischen Tanagra und Eretria abzulehnen. Zwar finden sich in der Tat Quellen, die auf frühere Kriege zwischen Tanagra und euboiischen Einwanderern hinweisen, jedoch kann anhand dieser Grundlage keine ‚Erbfeindschaft‘ konstatiert werden. Im Gegenteil deuten einige bei Thukydides und Diodor überlieferte Anekdoten darauf hin, dass zumindest in der zweiten Hälfte des Peloponnesischen Krieges gute Beziehungen zwischen Boiotern und Euoboiern bestanden.403 Die Einwände Rol402
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Siehe die zeitgenössischen Berichte von Robert 1875, 148f. und Lolling (in Stroszeck 2007, 162), die eindrücklich von den verzweifelten Maßnahmen gegen die Raubgrabungen in den Nekropolen berichten. Vgl. weiter Higgins 1986, 29–31 und Harami 2007. Die Raubgrabungen richteten sich vor allem gegen die Nekropolen der antiken Stadt, weil die Plünderer hofften, hier die berühmten und damals teuer gehandelten ‚Tanagra-Figuren‘ aus Terrakotta zu finden, die eben häufig als Grabbeigaben dargebracht worden waren. Auch die Gegenmaßnahmen der archäologischen Dienste konzentrierten sich daher auf die Nekropolen entlang der antiken Hauptausfallstraßen. Laut Fraser/Rönne 1957, 3 sei es „beyond doubt“, dass die Steine in Schimatari aus Tanagra und seiner näheren Umgebung und damit vor allem aus den Nekropolen stammten. Auch die Verwendung des schwarzen, lokalen Kalksteins ist vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, für Monumente aus Tanagra charakteristisch. Siehe ebd., 35. Vgl. Diod. Sic. 13.47.3–5. Konkret bezieht sich Diodor auf die Zeit nach der gescheiterten Sizilienexpedition der Athener. Auch die Berichte über den Abfall Eretrias von Athen bei Thuk. 8.60 und 95 beziehen sich auf die Zeit nach dem athenischen Desaster, scheinen aber durchaus zu implizieren, dass bereits länger schon Unzufriedenheit mit der athenischen Hegemonie herrschte. Demnach ist nicht auszuschließen, dass schon zuvor Kontakte zwischen Boiotern und Euboiern geknüpft worden waren. Möglicherweise ist die Teilhabe der Eretrier auch über private Freundschaften zu erklären. Low 2003, 104 etwa hält es durchaus für wahrscheinlich, dass es sich um „disaffected exiles“ gehandelt haben möge, die nach Boiotien geflüchtet seien. Schachter 2003, 60 merkt diesbezüglich an, dass die
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lers können also einer näheren Prüfung nicht standhalten, womit die Interpretation als Gefallenenliste weiterhin plausibel und sogar durchaus wahrscheinlich ist. Folgerichtig besteht der nächste Schritt der Untersuchung darin, eine Datierung der Stele und wenn möglich die Zuordnung zu einem konkreten Ereignis vorzunehmen. Auch hier mangelt es nicht an Vorschlägen der bisherigen Bearbeiter. Wie bereits vermerkt wurde, ist die Inschrift im lokalen Alphabet gehalten und muss damit vor den Wechsel zum ionischen Alphabet datiert werden, der in den 370er Jahren v.Chr. zu veranschlagen ist.404 Eine – im klassischen Boiotien zugegebenermaßen schwierige und zwangsläufig nur grobe – Datierung anhand paläographischer Kriterien führt in die zweite Hälfte des 5. Jh. v.Chr.405 Aus diesem Zeitraum sind nur zwei militärische Auseinandersetzungen bekannt, für die eine Beteiligung tanagrischer Krieger gesichert ist: Zum einen berichtet Thukydides für das Jahr 426 v.Chr. von einem durch Nikias angeführten Überfall der Athener auf tanagrisches Gebiet, in dessen Verlauf es auch zu einem Gefecht zwischen Athenern und Boiotern kam.406 Zum anderen ist die Teilnahme der Tanagrer an der auf ihrem Boden geschlagenen Schlacht vom Delion 424 v.Chr. bezeugt.407 Dabei ist eine Zuordnung zu letzterer Schlacht wahrscheinlicher, waren die Tanagrer hier laut Thukydides doch direkt neben den Thespiern stationiert, die beim Ansturm der Athener massive Verluste erlitten.408 Hingegen scheint es sich bei dem Gefecht von 426 v.Chr. um kaum mehr als ein kurzes Geplänkel gehandelt zu haben, hätte sich Nikias im Zuge eines schnellen Raubzuges doch auch wohl kaum in eine größere Auseinandersetzung verwickeln lassen. Die relativ hohe Zahl von 60 bzw. 63 Gefallenen würde demnach deutlich besser zur Schlacht vom Delion passen.409 Auch mag es für die Tanagrer naheliegender gewesen sein, die Toten einer derart prominenten und zudem siegreichen Schlacht, die überdies noch auf dem eigenen Territorium geschlagen worden
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Präsenz der beiden Eretrier möglicherweise durch „family connections at upper levels of society“ zu erklären sei. Vgl. Vottéro 1996, insb. 159f.; 1986; Roesch in IThesp. I, ii; Larson 2007, 113; Fraser/Rönne 1957, 94f. Die Datierung stammt bereits von Kirchhoff 1887, 140f. und wird aufgegriffen in IG sowie von Venencie 1960, 612 und Jeffery 1990, 94. In vielen Publikationen verschwimmen die Relationen zwischen paläographischer und historischer Datierung, die sich damit in einem Zirkelschluss gegenseitig bestätigen. Auch hier wird wieder deutlich, wie dringend eine neue Bearbeitung der Inschriften von Boiotien nötig ist. Siehe Thuk. 3.91. Vgl. Thuk. 4.93. Siehe Thuk.4.96 und Pritchett 1985, 193f. Erstmals argumentierte Keramopoulos, in: ArchEph (1920), 19–23 für die Zuordnung zur Schlacht von 424 v.Chr. Diese Position wurde durch Venencie 1960, 612–614 aufgegriffen und weiter gestärkt. Auch Clairmont 1983, 230f. Nr. 48b und Pritchett 1985, 192–194 sprechen sich für diese Zuordnung aus.
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war, aufwendig zu kommemorieren, als die Gefallenen eines kleinen Scharmützels. Letztlich ist aber die Zuordnung zur Schlacht von 424 v.Chr. nicht zu beweisen und so wäre auch gut möglich, dass die Stele einem anderen, möglicherweise nicht überlieferten Gefecht zuzuordnen ist. Immerhin mangelte es der Region im späten 5. und frühen 4. Jh. v.Chr. nicht an militärischen Auseinandersetzungen. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels angemerkt wurde, handelt es sich bei der Gefallenenliste um das einzige Zeugnis für staatliches Gefallenengedenken aus Tanagra. Dieser Fakt wiegt umso schwerer, wenn man berücksichtigt, dass die Nekropolen Tanagras weitaus stärker ergraben sind, als jene seiner Nachbarstädte.410 Zwar wartet ein signifikanter Teil der einst nach Schimatari verbrachten Grabsteine noch immer auf ihre Bearbeitung und Publikation,411 sodass hier keine endgültigen Schlüsse gezogen werden können. Jedoch bleibt die Tatsache bestehen, dass bei einem verhältnismäßig großen Fundus von Inschriften bisher nur ein einziges Monument gefunden wurde, das mit kollektiver Gefallenenkommemoration in Verbindung gebracht werden kann. Demnach wäre denkbar, dass es sich bei der Gefallenenliste um eine Ausnahme handelte, und dass gefallene Mitglieder der polis üblicherweise privat durch ihre Hinterbliebenen kommemoriert wurden. Einen Hinweis hierauf bieten möglicherweise die sogenannten ‚Schwarzen Stelen‘; eine Reihe von Stelen, die in einer ungewöhnlichen Ritztechnik stets auf lokalem schwarzen Kalkstein und jeweils in ähnlicher Pose und Ikonographie einen attackierenden Krieger darstellen und im späten 5. und frühen 4. Jh. v.Chr. einzig in Theben und Tanagra auftauchten. Die Stelen werden nicht allein aufgrund ihres Themas häufig mit Gefallenen in Verbindung gebracht. Auch einige Übereinstimmungen in den Namen, die auf den Schwarzen Stelen und der Gefallenenliste genannt wurden, haben wiederholt dazu geführt, dass hier dieselben Personen angenommen wurden.412 Dieser Identifikation wird zwar mittlerweile durch die Analyse und
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Vgl. Anm. 402. Insbesondere Higgins 1986, 41 beklagt diesen Umstand, an dem sich bis heute wenig geändert hat. Siehe auch die allgemeinen Bemerkungen von Kalliontzis 2014, 332f. zur Arbeit mit den Inschriften Boiotiens. Konkret handelt es sich um drei Schwarze Stelen, (1.) des Saugenes (Schild-Xenidou 2008, 289f. Nr. 56), ein Name, der auch auf IG VII.585 in Spalte 4, Zeile 4 auftaucht, (2.) des Koiranos (IG VII.639; Schild-Xenidou 2008, 291f. Nr. 58) mit IG VII.585 Spalte 4, Zeile 1, sowie (3.) des Nikias (Schild-Xenidou 2008 294f. Nr. 63) mit IG VII.585 Spalte 1, Zeile 15. Gerade der Name Nikias ist allerdings so geläufig, dass diese Parallele nicht belastbar ist (vgl. LGPN III B, 303 s.v. Νικίας). In der Literatur wurde v.a. auf den Namen des Saugenes verwiesen, der sich (zumindest gemäß LGPN) weder in Boiotien, noch in anderen Regionen findet. Vgl. u.a. Clairmont 1983, 231; Pritchett 1985, 193. Bedauerlicherweise existiert keine eigene umfassende Abhandlung zu den Schwarzen Stelen. Siehe aber u.a. Schild-Xenidou 2008, 288–295 Nr. 55–63; Schachter 2007, 135–139; Daumas 2001, 125–128.
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die stilistischen Datierungen der Reliefs durch Valia Schild-Xenidou widersprochen.413 Jedoch sind die Schwarzen Stelen immerhin als Belege einer klar ausgeprägten, rein lokalen Tradition zu sehen, die völlig unabhängig von ihren boiotischen oder athenischen Nachbarn existierte.414 Insofern mag es durchaus auch von Bedeutung sein, dass für die Herstellung der vorliegenden Stele ein lokal anstehender Stein verwendet wurde, der fast ausschließlich für tanagrische Monumente Verwendung fand. Freilich lag es schon alleine aus Kostengründen nahe, einen lokalen Stein zu verwenden. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass hiermit auch eine bewusste Aussage getroffen werden sollte, zeigen Beispiele aus anderen Poleis doch, dass für Gefallenenmonumente durchaus auch Marmor importiert wurde.415 So stellt also die Gefallenenliste auf der einen Seite eine Besonderheit im Tanagra des 5. Jh. v.Chr. dar, das ansonsten keine kollektive Gefallenenkommemoration zu kennen schien. Auf der anderen Seite aber bleiben Schrift und Material des Monuments den lokalen Traditionen verbunden. Diese Beobachtungen lassen den Vorschlag, die Liste der Schlacht beim Delion zuzuordnen, nur umso verlockender erscheinen, hätte sich hier doch ein bedeutender Anlass geboten, der außergewöhnliche Erinnerungsformen bedingt haben könnte und der zudem so stark lokal verortet war, dass es durchaus auch passend gewesen wäre, der Erinnerung hieran besondere lokale Züge zu verleihen. Bedauerlicherweise muss aber der historische Kontext ungeklärt bleiben, sodass weitere Diskussionen nicht zielführend sind und wir stattdessen zur nächsten polis weitergehen wollen.
Theben Der früheste Beleg für kollektives Gefallenengedenken in Theben ist ein komplexer Befund, der eine ganze Reihe von interessanten Fragen aufwirft. Wiederum handelt es sich um ein Monument, das erst kürzlich entdeckt wurde: Die Inschriftenstele wurde 2001 bei Grabungen in der nordöstlichen Nekropole Thebens gefunden, wo sie zusammen mit einer Reihe anderer Grabstelen zur Konstruktion eines späteren Grabbaus wiederverwendet worden war.416 Die 0,73m
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Siehe die vorhergehende Fußnote. Es sollte betont werden, dass auch die Datierungen Schild-Xenidous nur eine grobe relative Chronologie bieten und somit kein unumstößliches Argument gegen die Identifikation darstellen. Einzig in Theben wurden auch einige Stelen dieser Art gefunden. Diese wurden aber derselben tanagrischen Werkstatt zugeordnet. So beispielsweise für die thespische Gefallenenliste des frühen 4. Jh. v.Chr. S.u. 2. I. Thespiai mit Anm. 632. Über den Fund berichtet V. Aravantinos in ArchDelt 56–59 (2001–2004) [2011], 142. Die editio princeps findet sich bei Papazarkadas 2014, 223–233 inkl. zweier schwarz/weiß Fotographien. Siehe
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hohe und 0,52m breite Stele ist aus lokalem gelblichen Poros gehauen und ihre Oberfläche ist insbesondere auf der linken Seite stark erodiert. Dennoch lässt sich zumindest die rechte Seite der eingemeißelten Inschrift noch entziffern, sodass deutlich wird, dass es sich um zwei jeweils vierzeilige Epigramme handelt. Eine Besonderheit besteht nun darin, dass es sich um dasselbe Epigramm handelt, das einmal im boiotischen und einmal im ionischen Alphabet eingeschrieben wurde. Wie ich im Folgenden noch darlegen werde, wurden die beiden Versionen mit beachtlichem zeitlichen Abstand zueinander eingeschrieben. Der Text stellt sich wie folgt dar: [ ---
]ΕΡΕΤΟΝ[..]Τ[.]
[–∪∪|–∪∪| – | ἐν? π]ολέμυ [θ]ανέμεν [–∪∪|–∪∪|–∪∪| – ] πατρίδος πέρι Θέβας [–∪∪| – ]εντο ἆθλα κράτιστ᾽ ἀρετᾶς [ ---
]ΛΥ[..]ͰΡΕΤΟΝ[.]ΥΤΟ
[–∪∪|–∪∪| – | ἐν π]ολέμοι θανέμεν [–∪∪|–∪∪|–∪∪| –] πατρίδος πέρι Θείβα[ς] [.]ΝΑ[ --- ]εντο ἆθλα κράτιστ᾽ ἀρετᾶς417
Aus den erhaltenen Resten der jeweils zweiten und dritten Zeile der Epigramme lässt sich eindeutig schließen, dass das Monument zum Gedenken an Thebaner gestiftet wurde, die in einer Schlacht gefallen waren. Form und Fundort der Stele bekräftigen die Identifikation als Grabmonument.418 Weitere Informationen, etwa hinsichtlich des konkreten historischen Kontextes, lassen sich der Inschrift bedauerlicherweise nicht entnehmen. N. Papazarkadas interpretiert allerdings die in Zeile vier genannten „ἆθλα ἀρετᾶς“ als Hinweis auf einen epitaphios agon, ähnlich jenem, der in Athen anlässlich der Bestattung der Kriegsgefallenen abgehalten wurde. Er verweist dabei insbesondere auf ein Bronzegefäß aus Theben, das in das erste Viertel des 5. Jh. v.Chr. datiert wird, die Aufschrift „τõν Θέβαις αἴθλον“ trägt und stark jenen Gefäßen ähnele, die in Athen an die Sieger der Grabagone vergeben wurden.419 Mag diese Ähnlichkeit zunächst tatsächlich auffällig erscheinen, bleiben die Hinweise auf einen epitaphios agon in Theben aber letztlich doch zu ungenau, um hier Hypothesen irgendeiner Art wagen zu können. So könnte das erwähnte Bronzegefäß ebenfalls einem anderen lokalen Wettbewerb zuzuordnen sein und
417 418
419
außerdem SEG 59.502 sowie Knoepfler, in: BE (2012), Nr. 201. Nach Papazarkadas 2014, 224. Papazarkadas 2014, 224; 226 merkt an, dass der Stelentypus charakteristisch für Grabstelen aus Tanagra aber durchaus auch aus Theben sei und verweist diesbezüglich u.a. auf Fossey 1991, 200–202. Vgl. Papazarkadas 2014, 228–230 mit den Verweisen auf die Gefäße.
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auch der Begriff ἆθλον/ἆθλα musste nicht immer (Sieges-)Preise im engen Sinne bezeichnen, sondern konnte auch abstrakter verwendet werden. Perikles verwendet ihn beispielsweise im thukydideischen epitaphios logos, um die Verrichtungen der polis für die Kriegstoten zu bezeichnen.420 Die Existenz eines Grabagons muss daher fraglich bleiben. So wenig die Stele über den konkreten Anlass ihrer Errichtung und den weiteren Kontext verrät, so wenig Hinweise bietet sie auch bezüglich der Form des Grabes, das sie markierte. Die Publikationen erwähnen keine Merkmale, die auf eine architektonische Einbettung des Steins hinweisen würden (Anathyrose, Klammerspuren o.ä.) und so muss gefolgert werden, dass sie nicht im Verbund stand. Dennoch ist freilich nicht auszuschließen, dass sie von anderen einzelnen Stelen flankiert wurde,421 die weitere Informationen zu den Gefallenen boten, deren Namen nannten oder vielleicht gar ein Relief trugen. Hierüber kann aber ebenso wie über die Form des Grabes – handelte es sich um einen Grabbezirk, einen Grabhügel oder ein Grab anderer Form? – nur spekuliert werden. Eben weil sich aus Inhalt und Form des Monumentes so wenig konkrete Informationen gewinnen lassen, muss auch seine Datierung grob bleiben, da diese lediglich anhand paläographischer Kriterien erschlossen werden kann. Laut Papazarkadas sei demnach das erste, in boiotischer Schrift gehaltene Epigramm auf das Ende des 6. oder den Anfang des 5. Jh. v.Chr. zu datieren. Dabei lasse sich aber aufgrund der wenigen Vergleichsobjekte nicht ausschließen, dass die Inschrift später datiere, und so will der Editor etwa auch die Schlacht von Tanagra aus dem Jahr 458/7 v.Chr. nicht als möglichen Anlass ausschließen.422 Das zweite Epigramm sei kaum weniger schwierig zu datieren, jedoch lasse sich der Zeitraum aufgrund der größeren Zahl von Vergleichsbeispielen deutlich näher eingrenzen. So müsse es in zeitlicher Nähe des Wechsels vom boiotischen zum ionischen Alphabet, der sich wahrscheinlich in den 370er Jahren v.Chr. vollzog, eingeschrieben worden sein.423
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Papazarkadas selbst verweist auf die Stelle bei Thuk. 2.46.1. Auch die Verwendung als Bezeichnung von „Kriegsbeute“ war verbreitet. Siehe u.a. Demosth. or. 2.28; 4.5. Aus Athen etwas sind Stelen bekannt, die sich eine Basis teilten, ansonsten aber keine architektonische Verbindung zueinander hatten. Siehe Anm. 198. Vgl. Papazarkadas 2014, 230–232. Als wichtigsten Vergleich führt er ein Epigramm an, das wahrscheinlich die Auseinandersetzung zwischen Athenern und Boiotern im Jahre 506 v.Chr. kommemorierte. Siehe zu diesem Stück, bei dem es sich nicht um ein Gefallenenmonument handelte, SEG 59.497; Aravantinos, in: ArchDelt 56–59 (2001–2004) [2011], 155f.; Mackil 2013, 412–414. In seinem kurzen Bericht zum Fund des vorliegenden Stücks hatte Aravantinos, a.a.O., 142 dieses zwischen 470 und 430 v.Chr. datieren wollen. Allerdings geschah diese Datierung nur anhand einer oberflächlichen Analyse, sodass Papazarkadas’ Datierung, die ohnehin grob mit jener Aravantinos’ übereinstimmt, wohl der Vorzug zu geben ist. Vgl. Papazarkadas 2014, 230–232. Er bezieht sich auf deVottéro 1996, der die zentrale Arbeit zu dieser Frage liefert. Siehe auch oben Anm. 404.
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Damit aber bleibt gleich eine ganze Reihe überlieferter Ereignisse als möglicher Anlass der Errichtung des Monuments übrig. Neben der Auseinandersetzung mit Athen im Jahr 506 v.Chr. und der bereits erwähnten Schlacht von Tanagra kämen wohl auch die Schlacht von Oinophyta 457 v.Chr. in Frage oder gar eine Auseinandersetzung aus dem Zweiten Perserkrieg, die Papazarkadas bevorzugt. Gerade die Schlacht von Plataiai oder die hierauf folgende Belagerung Thebens kämen seiner Meinung nach in Frage, hätten die Thebaner hier doch tatsächlich – „πατρίδος πέρι Θέβας“ – um die Existenz ihrer Heimatstadt gekämpft. Gleichzeitig sei aber auch eine andere Schlacht wie etwa jene an den Thermopylen oder eben bei Tanagra nicht auszuschließen.424 Immerhin ließe sich ja auch im Falle letzterer Schlacht berechtigterweise davon sprechen, dass die Thebaner auf boiotischem – und damit im weiteren Sinne eigenem – Gebiet für ihre Heimat und deren Autonomie kämpften. Papazarkadas’ Präferenz einer Zuordnung zum Jahr 479 v.Chr. entspringt vermutlich der reizvollen Vorstellung, mit der vorliegenden Stele ein Monument gefunden zu haben, das nicht von den siegreichen Griechen, sondern von ihren ‚medisierenden‘ Gegnern geschaffen wurde. Man könnte es damit in gewissem Sinne als ein ‚Gegenmonument‘ zu den Gräbern in Plataiai und den Siegesdenkmälern in den panhellenischen Heiligtümern sehen. Wiederum aber müssen solche Überlegungen rein spekulativ bleiben, da die unsicheren Datierungen hier keine Zuordnung erlauben. Besonders interessant wäre die Frage nach dem ursprünglich kommemorierten Ereignis freilich auch mit Blick auf die Neueinschreibung des Epigramms, die es nun genauer zu betrachten gilt. Zunächst muss nach dem Grund für die Neueinschreibung gefragt werden. Eine Beschädigung scheint als Anlass ausgeschlossen zu sein, da die Stele zwar an der linken oberen Ecke zweimal gebrochen ist, die beiden Brüche jedoch wohl zueinander gehören und beide Epigramme betreffen.425 Diese Brüche scheinen also zu einem späteren Zeitpunkt entstanden zu sein. Auch ist die Vorderseite der Stele zwar auf der linken Seite stärker abgerieben als auf der rechten, jedoch lassen sich hier auf der vertikalen Achse keine signifikanten Unterschiede feststellen.426 Damit ist wohl auch auszuschließen, dass das obere, ältere Epigramm abgerieben oder bestoßen und damit nicht mehr lesbar war und deshalb nochmals eingeschrieben wurde. Zumindest eine Beschädigung der Inschrift selbst war also wohl nicht Anlass für ihre Neueinschreibung. Nun
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Siehe Papazarkadas 2014, 232. Diese und die folgenden Beobachtungen beruhen einzig auf den Fotos bei Papazarkadas 2014, 225f. Abb. 1f. und bedürfen einer Verifikation am Objekt, die mir leider nicht möglich war. Einzig der obere rechte Rand ist etwas stärker abgerieben, sodass die erste Zeile betroffen ist. Sollte es sich hierbei um eine ältere Beschädigung handeln, hätte diese aber durch einfaches Nachziehen der Buchstaben behoben werden können. Außerdem mag dieser Schaden erst später oder vielleicht auch durch die Wiederverwendung entstanden sein. Hier wäre eine genauere Kenntnis der Fundumstände unabdingbar. Bedauerlicherweise gehen weder Aravantinos noch Papazarkadas in ihren Publikationen aber hierauf ein.
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I. Boiotien
lässt sich nicht ausschließen, dass die Gesamtanlage des Grabes beschädigt worden war und die Wiederherstellung durch die Neueinschreibung des Epigramms markiert wurde. Aus der Stele selbst lassen sich allerdings keine Hinweise auf ein solches Szenario gewinnen.427 Somit muss davon ausgegangen werden, dass die zweite Version des Epigramms Marker einer bewussten Aktualisierung dieses Monumentes und der mit ihm verbundenen Erinnerung war.428 Die Datierung des zweiten Epigramms in die Jahre um 370 v.Chr. führt nun gerade in jene Zeit, in der es Theben gelang, sich erneut zur unangefochtenen Vormacht in Boiotien aufzuschwingen und zudem eine mächtige und einflussreiche Position in ganz Hellas zu erringen. Suchten die Thebaner in dieser Situation des Triumphes ganz bewusst die Anknüpfung an ihre eigene Vergangenheit, indem sie ein Gefallenenmonument des vorherigen Jahrhunderts erneuerten und somit die Erinnerung an die Gefallenen und ihren Kampf neu ins Bewusstsein riefen oder doch zumindest die Persistenz der Erinnerung deutlich zum Ausdruck brachten? Abhängig vom ursprünglich kommemorierten Ereignis ergäben sich für die Erneuerung hier deutliche Unterschiede in ihrer Semantik. Kommemorierte das Monument ursprünglich die Gefallenen der Schlacht von Tanagra, wurde mit der Aktualisierung möglicherweise der Anschluss an die militärischen Erfolge des 5. Jh. v.Chr. gesucht und somit an eine Zeit, in der Theben gegenüber den beiden Großmächten Athen und Sparta noch Einfluss und Mitspracherecht besaß – eine Situation, die sich nach der Niederlage von Oinophyta zunehmend zuungunsten Thebens wandelte. Diente es hingegen der Erinnerung an die Gefallenen der Perserkriege könnte die Aktualisierung als bewusste Antwort auf den im 4. Jh. v.Chr. noch ausgesprochen lebendigen und präsenten Vorwurf des thebanischen Medismos im Zweiten Perserkrieg429 gedient haben.
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Auch ein gleichzeitiges Einschreiben der beiden Epigrammversionen kann wohl trotz aller Unsicherheiten und Ungenauigkeiten bei der Datierung der beiden Inschriften ausgeschlossen werden. Der Begriff der ‚Aktualisierung‘ ist von Michael Jung übernommen (vgl. Jung 2006, passim). Selbst im Falle einer Reparatur ließe sich im Übrigen immer noch von einer Aktualisierung sprechen, würde sich hierin doch die anhaltende Bedeutung des Monumentes und des kommemorierten Ereignisses für die Gemeinschaft ausdrücken. Dennoch hat die Aktualisierung eine andere Qualität, wenn sie nicht des äußeren Auslösers einer Beschädigung bedarf, sondern anders, ‚von innen‘ motiviert ist. Dieser Vorwurf war insbesondere im 5. Jh. v.Chr. weit verbreitet (siehe nur Thuk. 3.56; 58; 62 und allgemein Jung 2006, 285f.), wurde aber auch im folgenden Jahrhundert gerne noch ausgesprochen. Insbesondere Isokrates bediente sich dieses Vorwurfes immer wieder. Siehe Isok. 14.30; 58f.; 62 aber etwa auch die Anspielungen bei Xen. Hell. 6.3.20; 6.5.35. Auch im weiterhin populären, wenn auch wahrscheinlich fiktiven, Eid von Plataiai wurde sehr prominent die Bestrafung der medisierenden poleis gefordert und damit die Erinnerung an deren ‚Verrat‘ lebendig gehalten. Siehe die Version bei Lyk. Leokr. 81. Die Variante des Eides, die auf einer Inschrift des 4. Jh. v.Chr. aus Acharnai überliefert ist, nannte ganz explizit die Thebaner als Gegner, die bestraft werden müssten: Tod 1948, 303–307 Nr. 204. Vgl. allgemein Osmers 2013, 255–259. Dass nicht nur einzelne Personen diesen alten Vorwurf weiterhin nutzten und schürten, zeigt sich auch daran, dass die Athener Mitte des 4. Jh. v.Chr. in Delphi goldene Schilde weihten, die zerstörte Beuteweihungen von 479 v.Chr. ersetzen sollten. Die Schilde waren laut
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Indem die Thebaner zunächst im Peloponnesischen Krieg gegen Athen und im 4. Jh. v.Chr. dann gegen Sparta vorgegangen waren, hatten sie sich den beiden großen griechischen Vormächten und deren Herrschaftsstreben entgegengestellt und konnten sich nun getrosten Mutes ‚auf der richtigen Seite‘ in den griechischen Freiheitsdiskurs einschreiben.430 Vor diesem Hintergrund mögen sie nun mit neuem Selbstbewusstsein auch auf ihre Aktivitäten im 5. Jh. v.Chr. zurückgeblickt haben und vielleicht gar eine Revision des Bildes, das die Thebaner als medisierende Vaterlandsverräter zeichnete, angestrebt haben. Eine ähnliche Interpretation schwebt wohl auch Papazarkadas vor, wenn er seine Präferenz für die Zuordnung des Epigramms zum Xerxesfeldzug ausspricht. Wie aber oben bereits angemerkt wurde, erlaubt es die Quellenlage nicht, diese Deutung konkret zu untermauern. Sie muss daher Spekulation bleiben. In jedem Fall legt aber die Datierung der Neueinschreibung nahe, dass sie Ausdruck eines gesteigerten Selbstbewusstseins und eines neugestärkten thebanischen Patriotismus war, der sich aus den Erfolgen gegen die Spartaner und die boiotischen Nachbarn speiste. Gleichzeitig sollte die innenpolitische Dimension des Gefallenengedenkens nicht ausgeklammert werden. Sowohl in den Jahren vor als auch nach der Schlacht von Leuktra lassen sich nämlich, aller außenpolitischen Erfolge zum Trotz, deutliche Anzeichen innerer politischer Unruhen in Theben feststellen. Hans-Joachim Gehrke schlägt vor, dass sich der Unmut der oppositionellen Gruppierung dabei primär gegen die Vorrangstellung des Epameinondas und des Pelopidas sowie gegen deren aggressive Expansionspolitik richtete.431 Sollte diese Auslegung zutreffen, handelte es sich bei der Neueinschreibung vielleicht um einen Versuch der Partei des Epameinondas und des Pelopidas, durch die Aktualisierung des historischen Gefallenenmonu-
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Aesch. 3.116 konkret als Beute aus den Kämpfen der Athener gegen die Perser und die Thebaner gekennzeichnet. Siehe auch Mackil 2013, 85; Humble 2008, 362. Schließlich zeigt auch Plutarchs περὶ τῆς Ἡροδότου κακοηθείας, dass diese Vorwürfe selbst in der römischen Kaiserzeit noch eine gewisse Wirkmacht hatten. Die Literatur zum Thema des Medismos ist bedauerlicherweise größtenteils stark veraltet und setzt sich zumeist nur mit den konkreten historischen Ereignissen auseinander, aus denen sich der Vorwurf entwickelte, nicht aber mit dessen Wirkmacht und Persistenz. Siehe etwa Graf 1979, 168–181, dessen Diskussion des boiotischen/thebanischen Medismos im Zweiten Perserkrieg überdies noch massive methodische und handwerkliche Schwächen aufweist. Vgl. auch ders. 1984; Gillis 1979. Die neuere Arbeit von McMullin 2001 versucht, einige Versäumnisse der älteren Arbeiten auszumerzen, indem sie auf die Rolle des Medismos im politischen Diskurs Athens nach den Perserkriegen eingeht. Sie konzentriert sich allerdings einzig auf die Anschuldigungen gegen Einzelpersonen innerhalb Athens und ist damit für die vorliegende Frage nur marginal hilfreich. Siehe nur Thuk. 3.62 (Widerstand der Thebaner gegen die Unterwerfung Griechenlands durch die Athener); Xen. Hel. 3.5.12f. (Thebaner stilisieren Spartaner als neue Tyrannen, wenn sie auch sich noch nicht explizit selbst als Befreier darstellen, sondern diese Rolle noch den Athenern, deren Unterstützung sie benötigen, zusprechen); Paus. 9.15.6 (Epigramm auf einer Statue des Epameinondas auf der Kadmeia, das besagt, er habe Hellas Autonomie und Freiheit gebracht). Siehe Gehrke 1985, 180–182 (inkl. Diskussion der relevanten Quellen).
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ments an die militärischen Unternehmungen der Vergangenheit zu erinnern und für die Expansion der Gegenwart zu werben. Selbst wenn aber mit der Aktualisierung keine derart konkreten Ziele erreicht werden sollten, konnte sie doch zumindest zur Stärkung der internen Kohäsion des Gemeinwesens in einer Zeit turbulenter Veränderungen beitragen. Bevor wir weiterschreiten, soll kurz noch auf die Frage nach der Kommemoration der gefallenen thebanischen Thermopylenkämpfer gestellt werden, weil diese eng mit dem Vorwurf des Medismos verknüpft ist, der eben bereits angesprochen wurde und der noch an mehreren Stellen thematisiert werden wird. Bekanntermaßen waren laut Herodot das thebanische und das thespische Heereskontingent als einzige zusammen mit den Spartanern im Thermopylenpass verblieben, nachdem Leonidas den Verbündeten den Abzug befohlen hatte. Herodot behauptet weiter, die Thebaner seien dabei nicht freiwillig, sondern auf Zwang des Spartanerkönigs geblieben, weil dieser einen Abfall der Thebaner befürchtet und das thebanische Kontingent daher als Geisel zurückgehalten habe, um so die Bündnistreue der Thebaner zu erzwingen.432 Nun bedarf es keiner umfangreichen militärischen Erfahrung oder tieferer historiographischer Schulung, um zu erkennen, dass Herodots Argumentation schlichtweg unsinnig ist und dass seine Erzählung klar von antithebanischen Ressentiments späterer Zeiten geprägt ist. Nicht umsonst greift schon Plutarch den ‚Vater der Geschichtsschreibung‘ an dieser Stelle scharf an.433 Die Problematik wurde in der Vergangenheit bereits intensiv diskutiert und soll daher hier nicht noch einmal im Detail behandelt werden.434 Fest steht, dass bei den Thermoyplen ein thebanisches Truppenkontingent kämpfte und zusammen mit den Thespiern und den Spartanern bis zum Ende ausharrte. Wenn aber 480 v.Chr. auch Thebaner gegen die Perser kämpften und fielen; wo und wie wurden diese kommemoriert? Überhaupt nicht, lautet die nüchterne Antwort. Zumindest erwähnt keine Quelle ein explizites Gedenken an die gefallenen Thebaner. Dieser Befund muss dabei insofern etwas relativiert werden, als dass die antiken Zeugnisse weitgehend auf die Rolle der Spartaner und somit auch auf deren Kommemoration fokussieren. So berichtet Herodot lediglich von drei Epigrammen, die an den Gräbern auf Stelen eingemeißelt seien: einem für alle gefallenen Griechen (bzw. alle
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Siehe Hdt. 7.205.3; 222; 225.2; 233. Siehe Plut. de Herod. malig. 31–33 (mor. 864D–867B). Die zentralen Argumente finden sich bereits bei Plutarch, sodass die modernen Diskussionen bei Graf 1979, 172–174 und Gillis 1979, 65–68, die als repräsentativ für die weitere Literatur genommen werden dürfen, hier kaum neue Punkte liefern. Graf versucht, Herodots Erzählung zu verteidigen, muss aber letztlich eingestehen, dass sie zumindest in Teilen zuungunsten der Thebaner ausgeschmückt worden sein müsse. Zudem beruhen seine Argumente für die Verlässlichkeit des herodoteischen Berichtes zu weiten Teilen auf falschen Annahmen bezüglich der politischen Situation Boiotiens und der Verfasstheit der boiotischen poleis.
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gefallenen Peloponnesier),435 dem bekannten Epigramm für die gefallenen Spartaner, sowie dem Epigramm des Simonides für den Seher Megistias.436 Strabon wiederum erwähnt fünf Stelen, von denen eine ein Epigramm für die Opuntischen Lokrer getragen habe. Die anderen Inschriften beschreibt er nicht.437 Die wichtigsten literarischen Quellen bezeugen demnach nur Monumente für das spartanische und das opuntische Kontingent sowie eines für alle Gefallenen oder doch zumindest für alle gefallenen Peloponnesier. Zudem ist im Werk des Stephanos von Byzanz ein Epigramm für gefallene Thespier überliefert, das möglicherweise der Schlacht an den Thermopylen zuzuordnen ist.438 In Anbetracht der Verschwiegenheit der Quellen scheint es nicht völlig verwunderlich, dass keine Monumente für die thebanischen Gefallenen Erwähnung finden, muss doch auch gerade in ihrem Fall mit einer bewussten Auslassung durch die literarischen Quellen gerechnet werden. Erstaunlich ist aber doch, dass auch die Thebaner selbst scheinbar niemals versuchten, sich mit Verweis auf ihre Teilhabe an der Verteidigung der Thermopylen vom Vorwurf des Medismos zu befreien. Immerhin hätten sie mit diesem Hinweis doch deutlich machen können, dass sie solange wie möglich für die griechische Sache eingetreten waren und sich erst dann den Persern unterworfen hatten, als sie, um Plutarchs Wortlaut zu verwenden, „ὑπὸ τῆς μεγάλης ἀνάγκης“439 keine andere Wahl mehr hatten. Stattdessen setzen ihre Verteidigungsstrategien bezüglich dieses Vorwurfs auf völlig andere Argumentationslinien. Laut Thukydides verteidigen sich die Thebaner 427 v.Chr. etwa, sie hätten 480/79 v.Chr. nur mit Xerxes zusammengearbeitet, weil sie von ihrer eigenen, tyrannischen Führung dazu gezwungen worden seien. Der Großteil der Bevölkerung habe die Allianz mit den Persern überhaupt nicht gewollt.440 Dies mag nun auf der einen Seite, ebenso wie die direkte und fast exklusive Bestrafung der Thebaner nach der Schlacht von Plataiai, als Anzeichen der ‚Schuld‘ der Thebaner gesehen werden, die wirklich die Kooperation mit Xerxes gesucht und auch an den Thermopylen nur widerwillig gekämpft hatten.441 Vermutlich aber zeigt das Schweigen der Thebaner in dieser Angelegenheit vor allem, wie sehr sich bereits im 5. Jh. v.Chr. eine bestimmte Version der Erinnerung an die Schlacht an den Thermopylen verfestigt hatte, welche die Rolle der Spartaner, ihrer Disziplin und ihrer Selbstaufopferung für ihr Gemeinwesen sowie für ganz Griechenland in den Vordergrund stell435 436 437
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Siehe hierzu die Diskussion bei Pritchett 1985, 168–170. Vgl. Hdt. 7.228. Vgl. Strabon 9.4.2. Die Diskrepanz zu Herodot bezüglich der Zahl der Stelen wird weiter unten noch thematisiert. Siehe 2. I Thespiai mit Anm. 531. Siehe ebd. Plut. de Herod. malig. 31 (mor. 864E–F). Vgl. Thuk. 3.62. Möglich bliebe weiterhin auch die von Diod. Sic. 11.4.7 vorgeschlagene Erklärung, dass nur ein kleinerer, antipersisch gesinnter Teil der Thebaner zu den Thermopylen marschiert war.
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I. Boiotien
te. Das Problem bestand dabei nicht darin, dass der Einsatz der Thebaner an den Thermopylen angezweifelt wurde – auch Herodot leugnet ihre Anwesenheit nicht und attackiert stattdessen ihre Motive. Vielmehr konnte die Teilhabe der Thebaner vor dem Hintergrund ihrer späteren Kooperation mit den Persern – und gerade auch ihres militärischen Einsatzes in der Schlacht von Plataiai – nicht der etablierten moralischen Dimension gerecht werden. Insbesondere im Vergleich zu den Thespiern, die auch nach der Schlacht an den Thermopylen die Kooperation mit den Persern verweigerten und dafür die Verwüstung und Zerstörung ihrer Stadt in Kauf nahmen, mussten die scheinbaren Unzulänglichkeiten der Thebaner umso stärker zum Vorschein treten.442 Die Erinnerung an die Perserkriege, ihre Schlachten und Gefallenen war schon zu fest etabliert und mit den Ideen von Loyalität und Opferbereitschaft konnotiert, als dass die Thebaner sich hierin einschreiben und einen Vorteil daraus hätten ziehen können. Vermutlich hätten sie etwaige Ressentiments hierdurch nur zusätzlich geschürt, und so vermieden sie in der Konsequenz, ihren Einsatz an den Thermopylen gegenüber anderen poleis zu thematisieren. Die Erinnerung war den Thebanern – zumindest auf der ‚internationalen‘ Ebene – nicht verfügbar. Interessant wäre es, in diesem Zusammenhang zu wissen, ob die Thebaner ihre Gefallenen von den Thermopylen polisintern und ohne die Anwesenheit auswärtiger Kritiker kommemorierten. Bedauerlicherweise schweigen diesbezüglich jedoch die Quellen, sodass ohne Neufunde wiederum jegliche Diskussion hinfällig ist. Als nächstes wird ein Zeugnis behandelt, das zwar selbst eigentlich nicht der Gefallenenkommemoration diente, das aber dennoch einige Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der Gefallenen in Theben zulässt und deshalb nicht aus der Untersuchung ausgeschlossen werden soll. In seiner siebten Isthmischen Ode, die den siegreichen thebanischen Pankraten Strepsiades ehrt, fügt Pindar einen längeren Exkurs über den Onkel des Geehrten ein, der ebenfalls Strepsiades hieß und im Krieg gefallen war. Auf 15 Zeilen – immerhin einem Viertel der Gesamtlänge der Ode – rühmt der Poet die Taten des Gefallenen und seine Verdienste um die polis. Nun diente die Ode weder primär dem Gedenken an den Gefallenen, noch handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine ‚staatliche‘, durch die polis finanzierte Ehrung. Stattdessen wird sie von dem siegreichen Athleten selbst oder aber einem seiner Verwandten oder Gönner in Auftrag gegeben worden sein, um den siegreichen Einzelnen und dessen Qualitäten zu feiern.443 Dennoch lässt sich gleich eine ganze Reihe von Gründen anführen, weshalb der beschriebene Abschnitt hier besprochen werden sollte. So mag es sich bei den Oden zwar um private Stiftungen gehandelt haben, jedoch wurden sie daher keineswegs nur in einem kleinen Rahmen rezipiert. Vielmehr waren auch sie für eine Rezitation in öffentlichem oder zumindest halb-öffentlichem
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Zum Umgang der Thespier mit diesem Teil ihrer Geschichte s.u. 2. I. Thespiai. Vgl. Carey 2007; Mann 2001, 42–45.
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Rahmen konzipiert.444 Im vorliegenden Fall zeigt sich dies besonders deutlich darin, dass gleich in der ersten Zeile die Heimatpolis des Geehrten als „ὦ μάκαιρα Θήβα“ adressiert wird. Weiter hat Christian Mann völlig überzeugend argumentiert, dass der Inhalt der Oden stark abhängig war vom sozialen und politischen Hintergrund des Auftraggebers und dem seiner polis.445 Daher sollte es möglich sein, mittels des Exkurses über die Taten des gefallenen Onkels des Geehrten auch Rückschlüsse auf den Umgang zumindest einer gewissen Schicht der Thebaner mit ihren Gefallenen ziehen zu können. Im vorliegenden Fall scheint diese Möglichkeit umso mehr gegeben, da auch der Autor selbst aus Theben bzw. dessen nächster Umgebung stammte und daher mit den thebanischen Verhältnissen besonders gut vertraut war. Wenn wir in der Folge also den betreffenden Abschnitt der Ode näher untersuchen wollen, gilt es zunächst zu fragen, ob die Schlacht, in welcher der ältere Strepsiades starb, identifiziert oder zumindest eingegrenzt werden kann. Lange Zeit herrschte diesbezüglich in der Forschung einheitlich die Meinung, dass es sich um die Schlacht von Oinophyta 457 v.Chr. gehandelt haben müsse. Wie jedoch David C. Young zeigen konnte, beruhte diese Identifikation auf einer Reihe ungesicherter Annahmen, sodass mit Sicherheit lediglich eine Schlacht der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. angenommen werden kann. Dabei mag es sich durchaus um jene von Oinophyta oder Tanagra handeln, aber auch die Perserkriege oder ein anderer, möglicherweise nicht überlieferter Konflikt lassen sich nicht ausschließen.446 Die Ode selbst bietet in jedem Fall keinerlei Hinweise auf eine genauere Einordnung.447 Stattdessen sind die Hinweise auf die Schlacht und das Verhalten des älteren Strepsiades darin sehr allgemein gehalten und bedienen sich einer bekannten Terminologie.448 Strepsiades habe seine πατρίς (Z. 28) verteidigt, sei dabei als πρόμαχος (Z. 35) und damit als einer der ἄριστοι (Z. 35) gefallen. Hierfür habe er für sich selbst Ehre (τιμὰ – Z. 26) erlangt, die den ἀγαθοί (Z. 26) zustehe, und zudem seinem Bürgergeschlecht (γενεὰ ἀστῶν – Z. 29) größten Ruhm (μέγιστον 444
445 446
447
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Die genauen Modalitäten der Aufführung der Oden waren und sind in der Forschung umstritten. Siehe nur beispielhaft die Diskussion zwischen Heath/Lefkowitz 1991 und Carey 1991. Diese Uneinigkeit lässt sich nicht nur auf das Schweigen der Quellen zurückführen, sondern vermutlich auch darauf, dass die Aufführungskontexte auch tatsächlich sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Vgl. hierzu Mann 2001, 40–43. Dennoch besteht Einigkeit darüber, dass die Oden im öffentlichen Rahmen vorgetragen wurden, wenn sie auch später in kleinerem Kreise wiederholt werden konnten. Siehe ebd. sowie Bowra 1964, 184f.; Carey 2007. Am wahrscheinlichsten erachten die meisten Autoren eine Rezitation in einem Heiligtum oder aber im Haus des siegreichen Athleten oder seines Patrons. Siehe Mann 2001, 44f. und nochmals vehement 48. Vgl. Young 1971, 3–14. Trotz Youngs berechtigter Einwände hält sich die Identifikation als Schlacht von Oinophyta in der Literatur z.T. hartnäckig. Bedauerlicherweise finden sich keine weiteren historischen Hinweise oder sprachliche Eigenheiten, die eine Tendenz für die Datierung erlauben würden. Vielmehr wird in den Editionen und Kommentaren stets die Schlachtenreferenz als datierendes Kriterium angeführt und dann unterschiedlich ausgelegt. So auch Young 1971, 45f.
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κλέος – Z. 29) gebracht. Der Großteil der genannten Begriffe erscheint im vorliegenden Kontext nicht weiter ungewöhnlich, sondern lässt sich einem bereits seit der Archaik etablierten aristokratischen Diskurs über die Qualitäten des einzelnen Adligen zuordnen. Gleichzeitig werden diese Qualitäten aber in den Kontext des Dienstes für die polis und die eigenen Mitbürger eingeordnet, sodass die Leistung nicht allein zur Mehrung des eigenen Ruhmes erbracht wurde, sondern auch zum Vorteil der gesamten Gemeinschaft. Dieses Framing von aristokratischen, auf die Leistung des Einzelnen fokussierenden Idealen in einem auf die polis bezogenen Kontext ist nun für die Gemeinwesen des klassischen Griechenland nicht ungewöhnlich. So wurden beispielsweise auch im athenischen patrios nomos und insbesondere in den Grabreden viele ebendieser Begriffe und Ideen verwendet. Signifikant sind jedoch die Unterschiede in der Gewichtung der beiden Aspekte. Während etwa in den epitaphioi logoi eindeutig die polis im Zentrum stand und die Bedeutung des Einzelnen relativiert wurde, rückt die Ode weiterhin die Leistung des Einzelnen in den Vordergrund, wenn sie auch für das Gemeinwesen erbracht wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die Gleichsetzung der athletischen Leistungen des Strepsiades mit den kriegerischen Taten seines Onkels bemerkenswert, die sich im Bild des gemeinsamen Siegeszweiges („κοινὸν θάλος“ [Z. 24]), den der junge Strepsiades seinem älteren Verwandten überreichte, besonders deutlich manifestiert.449 In Athen war nämlich die Gleichsetzung athletischer und kriegerischer Leistungen – und insbesondere der Vergleich eines siegreichen Athleten mit einem gefallenen Krieger – nur ungern gesehen. Einige späte Quellen berichten gar davon, dass schon Solon die Ehrungen für siegreiche Athleten beschränkt habe, weil diese mit Blick auf die Kriegsgefallenen, die für die Gemeinschaft ihr Leben gegeben hatten und hierfür zu ehren seien, unangemessen gewesen wären.450 Nun sind diese Gewichtungs- und Darstellungsunterschiede zu einem großen Teil sicher auf die Gattungsunterschiede zwischen Ode und epitaphios logos zurückzuführen. Eine Ode, die zur Ehrung der Leistung eines Einzelnen im athletischen Wettkampf diente, musste zwangsläufig
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450
Zwar zeigt sich Young 1971, 41–43 davon überzeugt, dass Pindar die beiden Leistungen nicht gleichsetze, sondern lediglich gewisse Ähnlichkeiten hervorhebe und zeigen wolle, dass für beide Leistungen dieselben Qualitäten vonnöten seien (auch Bowra 1964, 185f. meint, Pindar gehe es hierbei vor allem um die Qualitäten der Sieger oder Gefallenen). Jedoch kann seine Argumentation nicht überzeugen, da die beiden Sphären doch gerade im vorliegenden Fall sprachlich wie inhaltlich ausgesprochen nah aneinander gerückt und vermischt werden. So geht die Beschreibung der Leistung des jüngeren Strepsiades beim pankration fast nahtlos in jene der Kriegstaten seines Onkels über und wird nur durch die Erwähnung des ‚gemeinsamen Siegeszweiges‘ verknüpft sowie durch die Feststellung, dass beide Männer sich als ἀγαθοῖ ausgezeichnet hätten und dafür den Preis der Ehre (τῑμή) erhielten (Z. 26). So Diog. Laert. 1.55. Seine Zahlenangaben zu den Beschränkungen der Ehrungen stimmen mit denen bei Plut. Sol. 23.3 überein, auch wenn sie dort in anderem Kontext wiedergegeben werden. Auch Diod. Sic. 9.2.5 berichtet, Solon habe die Ehrung von Kriegsgefallenen als wichtiger erachtet als die siegreicher Athleten. Vgl. auch Bowra 1964, 184–186.
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eine andere Gewichtung vornehmen als eine Rede, welche die Kriegstoten eines demokratischen Gemeinwesens rühmen und zugleich rechtfertigen sollte. Dennoch können wir hier einen Hinweis auf einige grundlegende Unterschiede in der Disposition der Thebaner und der Athener in Hinblick auf die Leistung und den Tod von Kriegern in der Schlacht fassen. Schon alleine die Tatsache, dass in Theben aristokratische (agonale) und kriegerische Leistungen problemlos gleichgesetzt werden konnten, während dies in Athen unmöglich oder zumindest unangemessen gewesen wäre, passt sehr gut zur sozialen und politischen Zusammensetzung des thebanischen Gemeinwesens gerade noch in dieser Zeit: Die noch stärker oligarchisch ausgerichtete Gesellschaft hätte dann auch dem einzelnen Krieger und dessen Leistung noch deutlich mehr Raum zugestanden. Wenden wir uns nach diesem kurzen Exkurs wieder den konkreten Formen staatlichen Gefallenengedenkens in Theben zu, das uns erst in den 70er Jahren des 4. Jh. v.Chr. wieder begegnet; für die gesamte zweite Hälfte des 5. Jh. v.Chr. schweigen die Quellen. 1874 und 1879 wurden, zunächst separat, zwei Fragmente einer möglichen Gefallenenliste, die in Theben gefunden worden waren, veröffentlicht.451 Die beiden Bruchstücke lassen sich ohne Schwierigkeiten aneinander fügen, sind jedoch an allen Außenseiten bestoßen, sodass die ursprüngliche Form und Größe der Stele nicht mehr erschlossen werden können.452 Erhalten sind 29 Zeilen Text, in denen sich die Reste von 25 Namen und 29 Patronymen finden. Dabei ist die Verteilung nicht einheitlich tabellarisch mit einem Namen plus Patronym pro Zeile gehalten. Stattdessen präsentiert sich die Namensliste als durchlaufender Text mit teils mehreren Namen pro Zeile oder Namen, die sich über zwei Zeilen erstrecken. Eine Überschrift oder auch Hinweise auf eine Anordnung oder Unterteilung irgendeiner Art finden sich nicht, weshalb die Identifikation als Gefallenenliste nicht eindeutig erwiesen ist.453 Sollte es sich aber tatsächlich um eine Aufzählung von Kriegstoten handeln, würde durch das Format die Identifikation von einzelnen Personen deutlich erschwert. Dies wird gerade im Vergleich mit ähnlichen Monumenten aus anderen poleis und nicht zuletzt aus Athen deutlich, die meist ein Listenformat wählen und damit 451
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Zuerst wurden die Fragmente veröffentlich von Kaibel 1874, 421 Nr. 18 und Foucart 1879, 140–142 Nr. 4. Die beiden prinzipiellen Editionen finden sich in IG VII 2427 und deVottéro 1996, 161–164. Siehe IG für die weitere ältere Literatur. Neben de Vottéros Neuedition finden sich keine substantiellen neueren Beiträge zu dem Monument. Generell sind die Publikationen, die z.T. nur mit Abklatschen oder Abschriften des Steines arbeiten, sehr sparsam mit den Informationen zu Maßen und Beschaffenheit der beiden Fragmente. Auch deVottéro 1996, 161–164, der den Stein in Autopsie untersuchen konnte, liefert diesbezüglich weder Details noch Abbildungen. deVottéro 1996, 162 bezeichnet die Inschrift neutral als „énumération de citoyens“ und Kalliontzis 2014, 349 Anm. 52 schließt sie aufgrund dieser Unsicherheiten aus seiner Liste boiotischer Gefallenenmonumente aus.
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die Lokalisierung bestimmter Toter erleichtern. Demnach hätte beim vorliegenden Monument alleine die Erfassung der Personen im Vordergrund gestanden und nicht so sehr die Möglichkeit, diese dann auch schnell und einfach wiederzufinden oder aber einer bestimmten Gruppe zuzuordnen. Freilich hängt die Schwierigkeit der Identifikation der Personen aber auch mit der ungeklärten Frage nach dem ursprünglichen Aussehen des gesamten Monumentes zusammen, das durchaus entsprechende Hinweise geboten haben mag oder aber so klein war, dass sich erst gar keine Probleme in dieser Richtung ergaben. Unsicherheit herrscht bezüglich der Identifikation als Gefallenenliste auch, weil die ursprünglichen Fundorte der beiden Fragmente nicht zweifelsfrei feststehen. Wurden diese im 19. Jh. noch als ungeklärt angegeben, meinte Antonios Keramopoullos in einem Artikel aus dem Jahr 1917, die südliche Nekropole der Stadt als Fundort der Fragmente identifizieren zu können, ohne dass allerdings deutlich wird, ob diese Erkenntnis auf neuen Informationen (etwa aus den Dokumentationen im Museum in Theben) oder aber auf reiner Mutmaßung beruhten.454 Sollte Keramopoullos’ Lokalisation zutreffen, wäre durch den funerären Kontext eine Identifikation als Gefallenenliste sehr wahrscheinlich. Weniger problematisch als die Lokalisation und Identifikation stellt sich die Datierung des Monumentes dar, die Guy de Vottéro anhand zweier Charakteristika der Inschrift eingrenzt.455 Zum einen ist die Inschrift in einer Mischung aus dem boiotischen und dem ionischen Alphabet gehalten und muss somit vor dem abgeschlossenen Wechsel zum Ionischen in offiziellen Inschriften entstanden sein, der in der Regel um 370 v.Chr. datiert wird.456 Zum anderen wurde die Verwendung des Patronyms in offiziellen Inschriften der polis Theben (wie auch in ganz Boiotien) erst im Laufe des 4. Jh. v.Chr. eingeführt und vermutlich handelt es sich bei dem vorliegenden Monument wohl gar um den ältesten solchen Fall, der bekannt ist. De Vottéro argumentiert nun, die Einführung des Patronyms in den offiziellen Dokumenten Thebens sei mit dem demokratischen Umsturz des Jahres 379/8 v.Chr. in Verbindung zu bringen,457 und will die Inschrift daher in die 370er Jahre v.Chr. datieren. Seine Argumentation hinsichtlich der Pa454
455 456 457
Keramopoullos, in: ArchDelt 3 (1917), 314 Anm. 2 vertritt die Ansicht, das Grab, zu dem die Liste gehörte, habe in der Nähe jenes Grabes gelegen, in welchem die gefallenen Verteidiger der Stadt gegen Alexander aus dem Jahr 335 v.Chr. bestattet worden seien. Von den Publikationen aus dem 19. Jh. äußert sich einzig Larfeld 1883, Nr. 307 zu den Fundorten. Er gibt für das erste Fundament keinen Fundort an und hält für das zweite den Keller einer Schule („in gymnasii [σχολεῖον] hypogaeo“) fest. Es ist durchaus möglich, dass Keramopoullos in der Dokumentation im Museum oder in alten Grabungsberichten Hinweise auf den genauen Fundort eines oder beider der Stücke fand. Dass solche Fortschritte selbst heute noch möglich sind, zeigt zuletzt erst Kalliontzis 2014. Pritchett 1985, 144f. folgt Keramopoullos, ohne dessen Lokalisation der Funde zu hinterfragen. Siehe deVottéro 1996, 163. S.o. Anm. 404. Vgl. deVottéro 1996, 163 sowie ausführlich 1988, passim.
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tronyme erscheint plausibel, muss es doch in der Tat einen Anlass für die Wandlung der Praxis gegeben haben, der am ehesten im Wechsel des politischen Systems zu suchen scheint. Auch die Datierung des Wechsels zum ionischen Alphabet kann in ihren Grundzügen überzeugen, wenn es auch problematisch scheint, sie derart präzise auf das Jahr 371/0 v.Chr. einzugrenzen und somit die Verknüpfung mit der Schlacht von Leuktra zu suchen. Eine grobe Datierung um dieses Jahr herum scheint jedoch durchaus stichhaltig, sodass die vorliegende Inschrift wohl in die 70er oder 60er Jahre des 4. Jh. v.Chr. datiert werden muss. Die Errichtung des Monumentes fiel also in jene Zeit, in der Theben zunächst die spartanische Besatzung vertrieb, eine demokratische politeia annahm und anschließend zum Hegemon Boiotiens und zeitweise zu einer der mächtigsten poleis Griechenlands aufstieg. Weiter oben wurde bereits dargelegt, dass die Wiedereinschreibung des Epigrammes für die Gefallenen der nicht näher identifizierbaren Schlacht der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. ebenfalls in diesen Zeitraum datiert werden muss. Sollte es sich bei der vorliegenden Stele ebenfalls um ein Gefallenendenkmal handeln, ließen sich hiermit immerhin schon zwei solcher Monumente fassen, die in einem relativ engen Zeitraum in Theben entstanden. Nun lässt sich aus zwei Beispielen staatlicher Gefallenenkommemoration keine signifikante Entwicklung ableiten, jedoch sollten die oben geäußerten Überlegungen durchaus im Blick behalten werden. Schließlich wäre es sehr wohl plausibel, dass sich der demokratische Umsturz, die Wiedererlangung der Selbstbestimmung oder auch der militärische und politische Erfolg der polis auf der ‚internationalen‘ Ebene jeweils einzeln oder aber in Kombination auch auf die Formen der Gefallenenkommemoration auswirkten. In diesem Kontext scheint es bemerkenswert, dass sich weder in der literarischen noch in der materiellen Überlieferung Hinweise auf die Kommemoration der Gefallenen der Schlacht von Leuktra finden, obwohl der Sieg über die Spartaner doch einen zentralen Erinnerungsort der thebanischen Geschichte darstellte. Zwar liefern sowohl Pausanias als auch Diodor Angaben zur Zahl der gefallenen Boioter.458 Jedoch berichtet keiner von beiden und auch kein anderer antiker Autor von einem Grab für die Gefallenen der Schlacht – weder in der Ebene von Leuktra noch an einem anderen Ort. In Anbetracht der Lage des Schlachtfeldes und des Vorgehens der Boioter nach ihrem Sieg am Delion mag man mutmaßen, dass die Boioter die Toten, wie schon 424 v.Chr., in ihre jeweilige Heimatpolis zurückführten und dort bestatteten. Allerdings muss dies reine Spekulation bleiben. Vor Ort fanden sich außer der monumentalisierten Version des 458
Paus. 9.13.12 spricht von 47 Toten, während Diod. Sic. 15.56.4 ihre Zahl bei 300 ansetzt. Die genaue Zahl der Gefallenen lässt sich heute ebensowenig mit Sicherheit rekonstruieren wie ihre Poliszugehörigkeit. Jedoch ist davon auszugehen, dass ein signifikanter Teil der Toten aus den thebanischen Reihen stammte, waren diese doch in die härtesten Kämpfe gegen die Spartaner unter der Führung des Kleombrotos verstrickt.
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Tropaions aus dem 3. Jh. v.Chr. keine Spuren eines Grabes459 und auch im Rahmen der Basileia, des Festes zu Ehren von Zeus Basileus, die anlässlich des Sieges gestiftet wurden, sind keine Verrichtungen zum Gedenken an die Gefallenen der Schlacht überliefert.460 Lediglich ein einziges Monument, das bereits im 19. Jh. in Pyri, einem der nordwestlichen Vororte Thebens, gefunden wurde, ist möglicherweise mit dem Gedenken an einige Gefallene der Schlacht in Verbindung zu setzen.461 Es handelt sich um ein Monument aus dunkelgrauem Kalkstein mit einer Höhe von 0,86m, einer Breite von 0,48m und einer Dicke von 0,36m, das auf der Front eine Inschrift trägt. Die linke und rechte Außenseite des Steins sind geglättet, während die Oberseite und die Rückseite nur grob behauen wurden. Insbesondere die grobe Bearbeitung der Oberseite hat zu Spekulationen bezüglich der Form und Funktion des Monumentes geführt, ist doch nicht klar, ob dieses hier nicht fertiggestellt wurde, ob es möglicherweise erhöht stand oder aber ob hier in einer späteren Phase die Anbringungsspuren eines ursprünglich darauf aufgesetzten Reliefs, einer Statue oder einer sonstigen Weihung nur grob entfernt wurden.462 Auch die Inschrift hilft in dieser Frage nur bedingt weiter. Sie besteht aus den drei Namen eines Xenokrates, eines Theopompos und eines Mnasilaos, die jeweils in großen Lettern über die gesamte Breite des Steins eingeschrieben sind sowie aus einem sechszeiligen Epigramm, das unter den Namen in kleineren Buchstaben folgt: ἁνίκα τὸ Σπάρτας ἐκράτει δόρυ, τηνάκις εἷλεν Ξενοκράτης κλάρωι Ζηνὶ τρόπαια φέρειν, οὐ τὸν ἀπ᾽ Εὐρώτα δείσας στόλον οὐδὲ Λάκαιναν άσπίδα. „Θηβαῖοι κρείσσονες ἐν πολέμωι“, κάρυσσει Λεύκτροις νικαφόρα δουρὶ τρόπαια, οὐδ᾽ Ἐπαμεινώνδα δεύτεροι ἐδράμομεν.463
Christopher Tuplin hat darauf verwiesen, dass die Form des Epigrammes nicht auf eine Weihung hinweise. In der Tat wird kein Adressat genannt und zudem würde die erste Person Plural
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462 463
Siehe Tuplin 1987, 98 Anm. 87 mit der wichtigsten Literatur. Gute Überblicke zu den Basileia und die relevanten Zeugnisse finden sich bei Turner 1996; Schachter 1994, 109–119 (insb. 115–118). Siehe auch Knoepfler 2008. Aus dem 4. Jh. v.Chr. sind lediglich zwei Siegerstatuen bekannt (IG VII 552 und 2532). Die späteren Aktivitäten fanden denn nicht mehr alleine im Namen Thebens, sondern des wiedererstarkten boiotischen Koinons statt. Die wichtigsten Editionen und Abhandlungen sind IG VII 2462; Tod 1948, 92–94 Nr. 130; Tuplin 1987, 94–107; Rhodes/Osborne 2003, 150f. Nr. 30; deVottéro 2002, 85 Nr. 22; Mackil 2013, 415f. Eine ausgezeichnete Abbildung findet sich bei Aravantinos 2010, 230. Vgl. Tuplin 1987, 94f. Anm. 73. Nach Rhodes/Osborne 2003, 150 Nr. 30.
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von „ἐδράμομεν“ durchaus zu einem Grabepigramm passen. Damit – so Tuplin – sei es aber an jenen Kritikern, die an der Identifikation als Grabepigramm zweifeln, das Gegenteil zu beweisen.464 Zustimmung erfährt Tuplin in diesem Punk von Peter J. Rhodes und Robin Osborne, die zudem den Fakt, dass sich auf der Oberseite des Monumentes eben keine Spuren einer Weihung o.ä. finden, als deutliches Zeichen dafür nehmen, dass es sich um ein Grabmonument gehandelt haben müsse.465 Schließlich könnte auch der Fundort außerhalb der antiken Stadt dafür sprechen, dass das Monument ursprünglich in einer der Nekropolen aufgestellt war und dass es sich somit um ein Grabmonument handelte. Dennoch aber bleiben Zweifel bestehen. Alleine in Hinblick auf die Form des Monumentes etwa fällt auf, dass es für eine einfache Inschriftenstele sehr dick gewesen wäre, während die Maße gut zur Basis einer Statuenweihung o.ä. passen würden. Sollte es sich zudem tatsächlich um eine simple Inschriftenstele gehandelt haben, hätte diese wohl erhöht gestanden und war deshalb auf der Oberseite nur grob ausgearbeitet. Warum aber sollte dann die Inschrift in den oberen 30cm des Monumentes angebracht worden sein, anstatt besser lesbar auf Augenhöhe? Vom Format des Steines und der Anordnung der Inschrift her scheint daher eine Identifikation als Basis plausibler. Nun kann auch ein Grabmonument unterschiedliche Formen annehmen und etwa eine Statue tragen, doch bleiben dennoch zahlreiche ungeklärte Probleme bestehen. So ist etwa weiterhin der Anlass der Kommemoration nicht hinreichend erschlossen. Zwar besagt der Text des Epigramms, dass primär eine Leistung des Xenokrates kommemoriert wurde und dass diese Leistung wohl in der Errichtung eines Tropaions für die Schlacht von Leuktra bestand. Jedoch wird weder deutlich, wann und wie genau das Siegesmal errichtet wurde oder errichtet werden sollte,466 noch in welcher Beziehung die beiden anderen genannten Personen zu Xenokrates standen und warum sie zusammen mit ihm auf dem Monument geehrt wurden. Bei Xenokrates handelte
464
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Siehe Tuplin 1987, 94f. Dem völlig entgegengesetzt Tod 1948, 93, der meint, die Bringschuld liege auf der Seite der Forscher, die das Monument für einen Grabmarker halten, weil eben das Epigramm nicht darauf hinweise, dass es sich um einen solchen handele. Rhodes/Osborne 2003, 150 tun die Thematik reichlich unbeeindruckt ab mit dem Satz: „Since it appears that nothing stood on it, and there is no indication in the text that it is a dedication, this is almost certainly a gravestone“. Beister 1973, passim konstruiert auf Basis des Epigramms und einer Szene bei Paus. 4.32.5f. eine Erzählung, in welcher die drei im Epigramm genannten Männer ein Tropaion in die Schlacht getragen hätten und hierfür geehrt worden seien. Diese Interpretation wurde in der Folge mit Recht scharf kritisiert und soll hier nicht im Detail behandelt werden. Zur Kritik siehe Tuplin 1987, 94–107 und weiter deVottéro 2002, 85 Nr. 22 sowie Rhodes/Osborne 2003, 150f. Nr. 30; Trampedach 2015, 375–377. An dieser Stelle kann und soll nicht auf die unterschiedlichen Erklärungsansätze eingegangen werden. Letztlich muss ohnehin ungeklärt bleiben, ob Xenokrates das Tropaion vor, während oder nach der Schlacht errichtete oder aber ob er nur für die Errichtung ausgelost worden war, dann aber in der Schlacht fiel.
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es sich sicherlich um den Boiotarchen des Jahres 371/0 v.Chr.467 und Theopompos mag als einer der Mitverantwortlichen für den demokratischen Umsturz des Jahres 379/8 v.Chr. identifiziert werden.468 Darüber hinaus aber ist nichts genaueres über die drei Männer oder ihre Verbindung bekannt. Möglicherweise waren alle drei in der Schlacht von Leuktra gefallen. Dies würde aber zum einen zu Unschlüssigkeiten in Bezug auf das Epigramm führen469 und wirft zum anderen die Frage auf, warum nur diese drei Männer kommemoriert wurden, wenn doch sicher noch mehr Thebaner in der Schlacht gefallen waren. Hielten vielleicht auch die anderen beiden Männer ein (niedrigeres) militärisches Kommando und wurden deshalb zusammen mit dem Boiotarchen geehrt? Des weiteren ist zu fragen, warum das Epigramm fast ausschließlich auf die Taten des Xenokrates fokussierte, das Monument aber doch offensichtlich allen drei Männern galt.470 Vielleicht sollten Theopompos und Mnasilaos dem Xenokrates bei der Aufstellung des Tropaion, für welche er ausgelost worden war, helfen. Möglicherweise standen die beiden aber auch in verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Beziehung zu dem Boiotarchen, hatten wie dieser bei Leuktra gekämpft und wurden nun aufgrund dieser privaten Verbindungen mit ihm zusammen kommemoriert. Das Epigramm mag dabei lediglich auf die Leistungen des Xenokrates fokussiert haben, weil dieser eine deutlich prominentere Rolle in der Schlacht eingenommen hatte. Letzteres Szenario würde nahelegen, dass es sich bei dem Monument um ein privates Denkmal handelte, und tatsächlich ist dies m.E. eine plausiblere Interpretation, als in der Inschrift die Reste eines staatlichen Denkmals sehen zu wollen. Gerade die letzte Zeile mit der Referenz auf Epameinondas fällt hierbei ins Gewicht, wirkt sie doch wie ein Ausdruck des Ringens um die Anerkennung durch die Gemeinschaft und Kritik an der Fokussierung auf den ‚Sieger von Leuktra‘.471 Selbst wenn der letzte Halbsatz des Epigramms aber nicht derart kritisch gedacht war, sondern schlichtweg einen positiven Vergleich mit Epameinondas und dessen Leistung darstellen sollte, lässt die Tatsache, dass dieser überhaupt derart als Referenzwert eingesetzt werden konnte, darauf schließen, dass die Erinnerung an die Schlacht in Theben stark auf seine Person fokussiert war. Im vorliegenden Monument darf man nun wohl den Versuch sehen, auch andere verdiente Thebaner in die Erinnerung an die Schlacht von Leuktra einzuschreiben und
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Vgl. Paus. 9.13.6. Erwähnt bei Plut. Pelop. 8 und mor. 594D. Vgl. auch LGPN III B, 193 s.v. „Θεόπομπος“; Tuplin 1987, 96; Tod 1948, 93f. Die diversen Probleme werden bei Tuplin 1987, 94–107 ausführlich diskutiert, ohne dass der Autor in allen Fällen eine überzeugende Lösung anbieten kann. Sie sollen hier nicht wiederholt werden. Neben den drei Namen in der Überschrift sei hier nochmals auf die Form „ἐδράμομεν“ in der letzten Zeile hingewiesen. Auch Tod 1948, 93 liest die letzte Zeile als solche Kritik.
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die Relevanz ihrer Leistungen für die polis zu bestätigen.472 Immerhin berichtet auch Plutarch von starker Konkurrenz innerhalb der thebanischen Führungsschicht in dieser Zeit473 und noch der Biograph selbst ist in der Kaiserzeit bemüht, Pelopidas’ Leistungen als denen des Epameinondas ebenbürtig darzustellen und gegen die Dominanz von dessen Person in der Erinnerung an Leuktra anzukämpfen.474 Dass diese Fokussierung auf die Rolle des Epameinondas nicht alleine der späteren Darstellung der literarischen Quellen geschuldet ist, bestätigt auch das Grabmal, das dem thebanischen General 362 v.Chr. bei Mantineia errichtet wurde.475 Pausanias berichtet, das Grab sei mit einer Säule markiert gewesen, die einen Schild mit einem Drachen als Schildzeichen trage. Zudem hätten sich zwei Stelen mit Inschriften gefunden: eine aus der Zeit Hadrians mit einem Epigramm, das der Kaiser selbst geschrieben habe, sowie eine ältere, ‚boiotische‘.476 Der Perieget führt keine weiteren Details an, sodass nicht deutlich wird, ob die restlichen Gefallenen der Schlacht zusammen mit Epameinondas bestattet wurden oder ob sie gar in der Inschrift erwähnt wurden. Auch bleibt unklar, wer sich für das ältere Monument verantwortlich zeigte oder wann es entstand. Der Bericht Diodors zur Schlacht mag aber dafür sprechen, dass auch die anderen gefallenen Boioter an Ort und Stelle bestattet wurden. Er betont nämlich, dass die gegnerischen Parteien lange um die Bergung der Toten stritten, da die Seite, die zuerst um die Bergung der Toten ersuchte, als Verlierer einer Schlacht galt. Wenn aber der Bergung der Gefallenen gerade in dieser Schlacht eine derartige Bedeutung zukam, wäre denkbar, dass auch die Bestattung der Toten demonstrativ vor Ort vollzogen wurde.477 Auch könnte Pausanias’ Beschreibung der In-
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Gerade die erste Zeile des Epigramms, die auf die Herrschaft der Spartaner über die Boioter anspielt, und eben der Satz. „Θηβαῖοι κρείσσονες ἐν πολέμωι“ in Zeile 4 machen die polis Theben als Referenzrahmen besonders deutlich. Siehe Plut. Pelop. 8.2. Besonders explizit wird dies bei Plut. Pelop. 20.2 und 23.4, aber auch in der gesamten Erzählung um den Traum des Pelopidas (20–23), der hier an die Stelle des Orakels bzw. der anderen Zeichen tritt, die bei Paus. 4.32.5f.; Diod. Sic. 15.53.4; Cic. div. 1.34 und Polyain. 2.3.8 in unterschiedlichen Formen aber meist mit konkretem Bezug auf Epameinondas berichtet werden. Zum Vergleich des Pelopidas mit Epameinondas in der Biographie Plutarchs siehe auch Georgiadou 1997, 32–37 und explizit 37 zur Schlacht von Leuktra. Siehe zu den unterschiedlichen Darstellungen, die sich aus den literarischen Quellen des 4. Jh. v.Chr. und der archäologischen und epigraphischen Evidenz ergeben, Shrimpton 1971b, passim. Vgl. Paus. 8.11.8. Siehe Diod. Sic. 15.87.2–4, der sehr deutlich macht, dass die Boioter nicht primär von Gründen der Pietät bewegt wurden. Auch Pritchett 1985, 221 ist überzeugt, dass auch die anderen Thebaner vor Ort bestattet wurden.
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schrift als ‚boiotisch‘ durchaus auf eine Stiftung der polis Theben hinweisen.478 In jedem Fall aber macht Pausanias’ Bericht deutlich, dass das Grab, selbst wenn dort auch andere Thebaner bestattet worden sein sollten, doch eindeutig auf den gefallenen Feldherrn fokussierte. Insbesondere das Säulenmonument habe sich dezidiert auf Epameinondas bezogen und galt wohl diesem allein. Auch eine Statue für Epameinondas, die auf der Kadmeia errichtet wurde und diesen als Besieger Spartas, Gründer Messenes und Befreier Griechenlands bezeichnete,479 machte erneut deutlich, welch zentrale Rolle er für seine Heimatpolis spielte. Sicherlich handelte es sich bei der Statue, die Pausanias im 2. Jh. n.Chr. sah, um eine spätere Stiftung, war Theben doch 335 v.Chr. von Alexander zerstört worden. Jedoch mag es sich zum einen um die Erneuerung eines zerstörten Monumentes handeln, und zum anderen zeugt die Statue dennoch davon, dass die Erinnerung an den Sieg von Leuktra und den Aufstieg Thebens im frühen 4. Jh. v.Chr. auf das Engste mit dem Namen des Epameinondas verknüpft waren. Trotz dieser offensichtlichen Fokussierung auf den Sieger von Leuktra, erfuhren aber auch andere – und insbesondere ein anderer – Thebaner Ehrungen und Kommemoration in besonders hohem Maße. So berichtet Plutarch, dass Pelopidas 364 v.Chr. nach seinem Tod in der Schlacht von Kynoskephalai mit den größten Ehren bestattet wurde. Dabei waren es allerdings nicht die Thebaner, die ihren Feldherrn beisetzten, sondern die Thessalier, zu deren Hilfe Pelopidas mit seinem Heer geeilt war. Die Thessalier hätten die Thebaner hierbei geradezu darum angefleht, die Bestattung übernehmen zu dürfen, um somit ihre Trauer und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen zu können. Die Thebaner waren an dieser Ehrung also nur insofern beteiligt, als dass sie der Bestattung und Ehrung des Pelopidas (und der anderen Gefallenen?) durch die Thessalier zustimmten.480 Dies hatte den immensen Vorteil, dass sie, ohne selbst tätig werden zu müssen, in
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‚Boiotisch‘ könnte sich sowohl auf das Alphabet/den Dialekt der Inschrift oder aber auf eine verantwortliche Institution oder Gruppe beziehen. Der Wechsel zur Verwendung des Ionischen in offiziellen Inschriften wird in Boiotien um die Schlacht von Leuktra angesetzt. Eine solch präzise Datierung, die eine dezidierte Entscheidung und keinen langsamen Wandel annimmt, ist freilich nicht haltbar, wenn auch weiterhin eine grobe Datierung des Wechsels in diese Zeit wahrscheinlich bleibt. S.o. Anm. 404 sowie unten 2. I. Thespiai. Siehe Paus. 9.15.6 sowie den Kommentar von deVottéro 2002, 86 Nr. 23. Vgl. Plut. Pelop. 33f. mit dem ausführlichen Kommentar bei Georgiadou 1997, 216–222. Pritchett 1985, 220 ist überzeugt, dass auch die restlichen Thebaner eine ähnliche Behandlung erfahren hätten. Wahrscheinlich wurden in der Tat auch die anderen Thebaner vor Ort bestattet, jedoch stand Pelopidas ganz klar im Zentrum der Verrichtungen und des Gedenkens, so wie dies auch für Epameinondas der Fall war. Deutlich wird dies auch darin, dass der Thessalische Bund zu Ehren des Pelopidas eine Statue in Delphi errichtete. Siehe Jacquemin 1999, 355 Nr. 465 und Mackil 2013, 423f. Nr. 10. Die Existenz dieser Statue bekräftigt auch die Historizität der Episode bei Plutarch, die in Anbetracht der Bestrebung des Biographen, Pelopidas nicht hinter Epameinondas zurückstehen zu lassen, ansonsten ange-
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Thessalien ein Monument erhielten, das stellvertretend durch Pelopidas die Kampf- und Opferbereitschaft der Thebaner für ihre Verbündeten und deren Freiheit zelebrierte. Möglicherweise wurde der gefallene Feldherr aber auch zusätzlich noch selbst geehrt: Eine Statuenbasis, die den 70er oder 60er Jahren des 4. Jh. v.Chr. zuzuordnen ist, wahrscheinlich aus Theben stammt und ein Epigramm trägt, das sie als Weihung für einen thebanischen Feldherrn identifiziert, könnte als Ehrung für Pelopidas gedient haben.481 Zwar muss die Zuordnung zu Pelopidas spekulativ bleiben, sollte sie aber zutreffen, würde dies bedeuten, dass die beiden zentralen Figuren des militärischen und politischen Aufstiegs der Thebaner im 4. Jh. v.Chr. beide nicht nur aufwendige Bestattungen am Ort ihres Schlachtentodes erhielten, sondern zudem noch zusätzliche Ehrungen in ihrer Heimatpolis. Dabei ist zu beachten, dass die Statue nicht von der polis geweiht wurde, sondern von einem Hippias, Sohn des Erotion, der wahrscheinlich als Boiotarch der 360er Jahre v.Chr. zu identifizieren ist und der die Weihung für Zeus Saotas (Soter) errichtete. Es handelte sich demnach also um eine private und keine ‚staatliche‘ Weihung, wenn auch Hippias dem Kreis der politischen Führung zuzuzählen war. Selbst wenn aber die Statue nicht Pelopidas geehrt haben sollte, bleibt immer noch die Tatsache bestehen, dass beide Feldherren nach ihrem Tod in der Schlacht außergewöhnlich aufwendige Grabmonumente erhielten, wenn auch eines wohl durch die polis Theben, das andere aber durch die verbündeten Thessalier errichtet wurde. Vor diesem Hintergrund der Fokussierung auf die ‚führenden Männer‘ der eigenen polis scheint kollektive Gefallenenkommemoration, wie sie die Gefallenenliste und die Wiedereinschreibung des Epigramms in den 370er Jahren v.Chr. nahelegen, zwar nicht ausgeschlossen, aber doch in verstärktem Maße in den Hintergrund zu rücken. Möglicherweise lassen sich hier zwei schnell aufeinander folgende Veränderungen in den Formen der Gefallenenkommemoration fassen. So wandten sich die Thebaner nach dem demokratischen Umsturz und dem Wiedererlangen der thebanischen und boiotischen Autonomie in den 370er Jahren zunächst der kollektiven Gefallenenkommemoration zu. Dieser Phase ließen sich die Gefallenenliste und die Aktualisierung des Monuments für die Gefallenen aus der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. zuordnen. Es wäre durchaus denkbar, dass die führenden demokratischen Politiker, die zwischen 381 und 379 v.Chr. in Athen im Exil verweilt hatten,482 hier-
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zweifelt werden könnte. S.o. Anm. 474. Nepos. Pelop. 5.5. berichtet schließlich noch, dass die Thessalier die Söhne des Pelopidas reich mit Land beschenkt hätten. Siehe Ducrey/Calame 2006 (ed. prin.); Knoepfler, in: BE 2009, 259; Mackil 2013, 416f. Die Datierung des Stückes erfolgt über die Identifikation des Stifters als Boiotarch in diesem Zeitraum sowie durch den historischen Kontext. Als Argument für die Identifikation des Honoranden als Pelopidas wird angeführt, dass die Statue ebenso wie jene für Pelopidas in Delphi von Lysipp angefertigt wurde. Vgl. u.a. Xen. Hell. 5.4.2 sowie weiter Gehrke 1985, 177f.
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bei bewusst auf das attische Vorbild zurückgriffen, um durch die ‚Einführung‘483 dieser neuen Praxis auch den Beginn einer neuen Ära für das thebanische Gemeinwesen zu markieren. Nach dem einschneidenden Sieg bei Leuktra und den anschließenden militärischen Erfolgen auf der Peloponnes und in Thessalien rückte dann die Kommemoration jener Männer, die für diesen Aufstieg Thebens verantwortlich waren, in den Fokus, während das Gedenken an die Masse der Gefallenen demgegenüber eine geringere Rolle einnahm. Aufgrund der Spärlichkeit der Quellen lässt sich diese Entwicklung nicht zweifelsfrei belegen. Doch würde sich auch das Epigramm für Xenokrates, Theompompos und Mnasilaos gut in dieses Modell einfügen. Dabei handelt es sich bei diesem Monument wohlmöglich nicht so sehr um ein Beispiel für die Kommemorationspraktiken der polis selbst, als vielmehr um eine Reaktion auf diese. Zumindest ließe sich so die letzte Zeile des Epigramms verstehen, die als Kritik an der Fokussierung der Erinnerung auf die Leistung einiger weniger Politiker oder Feldherren interpretiert werden kann.484 In diesen Kontext mag auch ein Statuenmonument einzuordnen sein, das der Thebaner Neon für seinen gefallenen Sohn Euanoridas stiftete. Erhalten ist die Basis der Statue, die aus schwarzem Kalkstein besteht und ein vierzeiliges Epigramm in ionischem sowie eine Stiftungsinschrift in boiotischem Dialekt trägt: Εὐφροσύνην ἤσκουν νέος ὢν [---] [τᾶς] ἐκ γυμνασίου σύντροφος ἁ[λικί]ας· θνήσκω δ᾽ ἐν πολέμῳ τιμωρῶν Δελφίδι χώρᾳ. [οὔνομα] δ᾽ εἴμι᾽ Εὐανορίδα[ς], πατρὸς δὲ Νέωνος.485
Der Stein wurde in der Kirche des Hl. Athanasios in Pyri bei Theben wiederverwendet und könnte sowohl als Grabmal oder aber auch als privates Ehrenmonument gedient haben. In der Kirche fanden sich neben dem vorliegenden Stück sowohl zwei Grabstelen als auch ein Votiv an Herakles Ploutodotes wiederverwendet.486 Die Spolien stammten also aus unterschiedlichen Kontexten, sodass auch hieraus kein eindeutiger ursprünglicher Aufstellungsort geschlussfolgert werden kann. Lediglich die Funktion als Weihung in einem Heiligtum kann vermutlich aufgrund des Fehlens eines Adressaten ausgeschlossen werden. Der Verweis auf die Aktivitäten 483
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Ich verwende den Begriff bewusst mit einiger Vorsicht, da keineswegs sicher ist, dass das Gefallenengedenken tatsächlich als konstante Praxis etabliert wurde. S.o. Anm. 471. IG VII 2537; GV 1106; ISE 68; deVottéro 2002, 87 Nr. 24; Cairon 2009, 158–161 Nr. 47 (mit weiteren, ausführlichen Literaturangaben). Eine gute Abbildung findet sich bei Kalliontzis 2014, 364 Abb. 18. Vgl. Symenoglou 1985, 267.
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des Euanoridas im Gymnasion könnte als Argument für eine Aufstellung an ebendiesem Ort genommen werden, jedoch ist die Verwendung als Grabmonument ebenfalls möglich. Immerhin wurde auch das Monument für Xenokrates und seine Kameraden in Pyri gefunden, wenn dies auch nicht automatisch ein Argument für einen ähnlichen Aufstellungskontext ist. Bezüglich der Datierung der Statuenbasis finden sich unterschiedliche Angaben: Die ältere Forschung schlug eine paläographische Datierung in das frühe 3. Jh. v.Chr. vor, die in der Folge von Luigi Moretti aufgegriffen wurde, der eine Assoziation des Monuments mit dem Kelteneinfall des Jahres 279 v.Chr. postulierte.487 Guy de Vottéro vertritt hingegen eine Datierung in die Mitte des 4. Jh. v.Chr. und schlussfolgert, dass Euanoridas im sog. Dritten Heiligen Krieg zwischen 356 und 346 v.Chr. gefallen sei.488 Beide Datierungen ließen sich mit dem Inhalt der Inschrift, die nur von der Verteidigung Delphis spricht, vereinbaren,489 jedoch ist m.E. Vottéros Vorschlag der Vorzug zu geben. Nicht nur hat er intensiv zu den Inschriften Boiotiens gearbeitet, ist damit einer der besten Kenner des Materials und besser für eine Datierung qualifiziert als die meisten vorherigen Bearbeiter, die die Inschriften im Rahmen größerer Corpora behandelten. Auch spricht die Mischung von ionischem Dialekt im Epigramm und boiotischem Dialekt in der Widmungsformel eher für eine Datierung ins 4. Jh. v.Chr.490 Euanoridas wurde demnach um die Mitte des 4. Jh. v.Chr. nach seinem Tod von seinem Vater mit einem privaten Monument geehrt, ebenso wie auch Xenokrates, Theompompos und Mnasilaos vermutlich postum eine solche Kommemoration von privater Hand erfuhren. Möglicherweise stellte das Denkmal für Euanoridas ebenfalls eine Reaktion auf die Fokussierung der Erinnerung auf Epameinondas und Pelopidas dar und versuchte, dem eigenen Angehörigen ein angemessenes Gedenken zu sichern. Allerdings finden sich diesbezüglich keine konkreten Hinweise in der Inschrift, die weder kritische Töne irgendeiner Art anschlug, noch einen derart starken Bezug zur polis herstellte wie das Monument für Xenokrates und seine Kameraden dies tat. Dennoch wurde auch Euanoridas klar innerhalb der Gemeinschaft verortet, indem sei-
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Peek datiert das Epigramm in GV 1106 auf den Anfang des 3. Jh. v.Chr. Morettis Vorschlag der Verknüpfung mit dem Kelteneinfall in ISE 68 wurde zuletzt auch von Cairon 2009, 159 aufgegriffen. Beide Autoren behaupten, diese Verbindung sei ‚ohne Zweifel‘ erwiesen. Allerdings können sie lediglich auf Paus. 10.20.3 verweisen, wo von einer großen Zahl an Boiotern berichtet wird, die zur Verteidigung des delphischen Heiligtums gegen die Kelten herbeieilten. Ein zweifelsfreier Beleg ist dies keineswegs. Siehe deVottéro 2002, 87. Weitere inhaltliche Hinweise bietet der Text nicht. Weder der Honorand und seine Verwandten noch der Künstler sind aus anderen Zeugnissen bekannt (siehe LGPN III B sowie DNO). Siehe die zahlreichen Inschriften in diesem Kapitel, die eine Mischung dieser beiden Dialekte/Alphabete aufweisen. Zwar lassen sich private Weihungen wie jene für Euanoridas nicht so präzise anhand dieses Kriteriums datieren wie offizielle Inschriften. Doch scheint mir eine solche Mischform dennoch eher dem 4. Jh. v.Chr. zuzuordnen als dem 3., wenn sich auch eine spätere Datierung nicht kategorisch ausschließen lässt. Siehe auch oben Anm. 404.
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ne Zugehörigkeit zu den neoi und seine Erziehung erwähnt wurde und damit auch impliziert wurde, dass sein Tod bei der Verteidigung von Delphi im Kontext seiner aktiven Teilhabe am Gemeinwesen zu sehen war. Auch wenn bezüglich der besprochenen Zeugnisse viele Fragen ungeklärt bleiben müssen und oftmals nicht sicher einzuschätzen ist, inwiefern gerade die literarischen Quellen ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Verhältnisse präsentieren,491 lassen sich doch einige Beobachtungen bezüglich des thebanischen Gefallenengedenkens im zweiten Viertel des 4. Jh. v.Chr. festhalten. So ist schon allein die Tatsache bemerkenswert, dass überhaupt Gräber und Monumente für Gefallene (und dazu noch in relativ großer Zahl) erwähnt werden, während sich in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. keinerlei Anzeichen von Gefallenenkommemoration in Theben finden, obwohl doch wahrlich häufig genug ein Anlass hierzu bestanden hätte. Zum Teil ist dieser Anstieg dadurch zu erklären, dass die antiken Autoren für diese Zeit vermehrt über Theben, seine Bewohner und Monumente berichteten, weil die polis eben auch eine weitaus gewichtigere Rolle im gesamtgriechischen Kontext spielte. Auch sind gewisse Veränderungen im epigraphic habit der Thebaner, die nicht zwingend unmittelbar mit den politischen Ereignissen der Zeit in Verbindung standen, nicht auszuschließen. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass die zeitliche Koinzidenz dieses Anstiegs der Belege von Gefallenenkommemoration mit dem politischen Wandel und militärischen Aufstieg Thebens auffällig ist und ein Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen daher wahrscheinlich scheint. Außerdem lässt sich beobachten, dass die Kommemoration der Gefallenen sich nach der Schlacht von Leuktra fast vollständig auf Einzelpersonen konzentrierte, während sie direkt nach dem demokratischen Umsturz stärker das gesamte Gemeinwesen in den Blick genommen zu haben scheint. Beim Gedenken an die Individuen stand nun nicht im Zentrum, dass die Geehrten im Krieg gefallen waren. Stattdessen wurden ihre anderen Leistungen für die polis betont und der Tod als Anlass genommen, auch dieser Verdienste zu gedenken. Im Fall des Epameinondas und des Pelopidas darf dabei die außenpolitische Komponente nicht vergessen werden, waren doch gerade ihre Gräber bei Mantineia bzw. Kynoskephalai besonders gut dazu geeignet, den Einfluss der Thebaner auf der Peloponnes bzw. in Thessalien sowie die Leistungen Thebens als ‚Befreier‘ der griechischen Staaten vor Augen zu führen. Sicherlich spielte dieser Aspekt auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, die beiden Feldherren so prominent am Ort ihres Todes zu bestatten bzw. die Beisetzung des Pelopidas durch die Thessalier zu erlauben. Das thebanische Gefallenengedenken konzentrierte sich also verstärkt auf die Leistung einzelner Personen und nahm nicht so sehr die breite Masse der Gefallenen in den Blick. Bemerkenswert ist aber immerhin auch, dass die Monumente stets deutlich machten, 491
Vgl. hierzu Shrimpton 1971a, passim.
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dass die individuelle Leistung nur zusammen mit dem Kollektiv möglich war und dass sie für die polis erbracht worden war. Auch die individuellen Monumente suchten demnach stets den Bezug zum Gemeinwesen. Obwohl mit dem Tod des Pelopidas und des Epameinondas auch Thebens Serie von militärischen und außenpolitischen Erfolgen recht schnell ein Ende fand, mangelte es doch in den anschließenden Jahrzehnten nicht an militärischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung der Thebaner. Neben dem sog. Dritten Heiligen Krieg und anderen regionalen Konflikten brachte seit der Mitte des Jahrhunderts vor allem die Konfrontation mit Philipp II. neue Unruhen, wenn auch die Thebaner sich die längste Zeit mit dem Makedonenkönig arrangierten. Dennoch sind aus dieser Zeit – das Monument für Euanoridas ausgenommen – weder Zeugnisse staatlicher noch privater Gefallenenkommemoration überliefert, sodass erst das thebanische Polyandrion für die 338 v.Chr. bei Chaironeia Gefallenen den nächsten bekannten Fall darstellt. Obwohl Teile des kolossalen marmornen Löwens, der das Grab zierte, bereits 1818 von englischen Reisenden entdeckt worden waren, begann die Ausgrabung des Polyandrion erst 1879 unter der Leitung von Panagiotis Stamatakis. Dieser verstarb allerdings, bevor er seine Ergebnisse publizieren konnte, sodass aus dieser Zeit lediglich ein knapper, wenn auch extrem wichtiger und nützlicher, Bericht aus der Hand von L. Phytalis vorliegt,492 der als Bildhauer an den Ausgrabungen und ersten, erfolgslosen, Bemühungen um eine Rekonstruktion des zerstörten Marmorlöwen beteiligt war. Die ersten umfangreicheren Berichte stammen daher erst von der Wende vom 19. zum 20. Jh., als das Grab erneut untersucht und schließlich auch Bezirk und Löwe rekonstruiert wurden.493 Es sind die Ergebnisse dieser Rekonstruktionsbemühungen, die der moderne Betrachter heute sieht, wenn er das Monument aufsucht. Der antike Befund, der sich den Ausgräbern 1879 noch weitgehend erhalten und ungestört darbot, bestand in einem 22,55m breiten und 13,45m langen Grabbezirk, der von einer 2,18m hohen Mauer aus lokalem Porosstein umgeben war. Die Umfassungsmauer verfügte über kein
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Siehe Phytalis 1880. Abgesehen von diesem Bericht finden sich nur wenige kurze Erwähnungen in den Praktika und in den Athenaion-Bänden dieser Jahre (siehe Ma 2008, 80 Anm. 53 und 54 für Details). An dieser Stelle soll nicht die gesamte umfangreiche und zerklüftete Forschungsliteratur zum Monument wiedergegeben werden, die sich oftmals in den hier irrelevanten und heuristisch insgesamt nur wenig wertvollen Fragen der Schlachtfeldarchäologie verrennt. Stattdessen sollen nur die wichtigsten Werke genannt werden; ganz zuvorderst Ma 2008, 79–87, der eine ausgezeichnete und detaillierte Beschreibung und Analyse des Befundes, inklusive ausführlicher Literaturangaben gerade auch zu den frühen Publikationen bietet. Seine Analyse und Interpretation werden im Folgenden ausgiebig diskutiert. Da eine genauere und gewissenhaftere Aufarbeitung der Literatur, als Ma sie mit seiner ausführlichen Konsultation von Archivakten und der Sichtung selbst entlegenster Werke und gar privater Korrespondenz geleistet hat, kaum möglich ist, verweise ich im Folgenden aus Gründen der Über-
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Fundament und setzte stattdessen direkt auf eine stark verbreiterte unterste Steinlage auf. Im Inneren des Bezirks an die Mauer angesetzt war die 3,65m x 4,3m messende Basis für den Löwen, die ebenfalls aus Poros gearbeitet und wie die Peribolosmauer von einer Lage aus demselben lokalen graublauen Marmor abgeschlossen wurde, der auch für den Löwen verwendet wurde.494 Letzterer war in ausreichend großen Fragmenten erhalten, sodass seine ursprüngliche Haltung – sitzend und den Kopf leicht nach rechts gedreht – rekonstruiert werden konnte. Unklar ist, ob im Innern des Grabbezirks ursprünglich noch ein Grabhügel aufgeschüttet war. Die weit in den Bezirk hereinreichende Basis des Löwen und die Gestaltung des Eingangs, die ein Betreten des umfassten Areals vorzusehen scheint, lässt jedoch hieran zweifeln.495 Die ersten Ausgräber legten im Innern des Bezirks einige Schnitte an, die weitestgehend keine Funde lieferten, schließlich aber in der nordwestlichen Ecke doch noch eine große Zahl von Gebeinen offenlegten.496 Eine Erweiterung des Schnittes führte auf einer Fläche von 4,55m x 6,3m die Gebeine von 254 Toten zu Tage, die dort in drei Reihen à sieben Mann und in mehreren ‚Lagen‘ übereinander bestattet worden waren. Zwischen den Gebeinen wurden auch die Reste der Kremation eines oder mehrerer Männer gefunden, die aber wohl einer späteren Beisetzung angehören.497 In einer Vielzahl der Fälle ließen sich an den Gebeinen deutliche Kampfspuren erkennen, sodass nicht bezweifelt werden kann, dass die hier bestatteten Männer tatsächlich in einer Schlacht gefallen waren. Den Toten waren nur wenige simple Beigaben in Form von einigen Münzen und wenig Keramik mitgegeben. In größerer Zahl fanden sich lediglich simple Strigiles. Während also eindeutig nachgewiesen ist, dass es sich bei dem vorliegenden Monument um ein Gefallenengrab handelte, ist in der Forschung durchaus umstritten, wer dort eigentlich bestattet wurde. Zumeist wird hierbei diskutiert, ob in dem Polyandrion alle gefallenen Thebaner
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sichtlichkeit häufig nur auf Mas Publikation, der dann weitere Literaturangaben entnommen werden können. Neben diesem Artikel ist die frühe Publikation von Phytalis 1880, auf die bereits hingewiesen wurde, von unschätzbarem Wert, da sie wichtige Hinweise zum ursprünglichen archäologischen Befund liefert, die in den späteren Publikationen oft keine Erwähnung mehr finden. Mit besonderer Relevanz für die vorliegende Untersuchung seien zudem Clairmont 1983, 240–242 Nr. 77d sowie Pritchett 1985, 136–138; 222–226 genannt. Ma 2008, 81 merkt an, dass Phytalis’ Zeichnung (ebd. Taf. 5b abgebildet) nahelegt, dass die Basis nur angesetzt war und nicht in die Mauer einband. Dennoch meint er, Mauer und Basis seien zeitgleich entstanden und auch die Übereinstimmungen in Material und Aufbau legen dies nahe. Phytalis’ Plan (Ma 2008, Taf. 5.b) zeigt, dass direkt gegenüber des Eingangs die Rückwand der Basis verlängert wurde, sodass ein Besucher nicht direkt in den Bezirk hineinblicken oder hereingehen konnte, sondern zunächst links und dann nochmals rechts um die Ecke gehen musste, um in den Hauptteil des Bezirkes zu gelangen. Diese Lenkung des Besuchers legt nahe, dass das Innere des Bezirkes durchaus zu betreten war und eben nicht von einem Tumulus aufgefüllt war. Die Position der Schnitte ist auf der Zeichnung von Phytalis (a.a.O.) gut zu erkennen. Siehe hierzu Ma 2008, 82 mit Anm. 73. Phytalis’ Bericht ist hier nicht ganz eindeutig, jedoch fanden sich die Reste der Kremation wohl in einer jüngeren Schicht.
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bestattet wurden oder lediglich die Opfer der Heiligen Schar. Vereinzelt wurde jedoch auch vorgeschlagen, dass das Grab gar die toten Makedonen aufgenommen habe.498 Die Unsicherheit bezüglich der Identifikation resultiert aus der Tatsache, dass am Grab selbst keine Inschrift oder sonstige eindeutige Hinweise gefunden wurden. Zwar verweist Pausanias,499 der das Grab knapp beschreibt und als jenes der Thebaner, die gegen Philipp gefallen waren, identifiziert, explizit darauf, dass sich hier keine Inschrift gefunden habe. Doch argumentieren die Befürworter der Makedonen-These, dass Pausanias hier wie auch an anderen Stellen einer Fehlinformation aufgesessen sein könnte, als ihm berichtet wurde, es handele sich um das Grab der Thebaner. Dennoch aber lassen sich einige gewichtige Gründe anführen, weshalb die Identifikation als Grab der Makedonen ausgeschlossen werden kann. So war es zunächst einmal nicht üblich, dass die Makedonen für ihre Gefallenen monumentale Grabmäler errichteten. Freilich bestatteten sie ihre Toten nach einer Schlacht, doch die Monumentalisierung eines ihrer Polyandrien ist nicht überliefert.500 Zudem wurde 1913 im östlichen Teil der Ebene ein großer Grabhügel entdeckt, der die kremierten Überreste einer großen Zahl gefallener Krieger enthielt, und der aufgrund der beigegebenen charakteristischen Waffen (Sarissen) und Gegenstände überzeugend als Grab der Makedonen identifiziert wird.501 Überdies scheint nur schwer vorstellbar, dass Pausanias bezüglich eines derart berühmten Monumentes falsch informiert worden sein solle. Auch wenn Pausanias demnach in der Identifikation des Grabes sicherlich richtig lag, sind damit noch nicht alle Probleme bezüglich der Identifikation der dort Bestatteten geklärt. So lässt sich Zahl der 254 Toten nur schwerlich mit den zu vermutenden Verlusten der Thebaner übereinbringen, berichten die antiken Quellen doch, dass alleine auf Seiten der Athener 1000 Bürger fielen und dass zudem alle Mitglieder der 300 Mann starken Heiligen Schar der Thebaner umkamen.502 Da nun davon auszugehen ist, dass neben der Elitetruppe auch reguläre Hopliten der Thebaner in der Schlacht den Tod fanden, muss man also mit deutlich mehr als 300 Gefallenen rechnen.503 Demnach aber könnte das Grab bei Chaironeia niemals allen Soldaten, die die Thebaner hier verloren hatten, gegolten haben. Stattdessen argumentieren die meisten Autoren 498
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So unter anderem Hammond 1938, 216–218, der meint, hier seien lediglich jene Makedonen bestattet, die auf Philipps rechtem Flügel gefallen waren. Paus. 9.40.10. Zahlreiche Quellen berichten davon, wie Philipp und vor allem Alexander sich ganz dezidiert ihrer Gefallenen annahmen und dabei zum Teil auch keine Umstände und Mühen scheuten. Dennoch wird nirgendwo ein monumentales Grab wie das hier besprochene erwähnt. Siehe Liv. 31.34.1–5; Arr. 1.16.4f.; 2.12.; 7.10.4. Vgl. auch Pritchett 1985, 226f. Die zahlreichen Gründe und Argumentationslinien können hier nicht alle dargelegt werden. Wiederum bietet Ma 2008, 73–78 sowohl eigene Argumente wie auch einen Überblick über die frühere Forschung. Vgl. auch Sotiriadis 1903, 312f.; Pritchett 1985, 138; Clairmont 1983, 242 Nr. 77e. Siehe Diod. Sic. 16.86.5; Plut. Pelop. 18.5. So auch Ma 2008, 83.
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für die naheliegende Lösung, das Grab habe nur die Gefallenen der Heiligen Schar aufnehmen sollen. Die Zahl von 300 Toten sei dabei möglicherweise nicht erreicht worden, weil einige der Leichname nicht auffindbar bzw. identifizierbar waren oder weil einige Mitglieder der Schar die Schlacht eben doch überlebt hatten.504 Demgegenüber beharrt aber etwa David Leitao darauf, dass weder Pausanias noch Plutarch, der sich ausführlich zum Schicksal des hieros lochos in der Schlacht äußert, das Grab als Bestattung nur der Heiligen Schar identifizieren. Daher sei eben doch davon auszugehen, dass hier alle gefallenen Thebaner beigesetzt wurden.505 Vertreter dieser These könnten argumentieren, dass der Bezirk aus Gründen, die noch dargelegt werden sollen, nicht exakt über der eigentlichen Begräbnisstätte errichtet wurde, sodass ein Teil der Toten außerhalb der Ummauerung bestattet liegen könnte.506 Die Frage, ob in dem Bezirk alle thebanischen Gefallenen oder nur jene der Heiligen Schar begraben liegen, hat schließlich auch eine politische Dimension. Der Großteil der modernen Autoren bezweifelt nämlich zu Recht, dass Philipp den Thebanern direkt nach der Schlacht gestattet hätte, ein derart massives und prächtiges Monument für ihre Toten zu errichten, oder aber auch, dass die Thebaner in ihrer prekären Situation ein solches Denkmal überhaupt hätten errichten können oder wollen.507 In der Tat agierte Philipp nach der Schlacht äußerst hart gegenüber den Thebanern, die lange Zeit gute Beziehungen zu den Makedonen unterhalten hatten, bevor sie sich dann 339 oder 338 v.Chr. doch auf die Seite der antimakedonischen Koalition griechischer poleis schlugen. Während er bemüht war, mit den Griechen und insbesondere den Athenern aber auch den restlichen Boiotern Frieden zu schließen, zeigte er den Thebanern deutlich, dass er sich von ihnen verraten fühlte. Nicht nur gründete er mit Thespiai, Plataiai und Orchomenos eben jene Städte wieder, die die Thebaner im Zuge ihres Aufstiegs zum Hegemon Boiotiens zerstört hatten und die Theben dementsprechend feindlich gesonnen waren. Auch legte er eine Garnison in die Kadmeia, verhalf der prokamedonischen Partei in Theben an die
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So etwa Pritchett 1985, 223; Clairmont 1983, 24 und zuletzt auch Ma 2008, 83. Auch DeVoto 1992, 18 äußert sich entsprechend, gibt aber fälschlicherweise an, dass Pausanias und Strabon (9.2.37) das Grab als das der Heiligen Schar identifizieren würden. Pausanias bezeichnet es aber, wie bereits erwähnt, nur als Grab der Thebaner und Strabon spricht nur von einem Grab ‚für die Gefallenen‘. Siehe Leitao 2002, 149. Er bezieht sich dabei auf Plut. Pelop. 18.5. Plutarch, der selbst in Chaironeia geboren wurde, erwähnt überhaupt kein Grab und es ist problematisch, aus seinem Schweigen ein Argument in die eine oder die andere Richtung konstruieren zu wollen. Vgl. Ma 2008, 83f. In der Tat findet sich kein anderer Punkt in der Diskussion des Monuments, in dem derartige Übereinstimmung herrscht. Siehe alleine Sotiriadis 1903, 311f.; Hammond 1938, 216–218; Knigge 1976, 170f.; Pritchett 1985, 223; Clairmont 1983, 241; Schilardi 1977, 57f.; Ma 2008, 83. Jeder, der einmal selbst das mächtige Monument in seiner rekonstruierten Form oder zumindest ein Foto, das seine Dimensionen verdeutlicht, gesehen hat, wird verstehen, warum die Errichtung im Jahr 338 v.Chr. bezweifelt wird.
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Macht und brachte die Stadt somit unter seine Kontrolle.508 Vor allem aber berichten Plutarch und Justin, Philipp habe nach seinem Sieg bei Chaironeia die Herausgabe der thebanischen Toten zunächst verweigert, während er den anderen Griechen sofort gestattet habe, ihre Gefallenen zu bergen. Justin behauptet gar, die Thebaner hätten ihre Toten gegen eine Zahlung auslösen müssen.509 Selbst wenn nun diese späten Berichte Plutarchs und Justins nicht den Tatsachen entsprechen sollten, lässt der harsche Umgang Philipps mit den Thebanern, der sich auch in anderen Quellen und nicht zuletzt in den Ereignissen des Jahres 335 v.Chr. bestätigt findet, stark bezweifeln, dass der Makedonenkönig die Errichtung eines solchen pompösen Grabmals direkt nach der Schlacht zugelassen hätte. Auch bezüglich dieser Frage sieht eine ganze Reihe von Autoren die Lösung darin, dass in dem Grab eben nur der hieros lochos bestattet worden sei. Mit Verweis auf eine Szene aus Plutarchs Vita des Pelopidas, in welcher Philipp beim Anblick der gefallenen Elitetruppe in Tränen ausbricht,510 argumentieren sie, dass der König die monumentale Bestattung nur dieser Truppe gestattet habe, weil er solche Bewunderung für ihre Leistung und ihren Mut empfunden habe.511 Nun muss diese Episode bei Plutarch und der hieran geknüpfte Erklärungsversuch in Anbetracht der Disposition und Zielsetzung des Autors512 sowie mit Blick auf die anderen, bereits zitierten Zeugnisse aber mit einiger Skespis betrachtet werden. Statt daher diese Problematik mit der Bewunderung Philipps für die Heilige Schar ‚wegargumentieren‘ zu wollen, gilt es alternative Lösungsansätze zu verfolgen. Der plausibelste Vorschlag wurde bereits 1903 von Georgios Sotiriadis unterbreitet, der der Überzeugung war, dass die gefallenen Thebaner zwar direkt nach der Schlacht bestattet worden seien, das Grab aber erst zu einem späteren Zeitpunkt in seiner monumentalen Form gefasst wurde.513 Nicht nur lässt sich diese Interpretation problemlos mit der harten Haltung Phlipps gegenüber den Thebanern vereinbaren, auch könnte sie einige Spezifika des archäologischen Befundes erklären. So weist Sotiriadis darauf hin, dass die Toten
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Vgl. Harris 1995, 134; Mackil 2013, 86 und auch schon Sotiriadis 1903, 311f. Siehe Plut. mor. 849A und Justin 9.4.6. Diod. Sic. 16.86.6 berichtet zwar, Philipp habe ‚die Toten‘ (ohne Spezifizierung der Herkunft) direkt nach der Schlacht freigegeben. Da seine Erzählung sich aber vermutlich aus athenischen Quellen speist, mag er hier nur ein unvollständiges Bild zeichnen und nicht für die Thebaner sprechen. Plut. Pelop. 18.5. So Pritchett 1985, 223; DeVoto 1992, 18; Clairmont 1983, 241. Plutarch geht es bei dieser Erzählung vor allem darum, die Einzigartigkeit und Tapferkeit der einst von Pelopidas geführten Elitetruppe zu veranschaulichen. Er selbst berichtet dann auch nicht von der Bestattung der Schar, die schließlich auch in Widerspruch zu seiner Behauptung an anderer Stelle (mor. 849A) stehen würde. Siehe Sotiriadis 1903, 311f. Der Gedanke scheint ihm dabei so selbstverständlich, dass er ihn gar nicht mehr explizit formuliert, sondern ihn als Randbemerkung einwirft. Ihm folgen auch Knigge 1976, 170f. und Ma 2008, 84.
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nur hastig und mit einem Mindestmaß an Sorge bestattet worden seien und nennt hierbei die Körperbestattung sowie die geringe Zahl und einfache Natur der Beigaben als Indizien. Diese Umstände allein können noch nicht als Beleg für eine schnelle Bestattung genommen werden, zeigen Vergleichsbeispiele doch, dass beide Formen durchaus auch bewusst gewählt worden sein könnten.514 Jedoch finden sich noch andere Indizien: Wie bereits erwähnt wurde, waren sowohl die Umfassungsmauer als auch die Basis für den Löwen ohne ein Fundament errichtet worden und saßen stattdessen direkt mit einer extra breiten untersten Lage von Steinen auf dem Boden auf. Dies ließe sich erklären, wenn die Umfassungsmauer erst nachträglich auf dem Grab errichtet wurde und die Erbauer dabei auf ein Fundament verzichteten, um nicht die Gebeine der Bestatteten zu stören.515 Zudem könnte hierin die Begründung für die relativ niedrige Zahl der Bestatteten liegen. Möglicherweise konnten nämlich die Erbauer das eigentliche Grab nicht mehr ganz genau lokalisieren, sodass der Grabbezirk nicht genau über der Stelle errichtet wurde, an der die Gefallenen zuvor bestattet worden waren. Der Bezirk hätte dann das Grab nur geschnitten, sodass ein Teil der eigentlichen Bestattung außerhalb der Mauer lag. Da das Gebiet außerhalb der Umfassung nie systematisch ergraben oder anderweitig untersucht wurde, wäre dies durchaus ein mögliches Szenario, das dann zudem die Diskussion um die Identität der Bestatteten neu eröffnen würde, wäre es dann doch auch möglich, dass deutlich mehr als 300 Gefallene hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.516 Lediglich die Kongruenz zwischen der Ausrichtung des Bezirkes und der Lage der Toten mag gegen letztere These sprechen und als Argument dafür genommen werden, dass die Erbauer der Mauer sehr wohl wussten, wo die Toten genau lagen. Auch wenn aber dieser Punkt sind nicht klären lässt, stellt die Annahme einer späteren Monumentalisierung des Grabes in jedem Fall die wahrscheinlichste Lösung für die oben beschriebenen Unstimmigkeiten dar. Daher muss als nächster Schritt nach der Datierung dieser Monumentalisierung und Aktualisierung gefragt werden. Ausgeschlossen werden kann mit einiger Sicherheit, dass diese vor der Zerstörung Thebens im Jahr 335 v.Chr. vorgenommen worden sein soll, blieben die Beziehungen zwischen den Thebanern und den Makedonen in der Zwischenzeit doch angespannt. Schon alleine die explosiven Reaktionen des Jahres 335 v.Chr. verdeutlichen die starken Ressentiments auf beiden Seiten. Damit aber bleiben nur zwei Anlässe übrig, zu denen die Monumentalisierung und Aktualisierung des Grabes möglich und sinnvoll gewesen wäre: Die Neugründung der Stadt durch Kassander 514
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Einen ähnlichen Befund bietet etwa das Grab der Plataier in Marathon. Hingegen wurden die 424 v.Chr. beim Delion gefallenen Thespier kremiert und mit Grabbeigaben geehrt. Wie bei den privaten Bestattungen konnten die Bestattungsformen und die Menge und der Wert der Beigaben wohl variieren. Vgl. o. Anm. 337. So auch Ma 2008, 82 und 84. Ma 2008, 84 erwähnt nur die Möglichkeit einer weiteren Reihe Toter, obwohl nichts gegen mehrere nicht-entdeckte Reihen spräche.
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316 v.Chr. oder die Wiederaufnahme Thebens in das Boioitische Koinon 285 v.Chr. Während Ursula Knigge in dieser Frage überzeugt ist, dass es die Neugründung Thebens gewesen sein müsse, die zur Monumentalisierung des Grabes führte, legt John Ma dar, dass sich für beide Versionen gute Argumente finden, die eine Entscheidung nur schwer möglich machen.517 So sei die Errichtung des Grabbezirks auf der einen Seite als Teil einer revisionistischen Politik des Kassander vorstellbar, der den Bau möglicherweise nicht nur gegenüber den anderen Boiotern durchgesetzt, sondern auch finanziell unterstützt habe. Auf der anderen Seite hätte die Reintegration Thebens in das koinon der Boioter die Errichtung des Monuments möglich gemacht und die Überwindung der Spaltung der Boioter demonstrieren können. Dieser sehr gewissenhaften Diskussion Mas ist prinzipiell zuzustimmen. In der Tat lassen sich beide Ereignisse als Anlass der Monumentalisierung plausibel machen. Jedoch fokussiert Ma in seiner Diskussion übermäßig auf die Frage, welchen Anteil Kassander an der Errichtung des Grabbezirks gehabt haben könnte. Obwohl dieser nämlich in vielen Bereichen durchaus demonstrativ eine Revision der Politik Philipps und Alexanders unternahm,518 muss doch gefragt werden, ob er so weit gegangen wäre, mit der Monumentalisierung des Grabes bei Chaironeia aktiv eine neue Einordnung eben jener Schlacht vorzunehmen, die Philipp die Vorherrschaft über Griechenland gebracht hatte. Immerhin leitete Kassander selbst seine Position ebenfalls von der makedonischen Königsherrschaft ab, und während eine Änderung in der Form der Ausübung der makedonischen Hegemonie in seiner Lage durchaus sinnvoll war, scheint eine Infragestellung, als welche das Monument in Chaironeia hätte verstanden werden können, unwahrscheinlich.519 Plausibler ist hingegen, dass die Initiative für die Monumentalisierung von den Thebanern selbst ausging und von Kassander geduldet, jedoch nicht direkt gefördert wurde. In Anbetracht der materiellen Unterstützung, die den Thebanern für die Neugründung ihrer Stadt aus dem gesamten Mittelmeerraum zugekommen war,520 darf gemutmaßt werden, dass sie zudem zumindest für die Finanzierung des Monuments wohl kaum auf die Hilfe Kassanders angewiesen gewesen wären.
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Vgl. Knigge 1976, 170f. und Ma 2008, 84. Auch Diodor (17.118.2) und Pausanias (9.1) bescheinigen ihm eine solche Politik, wenn diese Aussagen auch einer dem Kassander gegenüber kritisch bis feindlich eingestellten Tradition entsprangen. Die klare Absetzung von der Politik Philipps und Alexanders lässt sich aber auch anderweitig festmachen. Siehe hierzu Hammond/Walbank 1988, 144–146. Vgl. Gullath 1982, 104–107 zur Bedeutung des Wiederaufbaus für Kassander. Dort macht sie deutlich, dass Kassander schon mit der Entscheidung zur Neugründung gefährliches Terrain betrat. Siehe beispielsweise Diod. Sic. 19.54.1–3 und Paus. 9.1. Eine ausführliche Aufstellung der bekannten Spenden und Spender findet sich bei Gullath 1982, 89–97.
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Nun resultiert aus diesen Überlegungen keinesfalls der Schluss, dass eine Errichtung des Grabbezirks eher im Kontext der Neugründung Thebens zu verorten wäre als in Zusammenhang mit der Wiederaufnahme in den Boiotischen Bund. Allerdings mag hier ein weiteres, meist nur wenig beachtetes Monument, einen entscheidenden Hinweis liefern. In seiner Beschreibung Thebens erwähnt Pausanias nahe eines der Stadttore auch ein Polyandrion für jene, die 335 v.Chr. bei der Verteidigung der Stadt gegen Alexander gestorben waren: πολυάνδριον δὲ οὐ μακρὰν ἀπὸ τῶν πυλῶν ἐστι: κεῖνται δὲ ὁπόσους κατέλαβεν ἀποθανεῖν Ἀλεξάνδρῳ καὶ Μακεδόσιν ἀντιτεταγμένους.521
Nähere Details liefert der Perieget nicht und da das Grab bisher auch nicht im archäologischen Befund lokalisiert werden konnte,522 müssen viele grundlegende Fragen unbeantwortet bleiben. So lässt sich beispielsweise weder klären, ob die Toten von den überlebenden Bewohnern der Stadt bestattet wurden oder aber von den Makedonen, noch ob tatsächlich nur die Krieger, die sich den Truppen Alexanders entgegengestellt hatten, beigesetzt wurden oder auch Zivilisten, die bei der Zerstörung der Stadt umgekommen waren.523 Dennoch aber mag Pausanias’ Bericht einen wichtigen Hinweis in sich bergen. Der Fakt, dass er das Grabmal noch Jahrhunderte nach den Ereignissen nicht nur noch sehen, sondern auch identifizieren konnte, kann nämlich in sich als Indiz dafür genommen werden, dass es sich um ein Grab monumentaler Form handelte.524 Da aber auch in diesem Fall eine Monumentalisierung oder auch nur eine aufwendigere Bestattung direkt nach dem Ereignis schwer vorstellbar ist, dürfte es sich wohl erneut um eine nachträgliche Maßnahme gehandelt haben. Der wahrscheinlichste Kontext für eine solche Aktualisierung wäre dann aber in jedem Fall die Neugründung der Stadt gewesen. Möglicherweise ließe sich nun ein Zusammenhang zwischen dem Grabmal bei Chaironeia und jenem für die Toten des Jahres 335 v.Chr. herstellen und folgendes Szenario rekonstruieren: Sowohl nach der Schlacht 338 v.Chr. als auch nach der Zerstörung der Stadt 335 v.Chr. wurden 521 522 523
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Paus. 9.10.1. Von einem erfolglosen Versuch berichtet lediglich Keramopoullos, in: Arch.Delt. 3 (1917), 314f. Pausanias’ Beschreibung scheint anzudeuten, dass hier nur Thebaner bestattet wurden, die sich den Makedonen aktiv entgegenstellten. Diod. Sic. 17.13f. und Ael. var. Hist. 13.7, die offensichtlich auf einen gemeinsamen Traditionsstrang zurückgehen, berichten von 6000 toten Thebanern. Gullath 1982, 64–66 schätzt diese Zahl als durchaus realistisch ein, wenn sie auch glaubt, sie schlösse Zivilisten ein. Auch die Tatsache, dass das Grab sich so lange Zeit an einer derart prominenten Stelle halten konnte, könnte hierfür sprechen, waren doch gerade die Bereiche um die Tore häufigen und einschneidenden Veränderungen ausgesetzt. Vgl. etwa die Situation im Kerameikos und die großen Hügelgräber dort, die selbst nicht mehr zugeordnet werden können, die aber jüngeren Gräbern als Sammelpunkte dienten.
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die Toten sofort an Ort und Stelle bestattet. Kurz nachdem die polis im Jahre 316 v.Chr. auf Betreiben Kassanders und mit der Unterstützung einer ganzen Reihe anderer (Stadt)Staaten neu gegründet und der Wiederaufbau begonnen worden war, entschlossen sich die Thebaner dann dazu, die Gräber für die Toten des Abwehrkampfes gegen die Makedonen zu monumentalisieren. Hiermit verbanden sie unterschiedliche Zwecke. Auf der einen Seite demonstrierten sie gerade mit dem Grab für die Toten von 335 v.Chr. das Fortbestehen und die Persistenz des thebanischen Gemeinwesens. Indem sie an die Geschichte der polis und ihre historisch gewachsenen Werte und Traditionen anknüpften und wahrscheinlich in einem gemeinsamen Ritual für die Toten aktiv an ihnen partizipierten, förderten sie die Integration und Kohäsion der erst wieder zusammenfindenden Bürgerschaft. Auf der anderen Seite wurde der Kontinuitätsanspruch durch das Monument bei Chaironeia auch nach außen kommuniziert und zudem Thebens Rolle im panhellenischen Kampf für Autonomie und Freiheit demonstrativ in Szene gesetzt. Gerade diese Sendung nach außen war mit Blick auf Thebens geopolitische Lage von größter Bedeutung, hatten doch Philipp und Alexander mit Thespiai, Plataiai und Orchomenos gleich drei erbitterte Erzfeinde der Thebaner in deren unmittelbarer Nähe restituiert.525 In dieser Situation tat der ehemalige Hegemon Boiotiens gut daran, sich die Unterstützung auswärtiger Verbündeter zu sichern. Als zusätzlicher Anreiz für die Errichtung des Monuments bei Chaironeia mag dabei gewirkt haben, dass mit der Kommemoration der thebanischen Leistungen für den panhellenischen Freiheitskampf wohlmöglich auch endlich die ‚Scham des Medismos‘ in den Perserkriegen abgeworfen bzw. aufgewogen werden konnte. Schließlich muss schon den antiken Betrachtern die Ähnlichkeit sowohl zum Löwenmonument des Leonidas bei den Thermopylen526 als auch zum Grab der 424 v.Chr. beim Delion gefallenen Thespier, das durchaus auch als Monument für den Kampf gegen externe Unterdrückung verstanden werden konnte,527 aufgefallen sein. Immerhin hatten auch andere Zeitgenossen, wie nicht zuletzt Demosthenes, den Freiheitskampf gegen die Perser bereits mit dem Widerstand gegen die Makedonen gleichgesetzt.528 Zweifelsohne handelt es sich hierbei um eine stark hypothetische Rekonstruktion der Ereignisse, deren Nachweis einer breiteren Quellenbasis bedürfte. Dennoch aber scheint sie nicht nur mit Blick auf die spezifische historisch-politische Lage plausibel, in der sich Theben im letzten
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Dass ein Großteil der Boioter noch Ressentiments gegenüber Theben hegte, zeigt sich schon allein in der langsamen Wiederaufnahme der Kooperation mit Theben und der späten Reintegration in das Koinon. Auch Cooley 1904, 131 weist auf die Parallelen in der Form hin sowie darauf, dass sowohl an den Thermopylen als auch bei Chaironeia ein „devoted band“ bis auf den letzten Mann für die griechische Sache gefallen sei. Siehe hierzu unten 2. I. Thespiai. Siehe Demost. 18.208 sowie Ma 2008, 85f., der sich ausführlich zu den Ähnlichkeiten der Monumente äußert. Bereits vor ihm kommentieren dies u.a. auch Schilardi 1977, 57f.; Clairmont 1983, 241.
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Drittel des 4. Jh. v.Chr. befand. Auch zeigen zahlreiche andere Beispiele, dass das Gefallenengedenken häufig in enger Verbindung stand mit einem starken oder wiedererstarkten Bewusstsein der eigenen Autonomie und Handlungsfähigkeit. In dieser Hinsicht würde die vorgeschlagene Rekonstruktion also ebenfalls sehr gut zur Situation Thebens nach der Neugründung passen. Was lässt sich nun anhand der besprochenen Zeugnisse über das Gefallenengedenken in Theben zwischen den Perserkriegen und dem Beginn der hellenistischen Königsherrschaften sagen? Zunächst kann festgehalten werden, dass hier keine konstante Entwicklung nachzuvollziehen ist. So ist aus dem 5. Jh. v.Chr. lediglich ein Zeugnis staatlicher Gefallenenkommemoration bekannt, auf das eine lange Periode folgt, aus der keinerlei Belege solcher Vorkehrungen überliefert sind. Koinzident mit dem militärischen und politischen Aufstieg Thebens in den 70er und 60er Jahren des 4. Jh. v.Chr. findet sich dann auch eine Häufung der Zeugnisse von staatlicher wie auch privater Gefallenenkommemoration, wobei sich möglicherweise die oben geschilderte Entwicklung vollzog, die hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden soll. Auf diesen temporären Anstieg folgt schließlich erneut eine Phase des Schweigens der Quellen. Dieses wird erst durch die Grabmäler für die Gefallenen der Schlacht von Chaironeia und für die Opfer der Zerstörung Thebens gebrochen, die vielleicht beide einer gemeinsamen Anstrengung der Thebaner zuzuordnen sind. Demnach finden sich keine Hinweise auf eine kontinuierliche Praxis, die Gefallenen der polis von offizieller Seite aus zu kommemorieren. Vielmehr lässt sich nur jene kurze Phase im 2. Viertel des 4. Jh. v.Chr. ausmachen, in welcher der Gefallenen in prominenter Weise durch die polis gedacht wurde. Jene Monumente, die sich am Anfang und am Ende des Untersuchungszeitraumes fassen lassen, sind demgegenüber wohl lediglich als Einzelaktionen zu sehen, die einer akuten Situation entsprangen, nicht aber einer etablierten Praxis. Insbesondere der singuläre Beleg im 5. Jh. v.Chr. ist, selbst in Anbetracht der insgesamt äußerst dürftigen Quellenlage, auffällig. Möglicherweise spielt hierbei der Ausschluss der Thebaner von der Kommemoration der Perserkriege eine entscheidende Rolle. Gerade die Kommemoration der Gefallenen des griechischen Abwehrkampfes gegen Xerxes und Mardonios scheint nämlich in einigen griechischen poleis ausschlaggebend für die Etablierung staatlichen Gefallenengedenkens gewesen zu sein. Es gilt daher, diesen Punkt in den übergreifenden Betrachtungen im letzten Hauptteil nochmals genauer zu thematisieren. Charakeristisch ist für die thebanischen Kommemorationspraktiken zudem, dass dem Individuum und seiner Leistung offensichtlich viel Raum zugestanden wurde. Dies zeigt sich sowohl in der behandelten Ode Pindars als auch in den staatlichen wie auch den privaten Monumenten der Zeit nach der Schlacht von Leuktra. Die Alternative bestand dabei wohl in der völligen Ausblendung der Individuen, wie sie sich für das Monument des 5. Jh. v.Chr. und die Gräber für die Siehe auch die Diskussion im 3. Hauptteil.
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Toten der Jahre 338 und 335 v.Chr. zumindest suggeriert. Eine Form wie die in anderen poleis häufig anzutreffenden Gefallenenlisten, in denen die Gemeinschaft als Summe ihrer Individuen präsentiert wurde, findet sich in Theben höchstens in einem Fall aus den 370er Jahren v.Chr., der aber zudem nicht sicher als Gefallenenmonument zu identifizieren ist. Es liegt nahe, diese Beobachtung mit der spezifischen soziopolitischen Ordnung Thebens und dem thebanischen Verständnis der Rolle des Individuums innerhalb des Gemeinwesens in Verbindung zu setzen. Auch diesen Punkt werde ich in den übergreifenden Betrachtungen, die das volle Potential des komparatistischen Ansatzes ausnutzen sollen, ausführlich diskutieren.
Thespiai Thespiai stellt schon alleine deswegen eines der interessantesten Fallbeispiele der vorliegenden Untersuchung dar, weil sich hier das Grab für die gefallenen Thespier der Schlacht am Delion befindet, welches zu den am besten erhaltenen Gefallenengräbern der klassischen Zeit zu zählen ist.529 Darüber hinaus findet sich aber noch eine signifikante Anzahl weiterer Fälle von Gefallenenkommemoration in dieser boiotischen polis, die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen. Wiederum stammt der früheste Beleg aus der Zeit des Abwehrkampfes der Griechen gegen die Perser. In seinen Ethnika überliefert der spätantike Lexikograph Stephanos von Byzanz unter dem Stichwort „Θέσπεια“ ein Epigramm, welches ‚die von den Persern Getöteten‘ kommemoriert habe und Philiades aus Megara zuzuschreiben sei. Es lautet: ἄνδρες θ’ οἳ ποτ’ ἔναιον ὐπὸ κροτάφοις Ἑλικῶνος, λήματι τῶν αὐχεῖ Θεσπιὰς εὐρύχορος.530
Einstimmig schlussfolgerte die moderne Forschung, dass es sich bei den Toten, die durch das Epigramm geehrt wurden, um jene 700 Thespier gehandelt haben müsse, die laut Herodot zusammen mit den Spartanern und den Thebanern den Persern an den Thermoyplen bis zum Schluss Widerstand geleistet hatten.531 Herodot selbst beschreibt kein Epigramm für die The529
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Zumindest war es zum Zeitpunkt der archäologischen Erfassung und Untersuchung noch zu diesen Gräbern zu zählen. Heute befindet sich die Anlage in katastrophalem Zustand. Steph. Byz. s.v. „Θέσπεια“. Zu dieser Episode siehe Hdt. 7.202. Zum Epigramm und seiner Zuordnung siehe GV 5; Peek 1960, 229 Nr. 2; Page 1975, 40 Philiades Nr. 1; Page 1981, 78f.; Lorenz 1976, 85–87; Pritchett 1985, 171f.; Clairmont 1983, 224 Nr. 8c.
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spier. Er berichtet nur, dass die Toten vor Ort bestattet worden seien, und zitiert die drei Epigramme für den Seher Meigistias, die Spartaner sowie für jene Peloponnesier, die gefallen seien, bevor Leonidas die anderen Kontingente weggeschickt habe. Hingegen erwähnt Strabon, dass bei den Thermopylen ‚am Polyandrion‘ fünf Stelen ständen, von denen eine ein Epigramm für die gefallenen Oppuntischen Lokrer trage.532 Möglicherweise, so einige Forscher, sei das bei Stephanos von Byzanz überlieferte Epigramm auf einer dieser fünf Stelen eingeschrieben gewesen.533 Tatsächlich wäre denkbar, dass einige der anderen beteiligten poleis zu einem späteren Zeitpunkt solche Stelen an den Gräbern bei den Thermopylen errichteten. Von einem ähnlichen Vorgehen berichtet Herodot im Falle der Gräber in der Ebene von Plataiai.534 Alternativ könnte Herodot die Stele für die Thespier bewusst nicht erwähnt haben, weil er bei seiner Schilderung der Gräber stark auf die Monumente der Spartaner fokussierte. Überdies hätte die Beschreibung eines Monumentes für die Thespier möglicherweise auch zu Fragen nach einem Denkmal für die Thebaner, die an den Thermopylen gefallen waren, geführt. Da aber Herodot diesen, wie oben dargelegt,535 ihre Rolle bei der Verteidigung des Passes abzusprechen und sie von diesem Erinnerungsort (oder zumindest seiner positiven Dimension) auszuschließen suchte, könnte er hier alle anderen Denkmäler ausgeklammert haben, um kritische Nachfragen zu vermeiden. Letzten Endes ist weder die Zuordnung zu den Gefallenen der Thermopylenschlacht noch die Authentizität des Epigrammes an sich zweifelsfrei zu belegen. So berichtet Herodot etwa, dass die Thespier mit einem Kontingent von 1800 Mann auch an der Schlacht von Plataiai beteiligt gewesen seien, und wenn auch seine Zahlenangabe wahrscheinlich übertrieben ist, lässt sich nicht ausschließen, dass das Epigramm sich auf die Gefallenen dieser Schlacht bezog.536 Zudem meldet Denys L. Page massive Zweifel an der epigraphischen Basis des Epigramms an. Sein Argument lautet dabei, dass es extrem unwahrscheinlich sei, dass die Zuordnung des Epigramms zu einem weitestgehend unbekannten Autor wie Philiades aus Megara nach mehr als eintausend Jahren noch problemlos möglich gewesen sei, war der Autorenname griechischen Epigrammen auf Stein doch nie beigegeben. Daher müsse sich Stephanos hier in jedem Fall auf eine literarische Überlieferung berufen, deren Historizität nicht mehr nachzuprüfen sei.537 Hin-
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Siehe Strab. 9.4.2. So implizit Wade-Gery 1933, 76 und explizit Clairmont 1983, 224. Hdt. 9.85.3 behauptet, die Aigineten hätten zehn Jahre nach der Schlacht ein Scheingrab bei Plataiai errichtet. Auch erwägt Pritchett 1985, 172 in Bezug auf das Epigramm für die Oppuntischen Lokrer, dass dieses erst mit einiger Verspätung gestiftet worden sein könnte. S.o. 2. I. Theben mit Anm. 432. Vgl. Hdt. 9.30, wo er auch behauptet, insgesamt hätten 110000 Griechen bei Plataiai gekämpft – eine Zahl, die völlig unrealistisch ist. Vgl. Page 1981, 78f. und auch bereits 1975, 40 Philiades Nr. 1. Auch Petrovic 2007, 205 bestätigt, dass die Autoren der Epigramme im 5. und 4. Jh. v.Chr. nicht auf den Steinen festgehalten wurden.
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gegen verteidigt Bernd Lorenz vehement die Authentizität des Epigramms, und auch wenn Pages Argument für eine literarische Überlieferung überzeugt, spricht dies doch nicht per se gegen die Historizität der Inschrift. Vielmehr verweisen gleich eine Reihe von Autoren insbesondere auf sprachliche Ähnlichkeiten zu anderen Epigrammen der Perserkriegszeit, die die Zuordnung bekräftigen.538 Tatsächlich stellt die Verbindung mit der Thermopylenschlacht die plausibelste Version dar, hatten die Thespier sich hier doch durch ihren Einsatz und ihre Opferbereitschaft besonders ausgezeichnet und mussten auch ein entsprechendes Interesse daran gehabt haben, das Gedenken an dieses Ereignis und die verantwortlichen Mitbürger aufrecht zu erhalten.539 Das Epigramm hätte dann auch stellvertretend für die Standhaftigkeit der gesamten thespischen polis gelten können, die auch nach der Niederlage an den Thermopylen nicht auf die Seite der Perser umschwenkte und dafür noch im selben Jahr mit der Plünderung und Zerstörung der Stadt durch Xerxes’ Heer bestraft wurde.540 Wie im Falle der Plataier konnten sich auch die Thespier in späteren Zeiten auf ihre Leistungen und ihre Opferbereitschaft in den Perserkriegen berufen und dabei auf die entsprechenden Monumente verweisen. Neben ihrer Auflistung auf der Schlangensäule in Delphi wäre eine Stele am Ort der ikonischen Thermopylenschlacht dabei enorm wirkungsvoll gewesen.541 Diese Sendungsabsicht wird besonders in der zweiten Zeile des Epigramms deutlich, in welcher der Mut und die Entschlossenheit (λῆμα) der Gefallenen als Auszeichnung für das gesamte Gemeinwesen bezeichnet wurden. Komplementiert wurde diese Aussage durch die erste Zeile,
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Siehe Lorenz 1976, 85–87; GV 5; Peek 1960, 18; Pritchett 1985, 171f.; Clairmont 1983, 224 Nr. 8c; Wade-Gery 1933, 76. Nicht thematisiert werden, soll hier die von Page 1981, 78f. aufgeworfene Frage, ob die Inschrift am Grab bei den Thermopylen oder an einem Monument (Kenotaph?) in Thespiai selbst angebracht war. Schließlich wird aus dem Epigramm selbst mit dem Verweis auf das Helikon Gebirge deutlich, dass sie eindeutig nicht in der polis stand, sondern am Grab selbst. Wie Peek 1960, 292 Nr. 2 und Lorenz 1976, 86 richtig bemerken, ergab sich auch der Kontext der Inschrift aus der Anbringung am Grab selbst, sodass auch keine weitere Klarstellung nötig war. Pritchett 1985, 172 merkt hierzu nur an: „Certainly the Thespian claim for a monument at Thermopylai was as strong as that of the Spartans and stronger than any others’“. So Hdt. 8.50, nach dessen Bericht die Einwohner der Stadt sich auf der Peloponnes in Sicherheit brachten. Die Zeugnisse zum Umgang mit der Perserkriegserinnerung sind im Falle der Thespier nicht so zahlreich wie im Falle der Plataier. Doch zeigt Xen. Hel. 6.3.1, dass dieses Argument den Thespiern in außenpolitischen Fragen sehr wohl zur Verfügung stand und auch von ihnen genutzt wurde. Auf der Schlangensäule (s. Meiggs/Lewis 1989, 57–60 Nr. 27) wurden die Plataier und die Thespier an 14. und 15. Stelle direkt hintereinander erwähnt, womit sicherlich auch auf die Parallele ihrer Situation und ihres Verhaltens verwiesen werden sollte.
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die auf den besonderen Schmerz des Todes fern der Heimat verwies542 und somit das Opfer für die gemeinsame griechische Sache umso bemerkenswerter erscheinen ließ. Dabei ist für die Interpretation nur von nebensächlicher Bedeutung, ob auch diese Inschrift von der Delphischen Amphiktyonie errichtet wurde, so wie Herodot es für die drei von ihm zitierten Epigramme behauptet, oder ob sich die Thespier selbst für sie verantwortlich zeigten. Schließlich wird auch eine Stiftung der Amphiktyonie nicht ohne Konsultation der betroffenen Gemeinwesen oder zumindest eine starke Rücksichtnahme auf deren Bedürfnisse vorgenommen worden sein. Stattdessen sollte im Vordergrund stehen, dass auch die Thespier wahrscheinlich bereits im frühen 5. Jh. v.Chr. an diesem zentralen Erinnerungsort der griechischen Geschichte mit einem Monument vertreten waren, das dem Gedenken an ihre Gefallenen diente und deren Leistung zugleich als Auszeichnung des Gemeinwesen kommemorierte. Das nächste Zeugnis führt uns nach Thespiai selbst. 1880 wurde an der Straße von Thespiai nach Thisbai das Fragment einer Säule aus weißem Kalkstein gefunden, das wahrscheinlich einem Gefallenengrab zuzuordnen ist. Die Säule ist in einer Höhe von 0,94m erhalten, hat einen Durchmesser von 0,28m und ist laut Aussage der Editoren nur grob gearbeitet.543 Auf der Vorderseite ist ein 0,47m auf 0,22m messendes Feld geglättet, auf dem eine 19 Zeilen lange Inschrift angebracht ist. Die Buchstaben im boiotischen Alphabet sind nur flach eingeschrieben und daher teils nur schwer zu entziffern. Zudem sind die obersten Zeilen stark beschädigt, weshalb diese in der Edition in IG VII 1889 auch nur unvollständig angegeben wurden. Erst eine sorgfältige Neuuntersuchung des Steines durch Paul Roesch für das Corpus thespischer Inschriften konnte hier Klärung bringen und die bereits früher gehegte Vermutung, dass es sich um ein Gefallenenmonument handelte, weiter bekräftigen.544 Roesch las in den ersten drei Zeilen die Überschrift „Θεσ[π]ι̣ε͂ [ς] /σε͂μα τόδ[ε] /ἀνέθεαν·“, auf die 21 männliche Namen im Nominativ folgen, die sich auf 16 weitere Zeilen verteilen. Damit ist nun gesichert, dass es sich bei der Säule tatsächlich um ein Grabmal handelte und dass dieses von den Thespiern errichtet wurde. Hingegen besagt die Inschrift nicht, wen genau die Thespier eigentlich bestatteten und warum. Dem Vorstellungsvermögen sind also zunächst keine Grenzen gesetzt und so wäre vielleicht denkbar, dass es sich um Gesandte einer anderen polis handelte, die im diplomatischen Dienst einem Unglück
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Eine Einschätzung, die auch Janett Schröder in ihrer unveröffentlichten Masterarbeit (Jena 2011) so vertritt. Ähnlich auch Peek 1960, 18. Ein Foto des Stückes ist leider nicht veröffentlicht. Überhaupt wurde der Stein nur selten behandelt. Siehe IG VII 1889 und insbesondere I.Thesp. 484 sowie darüber hinaus Keramopoullois, in: AE (1936), Chron., 23 Nr. 190; Pritchett 1985, 144. Schon die Editoren von IG VII 1889 äußerten diese Vermutung. Siehe Roeschs Analyse und Kommentar in I.Thesp. 484.
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zum Opfer fielen,545 oder auch um die Toten einer andersartigen Katastrophe. Die dezidierte Nennung der Thespier in der ersten Zeile ließe sich dann als Hinweis darauf erklären, dass diese sich hier außerhalb ihrer eigentlichen Pflicht dennoch der Bestattung und Kommemoration der Toten angenommen hätten. Eine solche Erklärung ist aber mit Hinblick auf den Befund ausgesprochen unwahrscheinlich. Weder findet sich ein konkreter Hinweis auf die Todesumstände der Bestatteten, noch werden diese durch Patronyme, Ethnika oder eine Überschrift in irgendeiner Form näher bezeichnet. Patronyme wurden im 5. Jh. v.Chr. in Boiotien nur selten verwendet und hielten erst im Laufe des 4. Jh. v.Chr. langsam Einzug in den boiotischen epigraphic habit.546 Im Falle einer Bestattung Auswärtiger wäre aber wohl die Nennung der Herkunft oder zumindest des Vaters doch zu erwarten gewesen. Auch lassen sich die Namen auf der Liste, insofern sie überhaupt einem bestimmten Landesteil zuzuordnen sind, weitestgehend in Boiotien lokalisieren. Wiederum lässt sich nicht ausschließen, dass an einem verlorenen Teil des Monumentes, der z.B. ein Epigramm getragen haben könnte, expliziert wurde, wer genau hier aus welchen Gründen von den Thespiern bestattet wurde. In Anbetracht der Tatsache aber, dass eine größere Zahl ausschließlich männlicher Verstorbener kommemoriert wurde, die nur mit ihrem Eigennamen genannt wurden und ein staatliches Begräbnis nahe Thespiai erhielten, ist doch stark davon auszugehen, dass es sich um ein Gefallenenbegräbnis handelte. Die Nennung der Thespier in der Überschrift diente somit wohl dazu, zu explizieren, dass hier die polis als Körperschaft tätig wurde und die Bestattung und Kommemoration ihrer Gefallenen gemeinsam besorgte, anstatt dies den einzelnen Familien zu überlassen. Vielleicht sollte hier auch die Rolle der polis nicht jener des oikos, sondern der des koinon gegenübergestellt werden. Immerhin besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Toten im Rahmen ihres Dienstes im Bundesheer gefallen waren, und so wollten die Thespier in der Inschrift möglicherweise betonen, dass die polis weiterhin den primären Referenzrahmen darstellte und ihre Toten selbst beisetzte, nicht etwa der Bund. Diese semantische Frage ist eng verknüpft mit jener nach der Datierung der Inschrift, wurde der sog. Erste Boiotische Bund doch wahrscheinlich erst nach der Schlacht von Koroneia 447/6 v.Chr. gegründet.547 Bedauerlicherweise muss aber auch im Falle dieses Monumentes die Datierung ungenau bleiben, da sie wiederum nur anhand paläographischer Kriterien erfolgen
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Bousquet 1992, 596–606 schlägt eine solche Erklärung etwa für ein Polyandrion aus Ambrakia vor und auch aus Athen sind Fälle bekannt, in denen die polis die Bestattung auswärtiger Diplomaten übernahm, die auf ihrer Dienstreise in/nach Athen umkamen. Siehe nur die Beispiele des Athemokrit (Paus. 1.36.3; Plut. Per. 30) und des Pyhtagoras (Clairmont 1970, 41; 61; Hildebrandt 2006, 82), die am Dipylon Staatsgräber erhielten. Vgl. zu diesen und weiteren Gesandtengräbern auch Stroszeck 2002/2003, 168–170. Siehe deVottéro 1988; Fraser/Rönne 1957, 92–94; Schild-Xenidou 2008, 152. Vgl. Hansen 1995, 31; Beck 1997, 86–88; Larsen 1968 31f.
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kann. Paul Roesch, der zweifelsohne der ausgewiesenste Kenner der thespischen Inschriften war, sprach sich hierbei gegen den älteren Vorschlag einer Datierung an das Ende des 5. oder den Anfang des 4. Jh. v.Chr. aus. Vielmehr sei die Schrift älter als jene der Gefallenenlisten von 424 v.Chr., die noch besprochen werden sollen. Er identifiziert daher drei mögliche Schlachten, denen das Monument zugeordnet werden könne: Plataiai 480 v.Chr., Oinophyta 457 v.Chr. oder Koroneia 447 v.Chr. Dabei verstrickt er sich allerdings in einen gewissen Widerspruch, indem er die Schlacht an den Thermopylen ausschließt, weil diese Datierung „paraît trop ancienne“. Wenn aber die Thermopylenschlacht aufgrund der paläographischen Datierung auszuklammern wäre, müsste dies doch sicherlich auch für die Schlacht von Plataiai aus dem Folgejahr gelten.548 Zudem ist wie in so vielen in dieser Arbeit behandelten Fällen nicht auszuschließen, dass die Gefallenen einer Schlacht zuzuordnen sind, die in den erhaltenen Quellen nicht erwähnt und uns daher schlichtweg nicht bekannt ist. Demnach muss die Datierung innerhalb des breiten Zeitraumes zwischen den Perserkriegen und der Schlacht am Delion ungewiss bleiben, wenn auch eine Datierung um die Mitte des Jahrhunderts attraktiv wäre. Nicht nur muss es in dieser Zeit im Zusammenhang mit dem sog. Ersten Peloponnesischen Krieg oft genug zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen sein, von denen die Schlachten von Oinophyta und Koroneia nur die bekanntesten Fälle unter boiotischer Beteiligung waren.549 Auch wäre durchaus vorstellbar, dass die Thespier nach ihren starken Verlusten in den Perserkriegen und der Zerstörung ihrer Stadt durch Xerxes zunächst größere Auseinandersetzungen scheuten und erst einige Jahrzehnte später wieder verstärkt militärisch tätig wurden. Ähnlich unsicher wie die Datierung des Monumentes gestaltet sich auch die Rekonstruktion des Grabes. Die Säule könnte ein Element eines Grabbaus oder einer Grabfassade und damit nur ein Teil des Gesamtmonumentes gewesen sein. Allerdings erscheint ein Grabbau solcher Größe im Thespiai des 5. Jh. v.Chr. ausgesprochen unwahrscheinlich. Die thespischen Grabdenkmäler dieser Zeit bestanden – wie auch im Großteil des restlichen Boiotien – vorwiegend aus simplen
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Vgl. I.Thesp. 484. Diese Inkonsequenz mag auf die Entstehungsgeschichte des Corpus zurückgeführt werden, das nach Roeschs Tod in unterschiedlichem Maße von G. Argoud, A. Schachter und G. de Vottéro überarbeitet wurde und dementsprechend an manchen Stellen Schwächen aufweist. Arrington 2010b, 514f. mit Anm. 89 weist auf eine Reihe von Gräbern nahe des Dipylon in Athen hin, die aus dieser Zeit stammen und in denen auch zwei boiotische Kantharoi gefunden wurde. Aufgrund der Seltenheit von boiotischer Keramik in diesem Bereich hält er es für möglich, dass es sich um Staatsgräber für Boioter handeln könne, die in die Jahre zwischen 457 und 447 v.Chr. datieren. Wollte man diesen Gedanken weiterspinnen, könnte man nun mutmaßen, dass die vorliegende Gefallenenliste aus Thespiai möglicherweise auch auf den Kontext der Kooperation mit Athen zurückzuführen sei. Auch wenn dies eine durchaus plausible Hypothese wäre, ist sie nicht im Mindesten gut genug begründet. Weder sind wir über die genauen politischen und historischen Details ausreichend informiert, noch scheint der Fund zweier boiotischer Kantharoi in einem Grab im nahen Athen als ausreichendes Argument, hier von einem Staatsgrab für Boioter sprechen zu wollen.
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Markern oder aus Inschriftenstelen, die ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. auch Reliefs oder aufwendigere Verzierungen tragen konnten. Auch Giebelstelen oder naiskoi finden sich erst ab dem 4. Jh. v.Chr., sodass eine große Grabarchitektur äußerst ungewöhnlich gewesen wäre.550 Alternativ ist denkbar, dass das Fragment Teil eines Säulenmonumentes war, welches das Grab markierte. Zwar wäre auch dies im Kontext der thespischen Grabmäler dieser Zeit ungewöhnlich, aber doch eher vorstellbar als eine aufwendige Grabarchitektur. Auch wirkt zumindest die Inschrift, trotz ihrer Kürze, in sich vollständig und lässt nicht vermuten, dass noch andere Textträger existierten, die weitere Namen oder nähere Details zum Kontext der Bestattung beigetragen hätten. Die Rekonstruktion als Säulenmonument, das einen Grabhügel oder einen Peribolos markierte, stellt daher m.E. die plausibelste Rekonstruktion dar. Nur spekulieren ließe sich darüber, welches Objekt möglicherweise auf der Säule aufgestellt war, sodass diese Frage hier ausgeklammert werden soll.551 In jedem Fall wurde für das Gefallenengrab ganz offensichtlich eine ungewöhnliche Form gewählt, die inmitten der anderen thespischen Grabmonumente hervorgestochen sein muss. Auch durch die äußere Form sollte also die Besonderheit des Monumentes dem Betrachter sofort aufgezeigt werden. Lediglich die gemäß der Aussage der Bearbeiter grobe Ausführung der Arbeiten, die sich auch in der Inschrift zeigt, will nicht so recht zu diesem Bild eines sorgfältig konzipierten und aufwendig inszenierten Monumentes passen. Nicht nur war die Inschrift wohl nur sehr flach ausgeführt, auch weißt ihre Anordnung einige Unachtsamkeiten auf. Während etwa die wiederholt auftretende Nennung zweier Personen in einer Zeile im Falle zweier kurzer Namen noch als ökonomisch bezeichnet werden mag, legt die ungelenke und unnötige Aufteilung des Namens des Ἀσκλαπιός auf die Zeilen 5 und 6 eher Unachtsamkeit in der Planung und Ausführung der Inschrift nahe. Zudem vermerkt I.Thesp. 484 in den Zeilen 5, 10, 11 und 12 Worttrenner zwischen den Namen, während diese in den Zeilen 13 und 15 fehlen. Zusammen mit der nur groben Ausarbeitung der Säule selbst stören diese an sich nur kleinen Makel das oben gewonnene Bild. Gerade wenn es sich wirklich um ein frühes Monument handeln sollte, mögen diese Unzulänglichkeiten (zumindest in der Inschrift) vielleicht durch mangelnde Erfahrungen des Steinmetzes in diesem Format erklärt werden. 550
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Zu den thespischen und boiotischen Grabmonumenten der klassischen Zeit siehe u.a. Fraser/Rönne 1957, insb. 35–37 und ergänzend 1971, passim; Schild-Xenidou 2008, Kapitel 3 sowie Band 9 und 10 von I.Thesp. Vgl. weiter Band 11 für die Entwicklung in hellenistischer Zeit. Das Corpus bietet freilich nur knappe Hinweise bezüglich der Form der Monumente, die allerdings doch ausreichen, um einige allgemeine Entwicklungen nachzuvollziehen. Denkbar wäre etwa ein Gefäß oder aber auch eine Skulptur. Das Grab für die am Delion gefallenen Thespier wurde von einem monumentalen Löwen geschmückt und vielleicht wurde auch hier ein ähnliches Motiv gewählt. Auf Vasenbildern aus Athen finden sich Säulenmonumente, die Gräber schmücken, wobei nicht klar ist, inwiefern diese auch reale Monumente abbildeten bzw. von diesen inspiriert waren. Siehe beispielsweise Oakley 2004, 200 Abb. 162; 202 Abb. 165.
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Wenden wir uns nun einem Monument zu, das zwar weitaus vollständiger erfasst und eingeordnet werden kann, das aber nichtsdestotrotz eine Vielzahl von Fragen aufwirft: dem Grab für die gefallenen Thespier der Schlacht am Delion des Jahres 424 v.Chr. Das Polyandrion befand sich nahe des Osttores in einer der wichtigsten Nekropolen der Stadt, die sich entlang der Straße nach Theben erstreckte.552 1882 wurden dort unter der Leitung von Panagiotis Stamatakis Teile eines 32m x 23m messenden, rechteckigen Grabbezirkes ausgegraben, der zu seiner Rückseite nach Süden hin terrassiert war. Die Umfassungsmauer des Bezirkes, die als Stütze für einen niedrigen Grabhügel diente, schloss nach den Seiten im Osten und Westen unmittelbar an weitere Gräber an, die allerdings nicht weiter erforscht wurden. In der Mitte der Frontmauer, die aus lokalem Poros bestand, fanden sich die Reste eines Podestes, auf dem einst die Skulptur eines liegenden Löwen aufgesetzt war. Reste dieser Plastik aus lokalem Kalkstein waren bereits zuvor an dieser Stelle entdeckt worden und hatten überhaupt erst zu den Ausgrabungen geführt.553 Auf der Straße vor der Frontmauer des Bezirks fanden die Ausgräber acht gut erhaltene Stelen aus lokalem schwarzen Kalkstein sowie das Fragment einer neunten Stele, die alle die gleiche Form haben. Sie sind 1,05m hoch, messen am unteren Ende 0,45m und laufen zum oberen Ende, das von einem flachen Kyma abgeschlossen wird, leicht auf eine Breite von 0,42m zu. Am Fuß der Stelen befindet sich ein Tenon, das zur Aufstellung der Stelen auf der Mauer oder zum Einsetzen in diese diente.554 Die Stelen tragen in epichorischer Schrift, die in stoichedon eingeschrieben ist, jeweils die Namen von zwölf Männern, die im Nominativ, ohne Patronym oder sonstige Marker genannt werden. Eine einzige Stele trägt nur die Namen von zehn Männern, während sich auf der gebrochenen neunten Tafel noch die Reste von acht Namen erhalten haben. Lediglich die auf Stele B genannten Männer Tesimenes und Polynikos werden durch die Siegerbezeichnungen „πυθι|ονίκα“ bzw. „ὀλυμ|πιον[ίκα]“ näher gekennzeichnet. Da die Zusätze nicht mehr in die jeweilige Zeile passten, knicken sie nach oben bzw. nach unten ab und laufen vertikal weiter.555 Im Innern des Grabes wurden durch Stamatakis Schnitte entlang der Nord- und Ostmauer sowie weitere Sondagen angelegt, die 1911 durch Antonios Keramopoullos um einen großen Schnitt in der nordöstlichen Ecke des Grabes ergänzt wurden.556 Hierbei entdeckte Keramo552
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Die wichtigsten Abhandlungen sind die Berichte über die Grabung von Stamatakis 1883, 67–74 und Keramopoullos 1911 sowie die Aufarbeitung des Befundes durch Schilardi 1977, der zudem eine detaillierte Analyse der Keramik bietet. Siehe darüber hinaus zur Interpretation Clairmont 1983, 232–234 Nr. 48c; Pritchett 1985, 132f. sowie insbesondere Low 2003, 104–109. Die Position des Löwen ist bei Stamatakis 1883, Taf. 1 (alternativ Low 2003, 105 Abb. 2) markiert. Der erhaltene Teil der Skulptur misst vom Schwanz bis zum Nackenansatz 3m. Siehe Low 2003, 106 Abb. 3 (nach Stamtakis 1883). Zu den Inschriften siehe IG VII 1888 und insbesondere die neuere Edition in I.Thesp. 485. Zudem werden sie weiter unten nochmals thematisiert. Die Position der Schnitte lässt sich gut erkennen bei Stamatakis 1883, Taf. 1 und Schilardi 1977, Abb. 4. Mir erschließt sich nicht, ob Keramopoullos auch das restliche Areal weiter bearbeitete.
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poullos unter dem vermuteten tumulus eine 0,15m dicke Ascheschicht, in der sich eine große Menge menschlicher Überreste sowie Reste einer großen Zahl von Beigaben fanden, die zusammen mit den Leichnamen verbrannt worden waren. Diese beinhalteten ein weites Spektrum von Keramikgefäßen – insbesondere Kantharoi, Lekythen und Becher – sowie auch Terrakottafiguren, metallene Strigiles und Messer, aber auch Reste von Speiseopfern. Die Funde wurden erst 1977 von Demetrius Schilardi in der ersten umfassenden Studie zu dem Grab ausführlich untersucht, wobei seine Aufgabe durch die seit den vorgegangenen Ausgrabungen verstrichene Zeit und insbesondere das Chaos des Zweiten Weltkriegs erheblich erschwert wurde.557 Über dem Leichenbrand war eine 0,5m dicke Schicht rötlicher Erde aufgeschüttet, die wiederum von einer weißlichen Schicht bedeckt war, die wohl als Außenhaut des Hügels fungierte. In diese weiße Deckschicht eingelassen fanden sich Löcher, die zum Teil durch einfache Steinplatten ausgekleidet waren und zur Aufnahme von Beigaben dienten. Hierin fanden sich auch Keramikgefäße in unterschiedlicher Zahl, die sich in Art und Qualität nicht von jenen in der Brandschicht unterschieden und auch in denselben Zeitraum zu datieren sind.558 Darüber hinaus entdeckte Keramopoullos noch eine Gruppe deutlich jüngerer Keramik sowie sieben Körperbestattungen, die in der Nordostecke des Bezirks beigesetzt worden waren. Diese beiden Auffälligkeiten gilt es weiter unten noch genauer zu besprechen. Zunächst soll aber die Zuordnung des Grabes zur Schlacht vom Delion thematisiert werden. Diese ist schließlich durch kein Zeugnis direkt gesichert, sodass es nicht verwundert, dass Stamatakis zunächst vorschlug, es handele sich um das Grab für die Gefallenen der Schlacht von Plataiai.559 Dieser Zuordnung widersprach Adolf Kirchhoff mit der Begründung, die Schrift der Stelen könne nicht vor die Mitte des 5. Jh. v.Chr. datiert werden.560 Als Alternative bot er daher die Schlacht vom Delion an, da diese die einzige militärische Auseinandersetzung der zweiten 557
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So waren u.a. signifikante Teile der Funde auf unterschiedliche Lagerstätten verteilt oder verloren. Dank intensiver Bemühungen Schilardis gelang es ihm, große Teile der verstreuten Funde wieder zusammenzuführen. Trotz dieser Erfolge ließen sich die Fundstücke aber nur in den wenigsten Fällen einem präzisen Fundkontext zuordnen, sodass hier das eigentliche Potential des Befundes nicht mehr voll ausgeschöpft werden konnte. Im Appendix seiner Arbeit beschreibt Schilardi 1977 diese Probleme und seine Bemühungen anschaulich. In Anbetracht der Mühen, die Schilardi hierfür auf sich nahm, ist es umso bedauerlicher, dass seine Arbeit nie in angemessener Form publiziert wurde. Stattdessen ist sie nur als Microfilm-Reproduktion verfügbar, die nur mit schlechten, oftmals bis zur Unkenntlichkeit verblichenen Abbildungen aufwarten kann. Dies hat zur Folge, dass ein Teil der Aussagen des Autors zu seinem Material nicht mehr nachgeprüft werden kann. Vgl. Schilardi 1977, 35 mit den Katalognummern der Stücke und dem Verweis auf die Detailanalysen. Gerade diese Funde sind besonders von den oben geschilderten Problemen betroffen, sodass sich hier kaum feste Zuordnungen ergeben. Auch lässt sich die Gruppierung der ‚Steinkisten‘, von der Schilardi berichtet, nicht genauer nachvollziehen. Siehe Stamatakis 1883, 70f. Vgl. Kirchhoff 1887, 140f.
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Hälfte des 5. Jh. v.Chr. darstelle, für die bekannt sei, dass die Thespier daran beteiligt waren und auch hohe Verluste erlitten. Letzteres müsse schließlich der Fall gewesen sein, da alleine die erhaltenen Stelen die Namen von 102 Gefallenen auflisten. Thukydides berichtet nun, dass die Boioter in der Schlacht vom Delion insgesamt 500 Mann verloren und dass die Thespier, die von den Athenern umzingelt worden waren, besonders hohe Verluste zu verzeichnen hatten.561 Keramopoullos schlug vor, dass die Thespier möglicherweise bis zu 300 Mann verloren hätten; eine Zahl, die letztlich völlig aus der Luft gegriffen ist und dennoch von der späteren Forschung ausnahmslos übernommen wurde.562 Nicht zuletzt liegt dies wohl darin begründet, dass Schilardi in seiner Abhandlung schätzte, auf der Frontmauer des Bezirkes hätten ursprünglich bis zu 30 Stelen Platz gefunden, womit man bei 10–12 Namen pro Stele auf 300 oder sogar noch mehr Gefallene kommen würde.563 Dies schien so gut mit Keramopoullos’ Schätzung aufzugehen, dass die späteren Autoren völlig vernachlässigen, dass die Gesamtzahl der Stelen stark davon abhängt, wie groß der Abstand zwischen den einzelnen Inschriftentafeln gewählt wurde und dass man somit innerhalb eines gewissen Rahmens fast jede beliebige Zahl an Stelen und Gefallenen rekonstruieren könnte. Zwar bleibt die Tatsache bestehen, dass – gerade für eine polis wie Thespiai – eine große Zahl von Toten bestattet wurde und dass daher die Schlacht des Jahres 424 v.Chr. der wahrscheinlichste Kandidat ist. Doch bedarf es weiterer Indizien, um diese Identifikation zu untermauern. Die paläographische Datierung der Stelen, die Kirchhoffs Vorschlag zugrunde lag, kann hierbei nur bedingt als Argument herangezogen werden, fehlt es doch an fest datierten Inschriften für das Boiotien klassischer Zeit, sodass vermehrt athenische Inschriften als Vergleichsobjekte herangezogen wurden oder aber die Stelen des Polyandrion selbst als Fixpunkt für die Datierung
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Siehe Thuk. 4.101.2 (Verluste der Boioter); 4.96 (Schicksal der Thespier in der Schlacht). Abgesehen von dieser Schlacht berichtet Thukydides für die Zeit des Peloponnesischen Krieges auf militärischer Ebene nur noch einmal (7.19.3) von den Thespiern, wenn er erwähnt, dass 413 v.Chr. ein Kontingent von Thespiern zusammen mit einer thebanischen Abteilung nach Sizilien entsandt wurden. Weder ist aber für dieses Kontingent von großen Verlusten auszugehen, noch wäre eine Rückführung der intakten (!) Leichname auf diese Distanz vorstellbar gewesen. Vgl. Keramopoullos, in: ArchEph (1920), 21. Es liegt nahe, zu vermuten, dass er bei dieser Schätzung davon beeinflusst wurde, dass die Zahl 300 in militärischen Kontexten in klassischer Zeit immer wieder eine Rolle spielte (siehe die Dreihundert des Leonidas oder die 300 Mann starke Heilige Schar der Thebaner). Siehe Schilardi 1977, 28f. Er akzeptiert zudem die Zuordnung der Liste von 63 Gefallenen aus Tanagra (s.o. 2. I. Tanagra mit Anm. 397) zur Schlacht vom Delion und geht davon aus, dass die Orchomener, die zusammen mit den Tanagrern und den Thespiern hart von den Athenern bedrängt wurden, in etwa so viele Verluste gehabt hätten, wie die Tanagrer. Somit blieben insgesamt noch etwas weniger als 400 Tote auf boiotischer Seite, von denen der Großteil eben den Thespiern zuzuschlagen sei. Dabei lässt er völlig außer Acht, dass die Zuordnung der Liste aus Tanagra zur Schlacht von 424 v.Chr. keineswegs gesichert ist. Überhaupt ist es problematisch, solche hypothetischen Rechnungen aufstellen zu wollen.
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boiotischer Inschriften genommen wurden.564 Zwar bestätigen auch die neueren Arbeiten zu den boiotischen Inschriften, die sich weitestgehend von derartigen Prämissen freimachen und versuchen, unabhängige Chronologien zu entwickeln, die grobe Datierung in die zweite Hälfte des 5. Jh. v.Chr.565 Doch lassen diese eben doch noch sehr viel Interpretationsspielraum, sodass etwa auch eine Schlacht in der Mitte des 5. Jh. v.Chr. oder des Korinthischen Krieges nicht ausgeschlossen werden kann. Ein stärkeres Argument liefert hingegen die Datierung der Keramik, die zusammen mit den Toten beigesetzt bzw. verbrannt wurde. Diese wurde von Demetrius Schilardi ausgiebig untersucht und mit anderen boiotischen Stücken, aber auch mit athenischer Keramik, an der sich Teile der Funde eindeutig orientierten, verglichen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Keramik – abgesehen von der Gruppe jüngerer Keramik aus dem 4. Jh. v.Chr. – vorwiegend aus dem dritten Viertel des 5. Jh. v.Chr. stammt, womit die Identifikation als Grab der Gefallenen der Schlacht vom Delion wahrscheinlicher wird.566 Einen letzten Hinweis bietet schließlich die Nennung des Olympioniken Polynikos auf Stele B, wird dieser doch möglicherweise in einer Liste olympischer Sieger als Gewinner im Ringen der Knaben im Jahre 448 v.Chr. (83. Olympiade) genannt. Die Liste findet sich auf einem Papyrus der hohen Kaiserzeit, geht jedoch wohl auf eine verlässliche ältere Quelle zurück.567 Das Ethnikon des Polynikos ist auf dem Papyrus verloren, sodass die Identifikation mit dem Gefallenen von der Inschriftenstele nicht zweifelsfrei gesichert ist. Der Sieger des Jahres 448 v.Chr., der zu diesem Zeitpunkt höchstens 16 Jahre alt gewesen sein dürfte, wäre 424 v.Chr. maximal 40 Jahre alt und damit noch im wehrfähigen Alter gewesen. All diese Indizien zusammengenommen legen nun nahe, dass es sich bei dem Polyandrion im Osten Thespiais tatsächlich um das Grab der Gefallenen aus der Schlacht am Delion handelte. Dennoch erschien es mir wichtig, hier nochmals auf die Datierung einzugehen, da viele der einzelnen Elemente, die zu diesem Schluss führen, in der neueren Literatur nicht hinterfragt werden und die Datierung stattdessen als unumstößliche Tatsache akzeptiert und dargestellt wird.568
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Vgl. nur Kirchhoff 1887, 140f.; IG VII 1888; Schilardi 1977, 31–33. Wohlgemerkt halten sich sowohl Austin 1938, 74f. als auch Jeffery 1990, 95 Nr. 19 hinsichtlich der zeitlichen Einordnung zurück und kommentieren nur die Qualität der Inschrift. Dennoch sprechen sie auch keine eindeutigen Zweifel an der Datierung aus. Siehe I.Thesp. 485 und deVottéro 1996, passim. Siehe die entsprechenden Kapitel und den Katalog in Schilardi 1977 (S. 34 mit Verweisen). Schon vor ihm sprach sich Lullies 1940, 8–10 (ebenfalls mit dem Hinweis auf athenische Vorbilder) für diese Datierung aus und auch Stamatakis 1883 hatte schon so argumentiert, die Keramik jedoch nicht derart eingehend analysiert wie seine Nachfolger. Vgl. schließlich auch Daumas 1998, 93–95. Siehe den Kommentar zur Edition in P.Oxy. 2.222. Moretti 1953, 133 meint, der Polynikos der Inschrift sei „senza alcun dubbio“ identisch mit jenem aus dem Papyrus. Siehe auch Schilardi 1977, 33f. für einen knappen Kommentar. Dies betrifft insbesondere die paläographische Datierung der Inschriftenstelen.
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Bevor wir uns nun weiter dem Monument selbst und seiner Interpretation sowie einigen verbleibenden Fragen annehmen, soll zuvor der historische Kontext Thespiais zur Zeit der Schlacht vom Delion genauer beleuchtet werden, ist doch die Kenntnis des sozialen und politischen Gefüges unumgänglich für die weitere Untersuchung des Polyandrion. Der Athener Einmarsch in Boiotien und die Besetzung des Delion-Heiligtums stellten keine Einzelaktion dar, sondern waren vielmehr Teil eines groß angelegten Angriffes an mehreren Fronten, der auf die Kooperation von proathenischen Gruppen innerhalb Boiotiens setzte. Der Plan sah vor, dass der athenische General Demosthenes mit einer Flotte in Siphai, einer der Hafenstädte Thespiais, einlaufen und der Küstenort ihm von lokalen Sympathisanten übergeben werden sollte. Zeitgleich sollte Chaironeia im Nordwesten Boiotiens durch verbündete Orchomenier eingenommen werden, während im Osten Hippokrates ein Heer aus Attika nach Boiotien führen und das Delionheiligtum besetzen sollte. Durch diesen Angriff von drei Seiten sollten die Kräfte der Boioter gespalten und diese entweder sofort überrumpelt oder aber über längere Zeit handlungsunfähig gemacht und langsam zermürbt werden.569 Das Vorhaben scheiterte schließlich aufgrund fehlerhafter Zeitplanung und weil Teile des Plans verraten wurden, sodass die Umstürze in den Städten ausblieben und die Boioter den Athenern mit einer ungeteilten Streitmacht am Delion entgegentreten konnten.570 Thukydides, der den Plan der Athener beschreibt, berichtet, dieser sei die Idee eines exilierten Thebaners namens Ptoiodors571 gewesen und habe in Boiotien die Unterstützung lokaler Gruppierungen erhalten, welche die politische Ordnung umstoßen und in eine Demokratie umwandeln wollten: „βουλομένων μεταστῆσαι τὸν κόσμον καὶ ἐς δημοκρατίαν ὥσπερ οἱ Ἀθηναῖοι τρέψα“.572 Nun ist keineswegs gesagt, dass es sich bei den boiotischen Verschwörern tatsächlich um Verfechter eines demokratischen Systems handelte. Schon lange ist schließlich bekannt, dass einzelne Fraktionen eines stasis-Kampfes häufig Hilfe von außerhalb suchten und in der Folge mit einem Etikett gekennzeichnet wurden, das vor allem dieser dritten, auswärtigen Partei genehm war. So griff gerade Athen oft in solchen Stasissituationen ein und erklärte den Kampf der verbündeten Fraktion zum Kampf für die Demokratie (nach athenischem Muster) und gegen die Oligarchie.573 Im Falle der boiotischen 569 570 571
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Vgl. Thuk. 4.76f. So Thuk. 4.89. Hornblower 1996, 249f. merkt zu dieser Stelle an, dass Ptoiodoros, der als Rädelsführer dieser Umsturzversuche genannt wird, i.d.R. als aus Theben stammend angegeben würde, dass er aber in zwei Manuskripten als aus Thespiai stammend angegeben wird. Möglicherweise handelte es sich also um einen in der drohenden stasis aus Thespiai Vertriebenen. Auch Gomme 1956, 537 spricht sich für diese Variante aus. Hornblower a.a.O. nennt zudem Quellen zu proathenischen Gruppen in Thespiai. Thuk. 4.76.2. Siehe etwa die Auswertung in Kapitel 2.I bei Gehrke 1985, 268–287, die dieser prägnant zusammenfasst mit dem Satz: „Die Außenpolitik ist ein Mittel des inneren Kampfes, nicht mehr und nicht weniger“. Vgl. konkret zur Situation in Boiotien Buck 1990, 42–45; Larsen 1968, 38f.
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Verschwörer von 424 v.Chr. wäre etwa vorstellbar, dass sie nicht so sehr eine antioligarchische, sondern vielmehr eine antithebanische Stoßrichtung verfolgten und für die Unabhängigkeit der kleineren boiotischen poleis vom dominanten Theben eintraten. Immerhin fällt auf, dass mit Orchomenos und Tanagra, auf dessen Territorium das Delionheiligtum lag, zwei poleis im Zentrum des Athener Planes standen, die in der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. mit Theben um die Vorherrschaft in Boiotien konkurriert hatten.574 Möglicherweise hegten die Athener die Hoffnung, dass die Tanagrer sich mittels äußeren Druckes zum Umschwenken gegen die Thebaner bewegen ließen. Thespiai schließlich sah sich als mittelgroße polis mit einem eigenen Verwaltungsbezirk und traditionell guten Beziehungen zu Athen wohl in einer ähnlichen Situation wie Plataiai zu Beginn des Peloponnesischen Krieges.575 Was ihnen fehlte war die unmittelbare räumliche Verbindung zu Athen, die allerdings auch die Plataier nur wenige Jahre zuvor nicht hatte schützen können. So ist vorstellbar, dass es in Thespiai zu dieser Zeit eine starke Fraktion gab, die – gerade mit Blick auf das Schicksal Plataiais – an einer Schwächung Thebens interessiert war; eine These, die durch die Ereignisse des Folgejahres bestärkt wird. Obwohl nämlich die Thespier in der Schlacht beim Delion an der Seite der Thebaner und der anderen Boioter gekämpft und dabei heftige Verluste durch die Athener Hopliten erlitten hatten, legten die Thebaner im Jahr darauf die Mauern Thespiais nieder und begründeten diese Aktion mit dem „ἀττικισμός“ der Thespier.576 Thukydides fügt hinzu, die Thebaner hätten dies schon lange gewollt und hätten nun, da die ‚Blüte‘ (ἄνθος) der Thespier in der Schlacht gegen die Athener umgekommen war, lediglich die Gelegenheit ergriffen und die Schwächung der polis ausgenutzt. Die Forschung hat diesen Bericht und Kommentar des Thukydides in der Regel so interpretiert, dass insbesondere die oligarchische Fraktion in Thespiai von den Verlusten in der Schlacht beim Delion betroffen gewesen sei und dass die Thebaner daher befürchtet hätten, die demokratischen und antithebanischen Kräfte unter den Thespiern könnten die Oberhand gewinnen und somit auch zum Problem für Theben werden. Um dem vorzubeugen hätten die Thebaner die Mauern Thespiais eingerissen, um jederzeit militärisch in der Stadt eingreifen und diese somit kontrollieren zu können.577 Wie effektiv dieser Modus der Kontrolle war, zeigte sich im Jahr 414 v.Chr., als der ‚demos‘ der Thespier versuchte, jene, ‚die die Macht/die Ämter innehatten‘ (τοῖς 574 575
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Vgl. Larsen 1968, 38f. Neben ihrer standhaften und konsequent antipersischen Haltung im Zweiten Perserkrieg, die sie mit Athen verband, gibt es auch weitere Anzeichen für anhaltende gute Beziehungen zwischen den beiden poleis. So ist aus dem Jahr 447 v.Chr. ein athenisches Dekret bekannt, das gleich vier Thespier als Proxenoi und Euergeten der Athener ehrte (IG I3 23). Thuk. 4.133. So Buck 1979, 160; 1994, 18; Gehrke 1985, 172f.; Hornblower 1996, 411; Schachter 1996, 118f. Larsen 1955, 47–49 glaubt gar, die Niederlegung der Mauern sei freiwillig geschehen und von der oligarchischen, prothebanischen Fraktion in Thespiai ausgegangen, die sich damit selbst vor einem Umsturz schützen wollte. Ein solches Vorgehen scheint aber in Anbetracht der exponierten Position
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τὰς ἀρχὰς ἔχουσιν), zu stürzen, jedoch prompt durch das Eingreifen der Thebaner gestoppt wurde.578 Mit der Verhaftung der Aufständigen bzw. deren Flucht nach Athen war dann wohl auch die Gefahr einer stasis in Thespiai für die nächsten Jahre gebannt.579 Vor diesem Hintergrund gilt es nun, sich den Details des Polyandrion für die Gefallenen des Jahres 424 v.Chr. zuzuwenden und zu fragen, wie das Grabdenkmal sich in diesen Kontext einfügte. Der erste Komplex, den es dabei zu beleuchten gilt, betrifft die von Keramopoullos entdeckten Körperbestattungen und die Frage, warum diese Toten anders als die übrigen Gefallenen keine Brandbestattung erhielten. Die sieben Leichname waren in einer Reihe entlang der Ostmauer des Bezirks beigesetzt und lagen alle auf dem Rücken mit dem Kopf in Richtung Osten.580 Um die Körper herum waren reichhaltige Beigaben deponiert, die in Qualität, Art und Datierung mit jenen aus dem Scheiterhaufen übereinstimmten. Wie auch in der Brandschicht fanden sich zudem Pigmentreste und Nägel, die nahelegen, dass die Toten in Larnakes oder auf Totenbetten bestattet wurden. Keines der Skelette wies Spuren auf, die auf einen Tod durch Waffengewalt schließen ließen. Die Tatsache, dass sich die Zusammensetzung und die Qualität der Beigaben in den beiden Bestattungsformen nicht unterschieden, lässt bezweifeln, dass damit unterschiedliche Status der Toten wiedergespiegelt werden sollten. Stattdessen sind sie wohl eher auf eine zeitliche Differenz zwischen den beiden Bestattungen zurückzuführen.581 Obwohl nun das Niveau der Körperbestattungen 0,25m bis 0,4m tiefer lag als jenes des Scheiterhaufens, lässt sich dennoch nicht sagen, ob sie vor oder nach der Kremation zu datieren sind, da Keramopoullos keine stratigraphischen Ergebnisse publizierte. Es wäre sowohl denkbar, dass diese acht Personen bestattet wurden, bevor die Masse der Gefallenen auf dem großen Scheiterhaufen verbrannt wurde, als auch, dass sie später bestattet wurden und dafür ein Schacht neben oder in den bereits aufgeschütteten tumulus gegraben wurde.582 Keramopoullos selbst glaubte, dass es sich um Tote gehandelt haben müsse, die vor der Hauptmasse der Gefallenen nach Thespiai gebracht und bestattet wurden. Es habe sich vielleicht um Strategen oder sonstige Funktionsträger gehandelt, die eine bevorzugte Behandlung erfahren hätten.583 Alternativ wäre vielleicht vorstellbar, dass es
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Thespiais und der akuten Bedrohungslage nur schwer vorstellbar, musste dies die polis doch extrem verwundbar machen. Siehe Thuk. 6.95.2. Thuk. 7.19.3 berichtet, dass im Folgejahr eine Abteilung der Thespier und ein thespischer Boiotarch zusammen mit einem thebanischen Kontingent nach Sizilien geschickt wurden. Daher war wohl zumindest die unmittelbare Gefahr eines neuen Umsturzversuches gebannt. Zum Folgenden siehe Keramopoullos 1911, 154–158 und Schilardi 1977, 25–27; 61f. So ganz explizit Low 2003, 104. Auch Schilardi 1977, 61–64; Clairmont 1983, 232–234 Nr. 48c; Pritchett 1985, 132f. tendieren stark zu dieser Erklärung. Siehe hierzu insbesondere den Kommentar bei Schilardi 1977, 63f. Vgl. Keramopoullos 1911, 159. Auch Clairmont 1983, 232 glaubt, dass die inhumierten Toten früher in Thespiai angekommen sein müssten, wenn er auch keine Aussagen zu den Gründen hierfür
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sich um Tote handelte, die in einem Vorgeplänkel gefallen waren. Wahrscheinlicher ist – auch mit Blick auf ähnliche Beispiele aus anderen poleis584 – jedoch, dass die sieben Toten erst später bestattet wurden und dass es sich um Krieger handelte, die einige Zeit nach der Schlacht ihren Wunden erlagen585 oder die in einem der späteren Gefechte umkamen.586 In jedem Fall ist davon auszugehen, dass kein größerer Zeitraum zwischen den beiden Bestattungen lag, da der Kopf eines der inhumierten Toten unter der Umfassungsmauer des Grabbezirkes lag. Diese kann also erst nach der Bestattung der sieben Leichname entstanden sein und wurde sicherlich erst nach Aufschütten des tumulus, den sie stützen sollte, errichtet. Gleichzeitig ist unwahrscheinlich, dass die Thespier viel Zeit verstreichen ließen, bis sie mit der monumentalen Fassung des Grabes begannen.587 Diese Rekonstruktion hat schließlich noch eine weitere Konsequenz, die von großer Bedeutung für die Rezeption der behandelten Monumente ist. Wenn der Grabbezirk nämlich erst nach der eigentlichen Bestattung errichtet wurde, befanden sich zum Zeitpunkt der Beisetzung
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macht. Insbesondere in Athen finden sich zahlreiche Beispiele für Nachträge auf den Gefallenenlisten. Siehe z.B. IG I3 1144; 1147; 1147bis; 1162; 1177. Vgl. auch Bradeen 1969, 146–149. So auch Kurtz/Boardman 1985, 306; Schilardi 1977, 63 und Low 2003, 107. Pritchett 1985, 132 Anm. 117 verweist darauf, dass die Belagerung des Heiligtums noch über zwei Wochen andauerte und dass die Toten aus Gefechten dieser Tage stammen könnten. Dass die Thespier vermutlich tatsächlich um eine schnelle Konstruktion des Grabbezirkes bemüht waren, mag sich auch in den Namensstelen zeigen. Während die älteren Bearbeiter der Inschriftenstelen stets betonten, dass diese in der Form absolut identisch seien und die Schrift sicherlich aus einer Hand stamme (so IG VII 1888 und insbesondere Kirchhoff 1887, 140f. sowie Jeffery 1990, 94), teilen P. Roesch und seine Nachfolger die Stelen in den Inscriptiones de Thespies klar in zwei Gruppen ein (siehe I.Thesp. 485 mit einer übersichtlichen Tabelle, welche die Unterschiede darlegt). Die Stelen dieser beiden Gruppen unterschieden sich dabei zum einen in Bezug auf die Form, da die Höhe der oberen Abschlussleisten wie auch der obere Rand des Textfeldes um jeweils 1cm variieren würden. Auf der anderen Seite ließen sich aber auch Unterschiede in den Buchstabenformen finden, sodass sie eine Gruppe als „plus ancien“ bezeichnen. Sicherlich ist hier der Expertise P. Roeschs und der Editoren von I.Thesp. zu vertrauen, die die Inschriften länger und detaillierter untersuchen konnten als die meisten ihrer Vorgänger. Als Erklärung für diese Unterschiede führen sie dann auch gleich drei Vorschläge an: Es könne sich (1) um die Toten von zwei unterschiedlichen Schlachten gehandelt haben; (2) die zweite Gruppe könnte Stelen ersetzt haben, die beschädigt oder zerstört wurden; oder (3) es könnten zwei unterschiedliche Werkstätten mit der Anfertigung der Stelen beauftragt worden sein. Nun machen sowohl die knappen Ausführungen im Corpus wie auch die Tatsache, dass vor Roesch keinem der Bearbeiter überhaupt auffiel, dass es sich um zwei Gruppen von Stelen handelte, deutlich, wie gering die Unterschiede in Schrift und Form der Stelen ausfielen. Da dies für die zeitliche Nähe und konzeptionelle Einheit der beiden Gruppen spricht und sich zudem am Grab selbst keinerlei Hinweise fanden, die für eine der ersten beiden Erklärungen sprächen, lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen wohl am ehesten durch das letzte vorgeschlagene Szenario erklären. Gerade, wenn man voraussetzt, dass die Thespier wahrscheinlich bemüht waren, den Grabbezirk nach der Bestattung möglichst schnell zu errichten, ließe sich die Beauftragung zweier Werkstätten gut nachvollziehen.
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freilich auch die dazugehörigen Inschriften sowie der steinerne Löwe noch nicht am Grab. In welchem Kontext aber sollten diese kommemorativen Elemente wie auch das gesamte Grabmonument dann wahrgenommen werden? Waren sie lediglich dazu gedacht, von den Angehörigen rezipiert zu werden, wenn diese das Grab der Gefallenen besuchten, sowie von Reisenden, die zufällig an diesem Monument vorbeikamen und vielleicht kurz verweilten? Ein solches Szenario, das auf jeglichen Kommentar und jegliche Einordnung dieses so stark auf die Gemeinschaft ausgerichteten Denkmals verzichtete, ist unwahrscheinlich. Plausibler ist daher, dass der Grabbezirk als Monument der polis nach seiner Vollendung im Rahmen eines Rituales der Gemeinschaft ‚offiziell‘ präsentiert und eingeweiht wurde. Anlass hierfür könnte dann einer der späteren ‚Gedenktage‘ (τὰ τρίτα; τὰ ἔνατα; τὰ τριακόστια?588) für die Toten gewesen sein, dem sich vermutlich auch jene Beigaben zuordnen ließen, die sich in der weißen Deckschicht des Grabhügels fanden. Immerhin gehören auch diese wohl derselben Zeitstufe an wie die Beigaben im Grab selbst und wurden nur kurze Zeit nach der eigentlichen Bestattung dort deponiert. Interessant ist diese Frage schließlich auch mit Blick auf das Gefallenenbegräbnis in Athen. Wurden auch dort die Grabmonumente erst im Anschluss an die eigentliche Bestattung errichtet oder waren sie zum Zeitpunkt der Beisetzung bereits voll ausgestaltet? Ein signifikanter Unterschied besteht wohl darin, dass die Athener alle Gefallenen eines Jahres zu einem bestimmten Tag gemeinsam bestatteten, während die Thespier offensichtlich nur spontan und unmittelbar auf das akute Ergebnis einer Schlacht reagierten. Unter Anderem kremierten die Athener deswegen ihre Kriegstoten bekanntermaßen noch im Feld, um dann die Asche nach Athen heimzuführen und dort bis zur gemeinsamen Bestattung im demosion sema aufzubewahren. Hingegen kremierten die Thespier ihre Gefallenen von 424 v.Chr. erst am Ort der Bestattung und scheuten hierfür nicht den enormen Aufwand, den es bedeutete, eine so große Zahl von Gefallenen über eine Distanz von über 50km zu transportieren.589 Wenden wir uns nun den Listen selbst zu. Oben wurde bereits erwähnt, dass diese lediglich die Namen der Gefallenen selbst im Nominativ aufzählten und keine Patronyme oder sonstige Details zu den Toten nannten. Das Fehlen der Patronyme ist dabei nicht weiter bemerkenswert, da diese, wie bereits mehrfach angemerkt, in Boiotien erst im Laufe des 4. Jh. v.Chr. in regelmäßige Verwendung kamen.590 Auffällig ist hingegen, dass als einzige unter den Toten die beiden siegreichen Athleten gekennzeichnet wurden,591 während alle anderen Gefallenen, unter denen 588 589
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S.o. Anm. 342. Fast alle modernen Autoren weisen explizit darauf hin, welch eine Anstrengung die Rückführung bedeutet haben muss. Siehe Schilardi 1977, 22; Low 2003, 108; Pritchett 1983, 133; Kurtz/Boardman 1985, 306. S.o. Anm. 546. Nicht weiter behandelt werden soll hier das ‚Umknicken‘ der Inschriften, das vielleicht als Hinweis auf eine spätere Ergänzung der Siegertitel aufgefasst werden mag (so Janett Schroeder im persönlichen
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sich sicherlich auch militärische oder politische Führungskräfte und andere verdiente Persönlichkeiten befanden, nicht weiter markiert wurden. Diese Beobachtung könnte nun als Bestätigung dafür genommen werden, dass es vor allem Mitglieder der sozialen Elite Thespiais waren, die beim Delion gekämpft und ihr Leben gelassen hatten.592 Diese ‚Blüte‘, wie Thukydides sie bezeichnete, hätten die regierenden Oligarchen nun in dem aufwendigen Grab vor den Mauern der Stadt bestatten lassen und dabei insbesondere aristokratische Werte wie etwa den Sieg im agon zelebriert und propagiert. Eine solche, ‚oligarchische‘ Auslegung der Nennung der beiden Sieger ist jedoch keineswegs zwingend, war zu dieser Zeit das ‚aristokratische oder oligarchische Monopol‘ auf Agone und Siege doch schon aufgebrochen. Anstatt den Sieg eines Bürgers im Agon länger als Leistung zu verstehen, die den Einzelnen über seine Mitbürger stellte, wurde der Sieg nun vielmehr als Leistung des Einzelnen für das Gemeinwesen und als Auszeichnung für die polis verstanden, die von dieser auch entsprechend anerkannt und gefeiert wurde.593 Aufgrund dieses veränderten Framings der agonalen Siege ist also keinesfalls gesagt, dass die ‚oligarchische‘ Lesart der Stelen hier zutrifft. Vielmehr ist wahrscheinlicher, dass die Nennung der Sieger im Kontext der Polisideologie zu sehen ist und dass die polis die Sieger als ‚Erzeugnis‘ des eigenen Systems kommemorierte.594 Wie steht es schließlich um die Namenslisten der Gefallenen selbst? Zwar ist die Quellendichte für Thespiai, gerade im 5. Jh. v.Chr., nicht hoch genug, um in irgendeiner Form prosopogra-
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Gespräch). Da aber weder die Buchstabenformen noch irgendwelche anderen Merkmale auf ein späteres Einschreiben hindeuten, scheint dies extrem unwahrscheinlich. Hier wird wieder einmal deutlich, dass der moderne Betrachter sich davor hüten sollte, seine eigenen ästhetischen Vorstellungen an die antiken Monumente heranzutragen. Siehe z.B. IG I3 1149, eine Gefallenenliste für Argiver, die in Athen aufgestellt wurde, und bei der gar die Kopfzeile senkrecht fortgeführt wurde. Vgl. o. Anm. 577. Freilich ist nur schwer vorstellbar, dass eine regierende oligarchische Elite, die gerade knapp einem politischen Umsturz entgangen war, nun einen Großteil der Angehörigen ihrer Klasse in die Schlacht entsandt haben soll, nur um somit die eigene polis für einen erneuten Umsturzversuch verwundbar zu machen. Vgl. Mann 2001, bes. 202–204 und 214 zum Verhältnis zwischen polis und Sieger am Beispiel Aiginas. Auch Low 2003, 108 verweist bereits auf diesen Umstand. Besonders deutlich wird dieses Framing als Leistung für die polis – diesmal für den Fall Thebens – auch in einigen Oden Pindars. So in seiner ersten Isthmischen Ode für Herodotos („Μᾶτερ ἐμὰ, τὸ τεόν, χρύσασπι Θήβα, πρᾶγμα καὶ ἀσχολίας ὑπέρτερον θήσομαι.“ [1–3] und „έπεὶ στεφάνους ἓξ ὦπασεν Κάδμου στρατῷ ἐξ ἀέλθων, καλλἰνικον πατρίδι κῦδος.“ [10–12]; in seiner dritten Isthmischen Rede für Melissos („Εἴ τις ἀνδρῶν εὐτυχήσαις ἢ σὺν εὐδόξοις ἀέθλοις […] ἄξιος εὐλογίαις ἀστῶν μεμίχθαι.“ [1–3]) sowie auch in seiner elften Pythischen Ode für Thrasyados oder der siebten Isthmischen Ode für Strepsiades. Besonders deutlich wird dieses Ausgreifen der polis auf die Wettkämpfe am Beispiel von Argos, wo die polis bereits im ersten Viertel des 5. Jh. v.Chr. Gespanne für die hippischen Wettkämpfe in Olympia finanzierte. Siehe hierzu Leppin 1999, 304. Auch die Rede, welche Thuk. 6.16.1f. dem Alkibiades in den Mund legt, zeugt letztlich von der Bedeutung der Siege für die polis. Ohne diesen Umstand hätte Alkibiades nämlich kein derartiges politisches Kapital aus seinen Wettkampferfolgen ziehen können.
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phische Untersuchungen anzustellen, doch können vielleicht die Namen der Gefallenen selbst einen Hinweis darauf geben, wer genau hier kommemoriert wurde? Das Spektrum setzt sich hierbei zusammen aus im gesamten griechischen Raum verbreiteten und häufig auftretenden Namen (z.B. Ἀριστόμαχος [A.7]; Διονύσιος [F.11]) sowie nur oder vorwiegend aus Boiotien bekannten (z.B. Σάμιχος [A.8 u. C.3]) und z.T. singulär belegten Namen (z.B. Βράμις [A.1]; Πέρδιξ [H.11]).595 Neben einigen Namen, die auf die aristokratische Herkunft ihrer Träger schließen lassen sowie einigen ‚neutraleren‘ sind es nun vor allem zwei Namen, die ins Auge stechen: Ϝέργων und Ϝοίκων, die beide auf Stele D aufgezählt werden. In beiden Fällen könnten die Namen darauf hindeuten, dass es sich um Sklaven bzw. wohl eher um Freigelassene handelte.596 Die Namensgebung wäre dann nach einem der von Charilaos Fragiadakis anhand der attischen Sklavennamen erarbeiteten Muster erfolgt.597 Nun finden sich der Name Ϝέργων bzw. Ἔργων ausschließlich und der Name Ϝοίκων vor allem in Boiotien,598 allerdings ohne dass sich für eine der Erwähnungen zeigen ließe, dass es sich um Sklaven oder Freigelassene handelte. Stattdessen traten die Träger der Namen – und insbesondere des Namens Ϝοίκων/Οἴκων – in einer Reihe von Funktionen auf, die sie als Vollbürger identifizieren oder diesen Status zumindest sehr wahrscheinlich machen.599 In Boiotien selbst findet sich eine ganze Reihe späterer Erwähnungen von Männern dieser Namen in einigen Militärkatalogen. Diese hielten fest, welche Bürger ihre 595
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Basis dieser Analysen war eine Suche der online verfügbaren LGPN-Datenbank, die dann anhand der Druckversion überprüft wurde. Hilfreich war bezüglich zahlreicher der ausschließlich oder vorwiegend in Boiotien anzutreffenden Namen deVottéro 1993. Freilich können im Falle der singulären Namen durchaus verwandte Formen oder Namen, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, angeführt werden. So etwa Περδίκκας zu Πέρδιξ. Dank für diesen Hinweis gebührt Rafał Matuszewski. Siehe Fragiadakis 1986, 36f. Es böte sich wohl dessen Schema 5.e für Spitznamen als Sklavennamen an, wobei darauf hinzuweisen ist, dass in Athen nie nur der abstrakte Hinweis auf Arbeit oder die Tätigkeit im Haus als Name diente, sondern stets spezifische Aufgaben herangezogen wurden. Vgl. LGPN III.B, 174 s.v. „Ϝέργων“; 142 s.v. „Ἔργων“; 175 s.v. „Ϝοίκων“ sowie die folgenden beiden Anmerkungen. Die Variante Οἴκων findet sich in Boiotien nicht (siehe ebd. 321 und die folgende Anmerkung für Belege außerhalb Boiotiens). Insgesamt finden sich in Boiotien Namen, die sich von der Wurzel ἐργ- und οἰκ- ableiten oder eine der beiden Wurzeln als Element eines Kompositums nutzen, im Vergleich mit anderen Teilen Griechenlands recht häufig. Diese verwandten Namen, bei denen es sich zumeist um Komposita handelt, werde ich hier nicht behandeln, sondern mich auf die exakt übereinstimmenden Formen beschränken. Manche Funktionen geben auch gar keinen Hinweis auf den Status der Genannten. Siehe zu den Belegen SEG 32.454, Nennung eines Θεογείτων Ἔργωνος in einer Liste von Kultteilnehmern aus Anthedon (ca. 150 v.Chr.); IG IX.2 742, Weihung eines Μειδίας Ἔργωνος aus Pelasgiotis (ohne Dat.); IG VII 2738, Grabstein eines Ϝοίκων aus Akraiphia (5. Jh. v.Chr.); SEG 3.360, Militärkatalog aus Akraiphia mit Nennung eines Ϝοίκων (3. Jh. v.Chr.). Der Name Ϝοίκων bzw. Οἴκων findet sich zudem auf einigen Inschriften aus Phokis (McInerney 1997, 205; IG XII.3 343) und aus Delos (IG XI.2 297, A.164; IDelos 449, A.17; 1403, Bb II.51 u. 62 [vermutlich derselbe Priester]. Vgl. McInerney 1997, 205f. auch kurz zum Namen „Ϝοίκων“.
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Ephebie absolviert hatten und nun in die Klasse der Peltophoroi (boiot. „πελτοφόρας“) eingeschrieben wurden.600 Es bleibt allerdings fraglich, ob sich aus letzteren Belegen in irgendeiner Form Rückschlüsse auf den sozialen oder ökonomischen Status der Genannten ziehen lassen. Bezeichneten Peltophoroi (oder Peltastai) ursprünglich nämlich Leichtbewaffnete, die oft aus den weniger wohlhabenden und sozial schwächeren Schichten stammten, finden sich gerade in Hyettos, woher gleich eine ganze Reihe der betreffenden Zeugnisse stammt, im 3. Jh. v.Chr. ausschließlich Inschriften, die von einer Einschreibung in die Peltophoroi berichten, nicht etwa in die Hopliten oder eine andere Klasse.601 Möglicherweise stellte also der Dienst in dieser Klasse einen verpflichtenden Zwischenschritt nach der Ephebie dar oder aber der Name bezeichnete nicht mehr alleine die Leichtbewaffneten, sondern auch schwerere oder gar allgemein alle Infanteriegattungen.602 In jedem Fall gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die genannten ‚Ϝέργοι‘ und ‚Ϝοίκοι‘ oder deren Söhne keine Vollbürger gewesen oder einer schwächeren sozialen oder ökonomischen Schicht zuzuordnen sein sollten. So ist auch für die Stelen in Thespiai zwar nicht auszuschließen, dass Ϝέργων und Ϝοίκων einer niedrigeren sozialen Schicht entstammten oder gar als Freigelassene das Bürgerrecht erhalten hatten. Ein eindeutiger Hinweis hierauf findet sich allerdings nicht. Es zeigt sich also wiederum, dass sich aus dem Monument selbst heraus kaum entscheiden lässt, ob es sich um ein ‚demokratisches‘ oder ein ‚oligarchisches‘ Monument handelte, auch wenn es in der bisherigen Forschung gerne einer dieser beiden Kategorien zugeschlagen wurde.603 Ich will anhand einiger hypothetischer Überlegungen beispielhaft diese Offenheit des Befundes für unterschiedliche Interpretationen weiter demonstrieren. Auch die gewählten Formen lassen sich nämlich in die eine oder andere Richtung interpretieren. So könnten die Rückfüh600
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Dies ist der Fall für IG VII 2821 (Ἕρμων Ϝέργωνος. Hyettos. 225 v.Chr.); IG VII 2820 (Λιούσων Ϝέργωνος. Hyettos. 221 v.Chr.); IG VII 2818 (Ϝέρφγων Ϝεργονίκω. Hyettos. 180–173 v.Chr.); IG VII 3292 ([Ϝ]οίκων. Chaironeia. A. 2. Jh. v.Chr.); SEG 37.385 (Ϝοίκων Ῥόδωνος; Thespiai; 245–240 v.Chr.; [möglicherweise auch als Reiter eingeschrieben]). Es liegt nahe, zu vermuten, dass es sich bei den drei Männern aus Hyettos um Verwandte bzw. im Falle von IG VII 2821 und 2820 wahrscheinlich um dieselbe Person handelte. Zu den Namen mit dem Stamm Ϝοίκ- siehe auch deVottéro 1993, 377f. Vgl. neben den genannten Listen IG VII 2809–2816; 2823; 2824; 2826–2832. Einzig in IG VII 2817 wird mit den ϝικατιϝέτιες (= εἰκοσαετής) eine andere Gruppe genannt, die aber eben nach Alter und nicht nach Waffengattung klassifiziert. IG VII 2819 spezifiziert nicht, welche Gruppe gemeint ist, befindet sich jedoch auf demselben Stein wie VII 2820, welche die Peltophoroi nennt und mag daher ebenfalls auf diese Gruppe bezogen sein. VII 2825 nennt ebenfalls keine konkrete Gruppe. Vermutlich ist diese Bedeutungsverschiebung auf makedonische Einflüsse zurückzuführen, bezeichnete der Begriff πέλτη hier doch nicht mehr einen leichten Lederschild, sondern einen mit Bronze beschlagenen Schild. Er konnte damit synonym zu ἀσπίς verwendet werden. Siehe hierzu Hatzopoulos 2001, 70–73; Juhel/Sekunda 2009; Williams 2004, insbes. 261–267. Insbesondere eben in der Diskussion um die Niederlegung der Mauern im Jahr 423 v.Chr. S.o. Anm. 577.
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rung der Gefallenen und ihre Auflistung am Grab, die zudem noch im für Boiotien ungewöhnlichen stoichedon vollzogen wurde, auf eine Orientierung am benachbarten Vorbild des demokratischen Athen gedeutet werden.604 Gleichzeitig aber müsste die Wahl eines Löwen als zentrales Schmuckelement des Grabes sicherlich als bewusste Referenz auf die Bestattung des Leonidas und der Thermopylenkämpfer verstanden werden und würde somit in eine monarchisch-oligarchische Richtung deuten. Schließlich lässt selbst der historische Kontext beide Interpretationsmöglichkeiten offen. Das Grab für die Gefallenen könnte einerseits als Monument der oligarchischen Führungsschicht erscheinen, die versuchte, ihre Gleichgestellten zu ehren und den Dienst der thespischen Aristokratie für die boiotische Sache zu demonstrieren. Andererseits könnte es als Anzeichen dafür genommen werden, dass in Thespiai in der Tat eine proathenische, prodemokratische Fraktion existierte, die nun für die Kommemoration der Gefallenen Formen und Modi wählte, die denen der Athener stark ähnelten. Vielleicht auch wollten die Oligarchen einer solchen Partei Entgegenkommen signalisieren und hofften, mit dem gemeinsamen Monument und Ritual einen integrativen Effekt zu erzeugen, der die Gemeinschaft wieder näher zusammenbringen und eine stasis verhindern würde. Mit diesem kurzen Gedankenspiel dürfte nun aber ausreichend deutlich geworden sein, dass die Dichotomie ‚demokratisch-oligarchisch‘ hier keinen Erkenntnisgewinn bringt und abgelegt werden muss. Überhaupt trägt sie, wie oben bereits angemerkt, den realen Verhältnissen wohl kaum Rechnung und stellt vielmehr eine Vereinfachung dar, die vor allem dem Bericht des Thukydides geschuldet ist. Anstatt also zu versuchen, das Gefallenengrab einer bestimmten politischen Ideologie oder einem politischen System zuzuschlagen und somit Ideen von außen an das Monument heranzutragen, will ich zunächst versuchen zu zeigen, welche Aussagen sich dem Grabmal selbst entnehmen lassen. Zunächst einmal wurde auf den Stelen – von den beiden panhellenischen Siegern abgesehen – nicht zwischen den Gefallenen unterschieden, sodass hier die Gleichheit der Kommemorierten zum Ausdruck gebracht wurde. Wie bereits oben dargelegt, war die Distinktion der Sieger dabei fest in die Polisideologie eingebunden, sodass ihre Markierung mit dem Egalitätsgedanken durchaus zu vereinbaren war. Diesbezüglich sei auch darauf hingewiesen, dass beide Namen zwar zusammen aber nicht etwa am Anfang einer Stele genannt wurden, sodass auch hierdurch die Einbindung des Individuums in die Gemeinschaft signalisiert wurde.605 Erinnert wurden also all jene, die ihre Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft wahrgenommen und 604
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So u.a. Schilardi 1977, passim aber insb. 54–56, der postuliert, der athenische Brauch habe sich auf Thespiai übertragen, wo dann im Osten der Stadt gleich ein regelrechtes demsion sema entstanden sei. Ähnlich auch Clairmont 1983, 233 sowie (etwas differenzierter und vorsichtiger) Ma 2008, 85f. Siehe zudem Austin 1938, 74f. für einige Bemerkungen bezüglich der Inschrift im ‚attischen‘ stoichedon. Man vergleiche etwa Beispiele aus Athen, auf denen Strategen oder Trierarchen am Anfang der Listen oder Demenabschnitte genannt werden: IG I3 1162; 1166; 1191. Diesen lassen sich allerdings auch Lis-
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sogar ihr Leben für sie gelassen hatten. In jedem Fall kam die polis, indem sie diesen Einsatz der Gefallenen für das Gemeinwesen anerkannte und kommemorierte, wiederum ihrer eigenen Verpflichtung gegenüber ihren Bürgern nach. Damit verdeutlichte sie eben nicht nur die gegenseitige Verantwortung und die Verknüpfung der Gemeinschaft und des Einzelnen, sondern demonstrierte auch ihren Willen und ihre Fähigkeit, zu handeln. Gerade dieser Aspekt aber war nach einer verlustreichen Schlacht wie jener am Delion wohl kaum zu unterschätzen, musste die hohe Zahl an Gefallenen doch einen tiefen Einschnitt für die Gemeinschaft bedeutet und starke Verunsicherung nach sich gezogen haben. In dieser Situation diente das monumentale Gefallenengrab und die gemeinsame Bestattung der Toten auch als Gelegenheit, das Weiterbestehen und die Handlungsfähigkeit der polis zu demonstrieren und damit einen integrativen Effekt zu erreichen; zumal sich die Situation aufgrund der polisinternen und innerboiotischen politischen Wirren und Konflikte besonders prekär dargestellt haben muss.606 Nicht zu vernachlässigen ist schließlich auch die Monumentalität des Grabes, das mit seiner 32m breiten Front und dem zentralen Podest mit dem Löwen, hinter dem sich der Tumulus auftürmte, beeindruckend gewirkt haben und weit sichtbar gewesen sein muss. Diese Monumentalität sollte sicherlich zum einen nach innen wirken und die oben beschriebenen Integrations- und Kohäsionseffekte verstärken. Zum anderen aber ist kaum vorstellbar, dass ein derart massives Monument nicht auch auf eine gewisse Außenwirkung hin konzipiert worden sein soll. Insbesondere der monumentale Löwe fällt hier auf, muss dieser doch sicherlich als Anspielung auf den Kampf an den Thermopylen verstanden werden. Freilich fanden sich Löwenskulpturen auch in anderen Kontexten und an anderen Grabmonumenten, doch muss der Kontext eines Gefallenengrabes diese Verbindung mit dem Grab für die Gefallenen an den Thermopylen, unter denen ja eben auch Thespier gewesen waren, stark nahegelegt haben.607 Wie schon der Kampf ihrer Vorfahren bei den Thermopylen konnte auch der Waffengang der Thespier am Delion als
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ten entgegenstellen, auf denen die Funktionäre inmitten der anderen Gefallenen genannt werden. Siehe z.B. IG I3 1192; 1186; 1190. Dass es innerhalb Thespiais oder zumindest zwischen Thespiai und Theben tatsächlich ernsthafte Konflikte gab, kann wohl in Anbetracht der Ereignisse nicht bezweifelt werden, auch wenn die konkreten Konstellationen und Zusammenhänge sich, wie oben dargelegt, nicht länger nachvollziehen lassen. So etwa auch Schilardi 1977, 37–40, der zudem noch andere Beispiele für Löwenstatuen an Gräbern und Polyandrien thematisiert. Am prominentesten sind neben dem Grabmonument an den Thermopylen hierbei das Grab für die Gefallenen Thebaner von Chaironeia und der Löwe von Amphipolis. Er weist zudem auf eine weitere Löwenskulptur hin, die in der Mauer des Kastro in Thespiai gefunden wurde. Sein Vorschlag, auch diese sei möglicherweise einem Polyandrion zuzuordnen, muss jedoch rein hypothetisch bleiben, finden sich Löwen doch auch in zahlreichen anderen Kontexten. Auch fallen die Dimensionen dieser Skulptur deutlich kleiner aus (siehe zu dieser und weitern Löwenskulpturen unterschiedlicher Größen und Epochen aus Thespiai deRidder 1922, 253–255 Nr. 68 und 255–259 Nr. 69.80). Sie soll daher wie auch andere Löwenmonumente, die sich nicht eindeutig einem Polyandrion zuweisen lassen (vgl. etwa Vermeule 1972, 51, der die Reste eines monumentalen Löwens nahe
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Kampf für die Freiheit und Autonomie der Boioter stilisiert werden, den diese unter großen Verlusten geführt hatten. Zwar zogen sie diesmal möglicherweise eher aus Zwang denn aus Überzeugung in die Schlacht; die Tatsache aber, dass sie als Teil der Boioter gekämpft und dabei viele Bürger ihr Leben verloren hatten, blieb bestehen und das monumentale Grab vor den Toren der Stadt konnte ebenso als Beleg für ihren Einsatz gelten, wie die Gräber der Perserkriegsgefallenen an den Thermopylen, bei Salamis oder in der Ebene von Plataiai. Anhand dieser Überlegungen wird deutlich, wie das Gefallenengedenken seinen Platz sowohl in einem oligarchischen als auch in einem demokratischen System finden konnte, indem nicht die konkreten Regierungsformen, sondern die polis als Referenzrahmen fungierte. Während diese Gedanken im letzten Hauptteil der Arbeit noch ausführlich dargelegt und behandelt werden sollen, muss für den Moment noch auf eine letzte Auffälligkeit des vorliegenden Grabmonumentes eingegangen werden, die mit dem soeben behandelten Komplex durchaus in Verbindung steht. Oben wurde knapp darauf hingewiesen, dass 1911 neben den bereits vorgestellten Befunden innerhalb des Grabbezirkes noch eine Gruppe jüngerer Vasen und Terrakotten gefunden wurden. Diese Objekte werden in dem knappen und noch vorläufigen Bericht zu den Grabungen von Antonios Keramopoullos aus demselben Jahr nicht erwähnt und es ist alleine den hartnäckigen Nachforschungen Demetrius Schilardis zu verdanken, dass diese Funde überhaupt wieder mit ihrem originären Kontext verbunden und publiziert werden konnten.608 Es handelt sich um eine Gruppe von 38 Vasen, Terrakottafiguren und -platten, die allesamt Brandspuren aufwiesen und einem einzigen Fundkontext entstammen müssen.609 Dabei ist nicht auszuschließen, dass dem Ensemble noch weitere Objekte angehörten, die sich diesem heute aber nicht mehr sicher zuordnen lassen.610 Die Gefäße der Gruppe orientierten sich stark an attischen Formen, wurden aber der lokalen Tradition entsprechend größtenteils nur mit schwarzem Firnis überzogen und nicht weiter verziert. Unter Heranziehung attischer und boiotischer Vergleichsobjekte gelingt
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Theben erwähnt), hier nicht behandelt werden. Auch Clairmont 1983, 233 zieht die Parallele zum Löwen an den Thermopylen, verweist aber darauf, dass dieses Monument wohl bedingt habe, dass Löwen insgesamt zum Symbol der „notion of the valiant fighter“ geworden seien und sich deshalb auch häufig in sepulkralen Kontexten fanden. Siehe außerdem Ma 2008, 85f.; Willemsen 1959, 42–62 und insb. 48; Vermeule 1972, passim sowie Waywell 1998, 237–240 (mit weiterer Literatur). Im Appendix beschreibt Schilardi 1977 die mühsamen und umfangreichen Arbeiten, die nötig waren, um die weit verstreuten Funde aus dem Polyandrion überhaupt zusammenzufinden und dem Grab sicher zuordnen zu können. Siehe hierzu und zum Folgenden Schilardi 1977, 36f.; 71–73 sowie die Katalogeinträge zu den Funden in Bd. II, 222–238 Nr. 811–848. Schilardi 1977, 565 weist explizit darauf hin, dass alle Funde, die nicht zweifelsfrei dem Polyandrion zugewiesen werden konnten, rigoros aus seiner Untersuchung ausgeschlossen wurden.
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es Schilardi, das Ensemble in die ersten beiden Jahrzehnte des 4. Jh. v.Chr. zu datieren. Einzig einige wenige Stücke entstammten noch dem letzten Drittel des 5. Jh. v.Chr.611 Schilardi schlussfolgert aus dem Gegebenen, dass die Objekte in einem Grabritual einige Jahrzehnte nach der eigentlichen Bestattung als Beigaben verbrannt wurden. Er geht dabei davon aus, dass dieses Ritual mit dem Wiedererlangen der Autonomie Thespiais durch den Königsfrieden 386 v.Chr. in Zusammenhang stand und möglicherweise die Wiederaufnahme des jährlichen Grabkultes für die Deliongefallenen darstellte. Diese Annahme gilt es in ihren Einzelheiten zu hinterfragen, bevor eine Deutung des beobachteten Phänomens versucht werden kann. So ist zunächst danach zu fragen, wer das Ritual am Grab der Gefallenen vollzog. Schilardi suggeriert, dass es sich hierbei um die polis von Thespiai gehandelt haben müsse, und in der Tat finden sich einige Anzeichen, die hierfür sprechen. Schon alleine die Menge der Beigaben, die offensichtlich in einem einzigen Ritual dargebracht worden waren, dürfte die Aktivität von Einzelpersonen, die etwa den Grabkult für ihre Vorfahren oder Angehörigen ausübten, ausschließen, insbesondere weil vermutlich nur ein Teil der zugehörigen Objekte geborgen bzw. zugeordnet werden konnte. Darüber hinaus fällt die lange Pause zwischen der ursprünglichen Bestattung und dem späteren Ritual auf, die sich für den Fall von Angehörigen oder einer sonstigen Gruppe nur schwer erklären ließe. Hier würde man einen kontinuierlichen Grabkult erwarten, während auf der Ebene der polis eher vorstellbar wäre, dass ein konkreter Anlass eine Aktualisierung des Gedenkens an die Deliongefallenen nötig oder sinnig gemacht hätte. Was nun das zweite Element von Schilardis Annahme – die jährliche Wiederholung des Grabkultes – betrifft, ist wohl kein längerer Kommentar vonnöten, deutet doch nichts im Befund auf eine Perpetuierung des Grabkultes hin, so wie auch nach der eigentlichen Bestattung über mehrere Jahrzehnte keine weiteren Aktivitäten nachgewiesen wurden.612 Die bekannten Fakten legen vielmehr nahe, dass es sich um ein einmaliges Ritual zur Aktualisierung des Gedenkens an die Deliongefallenen handelte. Hiermit aber sind wir bei der entscheidenden Frage nach dem Anlass dieser Aktualisierung angekommen, den Schilardi in der Wiedererlangung der politischen Autonomie der polis durch die Bestimmungen des Königsfriedens sehen will. Seine Argumentation, ein solches Ritual wäre nicht denkbar gewesen, solange Thespiai von Theben dominiert wurde, kann dabei nicht ganz
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Da auch diese Stücke demselben Fundkontext wie die jüngeren Objekte entstammen, waren sie wohl schlichtweg vor ihrer Deponierung bereits länger in Gebrauch gewesen. Für die Datierung des Ensembles sind weiter die jüngsten Funde ausschlaggebend. Abgesehen freilich von den in der Deckschicht dargebrachten Beigaben, die aber, wie oben dargelegt, wohl mit der Fertigstellung des Grabmonumentes und/oder einem der regulären ‚Gedenktage‘ in Zusammenhang stehen und somit zeitlich noch recht nah an der Bestattung lagen.
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überzeugen.613 Sicherlich war die thebanische Kontrolle, unter der Thespiai nach 423 v.Chr. stand, nicht derart eng und direkt gestaltet, dass ein derartiges polisinternes Ritual unmöglich gewesen wäre. Dennoch hat Schilardi die Aktualisierung des Gefallenengedenkens wohl korrekterweise mit dem Autonomiegedanken verknüpft. Die Aktualisierung, die wohlgemerkt nach Jahrzehnten der Untätigkeit am Grab erfolgte, muss durch ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Entwicklung ausgelöst worden sein. Die Datierung der Funde führt nun in die 390er und 380er Jahre v.Chr., womit der Korinthische Krieg und der Königsfrieden als Kandidaten naheliegen und auch die Verbindung mit dem Autonomiegedanken hergestellt ist. Zwar ist fast nichts über die Rolle der Thespier im Korinthischen Krieg bekannt – sie werden einzig in der Schlacht am Nemeabach auf Seiten der antispartanischen Allianz erwähnt614 – und insgesamt ist in Anbetracht ihrer exponierten Lage nicht davon auszugehen, dass ihnen eine andere Wahl blieb, als mit Theben und den anderen Boiotern gegen die Lakedaimonier ins Feld zu ziehen. Doch ist durchaus wahrscheinlich, dass die spartanischen Parolen des Kampfes für die Unabhängigkeit der griechischen poleis615 in Thespiai nicht auf taube Ohren stießen. Zumindest stellte die Wiederherstellung der Autonomie durch den Königsfrieden für die Thespier ganz offensichtlich ein Ereignis von größter Bedeutung dar, was sich nicht zuletzt in der Vehemenz zeigt, mit der sie ihre wiedererlangte Autonomie bis zur Zerstörung bzw. Entvölkerung der Stadt im Jahr 371 v.Chr. – u.a. mit spartanischer Hilfe – verteidigten.616 Tatsächlich geschah m.E. diese einmalige Aktualisierung des Gedenkens an die Deliongefallenen durch die polis von Thespiai zur bewussten Markierung oder wenigstens in Antizipation der Wiederherstellung ihrer Autonomie und der Loslösung aus der Abhängigkeit von Theben. Nicht zuletzt halte ich diese Erklärung für überzeugend, weil sich eine ähnliche Verknüpfung der Aktualisierung von Gefallenengedenken mit Situationen, in denen die betreffenden poleis ihre Selbstbestimmung entweder bedroht sahen oder gerade wiedererlangt hatten, auch in einer Reihe anderer Fälle fassen lässt.617 Im vorliegenden Fall eignete sich die Aktualisierung besonders für eine solche Markierung, weil das Grab für die Deliongefallenen gleich ein ganzes Netz von Verbindungen zwischen den Gefallenen der polis und ihrer Autonomie aufspannte. So waren die Ereignisse rund um die Delionkampagne überhaupt erst der Grund oder zumindest der Anlass für die Niederlegung der Mauern durch die Thebaner gewesen. Zwar lassen sich die 613
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Diese Argumentation scheint mir zumindest den Aussagen in Schilardi 1977, 37 zu entnehmen. Clairmont 1983, 233 folgt ihm hierin. Xen. Hel. 4.2.20. Siehe etwa Xen. Hell. 4.8.14f.; Andok. 3.18f. Siehe hierzu weiter unten. Siehe etwa den Fall des wiedereingeschriebenen Epigramms aus Theben, das Grab für die gefallenen Thebaner bei Chaironeia oder auch die Statue für Eugnotos aus Akraiphia. Dieser Komplex wird im 3. Hauptteil noch eingehend behandelt.
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genauen Zusammenhänge nicht mehr rekonstruieren, doch dürfte zumindest sicher sein, dass die Thebaner entweder aufgrund der Beteiligung eines Teils der Thespier an den attischen Umsturz- und Eroberungsplänen intervenierten oder aber dass sie die Schwächung der polis durch die Verluste in der Schlacht zu ihrem Vorteil ausnutzten. Freilich ergab sich diese Erkenntnis erst aus der Rückschau und war den Thespiern 424 v.Chr. noch nicht verfügbar. Dennoch deutet die Wahl eines monumentalen steinernen Löwen als zentrales Schmuckelement des Grabes darauf hin, dass die Thespier schon damals eine Verbindung zum Kampf um Freiheit und Autonomie, wie ihn die Perserkriege gezeigt hatten, suchten. Wiederum sei dahingestellt, wie genau die Lesart ausfallen sollte: Verstanden die Thespier das Grabmal als Zeugnis ihres Anteils an der Verteidigung der boiotischen Autonomie gegen die Unterdrückung durch die Athener oder als Beleg des Kampfes gegen ihre eigene ‚Entmachtung‘ durch die Thebaner, der sie entgegenwirken wollten, indem sie ihrer Verpflichtung gegenüber dem koinon nachkamen? Die Formsprache des Grabes jedenfalls suchte, einen Bezug zum Grab des Leonidas und der Thermopylenkämpfer herzustellen. Eben weil das Monument aber bereits auf unterschiedliche Arten so eng mit dem Autonomiegedanken verknüpft werden konnte, eignete es sich auch besonders, um nun das Wiedererlangen der Selbstbestimmung zu markieren, zu zelebrieren und im Ritual zu inszenieren. Zum einen konnte nämlich der direkte Bezug zur Situation von 424/3 v.Chr. hergestellt werden und somit Anfang und Ende der Phase der Abhängigkeit markiert werden. Zum anderen wurde mit dem indirekten Bezug zum Grab an den Thermopylen an den zweiten Perserkrieg erinnert, in dem die Thespier ebenfalls für ihre Autonomie gekämpft, diese dann trotz ihres Einsatzes durch die Zerstörung ihrer polis verloren, sie aber letzten Endes doch wiedererlangt hatten. Nicht nur bot sich hiermit also der Verweis auf einen historischen Präzedenzfall an, der die Widerstandsfähigkeit und die Persistenz des Gemeinwesens verdeutlichte. Auch ließ sich der historischen Parallele eine moralische Dimension und eine Kritik an Theben beiordnen, das in den Perserkriegen ‚medisiert‘ und sich somit in den Augen der Thespier mitschuldig an der Zerstörung ihrer polis gemacht hatte, und das diesmal gar direkt für den Verlust der Autonomie verantwortlich gewesen war. Freilich handelt es sich hierbei nur um eine Hypothese, die auf einer ganzen Reihe von Annahmen beruht. Dennoch bin ich der Überzeugung, diese Lesart in Parallele zu den anderen erwähnten Fällen der Verknüpfung des Gefallenengedenkens mit dem Autonomiegedanken plausibel machen zu können. Ich werde diesen Komplex weiter unten noch intensiver beleuchten und hoffe, die Zusammenhänge somit noch klarer herausarbeiten zu können. Für den Moment jedoch will ich es bei den obigen Überlegungen belassen und stattdessen zum nächsten Monument weiterschreiten. Nur kurz will ich auf das Fragment eines Reiterreliefs – das sog. Reiterrelief Chiaramonti – eingehen, das vermutlich aus Thespiai stammte und sich heute in den Vatikanischen Museen befin172
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det.618 Das Stück aus thespischem Kalkstein, das fast rundum bestoßen oder modern zugeschnitten ist, misst heute noch eine Höhe von 0,7m und eine Breite von 0,58m. Es zeigt einen bärtigen Mann im Profil, der eine Chlamys trägt und auf einem Pferd nach rechts reitet. Das Relief ist unterhalb des Knies des Reiters abgebrochen, sodass auch von seinem Pferd nur der Kopf und ein Teil des Oberkörpers erhalten sind. Deutlich ist erkennbar, dass das Tier den Kopf zurückwirft und vermutlich vor etwas zu seiner rechten zurückscheut. Dabei dürfte es sich um einen weiteren Reiter gehandelt haben, lassen sich doch zwischen Hals und Schnauze des Pferdes die Reste eines Gewandes erkennen, das wohl einem zweiten Berittenen zugeschlagen werden muss, der heute verloren ist. Aufgrund der starken konzeptionellen und vor allem stilistischen Ähnlichkeiten mit dem Parthenonfries wurde wiederholt vorgeschlagen, der Künstler habe entweder selbst am Parthenon mitgewirkt oder aber von einem der beteiligten Meister gelernt.619 In jedem Fall lasse sich das Relief aufgrund der stilistischen Charakteristika mit großer Sicherheit in die 20er Jahre des 5. Jh. v.Chr. datieren. Die Reliefstele wird nun in der Forschung einheitlich als Grabmonument identifiziert, da aus dieser Zeit in Thespiai kein Tempel oder anderes öffentliches Gebäude bekannt ist, dem ein Relief dieser Größe zugeordnet werden könnte, und weil Format und Motiv des Stückes eine Identifikation als Weihung unwahrscheinlich machen. Zahlreiche der Bearbeiter gehen zudem einen Schritt weiter und wollen das Relief einem Gefallenengrab zuordnen. Als Gründe für die Zuweisung zu einem Polyandrion werden dabei die Monumentalität des Reliefs genannt sowie die Tatsache, dass gleich zwei Reiter oder zumindest ein Reiter und noch eine weitere Person dargestellt waren. Keinen der Autoren stört dabei, dass der Dargestellte weder Waffen noch Rüstung, sondern eben lediglich eine Chlamys trägt und offenbar nicht in einer Kampfhandlung dargestellt ist. In Anbetracht der athenischen Beeinflussung des Künstlers scheint dies aber doch zumindest bemerkenswert, zeigen doch alle Reliefs von attischen Gefallenenmonumenten stets bewaffnete Krieger inmitten einer Kampfszene.620 Auszuschließen ist sicherlich, dass der mutmaßliche zweite Reiter bewaffnet gewesen, sein erhaltener Kamerad aber ungerüstet geblieben 618
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Da die unterschiedlichen Abhandlungen in Beschreibung und Interpretation des Reliefs größtenteils übereinstimmen, will ich hier nur einmal gesammelt die wichtigste Literatur nennen und im Folgenden weitestgehend auf einzelne Verweise verzichten. Siehe demnach Schild-Xenidou 1972, 17f. Nr. 17; 2008, 256f. Nr. 23 + Taf. 8 (dort auch weitere Literatur); Clairmont 1983, 234 Nr. 48d; Rodenwaldt 1913, 330f.; Schefold 1960, 83f.; 244 Nr. 304; Fuchs in Helbig 1963, 634f. Nr. 871. So etwa Kaempf-Dimiatridou 1986, 30–33; Goette 2009, 196. Vgl. weiter auch Clairmont 1970, 43f.; Recke 2002, 143 und vor allem die ausführlichen Arbeiten von Arrington 2010a, 84–104 sowie 2015, 125–176 zu den inhaltlichen und stilistischen Ähnlichkeiten der Staatsgräber und anderer staatlicher Monumente in Athen. Auch Rodenwaldt 1913, 314 weist im Kontext der Untersuchung eines anderen thespischen Reliefs, das sicher nur einen einzelnen Reiter darstellte und hier nicht näher thematisiert werden soll, auf diesen Umstand hin. Zu den attischen Reliefs s. o. 1. II Die Form der Gräber mit Anm. 205.
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sein solle. Es könnte sich demnach um eine Variation des attischen Vorbildes gehandelt haben, die bewusst auf eine militärische Darstellung verzichtete. Möglicherweise war auch schon die Darstellung eines Paares (einer Gruppe?) von Reitern an einem Gefallenengrab ausreichend, um ihren militärischen Einsatz zu evozieren. Vielleicht muss aber auch schlichtweg die Zuordnung des Reliefs zu einem Gefallenengrab noch einmal in Frage gestellt und überdacht werden. Zwar ist nämlich die Identifikation als Grabmonument äußerst wahrscheinlich, doch gilt dies nicht zwangsläufig für die Zuweisung zu einem Polyandrion. Ein kurzer Blick in Valia Schild-Xenidous Katalog der boiotischen Grab- und Weihreliefs zeigt sehr schnell, dass sich in Thespiai zu dieser Zeit auch andere großformatige Grabstelen finden, deren Ausmaße jenen des Reiterreliefs nahekommen.621 Das Argument, aufgrund der Monumentalität des Reliefs auf die Zugehörigkeit zu einem Gefallenengrab schließen zu können, ist daher nur bedingt überzeugend. Anders stellt sich die Situation bezüglich des zweiten Elements der Argumentation dar: der Darstellung mehrerer Personen. Tatsächlich sind nämlich Darstellungen von mehreren Personen auf den thespischen Grabreliefs dieser Zeit ungewöhnlich und obwohl sich durchaus Beispiele finden lassen, handelt es sich bei den zusätzlichen Figuren meist um Diener und Dienerinnen.622 Diese sind aber zu unterscheiden vom dem zu rekonstruierenden zweiten Reiter des vorliegenden Stückes, der dem ersten Reiter als ebenbürtig anzusehen ist. Dennoch erscheint es mir voreilig, aus der Tatsache, dass auf dem Relief wahrscheinlich zwei gleichberechtigte Figuren dargestellt waren, direkt zu schließen, dass dieses einem Gefallenengrab zugehörig war. Schließlich wäre immer noch möglich, dass das Relif zu einem Grab gehörte, in dem gleich mehrere Angehörige derselben wohlhabenden Familie bestattet lagen.623 Derartige Grabmonumente, etwa für Brüderpaare, sind vielfach belegt und auch in Thespiai denkbar.624 Vor diesem Hintergrund wird nun deutlich, dass die Identifikation des Reliefs als Teil eines Gefallenenmonumentes keines621
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Siehe insbesondere Schild-Xenidou 2008, 252f. Nr. 19 (Grabrelief des sog. Agathokles. 2,24 x 0,78 x 0,18m. 430/20 v.Chr.) aber auch 253 Nr. 20 (Grabrelief eines Mädchens. 1,24 x 0,74 x 0,23m. 440 v.Chr.) und 249f. Nr. 16 (gebrochenes Grabrelief eines Reiters. 1,00 x 0,82 x 0,13m. 440 v.Chr.). Vgl. Schild-Xenidou 2008, 267f. Nr. 34 (Grabrelief einer sitzenden Frau mit Dienerin. 1,56 x 1,01 x 0,16m. 430/20 v.Chr.); 277f. Nr. 45 (Grabrelief eines stehenden Mannes mit Diener. 1,34 x 0,85 x 0,7m. 410/400 v.Chr.). Auch Schild-Xenidou 2008, 256 nennt diese Möglichkeit, spricht sich dann aber eben doch für die Identifikation als Gefallenenmonument aus. Nur einige wenige Beispiele seien hier genannt. In Athen finden sich die beiden Grabstelen für die Brüderpaare Lykeas und Chairedemos (CAT 2.156) sowie Sosias und Kephisodoros (CAT 3.192). Ein Epigramm des Nikander (Anth. Pal. 7.435) berichtet von einem (vermutlich fiktiven) Spartaner, dessen sechs Brüder in Messene gefallen waren und von ihrem überlebenden Bruder bestattet wurden. Aus Rhodos sind zwei Inschriften bekannt, die jeweils zwei bzw. drei Brüder, die gemeinsam im Kampf gefallen waren, erinnerten (Kontorini 2012/2013, 349 und Syll.3 1225; GV 41). In Anbetracht der unklaren Umstände des vorliegenden Monuments will ich dem Leser ersparen, darüber zu spekulieren, ob auch hiermit zwei gefallene Brüder/Verwandte kommemoriert wurden.
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wegs so sicher ist, wie manche Autoren dies scheinen lassen. Zwar ist diese Interpretation durchaus möglich und ließe sich nur allzu leicht als Beleg des bei Thukydides erwähnten Attikismos der Thespier heranziehen.625 Doch lassen der unbekannte Fund- und Aufstellungskontext des Monumentes sowie die erwähnten Vergleichsbeispiele noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten offen, die ebenso plausibel wären. Zu betonen ist zudem, dass die Thespier, selbst wenn sie hier tatsächlich ein Gefallenenmonument nach athenischem Vorbild errichteten, doch eine bedeutsame Modifikation vornahmen, indem sie sich dazu entschlossen, keine Kampszene darzustellen und stattdessen ein ‚zivileres‘ Thema wählten. In diesem Zusammenhang ist schließlich noch eine weitere Reliefstele aus Thespiai von Interesse.626 Wiederum handelte es sich ursprünglich um ein sehr großes Monument aus Kalkstein, das heute noch in einer Höhe von 1,08m, einer Breite von 0,98m und einer Dicke von 0,2m erhalten ist. Auch dieses Relief zeigt einen Reiter und sein Pferd, jedoch sitzt der Mann diesmal nicht auf, sondern steht frontal dem Betrachter zugewandt vor seinem Tier. Er ist mit einem Muskelpanzer gerüstet, über dem er eine Chlamys trägt und seine linke Hand liegt auf dem Schwert an seiner Seite. Der Stein ist knapp unterhalb der Hüfte des Mannes gebrochen. Krieger wie Pferd wenden den Kopf vom Betrachter aus gesehen nach links, wo der Stein aufhört. Die Anathyrose an der linken Seite sowie auch die Reste eines Rahmens, der am oberen und am rechten Ende der Stele noch erhalten ist, zeigen eindeutig, dass hier ursprünglich eine weitere Platte ansetzte.627 Möglicherweise war hier ein weiterer Pferdeführer dargestellt, vielleicht aber auch eine andere Figur. Während nämlich Valia Schild-Xenidou meint, der ausgestreckte rechte Arm des Reiters habe die Zügel des Pferdes gehalten und dabei auf die Löcher zur Anbringung der metallenen Zügel verweist, argumentiert Ursula Heimberg, dass die Haltung der Hand und jene des Pferdekopfes nicht zusammenpassen würden und dass der Reiter vielmehr einer zu seiner Rechten dargestellten Person etwas reichen würde.628 Klärung lässt sich wiederum nicht bringen und so wäre etwa auch denkbar, dass es sich um eine Dexiosis-Szene handelte. Aufgrund stilistischer Kriterien lässt sich das Relief an das Ende des 5. Jh. oder den Anfang des 4. Jh. v.Chr. und damit in zeitliche Nähe zum vorigen Monumentes datieren.629 Obwohl es ebenfalls 625 626
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S.o. Anm. 576. Siehe Schild-Xenidou 1972, 22f. Nr. 22; 2008 48–50; 263f. Nr. 31 + Taf. 11; Heimberg 1973, 22–26 Nr. III + Taf. 3. Siehe hierzu v.a. Heimberg 1973, 22f., die eine deutlich genauere Analyse bietet als Schild-Xenidou 2008, 263f. Vgl. Schild-Xenidou 2008, 263f. und Heimberg 1973, 24f. Schild-Xenidou 1972, 22f. Nr. 22 schlägt aufgrund stilistischer Kriterien eine Datierung in die letzten beiden Jahrzehnte des 5. Jh. v.Chr. vor. Heimberg 1973, 25f. ist deutlich vorsichtiger und meint, dass eine rein stilistische Datierung des Reliefs wegen der teils starken Bestoßung nur schwer möglich sei. Sie zieht daher noch eine stilistische Datierung der architektonischen Rahmung sowie motivische Vergleiche heran und schlägt daher eine Datierung um das erste Viertel des 4. Jh. v.Chr. vor. Siehe
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von hoher Qualität ist, weißt es deutlich andere stilistische Eigenheiten auf als jenes Relief und stammt demnach aus einer anderen Werkstatt. Interessant ist nun, dass im Falle dieses Monuments, das ebenfalls als Grabrelief identifiziert wird, keiner der beiden Bearbeiter vorschlägt, dass es einem Gefallenengrab zugehörig gewesen sei. Dabei läge dieser Gedanke doch wohl insofern nahe, als dass es sich wiederum um ein enorm großes Monument handelte, das sicherlich mehrere Personen zeigte, und darüber hinaus der Dargestellte in diesem Fall immerhin gerüstet war. Wie im Fall des vorigen Reliefs lässt sich keine Entscheidung treffen. Alleine die Tatsache, dass in der Literatur in einem Fall die Assoziation mit einem Gefallenenmonument gesucht wird, während sie im anderen Fall nicht einmal erwähnt wird, zeigt schon, wie schwierig es ist, hier konkrete Zuordnungen zu treffen und zwischen privaten und staatlichen Monumenten zu unterscheiden. Antonios Keramopoullos veröffentlichte 1920 erstmals zwei Fragmente einer thespischen Gefallenenliste, die bereits 1891 als Spolien im Kastro der Stadt entdeckt worden waren.630 Die beiden Fragmente, die aus Marmor und nicht wie die älteren Monumente aus lokalem Kalkstein bestehen, lassen sich problemlos zusammenfügen und sind an drei Seiten gebrochen. Einzig das obere Ende des Steins ist erhalten und erlaubt, das Stück eindeutig als Giebelstele zu rekonstruieren. Das Monument ist in einer Höhe von 0,43m und einer Breite von 0,29m erhalten und war 0,12m dick. Das Giebelfeld ist gepickt, was darauf hinweisen könnte, dass hier ursprünglich Bemalung aufgetragen war. Der Giebel ist durch eine schmal eingemeißelte Linie abgetrennt, an welcher die Inschrift direkt ansetzt. Erhalten ist eine Überschrift, die mit einiger Sicherheit als „[ἐν τõι]πολέμοι ἀ[πέθανον]“ ergänzt werden kann631 und die Stele klar als Gefallenenmonument identifiziert. Unter dieser Kopfzeile folgen die Reste von zwei Spalten, die die Namen der Gefallenen auflisten und sich stark von einander unterscheiden. In der linken Spalte sind die Reste von drei Namen erhalten, die, wie auch die Überschrift, im boiotischen Alphabet eingeschrieben sind. Mit einer Buchstabenhöhe von 2,5cm fallen sie dabei etwas kleiner aus als die Überschrift, deren Buchstaben eine Höhe von 3cm erreichen. Das einzige Foto des Stückes, das zudem nur einen Abklatsch zeigt, erlaubt keine sicheren Angaben, jedoch lassen die Lücken zwischen der Überschrift und dem ersten Namen sowie zwischen dem zweiten und dem dritten
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hierauf wiederum die Antwort bei Schild-Xenidou 2008, 49 Anm. 245, wo die Autorin Heimbergs Argumentation ablehnt und auf ihrer ursprünglichen Datierung beharrt. Zum Stück siehe Keramopoullos, in: ArchEph (1920), 35f.; I.Thesp. 486; Plassart 1958, 117–119; Taillard/Roesch 1966, 79–87; Clairmont 1983, 236f. Nr. 68c; Pritchett 1985, 141–43; deVottéro 1996, 164–166. Bedauerlicherweise ist lediglich ein Fotos des Abklatsches bei Keramopoullos, in: ArchEph (1920), 35 Abb. 14 veröffentlicht, aber keine Bilder des Steins selbst. Plassart 1958, 118 argumentiert überzeugend gegen die von Keramopoullos vorgeschlagene Ergänzung als „[οἵδε ἐν τõι]πολέμοι ἀ[πέθανον]“.
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Namen darauf schließen, dass hier ursprünglich wohl noch zwei weitere Männer mit kürzeren Namen verzeichnet waren. Die rechte Spalte unterscheidet sich nun dadurch, dass sie die Gefallenen nicht im boiotischen, sondern im ionischen Alphabet632 und überdies in deutlich kleineren Buchstaben mit einer Höhe von nur 1,4cm aufzählt. Einzig der Name des Μνασίθ[εος], der in der ersten Zeile dieser Spalte genannt wird, fällt mit einer Buchstabenhöhe von 1,8cm etwas größer aus.633 Aufgrund des kleineren Formates konnten somit auf demselben Raum die Namen von gleich zehn Männern untergebracht werden. Da der Stein am unteren Ende gebrochen ist, lässt sich nicht klären, wie viele Männer ursprünglich aufgelistet waren. Jedoch ist in Anbetracht des Formates der Stele davon auszugehen, dass insgesamt deutlich mehr Gefallene auf der Liste verzeichnet waren. Die Unterschiede zwischen den beiden Spalten lassen sich am wahrscheinlichsten dadurch erklären, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten eingeschrieben wurden. Zwar äußert William K. Pritchett deutliche Zweifel hieran, weil dies bedeuten würde, dass die zweite Spalte zunächst absichtlich und mit der Erwartung weiterer Verluste frei gelassen worden sein müsste. Doch kann er keine befriedigende alternative Erklärung bieten634 und zudem findet sich in Athen mindestens ein Vergleichsbeispiel, bei dem genau dies der Fall gewesen sein muss.635 Voraussetzung für eine solche Planung wäre freilich gewesen, dass die Zeitgenossen schon bei der Errichtung des Monuments absehen konnten, dass der Konflikt, in dem die früheren Gefallenen umgekommen waren, sich noch fortsetzen und vermutlich weitere Opfer fordern würde. Als Kandidaten wurden in der Forschung nun zwei solche Konflikte vorgebracht: der Korinthische Krieg oder 632
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Plassart 1958, 118 verweist insbesondere auf die Unterschiede in den Lambdas. Gut erkennbar sind auf dem Abklatschfoto aber auch die Unterschiede zwischen dem Sigmas (drei Hasten gegenüber vier Hasten). Vielleicht sollte Mnasitheos besonders hervorgehoben werden. Möglicherweise hatte hier aber auch der Steinmetz schlichtweg falsch geplant und erst nach Vollenden der ersten Zeile realisiert, dass er kleiner schreiben musste, um alle Gefallenen in dem vorgegebenen Raum unterzubringen. Pritchett 1985, 142 will die Unterschiede stattdessen dadurch erklären, dass hier gleichzeitig zwei unterschiedliche Steinmetze am Werk gewesen seien. Zwar ließen sich so wohl die Unterschiede in der Schrift erklären, nicht aber die deutlich divergierenden Formate. Es handelt sich um die erst kürzlich von Parlama/Stampolidis 2000, 396–399, Nr. 452 veröffentlichte Stele. Hier wurde allerdings möglicherweise auch eine Bemalung entfernt, um entweder wenige Jahre, vielleicht aber auch zwei Jahrzehnte nach der ersten Bestattung, weitere Gefallene einzuschreiben (siehe ebd.). Vielleicht muss auch im Falle einiger sehr großer attischer Gefallenenlisten, insbesondere aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges, davon ausgegangen werden, dass hier bewusst Flächen freigelassen wurden, um Nachträge einzufügen. Gerade wenn die Listen zur alljährlichen Bestattung der Toten bereits fertig- und am Grab aufgestellt sein sollten, war es bei verlustreichen Jahren nötig, besonders früh mit der Ausarbeitung anzufangen. So bestand denn aber auch die Möglichkeit, dass in der Zwischenzeit noch weitere Opfer anfallen konnten, die dann ebenfalls noch ihren Platz auf den Listen finden mussten. Hier wären entsprechende Vorkehrungen angemessen und nötig gewesen. Mögliche Beispiele für ein solches Vorgehen: IG I3 1190; 1191; 1162. Vgl. auch Bradeen 1969, 146–149.
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aber der Kampf der Thespier gegen die thebanischen Hegemoniebestrebungen in den 370er Jahren v.Chr.636 Die Vertreter der unterschiedlichen Datierungen bedienen sich hierbei einer Mischung historischer und paläographischer Argumente. Zentral ist jeweils die Überlegung, dass der Wechsel vom boiotischen zum ionischen Alphabet durch ein bestimmtes Ereignis erklärt werden müsse. Jean Taillard und Paul Roesch vertreten nun die These, dass die linke Spalte die gefallenen Thespier der Schlacht bei Haliartos 395 v.Chr. aufgelistet habe, während die rechte Spalte den Toten der Schlacht am Nemeabach 394 v.Chr. gegolten habe, von denen auch Xenophon berichtet.637 Sie argumentieren, die Boioter hätten zwischen diesen beiden Schlachten das ionische Alphabet, das auch die Athener seit 403 v.Chr. in offiziellen Inschriften verwendeten, für offizielle Dokumente übernommen. Damit hätten sie gehofft, den Athenern, mit denen sie 395 v.Chr. eine Allianz gegen Sparta eingegangen waren, zu signalisieren, dass es ihnen mit dem Bündnis ernst war, und dergestalt Misstrauen auf Seiten der Athener abzubauen versucht. Nun ist zum einen stark zu bezweifeln, ob eine solche Maßnahme wirklich zur Vertrauensbildung auf Seiten der Athener beigetragen hätte oder überhaupt dazu geeignet gewesen wäre. Zum anderen konnte Guy de Vottéro in seinen jüngeren Arbeiten überzeugend dafür argumentieren, dass sich der Wechsel zum ionischen Alphabet in Boiotien in den 370er Jahren v.Chr. vollzog, weshalb wohl auch das vorliegende Monument in diese Zeit datiert werden muss.638 Schon William K. Pritchett hatte die Stele diesem Zeitraum zuordnen wollen, wenn er dabei auch nicht auf paläographische Kriterien verwies, sondern vielmehr auf die heftigen Kämpfe zwischen Spartanern und Thespiern auf der einen und den Thebanern auf der anderen Seite, von denen die literarischen Quellen berichten.639 Diese These scheint durch die Ergebnisse von de Vottéros Forschungen nun bestätigt, sodass die Gefallenen der Liste wohl im Kampf zur Verteidigung
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Keramopoullos, in: ArchEph (1920), 35f. hatte noch vorgeschlagen, die Stele sei möglicherweise dem sog. Dritten Heiligen Krieg oder dem Alexanderzug zuzuordnen, jedoch legte bereits A. Wilhelm in SEG 2.186 dar, dass dies aufgrund paläographischer Kriterien nicht möglich sei. Vgl. Xen. Hel. 4.2.20. Zur Argumentation siehe Taillard/Roesch 1966, 79–85. Bereits zuvor hatte sich Wilhelm in SEG 2.186 für diese Datierung ausgesprochen, ohne allerdings neben den paläographischen Charakteristika weitere Argumente zu nennen. Clairmont 1983, 236f. Nr. 68c folgt Taillard und Roesch. In I.Thesp. 486 wird die Datierung in die Zeit des Korinthischen Krieges wiederholt, ohne jedoch näher ausgeführt zu werden. Das Lemma ist hier offensichtlich unvollständig. deVottéro 1996, passim sowie 164–166 konkret zum vorliegenden Monument. Weder de Vottéro noch Taillard/Roesch 1966 problematisieren in ihren Arbeiten die Frage, ob alle boiotischen poleis denn überhaupt auch nur in etwa zeitgleich in ihren offiziellen Inschriften zum ionischen Alphabet wechselten. Dies ist m.E. keinesfalls eine zwingende Annahme, zumindest wenn es Inschriften der polis selbst und nicht des koinon betrifft. Dennoch kann de Vottéro für den Fall Thespiais plausibel dafür argumentieren, dass der Wechsel erst nach der Loslösung von Theben durch den Königsfrieden 386 v.Chr. erfolgte. Damit aber werden wiederum die 370er Jahre v.Chr. als Datum wahrscheinlich. Siehe Pritchett 1985, 143. Sowohl Xen. Hel. 5.4.42–46; 6.4.10 als auch Diod. Sic. 15.33.4f. schildern die Kämpfe in Boiotien in den frühen 370er Jahren v.Chr.
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der thespischen Autonomie gegen die thebanischen Hegemonialansprüche starben. Ob die Verwendung des ionischen Alphabets dabei wirklich eine politische Aussage beinhalten sollte, muss fraglich bleiben, da vielleicht auch nur ein anderer Steinmetz engagiert wurde, der sein Handwerk möglicherweise in Athen gelernt oder ausgeübt hatte oder anderweitig durch die athenischen Werkstätten beeinflusst war.640 Auffällig ist jedoch, dass die Form des Monumentes als Inschriftenstele mit einer „[ἐν τõι]πολέμοι ἀ[πέθανον]“ lesenden Kopfzeile und der Auflistung der Toten in Spalten stark an die athenischen Gefallenenmonumente erinnert. Umso bemerkenswerter wäre dies, falls es sich bei der oben besprochenen etwa zeitgleichen Liste aus Theben641 tatsächlich um ein Gefallenendenkmal gehandelt haben sollte. Diese war nämlich eben nicht als Liste gestaltet, sondern nannte die mutmaßlichen Gefallenen in durchlaufendem Text und zudem mit Angabe der Patronyme in adjektivischer Form. Möglicherweise versuchten die Thespier, hier bewusst eine Orientierung am Athener Vorbild zu inszenieren oder aber auch in Abgrenzung zu den Thebanern zu treten. Sichere Aussagen lassen sich diesbezüglich aufgrund der nur groben Datierungen der einzelnen Monumente freilich nicht treffen. Selbst wenn dies aber nicht der Fall gewesen sein sollte, zeigt sich zumindest, wie unterschiedlich die Formen der Gefallenenkommemoration auch in einem kleinen und soziopolitisch relativ homogenen Raum wie dem südlichen Boiotien ausfallen konnten. Zudem lässt sich schon jetzt absehen, dass das Gefallenengedenken auch innerhalb Thespiais selbst im Laufe des 5. und 4. Jh. v.Chr. sehr unterschiedlich gestaltet wurde. Ebenfalls aus Thespiai stammt ein weiteres bemerkenswertes Monument, das wohl nicht aus staatlicher Hand errichtet wurde, aber dennoch für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist.642 Es handelt sich um eine Giebelstele aus weißem Marmor mit einer Höhe von 0,79m, einer Breite von 0,48m und einer Dicke von 0,14m. Auf der Stele findet sich eine abgeriebene Inschrift, die aus den folgenden fünf Zeilen besteht: Φιλολάιος Φηγήας ἐν Οἰνοφύτοις Λαυκλε͂ς ἐν Ὠρωποῖ Φιλολάιος ἐν Ὠρωποῖ Φιλολάιος ἐν Κορωνείη 640
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Insofern mag Pritchett 1985, 142 in gewisser Hinsicht Recht haben (s.o. Anm. 634). Jedoch bleibt seine These, dass hier zwei Steinmetze gleichzeitig an dem Monument gearbeitet haben sollen, nicht plausibel. S.o. 2. I. Theben mit Anm. 451. Das Monument ist nur aus einer Beschreibung und Abschrift Paul Jamots bekannt, die Plassart 1958, 133f. Nr. 174 zitiert. Siehe zudem I.Thesp. 488 sowie Schachter 1996, 117 mit Anm. 67 und 2003, 70 Nr. 5.
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Bezüglich der Datierung lässt sich einzig die Einschätzung Paul Jamots anführen, der die Inschrift 1890 aufnahm und kopierte. Er schloss aufgrund der Buchstabenformen, dass sie nicht vor die Mitte des 4. Jh. v.Chr. datiert werden könne. Zwar bestätigen die nachfolgenden Bearbeiter diese Datierung, jedoch steht ihnen hierfür eben nur die Kopie Jamots zur Verfügung, nicht aber der Stein selbst. Von Jamot stammt denn auch der Vorschlag, das Monument zähle möglicherweise Angehörige diverser Generationen einer thespischen Familie auf, die im Krieg gestorben waren. Es sei nach der Neugründung der Stadt durch Philipp von Makedonien 338 v.Chr. errichtet worden und habe möglicherweise ältere Monumente ersetzen sollen, die bei der Zerstörung der Stadt durch die Thebaner 371 v.Chr. beschädigt oder niedergelegt worden waren. Diese These fand bei den weiteren Bearbeitern ausnahmslos Zustimmung und in der Tat fällt es schwer, eine andere Erklärung für das ungewöhnliche Monument zu finden. Die Zuordnung der Personen zu einer einzigen Familie kann bei der dreifachen Nennung von Männern mit dem Namen Philolaios kaum bezweifelt werden, wobei diese Dreifachnennung zudem wahrscheinlich macht, dass es sich um Angehörige mehrerer Generationen handelte. Auch die Interpretation der Ortsangaben als Marker der Schlachten, in denen die genannten Personen umgekommen waren, erscheint wahrscheinlich. Zumindest findet sich keine andere These, die auch nur ähnlich plausibel erklären würde, warum hinter den Namen von vier der fünf Männer Ortsangaben eingeschrieben wurden, die alle mit großen Schlachten identifiziert werden können, an denen die Thespier teilnahmen oder ihre Teilnahme wahrscheinlich gemacht werden kann. Möglicherweise bezog sich nämlich die Ortsangabe „ἐν Ὠρωποῖ“auf die Schlacht vom Delion und so sei darauf hingewiesen, dass auf einer der oben besprochenen Stelen des Grabes von 424 v.Chr. tatsächlich ein Philolaos genannt wurde.643 Insofern die Datierung der Inschrift in die zweite Hälfte des 4. Jh. v.Chr. zutrifft, ist schließlich auch naheliegend, dass diese erst nach dem Wiederaufbau der Stadt entstand. Fraglich ist indes, ob die Errichtung der Stele tatsächlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Neugründung der Stadt stand, wie Jamot vorschlägt. Zwar wäre wohlmöglich ein Szenario denkbar, in dem die polis von Thespiai einer Familie, die sich in besonderem Maße um die Gemeinschaft verdient gemacht hatte, eine derartige Ehrung gewährte und damit die lange Geschichte des Dienstes dieses oikos für die polis anerkannte und kommemorierte. Doch ist ein solches Vorgehen wohl kaum – wie Jamot vorschlägt – für alle Familien denkbar, die von einer vermeintlichen Zerstörung der älteren Gefallenenmonumente betroffen waren. Stattdessen han643
Schachter 2003, 70 Nr. 5 und 1996, 117 Anm. 67 argumentiert, dass die Angabe Oropos sich auf die Schlacht von 424 v.Chr. bezogen habe, die heute als Schlacht vom Delion bezeichnet wird. Er verweist hierbei auf eine Passage bei Thukydides (4.92.1), die eine solche Bezeichnung nahelegt sowie eben auf die Nennung eines Philolaios auf IG VII 1888 E.7. Ein Laukles ist auf den erhaltenen Stelen nicht verzeichnet.
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delt es sich bei dem vorliegenden Monument vermutlich um ein Denkmal, das die Familie selbst stiftete. Hiermit versuchte sie wohlmöglich, ihre Position in der sich gerade wieder konstituierenden Bürgerschaft wiedereinzunehmen und zu zementieren, indem sie auf die historischen Verdienste ihrer Angehörigen verwies. In Anbetracht der Tatsache, dass die Bürgerschaft der Thespier über 30 Jahre zuvor aufgelöst und auf unterschiedliche poleis der Region verteilt worden war, waren solche Maßnahmen wohl sinnvoll und nötig. Diese These mag gar auch erklären, warum jener Philolaos, der in der ersten Zeile der Inschrift genannt wird, ohne eine Ortsangabe genannt wurde.644 Vielleicht war er nämlich anders als seine vier Verwandten überhaupt nicht im Krieg, sondern relativ kurz nachdem die Familie nach Thespiai zurückgekehrt war, gestorben. Als seine Angehörigen ihm dann ein Grab errichteten, beschlossen sie, auf dem Grabmonument auch die Vorfahren des Philolaos zu erwähnen, die sich durch ihren Tod im Krieg für die polis ausgezeichnet hatten. Das Format der Stele ließe in jedem Fall eine Interpretation als Grabmonument zu und wiederum sind aus dem nahen Athen zahlreiche Beispiele bekannt, in denen Grabstelen ganze Stammbäume abbilden konnten.645 Erneut erlaubt der fragmentarische Zustand der Quellen keine präzise und sichere Rekonstruktion der Ereignisse und Zusammenhänge. Zumindest aber dürfte die These, dass das Monument die Erinnerung an frühere Gefallene der polis erneuerte, als wahrscheinlich gelten. Die Tatsache, dass die Erinnerung dabei nicht nur erneuert wurde, sondern überhaupt noch präsent war, ist dabei nicht zu unterschätzen. Immerhin lag die Schlacht von Oinophyta über 100 Jahre zurück und selbst der jüngste Kampf bei Koroneia lag bereits fast 60 Jahre in der Vergangenheit.646 Mit Blick auf die Studien zum attischen Grabkult, die belegen, dass dieser in der privaten Sphäre nie länger als zwei oder maximal drei Generationen vollzogen wurde, wird somit deutlich, welche eine Bedeutung den Kriegsgefallenen in Thespiai zugemessen worden sein muss, sodass sie noch mehrere Generationen nach ihrem Tod in Erinnerung verbleiben konnten. Sollte zudem die oben vorgeschlagene Rekonstruktion zutreffen, wäre insbesondere bemerkenswert, dass hier ein oikos seine Position mittels einer Aktualisierung des Gedenkens an die Gefallenen der eigenen Familie zu stärken suchte und sich hierfür einer ähnlichen Taktik bediente, wie sie auch die polis selbst verwandte. Hierin zeigt sich nochmals die Bedeutung der Kriegstoten für das Selbstverständnis der Gemeinschaft.
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Die Bearbeiter von I.Thesp. 488 schlagen diesbezüglich vor, dass der erste Schlachtort, bei dem es sich gar um die Thermopylen oder Plataiai gehandelt haben könne, mit Farbe eingeschrieben worden sein könne. Dies ist aber in Anbetracht der Tatsache, dass alle anderen Schlachtorte eingemeißelt wurden, unwahrscheinlich. Siehe Hildebrandt 2006, passim. Die Ortsangaben werden i.d.R. in Verbindung gebracht mit den Schlachten von Oinophyta 457 v.Chr., am Delion 424 v.Chr. (s.o. Anm. 643) und bei Koroneia 394 v.Chr.
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Thespiai stellt schließlich auch einen jener Fälle dar, in denen das Gefallenengedenken möglicherweise auch nach der klassischen Epoche noch eine gewisse Rolle spielte. Yannis Kalliontzis schlug unlängst vor, dass ein fragmentarisches Epigramm aus dem 3. Jh. v.Chr. möglicherweise als Teil eines Gefallenenmonuments zu identifizieren sei.647 Es befindet sich auf einem Fragment aus weißem Kalkstein, das 1890 im Kastro der Stadt gefunden wurde und das die linke untere Ecke einer Basis bildete. Der Stein ist noch in einer Höhe von 0,24m, einer Breite von 0,28m und einer Dicke von 0,31m erhalten und hätte sowohl eine Inschriftenstele als auch eine Statue oder ein sonstiges Monument aufnehmen können. Die Anfänge von sechs Zeilen eines Epigramms sind noch lesbar: [---]ΛΛΟΥΣ[---] ἀνδρῶν δ[---] εὖτε συνικ[νοῦντο ---] χεῖρα ὑπὲρ Ἑλ[λάδος ---] δουλοσύνης [---] Κοινῆι Βοιωτοὶ τ[---]648
In Anbetracht des fragmentarischen Zustandes der Inschrift muss jegliche Interpretation hypothetisch bleiben, doch finden sich mit „ἀνδρῶν“, „δουλοσύνης“ und „Κοινῆι Βοιωτοὶ“ zahlreiche Schlagwörter, die eine Zuordnung zu einem Gefallenenmonument zumindest plausibel machen.649 Mit Blick auf die paläographische Datierung der Inschrift auf die erste Hälfte des 3. Jh. v.Chr. wäre nun etwa denkbar, dass das Monument, ähnlich wie jenes für Eugnotos in Akraiphia,650 mit den Aufständen gegen Demetrios Poliorketes in den 290er Jahren v.Chr. in Zusammenhang stand. Immerhin kämpften die Boioter hier gemeinsam (als koinon) gegen die Herrschaft des Demetrios an, die polemisierend durchaus als „δουλοσύνη“ hätte bezeichnet werden können. Zudem berichtet Plutarch, dass die zentrale Figur, zumindest des ersten Aufstandes, ein Thespier namens Peisis gewesen sei.651 Wie im Falle der Statue für Eugnotos wäre denkbar, dass auch das vorliegende Monument erst einige Zeit nach den Kämpfen gegen Demetrios entstand und in der Rückschau den Widerstand der Thespier und der Boioter gegen den König feiern 647
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Siehe Kalliontzis 2014, 348 Nr. 6 + Abb. 4 sowie die früheren Publikationen in I.Thesp. 336 und Plassart 1926, 460 Nr. 115. Nach I.Thesp. 336. Wie das Foto bei Kalliontzis 2014, 346 Abb. 4 zeigt, ist die erste Zeile heute verloren. Paul Jamot, der das Stück aufgenommen und einen Abklatsch angefertigt hatte, konnte sie aber noch lesen. Auch die Ergänzung von „συνικ[νοῦντο]“ in Zeile 3 ist wahrscheinlich, während „Ἑλ[λάδος]“ in Zeile 4 deutlich unsicherer Natur ist; insbesondere weil auch das erste Lambda nicht eindeutig lesbar ist. S.o. 2. I. Akraiphia mit Anm. 263., wo die historischen Zusammenhänge knapp geschildert werden. Vgl. Plut. Demetr. 39.1f.
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sollte. Vielleicht wäre gar zu überlegen, ob es sich um ein Monument des Bundes handelte, dass die Mitwirkung der Thespier kommemorierte. Weil sich aber weder der Aufstellungskontext der Basis noch der volle Wortlaut der Inschrift länger erschließen lassen, will ich diese hypothetischen Zusammenhänge nicht weiter belasten und es bei dieser knappen Notiz belassen. Auch das nächste zu behandelnde Monument muss mehr Antworten schuldig bleiben, als es liefert. Die Reste der stark fragmentarischen Giebelstele wurden 1889 in den Ruinen von Makri Ekklisia im Osten Thespiais gefunden, wo auch das bereits besprochene ‚Familienmonument‘ entdeckt worden war.652 Die Maße der Stele unterhalb des Giebelfeldes werden mit einer Höhe von 0,9m, einer Breite von 0,57m und einer Dicke von 0,21m angegeben. Als Material wurde ein „calcaire beige veiné de rose“653 verwendet, der sich wohl von dem lokal anstehenden Kalkstein unterschied. Unterhalb des Giebels finden sich die Reste einer Inschrift, die stellenweise stark verrieben und daher nur zum Teil lesbar ist. Die ersten beiden Zeilen der Inschrift, die anhand der Buchstabenformen in das 3. Jh. v.Chr. datiert wird, lauten: Θεισπιέες ΝΙΚ[---]ΙΕΛ ΑΝΕΝ[---] ΘΕΙΒΗ
Darunter folgt eine Liste, in der die Reste von 15 Namen erhalten sind. Soweit noch zu erkennen, war pro Zeile ein männlicher Name mit einem angehängten Patronym aufgezählt. Das Monument wird von André Plassart und Yannis Kalliontzis als Gefallenenliste identifiziert und auch William K. Pritchett tendiert zu dieser Interpretation, wenn er auch anmerkt, dass ihm „no parallel for a state labelling ist own war dead with an ethnic“ bekannt sei. Tatsächlich ist diese Markierung im Nominativ Plural ungewöhnlich. Üblicherweise wurde die Poliszugehörigkeit der Gefallenen durch eine Genitivkonstruktion, ähnlich der aus Athen bekannten Formel „Ἀθεναίων hοίδε ἐν τõι πολέμοι ἀπέθανον“,654 ausgedrückt. Dass sich aber durchaus Ausnahmen von dieser Praxis finden, zeigen einige Beispiele aus Athen655 sowie auch die eingangs dieses 652
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Siehe I.Thesp. 487; Plassart 1958, 162f. sowie Keramopoullos, in: ArchEph (1936), 26 Nr. 194, der allerdings nur das untere linke Fragment und damit nur die letzten neun Zeilen der Inschrift publizierte. Ein Foto dieses Fragments findet sich neuerdings bei Kalliontzis 2014, 347 Abb. 3. Andere Abbildungen des Monuments wurden nicht publiziert. Auch Pritchett 1985, 145 behandelt die Inschrift kurz. I.Thesp. 487. Für einige Beispiele siehe etwa IG I3 1149 (mit Nennung der Argiver); 1162 sowie IG II/III2 5222 (in diesem Fall die Reiter). Auch die Phylenangabe auf den attischen Gefallenenlisten erfolgte meist im Genitiv (IG I3 1147; 1162; 1164; 1165 etc.). Siehe aber auch die folgende Anmerkung. Möglicherweise fand sich ebendiese Formel auch auf der oben (Anm. 630) besprochenen thespischen Gefallenenliste der 370er Jahre v.Chr. Siehe IG I3 1144 und SEG 56.430 mit Nennung der Phylen im Nominativ. Auch Verbündete und andere Gruppen (andere Waffengattungen, xenoi) wurden häufig im Nominativ genannt, vgl. u.a. IG I3 1144;
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Kapitels behandelte Gefallenenliste des 5. Jh. v.Chr., die mit der Formel „Θεσ[π]ι̣ε͂[ς] /σε͂μα τόδ[ε] /ἀνέθεαν·“ überschrieben ist.656 In Pritchetts Bemerkung zeigt sich vor allem wieder einmal, wie sehr die Athener Bräuche die Vorstellungen des klassischen Gefallenengedenkens prägen. Indes ist die Wahl der Form „Θεισπιέες“ doch wohl nicht so sehr von lokalen Konventionen abhängig, sondern vielmehr von der folgenden Zeile, die möglicherweise einen Sieg über oder aber auch zusammen mit der polis von Theben kommemorierte. Der Versuch, einen der vielen kleinen oder großen, oftmals nur schlecht überlieferten, Konflikte des 3. Jh. v.Chr. als Anlass des Monumentes zu identifizieren, scheint aussichtslos, insbesondere da noch nicht einmal die genaue Art der Beteiligung Thebens geklärt ist. Zumindest aber liegt mit der Stele wohl ein weiteres Gefallenendenkmal des 3. Jh. v.Chr. vor, finden sich (1.) mit der Überschrift, welche die Thespier als Akteure nennt, (2.) der Liste der Namen, die der Zeit gemäß nun mit dem Patronym genannt werden, sowie (3.) dem Fundort, der mit jenem des oben behandelten ‚Familienmonuments‘ übereinstimmte, das vermutlich ursprünglich auch einem sepulkralen Kontext entstammte, doch zahlreiche Indizien für eine solche Identifikation. Schließlich muss hier mit Blick auf das thespische Gefallenengedenken noch ein letztes Zeugnis, das ebenfalls dem 3. Jh. v.Chr. angehörte, besprochen werden. Es handelt sich um den oberen Teil einer Palmettenstele, die aus einem Grabbezirk in einer Nekropole ca. 3km nordöstlich von Chaironeia stammt.657 Der erhaltene Teil ist 1,36m hoch, 0,44m breit und 0,22m dick und legt nahe, dass das ursprüngliche Monument recht schmal und hoch gewesen sein muss. Vermutlich war es einst auf der Umfassungsmauer des Bezirkes aufgestellt, in dem das Fragment und ein weiteres Grabmonument gefunden wurden.658 Den oberen Abschluss bildet eine Palmette mit zwei Voluten, die durch einige Blätter und eine simple Leiste vom Rest der Stele abgesetzt ist. Hierunter folgen eine dreizeilige Inschrift sowie zwei Rosetten. Der Text lautet: Γλαυκίας Λανόμω Θεσπιεύς πολέμαρχος659
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1163; 1184; 1190. Auffällig ist auch IG I3 1191. I.Thesp. 484. S.o. Anm. 543. Zum Stück: Dakoronia, P., in: Arch.Delt. 29 (1973–1974) [1979], 443; 1979, 149–154; Roesch, P., in: Teiresias (1980), 3 Nr. 7; Kalliontzis 2014, 364f. mit einem guten Foto (Abb. 19). Siehe hierzu Dakoronia 1979 sowie Dies., in: Arch.Delt. 29 (1973–1974) [1979], insb. 154–158. In SEG 29.440 werden die letzten beiden Worte fälschlicherweise auf zwei Zeilen verteilt. Unklar ist, ob sich unter der rechten Rosette noch eine weitere Inschrift findet. Diese wird nirgendwo erwähnt, ist aber auf dem Foto bei Kalliontzis 2014, 365 Abb. 19 zu erkennen. Möglicherweise handelt es sich lediglich um ein späteres Graffito, das deshalb bewusst aus den Editionen herausgelassen wurde.
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I. Boiotien
Glaukias lässt sich nun auch auf einer Reihe anderer Inschriften aus Boiotien fassen, die von seiner Aktivität in der Mitte des 3. Jh. v.Chr. zeugen. Damit ist sehr wahrscheinlich, dass Glaukias, der ja auf seiner Grabstele explizit in einer militärischen Funktion genannt wird, 245 v.Chr. in der verlorenen Schlacht der Boioter gegen die Aitoler fiel.660 Weiter oben wurden bereits zwei weitere Grabmonumente aus Leuktra und Orchomenos vorgestellt, die mit dieser Schlacht in Verbindung gebracht werden.661 Sofort fällt auf, dass diese Gräber in den Heimatorten der Toten errichtet wurden und die Gefallenen somit zurückgeführt worden sein müssen. Während dies aber im Falle des einzelnen bzw. der beiden Gefallenen aus Leuktra vermutlich auf private Initiative geschah, könnte es sich im Falle der Orchomenier auch um eine staatliche Aktion gehandelt haben.662 Das Monument des Glaukias lässt nun nicht klar erkennen, ob es durch seine Angehörigen oder durch die polis finanziert wurde und auch der Fundkontext bietet hierbei keine weiteren Anhaltspunkte.663 Einzig die Tatsache, dass Glaukias auf seinem Grabstein als Polemarch identifiziert wird, könnte als Hinweis darauf genommen werden, dass sein Grab durch die öffentliche Hand finanziert wurde. Ebenso könnte aber auch die Familie des Glaukias die Bestattung in Chaironeia beschlossen haben, oder aber ein chaironeischer Gastfreund der Familie wurde hier aktiv. Völlig unabhängig von dieser Frage ist es in jedem Fall wichtig, festzuhalten, dass hier, anders als noch in den beiden zuletzt behandelten Monumenten, nur ein Einzelner bestattet und kommemoriert wurde. Möglicherweise zeigt also die Grabstele für Glaukias, dass das zuvor gängige kollektive Gefallenengedenken nunmehr aufgegeben worden war. Betrachtet man die diskutierten Zeugnisse noch einmal in der Gesamtschau, lässt sich festhalten, dass sich in Thespiai vom 5. bis ins 3. Jh. v.Chr. Fälle von kollektivem, durch die polis getragenen, Gefallenengedenken finden lassen. Obwohl die einzelnen Belege dabei nur punktuell auftreten und zum Teil zeitlich weit auseinander liegen, kann wohl aufgrund dieser relativen Regelmäßigkeit – sowohl in Bezug auf die Zahl der Zeugnisse im Vergleich zu anderen poleis sowie auch vor dem Hintergrund der Überlieferungslage zur Geschichte Thespiais insgesamt – dennoch davon ausgegangen werden, dass die Bestattung und die Kommemoration der Kriegstoten
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Siehe hierzu Roesch, P., in: Teiresias (1980), 3 Nr. 7 sowie Knoepfler 1999, 241f. Dakoronia in: Arch.Delt. 29 (1973–1974) [1979], 149–154 hatte das Monument in das Jahr 192 v.Chr. datieren wollen, jedoch wurde ihre Argumentation von Roesch widerlegt, der von „confusions prosopographiques“ sprach. Vgl. o. 2. I. Leuktra und 2. I. Orchomenos. Da das Monument noch nicht publiziert ist und nur knapp bei Kalliontzis 2014, 348f. erwähnt wird, handelt es sich lediglich um eine hypothetische Annahme. Die zweite Grabstele, die in dem Peribolos gefunden wurde, ist zu fragmentarisch, als dass sie Hinweise auf die Identität des Verstorbenen geben könnte. Siehe Dakoronia in: Arch.Delt. 29 (1973–1974) [1979], passim.
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durch die polis einen festen Platz im Kanon der thespischen Bräuche hatten. Das Epigramm auf die Gefallenen der Thermopylenschlacht stellt hierbei den ältesten Beleg für ein kollektives Gefallenenmonument aus Thespiai dar, wenn auch nicht mit endgültiger Sicherheit gesagt werden kann, ob das Epigramm authentisch ist oder ob es nicht zumindest erst mit einiger zeitlicher Verzögerung am Grab der Gefallenen angebracht wurde. Die Riten und insbesondere die Monumente für die Kriegstoten nahmen über die drei Jahrhunderte unterschiedliche Formen an, sodass sich keine zwei Denkmäler aus Thespiai finden, die gleich gewesen wären. Dennoch lassen sich einige grundlegende Züge festmachen. So waren Listen mit den Namen der Gefallenen wohl seit dem frühen bzw. mittleren 5. Jh. v.Chr. bis in das 3. Jh. v.Chr. ein fester Bestandteil der Monumente. Hier wurden alle Gefallenen nur mit ihrem Eigennamen und ohne jegliche weitere Kennzeichnung aufgeführt. Patronyme finden sich erst, als diese auch im Bereich der privaten Grabmäler Standard geworden waren. Selbst die einzige Ausnahme der Markierung zweier siegreicher Athleten auf dem Deliongrab durchbrach dieses Schema nur sehr bedingt. Stets stand das Kollektiv der gleichberechtigten Bürger, die für die polis gefallen waren, im Zentrum der Erinnerung. Auch die Rückführung der Gefallenen muss, insofern es sich bei den erhaltenen Monumenten nicht um Kenotaphe handelte, wohl ein steter Teil der Sorge für die Gefallenen gewesen sein. Zumindest zeugt die Tatsache, dass die Thespier die Leichname der Gefallenen der Schlacht vom Delion mehr als 50km weit transportierten, bevor sie sie kremierten und bestatteten, von einer großen Einsatzbereitschaft in dieser Hinsicht. Ob dieses Vorgehen auch bei weiter entfernten Schlachtorten gewählt wurde oder überhaupt möglich war, muss jedoch fraglich bleiben. Schließlich legen die betrachteten Monumente nahe, dass zu den Gräbern häufig auch ein Epigramm oder zumindest eine Überschrift gehörte, die erklärte, dass es sich bei den Bestatteten um Gefallene handelte. Darüber hinaus aber unterschieden sich die Monumente im Einzelnen sehr stark, wenn auch von dem frühen Säulenmonument mit einer Gefallenenliste über das Grab des Jahres 424 v.Chr bis hin zur zweischriftigen Liste der 370er Jahre v.Chr. sicherlich ein konstanter und wachsender Einfluss des athenischen Brauches festzustellen ist. Selbst dieser Einfluss auf die Formen scheint jedoch nicht ungebrochen, finden sich doch kaum direkte Übernahmen, sondern stets leichte Variationen. So kopierten etwa auch die beiden Reiterreliefs des späten 5. Jh. v.Chr. – so sie denn tatsächlich Gefallenenmonumenten zugehörig waren – das athenische Vorbild nicht einfach, sondern modifizierten es. Damit aber sind wir bei der ganz grundlegenden Frage angelangt, ob eine Übernahme der – in diesem Fall attischen – Formen auch eine Übernahme der Inhalte und Aussageabsicht bedeutet oder ob hier zwischen einer künstlerischen und einer ideologischen Einflussnahme unterschieden werden muss. Polly Low spricht sich stark für letzteres aus,664 und in der Tat lassen sich im gesamten Boiotien und etwa auch in Theben künstlerische Einflüsse des wirkmächtigen Athen 664
Siehe etwa Low 2003, 108. Ähnlich auch Daumas 2001, 135 und Rodenwaldt 1913, passim.
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I. Boiotien
finden,665 ohne dass hier eine ideologische Annäherung zu beobachten wäre. Auch wurde im Vorangegangenen an mehreren Stellen deutlich, dass das Gefallenengedenken sich eben gerade durch eine ambivalente Einsetzbarkeit auszeichnete, die nicht an eine konkrete Regierungsform gebunden war. Stattdessen konnte gezeigt werden, dass die spezifische Konzeption der polis und der Gemeinschaft der Bürger den zentralen Referenzrahmen für das Gefallenengedenken boten und nicht ein bestimmtes oligarchisches oder demokratisches System. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass das thespische Gefallenengedenken viele Ähnlichkeiten zum athenischen Brauch aufwies – deutlich mehr etwa als sein thebanischer Nachbar, wo sich das kollektive Gefallenengedenken erst spät entwickelte und die Leistung des Einzelnen noch länger eine prominentere Rolle spielte. Manche Forscher schätzen die Parallelen zum patrios nomos der Athener dabei so stark ein, dass sie im Osten Thespiais ein demosion sema nach attischem Vorbild postulieren wollten. Eine solche Behauptung lässt sich allerdings in Anbetracht der schlechten Quellenlage nicht halten.666 Auch muss konstatiert werden, dass sich im Falle Thespiais keine so deutliche und enge Verbindung zu Athen finden lässt, wie dies etwa für Plataiai der Fall war. Die Thespier scheinen das kollektive Gefallenengedenken viel mehr zu ihrem eigenen Brauch gemacht zu haben, als die Plataier dies taten. Anstatt die Gründe für die Ähnlichkeiten zwischen der thespischen und der athenischen Praxis in einer ideologischen Nähe der beiden poleis zu suchen, scheint es sinniger, diese vielmehr in ihrer außenpolitischen Nähe und Kooperation zu sehen, hatten die Thespier doch schon im 5. Jh. v.Chr. gute Beziehungen zu Athen unterhalten, die vermutlich auf einem gemeinsamen Misstrauen gegenüber dem benachbarten Theben beruhten. Diese Beziehung war historisch gewachsen und hatte sich, wie oben dargelegt, bereits in den Perserkriegen bewährt. Es mag gerade die Kommemoration der Perserkriegsgefallenen, an der auch die Thespier teilgehabt haben müssen, gewesen sein, welche den Grundstein für ein regelmäßiges Gefallenengedenken in Thespiai legte und auch die mehrfach angesprochene gedankliche Verbindung zwischen den Gefallenen und der Autonomie der polis etablierte. Da diese Zusammenhänge aber im letzten Hauptteil noch ausgiebiger thematisiert werden, will ich sie hier nicht noch einmal aufgreifen und zunächst in der Untersuchung weiterschreiten.
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Vgl. Aravantinos 2010, 243–246; Fraser/Rönne 1957, 35–37; Schild-Xenidou 2008, 140. Diese These findet sich bei Schilardi 1977, 22f. und implizit bei Clairmont 1983, 234. Am Grunde dieser Überlegungen steht stets das Grab für die Gefallenen des Jahres 424 v.Chr., das in einen Verbund nicht weiter erforschter Gräber eingebunden war. Zwar fanden sich sowohl die Gefallenenliste des 3. Jh. v.Chr. als auch das ‚Familienmonument‘ in den Ruinen von Makri Ekklisia östlich der Stadt, doch ist dies nur ein schwaches Indiz. Auch wurde das Säulenmonument mit der Liste des 5. Jh. v.Chr. im Westen der Stadt gefunden, während die Liste der 370er Jahre v.Chr. und das Epigramm des 3. Jh. v.Chr. im Kastro der Stadt entdeckt wurden. In Anbetracht dieser disparaten Fundlage kann ein Urteil nicht getroffen werden.
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Zwischenfazit Boiotien: Betrachten wir die Evidenz aus Boiotien noch einmal in der Gesamtschau, zeigt sich, dass sichere Belege für staatliches, kollektives Gefallenengedenken nur in drei poleis zu finden sind: Theben, Thespiai und Plataiai. Dem sind lediglich die mögliche Gefallenenliste aus Tanagra und das noch nicht veröffentlichte, späte Gefallenenmonument aus Orchomenos hinzuzufügen, während die Quellen zum kollektiven Gefallenengedenken in den anderen boiotischen poleis schweigen. Ob dieses Schweigen nun aus der schlechten Überlieferungslage herrührt oder doch schlichtweg dem Umstand geschuldet ist, dass die Praxis in diesen Gemeinwesen nicht gepflegt wurde, lässt sich nur schwer entscheiden. Zumindest im Falle Tanagras, wo die Quellendichte relativ hoch ausfällt,667 legt die fast vollständige Abwesenheit von Hinweisen auf kollektive Gefallenenkommemoration aber nahe, dass hier andere Formen des Gedenkens dominierten. Vermutlich verblieben die Aufgaben von Bestattung und vor allem Kommemoration der Gefallenen schlichtweg in der Hand der oikoi, die sich dann jeweils ihrer eigenen Toten annahmen. Ein Indiz hierfür bieten vielleicht die sogenannten Schwarzen Stelen, die sich nur in Theben und Tanagra finden und die möglicherweise die Gräber gefallener Krieger markierten.668 Der Fokus des Gedenkens lag in Tanagra wohl stark auf der Person des einzelnen toten Kriegers und nicht dem Kollektiv der Gefallenen, so wie dies über weite Strecken etwa auch in Theben der Fall war und auch in anderen poleis gewesen sein mag. Verlässliche Aussagen lassen sich für die Gebräuche dieser Gemeinwesen aufgrund der schlechten Quellenlage jedoch nicht treffen. Konzentrieren wir uns daher stattdessen auf jene poleis, in denen sich das kollektive Gefallenengedenken tatsächlich und deutlicher fassen lässt. Im Falle von Thespiai, Theben und Plataiai zeigen sich hierbei zum einen Unterschiede in der Form und der Bedeutung der Praxis in den Gemeinwesen. Zum anderen lassen sich auch innerhalb der einzelnen poleis deutliche Unterschiede zwischen den Ausprägungsformen des Gefallenengedenkens zu verschiedenen Zeitpunkten finden. Ich will es hierbei vermeiden, von ‚Entwicklungen‘ zu sprechen, da dies eine Kontinuität der Praxis implizieren würde, die vor dem Hintergrund der disparaten Quellenlage weder nachzuweisen noch besonders wahrscheinlich ist. So finden sich beispielsweise in Theben nur sehr punktuell Hinweise auf das kollektive Gedenken an die Gefallenen, während ansonsten die Leistung des Einzelnen stärker im Vordergrund stand und höchstens besonders verdiente Einzelpersonen staatlich geehrt und kommemoriert wurden. Die Gräber und Monumente für Epameinondas und Pelopidas veranschaulichen dies ausgesprochen prägnant. Hingegen bezeugen die Befunde in Thespiai deutlich öfter die Kom667 668
Vgl.o. Anm. 402. S.o. Anm. 412.
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I. Boiotien
memoration der Gruppe der Gefallenen durch die Gemeinschaft, sodass hier nicht nur ein anderes Verständnis der Leistung des Einzelnen für die polis deutlich wird. Auch lässt die Dichte der Belege darauf schließen, dass die Praxis in Thespiai recht ausgeprägt war und Gefallene mit einer gewissen Regelmäßigkeit im Kollektiv durch die Gemeinschaft kommemoriert wurden, wenn wohl auch kaum von einer kontinuierlichen Praxis wie in Athen ausgegangen werden kann. Auch eine konkrete Orientierung am Athener Vorbild bei der Ausgestaltung des Gefallenengedenkens kann in Thespiai nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Zwar sprechen Elemente wie die Rückführung und die kollektive Erfassung der Gefallenen in Listen am Grab, die sich in Thespiai bereits früh und dann häufiger finden, durchaus für eine Anlehnung an den attischen Brauch, und auch die insgesamt guten Beziehungen der beiden poleis zueinander würden eine solche Vorbildfunktion durchaus plausibel erscheinen lassen. Jedoch lässt sich die Vermutung nicht weiter konkretisieren und zudem finden sich auch starke Abweichungen von den athenischen Formen, die implizieren, dass das mögliche athenische Vorbild zumindest nicht direkt übernommen, sondern modifiziert wurde. Deutlicher wird die Vorbildfunktion des athenischen Umgangs mit den Kriegstoten im Falle der Plataier. Zusammen mit den Athenern kämpften diese bei Marathon gegen die Truppen des Dareios und wie die Athener errichteten sie – möglicherweise mit geringem zeitlichen Abstand – einen monumentalen Grabhügel am Schlachtort, der vermutlich vom Athener Soros inspiriert wurde. Auch die Sorge für den Grabkult der Gefallenen der Schlacht von Plataiai mag sich an der attischen Praxis orientiert haben, wenn auch nicht zu klären ist, wie das Ritual im 5. Jh. v.Chr. gestaltet war. Die Bestattung der auf der Sizilienexpedition der Athener gefallenen Plataier im demosion sema wiederum war der konkreten politischen Situation und der Aufnahme der Plataier in Athen geschuldet und stellte vielmehr eine Initiative der Athener als der Plataier dar. Dennoch dient sie noch heute als eindrucksvoller Beleg der engen Verbindung der beiden poleis, und vermutlich beeinflusste sie auch den weiteren Umgang der Plataier mit ihren Gefallenen. Wiederum sind jedoch die Zeugnisse nicht zahlreich genug, um hier zu festen Aussagen gelangen zu können. Was anhand der Quellen aus diesen drei Städten unumstößlich deutlich wird, ist die Bedeutung, welche die Perserkriege einerseits und das thebanische Streben nach Hegemonie im 4. Jh. v.Chr. andererseits für die Entwicklung des kollektiven Gefallenengedenkens in diesen poleis hatten. Zahlreiche Zeugnisse lassen sich mit diesen Ereignissen verknüpfen und legen zwei Hochphasen der Praxis in diesen Zeiträumen nahe, wobei die Perserkriege für Plataiai und Thespiai besonders wichtig für die Ausformierung des Brauches gewesen sein dürften. In Theben hingegen fanden die Perserkriege scheinbar kein Echo im Gefallenengedenken, wenn auch der Mangel an internen Quellen hier ein verzerrtes Bild zeichnen mag. In jedem Fall waren die Thebaner hier zumindest von der panhellenischen Dimension der Erinnerung ausgeschlossen bzw. auf der ‚falschen‘ Seite verortet, was zur Konsequenz hatte, dass wohl nicht einmal jener Thebaner, die an den Thermopylen gefallen waren, in besonderer Form gedacht wurde. Tatsächlich 189
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findet sich nach den Perserkriegen das früheste thebanische Gefallenenmonument erst in den 370er Jahren v.Chr., was umso erstaunlicher erscheint, als dass gerade aus Theben eines der frühesten kollektiven Gefallenenmonumente in Form eines Epigramms vom Ende des 6. oder Anfang des 5. Jh. v.Chr. bekannt ist. Auch wenn hier eine Überlieferungslücke nicht ausgeschlossen werden kann, ist dieser große Zeitraum zwischen den Zeugnissen doch auffällig. Möglicherweise führte der Ausschluss von der Perserkriegskommemoration auf der panhellenischen Ebene, die eben auch zu einem großen Teil über das Gefallenengedenken vollzogen wurde, dazu, dass sich die Thebaner von dieser Kommemorationsform ab- und anderen Gedenkformen zuwandten. Selbst wenn aber auch völlig andere Gründe dazu geführt haben mögen, dass sich das kollektive Gefallenengedenken in Theben im 5. Jh. v.Chr. nicht durchsetzte, ist doch wohl zumindest zu konstatieren, dass der affirmative Effekt, den das Gedenken an die Gefallenen der Perserkriege sowohl in Thespiai und Plataiai als auch in zahlreichen anderen griechischen poleis hatte und der das kollektive Gefallenengedenken wohl überhaupt erst auf einer breiteren Ebene etablierte,669 in Theben ausblieb. Deutlich wird in jedem Fall auch an allen besprochenen Beispielen die politische Dimension des Gefallenengedenkens, die dieses gerade in Zeiten der Bedrohung oder aber auch außergewöhnlichen Erfolges eines Gemeinwesens besonders attraktiv machte. Auf den Konnex zwischen der Gefallenenkommemoration und den Idealen von Freiheit und Autonomie wurde bereits wiederholt eingegangen, sodass dieser hier nicht noch einmal thematisiert werden soll. Nicht genauer nachvollziehen lässt sich in der Regel der Zusammenhang zwischen der innenpolitischen Entwicklung und der Ausprägung kollektiven Gefallenengedenkens. Meist fehlen, wie etwa im Falle Thespiais, Quellen, die uns einen entsprechenden Einblick gewähren würden, und selbst wenn wir über die interne Entwicklung eines Gemeinwesens besser informiert sind, lassen sich kaum Schlussfolgerungen ziehen. So finden sich etwa in Theben in den 370er Jahren v.Chr. mehrere Fälle kollektiven Gefallenengedenkens, die entweder mit dem demokratischen Umbruch in dieser polis in dieser Zeit oder aber mit ihrem außenpolitischen und militärischen Erfolg in Verbindung gesetzt werden könnten, die vielleicht aber auch auf eine Zusammenwirkung dieser Faktoren zurückzuführen waren. Auffällig ist hier, dass das Gedenken an das Kollektiv der Gefallenen scheinbar schon wenige Jahre später wieder durch die Kommemoration von Einzelpersonen verdrängt wurde, obwohl das demokratische System nicht ausgetauscht worden war. Dies mag auf eine gewisse grundlegende Ausrichtung der thebanischen Erinnerungskultur auf Einzelpersonen zurückzuführen sein oder schlichtweg auf die enorme Bedeutung, welche die beiden Figuren des Epameinondas und des Pelopidas für den thebanischen Erfolg in dieser Zeit hatten. In jedem Fall wird deutlich, dass strukturelle Betrachtungen alleine nicht immer ausreichen, um die Ausprägungen und Entwicklungen des Gefallenengedenkens zu erklären. 669
Siehe hierzu weiter unten 3. II. Die Abwehr der Perserinvasionen.
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I. Boiotien
Häufig dürften – gerade in Ermangelung eines fest etablierten Rituales, wie es in Athen begegnet – lokale Eigenheiten und aktuelle Bedingungen und Überlegungen, die für den modernen Historiker nicht mehr nachzuvollziehen sind, den Umgang mit den Gefallenen beeinflusst haben. Warum etwa die Bewohner von Orchomenos, wo sich zuvor keine Anzeichen kollektiven Gefallenengedenkens fanden, sich 245 v.Chr. dazu entschieden, ihre Toten der Schlacht von Chaironeia auf einmal gemeinsam zu bestatten und zu kommemorieren, während die Thespier und die Leuktrer ihre Toten wohl jeweils einzeln bestatteten, lässt sich kaum mehr erschließen. Diese Verwurzelung des Gefallenengedenkens im jeweiligen lokalen Kontext gilt es trotz aller quellentechnischen Unwägbarkeiten für die weitere Untersuchung im Auge zu behalten, da sich hierin doch wichtige Anhaltspunkte zur Funktionsweise der Praxis finden. Darüber hinaus wird das zusätzliche Material die hier bereits angezeichneten ‚großen Linien‘ weiter verdeutlichen.
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II. Die Peloponnes Koinon der Achaier Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass in jenen Fällen, in denen sich kollektives Gefallenengedenken überhaupt finden lässt, dieses jeweils von der Heimatpolis der Toten ausging und nie etwa von anderen Gruppen oder Institutionen wie den Phylen oder einem koinon. Ein Bericht des Pausanias legt jedoch nahe, dass das koinon der Achaier hierbei möglicherweise eine Ausnahme darstellen könnte. Dort heißt es: κατὰ δὲ τὴν ὁδὸν τὴν ἐκ Γόρτυνος ἐς Μεγάλην πόλιν πεποίηται μνῆμα τοῖς ἀποθανοῦσιν ἐν τῇ πρὸς Κλεομένην μάχῃ. τὸ δὲ μνῆμα τοῦτο ὀνομάζουσιν οἱ Μεγαλοπολῖται Παραιβασίον, ὅτι ἐς αὐτοὺς παρεσπόνδησεν ὁ Κλεομένης. Παραιβασίου δὲ ἔχεται πεδίον ἑξήκοντα σταδίων μάλιστα:670
Die erwähnte Schlacht ereignete sich im Jahr 227 v.Chr. als ein achaiisches Bundesheer unter der Führung des Aratos auf dem Rückweg von einem Zug gegen Elis an den Hängen des Lykaion von Kleomenes III. überrascht wurde und eine empfindliche Niederlage mit hohen Verlusten erlitt. Plutarch berichtet, dass Aratos selbst in akute Bedrängnis gekommen sei und sogar kurzzeitig für tot gehalten wurde, weil er im Schlachtengetümmel versprengt worden war.671 Erneut kann die Tatsache, dass das Grab der Toten, die wohl gemeinsam am Ort der Schlacht oder nahebei bestattet worden waren, noch in Pausanias’ Zeiten bekannt und identifizierbar war, als Indiz dafür genommen werden, dass es entweder in irgendeiner Form markiert oder monumental gefasst war. Im Mindesten spielte es wohl in der lokalen Tradition eine wichtige Rolle und wurde hier erinnert. Da es sich bei den Toten um Gefallene des Bundes handelte, wäre nun auch davon auszugehen, dass es die Mitglieder des Bundes waren, welche die Bestattung und Kommemoration der Toten übernahmen. Im Bericht des Pausanias werden die Achaier jedoch mit keinem Wort erwähnt und stattdessen sind es nur die Megalopolitaner, die die Erinnerung an die Schlacht und die Toten pflegten. Nun ließe sich argumentieren, dass Pausanias hier nur die Megalopolitaner erwähnt, weil das Grab eben in deren Territorium lag und damit ganz selbstverständlich vor allem von diesen wahrgenommen wurde und 670 671
Paus. 8.28.7. Siehe Plut. Kleom. 5.1 und Arat. 36.1f. Auch Polyb. 2.51.3 und 55.2 erwähnt die Schlacht zusammen mit der kurz darauf folgenden Niederlage bei Ladokeia und spricht von hohen Verlusten, wenn auch die Episode um das kurzzeitige Verschwinden des Aratos bei ihm nicht auftaucht. Vgl. zum historischen Kontext auch Urban 1979, 97–116; Gruen 1972, passim; Pritchett 1985, 232f.
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II. Die Peloponnes
historisch verortet werden musste. Die Rolle der Bewohner von Megalopolis für die Kommemoration des Ereignisses wäre damit lediglich dem Umstand geschuldet, dass das Grab nahe ihrer Stadt lag. Jedoch lassen sich einige Beobachtungen aufzeigen, die nahelegen, dass diese Erklärung vermutlich zu kurz greift und dass die Megalopolitaner tatsächlich bereits in der direkten Folge der Schlacht ein besonderes Interesse daran hatten, die Gefallenen zu kommemorieren, und dies dann auch taten. Zum einen sollte festgehalten werden, dass die Megalopolitaner laut dem Bericht des Polybios besonders stark von den Niederlagen am Lykaion und wenig später bei Ladokeia betroffen waren und gar den Großteil ihrer wehrfähigen Bürger in diesen beiden Schlachten verloren.672 Es würde also nur naheliegen, dass sie dementsprechend auch ein besonderes Interesse an der Kommemoration der Gefallenen dieser Schlachten gehabt hätten. Zum anderen fällt aber auf, dass das μνῆμα am Lykaion den Megalopolitanern vor allem als Denkmal des ‚Vergehens‘ des Kleomenes, der die Achaier aus dem Hinterhalt überrascht hatte, im Bewusstsein geblieben war.673 Auch wenn es sich eigentlich um ein Gefallenengrab handelte, stand offenbar nicht so sehr das Gedenken an die Toten im Fokus der Erinnerung, sondern vielmehr der Vertragsbruch des spartanischen Königs, der sogar namensgebend für das Monument geworden war. Nun ist unwahrscheinlich, dass dieses Framing des Denkmals erst der Zeit des Pausanias entsprang. Zwar war Kleomenes auch zu Lebzeiten des Periegeten sicherlich noch berüchtigt und verrufen dafür, dass er 223 v.Chr. Megalopolis einnehmen, plündern und teilweise zerstören ließ, doch ist die Annahme, dass es sich bei der Verknüpfung des Grabmals mit dem Vertragsbruch der Spartaner um eine ältere Tradition handelte, weitaus überzeugender. Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns die politische Situation von Megalopolis zu Beginn des Kleomenischen Krieges vergegenwärtigen:674 Nur wenige Jahre nach dem Ende des Krieges gegen Demetrios II. und dem Wegfall der makedonischen Bedrohung kam es zum offenen Konflikt zwischen den Spartanern und dem Achaiischen Bund. Hauptgrund für die Auseinandersetzung war wohl die Übernahme von Tegea, Mantineia und Orchomenos durch die Spar672
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Siehe Polyb. 2.55.2. Selbst wenn der Historiograph die Verluste seiner Heimatstadt hier etwas dramatischer dargestellt haben sollte, als sie wirklich ausgefallen waren, gibt es doch keinen Grund an der prinzipiellen Richtigkeit der Aussage zu zweifeln. Gerade die Schlacht von Ladokeia, die vor den Toren von Megalopolis geschlagen wurde, dürfte zahlreiche Bürger der Stadt das Leben gekostet haben. Plut. Arat. 38.7 wiederholt Polybios’ Aussage bezüglich der Leiden der Megalopolitaner. So legt zumindest Pausanias in der oben zitierten Stelle nahe: „τὸ δὲ μνῆμα τοῦτο ὀνομάζουσιν οἱ Μεγαλοπολῖται Παραιβασίον, ὅτι ἐς αὐτοὺς παρεσπόνδησεν ὁ Κλεομένης“. Zum Folgenden siehe insbesondere die schon ältere aber weiterhin gültige, weil sehr genaue und gewissenhafte, Aufarbeitung der unterschiedlichen Quellen bei Urban 1979, 97–116. Vgl. aber auch die frühere Arbeit von Gruen 1972, passim sowie Bastini 1987, 21–23. Larsen 1968, 215–240 bietet zwar keine detaillierte Analyse der politischen Ereignisse, dafür aber der politischen Strukturen des Bundes auch in dieser Zeit.
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taner, nachdem der aitolische Einfluss in Ostarkadien zu schwinden begonnen hatte. Ob die Übernahme friedlich geschah oder mit militärischen Mitteln erreicht wurde, lässt sich anhand der erhaltenen Quellen nicht mehr nachvollziehen. In jedem Fall aber störten sich die Achaier an der spartanischen Präsenz in Ostarkadien, hatten sie doch wohl selbst Hoffnung gehabt, diesen einstigen aitolischen Einflussbereich zu übernehmen und somit den Korridor zwischen der Argolis und dem restlichen Bundesgebiet zu schließen. Nicht nur war es ihnen also nicht gelungen, diesen Riegel zwischen dem achaiisch kontrollierten Teil Arkadiens und der Argolis zu beseitigen; überdies war er nun von Sparta besetzt. Es ist nur verständlich, dass vor allem die Megalopolitaner besorgt gewesen sein sollen, als es in der Folge zum offenen Konflikt mit den Lakedaimoniern kam.675 Immerhin sahen sie sich nun nicht nur der Gefahr eines spartanischen Angriffs von Süden her, sondern auch aus dem Osten über Mantineia oder Tegea heran ausgesetzt. Es waren denn auch vor allem die Megalopolitaner, die zu einer Allianz der Achaier mit Antigonos Doson drängten, um mit dessen militärischer Hilfe den spartanischen Umtrieben ein Ende zu bereiten.676 Dabei sahen sie sich dem Widerstand des Aratos, des politischen Führers des Achaischen Bundes zu dieser Zeit, ausgesetzt, der eine Allianz mit den Makedonen um jeden Preis vermeiden wollte und stattdessen auf eine Aussöhnung mit Sparta hoffte. In dieser Situation wäre es nun insbesondere im Interesse der Megalopolitaner gewesen, den anderen Mitgliedern des Achaiischen Bundes die Gefallenen der Schlachten am Lykaion und von Ladokeia sowie den ‚Verrat‘ des Kleomenes in Erinnerung zu halten. Denn wenn es wohl auch im Interesse der meisten Achaier war, die Schuld für den Krieg im Vertragsbruch des Kleomenes festzuhalten, wäre eine derartige Zurschaustellung in Kombination mit einem Gefallenenmonument hinsichtlich einer Aussöhnung mit den Spartanern kontraproduktiv gewesen. Stattdessen könnte dieser Umgang mit dem Grab einer Provokation und einer Verschärfung des Konfliktes gedient haben, die sich sehr gut mit den Interessen der Megalopolitaner vereinen ließen. Diese hatten nämlich durch ihre Stimmungsmache gegen Sparta vermutlich stark dazu beigetragen, dass es überhaupt zum Krieg gegen Sparta gekommen war,677 und wollten diesen Konflikt nun keinesfalls ruhen lassen, sondern siegreich zu Ende führen. Indem sie nun demonstrativ auf die Opfer hinwiesen, welche die ‚Überschreitung‘ des Kleomenes bereits gefordert hatte, hetzten sie die anderen Mitglieder des Bundes weiter gegen die Spartaner auf und erschwerten damit eine Aussöhnung zunehmend. Ein Monument für die Gefallenen der Schlacht am Lykaion mag den Megalopolitanern hierbei besonders geeignet erschienen sein, um den ‚Verrat‘ des Kleomenes zu
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So Polyb. 2.48. Siehe auch das Folgende. Explizit äußert dies Plut. Kleom. 23.2. Siehe hierzu wie zum Folgenden aber vor allem Gruen 1972, insb. 610–617 sowie Urban 1979, 117–159 (insbesondere 125–135 zur megalopolitanischen Gesandtschaft an Antigonos); 193, der Gruens Argumentation folgt und sie weiter untermauert. So auch Urban 1979, 129 und Gruen 1972, 612–614.
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II. Die Peloponnes
verkörpern und anzuprangern, weil dieser die Achaier hier überrascht und aus dem Hinterhalt angegriffen hatte und sie nicht etwa in einer regulären offenen Feldschlacht geschlagen hatte.678 Am wahrscheinlichsten ist also, dass der von Pausanias berichtete Umgang mit dem Grab der Gefallenen vom Lykaion bereits auf die Zeit direkt nach der Schlacht zurückzuführen ist und dass hierbei vor allem die Megalopolitaner um die Kommemoration der Gefallenen und die Prägung des Monuments als Denkmal der parabasis des Kleomenes bemüht waren. Zumindest findet sich kein anderer historisch-politischer Kontext, in dem diese spezielle Ausdeutung des Denkmals passender erschiene. Eine Kommemoration der Gefallenen auf Initiative des koinon mutet daher sehr unwahrscheinlich an. Stattdessen instrumentalisierten die Megalopolitaner das Gefallenengedenken für ihre eigenen Zwecke. Um diese Hypothese zu untermauern, will ich hier noch auf ein weiteres Beispiel eingehen, das zeigt, wie sehr die Megalopolitaner sich des evokativen Potentials des politischen Totenkultes bewusst waren und wie sie versuchten, hieraus politischen Nutzen zu ziehen: die Bestattung des Philopoimen. In diesem Fall handelte es sich zwar weder um eine kollektive Bestattung, noch war der Tote tatsächlich im Kampf gefallen. Jedoch ließe sich wohl argumentieren, dass der Tod des Philopoimen, der auf dessen Gefangennahme beim Feldzug gegen Messene im Jahr 183/2 v.Chr. folgte, aus seinem militärischen Einsatz für den Achaiischen Bund resultierte und damit im weiteren Sinne als Kriegstod verstanden werden konnte.679 Aufgrund seiner Verdienste wurde Philopoimen dann auch mit einer aufwendigen Bestattung und zahlreichen postumen Ehrungen bedacht. Zunächst wurde, nachdem die Herausgabe seines Leichnams von den Messenern durch militärische Gewalt erpresst worden war, seine Asche in einer feierlichen Prozession in seine Heimatstadt Megalopolis zurückgeführt, wo die Urne auf der Agora beigesetzt wurde und dem Toten ein Grabmal und ein aufwendiger Altar errichtet wurden, an dem ein jährliches Opfer für den verstorbenen Strategen stattfand.680 Nur unlängst hat Péter Kató681 sehr überzeugend argumentiert, dass die Megalopolitaner bei der Bestattung und (Ver-)Ehrung des Philopoimen besondere Anstrengungen betrieben und gar versucht hätten, die Ehrungen des Bundes zu über-
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Zumindest legen die Berichte bei Polyb. 2.51.3 und Plut. Kleom. 5.1 nahe, dass die Achaier in einen Hinterhalt des Kleomenes geraten waren. Gerade Polybios betont, dass die Niederlage am Lykaion auf dem Marsch („κατὰ πορείαν“) geschah, während die Achaier bei Ladokeia im Rahmen einer ordentlichen Feldschlacht („ἐκ παρατάξεως“) geschlagen worden waren. Siehe auch die Darstellungen seiner Gefangennahme und seines Todes bei Polyb. 23.12.1–3; Plut. Philop. 18.2–20; Paus. 8.51.5–7; Liv. 39.40–50.8, die alle seine militärische Tugend in seinen letzten Taten betonen. Vgl. auch Errington 1969, 190–192. Zum Begräbnis und den Ehrungen siehe IG V.2 432; Diod. Sic. 29.18; Plut. Philop. 21.2–6; Liv. 39.50.9 mit Errington 1969, 193f.; Jost 1985, 540 und Kató 2006, 242. Zum Folgenden siehe Kató 2006, passim.
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treffen, um damit ihre eigene Position zu stärken. Sein Argument gestaltet sich dabei wie folgt: Die Megalopolitaner hätten nach dem Tode des Philopoimen um ihren Status und ihren Einfluss innerhalb des Achaiischen Bundes gebangt, da sie keinen anderen Mitbürger aufbieten konnten, der auch nur annähernd so viel Ansehen und Verdienste vorzuweisen gehabt hätte wie der verstorbene Politiker und Feldherr.682 Gleichzeitig hätten sie sich durch die wachsenden Spannungen zwischen Messene und Sparta einerseits und dem Bund andererseits besonders bedroht gesehen. In dieser Situation hätten die Megalopolitaner die Kommemoration des Philopoimen nun massiv vorangetrieben und propagiert, in der Hoffnung, den restlichen Bundesgenossen ihre Verdienste um das koinon in Erinnerung zu rufen und diese zum Eintreten und Kampf für Megalopolis zu motivieren. Sollte Kató mit dieser Rekonstruktion richtig liegen, ließe sich also argumentieren, dass wir sowohl bei der Bestattung und Kommemoration des Philopoimen als auch im Falle der Opfer vom Lykaion von einem ähnlichen Kalkül und Vorgehen der Megalopolitaner ausgehen können. Damit aber müsste auch infrage gestellt werden, ob es sich bei dem Polyandrion am Lykaion tatsächlich um einen Fall von Gefallenenkommemoration durch den Bund handelte, scheint es doch, als wären es vielmehr die Megalopolitaner gewesen, die hier auf eigene Initiative an ihre eigenen Toten sowie die ihrer Bundesgenossen erinnert hätten. Zwar wurde das koinon tatsächlich nach dem Tode des Philopoimen aktiv und erwies seinem verstorbenen General besondere Ehrungen.683 Doch handelte es sich hierbei vermutlich um eine Ausnahme für eine besonders verdiente Einzelperson, während die kollektive Kommemoration der regulären Gefallenen wohl nicht durch den Bund der Achaier unternommen wurde. Dies legen auch einige Gefallenenmonumente aus Epidauros und Sikyon nahe, die offensichtlich von den poleis ausgingen und primär den eigenen Bürgern galten. Die Liste aus Epidauros etwa, die weiter unten noch genauer besprochen wird, schließt zwar auch „Ἀχαιοὶ“ ein, nennt diese allerdings in einer Kategorie zusammen mit den „σύνοικοι“ und weist ihnen somit keine exklusive Stellung zu.684 In einem anderen Fall schließlich berichtet Polybios, dass die Megalopolitaner 220 v.Chr. einen Tag zu spät zur verlorenen Schlacht gegen die Aitoler bei Kaphyai kamen und lediglich noch die gefallenen Bundesgenossen bestatten konnten. Er berichtet hierbei nur, dass die Toten in einem Graben auf dem Schlachtfeld beigesetzt worden seien und erwähnt weder ein Grabmonument noch irgendeine andere Form der Markierung oder Kommemoration.685 Auch wenn also die Bündner 682 683
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Auch Plut. Philop. 21.4 äußert diese Vermutung. Zumindest berichten sowohl Diod. Sic. 29.18 als auch Liv. 39.50.9 von Ehrungen durch die Achaier, zu denen dann wohl noch zusätzliche Maßnahmen der Megalopolitaner hinzukamen. Hieraus leitet Kató 2006, 242 – wie bereits erwähnt – gar eine Konkurrenz im Gedenken an Philopoimen zwischen polis und koinon ab. Vgl. IG IV².1 28 Z. 59. Siehe auch unten 2. II. Epidauros. Siehe Polyb. 4.13.3 mit Pritchett 1985, 233f.
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II. Die Peloponnes
gemeinsam Sorge für die Bestattung ihrer Gefallenen trugen, war wohl keine gemeinsame Kommemoration der Toten durch den Bund selbst vorgesehen. Vielmehr lag diese, wie etwa auch im Falle des koinon der Boioter, weiterhin in der Hand der poleis.
Argos Ein besonderes Charakteristikum des argivischen Gemeinwesens war dessen starke Fokussierung auf seine mythische Vergangenheit. William K. Pritchett fasst dies prägnant zusammen, wenn er schreibt: „the Argolid ist the province which excels all others in extensive and famous cycles of myths“.686 Tatsächlich gewinnt man bei der Lektüre von Pausanias’ Beschreibung der polis687 den Eindruck, ein Großteil des öffentlichen Raumes habe aus Kultorten und Monumenten für Gestalten und Ereignisse aus der mythischen Geschichte der Stadt bestanden. Es kann daher nicht völlig überraschen, dass einige der beschriebenen Monumente mythischen Argivern galten, die in der Schlacht gefallen waren. Da diese Denkmäler nur aus dem Bericht des Pausanias bekannt sind und sich im archäologischen Befund bisher nicht nachweisen ließen, ergibt sich hierbei das offensichtliche Problem, dass Pausanias den Zustand im 2. Jh. n.Chr. beschrieb und dass hieraus nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf den Befund in klassischer Zeit gezogen werden können. Wie unten noch dargelegt werden soll, finden sich aber durchaus Anhaltspunkte dafür, dass zumindest einige dieser Monumente bereits in klassischer Zeit existiert haben könnten. Bevor ich mich dieser Frage zuwende, will ich jedoch zunächst einen kurzen Überblick der betreffenden Monumente geben. Auf der Agora von Argos, gegenüber dem Tempel des Nemeischen Zeus und neben dem Tempel der Tyche sah der Perieget Gräber für Choreia und die anderen Mänaden, die auf der Seite des Dionysos gegen Perseus und die Argiver gekämpft und ihr Leben gelassen hatten: τὸ δὲ μνῆμα τὸ πλησίον Χορείας μαινάδος ὀνομάζουσι, Διονύσῳ λέγοντες καὶ ἄλλας γυναῖκας καὶ ταύτην ἐς Ἄργος συστρατεύσασθαι, Περσέα δέ, ὡς ἐκράτει τῆς μάχης,
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Pritchett 1995, 213f. Anm. 10. Vgl. weiter Hall 1995, passim; Daumas 1992, insb. 257f.; Piérart/ Touchais 1996, 6f.; Kelly 1970a, passim; Marantou 2009, 444–446. Siehe auch den von Paola Angeli Bernardini herausgegebenen Sammelband (Bernardini 2004), dessen Beiträge sich dem Umgang mit dem argivischen Mythos widmen. Kulesza 2004, 219 weist ganz zurecht darauf hin, dass auch die modernen Historiker Anteil daran haben, dass der argivische Mythos derart dominant wirkt. Siehe Paus. 2.20–22.
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φονεῦσαι τῶν γυναικῶν τὰς πολλάς: τὰς μὲν οὖν λοιπὰς θάπτουσιν ἐν κοινῷ, ταύτῃ δὲ – ἀξιώματι γὰρ δὴ προεῖχεν – ἰδίᾳ τὸ μνῆμα ἐποίησαν.688
Ich kann und will zu dem Monument, das archäologisch nicht erfasst ist, nur wenig sagen. Es sei lediglich vermerkt, dass Choreia aufgrund ihres Status (als Anführerin?) aus der Gruppe der restlichen Mänaden hervorgehoben wurde und ein Einzelgrab erhielt, während die übrigen Frauen mit einem Gemeinschaftsgrab bedacht wurden. Dies erscheint insofern zumindest bemerkenswert, als dass sie anderweitig fast gar nicht bekannt oder repräsentiert ist und auch durch ihren Namen kaum weiter charakterisiert wird.689 Anstatt also ein Monument für den siegreichen Perseus und die Argiver, die mit ihm gekämpft hatten, zu errichten, entschlossen die Argiver sich dazu, ein Grabmonument für ihre gefallenen Gegner sowie eines für deren Anführerin zu errichten, die kaum bekannt war und deren Figur möglicherweise erst anlässlich dieses Ereignisses erfunden wurde. Auch das nächste Monument, das Pausanias beschreibt, fällt in einer ähnlichen Weise auf. Nicht weit entfernt von diesen Gräbern, nahe der Statuen für die Sieben gegen Theben und die Epigonen, befand sich laut Pausanias nämlich neben einem Monument für Danaos ein Kenotaph für die Argiver, die im Trojanischen Krieg gefallen waren: τῶν δὲ ἀνδριάντων οὐ πόρρω δείκνυται Δαναοῦ μνῆμα καὶ Ἀργείων τάφος κενὸς ὁπόσους ἔν τε Ἰλίῳ καὶ ὀπίσω κομιζομένους ἐπέλαβεν ἡ τελευτή.690
Es dürfte sich dabei wohl um ein Kenotaph gehandelt haben, das nur ganz allgemein – möglicherweise in Form eines Epigrammes – auf die vor Troja gefallenen Argiver hinwies, ohne Namen von Gefallenen anzugeben. Zumindest hob Pausanias keine Einzelpersonen hervor und hätte dies auch nur schwerlich gekonnt, da doch der Erzählung nach die namentlich bekannten argivischen Helden den Trojanischen Krieg überlebten und nach ihrer Rückkehr gegen Theben zogen, um durch die Zerstörung der Stadt die Sieben zu rächen. Hierfür wurden sie dann ja auch
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Paus. 2.20.4. Er erwähnt das Monument nochmals (2.22.1) und verweist später (2.23.7) auf die schließliche Aussöhnung zwischen Dionysos und den Argivern unter Perseus. Als konkrete Figur oder Personifikation scheint sie in der literarischen Überlieferung tatsächlich nur bei Pausanias genannt zu werden. Zumindest ergab eine Suche im TLG sowie den üblichen Datenbanken keine weiteren Stellen. LIMC verzeichnet lediglich eine einzige bildliche Repräsentation der Choreia auf einem attischen Stamnos aus dem letzten Viertel des 5. Jh. v.Chr., der sich heute in Neapel befindet (Museo Archeologico Nazionale Inv. 81674/H 2419). Paus. 2.20.6.
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II. Die Peloponnes
als Gruppe der Epigonen von den Argivern verehrt.691 Selbst wenn aber auf dem Monument konkrete Personen genannt wurden, die Pausanias schlichtweg nicht wiedergab, ist die Tatsache bedeutsam, dass auch hier ein Grabmonument gewählt wurde, um an die argivische Teilhabe am Trojanischen Krieg zu erinnern. Schließlich hätten die Argiver doch auch ein Siegesmal für die prominenten argivischen Trojakämpfer wie Diomedes, Sthenelos oder Euryalos errichten und mit einer entsprechenden Inschrift einordnen können.692 Stattdessen aber erschien es den Argivern offensichtlich angemessener, ihre Teilhabe am Trojanischen Krieg durch ein Kenotaph für die unbekannt(er)en Gefallenen dieses Krieges zu kommemorieren. Die Epigonen hingegen wurden in Argos in erster Linie dafür gefeiert, dass sie ihre Väter durch die Zerstörung Thebens gerächt hatten, und nur in geringerem Maße für ihre Teilnahme am Feldzug gegen Troja.693 Dies ist in sich schon ein bemerkenswerter Befund, der aber zusammengenommen mit dem Grabdenkmal für Choreia und die Mänaden noch auffälliger erscheint und auf den es daher weiter unten noch einmal zurückzukommen gilt. Die nächsten beiden Gefallenenmonumente, die Pausanias beschreibt, befanden sich nun nicht mehr im Zentrum der polis, sondern außerhalb in der chora. So erwähnt er an der Straße nach Epidauros ein Grab für Argiver, die in den Streitigkeiten zwischen Proitos und Akrisios um die Herrschaft in der Argolis gefallen seien: ἐρχομένοις δὲ ἐξ Ἄργους ἐς τὴν Ἐπιδαυρίαν ἐστὶν οἰκοδόμημα ἐν δεξιᾷ πυραμίδι μάλιστα εἰκασμένον, ἔχει δὲ ἀσπίδας σχῆμα Ἀργολικὰς ἐπειργασμένας. ἐνταῦθα Προίτῳ περὶ τῆς ἀρχῆς πρὸς Ἀκρίσιον μάχη γίνεται, καὶ τέλος μὲν ἴσον τῷ ἀγῶνι συμβῆναί φασι καὶ ἀπ᾽ αὐτοῦ διαλλαγὰς ὕστερον, ὡς οὐδέτεροι βεβαίως κρατεῖν ἐδύναντο: συμβάλλειν δὲ σφᾶς λέγουσιν ἀσπίσι πρῶτον τότε καὶ αὐτοὺς καὶ τὸ στράτευμα ὡπλισμένους. τοῖς δὲ πεσοῦσιν ἀφ᾽ ἑκατέρων – πολῖται γὰρ καὶ συγγενεῖς ἦσαν – ἐποιήθη ταύτῃ μνῆμα ἐν κοινῷ.694
Die pyramidale Form des Monumentes wäre äußerst ungewöhnlich für einen griechischen Kontext und mag zunächst Verwunderung hervorrufen. Tatsächlich wurden zwei solche pyramidale Strukturen aber von Louis E. Lord in der Argolis entdeckt und 1937 in einer kurzen Kampagne erforscht.695 Die Lage eines der beiden Bauwerke entsprach dabei grob der Beschreibung des
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Paus. 2.20.5 beschreibt ihre Statuengruppe auf der Agora, die u.a. von einer weiteren Gruppe in Delphi komplementiert wurde. Siehe hierzu weiter unten. Sie werden im homerischen Schiffskatalog (Il. 2.559–568) als Anführer der Argiver genannt. Vgl. Bommelaer 1992, passim; Davies 2001, 29–31. Paus. 2.25.7. Vgl. Lord 1938, 511–527. Siehe aber auch seinen späteren Artikel (Lord 1941), in dem er weitere, ähnliche Strukturen in der Argolis behandelt und auch immer wieder auf die pyramidalen Strukturen
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Pausanias, weshalb Lord schlussfolgerte, es müsse sich um ebenjene Struktur, die der Perieget gesehen hatte, handeln. Lord wollte das Bauwerk aufgrund seines Polygonalmauerwerkes auf das 4. Jh. v.Chr. datieren696 und stellte überdies fest, dass es in keiner seiner zahlreichen Nutzungsphasen als Grab gedient haben könne und stattdessen ursprünglich wohl als eine Art Wachstube oder Zollstation fungierte. Der eigentliche Zweck des Bauwerkes sei also in der Kaiserzeit bereits vergessen gewesen und Pausanias sei entweder aus seinen eigenen Kenntnissen und Überlegungen heraus zur genannten Identifikation gekommen oder aber er habe sich auf eine lokale Tradition gestützt. In jedem Fall hätte es sich bei der Erzählung von Proitos und Akrisios damit um eine nachklassische Erklärung für das Bauwerk gehandelt, die nicht den hier behandelten Untersuchungszeitraum betrifft. William K. Pritchett zweifelt schon grundlegend an, dass das von Lord untersuchte Gebäude mit dem von Pausanias beschriebenen Monument zu identifizieren sei, da dessen Lage eben nicht mit der Beschreibung des Periegten übereinstimme.697 Damit aber wäre wiederum die Möglichkeit gegeben, dass Pausanias doch ein älteres Monument beschrieb, das bewusst als Gefallenendenkmal errichtet worden war. Doch obwohl Pritchetts Einwände durchaus berechtigt scheinen, liegt in Anbetracht der Seltenheit pyramidaler Strukturen in Griechenland sowie der Tatsache, dass sich in der Argolis gleich zwei strukturell und baulich sehr ähnliche pyramidale Bauwerke finden, durchaus nahe, dass Pausanias eine dieser Strukturen oder doch zumindest eine diesen ähnelnde Struktur vor Augen hatte, als er das ‚Grab‘ beschrieb. Damit aber würde es sich mit Sicherheit um eine nachklassische und vermutlich erst kaiserzeitliche Identifikation als Gefallenenmonument handeln, die damit aus der Untersuchung ausgeschlossen werden sollte. Nicht zwangsläufig gilt dies für das letzte ‚mythische‘ Gefallenenmonument, das Pausanias in der Argolis beschreibt. Nahe Kenchrai berichtet er von Polyandrien für jene Argiver, die 669/8 v.Chr. in der Schlacht von Hysiai fielen: καὶ πολυάνδρια ἐνταῦθά ἐστιν Ἀργείων νικησάντων μάχῃ Λακεδαιμονίους περὶ Ὑσιάς. τὸν δὲ ἀγῶνα τοῦτον συμβάντα εὕρισκον Ἀθηναίοις ἄρχοντος Πεισιστράτου, τετάρτῳ δὲ ἔτει τῆς ἑβδόμης καὶ εἰκοστῆς Ὀλυμπιάδος ἣν Εὐρύβοτος Ἀθηναῖος ἐνίκα στάδιον.
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zurückkommt. Vgl. weiter Pritchett 1980, 70–74 (siehe auch unten) und die knappe Notiz bei Pritchett 1985, 159 sowie Kelly 1976, 85f. Die Datierung anhand des Mauerwerkes scheint sehr unsicher und auch die Keramikfunde helfen aufgrund der unsicheren Stratigraphie kaum bei einer näheren zeitlichen Einordnung weiter. Siehe hierzu die Publikation der Keramikfunde von Scranton 1938, insb. 528f. Vgl. Pritchett 1980, 70–74.
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II. Die Peloponnes
καταβάντος δὲ ἐς τὸ χθαμαλώτερον ἐρείπια Ὑσιῶν ἐστι πόλεώς ποτε ἐν τῇ Ἀργολίδι, καὶ τὸ πταῖσμα Λακεδαιμονίοις ἐνταῦθα γενέσθαι λέγουσιν.698
Thomas Kelly und andere Forscher sprechen sich massiv gegen die Historizität dieses Ereignisses oder doch zumindest seine Datierung sowie die Lokalisierung des Grabes bzw. der Gräber aus,699 während William K. Pritchett sowohl die Datierung als auch die Historizität des Ereignisses nicht weniger vehement verteidigt.700 Obwohl Pritchett ganz zurecht einige Missverständnisse und falsche Annahmen in der Diskussion um die Historizität der Schlacht und des Grabes kritisiert und diese aus dem Weg räumt,701 bleibt jedoch auch für seine Argumentation der zentrale Kritikpunkt, dass ein derart früher Konflikt zwischen Spartanern und Argivern ausgesprochen unwahrscheinlich ist, weiter bestehen.702 Da also die Historizität des Grabes und der Schlacht zu bezweifeln ist und es sich stattdessen sehr wahrscheinlich um eine spätere, aitiologische Tradition handelte, muss auch die Frage modifiziert werden. Anstatt nämlich unterschied698 699
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Paus. 2.24.7. Siehe insbesondere Kelly 1970a und 1970b, passim sowie eine knappe Zusammenfassung der Argumentation bei Kelly 1976, 86–89. Er glaubt, dass der Mythos um die spartanisch-argivische ‚Erbfeindschaft‘ und den Streit um die Thyreatis erst im 4. Jh. v.Chr. entstand. Bershadsky 2012, 57 zweifelt an dieser späten Entstehung, wenn sie auch generell Kelly darin zustimmt, dass es sich um ein späteres, aitiologisches Konstrukt handelte. Auch Robertson 1996, 209–216 zweifelt an der Historizität der Schlacht und bietet eine eigene Erklärung für die Entstehung der Erzählung. Siehe hierzu allerdings die größtenteils berechtigte Kritik bei Pritchett 1995, 207–228. Vgl. insbesondere Pritchett 1980, 67–69 sowie 73f. Tomlinson 1972, 79–81 hinterfragt die Historizität der Schlacht nicht einmal, sondern geht schlichtweg hiervon aus, ohne die Problematik der Quellen zur Frühzeit von Argos an dieser Stelle zu thematisieren. Dies bezieht sich vor allem auf die fälschliche Annahme, Pausanias habe eine weitere pyramidale Struktur irrigerweise als das Polyandrion beschrieben und sich damit völlig in der Topographie von Schlacht und Monument geirrt. Ich will die umständliche und nicht-zielführende Diskussion hier nicht wiederholen und verweise nur auf Lord 1938, 496–510 sowie Pritchetts Kritik (Pritchett 1980, 67–69 sowie 73f.). Siehe auch Pritchetts Argumente gegen Robertson 1996 (s.o. Anm. 699). Auch Depastas 1990, passim spricht sich für die Historizität der Schlacht aus, ohne allerdings Stellung zu den kritischen Arbeiten Kellys und anderer zu nehmen. Siehe hierzu neben den bereits zitierten Arbeiten von Kelly und Robertson auch Hall 1995, 582–590, der argumentiert, dass Argos vor dem 6. Jh. v.Chr. noch nicht einmal die argolische Ebene unter seine Kontrolle gebracht hatte, geschweige denn die Thyreatis/Kynouria. Vgl. auch die weitere Argumentation hier im Text. Pritchetts Versuche, positive Belege oder Indizien für die Historizität der Schlacht zu liefern, können alle nicht überzeugen. Unter anderem führt er mehrfach an, dass Hirten aus der Nähe des antiken Kenchrai ihm berichtet hätten, beim Bau einer Kirche am Ort seien die Fundamente eines Apollontempels sowie eine große Zahl von Gebeinen von Kriegern gefunden worden (Pritchett 1980, 63f. und erneut 1995, 227). Weder finden sich Spuren oder Aufzeichnungen dieser Funde, noch sind diese Aussagen aus dem Mund von Laien besonders überzeugend. Schon allein die Nähe eines Grabes zum Tempel muss hier stutzig machen, wenn sie auch nicht unmöglich ist. Dennoch kann freilich auf einer solchen Grundlage nicht argumentiert werden.
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liche Strukturen als mögliche Gefallenengräber dieser Schlacht zu diskutieren, sollte danach gefragt werden, wann diese Tradition um die Schlacht von Hysiai entstand und wann vielleicht auch eines oder mehrere Monumente zur Kommemoration dieser Gefallenen errichtet wurden. Möglicherweise gibt die Lage der vermeintlichen Gräber hierbei einen wichtigen Hinweis. William K. Pritchett hebt hervor, dass die von Pausanias beschriebenen Polyandria der Gefallenen eben nicht am Schlachtort bei Hysiai errichtet worden waren, sondern bei Kenchrai, einige Kilometer entfernt auf der der Thyreatis abgewandten Seite des Berges Chaon. Er zieht hieraus den Schluss, dass die Argiver ihre Toten in die nächste Stadt an der argivischen Grenze überführten,703 geht aber nicht so weit, über die genauen Gründe zu spekulieren. Sollte die Schlacht tatsächlich stattgefunden haben, fürchteten die Argiver möglicherweise eine Schändung der Gräber oder aber sie waren aus traditionellen oder anderen Gründen darauf bedacht, ihre Gefallenen im eigenen Land beizusetzen. Da aber die Schlacht vermutlich jeglicher historischer Grundlage entbehrt, muss die Schlussfolgerung lauten, dass die Argiver zum Zeitpunkt der Errichtung der Monumente keinen freien Zugriff auf das Schlachtfeld bei Hysiai hatten. Das Grab hätte damit die Grenze der Argolis nördlich des Passes über den Chaon markiert und war vielleicht auch ganz bewusst als ein solcher Grenzmarker gedacht. Es gilt daher, als nächstes zu fragen, zu welchem Zeitpunkt eine solche Markierung des argivischen Territoriums durch ein Gefallenengrab am wahrscheinlichsten war. Ein gravierendes Problem hierbei ist, dass Sparta und Argos vom 6. Jh. v.Chr. an bis in die Zeit der römischen Herrschaft immer wieder um die Kontrolle über die Thyreatis rangen704 und dass sich daher ein breiter Zeitrahmen für die Datierung des Monumentes anbieten würde. Dennoch wäre aber die klassische Zeit und explizit das 5. Jh. v.Chr. ein wahrscheinlicher Kandidat, da gerade in dieser Zeit der Konflikt um die Thyreatis stark thematisiert und mythologisch überformt wurde. Diese Entwicklung ist im Kontext des Wiedererstarkens von Argos nach der verheerenden Niederlage von Sepeia 494 v.Chr. gegen die Spartaner zu sehen. Diese hatte nicht nur einen enormen Blutzoll von den Argivern gefordert, sondern zudem das Gemeinwesen in massive interne Unruhen geworfen, die erst in den 70er oder 60er Jahren des 5. Jh. v.Chr. überwunden werden konnten.705 Nachdem es den Argivern in der Folge ihres Wiedererstarkens zunächst ge703
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Vgl. Pritchett 1985, 159f. Die Idee bleibt in der weiteren Forschung unkommentiert. Lediglich Robertson 1996, 212 urteilt, es habe keinen Grund gegeben, weshalb die Argiver ihre Toten nicht auf dem Schlachtfeld hätten bestatten können. Paus. 7.11.1f. berichtet, dass sowohl Philipp II. als auch die Römer noch Mitte des 2. Jh. v.Chr. im Streit um die Landschaft zwischen Argos und Sparta vermitteln mussten. Siehe auch Bershadsky 2012, 52–54 und Kelly 1970a, 984. Hdt. 6.76–83 und 7.148 berichtet von der Schlacht bei Sepeia und der enormen Schwächung der polis sowie den inneren Unruhen. Diese werden ebenfalls bei Paus 2.20.8f. und Aristot. Pol. 1303A erwähnt. Wie genau die stasis verlief und welche Gruppen aktiv wurden, ist unter den antiken wie den modernen Autoren umstritten (siehe u.a. Wörrle 1964, 101–104; Tomlinson 1972, 93–100; Gehrke 1985,
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lungen war, Mykene, Tyrins und einige weitere Städte der Argolis zu zerstören und so die Herrschaft über die Ebene zu konsolidieren,706 wandten sie ihren Blick (wieder?) über die Grenzen der eigenen Region hinaus und mussten dabei zwangsläufig auch in Konflikt mit Sparta treten. Gerade der Antagonismus zu Sparta, der im 5. und 4. Jh. v.Chr. immer wieder aufflammen sollte, wurde nun aber zu einem der bestimmenden Faktoren der argivischen Außenpolitik und wurde dabei als eine Art argivisch-spartanische ‚Erbfeindschaft‘ auch in der mythischen Vergangenheit des Gemeinwesens verankert.707 Besondere Prominenz nahm hierbei die sogenannte ‚Schlacht der Champions‘ ein, die um 550 v.Chr. zwischen Argos und Sparta in der nördlichen Thyreatis ausgetragen wurde und deren Gefallene laut Pausanias am Ort der Schlacht bestattet wurden: ἰόντι δὲ ἄνω πρὸς τὴν ἤπειρον ἀπ᾽ αὐτῆς χωρίον ἐστίν, ἔνθα δὴ ἐμαχέσαντο ὑπὲρ τῆς γῆς ταύτης λογάδες Ἀργείων τριακόσιοι πρὸς ἄνδρας Λακεδαιμονίων ἀριθμόν τε ἴσους καὶ ἐπιλέκτους ὁμοίως. ἀποθανόντων δὲ ἁπάντων πλὴν ἑνὸς Σπαρτιάτου καὶ δυοῖν Ἀργείων, τοῖς μὲν ἀποθανοῦσιν ἐχώσθησαν ἐνταῦθα οἱ τάφοι, τὴν χώραν δὲ οἱ Λακεδαιμόνιοι γενομένου πανδημεί σφισιν ἀγῶνος πρὸς Ἀργείους κρατήσαντες βεβαίως αὐτοί τε παραυτίκα ἐκαρποῦντο καὶ ὕστερον Αἰγινήταις ἔδοσαν ἐκπεσοῦσιν ὑπὸ Ἀθηναίων ἐκ
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24–26; 361–363; Kritzas 1992, 231–233; Bearzot 2006, 106f.). Letztlich sind die Details für die vorliegende Untersuchung aber auch nicht von Bedeutung. Relevant ist, dass die Argiver 494 v.Chr. eine empfindliche Niederlage mit hohen Verlusten gegen die Spartaner erlitten und dass am Ende der stasis ein demokratisches Regime in Argos etabliert wurde. Unklar bleibt, ob es den Argivern vor der Schlacht von Sepeia überhaupt gelungen war, einen Teil der Argolis unter ihre direkte politische Kontrolle zu bringen und wie groß dieses kontrollierte Gebiet ggf. war. Hierzu finden sich in der Forschung sehr unterschiedliche Ansichten, wobei ich dazu tendiere, der vorsichtigeren Einschätzung Jonathan Halls (Hall 1995, 580–590) zu folgen, der zufolge das konkrete Herrschaftsgebiet der Argiver kaum über das direkte Umland der polis hinausreichte. Wie Hall überzeugend darlegt, fehlen schlichtweg die Belege für die politische Vorherrschaft der Argiver in der Argolis vor der Zerstörung von Mykene, Tyrins etc., wenn die polis auch sicher zweifelsohne ein wichtiges regionales Zentrum war. Ihm folgt auch Kulesza 2004, 219, während andere Autoren die Ansicht vertreten, dass die Argiver einst einen Großteil zumindest der argivischen Ebene kontrolliert hatten, dann aber im 6. Jh. v.Chr. oder spätestens mit der Schlacht von Sepeia die Kontrolle über die Argolis verloren und sie erst mit der beschriebenen Reihe von militärischen Schlägen wiedergewannen (so etwa Bearzot 2006, 106f.; Kelly 1976, 140f. und etwas zurückhaltender auch Leppin 1999, 299f.; 2001, 159f.). Ein Problem stellt die Frage nach der Beziehung zur Thyreatis dar, die weiter unten noch thematisiert wird. Es bleibt zu fragen, ob Argos im 6. Jh. v.Chr. Ansprüche auf diese erheben konnte, wenn es noch nicht einmal die Herrschaft über die Argolis gesichert hatte. Die zentrale Arbeit hierzu ist Kelly 1970a. Obwohl seine Argumentation vollauf überzeugt, wurde sie von nachfolgenden Forschern häufig nicht akzeptiert oder gar nicht erst rezipiert (so etwa Depastas 1990, passim). Weiter unten wird noch die Arbeit von Bershadsky 2012 diskutiert werden, die die Entstehung des ‚Erbfeindschafts-Mythos‘ früher ansetzen will.
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τῆς νήσου. τὰ δὲ ἐπ᾽ ἐμοῦ τὴν Θυρεᾶτιν ἐνέμοντο Ἀργεῖοι: φασὶ δὲ ἀνασώσασθαι δίκῃ νικήσαντες.708
Die Bekanntheit und Popularität dieser Erzählung liegt auf der Hand, schlossen neben Pausanias doch sowohl Herodot als auch Plutarch und Strabon in ihren Werken alle eine Version dieser Erzählung ein und finden sich Hinweise hierauf überdies bei zahlreichen anderen Autoren.709 Thukydides war die Geschichte ebenfalls bekannt, auch wenn er sie nur in einer Randbemerkung erwähnt.710 Gerade die Tatsache aber, dass diese kurze Anspielung ausreichte, um dem Leser verständlich zu machen, worauf der Autor sich bezog, zeigt, dass die Geschichte schon zu seinen Zeiten weit verbreitet gewesen sein muss. Auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Versionen der Erzählung will ich an dieser Stelle nicht eingehen, da diese für die argivische Ausdeutung nicht von besonderer Relevanz sind. Bezüglich der Frage nach der Historizität des Ereignisses herrscht in der Forschung relativ einheitlich die Meinung vor, dass es Mitte des 6. Jh. v.Chr. tatsächlich zu einer Schlacht zwischen den Argivern und den Spartanern in der Thyreatis gekommen war, dass dieser historische Kern dann aber mit der Erzählung von den 600 Champions überformt worden sei. Möglicherweise sei die Überformung dabei aus einem bereits existierenden Mythos gespeist und mit diesem vermischt worden oder aber hier wurden verschiedenste Elemente zu einer neuen Erzählung zusammengefügt.711 Ein gewisses Problem in Bezug auf die Historizität stellt freilich die Frage dar, ob die Argiver in dieser Zeit überhaupt bereits Anspruch auf die Thyreatis erhoben, hatten sie doch offenbar noch nicht einmal ihre Vorherrschaft in der Argolisebene durchgesetzt.712 Möglicherweise war dies aber auch gar keine Voraussetzung für die Schlacht, da die Argiver in keinem Fall Interesse daran gehabt haben können, dass die Spartaner die benachbarte Region unter ihre Kontrolle brachten. Schließlich muss die Befürchtung groß gewesen sein, dass die Spartaner, nachdem sie erst Tegea besiegt hatten und nun auf die Thyreatis ausgriffen, als nächstes die Argolis ins Visier nehmen würden. Die Argiver mögen sich demnach zu einem präventiven Eingreifen genötigt gesehen haben. Vielleicht aber war die Herrschaft der Argiver in der Argolis und möglicherweise auch in der Thyreatis im 6. Jh. v.Chr. doch gefestigter, als 708 709
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Paus. 2.38.5. Siehe Hdt. 1.82; Plut. mor. 306A–B; 858D sowie die knappe Referenz in mor. 231E und schließlich Strab. 8.6.17. Knappe Anspielungen, die sich häufig auf die Figur des überlebenden Spartaners Othryades beziehen, finden sich u.a. bei Isok. or. 6.99; Luc. Char. 24; Maxim. Diss. 23.2.57; 32.10. Vgl. auch die Epigramme weiter unten. Vgl. Thuk. 5.41.2. Siehe Tomlinson 1972, 88f.; Robertson 1996, 183f.; Koiv 2003, 131; Bershadsky 2012, passim. Letztlich liegt dieser Gedanke auch den Überlegungen von Kelly 1970a zugrunde. S.o. Anm. 706.
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der archäologische Befund nahelegt. In jedem Fall scheint schon alleine aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen dem eigentlichen Ereignis und den ersten Berichten von der Schlacht unwahrscheinlich, dass diese frei erfunden gewesen sein solle.713 Wiederum lautet die entscheidende Frage daher, ob sich ein Zeitrahmen feststellen lässt, in dem das historische Ereignis mythisch überformt wurde. Einen Hinweis scheint auf den ersten Blick ein Epigramm aus der Anthologia Palatina zu bieten, das sich auf die Schlacht bezieht und dem Simonides zugeordnet wird. Diese Zuweisung, die auch in der Anthologia nur mit Vorsicht unternommen wird, ist jedoch aufgrund stilistischer Kriterien abzulehnen.714 Überdies ist das Epigramm aus spartanischer Sicht verfasst und kann damit ohnehin nicht den Argivern zugeordnet werden. Auch eine ganze Reihe weiterer Epigramme mit Bezug auf die Schlacht, die alle in derselben Sammlung überliefert sind, können nicht weiterhelfen, da sie alle erst aus hellenistischer oder römischer Zeit stammen.715 Unsere frühesten Belege der Erzählung stammen also von Herodot und Thukydides, die beide bereits die überformte Version der Geschichte kannten. Es liegt dabei nahe, aufgrund der Formulierung des Thukydides anzunehmen, dass diese Variante in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. schon weitläufig bekannt und damit schon seit längerem im Umlauf war. Vermutlich existierte die überformte Version also bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts oder sogar schon früher. Bedauerlicherweise haben sich von den bei Pausanias beschriebenen Gräbern keine archäologischen Überreste gefunden, die Hinweise für eine genauere Datierung der Überformung bieten würden.716 Auffällig ist aber doch, dass im Gegensatz zur Schlacht bei Hysiai die vermeintlichen Gräber sowohl der Spartaner als auch der Argiver am Schlachtort selbst lagen, obwohl doch auch hier eine Überführung der gefallenen Argiver auf heimisches Gebiet möglich gewesen wäre. Die Tatsache, dass Pausanias die Gräber noch ein Dreivierteljahrtausend nach der Schlacht identifizieren konnte bzw. dass ihm hiervon berichtet werden konnte, lässt dabei vermuten, dass sie in 713 714 715
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So auch Robertson 1996, 181. Siehe auch Koiv 2003, 130f. mit Anm. 313. Anth. Pal. 7.431 mit Page/Gow 1965, 519f. Simonides 5; Bravi 2006, 89f.; Bershadsky 2012, 61. So Anth. Pal. 7.721 und vermutlich 7.720 (Chairemon – 3. Jh. v.Chr.? Vgl. Page/Gow 1965, II.220– 222); 7.430 und vielleicht 7.229 (Dioskorides von Nikopolis – 2. H. 3. Jh. v.Chr. Vgl. Page/Gow 1965, II.235f.; 261–263); 7.526 (Nikander v. Kolophon – um 200 v.Chr. Vgl. Page/Gow 1965, II.423–425); 7.741 (Krinagoras von Mytilene – 1. Jh. v.Chr.); 7.244 (Gaitulikos – 1. Jh. n.Chr.?). Anth. Pal. 7.432 bezieht sich möglicherweise ebenfalls auf die Schlacht (Damagetos – 3. Jh. v.Chr. Vgl. Page/Gow 1965, II.223–225). Zu dieser Gruppe von Epigrammen insgesamt siehe Page/Gow 1965, II.220f.; Palumbo Stracca 2004, 211–218; Bravi 2006, 89f. sowie Robertson 1996, 187f. In der älteren Forschung wurde wiederholt vorgeschlagen, ein Pfeilerfragment, das in Kynouria gefunden wurde und eine fragmentarische Inschrift trug, einem Kenotaph für Gefallene dieser Schlacht zuzuordnen (siehe etwa Clairmont 1983, 245 Nr. 84; Pritchett 1985, 160f.). Diese Identifikation ist jedoch auf eine falsche Lesung der frühen Editoren zurückzuführen. Viel wahrscheinlicher sei laut der neueren Forschung, dass es sich um ein Bauteil einer Wasseranlage gehandelt habe. Siehe Robertson 1996, 184–187; Koerner 1993, 86f. Nr. 30.
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irgendeiner Form monumentalisiert oder zumindest permanent markiert worden sein müssen. Obwohl es keinen Grund gibt, daran zu zweifeln, dass die Argiver ihre Toten Mitte des 6. Jh. v.Chr. auf dem Schlachtfeld bestatteten, könnte eine entsprechende permanente Markierung durchaus erst aus späterer Zeit stammen. Schließlich musste eine Schlachtfeldbestattung zumal der unterlegenen Partei zwangsläufig relativ bescheiden ausfallen und eine zeitnahe Markierung oder Monumentalisierung hätte von den Spartanern in dem von ihnen kontrollierten Gebiet durchaus verhindert werden können.717 Auch wenn sich keine harten Argumente für diese These finden lassen, wäre durchaus plausibel, dass die Argiver, sobald sie die Kontrolle über die Thyreatis (wieder)erlangt hatten,718 auch an den Gräbern der Schlacht der Champions tätig wurden, um ihre (Wieder)Inbesitznahme der Region zu markieren und zu kommemorieren. In Anbetracht der schlechten Quellenlage müssen diese Überlegungen aber freilich rein hypothetisch bleiben. Kehren wir daher noch einmal zum Thema des ‚Erbfeindschafts-Mythos‘ und der Datierung von dessen Formationsphase zurück. Thomas Kelly, der die zentrale Arbeit zu diesem Thema verfasst hat, setzt die Entstehung der Idee von der spartanisch-argivischen Erbfeindschaft erst im 4. Jh. v.Chr. an.719 Er argumentiert, dass Herodot und Thukydides die Schlacht der Champions und jene bei Sepeia erwähnten, dabei aber nicht den Eindruck vermittelten, dass der Konflikt zwischen Argivern und Spartanern schon vor diesen Ereignissen bestanden habe oder besonders eingefahren gewesen sei. Zwar sei der Antagonismus zwischen den beiden poleis mit diesen Schlachten entstanden, doch seine Verwurzelung in der deep history lasse sich erst bei den Autoren des 4. Jh. v.Chr. und insbesondere bei Ephoros finden. Hier sei der Grundstein des Mythos einer Erbfeindschaft gelegt worden, der in den folgenden Jahrhunderten noch weiter ausgeschmückt worden sei, bis er im Werk des Pausanias seine maximale Ausprägung erreicht habe.720 Natasha Bershadsky, die sich erst kürzlich in einer Studie dem Thema widmete, widerspricht Kelly in dieser späten Datierung. So würden die Berichte bei Herodot und Thukydides sehr wohl nahelegen, dass bereits zu ihrer Zeit die Vorstellung dominierte, dass der spartanisch-ar-
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Siehe etwa die Überlegungen zum Grab der Thebaner bei Chaironeia weiter oben. Allerdings handelte es sich dort um ein besonders massives Monument. Im vorliegenden Fall ist von einem deutlich bescheideneren Grabmal auszugehen, das den Spartanern auch weniger aufgestoßen sein dürfte. Möglicherweise nach dem erfolgreichen Zug der Athener gegen die Thyreatis 424 v.Chr. (siehe Thuk. 4.56; Diod. Sic. 12.44.3; Plut. Nikias 6.6; Paus. 2.38.5) oder aber erst nach der Schlacht von Leuktra in den Jahren 369/8 v.Chr. (siehe Diod. Sic. 15.64.2). Zum Folgenden siehe Kelly 1970a, passim sowie auch 1970b, insb. 39–42 und 1976, 138f. Kelly 1970a, 992f. merkt an, dass Pausanias mehr kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Argos und Sparta vor 550 v.Chr. erwähne als alle anderen Autoren zusammen. Ein Großteil hiervon werde vom Periegeten im Kontext der Messenischen Kriege angesetzt.
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givische Antagonismus schon seit langer Zeit existierte.721 Bershadsky legt weiter dar, dass die Geschichte der Schlacht der Champions, wie schon Herodot sie berichtet, Elemente enthalte, die auf eine rituelle Herkunft hinwiesen. Hieraus entwickelt sie die These, dass der Bericht über die tatsächliche Schlacht, die um 550 v.Chr. bei Sepeia geschlagen wurde, vermischt worden sei mit Elementen eines früheren Brauches, bei dem die Spartaner und Argiver regelmäßig in rituellen Kämpfen um die zeitweise Kontrolle der Thyreatis gekämpft hätten.722 Der Konflikt um diesen Landstrich habe demnach sehr wohl bereits früher existiert, sein destruktives Potential sei jedoch bis zur Mitte des 6. Jh. v.Chr. stets im Ritual aufgefangen worden. Ihre Argumentation für diese regelmäßigen rituellen Kämpfe, die hier nicht im Detail wiedergegeben werden soll, kann jedoch nicht überzeugen. Weder kann sie Parallelen für solche Bräuche anführen, die ihrer These mehr Plausibilität verleihen würden, noch löst sie das grundlegende Problem, dass eine Situation unwahrscheinlich ist, in der sowohl die Spartaner als auch die Argiver vor dem 6. Jh. v.Chr. und vor dem spartanischen Sieg über Tegea Anspruch auf die Thyreatis erhoben.723 Dennoch sind ihre Beobachtungen bezüglich der Quellen des 5. Jh. v.Chr. durchaus überzeugend und verdienen Beachtung. Thukydides etwa betont tatsächlich wiederholt, dass die Feindschaft zwischen Spartanern und Argivern schon lange – er verwendet „αἰεί“ – existiert habe,724 und auch andere Quellen legen nahe, dass die Feindschaft zwischen den beiden poleis bereits im 5. Jh. v.Chr. ein gängiger topos war, der sie von anderen Konflikten unterschied. So nutzen die Argiver in der Erzählung Herodots das Argument der spartanischen Feindschaft und Bedrohung, um zu rechtfertigen, warum sie nicht an der Perserabwehr teilnehmen könnten.725 Ein weiteres Indiz findet sich in der Einrichtung einer permanenten und staatlich finanzierten tausendköpfigen Elitetruppe durch die Argiver gerade zu dem Zeitpunkt, als der dreißigjährige Friede mit den Spartanern auslaufen sollte.726 Pausanias berichtet, die Truppe sei explizit für den Kampf gegen die Spartaner eingerichtet worden – eine Behauptung, die sich so bei keinem anderen Autor
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Siehe Bershadsky 2012, 52–54 und insbesondere 57. Vgl. Bershadsky 2012, 59–77. Siehe für diesen zentralen Punkt Kelly 1970a, 980–983 sowie Hall 1995, 582–589; Kulesza 2004, 219; 229–232. Siehe Thuk. 5.29.1 und 41.2. Kelly 1970a, 974 Anm. 10 versucht die Bedeutung von αἰεί in diesem Kontext herunterzuspielen, was ihm jedoch nicht überzeugend gelingt. Vgl. auch Bershadsky 2012, 52. Vgl. Hdt. 7.148. Selbst Kelly 1970a, 984 verweist hierauf, wenn er auch zu Recht betont, dass an keiner Stelle in Herodot auf eine Feindschaft vor der Schlacht der Champions verwiesen werde. Von der Schaffung dieser stehenden Elitetruppe berichten Diod. Sic. 12.75.7 und Paus. 2.20.2. Thukydides erwähnt sie erstmals in der Schlacht von Mantineia 418 v.Chr. (5.67.2; 72–74, passim). Piérart 2004, 169 behauptet gar, die Schar der Tausend sei bereits früher eingerichtet worden, bleibt jedoch jegliche Belege schuldig. Zur Rolle der Tausend im oligarchischen Umsturz nach der Schlacht von Mantineia siehe Bearzot 2006, 136f.
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findet, die jedoch in Anbetracht des Zeitpunktes der Einrichtung der Institution durchaus überzeugen kann. Immerhin berichtet auch Thukydides davon, dass die Argiver sich nach Ablauf des Friedensvertrages auf einen Konflikt mit den Spartanern vorbereiteten und hierfür Verbündete sammelten.727 Wenn aber dieses Kontingent der Tausend tatsächlich zuvorderst für den Kampf gegen die Spartaner gedacht gewesen sein sollte, so wäre nur naheliegend, dass seine Gründung auch von einer entsprechenden Identitäts- und Traditionsbildung begleitet wurde. In diesem Kontext wäre dann denkbar, dass die Gegnerschaft zu Sparta auch durch die Bildung oder Umformung von Mythen in der deep history des Gemeinwesens verankert wurde, so wie die mythische Vergangenheit gerade in Argos auch in anderen Bereichen der Außenpolitik stark instrumentalisiert wurde, um aktuelle Sichtweisen und Ziele zu bestärken bzw. durchzusetzen.728 Auch wenn die Quellen wiederum einen endgültigen Beleg schuldig bleiben, finden sich damit aber doch einige Indizien, die nahelegen, dass die Idee einer argivisch-spartanischen Erbfeindschaft bereits zur Zeit des Peloponnesischen Krieges verbreitet wurde, wenn sie auch sicherlich später weitere Ausschmückungen sah. Zumindest wird an den behandelten Zeugnissen deutlich, dass die Auseinandersetzung zwischen Argos und Sparta bereits in dieser Zeit nicht mehr als gewöhnlicher Konflikt behandelt wurde, selbst wenn ihre mythologische Verankerung erst später erfolgt sein sollte. Gerade in Anbetracht der Bedeutung, welche die Schlacht der Champions für die polis einnahm, wäre also durchaus denkbar, dass die Argiver, als sie die Kontrolle über die Thyreatis (wieder)gewannen, auch am Ort der Schlacht tätig wurden, indem sie das Grabmonument erneuerten. Fraglich muss bleiben, ob auch einige der anderen Gefallenendenkmäler, die Pausanias beschrieb, bereits dem 5. oder auch dem 4. Jh. v.Chr. zuzuordnen sind. Hier scheint es empfehlenswert, sich an Thomas Kellys vorsichtiger Argumentation zu orientieren, die eine Errichtung dieser Monumente vor dem 4. Jh. v.Chr. unwahrscheinlich macht. Auch wenn die Diskussion der Monumente damit letztlich nicht zu einer genaueren Datierung führen konnte, dient sie dennoch dazu, ein Charakteristikum des argivischen Gemeinwesens und seiner Kommemorationspraktiken klar hervorzuheben: die Fokussierung auf die mythische Vergangenheit. Diese ungewöhnlich starke Betonung der frühen und frühesten Geschichte der 727 728
Siehe Thuk. 5.27–47. Man denke etwa alleine an die Monumente für die Sieben gegen Theben und die Epigonen, welche die Argiver im 5. Jh. v.Chr. in ihrer polis und in Delphi errichten ließen, um ihre außenpolitischen Handlungen und Erfolge zu kommemorieren. Siehe hierzu die drei wichtigen Beiträge von Bommelaer 1992; Pariente 1992; Daumas 1992 sowie auch Bommelaer 2013, passim; Piérart 2004, 170–172; Kulesza 2004, 232; Leppin 1999, 303f. Der Geschichte um die Sieben gegen Theben kommt gerade in Bezug auf die argivisch-athenische Allianz große Bedeutung zu. Dieser Komplex soll weiter unten im Kontext der Gefallenen der Schlacht von Tanagra noch genauer behandelt werden. Vgl. auch Hall 1995, 580f., der darauf hinweist, dass in Argos gerade im 5. Jh. v.Chr. eine massive „re-invention“ des argivischen Mythos zu beobachten sei.
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polis war m.E. dem Fakt geschuldet, dass die Argiver insbesondere im 5. Jh. v.Chr. keine größeren militärischen oder außenpolitischen Erfolge vorzuweisen hatten. Zwar war es ihnen gelungen, ihre Konkurrenten innerhalb der Argolis auszuschalten, doch ließen sich diese Erfolge über die Grenzen der Region hinaus nicht fortsetzen. Bei Sepeia erlitten die Argiver 494 v.Chr. derartig hohe Verluste, dass ihr Gemeinwesen an den Rande des Zusammenbruchs geriet und in den Schlachten von Tanagra 458/7 v.Chr. und Mantineia 418 v.Chr. wurde ihren überregionalen Ambitionen jeweils sehr schnell ein massiver Dämpfer versetzt. Darüber hinaus hatten sie keinen Anteil an der gemeinsamen griechischen Abwehr der Perserinvasion gehabt – ein Umstand, für den sie sich durchaus gegenüber den anderen poleis rechtfertigen mussten729 und in dem sie selbst ihren kleineren Nachbarn wie Mykene und Tyrins nachstanden.730 Lediglich ein einziger militärischer Erfolg war den Argivern wohl im frühen 5. Jh. v.Chr. gegen die Korinther beschieden. Dieser Sieg, der nur anhand einiger grob datierter Waffenweihungen in Olympia nachgewiesen ist, findet allerdings keine Erwähnung in den literarischen Quellen und wurde durch die schwere Niederlage bei Sepeia wohl fast völlig verdrängt.731 In Anbetracht dieses Mangels 729
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Dies legt die lange Passage bei Hdt. 7.148–152 nahe, in der der Historiograph berichtet, welche unterschiedlichen Erklärungen zu seiner Zeit bezüglich der Nicht-Teilnahme der Argiver am Perserkampf kursierten. Auch der Vorwurf der Kooperation mit den Persern fand sich demnach wohl häufig. Vgl. hierzu Vanicelli 2004, 292–294; Bearzot 2006, 114f. Laut Hdt. 7.202 hätten die Mykener bei den Thermopylen 80 Mann gestellt. Bei Plataiai seien 400 Mann aus Mykene und Tiryns sowie 800 Epidaurier und 1000 Troizener angetreten (Hdt. 9.28). Sie alle werden auch auf der Schlangensäule in Delphi genannt (Meiggs/Lewis 1989, 57–60 Nr. 27), wo zudem auch noch die Hermioneer aufgelistet werden. Die größere Argolis war damit also recht stark repräsentiert. Paus. 2.16.5 behauptet gar, die Argiver hätten Mykene zerstört, weil sie neidisch auf die mykenische Teilnahme an der Thermoyplenschlacht gewesen seien. Freilich ist diese Aussage abstrus, ebenso wie Pausanias’ Behauptung, die Mykener hätten als einzige Bewohner der Argolis gegen die Perser gekämpft. Dennoch spielte die Teilhabe bzw. Nicht-Teilhabe an der Perserabwehr eine wichtige Rolle für die griechischen Gemeinwesen und es ist sehr gut vorstellbar, dass die Mykener sie auch als Argument in Verhandlungen und Streitigkeiten zwischen den poleis verwandten. Dies legt auch Diod. Sic. 11.65.2 nahe, der darauf verweist, welches Prestige die Mykener aus ihrem Einsatz gewonnen hätten. Es handelt sich u.a. um eine ganze Reihe von Helmen (siehe z.B. I.Olymp. 250), Schilden sowie mindestens eine gut erhaltene Beinschiene (Mallwitz/Herrmann 1980, 101 Nr. 62–2 mit Taf. 62.2), die alle inschriftlich als Beuteweihungen der Argiver aus einer siegreichen Schlacht gegen die Korinther ausgewiesen werden. Lewis 1981, 74f. und Adshead 1986, 72–75 wollen die Weihungen um 470 v.Chr. datieren, als die Korinther kurzzeitig Nemea und Kleonai unter ihre Kontrolle brachten und schließlich von den Argivern vertrieben wurden. Jackson 2000 sammelt alle erhaltenen Weihungen und kommt nach einer minutiösen Untersuchung der Inschriften und ihrer Träger sowie des archäologischen Kontextes zu dem Schluss, dass ein Datum in den Jahren vor der Schlacht von Sepeia wahrscheinlich sei. Auch Jeffery 1990, 162; 169 Nr. 18 macht eine Datierung um 500 v.Chr. wahrscheinlich. Siehe auch Bearzot 2006, 110; Kulesza 2004, 229. Paus. 1.15.1 und 10.10.3–5 berichtet überdies noch von einem Sieg der Argiver über die Lakedaimonier bei Oinoe. Er wird häufig kurz nach der Schlacht von Tanagra datiert. Jedoch wird die Schlacht überhaupt nur bei Pausanias erwähnt, der bezüglich der Datierung schweigt. Weil ihr Zeitpunkt daher
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an außenpolitischen und militärischen Erfolgen, den die Argiver auch nach dem 5. Jh. v.Chr. nicht überwinden konnten, erscheint es nur naheliegend, dass sie verstärkt ihre frühen und mythischen Errungenschaften in den Blick nahmen und diese zum Teil erst erfanden bzw. ausschmückten. Immerhin stellte ein Ereignis wie die Schlacht der Champions, in der sie sich den Spartanern doch zumindest ebenbürtig erwiesen hatten, sicherlich ein attraktiveres Objekt der gemeinsamen Kommemoration dar als die gescheiterten Operationen der näheren Vergangenheit.732 Wenn wir uns im Folgenden den im eigentlichen Sinne ‚historischen‘ Gefallenenmonumenten der Argiver zuwenden, sollen etwaige Rückbindungen an die mythische Vergangenheit der polis daher besonders berücksichtigt werden. Das früheste dieser Gefallenenmonumente ist jenes für die Argiver, die 458/7 v.Chr. in der verlorenen Schlacht von Tanagra starben, wo sie an der Seite der Athener gegen die Spartaner und deren boiotische Verbündete gekämpft hatten.733 Wohlgemerkt befand sich dieses Monument nicht in Argos, sondern im athenischen demosion sema, wo noch Pausanias es sah und beschrieb.734 Anstatt also auf dem Schlachtfeld bestattet oder den langen Weg nach Argos überführt zu werden, wurden die Leichname der gefallenen Argiver wohl zunächst verbrannt und ihre Asche dann nach Athen gebracht, wo sie schließlich beigesetzt wurden. Pausanias’ Beschreibung legt dabei nahe, dass sie ein eigenes Grab erhielten,735 und tatsächlich fanden sich in Athen zahlreiche Reste der Inschriftenstele, die einst ebendieses Grab markierte.736 Seit dem 19. Jh. wurden insgesamt 15 Fragmente aus weißem Marmor gefunden, die sich zu einer großen Giebelstele rekonstruieren lassen, deren Maße Nikolaos Papazarkadas und Dimitris Sourlas, die 2012 das
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ungeklärt bleiben muss, wird sie auch hier aus der Diskussion ausgeschlossen. Vgl. Schreiner 1997, 21–37. Piérart 2004, 170f. verweist darauf, dass auch eine Niederlage wie die Schlacht bei Sepeia als identitätsstiftendes Ereignis kommemoriert werden könne, betont dabei aber auch, wie wichtig es sei, diese dann mit anderen, erfolgreich(er)en Unternehmungen in eine Reihe zu setzen, um so den negativen Effekt abzudämpfen. Die wichtigsten Quellen zur Schlacht sind Hdt. 9.35; Thuk. 1.107f.; Diod. Sic. 11.80.2; Plut. Menex. 242a–b; Paus. 1.29.8f. Siehe Paus. 1.29.7–9. Dies legen weniger die konkreten Formulierungen bezüglich der Gestaltung des Grabes nahe, zu der der Perieget kaum etwas schreibt, sondern die Tatsache, dass er die Argiver so explizit hervorhebt. Siehe hierzu auch weiter unten. Die jüngste Arbeit zu dem Monument, die neben einer genauen Studie des bereits publizierten Materials auch ein neues Fragment hinzufügt, ist Papazarkadas/Sourlas 2012. Unter den älteren Arbeiten sind zunächst die Standardreferenzen zu nennen (IG I3 1149; Agora XVII, 7–9 Nr. 4; GV 15; Jeffery 1990, 164f.; 169 Nr. 30: Meiggs/Lewis 1989, 77f. Nr. 35) sowie die wichtigen Abhandlungen von Meritt 1945; 1952, 351–355 und Peek 1978. Siehe darüber hinaus Clairmont 1983, 136–138 Nr. 21a; Pritchett 1985, 181f.; Low 2012, 17–19.
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jüngste Bruchstück des Steins publizierten, auf 1,20m in der Breite, 2,20m in der Höhe und bis zu 0,29m Dicke schätzen. Das Giebelfeld wies keine Verzierung auf, war möglicherweise aber einst ausgemalt737 und wurde durch eine Leiste und ein Kyma vom Inschriftenfeld abgetrennt.738 Papazarkadas und Sourlas weisen daraufhin, dass es sich um die früheste Stele dieser Form in Athen handelt und dass zudem kein anderes attisches Gefallenenmonument von einem Giebel gekrönt war.739 Möglicherweise wurde für die Stele der Argiver ganz dezidiert eine Form gewählt, die sie von den attischen Gefallenenmonumenten unterschied. Direkt unter dem Kyma setzte der Text mit einer Überschrift und einem Epigramm an. Die betreffenden Fragmente erlauben die folgende teilweise Rekonstruktion: Ἀργε[ίον] [τοί]δ ̓ ἔθ[ανον Ταν]άγραι Λακ[εδαιμονίον hυπὸ χερσ]ί, πένθο[ς ---] [--- πέ]ρ̣ι μαρναμ̣[εν ---].740
Die Herkunftsangabe „Ἀργε[ίον]“ wurde dabei besonders hervorgehoben, indem die Buchstaben fast doppelt so groß wie der restliche Text eingemeißelt wurden. Der zusätzliche Platz, der hierfür benötigt wurde, war scheinbar nicht vom Steinmetz eingeplant worden, dem schließlich nicht mehr genug Raum für das Epigramm zur Verfügung stand. In der Folge sah er sich dazu genötigt, einen Teil des Epigramms (hier in der zweiten Zeile angegeben) senkrecht am rechten Außenrand des Inschriftenfeldes einzuschreiben.741 Auf die Überschrift und das Epigramm folgen vier Spalten gleicher Breite mit den Namen der Gefallenen. Der gesamte Text wurde im argivischen Alphabet verfasst und die Gefallenenliste in stoichedon eingeschrieben. Die Toten wurden nur mit ihrem Eigennamen ohne Patronym genannt, waren jedoch nach Phylen angeordnet, wie die Kennzeichnung „hυλλεε͂ς“ in der ersten Zeile der ersten Spalte verrät. Auch diese Überschrift ist leicht hervorgehoben, indem die Buchstaben etwas breiter, jedoch nicht höher gefasst wurden. Erhalten sind heute noch die Reste der Namen von 94 Gefallenen, jedoch gehen Papazarkadas und Sourlas aufgrund der vermuteten Größe der Stele davon aus, dass ursprünglich bis zu ca. 300 Mann genannt worden sein könnten.742
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Vgl. Meritt 1952, 353; Papazarkadas/Sourlas 2012, 595f. Eine Profilzeichnung und eine Rekonstruktion finden sich bei Meritt 1952, 352 Abb. 1 und 354 Abb.2. Siehe Papazarkadas/Sourlas 2012, 595. Auch Low 2012, 18 weist auf diese Besonderheit des Denkmals hin. Papazarkadas/Sourlas 2012, 599 nach CEG 135. Vgl. hierzu Meritt 1952, 353–355; Clairmont 1983, 137; Papazarkadas/Sourlas 2012, 599f. Siehe Papazarkadas/Sourlas 2012, 600–602. Wie sie darlegen, beruhte Meritts ältere Schätzung (siehe Meritt 1945, 146) von bis zu 400 Toten, die in der späteren Forschung häufig unhinterfragt übernommen wurde, auf keinerlei harten Fakten oder Berechnungen. Vielmehr überschlug Meritt mit Blick
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Nun ist die Tatsache, dass die Athener hier Verbündete im demosion sema bestatteten an sich nicht ungewöhnlich. Es finden sich zahlreiche attische Gefallenenlisten, die Söldner oder Verbündete unter den Bestatteten nennen und zumindest eine dieser Listen ist wohl auch noch früher zu datieren als das vorliegende Monument.743 Auffällig ist jedoch, dass diese Verbündeten, soweit ersichtlich, zusammen mit den Athenern in einem Grab bestattet wurden und auch gemeinsam mit diesen auf den Gefallenenlisten genannt wurden, wenn auch freilich in einer anderen Rubrik. Ein separates Monument oder gar Grab für Verbündete der Athener im demosion sema scheint hingegen zunächst eine Ausnahme darzustellen und ist epigraphisch nur noch in einem weiteren Fall sicher belegt, als kurz nach der Mitte des 5. Jh. v.Chr. einige Lemnier in Athen beigesetzt wurden und wohl ein eigenes, unabhängiges Grabmonument erhielten.744 Wie aber Nikolaos Papazarkadas und Dimitirs Sourlas richtig bemerken, handelte es sich bei den Lemniern um attische Kleruchen, die möglicherweise aufgrund dieses Status dieselbe Behandlung wie die Athener selbst erhielten. Somit würde diese Bestattung ähnlich wie auch die oben diskutierte Bestattung der Plataier, die während der Sizilienexpedition gefallen waren,745 in das ‚normale‘ Raster des patrios nomos fallen.746 Schwieriger zu entscheiden ist, wie mit der Beschreibung des demosion sema durch Pausanias umzugehen ist, die neben dem Grab der Argiver auch eines der Kleonier erwähnte, die zusammen mit den Athenern und Argivern in der Schlacht von 458/7 v.Chr. gekämpft hätten, sowie zwei weitere Gräber für thessalische Reiter, die den Athenern 431 v.Chr. zu Hilfe geeilt waren, und kretische Bogenschützen aus einem un-
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auf Thukydides’ Aussage, dass die Schlacht auf beiden Seiten hohe Verluste gefordert hatte und dass insgesamt 1000 Argiver angetreten waren, wohl grob, dass 400 Tote durchaus möglich wären – insbesondere da diese sich sehr gut auf vier Spalten verteilen ließen. Die früheste Liste mit Nennung von Verbündeten ist IG I3 1144, die vermutlich in das Jahr 464 v.Chr. oder kurz danach zu datieren ist (vgl. Bradeen 1967, passim; Agora XVII, 3–6 Nr. 1; Welwei 1974, 42–45; Clairmont 1983, 127–130 Nr. 18). Hier wurden zusammen mit den attischen Gefallenen auch [Μαδ]ύτοι und [Βυζά]ντιο[ι] aufgelistet. Einzelne Gefallene aus anderen poleis, bei denen es sich aber möglicherweise um Metöken handeln könnte, finden sich auf IG I3 1150 Z. 13; 1162, Z. 95f.; 1190 Z. 13f. Die Rubrik χσένοι, die vermutlich Söldner bezeichnete, nennen IG I3 1180; 1184; 1190, während τοχσόται βάρβαροι auf IG I3 1172; 1180; 1190; 1192 erwähnt werden. IG I3 1164 und 1165, die gefallene Lemnier nennen, werden weiter unten noch thematisiert. Zur Nennung von Verbündeten und Söldnern siehe weiter oben 1. II. Die Gefallenenlisten. Siehe IG I3 1164 mit Clairmont 1983, 184f. Nr. 46. S.o. 2. I. Plataiai mit Anm. 376. Vgl. Papazarkadas/Sourlas 2012, 603. Ein starkes Argument für ihre These ist, dass die gefallenen Lemnier nach den attischen Phylen angeordnet waren. Interessant ist, dass die Lemnier auf der nur grob ins 5. Jh. v.Chr. datierten Gefallenenliste IG I3 1165 wohl kein separates Grabmal erhielten, sondern zusammen mit den Athenern innerhalb der attischen Phylenordnung aufgelistet wurden. Siehe auch die kurze Diskussion dieses Umstandes bei Clairmont 1983, 185 Nr. 47 (an einigen Stellen vertauscht er allerdings seine Nummern 47 und 46 für die Referenzen).
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bekannten Konflikt.747 Handelte es sich um separate Gräber oder waren diese Toten auf attischen Gefallenenmonumenten eingeschlossen und nur von Pausanias separat erwähnt worden? Der materielle Befund würde letzteres nahelegen, da auf den Inschriften klar die sekundäre Auflistung der Verbündeten auf den Monumenten für die gefallenen Athener dominierte.748 Die Tatsache aber, dass gerade das Grab der Argiver, das Pausanias beschreibt, nachweislich mit einem eigenen Monument markiert war, könnte dafür sprechen, dass in Kongruenz hierzu auch die Kleonier, Thessalier und Kreter eigene Gräber erhielten.749Auch die von Pausanias verwendete Formulierung weist zumindest im Falle der Thessalier und Kreter („καὶ Θεσσαλῶν τάφος ἐστὶν ἱππέων […] καὶ πλησίον τοξόταις Κρησίν“)750 auf ein separates Grab hin, während im Falle der Kleonier („ἐνταῦθα καὶ Κλεωναῖοι κεῖνται, μετὰ Ἀργείων ἐς τὴν Ἀττικὴν ἐλθόντες“)751 auch denkbar wäre, dass diese gemeinsam mit den athenischen (oder auch den argivischen?) Gefallenen der Schlacht von Tanagra bestattet wurden. Zu guter Letzt fand sich in Athen noch eine weitere Gefallenenliste, die diesmal im ionischen Alphabet gehalten war und möglicherweise ionische Verbündete der Athener kommemorierte, die ebenfalls in der Schlacht von Tanagra gefallen waren. Die Inschrift ist allerdings nur stark fragmentarisch erhalten, weshalb auch ihre Datierung und Zuordnung mit gewisser Skepsis zu betrachten sind.752 Insgesamt muss in Anbetracht dieser zwar unsicheren aber zahlreichen Zeugnisse doch bezweifelt werden, dass die
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Siehe Paus. 1.29.6f. Auch Papazarkadas/Sourlas 2012, 602f. argumentieren so. Papazarkadas/Sourlas 2012, 602f. sprechen sich gegen ein separates Grab für die Kleonier aus, können allerdings keine Argumente diesbezüglich vorbringen und verlagern stattdessen die Diskussion auf die überlieferten Gefallenenlisten. Das Grab für die thessalischen Reiter, das Pausanias erwähnt, beziehen sie erst gar nicht in ihre Diskussion ein. Paus. 1.29.6. Paus. 1.29.7. Es handelt sich um IG I3 1182. Die Zuordnung zu ionischen Verbündeten schlug Donald Bradeen, in Agora XVII, 12–14 Nr. 9 vor, weil um die Mitte des 5. Jh. v.Chr. in offiziellen attischen Inschriften und eben auch den Gefallenenlisten noch das attische Alphabet gebräuchlich war. Er verweist dabei auf die Inschrift einer Siegesweihung in Olympia, die die Argiver, Athener und Ionier als Gegner in der Schlacht von Tanagra nennt. Reste der Inschrift wurden in Olympia gefunden (Meiggs/Lewis 1989, 78f. Nr. 36) und anhand von Paus. 5.10.4 ergänzt. Ihm folgen Pritchett 1985, 182 und Clairmont 1983, 139 Nr. 21d. Sollte die Datierung der Fragmente nach Bradeen, die keinesfalls so sicher scheint, wie sie oft dargestellt wird (siehe etwa Meritt 1946, 169–171 Nr. 19), doch zu früh ansetzen, wäre auch die These von den ionischen Verbündeten hinfällig. Überhaupt melden Papazarkadas/ Sourlas 2012, 602f. Zweifel an der Zuordnung zu ionischen Verbündeten an. Mit Verweis auf Matthaiou 2009 argumentieren sie, dass auch in der Mitte des 5. Jh. v.Chr. durchaus bereits das ionische Alphabet in offiziellen attischen Inschriften Verwendung fand. Möglicherweise könne es sich bei den ‚ionischen‘ Gefallenenlisten also auch um Kataloge attischer Verluste handeln. Ihre Skepsis in diesem Punkt ist berechtigt, jedoch kann alleine aufgrund dieser Unsicherheiten nicht ihrem Schluss zuge-
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Argiver hier tatsächlich eine Sonderbehandlung erfuhren, die anderen Verbündeten der Athener verwehrt blieb. Gerade diese Feststellung erscheint aber von besonderem Interesse, da die Quellen dem argivisch-athenischen Bündnis häufig eine Sonderstellung zuschreiben, die einen solchen Umgang hätte rechtfertigen können.753 Dies lässt sich auch in der Beschreibung des demosion sema durch Pausanias beobachten, in welcher der Autor einen deutlichen Fokus auf das Grab der argivischen Tanagrakämpfer und deren Taten setzte, die Thessalier und insbesondere die Kreter und Kleonier hingegen nur knapp erwähnte, während die mutmaßlichen ionischen Verbündeten der Schlacht von Tanagra überhaupt nicht genannt wurden. Der Perieget wurde bei seinen Beobachtungen freilich ebenso von seinem eigenen Vorwissen geprägt wie der moderne Historiker und so wird er beim Anblick des Grabes für die Argiver in Athen sicherlich an die Geschichte um die Sieben gegen Theben gedacht haben, die auch heutige Autoren noch mit dem Monument in Verbindung bringen.754 Tatsächlich erfuhren dieser und andere Mythen im 5. Jh. v.Chr. und zum Teil eben auch im Kontext des Ersten Peloponnesischen Krieges Veränderungen, die das Verhältnis von Athen und Argos thematisierten und auf ein freundschaftliches Fundament zu stellen suchten. Eines der bekanntesten und offensichtlichsten Beispiele findet sich in den Eumeniden des Aischylos, wo der Dichter die Herrschaft des Agamemnon nach Argos verlegte und dann zunächst dessen Sohn Orestes und schließlich sogar Apollon die ewige Treue der Argiver den Athenern gegenüber beschwören ließ.755 Das Stück wurde nur wenige Monate vor der Schlacht von Tanagra aufgeführt und hätte damit kaum zu einem passenderen Zeitpunkt erscheinen können. Doch auch zuvor fanden sich bereits deutliche proargivische Botschaften in den Stücken des Aischylos. So hob er in den Hiketiden, die vermutlich kurz vor Abschluss des Bündnisvertrages zwischen Athen und Argos aufgeführt wurden, die Gemeinsamkeiten der demokratischen Ordnungen der beiden poleis hervor756 und in den nicht erhaltenen Eleusinioi schrieb er die Athener in einen zentralen argivischen Mythos ein, indem er die Bestattung der gefallenen Helden der Argiver durch Theseus bewirken ließ,
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stimmt werden, dass die Argiver als Einzige ein gesondertes Grab erhalten hätten. Unter anderem diskutieren sie nämlich einzig die Evidenz zur Schlacht bei Tanagra und die Erwähnungen der Lemnier bei Pausanias. Die Gräber der Kreter und Thessalier, die der Perieget beschreibt, finden hingegen keinen Eingang in ihre Diskussion. Siehe hierzu auch weiter unten die Diskussion des Grabs der Kleonier (2. II. Kleonai). Thuk. 5.44.1 spricht etwa von alter Freundschaft und einem ähnlich gearteten demokratischen System, das die beiden poleis verbunden habe: „φιλίαν ἀπὸ παλαιοῦ καὶ δημοκρατουμένην ὥσπερ καὶ αὐτο“. So zuletzt auch Papazarkadas/Sourlas 2012, 607 und vor ihnen bereits Clairmont 1983, 138. Siehe auch weiter im Haupttext. Die drei einschlägigen Stellen sind Aisch. Eum. 287–291; 667–673; 762–774. Siehe etwa Aisch. Suppl. 698f.
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während ältere Versionen der Geschichte u.a. die Variante der Bestattung durch Adrastos in Theben einschlossen.757 Freilich handelte es sich bei diesen Theaterstücken um keine offiziellen Dokumente der polis, sondern um die Werke von Privatpersonen. Dennoch hatten sie eine starke öffentliche und politische Dimension, da sie schließlich bei den Großen Dionysien aufgeführt wurden und damit ein großes, breit gefächertes Publikum erreichten. Überdies lassen sich die politischen Botschaften, die Aischylos und andere Dramaturgen mit ihren Stücken transportieren wollten, nicht von der Hand weisen.758 Politik und Theater waren eng miteinander verbunden und so findet sich in den Theaterstücken auch ein Widerhall der politischen Debatten ihrer Zeit. Sicherlich griffen die attischen ‚Politiker‘ daher auch die ihnen von den Dramaturgen angebotenen Erzählungen auf, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen und ihren Standpunkt zu stärken, wenn sie nicht möglicherweise als Financiers der Tragödien direkt entsprechende Stücke in Auftrag gaben. Dass dies eventuell auch von argivischer Seite geschah, deuten die Monumente der Sieben gegen Theben und ihrer Nachkommen – der Epigonen – an, welche die Argiver auf ihrer eigenen Agora und in Delphi errichteten und die möglicherweise ebenfalls mit ihren militärischen Aktivitäten im Ersten Peloponnesischen Krieg verbunden waren. Zumindest mutmaßt eine ganze Gruppe von Forschern, dass diese Statuen dazu dienen sollten, Argos’ militärisches Kapital auf der ‚internationalen‘ militärischen Bühne aufzuwerten sowie seine Allianz mit den Athenern zu kommunizieren und zu befördern.759 Unglücklicherweise lassen sich die Monumente nicht unabhängig datieren, sodass diese Hypothese bis auf weiteres nicht bestätigt werden kann. Jedoch wären eine solche Modifikation und Nutzung des Mythos seitens der Argiver und der Athener nicht ohne Parallelen und erscheinen daher zumindest sehr plausibel. Im konkreten Falle des Begräbnisses der argivischen Opfer der Schlacht von Tanagra wäre dann denkbar, dass z.B. in der Grabrede auf die Toten760 eine entsprechende Bemerkung hinsichtlich des Mythos der Sieben gegen Theben eingeschlossen oder zumindest implizit evoziert wurde. Immerhin lagen die Parallelen zwischen dem Mythos, wie er spätestens seit Aischylos erzählt wurde, und der aktuellen Situation auf der Hand: In beiden Fällen waren Argiver in einer Schlacht in Boiotien 757
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Die Details bezüglich der Bestattung durch Theseus lassen sich einer kurzen Bemerkung bei Plut. Thes. 29.4f. entnehmen. Vgl. hierzu und zu den älteren Varianten Daumas 1992, 257f. sowie Harding 2008, 70f. Siehe zum konkret vorliegenden Fall Daumas 1992, passim; Leppin 2001, 159f. Vgl. zudem Pattoni 2006 zur Rolle des Theaters für die politische Meinungsbildung. Siehe hierzu Bommelaer 1992, passim kürzlich wiederholt in Ders. 2013 passim; Pariente 1992, 223–225; Daumas 1992, 259–264; Kulesza 2004, 232f.; Tomlinson 1972, 111–115. Dass eine solche Rede auch auf die gefallenen Argiver gehalten wurde, kann kaum bezweifelt werden. Selbst wenn dies aber nicht der Fall gewesen sein sollte, wird sicherlich im epitaphios logos auf die gefallenen Athener dieses Jahres eine Anspielung auf diesen Mythos enthalten gewesen sein. Siehe weiter im Haupttext.
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ums Leben gekommen – u.a. auch im Kampf gegen Thebaner – und wurden in der Folge von den Athenern in Attika bestattet.761 Eine günstigere Gelegenheit, das neue Bündnis mit den Argivern auf eine feste und ‚historische‘ Basis zu stellen, hätte sich den Athenern gar nicht bieten können und es scheint unwahrscheinlich, dass sie diese nicht genutzt haben sollten. Auch mag die Tatsache, dass eine ganze Reihe der erhaltenen – wenn auch zugegebenermaßen späteren – epitaphioi logoi die Geschichte um die Bestattung der Sieben gegen Theben als eine der frühen Ruhmestaten der Athener erwähnen, dafür sprechen, dass diese auch in den älteren Grabreden ihren Platz hatte.762 Zumindest spricht sie für die Prominenz ebendieses Mythos und legt damit nahe, dass diese Verbindung auch 458/7 v.Chr. von den Athenern bemüht wurde. Selbst wenn die Argiver daher nicht die einzigen Verbündeten gewesen sein sollten, die in diesem Jahr von den Athenern im demosion sema bestattet wurden, ist durchaus vorstellbar, dass ihr Begräbnis eben aufgrund der Parallelen zum Mythos um die Sieben mehr Aufmerksamkeit erregte und sich stärker ins kollektive Gedächtnis einbrannte als die Bestattung der anderen Alliierten. Es liegt nahe, zu vermuten, dass die Bestattung der Argiver in Athen auf Initiative der Athener erfolgte und nicht auf Bitte der Argiver. Schließlich hätte es keinen Grund gegeben, warum die Argiver, sobald ihre Toten kremiert waren, diese nicht nach Hause hätten zurückführen können.763 Auch spricht die Form des Monumentes mit der Kopfzeile mit dem Epigramm, der nach Phylen gegliederten, in stoichedon eingeschriebenen Liste der Gefallenen, die ohne Patronym genannt wurden, und der Stelenform für athenische Auftraggeber,764 wenn auch mit dem argivischen Alphabet und dem krönenden Giebel einige Variationen festzustellen sind. Schließlich würden auch die Bestattungen der kleonischen und ionischen Verbündeten, insofern sie tatsächlich stattfanden, dafür sprechen, dass die Athener sich aller toten Verbündeten der Schlacht annahmen und nicht nur der Argiver. Möglicherweise sahen die Athener im Angebot der Bestattung eine Gelegenheit, die Bündner für ihre Treue auszuzeichnen und ihre Loyalität für
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Die Sieben waren der attischen Version zufolge in Eleusis beigesetzt worden (vgl. Daumas 1992, 257). Auch Papazarkadas/Sourlas 2012, 607 halten eine explizite Verbindung von Mythos und historischem Ereignis für wahrscheinlich: „This legendary parallel […] is so striking that a connection seems inevitable”. Vgl. Lys. or. 2.7–10, Plato Menex. 239b; Demosth. or. 60.8; Isok. or. 4.54–60. Jeffery 1965, 51f. verweist auf die Rede der Athener vor der Schlacht bei Plataiai, wie sie Hdt. 9.27 berichtet. Sie glaubt, dass der Tatenkatalog der Athener, wie Herodot ihn hier wiedergibt, durchaus einem attischen epitaphios logos entnommen sein könnte. So auch Clairmont 1983, 183. Charneux 1984, 207f. weist darauf hin, dass ab ca. 460/50 v.Chr. in argivischen Inschriften Vollbürger meist durch Angabe des Phratronyms gekennzeichnet wurden. Der Umstand, dass dies in der vorliegenden Liste nicht geschah, sondern dass diese stattdessen auf die Phylen fokussierte, mag ebenfalls dafür sprechen, dass hier mit der Phylenordnung die athenische Autorschaft durchscheint. Gleichzeitig könnte sich die Praxis aber auch erst später in Argos durchgesetzt haben.
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die Zukunft zu sichern. Immerhin hatten diese den Athenern die Treue gehalten, während die Thessalier zu den Spartanern und Boiotern übergelaufen waren und so die Niederlage herbeigeführt hatten. Im Falle der Argiver kam zudem erschwerend hinzu, dass diese ein wichtiger Verbündeter und Anlaufpunkt der Athener im Konflikt mit Sparta waren, die es bei Laune zu halten galt. Auch wenn es sich damit wahrscheinlich nicht um ein Gefallenenmonument von Argivern handelte, haben wir immer noch ein Denkmal für Argiver vorliegen. Es wird für die weitere Untersuchung des argivischen Gefallenengedenkens besonders wichtig sein, zu fragen, ob und inwiefern die argivischen Kommemorationspraktiken von diesem durch den athenischen Brauch geprägten Gefallenenmonument beeinflusst und geformt wurden. Interessant wäre es, in diesem Zusammenhang zu erfahren, ob die Argiver für ihre Gefallenen der Schlacht von Tanagra in Argos selbst ein Kenotaph errichteten und ihre Gefallenen damit von staatlicher Seite auch in der Heimat ehrten.765 Pausanias erwähnt ein solches Monument in seiner Beschreibung der Stadt nicht und auch kein anderer antiker Autor berichtet von einem entsprechenden Denkmal. Jedoch schlägt Lilian Jeffery vor, dass ein Inschriftenfragment, das 1906 im venezianischen Kastell auf der Larisa in Wiederverwendung gefunden wurde, eventuell einem ebensolchen Kenotaph für die Opfer der Schlacht von Tanagra zuzuordnen sei.766 Das Bruchstück aus Kalkstein ist an allen Seiten bestoßen und nur noch mit einer maximalen Breite von 0,2m, einer Höhe von 0,25m und einer Dicke von 0,33m erhalten.767 Erkennbar sind die Reste von zehn – soweit nachvollziehbar männlichen – Namen, die im argivischen Alphabet und in stoichedon eingeschrieben sind. Ob auch weitere Determinatoren wie Patronyme oder Phratronyme angegeben waren, lässt sich aufgrund des fragmentarischen Zustandes nicht mehr sagen. Wilhelm Vollgraff, der die Inschrift erstmals publizierte, schlug allein anhand paläographischer Kriterien eine Datierung in die Mitte des 5. Jh. v.Chr. vor. Der Grund, weshalb Jeffery trotz dieses sehr sporadischen Befundes zu der Mutmaßung gelangt, es könne sich bei der Inschrift um eine Liste der Gefallenen von 458/7 v.Chr. handeln, besteht nun darin, dass der Name „Δέρ[κ]ετ[ος]“, der auf dem Fragment genannt wird, auch auf der Liste in Athen gleich zweimal768 genannt wird. Sie schlägt vor, dass Δέρκετος von dem Fragment in Argos möglicherweise mit einem der beiden Männer gleichen Namens von der attischen Liste identisch sein könne, gibt jedoch auch zu bedenken, dass es sich schlichtweg um einen relativ häufigen Namen und 765
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Denkbar, aber unwahrscheinlich, wäre wohl auch, dass die sterblichen Überreste nach Argos gebracht und dort bestattet wurden und dass das Monument in Athen ein Kenotaph war. Vgl. Jeffery 1990, 165. Das Fragment (SEG 11.337) fand bisher nur wenig Beachtung in der Forschung. Siehe die ed. prin. von Vollgraff 1919, 161f. Nr. VI sowie Jeffery 1990, 165; 170 Nr. 31 + Taf. 30. Zu Dank verpflichtet bin ich Elizabeth A. Meyer, die mich auf das Stück aufmerksam gemacht hat. IG I3 1149, Zeile 22 und 75 (bzw. nach der Neuedition von Papazarkadas/Sourlas 2012, Zeilen 22 und 91).
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damit um eine unbedeutende Doppelung handeln könne. Tatsächlich findet sich der Name in den antiken Zeugnissen zwar nur selten dafür aber vorzugsweise in Argos.769 Auch wenn Jefferys These damit etwas wahrscheinlicher wird, reicht die Namensparallele dennoch nicht aus, um ihre Vermutung zu belegen. Gerade der unbestimmte Charakter der Liste erlaubt keine konkreten Deutungen, könnten die Männer hier doch auch als Amtsträger, Stifter oder in einer anderen Funktion aufgezählt worden sein. Ob es sich also tatsächlich um eine Gefallenenliste handelt, muss daher fraglich bleiben und ließe sich wohl erst durch den Fund weiterer, aussagekräftigerer Fragmente erschließen. Der nächste Fall von argivischer Gefallenenkommemoration ist wiederum nur literarisch überliefert. Erneut ist es Pausanias, der berichtet, er habe in Argos ein Grab für jene Argiver gesehen, die an der athenischen Sizilienexpedition teilgenommen hatten und dabei umgekommen waren: πεποίηται δὲ οὐ πόρρω τοῦ γυμνασίου πολυάνδριον τοῖς μετὰ Ἀθηναίων πλεύσασιν Ἀργείοις ἐπὶ καταδουλώσει Συρακουσῶν τε καὶ Σικελίας.770
Diesem knappen Kommentar des Periegeten lassen sich bedauerlicherweise keine Informationen bezüglich der Form und des Charakters des Monumentes entnehmen. So erfahren wir weder, ob das Monument mit einer aufwendigen architektonischen oder plastischen Ausstattung beeindruckte, noch ob die Gefallenen nur im Kollektiv oder auch individuell – etwa auf einer Gefallenenliste – erinnert wurden. Letzteres mag durch das noch zu besprechende Fragment einer Gefallenenliste des späten 5. Jh. v.Chr., das in Argos gefunden wurde, nahegelegt werden. Doch kann eine Entscheidung hier nicht getroffen werden, ebenso wie auch fraglich bleiben muss, ob es sich tatsächlich um ein Grab handelte, wie Pausanias’ Bezeichnung als „πολυάνδριον“ impliziert, oder nicht doch um ein Kenotaph. In Anbetracht des katastrophalen und chaotischen Ausgangs der attischen Expedition muss nämlich bezweifelt werden, dass eine Rückführung der Toten durch die wenigen Überlebenden der Unternehmung bewerkstelligt werden konnte.771 Al-
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Dies zeigt ein Blick in LGPN, wo der Name für Argos viermal aufgelistet wird (LGPN III.A, 121 – wobei drei dieser Nennungen die hier besprochenen Fälle sind) sowie jeweils einmal für Kreta (LGPN I, 122), für Athen (LGPN II, 102. Mehrfach findet sich in Athen die Variante Δερκέτης, die in Argos nicht vorkommt. Vgl. ebd.) und für Herakleia in Pontos (LGPN V.A, 120). Die Version Δερκέτυς ist zudem einmal im 3. Jh. v.Chr. in Tegea belegt (LGPN III.A, 122). Paus. 2.22.9. Thukydides verweist gleich an mehreren Stellen (7.72; 75; 87) auf das unglückliche Schicksal der Toten auf athenischer Seite, die nicht einmal mehr durch ihre Kameraden bestattet wurden.
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II. Die Peloponnes
lenfalls wäre denkbar, dass Opfer der ersten Jahre der Kampagne zurückgeführt worden waren und dass die späteren Gefallenen am Grab der früheren Opfer nun ein Kenotaph erhielten.772 Thukydides berichtet, dass im Sommer 415 v.Chr. 500 Argiver zusammen mit den Athenern und deren übrigen Verbündeten nach Sizilien aufbrachen.773 Selbst wenn die Argiver später keine weiteren Kontingente zur Verstärkung entsandten774 und einige ihrer Krieger früher heimgekehrt oder Tod und Gefangenschaft entkommen sein sollten, muss die Unternehmung also auch für die Argiver mit einer großen Zahl von Toten und Vermissten geendet haben. Gerade nach der Niederlage bei Mantineia und dem darauf folgenden kurzzeitigen oligarchischen Umsturz, die beide zahlreiche Opfer gefordert hatten,775 müssen diese Verluste das Gemeinwesen, das seit 418 v.Chr. nun fast permanent an militärischen Auseinandersetzungen beteiligt war, empfindlich getroffen haben. Dennoch kam es nicht etwa zu neuen Unruhen oder einer verminderten kriegerischen Aktivität der Argiver, die gar gleich im Folgejahr 1500 Mann mit den Athenern gegen Milet aussandten.776 Möglicherweise trug die gemeinsame Kommemoration der Toten von Sizilien durch das Monument und ein zugehöriges Grabritual einen Teil dazu bei, dass es in dieser unsicheren Situation nicht erneut zu einer stasis kam. Immerhin bestand eine der zentralen Funktionen des kollektiven Gefallenengedenkens ja darin, die negativen Auswirkungen des Verlustes aufzufangen und eine integrative und stabilisierende Wirkung auf die Gemeinschaft auszuüben. Von gewissem Interesse ist schließlich noch der Ort, der für das Polyandrion der Gefallenen gewählt wurde. Pausanias berichtet, es habe nahe dem Gymnasion des Kylarabis gelegen, das
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So Pritchett 1985, 152 und 201f. Siehe Thuk. 6.43. Die Schilderung bei Thuk. 7.20 legt nahe, dass die Argiver sich dazu verpflichteten, die Athener unter dem Kommando des Charikles bei ihren Raubzügen auf der Peloponnes zu unterstützen, anstatt weitere Truppen für den Kampf in Sizilien zu stellen. Dies würde Sinn ergeben, da ja auch Argos selbst wiederholt bedroht war und es in dieser Situation nicht ratsam erschienen sein kann, größere Teile des argivischen Heeres weit weg nach Sizilien zu schicken. Zwar berichtet Thuk. 5.73, dass der Großteil der argivischen Elitetruppe der Tausend sich bei Mantineia retten konnte, doch beziffert er die Verluste der Argiver, Kleonier und Orneier zusammen immer noch auf 700 Mann (5.74). Da auf argivischer Seite nicht nur die Tausend, sondern auch die restlichen Kontingente beteiligt waren (siehe Thuk. 5.72), ist wohl davon auszugehen, dass ein signifikanter Teil dieser 700 Gefallenen den Argivern zuzuschlagen ist. Zu den Opfern im Zuge des oligarchischen/prospartanischen Umsturzes und dessen Abwehr siehe Thuk. 5.81f. und Ain. Tac. 17.2–4 mit Gehrke 1985, 28–30. So berichtet Thuk. 8.25, von dem wir auch erfahren, dass die Argiver dort gleich wieder 300 Mann verloren. Im selben Jahr boten sie den Athenern auf Samos zudem ihre Hilfe beim Sturz der 400 an (ebd. 8.86). Interne Spannungen lassen sich erst am Vorabend des Korinthischen Krieges wieder fassen, ohne dass diese sich allerdings in offenen Auseinandersetzungen entluden (vgl. Gehrke 1985, 30f.).
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vermutlich im Osten der antiken Stadt nahe der Kirche des Hl. Konstantin zu verorten ist.777 Sie wurden also nicht wie ihre mythischen Vorfahren, die vor Troja gefallen sein sollen, im Zentrum der Stadt beigesetzt, sondern direkt außerhalb der Stadtmauer, wie dies für ‚normale‘ Bestattungen üblich war. Dennoch erhielten sie ein Grab an einem sehr prominenten Ort, da sie an einer der Hauptausfallstraßen bestattet wurden, die vermutlich in fast direkter Linie ins Zentrum der Stadt und auf die Agora führte. Kommen wir schließlich zum letzten bekannten Gefallenenmonument aus Argos, das 1974 etwa 120m nordöstlich der antiken Agora gefunden wurde, wo es in eine spätestens aus römischer Zeit stammende Mauer verbaut war.778 Das Fragment einer Inschriftenstele aus Kalkstein ist links und unten gebrochen und auch die rechte und die obere Seite weisen starke Bestoßungen auf, lassen sich aber noch als Ränder des Steines erkennen. Die Stele wurde am oberen Ende von einer einfachen Leiste abgeschlossen und misst in ihrem erhaltenen Zustand noch 0,52m in der Höhe, 0,475m in der Breite und 0,13 bis 0,17m in der Dicke. Auf der Leiste sind eine Kopfzeile sowie darunter die Reste eines männlichen Namens mit dem Titelzusatz „προβασιλεὺ[ς]“ erhalten. Von der Kopfzeile lassen sich noch die Reste „[---]οι ἀπέ[θ]α̣νον τοίδ[ε]“ lesen, die sich ergänzen lassen zur Formel „[ἐν πολέμ]οι ἀπέ[θ]α̣νον τοίδ[ε]“, die in Athen und andernorts verwendet wurde, um Gefallenenlisten zu kennzeichnen.779 Unterhalb der Leiste werden mit einem „μάντις“, einem „αρχος στραταγὸς“ und einem „ἰαρεὺς“ drei weitere Funktionäre genannt, deren Namen nicht oder nur teilweise erhalten sind. Erst hierauf folgt die Liste der übrigen Gefallenen, von der drei Spalten erhalten sind, die jeweils mit dem Namen einer Phyle überschrieben waren („[Π]αμφῦλαι“, „hυρνάθιοι“ und „Δυμᾶνες“). Es kann sicher angenommen werden, dass auf dem abgebrochenen Teil auf der linken Seite eine weitere Spalte mit den Gefallenen der Phyle „hυλλέες“ zu ergänzen ist. Die Namen der Toten sind innerhalb der Phylen nach Phratrien geordnet und werden ohne Patronym angegeben. Der Text wurde nicht in stoichedon eingeschrieben und steht an manchen Stellen so eng zusammen, dass ein unüber-
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So Piérart 1982, 149–151, der die älteren Vermutungen von Vollgraff 1907, 178f. und Delorme 1960, 94f. leicht korrigiert. Siehe hierzu die Diskussion im Kapitel zu Argos in Fouquet 2015. Zum Stück (SEG 29.361) siehe die ed. prin. von Kritzas 1973/1974, 217 und den ausführlichen Kommentar in Ders. 1980, 497–510 + Taf. 228 sowie Clairmont 1983, 235f. Nr. 52c; Pritchett 1985, 141; 214; Piérart 1981, 611. Auch Kritzas 1973/1974, 217 und 1980, 499 schlägt diese Ergänzung vor. Beispiele von attischen Listen sind etwa IG I3 1147; 1163, Z. 34; 1162, Z. 2f.; 41f. und 51; 1166 (teilweise rekonstruiert); 1183; 1191 und IG II/III2 5221 (jeweils stark rekonstruiert). Weitere Beispiele finden sich etwa in Thespiai (s.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 632) und Messene (s.u. 2. II. Messene mit Anm. 973) mit einer verkürzten Version der Formel sowie in Epidauros mit einem leicht abgewandelten Formular (s.u. Anm. 803). Vgl. auch ein Beispiel aus dem Museum in Halmyros in Thessalien (Inv. Nr. 212).
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sichtlicher Eindruck entsteht.780 Die Inschrift ist komplett im argivischen Alphabet gehalten, wenn auch Charalampos Kritzas darauf verweist, dass an einigen Stellen ursprünglich ionische Buchstaben standen, die dann durch ihr argivisches Pendant überschrieben wurden.781 Er führt dies darauf zurück, dass möglicherweise ein ionischer Steinmetz angestellt worden war, der die Inschrift zunächst im ionischen Alphabet einschrieb und dann aufgefordert wurde, dieses durch das lokale zu ersetzen. Wenn auch letztlich nicht geklärt werden kann, wie es genau zu dieser Nachbesserung kam, informiert sie uns zumindest darüber, dass die Argiver offensichtlich Wert darauf legten, dass die Gefallenenliste als ein argivisches Monument erkennbar war. Schwierig gestaltet sich die Zuordnung der Liste zu einer bestimmten Schlacht oder einem Konflikt. Kritzas schlug vor, dass ursprünglich ca. 100 Mann auf der Liste erfasst waren.782 Da auf dem erhaltenen Fragment zusammen mit der zu ergänzenden vierten Spalte etwa 30 Namen Platz gefunden hätten, würde dies bedeuten, dass die Stele ursprünglich etwa dreimal so hoch wie das erhaltene Bruchstück gewesen sein müsste. Ein Blick auf vergleichbare Monumente lässt diese Schätzung durchaus realistisch erscheinen, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Stele auch etwas höher war, dass einzelne Spalten nicht voll ausgenutzt werden mussten oder dass noch ein Teil des Schriftfeldes für ein Epigramm verwendet wurde.783 Erneut kann die Datierung der Inschrift nur anhand paläographischer Kriterien erfolgen, was Kritzas zu einer Einordnung am Ende des 5. oder Anfang des 4. Jh. v.Chr. führt.784 Aufgrund dieser Datierung in Kombination mit der angenommenen Zahl an Gefallenen schlägt er nun eine Zuordnung zur Schlacht von Mantineia vor und beruft sich dabei auf den Bericht des Thukydides, der mit solchen Zahlen zu vereinen sei.785 Christoph Clairmont hingegen vertritt die Auffassung, dass es sich um die Gefallenenliste der Sizilienexpedition, die Pausanias beschreibt, handeln müsse. Sein Argument lautet, dass der Perieget kein anderes Gefallenenmonument in Argos beschrieben habe und dass daher diese Identifikation wahrscheinlich sei.786 Nun dürfte klar sein, dass diese Argumentation nicht überzeugen kann, da Pausanias’ Beschreibungen niemals auf Vollständigkeit angelegt waren und stets auf der Selektion durch den Autor beruhten. Im Gegenteil dürfte die Liste in Anbetracht der zu veranschlagenden Verluste der Argiver auf Sizilien wohl 780
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Insbesondere zwischen der ersten und der zweiten Spalte fällt auf den ersten Blick eine Trennung manchmal schwer (vgl. Kritzas 1980, Taf. 228). Vgl. Kritzas 1980, 499; Taf. 228. Auf dem einzigen publizierten Foto des Steins lassen sich diese Angaben nur schwer nachvollziehen. Siehe Kritzas 1980, 509. Als Vergleichsobjekte könnten u.a. IG I3 1147 (H: 1,49m; B: 0,57–0,63m); 1162 (H: 1,68m; B: 0,45– 0,47m) oder 1190 (H: 1,55m; B: 0,81m) angeführt werden. Siehe Kritzas 1980, 509f. Vgl. hierzu oben Anm. 775. Siehe Clairmont 1983, 236.
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kaum als dieses Monument in Frage kommen. Tatsächlich ließe sich die Zahl der Opfer noch eher mit den Angaben des Thukydides bezüglich der Schlacht von Mantineia vereinbaren, wie Kritzas vorschlägt. Gleichzeitig zeigt ein Blick in das Werk des Thukydides jedoch auch, dass Argos nach 418 v.Chr. in zahlreiche militärische Auseinandersetzungen verwickelt war, deren Verlustzahlen meist nicht bekannt sind, die aber dennoch mit dem vorliegenden Monument zu vereinbaren sein mögen.787 So muss es in Ermangelung weiterer Indizien wiederum bei einer groben Datierung bleiben, wenn auch die Phase der erhöhten militärischen Aktivität der Argiver nach 418 v.Chr. sicherlich der wahrscheinlichste Kandidat ist. Vergleicht man das Monument mit den attischen Gefallenenmonumenten, fallen einige starke Ähnlichkeiten auf. So erinnert schon die Wahl einer hochformatigen Stele, die von einer simplen Leiste gekrönt wird, stark an genuin attische Monumente,788 während sie dieses Denkmal etwa deutlich von der breiteren, von einem Giebel gekrönten Stele für die Gefallenen der Schlacht von Tanagra unterscheidet. Noch deutlicher scheint sich das Format der Liste, die alle Gefallenen ohne Patronyme, dafür aber säuberlich nach Phylen geordnet aufzählt, am athenischen Vorbild zu orientieren, ebenso wie die simple Kennzeichnung der Gefallenen durch die Kopfzeile, die möglicherweise noch durch ein Epigramm ergänzt wurde. Gleichzeitig aber waren die Argiver offensichtlich auch stark bemüht, die Gefallenenliste klar als argivisches Monument erkennbar zu machen. Bereits erwähnt wurde die dezidierte Verwendung des argivischen Alphabets, der aber noch weitere Details hinzuzufügen sind. So fällt die Auswahl der genannten Funktionäre auf, die sich offensichtlich an argivischen Gepflogenheiten orientierte. Charalampos Kritzas und Christoph Clairmont schlagen gar vor, dass es sich bei dem „προβασιλεὺς“ in der zweiten Zeile möglicherweise gar nicht um einen Gefallenen, sondern um den eponymen Archonten der polis gehandelt haben könnte.789 Die Indizien hierfür sind nur schwach, da nicht bekannt ist, ob der probasileus in Argos überhaupt als eponymer Archont fungierte und da er bis auf seine Nennung auf der Leiste auch auf der Inschrift optisch nicht von den anderen Funktionären unterschieden wurde. Auch wenn es sich also wohl eher um einen Gefallenen gehandelt haben dürfte, reflektiert die Auswahl und Herausstellung der vier Funktionäre doch mit Sicherheit die Ordnung
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Von der Mitte seines fünften bis zum Ende des siebten Buches bildet der Konflikt zwischen Argos und seinen Nachbarn einen festen Bestandteil der Halbjahresberichte des Thukydides. Mit dem Beginn des Dekeleischen Krieges im achten Buch verschiebt er den Fokus dann wieder auf Athen und Sparta. Dies bedeutet freilich nicht, dass Argos im Dekeleischen Krieg militärisch weniger aktiv war, sondern zeigt vielmehr auf, wie sehr der antike Historiker einzelne Punkte und Erzählstränge hervorhob und wieder fallen ließ und wie stark die moderne Forschung von seinen Konstruktionen und seinem Mitteilungswillen abhängig ist. Am deutlichsten wird dies sicherlich im Vergleich mit IG I3 1162. Siehe aber auch die übrigen in Anm. 783 zitierten Stelen. Siehe Kritzas 1980, 502–505; Clairmont 1983, 235f.
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des argivischen Gemeinwesens.790 Noch charakteristischer ist schließlich die Einteilung der Gefallenen in Phratrien, die gerade in Kombination mit der Phylenordnung bemerkenswert ist. Eigentlich war nämlich die Phylenangabe mit der Einführung der Demokratie in Argos weitestgehend aufgegeben worden und stattdessen – ähnlich wie in Athen das Demotikon – zunehmend das Phratronym verwendet worden, um die argivischen Bürger zu kennzeichnen.791 Eigentlich wäre also die Nennung des Phratronyms ausreichend gewesen, um die Gefallenen zu identifizieren und einer politischen Einheit zuordnen zu können. Die zusätzliche Nennung des Phyletikons könnte daher vielleicht erneut auf eine Orientierung an der attischen Praxis hinweisen, die mit der Liste für die Gefallenen von Tanagra ihr argivisches Pendant durchaus geprägt haben könnte. Primär sollte die Phylenangabe aber vermutlich zusätzlich betonen, dass die Liste der Gefallenen die politische Ordnung des Gemeinwesens wiederspiegeln sollte und nicht etwa die militärische, welche die Bürgerschaft in fünf reguläre sowie ein oder zwei weitere lochoi aufteilte.792 Gerade wenige Jahre nach dem kurzzeitigen oligarchischen Umsturz muss eine solche demonstrative Bestätigung des demokratischen Systems im Kontext der Bestattung von Männern, die für ebendiese Ordnung gefallen waren, durchaus opportun erschienen sein. Führt man sich nun noch einmal alle Zeugnisse des Gefallenengedenkens in Argos vor Augen, fallen besonders zwei Aspekte auf. Erstens wird deutlich, wie viel stärker die Erinnerungskultur und die Erinnerungspolitik der Argiver auch in diesem Bereich im Vergleich zu anderen Gemeinwesen auf die mythische Vergangenheit der polis ausgerichtet war. Zwar sind wir bezüglich der Kommemoration der mythischen Gefallenen fast vollständig auf Pausanias angewiesen, sodass wir keine zweifelfreien Rückschlüsse auf die klassische Zeit ziehen können. Doch weist die argivische Erinnerungspolitik in anderen Bereichen gerade im 5. Jh. v.Chr. doch so ähnliche Züge auf, dass es zumindest möglich erscheint, dass einige der von Pausanias beschriebenen Monumente bereits in klassischer Zeit entstanden. Diese Fokussierung auf die entfernte Vergangenheit resultierte, wie oben dargelegt, vermutlich aus dem Mangel an politischen und militärischen Erfolgen nach der Mitte des 6. Jh. v.Chr. und suchte reale Misserfolge oder Untätigkeit durch mythische Großtaten zu ersetzen. Dass dieser Taktik offensichtlich ein gewisser Erfolg beschieden war, 790
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Strategen werden auf attischen Gefallenenlisten häufig genannt (IG I3 1147, Z. 5f.; 62f.; 1162, Z. 4; IG II/ III2 5221) und auch die Nennung eines Sehers findet sich einmal (IG I3 1147, Z. 128f.). Die Aufzählung eines Priesters ist hingegen einzigartig, wie auch Clairmont 1983, 236 bemerkt. Siehe auch den Anhang der vorliegenden Arbeit. Ein probasileus findet sich auf keiner anderen Liste, ließe sich aber mit entsprechenden anderen lokalen Beamten gleichsetzen. Vgl. insbesondere Piérart 1985, passim. Siehe hierzu Thuk. 5.67 und 72, der im Kontext der Schlacht von Mantineia schildert, dass die Argiver in fünf lochoi, die Elitetruppe der Tausend sowie möglicherweise eine weitere Einheit der presbyteroi unterteilt waren. Siehe hierzu den Kommentar bei Wörrle 1964, 28f., der darlegt, dass bei der Schlacht von Tanagra wohl noch die vier Phylen als Basis der Truppeneinteilung und –aufstellung gedient hätten.
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zeigt sich dann auch daran, dass Argos sowohl in der klassischen Zeit als auch im Hellenismus und in der Kaiserzeit stets eine gewisse Rolle im Netz der griechischen Stadtstaaten zugestanden wurde, obwohl dies der realpolitischen Position der polis eigentlich nicht entsprach. Immerhin waren doch ab dem 5. Jh. v.Chr. jegliche Versuche, die eigene Machtbasis über die Argolis heraus auszudehnen, meist sehr schnell gescheitert und hatten oft empfindliche Rückschläge nach sich getragen, sodass Argos nie mehr wirklich in den Kreis der Mittelmächte vordringen konnte.793 Die zweite Eigenheit betrifft die ‚historischen‘ Gefallenenmonumente der Argiver aus dem 5. Jh. v.Chr. Hier fällt auf, dass diese sehr stark mit Athen verknüpft waren, indem sie entweder Argivern galten, die im gemeinsamen Kampf als Verbündete der Athener gefallen waren oder indem die Monumente selbst einen klaren Bezug zum attischen Brauch des patrios nomos und dessen Denkmälern suchten. Den Grundstein für diese Anlehnung legte vermutlich die Bestattung der Gefallenen der Schlacht von Tanagra, die von den Athenern organisiert und soweit erkennbar auch weitestgehend dem attischen Brauch und den attischen Formen entsprechend vollzogen wurde. Aufgrund der wenigen Zeugnisse lässt sich bedauerlicherweise weder feststellen, ob die Argiver ihre Kriegstoten regelmäßig durch staatliche Kommemoration in der Heimat ehrten, noch ob sie hierfür durchgängig Formen wählten, die derart stark am attischen Vorbild orientiert waren. Möglicherweise handelte es sich bei der Bestattung der Gefallenen der Sizilienexpedition und der unbekannten Schlacht, zu der das zuletzt behandelte Monument gehörte, lediglich um Ausnahmen, die in situationsbedingten Überlegungen begründet waren. Denkbar wäre etwa, dass gerade mit den Monumenten aus der Zeit nach 418 v.Chr. explizit die Gemeinsamkeiten und der vereinte Kampf der beiden demokratischen poleis demonstriert werden sollten. Auch andere zeitgenössische Quellen weisen schließlich wiederholt auf die systemischen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gemeinwesen hin und betonen wie wichtig diese gemeinsame Grundlage für das Bündnis gewesen sei.794 Letztlich kann auch hierüber nur spekuliert werden; jedoch fällt eben auf, dass die wenigen erhaltenen Gefallenenmonumente gerade aus jenen beiden Perioden stammten, in denen Argiver und Athener am engsten zusammenarbeiteten. Auch ist bemerkenswert, dass keine Denkmäler des 4. Jh. v.Chr. erhalten sind oder in den literarischen Quellen erwähnt werden, obwohl die Argiver in diesem Jahrhundert
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Einen knappen aber gut recherchierten Überblick über die Geschichte von Argos im Hellenismus und in der Kaiserzeit bieten Piérart/Touchais 1996, 71–85. Auch Tomlinson 1972, 147–171 widmet zwei Kapitel seiner Monographie diesen Perioden, die jedoch unter anderem aufgrund des sparsamen Umgangs mit den Quellen nur für einen sehr groben Abriss dienen können. Besonders explizit wird dies im bereits zitierten Kommentar von Thukydides (5.44.1) gesagt. Siehe aber auch die besprochenen Theaterstücke (Anm. 755–757). Vgl. auch den Kommentar von Hornblower 2008, 103f. zur Aussage des Thukydides. Ähnlichkeiten zwischen den beiden Systemen impliziert auch Aristot. Pol. 1302B; 1303A.
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doch keinesfalls militärisch inaktiv waren.795 Auch wenn der Zufall der Überlieferung nicht ausgeschlossen werden kann, legt das Fehlen jeglicher Zeugnisse von Gefallenenkommemoration in dieser Zeit nahe, dass das staatliche Gefallenengedenken in Argos möglicherweise ein sehr kurzzeitiges oder auch nur punktuelles Phänomen gewesen sein könnte, das stark mit der engen Kooperation mit den Athenern verknüpft war. Einzig einige der Gräber für Figuren der deep history des Gemeinwesens, die Pausanias beschreibt, mögen darauf hinweisen, dass das Gefallenengedenken in Argos doch auch permanent eine besondere Stellung einnahm. Wie oben bereits dargelegt wurde, ist nämlich die Tatsache, dass mit den Denkmälern für die gefallenen Trojakämpfer sowie für Choreia und die Mänaden des Dionysos Gefallenenmonumente und nicht etwa Siegesmonumente errichtet wurden, durchaus bemerkenswert und auch die Kommemoration der gefallenen Champions der Schlacht von ca. 550 v.Chr. verdient es, hier nochmals erwähnt zu werden. Sollten einige dieser und anderer ‚mythischer‘ Gefallenenmonumente tatsächlich, wie hier vorgeschlagen, dem 5. oder 4. Jh. v.Chr. entstammen, würde dies dafür sprechen, dass die kollektive Kommemoration der Kriegstoten auch in Argos durchaus eine wichtige Rolle spielte. In Anbetracht der geschilderten Quellenproblematik müssen diese Datierungsvorschläge und die hieraus resultierenden Schlüsse jedoch hypothetisch bleiben und so empfiehlt es sich, bei einer vorsichtigeren Ausdeutung zu verharren, die einige Höhepunkte der Bedeutung des Gefallenengedenkens für das argivische Gemeinwesen veranschlagt, die stark mit der Tages- und Bündnispolitik der Argiver verknüpft war.
Epidauros Nur ein einziges, spätes Zeugnis staatlicher Gefallenenkommemoration ist aus Epidauros bekannt. In Anbetracht der recht regen militärischen Aktivität der Epidaurier in klassischer und hellenistischer Zeit796 legt dies stark die Schlussfolgerung nahe, dass die polis keine regelmäßi795
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Man bedenke allein die Rolle der Argiver im Korinthischen Krieg aber etwa auch ihre Aktivitäten nach der Schlacht von Leuktra und dem sog. Skytalismos. Siehe Piérart/Touchais 1992, 57–60; Gehkre 1985, 31–33; Tomlinson 1972, 128–137; 142–144. Bereits hingewiesen wurde auf das Engagement der Epidaurier in den Perserkriegen (siehe Hdt. 8.1.2; 8.43; 9.28 sowie oben Anm. 732); aber auch später beteiligte sich die polis, häufig an der Seite Spartas, an den meisten anderen großen Konflikten der griechischen Welt (siehe u.a. zur Pentekontaetie: Thuk. 1.105.1; Diod. Sic. 11.78.1f.; zum Peloponnesischen Krieg: Thuk. 2.56.4f.; 4.45; 5.53–56; Paus. 10.9.9f.; zum Korinthischen Krieg: Xen. Hell. 4.2.16; nach Leuktra: Xen. Hell. 6.2.3; 7.2.2; Diod. Sic. 15.69.1. Nach dem Beitritt zum Achaischen Bund 243 v.Chr. (Plut. Arat. 24.3; Paus. 2.8.5) musste Epidauros sich freilich an den militärischen Aktionen des Bundes beteiligen. Für einen knappen Abriss der Geschichte der polis vgl. Piérart 2004, 606f. sowie DNP 3 (1997), 1097f. s.v. Epidauros, (Y. Lafond).
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ge Praxis staatlichen Gefallenengedenkens pflegte, wenn auch bei der geringen Zahl vor allem der materiellen Zeugnisse zur Geschichte der polis Epidauros eine Überlieferungslücke nicht auszuschließen ist.797 Da in diesem Punkt auf dem vorliegenden Kenntnisstand ohnehin keine Klärung möglich ist, will ich das Monument hier vor allem in Hinblick auf die Frage nach der Kommemoration Gefallener innerhalb der Strukturen des Achaiischen Bundes betrachten und damit an die bereits oben angestoßene Diskussion dieses Komplexes anknüpfen.798 Bei dem betreffenden Denkmal handelt es sich erneut um eine Inschriftenstele, die in einer Breite von 0,58m, einer Höhe von 1,46m und einer Dicke von 0,13m gut erhalten ist.799 Eine Überschrift mit dem Wortlaut „οἵδε ἄπεθανον ἐν τᾶι παρατάξει ἐπὶ τοῦ Ἰσθμοῦ“ benennt sie als Monument für Gefallene einer Schlacht am Isthmos, die in der Forschung einheitlich und überzeugend als die entscheidende Schlacht des Jahres 146 v.Chr. identifiziert wird, in der Lucius Mummius über die griechischen poleis siegte und die römische Herrschaft in Griechenland endgültig durchsetzte. Zwar ist der Fundkontext der Stele nicht bekannt,800 sodass nicht zweifelsfrei entschieden werden kann, ob sie einem sepulkralen oder einem anderen Kontext entstammte. Doch legt die Ähnlichkeit zu anderen Monumenten nahe, dass sie an einem Grab oder Kenotaph angebracht war. Unter der Überschrift folgt in drei Spalten die Auflistung von insgesamt 156 Gefallenen, die alle mit ihrem Patronym genannt werden und jeweils einer von fünf Kategorien zugeteilt werden. 53 der Gefallenen werden einer von vier der epidaurischen Phylen zugeordnet, während die übrigen 103 Toten unter der Kategorie „Ἀχαιοὶ καὶ σύνοικοι“ zusammengefasst werden. Einer der 53 gefallenen Epidaurier wurde in der dritten Spalte mit einigem Abstand zum letzten Eintrag einzeln unter seiner Phylenzuordnung genannt. Offensicht-
797
798 799 800
Die geringe Zahl der archäologischen und inschriftlichen Zeugnisse lässt sich freilich auf die oft etwas stiefmütterliche Behandlung der Geschichte der Stadt Epidauros gegenüber jener des Heiligtums zurückführen, die nur teils durch die problematische topographische Situation zu begründen ist. Dieser Umstand wird besonders deutlich in der Tatsache, dass erst in den letzten Jahren mit Proskynetopoulou 2011 die erste längere Abhandlung zur polis von Epidauros entstand, während frühere Abhandlungen der polis jeweils höchstens einige wenige Seiten widmen (so etwa Tomlinson 1983, 9–13). Andere Abhandlungen (z.B. Kabbadias 1900 und Papadakis 1978) thematisieren die antike Stadt überhaupt nicht und konzentrieren sich ganz explizit einzig auf das Heiligtum. Siehe das Kapitel zum koinon der Achaier am Anfang dieses Abschnitts. Die Stele ist in IG IV2.1 28 veröffentlicht. Siehe auch Pritchett 1985, 234f. Der Stein wurde von den Editoren in einer der Schulen der Stadt entdeckt, wo sie aufgestellt war und wo sich ein Teil der Stele noch heute befindet. Der obere Teil mit der Überschrift wurde vor einigen Jahren in das Museum von Epidauros überführt, wie C. Piteros, in ArchDelt 53 (1998) B.1 [2004], 143 vermerkt (= SEG 52.335). SEG 47.344 führt fälschlicherweise das Asklepieion als Fundort an, obwohl die ed. prin. in IG IV1 894 eindeutig „Epidauros Urbs“ angibt und auch Frazer 1898, Bd. 5, 590 die Inschrift in der polis von Epidauros verortet.
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lich handelte es sich um einen Nachtrag, wie sie auf den Gefallenenlisten zahlreich begegnen, und welche die Sorgfalt bei der Erstellung dieser Monumente bezeugen.801 Interessant ist an diesem Befund nun insbesondere die Nennung der Achaier zusammen mit den synoikoi. Die Achaier verfügten in den Städten der anderen Bündner vermutlich über eine Form des Bürgerrechtes oder zumindest über das Recht auf Grundbesitz.802 Ihr militärischer Einsatz für Epidauros und ihre Nennung auf der Liste erscheinen daher nicht ungewöhnlich. Bemerkenswert ist hingegen, dass die verbündeten Achaier und die synoikoi, bei denen es sich vermutlich um Bürger anderer poleis handelte, die nicht Teil des achaiischen koinon waren, gemeinsam aufgelistet wurden und aufgrund mangelnder Herkunftsangaben auch nicht weiter unterschieden und zugeordnet werden konnten. Die ansässigen Bundesgenossen wurden also nicht anders behandelt als ‚gewöhnliche‘ Metöken, woraus zu schließen ist, dass der Achaiische Bund und die Bundesgenossen in der Gefallenenkommemoration keine besondere Rolle spielten, sondern dass hier weiterhin die einzelnen poleis über die Kommemorationsformen entschieden. Dieser Befund würde sich damit also mit den obigen Beobachtungen und Überlegungen zum Umgang mit den Gefallenen am Lykeion decken. Noch eindrücklicher wäre die gemeinsame Nennung von Achaiern und synoikoi nun, wenn sich unter den ‚Mitbewohnern‘ tatsächlich auch Freigelassene befunden hätten, wie Michael Jameson, Curtis Runnels und Tjeerf van Andel argumentieren. Sie verweisen diesbezüglich auf die Historien des Polybios, der berichtet, Diaios, der Stratege der Achaier, habe den Städten des Bundes befohlen, insgesamt 12000 Sklaven freizulassen und diese im Gegenzug für ihre Freilassung zum Kampf gegen die Römer zu verpflichten.803 Die drei Autoren glauben, dass es sich bei einigen der synoikoi um ebensolche Freigelassene gehandelt haben könnte und suchen diese These zu bekräftigen, indem sie einige der aufgelisteten Namen als Sklavennamen identifizieren wollen.804 Ein Blick in das Lexicon of Greek Personal Names lässt zwar schnell Zweifel an ihrer Zuordnung der Namen zu Freigelassenen aufkommen,805 jedoch bleibt die Möglichkeit, dass es 801 802 803 804
805
Siehe u.a. unten 1. I. 2. Die Gefallenenlisten mit Anm. 243. Vgl. Larsen 1968, 239; Jameson/Runnels/vanAndel 1994, 566f. Siehe Polyb. 38.15. Auch Paus. 7.16.8 erwähnt die Freilassungen. Vgl. Jameson/Runnels/VanAndel 1994, 566f. Als Beispiele für Sklavennamen nennen sie Χρήσιμος, Ὀνάσιμος und Ὠφελίων und verweisen zudem auf die häufige Übereinstimmung von Namen und Pat-ronym, die bei Sklaven nicht-griechischer Herkunft öfter anzutreffen sei (siehe etwa Z. 140; 145f. der Inschrift). Siehe LGPN IIIA, 342 s.v. Ὀνάσιμος; 343f. S. Sv. Ὀνήσιμος; 478 s.v. Χρήσιμος; 482 s.v. Ὠφελίων. Auch wenn sich aus dem Lexikon nur selten direkt der soziale Status der erfassten Personen entnehmen lässt, spricht schon alleine die Zahl der jeweiligen Namensträger dagegen, dass es sich vorwiegend um Sklaven oder Freigelassene gehandelt haben solle. Insbesondere die große Anzahl von Personen mit Namen Ὀνάσιμος und Ὀνήσιμος oder ähnlicher Wurzelbildungen muss hier Zweifel aufkommen lassen.
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sich bei einigen der synoikoi um Freigelassene im Sinne der Beschreibung des Polybios handelte, weiter bestehen. Eine solche gemeinsame und nicht-differenzierte Nennung Angehöriger stark unterschiedlicher Statusgruppen wäre sehr außergewöhnlich.806 Sie ließe sich jedoch möglicherweise durch den Ausnahmecharakter und den Ernst der Lage erklären, in der sich Epidauros und die anderen poleis, die sich gegen Rom gewandt hatten, befanden. Wie die Zerstörung von Korinth zeigte, die zum Zeitpunkt der Errichtung des Monumentes durchaus schon geschehen sein könnte, hatten die unterlegenen Griechenstädte allen Grund zur Sorge um ihren Status und gar ihre Existenz. Wieder einmal findet sich mit dem Gefallenenmonument aus Epidauros also ein Fall, in dem eine griechische polis in einer Lage höchster Bedrohung zur staatlichen Gefallenenkommemoration griff, um die polis-Gemeinschaft ihrer Identität zu versichern und auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. Es wäre durchaus nachvollziehbar, wenn die politischen Organe sich dabei nicht nur an die Masse der Bürger gewandt hätten, sondern die Gesamtheit der wehrfähigen Bewohner der Stadt anzusprechen suchten. Die Tatsache, dass sich abgesehen von diesem Monument keine anderen Zeugnisse von staatlicher Gefallenenkommemoration in Epidauros finden, mag dabei nur unterstreichen, dass die Gemeinschaft sich einer absoluten Ausnahmesituation ausgesetzt sah und zu ungewöhnlichen Mitteln greifen musste, um die Einheit und Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens aufrecht zu erhalten.
Kleonai Auch für die polis von Kleonai findet sich lediglich ein einziger Beleg staatlicher Gefallenenkommemoration, die noch dazu nicht durch die Kleonier selbst vollzogen wurde, sondern durch die Athener. Es handelt sich um das bei Pausanias erwähnte Grab für jene Kleonier, die 458/7 v.Chr. an der Seite der Athener bei Tanagra gefallen waren und von diesen geehrt wurden, indem sie ebenso wie auch die argivischen und möglicherweise die ionischen Verbündeten der Athener in dieser Schlacht im demosion sema bestattet wurden. Das Grab wird von Pausanias nur mit einer Randbemerkung bedacht,807 sodass sich hierzu kaum mehr sagen lässt als bereits oben im Konnex mit dem argivischen Monument dieser Schlacht geschehen. Noch einmal aufzugreifen
806
807
Polyb. 38.15 weist im Kontext seines Berichtes über die Freilassungen auf Kritik und Unzufriedenheit seitens der Vollbürger hin. In allen anderen Fällen, in denen sich eine staatliche Bestattung und Kommemoration von Sklaven oder Freigelassenen tatsächlich nachweisen lässt, werden diese stets getrennt von den Vollbürgern und Metöken aufgezählt. Paus. 1.29.7: „ἐνταῦθα καὶ Κλεωναῖοι κεῖνται, μετὰ Ἀργείων ἐς τὴν Ἀττικὴν ἐλθόντες: ἐφ᾽ ὅτῳ δέ, γράψω τοῦ λόγου μοι κατελθόντος ἐς τοὺς Ἀργείους“.
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ist einzig die Frage danach, ob die Kleonier hier tatsächlich ein separates Grab erhielten oder zusammen mit den Athenern oder auch den Argivern bestattet wurden. Wie schon oben dargelegt kann im Fall der Bestattung der Argiver wohl kaum bezweifelt werden, dass diese ein einzelnes, von den Athenern getrenntes Grab erhielten, sprechen doch sowohl die Formulierung bei Pausanias als auch die Evidenz der Liste der argivischen Gefallenen deutlich hierfür. Ebenfalls wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Frage für das Grab der Kleonier nicht so eindeutig zu beantworten ist, da Pausanias’ Formulierung weniger eindeutig ausfällt als für das argivische Grabmal und weil sich keinerlei materielle Überreste eines Grabmonumentes für die Kleonier finden. Mit einiger Sicherheit lässt sich der Beschreibung des Pausanias jedoch entnehmen, dass die Kleonier nicht etwa zusammen mit den Toten der Argiver des Jahres 458/7 v.Chr. bestattet wurden, da er die bestatteten Kleonier nur kurz erwähnt, dann eine Reihe weiterer Gräber beschreibt und sich erst daraufhin dem Grab der Argiver zuwendet.808 Wenn aber die Argiver ein separates Grab und Monument erhielten, galt dies dann auch für die Kleonier oder wurden diese, wie so häufig auf den Gefallenenlisten belegt, zusammen mit den athenischen Gefallenen bestattet? Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf die obige Diskussion im Kontext des argivischen Grabes, wo die zentralen Indizien für die eigenständige Bestattung der Kleonier – nämlich die Beschreibung der Gräber weiterer gefallener Verbündeter durch den Perieget sowie die mögliche Bedeutung einer zeitgenössischen Gefallenenliste in ionischer Schrift – besprochen werden. Tatsächlich mag also die Bedeutung der Schlacht und die Hoffnung der Athener, sich durch die Beisetzung der Treue ihrer Verbündeten zu versichern, ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass diese alle einzelne Gräber im demosion sema erhielten. Es bleibt schließlich festzuhalten, dass diese Geste scheinbar keinen Impuls zur Nachahmung in Kleonai setzte, wo sich keinerlei Zeichen eines kollektiven Gefallenengedenkens oder kollektiver Bestattungen finden. Gleichzeitig kann dieser Mangel an Belegen in Anbetracht des spärlichen archäologischen, epigraphischen wie auch literarischen Quellenmaterials zu Kleonai809 keinesfalls als beweiskräftig gelten, sodass für diese polis schlichtweg keine schlüssigen Aussagen zur Gefallenenkommemoration getroffen werden können.
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Vgl. Paus. 1.29.7–9. Der Perieget erwähnt hier Grabmonumente von Athenern, die gegen Aigina, gegen Olynth, gegen Melesander und gegen Kassander gefallen waren. Zwischen dem Grabmal der Kleonier und jenem der Argiver lagen also mindestens diese vier weiteren Gräber. In Anbetracht der stark selektiven Beschreibung könnten die beiden Grabmale aber auch deutlich weiter voneinander getrennt gewesen sein. Bereits Meritt 1945, 134–136 spricht von getrennten Gräbern für Kleonier und Argiver und sowohl Clairmont 1983, 138 Nr. 21b als auch Pritchett 1985, 182 folgen ihm in dieser Einschätzung. Vgl. Piérart 2004, 610f. Nr. 351. Auch Paus. (2.15.1) hat kaum etwas zur Stadt zu sagen.
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Korinth Wie in so vielen anderen griechischen poleis widmeten sich auch in Korinth die frühesten Belege staatlichen Gefallenengedenkens der Erinnerung an die Toten des Xerxesfeldzuges in den Jahren 480 und 479 v.Chr. So berichten Plutarch und Favorinus vom Grab der Korinther, das diese für ihre Gefallenen der Schlacht von Salamis auf der namensgebenden Insel errichtet hätten. Es sei mit einem Epigramm markiert worden, das Plutarch wie folgt wiedergibt: ὦ ξένε, εὔυδρὸν ποτ᾽ ἐναίομεν ἄστυ Κορίνθου, νῦν δ᾽ ἅμ᾽ Αἴαντος νᾶσος ἔχει Σαλαμίς. ἐνθάδε Φοινίσσας νῆας καὶ Πέρσας ἑλόντες καὶ Μήδους, ἱερὰν Ἑλλάδα ῥυσάμεθα.810
Tatsächlich wurde 1895 im modernen Ambelaki auf Salamis eine Tafel mit den Resten einer frühklassischen Inschrift gefunden, die das Zeugnis der beiden antiken Autoren bestätigt.811 Der Stein aus weißem Marmor wurde später als Türschwelle wiederverwendet und deshalb auf der linken Seite abgeschnitten. Er ist in einer Höhe von 0,46m, einer Breite von 0,79m und einer Dicke von 0,08m erhalten, muss aber ursprünglich mindestens 1,10m breit gewesen sein. Die erhaltene Oberfläche ist stark bestoßen und abgerieben, weshalb Teile der Inschrift nicht gelesen werden können. Dennoch ist sie ausreichend gut erhalten, sodass sich die folgende Lesung und Ergänzung ergeben: [᾽õ ξένε, εὔhυδρ]όν ποκ᾽ ἐναίομες ἄστυ Ϙορίνθο, [νῦν δ᾽ hαμὲ Αἴα]ντος [νᾶσος ἔχει Σαλαμίς].812 810
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Plut. mor. 870E. Der Bericht des Favorinus ist bei Dio. Chrys. 37.18 überliefert. Vgl. auch Petrovic 2007, 144; 153f.; Higbie 2010, 190f. Die beste Beschreibung der physischen Beschaffenheit des Steins und der Inschrift bietet Boegehold 1965, 179–186 inkl. Fotos und Umzeichnung der Inschrift. IG I3 1143. Die wichtigsten Arbeiten zur Inschrift und zum Epigramm liefern Boegehold 1965, passim; Page 1981, 202–204 Nr. XI; Petrovic 2007, 144–157. Siehe außerdem GV 7; Bowra 1960, 189; Meiggs/Lewis 1989, 52f. Nr. 24; Jeffery 1990, 132 Nr. 29; Higbie 2010, 190–192; Clairmont 1983, 225–227 Nr. 10b; Pritchett 1985, 173f.; Osmers 2013, 270–272. Über und unter der ersten Zeile sind die Reste weiterer Buchstaben erhalten. Wie Boegehold in seinem Aufsatz darlegt, sind sie aber eindeutig später zu datieren und stellten möglicherweise den Versuch dar, das Epigramm später erneut einzuschreiben. Petrovic 2007, 148 stimmt Boegehold darin zu, dass die Schrift später datiere als das Epigramm selbst, glaubt jedoch, dass hier möglicherweise eine erklärende einleitende Zeile angefügt werden sollte. Da in dieser Frage keine Klärung zu bringen ist und sie zudem den ursprünglichen Zustand der Inschrift nicht betrifft, will ich sie hier nicht weiter thematisieren.
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II. Die Peloponnes
Die Tatsache, dass auf dem Stein nur die ersten beiden Zeilen eingeschrieben sind, bestätigte zunächst die ältere Forschung in ihrer Ansicht, dass das zweite Distichon, das Plutarch und Favorinus überliefern, eine spätere Addition sei.813 Doch gelang es Alan Boegehold 1965, die zentralen Argumente gegen die Authentizität des dritten und vierten Verses zu entkräften und stattdessen neue Argumente für deren Echtheit anzuführen, indem er einige sprachliche und kompositorische Eigenheiten überzeugend zu erklären vermochte. Überdies schlussfolgerte er nach einer Untersuchung des Steines, dass dieser eben dort, wo die beiden Verse gestanden hätten, stark abgearbeitet bzw. abgerieben war. Zwar bedeutet dies nicht, dass dort auch tatsächlich Text angebracht gewesen sein muss, doch zeigt die noch zu erkennende ursprüngliche Glättung des Steins an dieser Stelle immerhin, dass zwei weitere Verse nicht kategorisch auszuschließen sind, wie die ältere Forschung behauptete. Nach Boegeholds Argumentation, die ich hier nicht im Detail wiedergeben will, der sich aber auch alle späteren Autoren anschließen, spricht daher doch vieles für die Authentizität des zweiten Distichons.814 Die Korinther bestatteten ihre Gefallenen der Schlacht also scheinbar getrennt von den übrigen Griechen, deren Gräber vermutlich an der Spitze der Halbinsel Kynosura lagen, wo auch das Tropaion der griechischen Allianz stand.815 Unklar bleibt, wie das Grab zu rekonstruieren ist, da außer der Inschrift keine weiteren Teile des Monumentes bekannt sind. An dem Fragment selbst finden sich weder Spuren von Anathyrose oder Klammern, noch sonstige Anzeichen für dessen ursprüngliche Aufstellung oder Anbringung. Jedoch kann die Inschrift wohl kaum freigestanden haben, da sie hierfür wohl zu dünn gewesen wäre und auch die Unterseite, die schräg abgearbeitet ist, sich hierfür nicht geeignet hätte. Es bleibt lediglich zu mutmaßen, dass der Stein entweder in ein größeres Monument eingelassen war oder als Deckplatte verwendet wurde.816
813
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816
Als Letzter vertrat Cecil Bowra (1960, 189) noch diese Einschätzung. Siehe hierzu auch weiter im Folgenden. Siehe Boegehold 1965, passim, dessen Schlussfolgerung erst unlängst von Petrovic 2007, 144– 157 noch einmal vehement bekräftigt wurde. Für weitere Literatur s.o. Nicht anschließen will ich mich der Einschätzung von Beogehold und Petrovic, dass die Texte von Plutarch und Favorinus unabhängig voneinander seien. Zwar finden sich leichte Abweichungen im Text dieses Epigrammes wie auch jenes für Adeimantos (s.u.), doch sind die Ähnlichkeiten auch des Kontextes, in dem die Gedichte wiedergegeben werden, in Anbetracht der zeitlichen Nähe der beiden Autoren doch sehr auffällig. Zum Grab der anderen Griechen siehe Clairmont 1983, 102f. Nr. 10a; Pritchett 1985, 174 und Petrovic 2007, 145 jeweils mit weiterer Literatur. Siehe Boegehold 1965, 184 und Clairmont 1983, 102f. Nr. 10a zur Aufstellung der Inschrift. Beide zeigen sich bezüglich der vorgeschlagenen Möglichkeiten ausgesprochen unsicher.
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Ähnlich schwierig gestaltet sich die Beantwortung der Frage nach der Autorschaft des Epigramms, das laut Favorinus aus der Feder des Simonides stammte.817 Während frühere Autoren sich meist gar nicht oder nur verhalten zur Behauptung des Favorinus äußern wollten, hat Andrej Petrovic sich unlängst dafür ausgesprochen, dass das Epigramm tatsächlich von Simonides verfasst worden sei.818 So ließen sich die Qualität und die sprachlichen Eigenheiten des Epigrammes mit anderen Werken des Dichters vereinbaren oder erklären. Zudem sei bekannt, dass Simonides im Kontext der Perserkriege noch andere Epigramme für die Korinther verfasst habe. Überdies sei die Anrede an Fremde in der ersten Zeile des Epigramms eine absolute Innovation gewesen, die sich in dieser Zeit nur noch im Epigramm für die gefallenen Spartaner der Thermopylenschlacht fände, das bekanntermaßen dem Simonides zugewiesen wird. So gewichtig gerade dieser letzte Punkt erscheinen mag, lässt sich trotz der zeitlichen Nähe jedoch nicht ausschließen, dass eines der beiden Epigramme vom anderen inspiriert wurde bzw. dieses imitierte. Zudem werden die anderen korinthischen Epigramme, die Petrovic erwähnt, fast alle ebenfalls in denselben Werken Plutarchs und Favorinus’ und gar an denselben Stellen überliefert wie das Epigramm auf die Gefallenen von Salamis und stellen somit keine unabhängige Tradition dar. Auch wenn diese Einwände Petrovics Argumentation nicht grundsätzlich widerlegen, sollte dennoch deutlich werden, dass die Autorenschaft des Simonides weiterhin nicht als gesichert angesehen werden kann und dass sie gerade in Anbetracht der Tendenz der antiken Quellen, jegliches Epigramm, das sich mit den Perserkriegen befasste, dem Simonides zuzuschreiben,819 anzweifelbar bleibt. In jedem Fall würde zumindest der Geltungsanspruch, der in dem Epigramm ausgedrückt wird, der Anstellung eines berühmten Dichters wie Simonides gerecht werden, ließen die Korinther doch nicht den geringsten Zweifel an der Bedeutung ihrer Leistung bei Salamis. Nach der Eröffnung des Gedichtes durch die Anrede an den fremden Reisenden erklären die Toten zunächst einmal, dass sie aus dem ‚wasserreichen‘ Korinth stammten, wodurch nicht nur ihre Herkunft deutlich gemacht, sondern wohl auch auf den Wohlstand Korinths und seiner Bewohner hingewiesen werden soll, den die Toten aufgegeben und hinter sich gelassen hatten. Wofür sie dieses Opfer brachten, erfährt der Leser erst ganz am Ende des Epigramms, wo es heißt, dass die Toten das ‚heilige Griechenland‘ gerettet hätten. Die einzelne polis und das gesamte Griechenland werden somit im ersten und im letzten Vers des Gedichtes gegenüber817 818
819
Vgl. Dio. Chrys. 37.18. Plutarch nennt den Autor des Epigramms nicht. Siehe Petrovic 2007, 153–157, der allerdings selbst die Autorschaft des Simonides nur als wahrscheinlich, nicht als erweisen erachtet. Für ältere Meinungen vgl. Meiggs/Lewis 1989, 52f. Nr. 24, die das Epigramm als „at least Simonidean [if not by Simonides himself (C.S.)]“ ansehen, Boegehold 1965, 185, der die Autorschaft des Simonides als ungesichert betrachtet sowie Page 1981, 202–204 Nr. XI, der sich nicht entscheiden will. Siehe hierzu auch Higbie 2010, 185–187; 196.
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II. Die Peloponnes
gestellt und bilden seinen Rahmen. In den beiden Zeilen dazwischen wird die Leistung der Gefallenen und indirekt auch aller anderen Korinther, die in der Schlacht gekämpft hatten, näher definiert und überhöht. Zum einen wird ausgeführt, dass sie eben nicht einfach nur gegen die Perser gekämpft hätten, sondern dass sie sowohl phönizische als auch medische und persische Schiffe besiegt hätten. Die Konkretisierung der Leistung soll also das Ausmaß des Verdienstes verdeutlichen und gleichzeitig suggerieren, dass ein Großteil der Kampfesleistung den Korinthern zuzuschreiben sei. Zum anderen wird durch die Erwähnung des Aias in Zeile 2 auf den Kampf um Troja angespielt und die Assoziation des vorliegenden Konfliktes mit der mythischen Auseinandersetzung evoziert, sodass die Bedeutung des Kampfes gegen die Perser noch einmal betont und überhöht wird.820 Es ist hinreichend bekannt, wie wichtig die Teilhabe an der Perserabwehr gerade in späteren Epochen für die politische Position und Argumentation der einzelnen poleis war; alleine die Historien des Thukydides und des Herodot legen hiervon eindrücklich Zeugnis ab.821 Das vorliegende Epigramm verdeutlicht nun aber – wie möglicherweise auch die Episode um den Streit über die Inschrift auf der Schlangensäule822 – erneut, dass der Streit der beteiligten poleis um die Lorbeeren für die Rettung Griechenlands bereits direkt im Anschluss an die Abwehr der Armeen des Xerxes begann.823 Dennoch bleibt festzuhalten, dass er in dieser frühen Zeit wohl kaum mit der Schärfe geführt wurde, wie sie sich nur ein halbes Jahrhundert später in den Schriften des Herodot wiederfindet, der den Korinthern Zögerlichkeit und Feigheit vorwirft.824 Schon Plutarch weist darauf hin, dass alleine die Tatsache, dass die Athener den Korinthern die monumentale Bestattung in ihrem Territorium auf Salamis zugestanden, dafür spräche, dass die Athener die Leistung der Alliierten anerkannt hätten.825 Allerdings wäre wohl auch zu fragen, wie sie ihren eigenen Verbündeten dies überhaupt hätten abschlagen sollen, ohne sofort einen massiven Affront zu verursachen und möglicherweise den Bruch des Bündnisses oder gar einen neuen Konflikt zu provozieren. Immerhin war es selbst bei gegeneinander Krieg führenden poleis Pflicht, dem Gegner nach einer Schlacht zumindest die Bergung der Toten zu ermöglichen,
820
821
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823 824
825
Zur inhaltlichen Analyse und Deutung des Epigramms vgl. auch Osmers 2013, 271f.; Petrovic 2007, 152; Higbie 2010, 192. Siehe auch die entsprechenden Diskussionen in den obigen Kapiteln zu Theben, Thespiai und Argos. Vgl. zudem unten 3. II. Die Abwehr der Perserinvasion. Vgl. Thuk. 1.132. Selbst wenn die Episode um die Inschrift des Pausanias erfunden sein sollte, wird aus den Quellen doch deutlich, dass die Nennung auf der Schlangensäule nicht erst ab dem späteren 5. Jh. v.Chr. von großer Bedeutung war. So auch Higbie 2010, 192–194; vgl. weiter Osmers 2013, 270–275. Siehe die von ihm referierten Erzählungen der Athener über das Verhalten der Korinther bei Salamis (Hdt. 8.94) und bei Plataiai (Hdt. 9.52; 69). Siehe Plut. mor. 870E, dem auch Page 1981, 202; Petrovic 2007, 148 und Osmers 2013, 273 folgen.
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wenn auch fraglich bleibt, ob die Bestattung, geschweige denn eine Kennzeichnung oder Monumentalisierung des Grabes gewährt werden musste. Dennoch kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass die Athener wie auch die anderen Griechen die Leistung der Korinther anerkannten; schon deren Nennung auf der Schlangensäule in Delphi bezeugt dies schließlich eindrücklich.826 So muss das Epigramm auf dem Grab der Korinther auf Salamis wohl in einem Kontext freundschaftlicher Agonalität gesehen werden, wenn auch gleichzeitig deutlich wird, mit welch starkem Anspruch die Korinther sich in die gemeinsame griechische Geschichte einzuschreiben suchten. Noch deutlicher wird dieser Anspruch im Grabepigramm für den korinthischen Admiral Adeimantos, der bei der Schlacht von Salamis das Kommando über die korinthische Flotte inne hatte. Das Epigramm wird bei Plutarch und Favorinus in Zusammenhang mit dem korinthischen Grab bei Salamis behandelt, ist aber anders als dieses nicht epigraphisch belegt. Nach Plutarch lautete es: οὗτος Ἀδειμάντου κείνου τάφος, ὃν δία πᾶσα Ἑλλὰς ἐλευθερίας ἀμφέθετο στέφανον.827
Die beiden Autoren machen nicht klar, wo das Grab für Adeimantos lag, der nicht in der Schlacht von Salamis gefallen war, sondern nach dieser zumindest noch einige Jahre lebte.828 Es war jedoch sicherlich nicht die geographische, sondern die inhaltliche Verbindung, die Plutarch und Favorinus dazu bewog, das Epigramm im direkten Kontext mit dem Gefallenengrab zu zitieren,829 sodass ohne gegenteilige Hinweise davon ausgegangen werden sollte, dass sich das Grab des Adeimantos in Korinth selbst befand. Obwohl nun nicht entschieden werden kann, ob das Epigramm von der polis oder den Angehörigen des Adeimantos in Auftrag gegeben worden war,830 kann doch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es sich an der Selbstdar-
826 827
828 829
830
Wieder weist bereits Plut. mor. 870D auf diesen Umstand hin. Plut. mor. 870F. Favorinus (in Dio. Chrys. 37. 19) gibt eine leicht veränderte Version wieder (siehe im Folgenden). Vgl. weiter Page 1981, 200–202 Nr. X; Osmers 2013, 272 Anm. 952; Higbie 2010, 199. Wiederum schreibt Favorinus das Epigramm dem Simonides zu, was Page, a.a.O. entschieden ablehnt, während Petrovic 2007, 154 dies zumindest für möglich hält. Siehe Page 1981, 201. Immerhin erwähnt Plut. mor. 870E–F zwischen dem Grab auf Salamis und dem Epigramm für Adeimantos noch das Kenotaph der Korinther am Isthmos (s.u.) und die Siegesweihung der Korinther im Tempel der Leto am Isthmos. Vermutlich bewegt der Autor sich gedanklich also von Salamis über den Isthmos nach Korinth selbst. In jedem Fall ist eine geographische Koinzidenz weder explizit noch implizit angegeben. Osmers 2013, 272 Anm. 952 sieht dies anders und geht davon aus, dass es sich um ein privates Monument gehandelt haben müsse. Ich will jedoch die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Korinther
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II. Die Peloponnes
stellung der polis orientierte und von der Gemeinschaft entsprechend wahrgenommen wurde. Schon die Tatsache, dass das Epigramm bis in die Zeit Plutarchs und Favorinus’ überliefert wurde, spricht schließlich hierfür.831 Noch stärker als im vorherigen Epigramm wird hier deutlich gemacht, dass das Schicksal von ganz Griechenland von der Leistung des Toten abhing, der hier wohl als Aushängeschild und formidabelster Repräsentant aller Korinther verstanden werden durfte. Sein Beitrag war essentiell für den Erfolg gegen die Perser gewesen und ohne ihn wäre Griechenland in die Sklaverei gefallen. Die beiden Epigramme ähneln sich daher in ihrer grundlegenden Aussage stark, wenn auch im Falle des Adeimantos noch stärker betont wird, dass die Korinther zur Rettung von ganz Griechenland beigetragen hatten. Ein signifikanter Unterschied bestand freilich in der Form, in der die Toten von Salamis und Adeimantos zum griechischen Sieg beitrugen. Zumindest in der Version des Epigramms bei Favorinus wird dieser Unterschied auch deutlich zum Ausdruck gebracht, indem es dort heißt: οὗτος Ἀδειμάντου κείνου τάφος, οὗ δία βουλὰς Ἑλλὰς ἐλευθερίας ἀμφέθετο στέφανον.832
Während die Toten auf Salamis durch ihre kämpferische Tat und das Opfer ihres Lebens Griechenland verteidigten, leistete Adeimantos durch seine Führung und seinen Rat seinen Beitrag zur Rettung von Hellas. Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass nicht entschieden werden kann, welche der beiden Versionen tatsächlich auf dem Grabstein des korinthischen Admirals eingeschrieben war. Denn Favorinus’ Variante attestiert doch eine besondere Sensibilität für die Art der Leistung, die sich auch auf die Wahrnehmung des Monumentes und der kommemorierten Personen niedergeschlagen haben müsste. Plutarchs Fassung hingegen setzt den Fokus allein auf den Fakt der Leistung des Einzelnen für ganz Griechenland, ohne dass spezifiziert wird, worin diese Leistung bestand. Dieses Detail hätte dann vom Leser oder seinen Begleitern ergänzt werden müssen. Noch ein drittes Epigramm, das ebenfalls bei Plutarch und auch in der Anthologia Palatina überliefert ist, gilt es in diesem Kontext zu besprechen. Es sei auf einem Kenotaph am Isthmos eingeschrieben und habe aus den folgenden zwei Versen bestanden:
831 832
ihrem siegreichen Admiral aus den Perserkriegen die Ehre eines staatlichen Begräbnisses zukommen ließen. So auch Higbie 2010, 199 und Osmers 2013, 272 Anm. 952. Dio. Chrys. 37. 19 (Hervorhebung C.S.).
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ἀκμᾶς ἑστακυῖαν ἐπὶ ξυροῦ Ἑλλάδα πᾶσαν ταῖς αὐτῶν ψυχαῖς κείμεθα ῥυςάμενοι.833
Plutarchs Formulierung „ἐν Ἰσθμῷ“ dürfte mit großer Sicherheit darauf verweisen, dass das Monument in der Nähe des Poseidonheiligtums am Isthmos stand,834 das auch für die Kommemoration der griechischen Erfolge gegen die Perser eine wichtige Rolle einnahm. Hier hatten die Griechen bereits nach dem Sieg bei Salamis eine erbeutete phoinikische Triere geweiht.835 Nach der endgültigen Überwindung der persischen Bedrohung bei Plataiai fügten sie zudem noch ein Siegesmonument hinzu, wie sie es jeweils auch in den beiden anderen großen panhellenischen Heiligtümern in Delphi und Olympia errichteten. Selbst wenn aber „ἐν Ἰσθμῷ“ nicht das Poseidonheiligtum bezeichnet haben mag, wollte Plutarch mit der Wahl dieser Formulierung sicherlich deutlich machen, dass es sich nicht um ein Monument handelte, das in Korinth selbst oder in einer der Nekropolen der Stadt errichtet worden war. Auch der Inhalt des Epigramms, auf den ich noch eingehen will, spricht nämlich dafür, dass die Korinther sich bewusst dagegen entschieden, das Monument in ihrer polis zu errichten. Stattdessen suchten sie bewusst die Nähe zum „Isthmos“ als gemeinsamen griechischen Erinnerungsort der Perserabwehr. Am „Isthmos“ waren die freien Griechen zusammen gekommen, um über die gemeinsame Strategie im Kampf gegen die Truppen des Xerxes zu beraten.836 Am „Isthmos“ errichteten die Peloponnesier eine Mauer als letzte gemeinsame Verteidigungslinie gegen die Perser,837 und am „Isthmos“ kamen 833
834
835 836 837
Plut. mor. 870E–F. Siehe auch Anth. Pal. 7.250. Vgl. weiter GV 8; Page 1981, 204–206 Nr. XII; Clairmont 1983, 227f. Nr. 10c; Pritchett 1985, 174. Aristeid. Or. 28.66 überliefert vier weitere Zeilen, die aber von der modernen Forschung einhellig als spätere Ergänzung abgelehnt werden. Siehe hierzu v.a. den ausführlichen Kommentar bei Page 1981, 205. Dies ist auch der Konsensus unter den modernen Bearbeitern (siehe die vorherige Anmerkung). Völlig eindeutig wird dies aus Plutarchs Formulierung nicht, zeigt eine Suche im TLG doch, dass Plutarch, wenn er vom Isthmos als Eigennamen spricht, meistens schlichtweg den geographischen Isthmos meint (mor. 869D.; 871E; Them 9.4; 11.2; 12.2; 17.2; Caes. 58.4; 31.1; 39.1; Arat. 16.4; 44.2; Thes. 8.2; Kleom. 20.1). Nur selten scheint Plutarch hingegen konkret das Heiligtum des Poseidon derart zu bezeichnen (mögliche Referenzen: Alex. 41.1; Demetr. 25.3; mor. 871D; eindeutige oder wahrscheinliche Referenzen: mor. 676C; Thes. 25.3f.). Denkbar wäre vielleicht auch, dass das Kenotaph an der Grenze zwischen der Peloponnes und dem griechischem Festland errichtet wurde, wo auch die Säule des Theseus (Thes. 25.3f.) gestanden haben soll, und somit auch als Grenzmarker fungierte. Letztlich erscheint die Aufstellung im oder nahe des Poseidonheiligtums, das eben auch eine größere Aufmerksamkeit garantierte, aber doch wahrscheinlicher. Siehe auch im Folgenden zur Frage der Lokalisierung. Siehe Hdt. 8.121. Vgl. Hdt. 8.72–77. Siehe Hdt. 8.40; 71–74; 9.7–10. Mehrfach (u.a. 7.139) kommentiert Herodot auch die Sinnlosigkeit der Mauer, die in seiner Erzählung symbolisch für das drohende Scheitern der griechischen Verteidiger steht. Hätten die Griechen sich zum Isthmos zurückgezogen, wäre seines Erachtens ein jedes Kontingent in seine eigene polis zurückgekehrt, anstatt sich der gemeinsamen Verteidigung zu widmen. Frei-
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II. Die Peloponnes
nach der Schlacht von Salamis die Strategen der einzelnen Kontingente zusammen, um darüber abzustimmen, wer sich als aristos der Schlacht erwiesen habe.838 Ob das Denkmal der Korinther dabei am Poseidonheiligtum, an einer zentralen Straße oder vielleicht auch an der Mauer, die für die Perserabwehr gebaut worden war, aufgestellt wurde, ist für seine Deutung damit sekundär. Wichtig ist, dass die Korinther bewusst einen Ort außerhalb ihrer polis suchten, der als gemeinsamer Erinnerungsort der Griechen verstanden wurde und dem Epigramm damit eine entsprechende Aufmerksamkeit und Außenwirkung garantierte. Einige Forscher bezweifeln nun, dass es sich bei dem Monument tatsächlich um ein Kenotaph handelte, da ein solches nur nötig gewesen sei, wenn die Toten nicht bestattet werden konnten. Die Gefallenen der Perserkriege seien aber eben in Salamis, bei Plataiai839 und an den anderen Schlachtorten bestattet bzw. mit Kenotaphen bedacht worden, sodass ein Kenotaph am Isthmos redundant und nicht vorstellbar gewesen wäre.840 Dieser These widerspricht jedoch die Formulierung „κείμεθα“ im zweiten Vers, die klar auf ein Grab oder doch zumindest ein Kenotaph hinweist.841 Den Einwänden gegen ein Kenotaph liegt die Annahme zugrunde, dass ein Kenotaph nur dann errichtet werden konnte, wenn ein Begräbnis des Leichnams tatsächlich nicht vollzogen werden konnte, und dass ein Kenotaph nicht etwa als ‚Zweitgrab‘ errichtet werden konnte, wenn ein Toter in der Fremde begraben worden war, die Angehörigen sich aber eben auch einen Grabmarker in der Heimat wünschten, an dem sie den Totenkult vollziehen und ihrem Angehörigen gedenken konnten. Nun finden sich aber alleine in Athen eine ganze Reihe von Belegen genau dieser Praxis, von denen das Grabrelief des Dexileos nur das berühmteste war.842 Es gibt daher keinen Grund daran zu zweifeln, dass hier nahe des Poseidonheiligtums
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lich teilten nicht alle Zeitgenossen diese negative Sichtweise. Auch mindert sie nicht die Wirkung des Isthmos als gemeinsamer Erinnerungsort. Vgl. Hdt. 8.123. Die Unfähigkeit der Strategen, sich auf einen aristos zu verständigen, weil sie alle sich selbst wählen, soll in Herodots Erzählung freilich betonen, dass schon direkt nach der Schlacht der Ruhm um die Verdienste in der Perserabwehr stark umstritten gewesen sei. Zwar wird in keiner antiken Quelle von einer Bestattung der korinthischen Gefallenen bei Plataiai berichtet, doch ist davon auszugehen, dass diese zusammen mit den anderen griechischen Opfern vor Ort beigesetzt wurden. Vgl. Page 1981, 204f. Einige Forscher haben sich von den Unklarheiten in der Verortung und Formulierung des Epigramms zu recht ausufernden Thesen verleiten lassen. So postuliert Prandi 1990, 63 eine Translation der Gebeine der Gefallenen an den Isthmos, während Jacoby 1945, 172 Anm. 57 einige der Unstimmigkeiten erklären will, indem er vorschlägt, das Monument sei erst in den 460er Jahren v.Chr. im Zuge eines Konfliktes zwischen Athen und Korinth errichtet worden. Siehe zu letzterer These die berechtigte Kritik bei Page 1981, 205 Anm. 2. Page 1981, 204f. versucht dies mit dem Kommentar abzutun, die Formulierung „was not well considered“ und sei durch eine einleitende Klausel aufgeklärt worden sein. Jedoch dürfte die Wahl der Formulierung wohl mit einigem Bedacht getroffen worden sein und sollte ernst genommen werden. S.o. 1. III. Zwischenfazit Athen mit Anm. 256.
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tatsächlich ein Kenotaph errichtet wurde, an dem dann folgerichtig auch der Totenkult für die Gefallenen praktiziert wurde. Brisanter ist hingegen die Frage, für wen das Grabmonument aufgestellt wurde. Maria Osmers argumentiert diesbezüglich, dass der Kontext, in dem Plutarch das Denkmal erwähne, wie auch sein Aufstellungsort stark darauf hindeuten würden, dass das Kenotaph allein den gefallenen Korinthern der Schlacht von Salamis gegolten habe.843 Jedoch muss die Errichtung des Monumentes am Isthmos wohl keineswegs als Bezug auf die Schlacht von Salamis verstanden werden. Vielmehr kombinierte die Aufstellung in oder nahe des Poseidonheiligtums die beiden Vorteile (1.) der räumlichen Nähe zu Korinth, die den Vollzug des Grabkultes ermöglichte, und (2.) der Garantie größtmöglicher Aufmerksamkeit durch die Bedeutung des Heiligtums als panhellenische Kultstätte. Schwerer wiegt hingegen Osmers Argument, dass Plutarch das Epigramm im Kontext seiner Verteidigung der Leistung der Korinther bei Salamis erwähnt. Doch auch dies muss nicht zwingend bedeuten, dass das Monument am Isthmos nur den Gefallenen dieser Schlacht galt. Vielmehr ist Plutarch, der wohlgemerkt auf die Kritik Herodots an den Korinthern reagiert, eben besonders darum bemüht, die Leistung der Korinther bei Salamis zu verteidigen, weil sie in diesem Kontext explizit und besonders harsch von Herodot angegriffen wurden, obwohl sie sich doch gerade in dieser Schlacht auch besonders stark ausgezeichnet hatten. Daher versucht Plutarch die Kritik Herodots in diesem Punkt durch das Anführen von besonders vielen Zeugnissen der Tapferkeit und des Eifers der Korinther zu widerlegen und mag hierbei durchaus auch auf ein Monument zurückgegriffen haben, das eigentlich noch weiteren Leistungen der Korinther galt.844 Es ist daher sehr wohl möglich und m.E. auch deutlich wahrscheinlicher, dass das Kenotaph, das an diesem so bedeutenden Ort errichtet worden war, allen korinthischen Gefallenen der Perserkriege galt und nicht nur jenen der Schlacht von Salamis.845 Immerhin bezeugt ein ähnliches Monument, das sich einige Dutzend Kilometer entfernt auf der Agora des benachbarten Megara befand, dass Denkmäler für die Gesamtheit der Opfer der Perserkriege durchaus möglich waren.846 Am Isthmos wurde der Umstand, dass hier Gefallenen aller Schlachten der Jahre 480 und 479 v.Chr. gedacht wurde, vermutlich durch eine Überschrift verdeutlicht, die von Plutarch jedoch nicht zitiert wurde.847 843 844
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Vgl. Osmers 2013, 272 Anm 57. Vgl. ergänzend Plutarchs Kommentar zur Schlacht von Plataiai (872A–873A). Auch hier zitiert er ein weiteres Epigramm zur Ehrenrettung der Korinther, verteilt seine Aufmerksamkeit insgesamt aber viel stärker auf mehrere poleis. So vertedigt er neben den Korinthern auch die Megarer, die Phliasier und die Aigineten und reagiert damit wiederum nur auf Herodots breiter gestreute Kritik. So auch Welwei 1970, 299f. und Page 1981, 204f. Jacoby 1945, 172 Anm. 57 gibt sich in dieser Frage unsicher. S.u. 2. II. Megara. Der Vorschlag stammt von Page 1981, 204f.
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II. Die Peloponnes
Inhaltlich weist das Epigramm Ähnlichkeiten zu beiden der zuvor behandelten Gedichte auf. Wie im Epigramm auf die Opfer von Salamis wird noch einmal explizit darauf verwiesen, dass die hier kommemorierten Männer dafür geehrt wurden, dass sie im Kampf für ganz Griechenland ihr Leben gelassen hatten. Dies mag zunächst einmal banal erscheinen, da es sich ja schließlich um ein Kenotaph für Kriegstote handelte. Doch hätten die Korinther schließlich auch ein Denkmal aufstellen können, das alle Korinther geehrt hätte, die in den Perserkriegen gekämpft hatten; das also auch Überlebende eingeschlossen hätte. Ein ähnliches Monument beschreibt Herodot für die Peloponnesier, die an den Thermopylen gekämpft hatten,848 und so hätten die Korinther ihre Leistungen bei der Abwehr des Xerxes in einer ähnlichen Form oder aber auch durch eine Siegesweihung im Poseidonheiligtum o.Ä. zelebrieren können. Sie aber entschlossen sich, am Isthmos kein reines Siegesmal, sondern ganz dezidiert ein Monument nur für ihre Gefallenen zu errichten und somit das Opfer ihrer Mitbürger besonders zu würdigen.849 Dem Verlust ihres Lebens wird die Rettung Griechenlands gegenübergestellt und erneut wird kein Zweifel daran gelassen, dass ohne den Einsatz der Korinther ganz Griechenland dem Untergang geweiht gewesen wäre. Denn wenn auch in diesem Epigramm anders als in den beiden vorigen Gedichten nicht so stark suggeriert wird, dass die Korinther alleinig oder hauptsächlich für den Sieg über die Perser verantwortlich gewesen seien, macht das evozierte Bild der Messerschneide doch sehr deutlich, dass ihr Mitwirken essentiell für den griechischen Erfolg war.850 In ihren grundlegenden Themen unterschieden sich die korinthischen Epigramme für die Perserkriegsgefallenen nicht von jenen anderer poleis. Nimmt man etwa nur das Epigramm für die megarischen Gefallenen der Jahre 480 und 479 v.Chr. trifft man dort auf dieselben topoi vom Opfer des eigenen Lebens für das Weiterbestehen und die Freiheit von Griechenland; und auch eine Aufschlüsselung der einzelnen Schlachten, an denen sich die Megarer beteiligten, findet sich dort.851 Jedoch wird in den korinthischen Epigrammen ein Anspruch auf die Unverzichtbarkeit und das Ausmaß der Leistung der eigenen polis vermittelt, wie er in den Monumenten anderer poleis nicht so unmittelbar deutlich wird. Die Korinther waren also sichtlich darum bemüht, zu zeigen, dass ihre Leistung nicht hinter jener der beiden Führungsmächte Sparta und Athen zurückstand und dass sie mit Fug und Recht an dritter Stelle auf der Schlangensäule in Delphi genannt wurden. 848 849
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Siehe Hdt. 7.228. Nicht bekannt ist, wie viele Korinther bei Salamis und Plataiai ihr Leben verloren. Jedoch ist wohl zumindest für die Schlacht von Salamis, an der die Korinther mit einem großen Kontingent beteiligt waren, mit signifikanten Verlusten zu rechnen. Vgl. auch Clairmont 1983, 104f. Auch Clairmont 1983, 227f. Nr. 10c liest aus dem Epigramm einen starken Anspruch der Korinther auf die Rolle des Retters von Griechenland heraus. S.u. 2. II. Megara.
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Die behandelten Grabepigramme waren dabei keineswegs das einzige Medium, mit dem die Korinther ihre Rolle in den Perserkriegen kund zu machen suchten. Plutarch berichtet alleine im Kontext der hier wiederholt behandelten Stelle noch von zwei weiteren eindrucksvollen Epigrammen, welche die Korinther auf Weihgeschenken an die Göttinnen Leto und Aphrodite anbringen ließen.852 Die Tatsache, dass die Korinther für ihr am meisten exponiertes Perserkriegsmonument am Isthmos die Form eines Gefallenengrabes wählten, ist aber doch bemerkenswert. In Anbetracht der Aufmerksamkeit, welche die Korinther ihren Gefallenen der Perserkriege zuteil werden ließen, dürfte das Faktum erstaunen, dass der nächste Beleg staatlichen Gefallenengedenkens in der polis am Isthmos erst aus der zweiten Hälfte des 4. Jh. v.Chr. stammt. Es handelt sich um eine Inschrift, die 1915 nahe der Südseite der Agora gefunden wurde, wo sie in einer modernen Wand verbaut war.853 Der Stein aus bläulichem Marmor ist 0,35m hoch, 0,3m breit und 0,13m dick und weist Spuren auf, die zeigen, dass er vor seiner modernen Verbauung bereits zwei mal wiederverwendet worden war. Auf dem Stein sind die Namen von zehn Männern mitsamt Patronymen erhalten, von denen fünf unter der Überschrift ΔΙ-Π, einer unter der Überschrift ΛΕ-Ε, drei unter der Überschrift ΛΕ-Π sowie einer unter der Überschrift ΚΥ-Ϝ (oder ΚΥ-?) aufgelistet werden. Ursprünglich waren wohl noch mehr Männer verzeichnet, doch weil die Stele an drei Seiten gebrochen und nur ihr linker Rand erhalten ist, lässt sich nicht bestimmen, wie viele Namen fehlen. Auch eine Überschrift, die das Monument markiert und eingeordnet hätte, ist nicht erhalten. So bleibt die Inschrift auch jegliche Hinweise auf eine Datierung schuldig, weshalb nur eine grobe Datierung anhand paläographischer Kriterien möglich ist, die Benjamin Meritt und Sterling Dow mit der zweiten Hälfte des 4. Jh. v.Chr. angeben. Letzterer mahnt allerdings zur Vorsicht, da die geringe Anzahl klassischer Inschriften in Korinth nur wenige Vergleichsbeispiele biete und somit nur eine unsichere Einordnung ermögliche.854 Aus Dows Feder stammt schließlich auch der Vorschlag, dass es sich bei der Inschrift um eine Gefallenenliste handele. Bereits Hiller von Gärtingen hatte vorgeschlagen, dass die ersten beiden Buchstaben der Überschriften Abkürzungen für Phylennamen seien.855 Dow übernimmt nun diese These und fügt an, dass der dritte Buchstabe der Überschriften jeweils eine weitere Unter-
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Vgl. Plut. mor. 870F und 871B. Siehe die ed. prin. von Meritt 1931, 11f. Nr. 11 (inkl. Foto) = SEG 11.60 und den ausführlichen Kommentar von Dow 1942, 90–106 (inkl. Abklatschfoto). Vgl. auch Clairmont 1983, 242f. Nr. 79; Pritchett 1985, 145. Vgl. Meritt 1931, 12; Dow 1942, 90. Konkret bezog sich vonGärtingen (1932, 362) dabei auf die Abkürzung ΚΥ, die er mit Bezug auf eine Stelle bei Hesychios als Κυνόφαλοι auflöste. Dabei handelte es sich freilich schon nicht mehr um die traditionellen dorischen Phylennamen (siehe hierzu auch Dow 1942, 101–106).
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II. Die Peloponnes
teilung oder Untereinheit der Phyle angegeben habe.856 Diese grundlegende Überlegung wurde in der Folge von einer Vielzahl anderer Autoren übernommen und konnte sich als communis opinio etablieren, wenn auch zahlreiche Varianten hinsichtlich des genauen Charakters der Untereinheiten existieren.857 Dow fährt fort, indem er darauf verweist, dass die unregelmäßige Verteilung der Namen auf die Phylen gegen eine Identifikation als Liste von Magistraten spräche, da hier eine gleichmäßige Verteilung der Ämter und Positionen zu erwarten wäre. Darüber hinaus hebt er hervor, dass zwischen den einzelnen Untereinheiten Platz für Nachträge gelassen und in einem Fall wohl auch tatsächlich für eine spätere Addition genutzt wurde.858 Diese Vorkehrung lasse mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass es sich bei der Inschrift um eine Ephebenliste handele, sodass von den üblichen Gattungen nur die Identifikation als Liste von Spendern oder aber von Gefallenen übrig bliebe.859 Da aber wiederum keines der Vergleichsbeispiele von Spenderlisten nach Phylen oder sonstigen politischen oder militärischen Untereinheiten angeordnet sei, bliebe nur die Identifikation als Gefallenenliste übrig.860 Auch Dows Argumentation bleibt nicht ohne Schwächen, sodass die Bezeichnung als Gefallenenliste nicht von allen Forschern akzeptiert wird.861 Christoph Clairmont weist etwa darauf hin, dass keine andere Gefallenenliste aus der Antike bekannt sei, die Einheiten unterhalb der Phylenebene berücksichtigte.862 Doch ist dies zum einen nicht korrekt, wie die oben diskutierte Liste von der Agora von Argos zeigt, auf der neben den Phylen auch Phratrien genannt wur-
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Siehe Dow 1942, 95–106 für die gesamte Argumentation, die ich im Folgenden knapp zusammenfasse. Während Dow noch an eine simple Unterteilung der Phylen in Stadt und Land dachte, wollen andere Autoren komplexere Systeme rekonstruieren und streiten darüber, ob die Untereinheiten militärischer oder politischer Natur waren. Ich will die unterschiedlichen Ansätze hier nicht im Detail diskutieren. Zwar wäre gerade die Frage nach dem politischen oder militärischen Charakter der Untereinheiten von großem Wert für das Verständnis des Monumentes, doch lässt sie sich vor dem Hintergrund des sehr dünnen epigraphischen Befundes in Korinth schlichtweg nicht beantworten, sodass jegliche ausgiebige Diskussion müßig ist. Ich belasse es daher bei einem Verweis auf die einschlägigen Arbeiten: Stroud 1968, 237–242; Jones 1980, 163–165; Salmon 1984, 413–419; Stanton 1968, passim; Ruzé 1997, 297–304; Parker 1994, 408f. Der Name des Χάρισος, Sohn des Δε[---], in Zeile 12 ist deutlich dünner und flacher eingemeißelt und daher mit großer Sicherheit als Nachtrag zu identifizieren. Siehe die Abbildung bei Meritt 1931, 11f. Nr. 11. Polly Low (2003, 101) verwendet im Falle einer Inschrift aus Megara dieselben Argumente einer unregelmäßigen Verteilung der Namen und der Existenz von Nachträgen für die Identifikation als Gefallenenliste (s.u. Anm. 946). Aufgrund der mangelnden Vergleichsbeispiele aus Korinth selbst zieht Dow 1942, 96f. dabei vor allem Inschriften aus Athen heran. Clairmont 1983, 243 kommentiert: „It is fair to say that some scepticiscm has been voiced whether or not [the inscription] is a casualty list or some other list.“. Vgl. Clairmont 1983, 243.
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den.863 Zum anderen könnte es sich hierbei auch um ein korinthisches Charkteristikum gehandelt haben, was sich aber aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem vorliegenden Stück um die einzige bekannte Gefallenenliste aus Korinth handelt, nicht mehr nachprüfen lässt. Auch kann der Fundort keinen Hinweis auf die Zuordnung der Liste geben, da sich durchaus auch Gefallenenmonumente innerhalb der griechischen Städte fanden und überdies durch die mehrfache Wiederverwendung des Steines jeglicher Versuch, einen ursprünglichen Aufstellungskontext zu rekonstruieren, ohnehin vergeblich sein muss. In Anbetracht der verbleibenden Unsicherheiten bei der Identifikation und Rekonstruktion des Monumentes ist eine Einordnung in den größeren Zusammenhang des Gefallenengedenkens in Korinth kaum möglich. Dieser Umstand wird erheblich dadurch erschwert, dass sich aufgrund der schlechten Quellenlage überhaupt kaum Aussagen über die staatlichen Vorkehrungen der Korinther für ihre Kriegstoten treffen lassen. Die antiken Historiker erwähnen lediglich die Bergung der Gefallenen durch die Korinther864 und wenn wir wohl auch mit einiger Sicherheit annehmen können, dass sie ebenfalls für eine gemeinsame Bestattung der Toten Sorge trugen, ist damit noch nicht viel gesagt. Die Bergung und Bestattung der eigenen Toten stellten schließlich nur das Minimum der Fürsorge für die Gefallenen dar und wir erfahren nicht, ob die Kriegsopfer weitere Zuwendungen durch die polis erhielten – ob etwa ihre Gebeine zurückgeführt worden, ob für sie der regelmäßige Totenkult praktiziert wurde oder ob sie in irgendeiner anderen Form kommemoriert wurden. Auch der epigraphische Befund ist hierbei keineswegs hilfreich, war der epigraphic habit der Korinther doch nicht sonderlich stark ausgeprägt und sind inschriftliche Zeugnisse aus der Zeit vor der Zerstörung der Stadt 146 v.Chr. ausgesprochen rar.865 Weder lässt sich daher ausschließen, dass einige Gefallenenmonumente verloren sind oder noch nicht entdeckt wurden, noch ist überhaupt gesagt, dass die Korinther ihrer Gefallenen in inschriftlicher Form – etwa mit Listen – gedachten, wie dies die Athener taten. Festhalten lässt sich wohl nur, dass das staatliche Gefallenengedenken in Korinth in der Kommemoration der Opfer der Perserkriege einen Höhepunkt sah, den es so wohl nicht noch einmal erreichte.
Mantineia Den frühesten Beleg kollektiven Gefallenengedenkens durch die polis von Mantineia bietet eine Gefallenenliste, die von Ronald Stroud auf einer seiner Forschungsreisen entdeckt und 1969 von 863 864 865
S.o. 2. II. Argos. Vgl. etwa Thuk. 1.50.3 und Xen. Hell. 4.4.13. Siehe Stroud 1968, 233; Dow 1942, 89f.; Jeffery 1990, 199.
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II. Die Peloponnes
William K. Pritchett veröffentlicht wurde.866 Die Stele mit einer erhaltenen Höhe von 0,9m, einer Breite von 0,55m und einer Dicke von 0,23m867 ist aus lokalem Kalkstein gearbeitet und wurde in einem modernen Haus südlich der antiken Stadt gefunden, wo sie in eine der Außenwände verbaut war. Der Stein ist von der linken zur rechten Seite schräg nach unten gebrochen, während seine Oberseite nur leicht bestoßen ist. Unter einer simplen Leiste, die den oberen Abschluss der Stele bildet, findet sich zentral der Name einer der mantineischen Phylen, „Ποσοιδαία“, eingeschrieben. Hierauf folgen zwei Spalten, in denen sich die Namen von 27 Männern erhalten haben, die allesamt ohne Patronym genannt werden. Leicht eingemeißelte vertikale und horizontale Hilfslinien lassen das Bemühen des Steinmetzen um ein gleichmäßiges und einheitliches Erscheinungsbild erkennen.868 Der Inhalt und die Form der Inschrift zusammen mit ihrem Fundort in einer der antiken Nekropolen der Stadt869 machen eine Identifikation als Gefallenenliste, wie sie bereits Pritchett vorschlug, ausgesprochen wahrscheinlich. Sie wurde folgerichtig auch von den meisten nachfolgenden Bearbeitern übernommen,870 mit Ausnahme von Heikki Solin, der die Überzeugung äußert, die Stele müsse für einen „weniger ‚feierlichen‘ Anlass“ als ein Gefallenenbegräbnis geschaffen worden sein.871 Sein einziges Argument gegen die Identifikation als Gefallenenmonument, nämlich das Fehlen von Patronymen, kann jedoch in Anbetracht der Evidenz aus anderen poleis sowie der Details des übrigens Befundes keinen Bestand haben. Berechtigt sind hingegen seine Einwände gegen die Zuordnung der Liste zur Schlacht von Mantineia im Jahr 418 v.Chr., die Pritchett vorschlägt. Dieser argumentiert, sowohl die 866
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Siehe Pritchett 1969, 50–53 mit einer guten Abbildung auf Taf. 38, auf der aber leider die rechte untere Ecke des Steins fehlt, sowie SEG 31.348. Wie genau es Pritchett gelang, die Dicke der fest verbauten Stele zu bestimmen, wird aus seinem Bericht nicht deutlich. Lediglich der Name der Phyle Ποσοιδαία fällt etwas aus dem Raster, indem zwischen der Phylenüberschrift und der ersten Zeile mit Namen deutlich weniger Platz gelassen wurde als zwischen den einzelnen Namenszeilen. Hieraus ergibt sich der Eindruck, als sei der Phylenname nachträglich eingefügt worden, wobei die Schrift aber nahelegt, dass dies noch im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Erstellung der Liste geschah und nicht etwa zu einem späteren Zeitpunkt. Obwohl diese Eigenheit zunächst auffällig scheint, liegt ihr vermutlich keine Änderung in der Konzeption der Stele zugrunde, sondern lediglich eine Unachtsamkeit des Steinmetzes, der sich insgesamt durch zwar solide Arbeit auszeichnet, die jedoch keineswegs die Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit jener hochqualitativen stoichedon-Inschriften aufweist, die er offenbar zu imitieren suchte. Immerhin musste die Entscheidung, die Männer nach Phylen geordnet aufzulisten, bereits vor dem Einschreiben der Namen gefallen sein, sodass eine konzeptionelle Änderung ausgeschlossen scheint. Hodkinson/Hodkinson 1981, 295 korrigieren zwar Pritchetts Angaben zum Fundort der Stele, indem sie diesen etwas näher an die antike Stadt heransetzen. Dies ändert jedoch nichts an der Lokalisation in einer der antiken Nekropolen, sondern bekräftigt diese im Gegenteil noch weiter. So auch von Clairmont 1983, 234f. Nr. 51b und Hodkinson/Hodkinson 1981, 295. Solin 1974, 270. Vgl. auch die berechtigte Kritik von Pritchett 1985, 143.
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paläographische Datierung der Schrift als auch die zu rekonstruierende Zahl von 30 bis 40 Gefallenen der Phyle Ποσοιδαία, ließen sich sehr gut mit der Schlacht des Jahres 418 v.Chr. vereinbaren, für die Thukydides den Mantineiern Verluste von 200 Mann attestiert.872 Nun liegt auf der Hand, wie problematisch sich eine paläographische Datierung der Inschrift in Anbetracht der geringen Dichte absolut datierter lokaler Vergleichsobjekte darstellt, und auch der Autor selbst gesteht ein, dass er keinesfalls ein Experte in arkadischer Epigraphik sei. Darüber hinaus merken Heikki Solin und Laurent Dubois an, dass die Verwendung von η und ω in einer arkadischen Inschrift im 5. vorchristlichen Jahrhundert ausgeschlossen oder doch zumindest höchst ungewöhnlich sei. Stattdessen sei eine Datierung in das 4. Jh. v.Chr. und möglicherweise dessen Mitte weitaus wahrscheinlicher.873 So verlockend es erscheinen mag, die Gefallenenliste mit der berühmten Schlacht des Jahres 418 v.Chr. in Verbindung zu bringen und sie damit auch in den weiteren Kontext der demokratischen Verfassungsreform des Nikodoros zu setzen,874 muss daher diese Zuordnung bezweifelt werden. Vor dem Hintergrund der Studie von Dubois ist stattdessen eine Datierung ins 4. Jh. v.Chr. zu bevorzugen, wenn auch jeglicher Versuch einer genaueren Einordnung ebenso spekulativ bleiben muss, wie Pritchetts Vorschlag.875 Die Problematik wiederholt sich bei einer weiteren Gefallenenliste, die einen ähnlichen Befund aufweist wie das soeben besprochene Stück. Die Stele wurde 1868 von Paul Foucart südlich der Stadt an der Straße, die nach Tegea und in Richtung des Heiligtums des Poseidon Hippios
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Siehe Pritchett 1969, 52f. mit Thuk. 5.74. Die Verluste dieser einen Phyle würden somit genau einem Fünftel der von Thukydides veranschlagten Gesamtzahl entsprechen. Siehe Solin 1974, 270 und Dubois 1986, Bd. 2, 122–126 Ma 4. Pritchett 1985, 143f. kritisiert zurecht, dass Solin keine Studie anführt, um seine Behauptungen zu belegen. Siehe überdies den Nachtrag in Solin 1974, 276 mit dem Hinweis von L.H. Jeffery, die Solins Aussage zumindest etwas relativiert. Jedoch liefert Pritchett selbst zur Verteidigung seiner These nur athenische Gefallenenlisten als Vergleiche, deren Gültigkeit für die arkadischen und die mantineiischen Inschriften stark bezweifelt werden muss. Zudem liegt mit Dubois 1986 eine Studie, wie Pritchett sie fordert, vor, die Solins Einschätzung bestätigt. Zum demokratischen System in Mantineia siehe Ail. var. 2.23; Thuk. 5.29; Xen. Hel. 5.2.6f.; Aristot. Pol. 1318B sowie Gehrke 1985, 101–103 und Heine Nielsen 2002, 334–338. Amit 1973, 140 äußert Zweifel daran, dass die Reformen des Nikodoros – so Reformer und Reformen denn überhaupt historisch waren – tatsächlich demokratischer Natur gewesen seien. Bölte 1930, 1319f. wiederum glaubt, dass Mantineia bereits vor Nikodoros demokratisch verfasst gewesen sei. Auch Dubois 1986 arbeitet in seiner Untersuchung mit einer verschwindend geringen Zahl absolut datierbarer Zeugnisse und Solin 1974, der sich für eine Datierung in die Mitte des 4. Jh. v.Chr. ausspricht, versäumt es fast vollständig, diesen Vorschlag in irgendeiner Form zu belegen. Der Versuch, die Inschrift genauer zu datieren, muss daher stark hypothetisch bleiben.
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führte, gefunden.876 Da der Stein heute verloren ist und lediglich von Foucart gesehen wurde, müssen sich alle weiteren Arbeiten auf dessen Angaben verlassen. Gemäß seiner Beschreibung handelte es sich um eine großformatige, dicke Stele aus einem lokalen, bläulichen Stein, die zusammen mit zwei weiteren Stelen gleicher Maße und gleichen Materials, die jedoch keine Inschriften trugen, gefunden wurde. Der erste Stein listete die Namen von 15 Männern inklusive ihres Patronyms auf und ordnete sie jeweils einer der fünf mantineiischen Phylen zu. Dabei wurden jeweils drei Namen unter den Überschriften „Ἐπαλέας“ und „Ὁπλοδμίας“, vier Namen unter den Überschriften „Ἐνυαλίας“ und „Ποσοιδαίας“ sowie ein Name unter der Überschrift „Ϝανακισίας“ genannt. Foucarts Beschreibung lässt sich entnehmen, dass die Stele nicht stärker beschädigt und die Liste somit vollständig war. Weitere Details bezüglich der Form und Gestaltung der Inschrift bleibt der Editor bedauerlicherweise schuldig. Wie im vorherigen Fall legen eine Reihe von Tatsachen nahe, dass mit dem Stein eine weitere Gefallenenliste der polis von Mantineia vorliegt. So handelt es sich (1.) um eine offenbar monumentale Inschrift, die (2.) in einer der antiken Nekropolen gefunden wurde. Außerdem hielt sie (3.) die Namen einer größeren Zahl ausschließlich männlicher Personen fest und ordnete diese (4.) überdies noch nach Phylen. Die Deutung als Gefallenenliste wurde daher bereits von Foucart vorgeschlagen und von der breiten Masse der späteren Bearbeiter übernommen.877 Mit dieser Identifikation einher geht freilich auch das Bestreben, das Monument einer konkreten Schlacht zuzuordnen, und so wurde bereits von Gustave Fougères die These vorgebracht, dass die Liste Gefallene der Schlacht von Mantineia aus dem Jahr 362 v.Chr. kommemoriere. Die Zahl der Toten sei dabei zweifelsohne viel zu gering, um dem eigentlichen Hauptgefecht zugewiesen werden zu können, und stattdessen möge das Grab dem Reitergefecht im Vorfeld der Schlacht zuzuordnen sein, von dem die antiken Autoren berichten.878 Zwar handelt es sich hierbei um eine durchaus mögliche These, doch mangelt es vollständig an positiven Indizien, die für 876
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Erstmals veröffentlicht wurde der Text von Foucart 1868, 5f. Nr. 5. Dort findet sich allerdings lediglich der Text der Inschrift. Die Beschreibung der Stele und ihres Fundortes folgte mit Foucart 1870, 220–222 Nr. 352p. Die Inschrift und die Fundumstände wurden erneut veröffentlicht als IG V.2 271. Dubois 1986, 126–129 bietet eine onomastische Analyse, ohne jedoch weitere relevante Erkenntnisse zu liefern. So etwa Fougères 1898, 100f.; Hodkinson/Hodkinson 1981, 294f.; Clairmont 1983, 239 Nr. 73; Pritchett 1985, 144. Auch Jones 1987, 132–135 akzeptiert diese Identifikation, wenn er sich auch gegenüber Fougères’ konkreter Ausdeutung (siehe das Folgende) skeptisch äußert. Einzig in IG V.2 271 werden einige Zweifel an dieser Interpretation angemeldet, ohne dass diese allerdings näher begründet würden. Siehe Fougères 1898, 101. Sowohl Clairmont 1983, 239 Nr. 73 als auch Pritchett 1985, 144 scheinen seiner These nicht abgeneigt zu sein, wenn sie ihr auch nicht eindeutig zuzustimmen. Von dem Gefecht, in dem die Thebaner gegen die in der Stadt verbliebenen Mantineier und die Reiterei der Athener vorgingen, berichten Xen. Hel. 7.5.14–17; Pol. 9.8.9–13; Diod. Sic. 15.84.1f. Siehe auch Pritchett 1969, 63f.
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genau diese Schlacht sprechen würden. Die Datierung der Inschrift in die Mitte des 4. Jh. v.Chr. lässt sich heute nicht mehr überprüfen und beruht einzig auf der Einschätzung Foucarts, der zu seiner Zeit zweifelsohne ein ausgewiesener Kenner arkadischer Inschriften war. Jedoch stand ihm eine verschwindend geringe Zahl absolut datierbarer Inschriften und zudem insgesamt eine deutlich geringere Anzahl lokaler und regionaler Vergleichsbeispiele zur Verfügung, als sie heute bekannt sind. Seine Datierung ist damit aus heutiger Sicht methodisch problematisch. Foucart selbst war sich der Tatsache, dass es sich nur um eine äußerst grobe Schätzung handelte, sehr bewusst.879 Obwohl man seinem Vorschlag nicht jegliche Gültigkeit absprechen sollte, ist es daher dennoch ratsam, seine Datierung etwas vorsichtiger zu fassen und einen breiteren zeitlichen Rahmen für die Aufstellung der Inschrift anzunehmen. Da es für diesen Zeitraum auf der Peloponnes an militärischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung der Mantineier nicht mangelte, sodass sich alleine für die Mitte des Jahrhunderts zahlreiche mögliche Anlässe für die Errichtung der Liste finden ließen, liegt auf der Hand, dass die Zuordnung zum Reitergefecht vor der Schlacht des Jahres 362 v.Chr., wie Fougères sie vorschlägt, reine Hypothese ist.880 Ebenso gestaltet es sich fast unmöglich, anhand der knappen Angaben Foucarts zu den drei Steinen fundierte Aussagen irgendeiner Art zur Form des Grabmonumentes zu treffen. Möglicherweise bildeten die drei gleichformatigen Platten die Front eines Grabbezirkes, so wie sie in Athen häufig begegnen. Vielleicht aber muss auch von einer völlig anderen Form ausgegangen werden, die eben gerade nicht in die bekannten Muster fiel.881 Ohne die Reste des Monumentes selbst oder entsprechende Vergleichsobjekte müssen in jedem Fall jegliche Rekonstruktionsversuche reines Gedankenspiel bleiben.
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Bereits mehrfach (u.a. Anm. 873) wurde darauf hingewiesen, wie wichtig bei der paläographischen Datierung von Inschriften Studien der lokalen Eigenheiten sind. Foucart selbst (1870, 220) begründet seine Datierung wie folgt: „L’inscription est postérieure à la dédicace faite à Apollon (n° 352b [= IG V.2 282 – Anm. C.S.]); il n’y a plus trace de l’alphabet archaïque: mais les lettres, grandes, régulières, très-bien gravées et espacées, appartiennent à la meilleure époque; les formes dialectiques sont bien conservées. On ne peut guère descendre plus bas que le milieu du quatrième siècle.“ Die methodischen Schwierigkeiten einer solchen Datierung liegen auf der Hand. Bedauerlicherweise reicht die Abklatschsammlung der Ècole Francaise d’Athènes nur bis zum Jahr 1880 zurück, sodass auch der von Foucart 1868, 6 erwähnte Abklatsch der Inschrift nicht erhalten zu sein scheint. Darüber hinaus wäre wohl zu fragen, ob die Gefallenen des Reitergefechtes überhaupt getrennt von den Toten der eigentlichen Schlacht bestattet wurden. Siehe auch die Kritik an Fougères’ These bei Jones 1987, 133. Fougères 1898, 99–101 lässt sich zu der Überlegung hinreißen, dass die drei von Foucart beschriebenen Steine zu einem Grabmonument gehören könnten, das Fougères selbst bei seiner Arbeit in Mantineia entdeckte. Weder konnte er sich jedoch sicher sein, dass das Grab tatsächlich an ebenjener Stelle lag, an der Foucart die zu diesem Zeitpunkt bereits verschollenen Steine entdeckt hatte, noch stimmt das Material des Grabbaus mit dem der Stelen überein. Während letztere nämlich aus lokalem Stein gehauen waren, war Fougères’ Monument aus Marmor errichtet. Diese These ist daher abzulehnen.
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Als Fakt festzuhalten ist immerhin die Tatsache, dass die vorliegende Gefallenenliste die Toten mit ihrem Vatersnamen nannte, während das Patronym auf dem vorherigen Monument nicht verwendet wurde. Ein ähnlicher Befund bot sich uns bereits in Thespiai. Dort setzte sich im 4. Jh. v.Chr. die Praxis durch, Bürger in offiziellen wie auch privaten Inschriften mit ihrem Patronym zu nennen, und so finden sich ab diesem Zeitraum auch auf den Gefallenenlisten entsprechende Filiationsangaben.882 In Mantineia fügt sich die Liste mit den Patronymen hingegen nicht derart gefällig in den übrigen epigraphischen Befund ein. Tatsächlich setzt sich die Verwendung des Vaternamens als Identifikator in Inschriften wohl erst spät, im 3. und 2. Jh. v.Chr., durch,883 sodass die Gefallenenliste hier mit dem etablierten Muster bricht. Üblicherweise werden der Verwendung des Patronyms in offiziellen Inschriften politische Überlegungen zugrunde gelegt, sodass im Falle der vorliegenden Stele zu fragen wäre, ob sich in der Geschichte Mantineias im 4. Jh. v.Chr. ein politisches Ereignis finden lässt, das eine derartige Abweichung von der üblichen Praxis bewirkt haben könnte. Sofort drängt sich der erzwungene dioikismos der polis zwischen den Jahren 385 und 370 v.Chr. auf, der laut Xenophon auch eine Rückkehr zu einem oligarchisch kontrollierten System brachte und einen massiven Einschnitt im sozialen und politischen Leben des Gemeinwesens dargestellt haben muss.884 Bereits Paul Foucart hatte vorgeschlagen, dass die Liste möglicherweise in die Zeit nach der Neugründung der Stadt zu datieren sei, wenn er dabei auch der Verwendung der Patronyme keine Beachtung schenkte und seinen Datierungsvorschlag lediglich mit den bekannten historischen Ereignissen kombinierte.885 Tatsächlich wäre diese Zuordnung nicht ohne ihren Reiz, würde die Liste sich damit doch in das bereits mehrfach postulierte Muster des bewussten Einsatzes des Gefallenengedenkens zur Markierung der Überwindung einer Krise eines Gemeinwesens einfügen. Wieder einmal ließen sich dann das Gefallenenmonument und der Akt der kollektiven Bestattung durch die polis als Affirmation der Ordnung sowie der Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens interpretieren.
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Zu Thespiai siehe oben 2. I. Thespiai mit Anm. 546. Bedauerlicherweise existiert keine Studie zur Verwendung von Patronymen in Mantineia oder Arkadien, so wie sie von Guy de Vottéro (1988) für Boiotien durchgeführt wurde. Eine kurze Durchsicht des Corpus ergab jedoch eine recht klare Tendenz, wenn auch bei der geringen Zahl der Inschriften aus Mantineia und der Schwierigkeiten der Datierung nicht von einem eindeutigen Ergebnis gesprochen werden kann: Ohne Patronym: IG V.2 262 (5. Jh. v.Chr.); 272 (4./3. Jh. v.Chr.); 278 (4./3. Jh. v.Chr.); 372 (3. Jh. v.Chr.). Mit Patronym: IG V.2 293 (um 200 v.Chr.); 305 (2. Jh. v.Chr.); 308 (1. Jh. v.Chr.); 265 (1. Jh. v.Chr.). Die Durchsicht des SEG zu neueren mantineischen Inschriften ergab keine weiteren relevanten Einträge. So Xen. Hel. 5.2.7. Zum dioikismos der Stadt und der Zeit danach vgl. Amit 1973, 168–182; Funke 2004, passim; Gillone 2004, 119f.; Gehrke 1985, 103–105; Heine Nielsen 2002, 390f.; 335; 475f.; Larsen 1968, 182–186; Hodkinson/Hodkinson 1981, 288. Siehe Foucart 1870, 220–222 Nr. 352p.
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Bedauerlicherweise lässt sich auch diese Deutung aber nicht weiter belegen und muss daher reine Spekulation bleiben. Zum einen wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die Datierungen der vorliegenden wie auch der zuvor besprochenen Inschrift ausgesprochen problematisch sind, sodass nicht einmal die relative Chronologie nur dieser beiden Monumente mit Sicherheit etabliert werden kann. Zum anderen lässt sich der Zusammenhang zwischen einer politischen Veränderung und der Verwendung des Patronyms weder im vorliegenden noch in vielen anderen Fällen eindeutig nachweisen. Vielmehr beruht diese Verknüpfung oftmals lediglich auf Indizien und zeitlichen Koinzidenzen, sodass auch andere Gründe für einen Wandel im Umgang mit der Filiationsangabe nicht ausgeschlossen werden können. In Anbetracht all dieser Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist es daher ratsam, die Unterschiede zwischen den beiden Gefallenenlisten für den Moment lediglich festzuhalten und die Thematik an einem späteren Punkt noch einmal aufzugreifen. Die beiden kollektiven Gräber stehen in scharfem Kontrast zu den individuellen Denkmälern, welche die Mantineier auf ihrer Agora für den Athener Gryllos und ihren Mitbürger Podares errichteten, die beide 362 v.Chr. in der Schlacht von Mantineia gefallen waren. Pausanias beschreibt das Monument für Podares wie folgt: Μαντινεῦσι δὲ ἐν τῇ ἀγορᾷ γυναικός τε εἰκὼν χαλκῆ – καὶ Μαντινεῖς καλοῦσι Διομένειαν Ἀρκάδος – καὶ ἡρῷόν ἐστι Ποδάρου: φασὶ δὲ ἀποθανεῖν αὐτὸν ἐν τῇ πρὸς Ἐπαμινώνδαν καὶ Θηβαίους μάχῃ. γενεαῖς δὲ τρισὶν ἐμοῦ πρότερον μετέθεσαν τοῦ τάφου τὸ ἐπίγραμμα ἐς ἄνδρα ἀπόγονον μὲν ἐκείνου Ποδάρου καὶ ὁμώνυμον, γεγονότα δὲ καθ᾽ ἡλικίαν ὡς πολιτείας ἤδη Ῥωμαίων μετειληφέναι. Ποδάρην δὲ ἐπ᾽ ἐμοῦ τὸν ἀρχαῖον ἐτίμων οἱ Μαντινεῖς, λέγοντες ὡς ἄριστος μὲν καὶ αὐτῶν καὶ τῶν συμμάχων γένοιτο ἐν τῇ μάχῃ Γρύλος ὁ Ξενοφῶντος, ἐπὶ δὲ τῷ Γρύλῳ Κηφισόδωρος Μαραθώνιος, οὗτος δὲ τηνικαῦτα Ἀθηναίοις ἐτύγχανεν ἱππαρχῶν: τρίτα δὲ ἀνδραγαθίας Ποδάρῃ νέμουσιν.886
Demnach sei Podares als mantineischer aristos der Schlacht auf der Agora bestattet worden und habe dort in der Folge kultische Verehrung erfahren. Tatsächlich entdeckten die frühen französischen Ausgräber der Stadt eine ganze Reihe kleiner bis mittelgroßer Tempel und Schreine direkt vor dem Theater auf der Agora, von denen sie einen der kleineren als ‚Podareion‘ identifizierten.887 Die ca. 6 x 12m große Struktur, von der heute wenig mehr als die Fundamente er886 887
Paus. 8.9.9f. Siehe hierzu Fougères 1890, 255f. und etwas ausführlicher 1898, 190–193. Seit dieser ersten Veröffentlichung wurden die Reste wohl nicht noch einmal untersucht. Bei einem Besuch der Stätte im September 2015 ließen sich keine weiteren Beobachtungen anfügen, zumal viele der von Fougères beschriebenen Blöcke über die Jahre abtransportiert worden sein müssen. Insgesamt lässt sich anhand
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halten sind, liegt direkt vor der nordöstlichen Flanke des Theaters und weist Spuren von zwei, möglicherweise auch drei, Bauphasen auf. Die älteste Fundamentschicht aus Bruchsteinmauerwerk wurde dabei vom Ausgräber als eine „construction hellénique“ bezeichnet und ist wohl in hellenistische oder klassische Zeit zu datieren. Er geht davon aus, dass das langrechteckige Gebäude aus einer Cella und einem Pronaos bestand und in der Front durch eine Säulenstellung geschmückt wurde. Konkrete Belege in Form von Baugliedern nennt Fougères allerdings nicht. Direkt vor dem Fundament hätten sich zudem zwei Steine befunden, die Einlassungen für eine Stele aufwiesen, die sich jedoch nicht erhalten hatte.888 Identifiziert wird die Anlage durch zwei Dachziegel, die in ihrer unmittelbaren Nähe gefunden wurden und die Inschriften „ΠΟΔΑΡΙ“ bzw. „ΠΟΔΑΡΕΟΣ ΔΑ[μόσιος?]“889 trugen. Der Befund deckt sich also mit der Beschreibung des Pausanias, und auch die von diesem erwähnte Nachnutzung in römischer Zeit wird durch die archäologische Evidenz in Form dreier Grablegen aus dieser Epoche bestätigt.890 Allem Anschein nach entschlossen sich die Mantineier 362 v.Chr. also tatsächlich dazu, ihren gefallenen Mitbürger zu ehren, indem sie ihn in einem monumentalen Bau auf der Agora bestatteten und ihn vermutlich auch mit Ritualen einer nicht näher zu fassenden Form bedachten. Freilich kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden, wann genau das Podareion errichtet wurde, doch macht die grobe Einordnung der archäologischen Überreste in Kombination mit einigen historischen Überlegungen eine Datierung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Schlacht oder doch zumindest kurz darauf durchaus wahrscheinlich. Ich werde diese Überlegungen, die eng mit der Frage zusammenhängen, warum hier ein einzelner Gefallener kommemoriert wurde und nicht das Kollektiv der Gefallenen, sogleich weiter ausführen. Zuvor gilt es jedoch, das Monument für Gryllos, den Sohn des Xenophon, zu besprechen. Pausanias berichtet an zwei Stellen seiner Beschreibung von Mantineia von Monumenten für den Athener. So hätten die Mantineier Gryllos auf Staatskosten bestattet und dort, wo er gefallen war, eine Stele mit seinem Abbild aufgestellt: φαίνονται δὲ οἱ Μαντινεῖς Γρύλον μὲν δημοσίᾳ τε θάψαντες καὶ ἔνθα ἔπεσεν ἀναθέντες εἰκόνα ἐπὶ στήλης ὡς ἀνδρὸς ἀρίστου τῶν συμμάχων:891
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des knappen Berichtes aber auch nur schwer nachvollziehen, wie viel von dem Gebäude Ende des 19. Jh. noch fassbar war. Zum Befund auf der Agora siehe auch Jost 1985, 130–132; Marantou 2009, 441f.; Moggi/Osanna 2003, 340f. Vor Ort ließen sich weder diese beiden Steine noch Reste irgendeiner architektonischen Ordnung finden. In Anbetracht des abgeräumten Zustandes des Areals darf dies jedoch nicht weiter verwundern. Das zweite Fragment ist in IG V.2 321 Nr. 3 veröffentlicht. Siehe v.a. Fougères 1898, 192f. In noch späterer Zeit wurde der Schrein wohl in eine kleine Kapelle umgebaut, wie v.a. Kleinfunde bezeugen. Paus. 8.11.6.
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In Mantineia selbst beschreibt er eine Stele, die Gryllos als Reiter gezeigt habe und nahe des Theaters auf dem Grab der Antinoe, das auch als „Ἑστία κοινή“ bezeichnet wurde, aufgestellt gewesen sei: τοῦ θεάτρου δὲ οὐ πόρρω μνήματα προήκοντά ἐστιν ἐς δόξαν, τὸ μὲν Ἑστία καλουμένη κοινή, περιφερὲς σχῆμα ἔχουσα: Ἀντινόην δὲ αὐτόθι ἐλέγετο κεῖσθαι τὴν Κηφέως: τῷ δὲ στήλη τε ἐφέστηκε καὶ ἀνὴρ ἱππεὺς ἐπειργασμένος ἐστὶν ἐπὶ τῇ στήλῃ, Γρύλος ὁ Ξενοφῶντος.892
Gleich mehrere Fragen drängen sich beim Lesen dieser Beschreibungen auf. Zunächst ist danach zu fragen, ob für Gryllos tatsächlich gleich zwei Monumente errichtet wurden, oder ob Pausanias sich hier nur unklar ausdrückte oder auch einer Fehlinformation unterlag. Immerhin wäre eine solche ‚doppelte‘ Ehrung, nicht zuletzt für einen nicht-Bürger äußerst bemerkenswert. Bedauerlicherweise haben sich von beiden Monumenten für Gryllos keine materiellen Überreste erhalten. Zwar wird ein Rundmonument in der nordöstlichen Ecke der Agora Mantineias, direkt gegenüber dem Podareion als die von Pausanias beschriebene „Ἑστία κοινή“ identifiziert. Jedoch ist die Zuweisung ausgesprochen unsicher und überdies fanden sich keinerlei Spuren einer möglichen Reliefstele des Gryllos.893 Wieder einmal sind wir also bei unserer Untersuchung vollständig auf die Angaben des Pausanias angewiesen. Bezüglich dieser fällt immerhin auf, dass der Perieget sehr bedacht darauf ist, jeweils den genauen Standort der Monumente anzugeben. Möglicherweise kann diese Präzision, die Pausanias sonst häufig vermissen lässt, als Hinweis dafür genommen werden, dass dem Autor sehr wohl bewusst war, dass die Anzahl von zwei Monumenten ungewöhnlich erscheinen musste und dass er sich gerade deswegen um genaue Angaben bemühte. So steht etwa in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Zahl der Monumente auch zur Debatte, ob die Mantineier Gryllos tatsächlich auch vor Ort bestatteten, wie Pausanias behauptet. Nach athenischem patrios nomos hätte er nämlich zusammen mit den anderen attischen Gefallenen kremiert und nach Athen zurückgeführt werden müssen. Zwar sind durchaus Situationen bekannt, in denen eine Rückführung attischer Gefallener ausblieb, doch auch in diesen Fällen sprechen alle Hinweise stark dafür, dass die kollektive Natur des Begräbnisses beibehalten wurde.894 Wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Athener aufgrund 892 893
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Paus. 8.9.5. Siehe Fougères 1890, 261. Der Vorschlag einer Identifikation als Ἑστία κοινή beruht lediglich auf der Information bei Pausanias, dass dieses Monument eine runde Form gehabt habe. Beispiele für eine Bestattung fern der Heimat wären etwa die Sizilienexpedition oder auch die Schlacht von Ephesos 409 v.Chr. Eine mögliche Ausnahme von der kollektiven Beisetzung bietet Hdt. 9.105. Er berichtet von Hermolykos, einem mehrfachen Sieger im Pankration, der vor 470 v.Chr. in einer
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der enormen Ehrung eines ihrer Bürger hier einer Ausnahme von ihrer Praxis zustimmten, ist m.E. plausibler, dass Pausanias hier einer Fehlinformation aufsaß oder selbst falsche Schlüsse zog. Vermutlich handelte es sich bei der Stele auf dem Schlachtfeld um ein Kenotaph oder aber lediglich um ein Ehrenmonument für Gryllos, das die polis von Mantineia finanziert hatte, nicht aber um das tatsächliche Grab des Verstorbenen.895 Nicht zuletzt ist ein Irrtum seitens Pausanias’ nicht auszuschließen, weil offensichtlich mehrere konkurrierende Versionen zum Ablauf der Schlacht des Jahres 362 v.Chr. und zur Leistung des Gryllos existierten. Pausanias selbst berichtet, dass in Mantineia eine Variante der Geschichte kursierte, nach der Epameinondas in der Schlacht von einem Mantineier namens Machairion tödlich verwundet worden sei, während man sich in Sparta erzählt habe, dass diese Tat einem Spartaner dieses Namens zuzusprechen sei. Hingegen sei es laut den Athenern und den Thebanern Gryllos gewesen, der Epameinondas zu Fall gebracht hätte – ein Befund, der eben auch durch die Monumente in bzw. bei Mantineia bestätigt werde.896 Die Problematik wird weiter dadurch verkompliziert, dass kein anderer antiker Autor – auch nicht Gryllos’ Vater Xenophon – berichtet, dass Epameinondas durch die Hand des Atheners gefallen sei.897 Zwar betonen fast alle
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Schlacht gegen die Karystier gefallen war und bei Geraistos bestattet wurde. Arrington 2015, 48f. listet dieses Begräbnis als Ausnahme von der Regel auf. Gleichzeitig erwägt er, dass die Familie des Hermolykos hier möglicherweise ein Kenotaph errichtete – eine Praxis, die durch den patrios nomos nicht ausgeschlossen wurde und parallel existierte. In jedem Fall aber war ein solches Vorgehen von der polis üblicherweise nicht vorgesehen. Auch der Ausdruck „φαίνονται“ in seiner Beschreibung des Monumentes (Paus. 8.11.6) mag ein Hinweis darauf sein, dass er hier lediglich seine eigene Schlussfolgerung darlegt. Die Frage nach der Bestattung des Gryllos wird in der Forschung meist überhaupt nicht problematisiert. Fougères 1898, 193f. merkt nur an, dass es sich bei dem Monument auf der Agora um eine Stele, nicht aber um ein Grab gehandelt habe. Marantou 2009, 442 bezeichnet das Monument auf der Agora hingegen als Grab, was aber wohl eher als Unachtsamkeit der Autorin, denn als Meinungsäußerung aufzufassen sein dürfte. Weder deutet nämlich Pausanias an, dass Gryllos auf der Agora bestattet worden sei, noch deckt sich diese Interpretation mit den hier getätigten Überlegungen. Vgl. Paus. 8.11.5f. Xenophon (Hel. 7.5.15–17 zum Reitergefecht und im Folgenden bis 7.5.25 zur eigentlichen Schlacht) berichtet zwar von dem Reitergefecht und hebt die Tapferkeit der athenischen Reiter hervor, nennt aber nicht den Namen seines Sohnes. Insgesamt handelt er den Tod des Epameinondas lediglich mit einem Nebensatz ab, was wiederum in sich auffällig anmutet (siehe hierzu Shrimpton 1971a, 311f.; Humble 2008, 350). Diog. Laert 2.54f. überliefert, dass Aristoteles von einer Vielzahl enkomia auf Gryllos berichte und dass sowohl Isokrates als auch Aristoteles selbst solche Lobreden verfasst hätten. Jedoch wird hier Epameinondas mit keinem Wort erwähnt und der Autor erweckt eher den Eindruck, dass die Lobreden aus Respekt und Bewunderung für Gryllos’ Vater verfasst wurden. Siehe auch den ähnlichen Bericht bei Plut. mor. 118F–119A. Schwierig gestaltet sich auch Pausanias’ Zeugnis (1.3.4 u. 9.15.5) zum Bild in der Stoa des Zeus Eleutherios in Athen, das das Reitergefecht vor Mantineia zeigte. Während er nämlich behauptet, hier seien sowohl Epameinondas als auch Gryllos kenntlich dargestellt, nennt Plut. mor. 346B–F den Sohn des Xenophon weder in der Beschreibung des Bildes noch in jener
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antiken Berichte der Schlacht die Tapferkeit der attischen Reiter, zu denen eben auch Gryllos zählte, doch wird entweder nicht spezifiziert, wer Epameinondas tödlich verwundete oder aber diese Tat wird den Spartanern zugeschrieben, ohne dass hier der Name eines bestimmten Kriegers genannt würde.898 Am wahrscheinlichsten ist gar, dass Gryllos bereits in dem Reitergefecht vor der eigentlichen Schlacht fiel und sich somit nicht einmal in demselben Gefecht befand wie der Feldherr der Thebaner.899 Die Rolle des Atheners in der Schlacht bleibt also unklar. Als Fakt muss aber wohl angesehen werden, dass zur Zeit des Pausanias auf der Agora von Mantineia und auf dem Schlachtfeld vor der Stadt Monumente für Gryllos standen und dass dem Athener die Tötung des Epameinondas zugeschrieben wurde, wenn auch dieses Detail mit großer Sicherheit einer späteren Überformung der Erzählungen von der Schlacht geschuldet ist.900 Zwei Fragen müssen wohl beantwortet werden, um den Befund besser verstehen zu können. Erstens: Wurden die Monumente (bzw. das Monument) für Gryllos tatsächlich direkt nach der Schlacht von den Mantineiern errichtet oder erst zu einem späteren Zeitpunkt? Und Zweitens: Warum wurde Gryllos auf diese Art von den Mantineiern geehrt? Wurde ihm tatsächlich die Tötung des Epameinondas zugeschrieben oder gab es einen anderen Grund? Sollte es den Mantineiern nur darum gegangen sein, ihre Verbindung zu den Athenern zu festigen? Warum errichteten sie dann kein Denkmal für alle gefallenen Athener, sondern nur für Gryllos? Essentiell für die Beantwortung dieser Fragen ist m.E. die Überlegung, dass zumindest jenes Monument für Gryllos, das auf der Agora errichtet wurde, eng verknüpft war mit jenem für Podares. Immerhin waren beide Männer in derselben Schlacht gefallen, waren dabei – insofern wir uns in diesem Punkt auf Pausanias’ Bericht verlassen können – jeweils zum aristos ihrer polis erklärt worden und wurden schließlich durch Monumente auf der Agora von Mantineia
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des Gefechtes. Zum Bild siehe Humble 2008, passim. Auch Fougères 1898, 590 meldet gewisse Zweifel an der Historizität der Tat des Gryllos an. Polyb. 9.8.6–13 berichtet nur knapp vom gescheiterten Versuch, Mantineia im Überraschungsangriff zu nehmen, und von der Rolle der Athener bei seiner Verteidigung; ein Bericht vom Tod des Epameinondas ist hingegen aus seiner Feder nicht erhalten. Bei 12.25.f spricht er kurz vom Ende des Epameinondas, nennt jedoch keine genaueren Umstände. Diodor erwähnt die herausragende Leistung der athenischen Reiterei, nennt jedoch in seiner Version vom Tod des Epameinondas keinen individuellen Krieger, der den thebanischen Feldherrn tödlich verwundet hätte. Gemäß seiner Erzählung, laut der die Boioter vor allem mit den Spartanern rangen, müsste der Verantwortliche jedoch aus den Reihen letzterer gestammt haben (siehe Diod. Sic. 15.84–87; zu den attischen Reitern 15.85.4–8; zur Verwundung des Epameinondas 15.87.1). Auch gemäß den Berichten des Plutarch (mor. 214D) und des Cornelius Nepos (15.9) war es ein Spartaner, der Epameinondas die tödliche Wunde zufügte. Plut. Ages. 35.1 benennt den Spartaner gar als einen gewissen Antikrates. Zu den unterschiedlichen Versionen siehe auch Humble 2008, 353–356. Vgl. hierzu Shrimpton 1971a, 312f. Anm. 16 sowie Humble 2008, 350. Siehe Humble 2008, passim.
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geehrt. Sollten diese Parallelen aber noch nicht ausreichen, um eine Verbindung zwischen den Ehrungen der beiden Krieger nahezulegen, findet sich eine weitere signifikante Überschneidung in den genauen Kontexten, in die die Denkmäler eingebettet wurden. Das Heroon des Podares fügte sich an der Westseite der Agora in eine Reihe ein mit den Tempeln für Hera und Athena Alea sowie dem Grab und Altar des Arkas, des eponymen Heroen und mythischen Vorvaters der Arkader. Zudem stand wohl in unmittelbarer Nähe des Podareion eine Statue der Tochter des Arkas, Diomeneia.901 Das Relief für Gryllos wiederum wurde auf dem vermeintlichen Grab der Antinoe, der Tochter des Kepheus und myhtischen Gründerin der polis, errichtet. Ihr Monument stand sinnbildlich für den synoikismos der fünf mantineischen komai, was sich auch in der Benennung als Ἑστία κοινή ausdrückte.902 Beide Krieger, sowohl der Mitbürger Podares als auch der Athener Gryllos, wurden also auf das Engste mit den mythischen Gründerfiguren bzw. den zentralen Gottheiten der polis verknüpft und somit auch in die Geschichte des Gemeinwesens eingeschrieben.903 Akzeptiert man sowohl die Verknüpfung der beiden Monumente miteinander als auch ihre Einbindung in die Geschichte der polis, schließt sich konsequenterweise die Frage an, in welchem historischen Kontext die Paarung dieser beiden Denkmäler am plausibelsten erscheint. Ich schlage vor, dass sich hierbei tatsächlich die Monate und Jahre direkt nach der Schlacht anbieten und will diesbezüglich zwei Überlegungen geltend machen. Erstens scheint mir eine Parallele zu einer ganzen Reihe anderer Fälle von staatlicher Gefallenenkommemoration im Angesicht einer signifikanten Bedrohung oder kurz nach deren Überwindung gegeben. So war die polis von Mantineia erst wenige Jahre vor der Schlacht des Jahres 362 v.Chr., nach der Überwindung des durch die Spartaner erzwungenen dioikismos neu gegründet worden, und obwohl sie in den zwischenliegenden Jahren durchaus bereits wieder militärische und außenpolitische Aktivität demonstriert hatte, mussten die Spuren der Trennung doch noch sehr präsent sein. Überdies stellte der thebanische Angriff auf die Stadt die erste Bewährungsprobe des wiedergegründeten Gemeinwesens im Angesicht einer akuten und ernsthaften auswärtigen Bedrohung – zumal durch den großen thebanischen Feldherrn Epameinondas – dar, welche dieses mit Hilfe der Athener und seiner anderen Verbündeten meisterte.904 Es wäre also durchaus vorstellbar, dass Gryllos und Podares hier stellvertretend für die Gesamtheit der Kämpfer als Retter (sote901
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Siehe die Beschreibung der Westseite der Agora durch Pausanias (8.9.2–10) sowie die abschließenden Berichte zu den Grabungen bei Fougères 1898, 186–195. Vgl. auch Jost 1985, 127–132. Zur ansonsten unbekannten Figur der Diomeneia siehe Fougères 1898, 318. Siehe Paus. 8.8.4 und 8.9.5. Zur Figur und zum Kult der Antinoe siehe Fougères 1898, 314–316 sowie 193f. zum archäologischen Befund. Vgl. überdies Marantou 2009, 241f. Ähnlich auch Moggi/Osanna 2003, 340. Zur Geschichte Mantineias zwischen dem dioikismos 386/5 v.Chr. und der Schlacht des Jahres 362 v.Chr. vgl. Anm. 884.
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res) zelebriert und in die Reihe der Gründungsheroen (ktistai) der Stadt eingeordnet wurden. Gerade die Figur des Podares hätte dabei als Kristallisationspunkt der Polisidentität fungieren und ihre Handlungsstärke und ihren Geltungsanspruch ausgedrückt haben können. Immerhin dürften die Mantineier einer ähnlichen Überlegung gefolgt sein, als sie vermutlich ein gutes halbes Jahrhundert zuvor die Gebeine des Arkas von Mainalia nach Mantineia überführten, um so ihren Anspruch auf die regionale Hegemonie zu untermauern.905 Podares wäre gleichsam zum ersten Heros der wiedergegründeten polis geworden. Zweitens wäre es gerade in der Zeit nach der Schlacht für die Mantineier von Bedeutung gewesen, sich der weiteren Unterstützung durch die Athener zu versichern. Den beteiligten poleis war nämlich keineswegs unmittelbar ersichtlich, dass die Bedrohung der Peloponnes durch die Thebaner mit dem Tod des Epameinondas gebannt war.906 Da zudem die Beziehungen zu ihren Nachbarn nach der Spaltung des Arkadischen Bundes von massiven Spannungen durchsetzt waren,907 mussten die Mantineier ein besonderes Interesse daran gehabt haben, die Athener als Verbündete zu behalten. Eine Ehrbezeugung wie jene für Gryllos mag den Verantwortlichen hierbei als angemessenes Mittel erschienen sein, um die guten Beziehungen zu den Athenern 905
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Paus. 8.9.3f. berichtet von der Rückführung der Gebeine des Arkas, die auf Befehl eines delphischen Orakelspruches von den Mantineiern unternommen wurde. Er erwähnt nicht, wann die Translation stattfand, jedoch wird in der Forschung fast einstimmig und überzeugend dafür argumentiert, dass sie in die Jahre um 421–418 v.Chr. fallen dürfte, als Mantineia deutlich erstarkte, sich als regionale Führungsmacht etablierte und dabei auch zunehmend in Konflikt mit Tegea geriet. Die Rückführung der Gebeine des Arkas habe in dieser Situation als Ausdruck und Manifestation des mantineischen Hegemonieanspruches in Arkadien dienen sollen. So bereits Fougères 1898, 316, der die Bedeutung der Translation wie folgt zusammenfasst: „la possession de ses restes (les restes d’Arkas – C.S.) devait être pour la cité le plus glorieux des talismans et un tritre à exercer l’hégémonie panarcadienne“. Seine Interpretation teilen u.a. Parke/Wormell 1956, 71f. Nr. 163 (Kommentar zum Orakel); Jost 1985, 127f.; McCauley 1993, 185–187; Burelli Bergese 1995, 25; Heine Nielsen 2002, 403f.; Moggi 2001, 332f.; 337f., wiederholt in Moggi/Osanna 2003, 335. Zu den historischen Umständen und der lokalen Symmachie Mantineias in dieser Zeit siehe Heine Nielsen 2002, 367–372 sowie neuerdings Capreedy 2014, passim. Auf der Hand liegen die Parallelen dieser Deutung mit der Translation der Gebeine des Theseus in Athen und des Orestes in Sparta (so auch Parke/Wormell 1956, 71f. Nr. 163 und Jost 1985, 536). Möglicherweise stehen auch einige mantineische Weihungen in Delphi, von denen Thuk. 4.134 für das Jahr 423 v.Chr. berichtet, in Zusammenhang mit der Translation. Fougères 1898, 205–208 und Heine Nielsen 2002, 403f. weisen allerdings noch einmal explizit darauf hin, dass eine spätere Datierung der Überführung nicht auszuschließen ist. Heine Nielsen (ebd. Anm. 460) erwägt gar auch eine Datierung nach der zweiten Schlacht von Mantineia und der Spaltung des Bundes, die freilich für die hiesige Interpretation sehr attraktiv wäre, die aber auf einer noch unsichereren Grundlage fußt als die Datierung in die Zeit des Peloponnesischen Krieges. Sie soll daher nicht weiter verfolgt werden. Vgl. hierzu Roy 1994, 207f.; Humble 2008, 351f. Am deutlichsten drückt sich die Unsicherheit und das Misstrauen gegenüber Theben wohl in dem Defensivbündis aus, dass die Mantineier noch 362/1 v.Chr. mit den Achaiern, Elis, Phlious und den Athenern schlossen (Tod 1948, 134–138 Nr. 144). Zur Spaltung des Bundes siehe Larsen 1968, 190–193; Heine Nielsen 2002, 490–493.
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II. Die Peloponnes
weiter zu zementieren. Auch könnte in diesem Kontext das Monument für Podares, das in unmittelbarer Nähe des Heroon für Arkas und der Statue für Diomeneia errichtet wurde, als Aktualisierung des Führungsanspruches der Mantineier in Arkadien gesehen werden. Aufgrund dieser Überlegungen ist es am wahrscheinlichsten, dass die Monumente für Podares und Gryllos in relativ kurzer Folge auf die Schlacht errichtet wurden. Zwar lässt sich ein späteres Datum nicht ausschließen, doch findet sich wohl kaum ein späterer Zeitraum, in dem die politischen Umstände die Entscheidung zu einem solchen Duett staatlicher Kommemoration mit den beschriebenen Anknüpfungspunkten stärker begünstigt hätten. Während nämlich für die Athener und die nachfolgenden Historiker die Schlacht des Jahres 362 v.Chr. erst später – als letzte Schlacht zwischen freien Griechen – größere Bedeutung angenommen haben mag,908 hatte sie für die Mantineier selbst ganz unmittelbare Relevanz. Aus diesen Überlegungen erklärt sich allerdings noch nicht, warum die Mantineier sich dazu entschlossen, zwei Individuen als Träger der Erinnerung an die Schlacht auszuwählen, anstatt eine kollektive Kommemorationsform zu wählen, die doch scheinbar besser zu ihrem eigenen demokratischen System gepasst und zudem Rücksicht auf die Praktiken der verbündeten Athener genommen hätte. Immerhin zeigen die besprochenen Gefallenenlisten doch, dass Formen des kollektiven Gefallenengedenkens in Mantineia nicht nur denkbar waren, sondern zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt auch praktiziert wurden. Zwei mögliche Erklärungen bieten sich an, warum in diesem Fall dennoch Einzelpersonen für die Kommemoration ausgewählt wurden. Eine Möglichkeit besteht darin, die beiden Monumente für Podares und Gryllos in Verbindung zu einem weiteren Denkmal zu setzen und sie als Gegenprogramm zu dem eindrucksvollen Grabmal des Epameinondas zu sehen, das von den Thebanern auf dem Schlachtfeld vor der Stadt errichtet worden war.909 Das grundlegende Problem dieser These besteht darin, dass sie voraussetzt, das Grabmal für Epameinondas müsse in seiner monumentalen Form vor den Monumenten für Podares und Gryllos existiert haben, die Quellen uns jedoch nicht darüber informieren, wann genau es diese Form erhielt. Hier bliebe etwa zu fragen, ob die Mantineier ein solches Grabmonument vor ihrer Stadt direkt nach der Schlacht überhaupt zugelassen hätten. Wie ich allerdings im Kapitel zum thebanischen Gefallenengedenken dargelegt habe, ist eine Datierung in zeitliche Nähe zur Schlacht von Mantineia oder doch zumindest in das zweite Viertel des 4. Jh. v.Chr. durchaus wahrscheinlich.910 Möglicherweise waren die Mantineier der 908 909 910
Siehe hierzu Humble 2008, insb. 365f. Siehe Paus. 8.11.8. S.o. S. 130f. Das Grabmal des Epameinondas wurde dabei in Zusammenhang mit jenem für Pelopidas in Thessalien und dem privaten Grabepigramm für den Thebaner Euanoridas besprochen. Als spätester Zeitpunkt für die Monumentalisierung des Grabes vor Mantineia muss die Schlacht von Chaironeia angenommen werden, da hiernach das Gedenken an diese Schlacht und die Zerstörung Thebens durch Alexander vermutlich Vorrang einnahmen. Siehe hierzu ebenfalls oben 2. I. Theben.
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Errichtung eines monumentalen Grabmals für den berühmten thebanischen Feldherrn auch gar nicht abgeneigt, sodass sie die Thebaner schon früh hiermit gewähren ließen. Zum einen hätte dies eine Entspannung der Beziehung zu den Boiotern bewirken können oder doch zumindest neue Spannungen vermieden. Zum anderen hätte ein auffälliges Grabmal für Epameinondas auch als Denkmal des mantineischen Erfolges in dieser Schlacht gedeutet werden können, zumal wenn es von den Monumenten für Gryllos und Podares entsprechend der Vorstellungen der Mantineier eingeordnet und konnotiert wurde. Dass die Schlacht des Jahres 362 v.Chr. dabei keineswegs mit einem eindeutigen Sieg der Mantineier und Athener geendet hatte, spricht dabei keineswegs gegen eine solche Ausdeutung durch die Mantineier, die schließlich erfolgreich ihre polis verteidigt hatten. Vielmehr hätte das Grabmal des Epameinondas allen Betrachtern vor Augen geführt, dass nicht einmal der große thebanische General Mantineia zu Fall hatte bringen können, während die Denkmäler für Podares und Gryllos stellvertretend als Gründe des Scheiterns der Thebaner einstehen konnten. In dieser Lesart wären die beiden mantineischen Monumente vielmehr als komplementäre Ergänzung des Grabmals für Epameinondas zu verstehen, denn als Gegenprogramm hierzu. Es bliebe allerdings zu fragen, ob nicht derselbe Effekt auch mit einem kollektiven Gefallenenmonument hätte erzielt werden können. Die andere mögliche Erklärung des Verzichts auf kollektive Monumente besteht darin, dass diese Form der Kommemoration den Mantineiern für ihre Zwecke nicht geeignet schien. Zwar hätte ein Monument für alle mantineischen Gefallenen sehr anschaulich die Anstrengungen der Gemeinschaft der Mantineier bei der Verteidigung der Stadt zum Ausdruck gebracht. Doch mögen sich Einzelpersonen in den Augen der Verantwortlichen besser dazu geeignet haben, in das Ensemble der mythologischen Gründungsheroen eingeschrieben zu werden. Aus dem oben Dargelegten wird deutlich, dass die Einbindung des Podares wie auch des Gryllos in die Geschichte des Gemeinwesens offenbar ein zentrales Anliegen der damaligen Entscheidungsträger war. Es scheint durchaus nachvollziehbar, dass die Herausstellung von ein bzw. zwei Einzelpersonen, die als konkrete, namentlich benenn- und erinnerbare Kristallisationspunkte des Gedenkens fungieren konnten und sich somit zudem besser in die Schar der mantineischen Gründungsheroen eingliedern ließen, attraktiver gewirkt haben mag, als der Versuch, dasselbe mit einer ganzen Gruppe weitgehend unbekannter Bürger zu erreichen. Die ‚Erinnerbarkeit‘ von Einzelpersonen war schlichtweg höher. Möglicherweise war auch von Belang, dass Gryllos als Sohn des Xenophon bereits kurz nach 362 v.Chr. eine gewisse Bekanntheit als prominentes Opfer der Schlacht erlangt hatte,911 an welche die Mantineier anknüpfen konnten. Podares hätte in diesem Fall als aristos der Mantineier das Gedenken an die Schlacht um die mantineische Seite ergänzt.
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Vgl. Diog. Laert 2.54f. und hierzu Humble 2008, 353 sowie oben Anm. 897.
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II. Die Peloponnes
Beide Erklärungsansätze sind zwar plausibel, beanspruchen aber keinesfalls alleinige oder zweifelsfreie Gültigkeit. Schon alleine die Unsicherheiten bezüglich der Datierung der Monumente verbieten jeglichen Versuch eines abschließenden Urteils. Überdies schließen sie sich keineswegs gegenseitig aus, sodass auch eine Kombination der genannten Faktoren die Entscheidung zur Kommemoration der beiden gefallenen Krieger bedingt haben könnte. Auch können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob es nicht auch zu einem kollektiven Gedenken an die Gefallenen kam. Möglicherweise wurden die Denkmäler für Gryllos und Podares zusätzlich zu einem kollektiven Gefallenenmonument errichtet, das schlichtweg nicht überliefert ist. Weitere Zeugnisse staatlichen Gefallenengedenkens haben sich in Mantineia nicht erhalten, sodass wir auf diese wenigen Beispiele beschränkt sind, wenn wir versuchen wollen, ein Fazit zum Umgang der Mantineier mit ihren Gefallenen zu ziehen. In Anbetracht dieses sehr spärlichen und disparaten Quellenmaterials ist es freilich nur möglich, einige wenige und stark hypothetische Thesen zu formulieren. Zunächst einmal fällt auf, dass die ersten Zeugnisse staatlicher Gefallenenkommemoration sich für Mantineia erst recht spät finden lassen. Obwohl die Mantineier im 5. Jh. v.Chr. an zahlreichen militärischen Konflikten beteiligt waren,912 finden sich doch keine Anzeichen dafür, dass die polis ihrer Gefallenen in dieser Zeit in einer besonderen Form gedachte. Unklar bleibt, ob die Mantineier, die 480 v.Chr. 500 Hopliten an die Thermopylen entsandten,913 hier Opfer zu verzeichnen hatten, die möglicherweise in die gemeinsamen griechischen Monumente eingeschlossen wurden.914 In Anbetracht des Fehlens der Mantineier auf der Schlangensäule muss dies allerdings fraglich bleiben.915 Sollten die Mantineier das staatliche Gefallenengedenken also tatsächlich erst gegen Ende des 5. oder Anfang des 4. Jh. v.Chr. aufgegriffen haben, bietet sich an, dies mit dem demokratischen Umschwung in Verbindung zu bringen, der sich in den 420er Jahren v.Chr. vollzogen hatte.916 Obwohl dies eine naheliegende und plausible Erklärung wäre, könnten aber auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Hatten die Mantineier nämlich 912
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So kämpften sie unter anderem an der Seite Spartas ca. 470 v.Chr. gegen die anderen Arkader (Hdt. 9.35) und unterstützten die Spartaner auch beim Aufstand der Messenier (Xen. Hel. 5.2.3). Vgl. Hdt. 7.202. So etwa in das Monument für die gefallenen Peloponnesier, von dem Hdt. 7.228 berichtet. Möglicherweise ist ihre Abwesenheit auf dem Monument durch ihr Fehlen bei der Schlacht von Plataiai zu erklären. Zu Plataiai siehe Hdt. 9.77. Zur Schlangensäule Meiggs/Lewis 1989, 57–60 Nr. 27 sowie Amit 1973, 131f. Laut Herodots Bericht kamen die Mantineier zu spät nach Plataiai und bestraften hierfür ihre Heeresführer, indem sie diese exilierten. Offenbar suchten sie ihr Fernbleiben von der Schlacht hiermit gegenüber den anderen Griechen zu rechtfertigen. Siehe hierzu auch unten S. 364. S. o. Anm. 874.
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bis zum Peloponnesischen Krieg v.a. auf Initiative oder zumindest an der Seite der Spartaner agiert, wurden sie ab dem Ende des Archidamischen Krieges nun vermehrt im eigenen Interesse militärisch tätig und kämpften u.a. auch für ihre eigene Selbstbestimmung.917 Die deutlich veränderte Situation hinsichtlich der politischen Verantwortlichkeit für die militärischen Einsätze, aber auch bezüglich ihrer Zielsetzung, die durchaus auch mit dem demokratischen Umschwung gekoppelt gewesen sein mag, könnte ebenso zu einem veränderten Umgang mit den eigenen Gefallenen geführt haben. Nicht bestimmt werden kann anhand der geringen Zahl überlieferter Beispiele, ob das staatliche, kollektive Gefallenengedenken jemals fest in Mantineia etabliert wurde, wie dies in Athen und möglicherweise auch in anderen poleis der Fall war. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gefallenenlisten legen aber nahe, dass – trotz einiger Unterschiede (Patronyme) – eine mehr oder weniger feste Vorstellung davon bestand, wie ein kollektives Gefallenenmonument aussehen und funktionieren sollte. Auch fällt auf, dass beide Listen in derselben Nekropole entlang der Straße gefunden wurden, die in Richtung Tegea und vorbei am Heiligtum des Poseidon Hippios führte. Zwar lässt sich bei der Zahl von nur zwei Belegen nicht schlussfolgern, dass in Mantineia ein Staatsfriedhof nach dem Athener Muster existiert habe, wie William K. Pritchett dies vorschlägt.918 Dennoch sollte der Umstand festgehalten werden, dass die beiden Monumente in demselben Areal gefunden wurden und dass dieses Areal zudem nahe dem Hauptheiligtum der polis für Poseidon Hippios lag, der zumindest laut Pausanias auch als Retter und Unterstützer der Mantineier im Krieg verehrt wurde.919 Auch wenn diese Verbindung wohl nicht überstrapaziert werden sollte,920 dürfen wir den Mantineiern in Anbetracht der obigen Beobach-
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Siehe Heine Nielsen 2002, 521–523 sowie Roy 1972, 336–339 mit Quellenangaben und weiterer Literatur. Pritchett 1985, 144: „It seems likely that we have at Mantineia a public military cemetery comparable to the Demosion Sema at Athens […]“. Vielleicht ließe sich etwas selbstbewusster argumentieren, wenn eine weitere Inschrift, die von Pritchett nahe der von ihm entdeckten Gefallenenliste gefunden wurde und eine Reihe von Namen nennt, ebenfalls einem Grab für Kriegstote zugeordnet werden könnte. Jedoch ist das Stück schlichtweg zu fragmentarisch erhalten, um hier irgendwelche Aussagen treffen zu können. Zudem unterscheidet es sich stark in der Form von den beiden Gefallenenlisten. So sind die Namen nicht in Spalten aufgelistet, es finden sich keine Phylenüberschriften und auch die Form des Steines selbst weicht stark ab. Vgl. Prittchet 1969, 53; Dubois 1986, Bd. 2, 129f. Ma 5. In SEG 36.378 wird erwogen, ob es sich möglicherweise um einen Architrav handelte. Aufgrund dieser Unsicherheiten wird der Stein dann ganz folgerichtig auch nicht in Pritchett 1985 aufgeführt. Siehe Paus. 8.10.5–9 sowie allgemein zum Kult und seiner Bedeutung für die polis Jost 1985, 288–292 (insb. 290f. zum Aspekt des Beschützers und Retters); Fougères 1898, 225–238; Moggi/Osanna 2003, 341–344. Hodkinson/Hodkinson 1981, 295 etwa sind der Überzeugung, die Distanz der Gräber zum Heiligtum sei zu groß, um eine Bezugnahme realistisch erscheinen zu lassen. Allerdings entsprach die Distanz des Heiligtums in etwa der Distanz der Akademie in Athen vom Dipylon und dort wurden
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II. Die Peloponnes
tungen und Überlegungen zur Kommemoration des Podares und des Gryllos wohl durchaus ein gewisses Bewusstsein und eine Sensibilität für die topographische Platzierung und Einordnung solcher Monumente zusprechen. Dass sie damit nicht ganz alleine waren und dass die Ortswahl für die Gefallenengräber sehr wohl von Bedeutung war und auch selbst Bedeutung tragen konnte, hat erst kürzlich Nathan Arrington für den Falle Athens nochmals aufgezeigt.921 Es wäre also durchaus möglich, dass die Nähe der beiden kollektiven Gefallenenmonumente zu gerade diesem Heiligtum keineswegs Zufall war. Immerhin wurde auch das Gedenken an Podares und Gryllos mittels der Lage ihrer Monumente an zentrale Kulte der polis angeschlossen, wenn sich auch die Verbindung in ihrer Qualität völlig anders darstellte als bei den kollektiven Monumenten. Ohne dass sich genau feststellen lässt, ob in Mantineia eine feste Praxis staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens existierte, muss schließlich auch unklar bleiben, inwiefern die beiden individuellen Monumente des Jahres 362 v.Chr. mit einer solchen Praxis brachen oder diese vielleicht auch veränderten. Sicherlich stellten sie eine Ausnahme dar – schon der Bericht des Pausanias, der in Mantineia keine vergleichbaren Denkmäler für historische Personen erwähnt, legt dies nahe. Doch ist nicht nachvollziehbar, ob sie lediglich eine Ausnahme von einer Regel darstellten, ob eine solche Regel überhaupt existierte, oder ob sie gar möglicherweise den Endpunkt einer etablierten Praxis darstellten. In jedem Fall finden sich keine Zeugnisse mantineischen Gefallenengedenkens, die deutlich nach der Mitte des 4. Jh. v.Chr. datieren – ein Befund, der sich in vielen der untersuchten poleis ähnlich präsentiert und gegen Ende der Arbeit noch einmal ausführlich diskutiert wird.
Megalopolis Die frühesten und einzigen Belege staatlichen Gefallenengedenkens durch die polis von Megalopolis finden sich erst sehr spät in Form der bereits oben diskutierten Monumente und Rituale für die gefallenen Achaier der Schlacht am Lykeion aus dem Jahr 227 v.Chr. und für Philopoimen nach dessen Tod in messenischer Gefangenschaft im Jahre 183/2 v.Chr.922 Hinweise dafür, dass die Megalopolitaner auch im 4. Jh. v.Chr. oder im frühen Hellenismus ihrer Gefallenen in offizieller Form gedachten, finden sich nicht. Nun kann dieser Befund nicht wirklich überraschen, mag er doch einerseits schlichtweg der schlechten Quellenlage und vielleicht auch der
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erst jüngst wieder starke ideologische Verbindungen zwischen den Staatsgräbern und der Akademie postuliert. Siehe Arrington 2010b, insb. 525–528. Vgl. Arrington 2010b, passim. S.o. 2. II. Koinin der Achaier.
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Zerstörung der Stadt durch Kleomenes III. im Jahr 223/2 v.Chr. geschuldet sein,923 und ist andererseits das staatliche, kollektive Gefallenengedenken doch eben keineswegs als eine zwangsläufige oder selbstverständliche Praxis zu sehen, die sich in allen griechischen poleis entwickelt hätte. Dennoch scheint es mir angemessen, diesen Befund im Falle von Megalopolis noch einmal hervorzuheben, gerade weil es sich nicht um eine reguläre polis handelte, sondern um eine Neugründung des 4. Jh. v.Chr., deren Anfangsjahre überdies von tiefgreifenden Auseinandersetzungen und Dissens durchsetzt waren. So berichten sowohl Diodor als auch Pausanias davon, dass nicht alle der neuen Bürger der Stadt damit zufrieden waren, umgesiedelt zu werden und ihre Heimatpoleis hinter sich zu lassen. Die Details der Berichte unterscheiden sich. Während Diodor die Unruhen im Jahr 362/1 v.Chr. verortet und berichtet, dass erst ein militärisches Eingreifen der Thebaner die nicht näher benannten Aufständischen zur Ruhe brachte,924 berichtet Pausanias von den Unruhen direkt im Kontext des synoikismos, benennt die aufständischen Gruppen und macht die anderen Arkader für die Niederschlagung der Widerständler verantwortlich.925 Dennoch werden die grundlegende Problematik und ihre Konsequenz von beiden Autoren übereinstimmend sehr deutlich gemacht: Die Abtrünnigen wollten ihre jeweilige Heimatpolis – ihre πατρίς, wie beide Autoren explizieren926 – nicht einfach aufgeben und gegen eine neue polis tauschen, widersetzten sich daher und konnten erst unter Einsatz von Gewalt, der für einige der Aufständischen im Exil oder gar Tod endete, zur Einwilligung gezwungen werden. Diese Berichte werfen die Frage nach dem Identifikationspotential der neugegründeten Stadt auf und lassen fragen, ob die Bedingungen für das Entstehen staatlichen Gefallenengedenkens in Megalopolis im 4. und 3. Jh. v.Chr. überhaupt bereits gegeben waren. Schließlich hat die bisherige Untersuchung gezeigt, dass die Rückbindung des Gefallenengedenkens an die Polisidentität von zentraler Bedeutung für die Praxis war. Es bliebe zu fragen, ob solch eine Gedenkform auch ohne die Existenz einer starken gemeinschaftlichen Identität vorstellbar ist. Ich will an dieser Stelle der späteren Auswertung nicht zu weit vorausgreifen, möchte aber dennoch auf diese Frage hingewiesen haben, die wohl vor allem aus der komparatistischen Perspektive auf Be-
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Siehe Fritzilas 2009, passim insbesondere zum Befund aus den Nekropolen. Zur Zerstörung und zum Wiederaufbau siehe Lauter-Bufe/Lauter 2011, 154f. Vgl. Diod. Sic. 15.94.1–3. Siehe Paus. 8.27.5f. Diod. Sic. 15.94.1: „εἰς δὲ τὴν Μεγάλην πόλιν ὑπῆρχον αἱ περιοικοῦσαι πόλεις μετῳκισμέναι καὶ δυσχερῶς φέρουσαι τὴν ἐκ τῆς πατρίδος μετάστασιν. διόπερ αὐτῶν ἐπανελθόντων εἰς τὰς προγεγενημένας πόλεις, οἱ Μεγαλοπολῖται συνηνάγκαζον ἐκλιπεῖν τὰς πατρίδας“. Paus. 8.27.3: „πόλεις δὲ τοσαίδε ἦσαν ὁπόσας ὑπό τε προθυμίας καὶ διὰ τὸ ἔχθος τὸ Λακεδαιμονίων πατρίδας σφίσιν οὔσας ἐκλιπεῖν ἐπείθοντο οἱ Ἀρκάδες“, (Hervorhebung jeweils C.S.). Siehe hierzu auch Heine Nielsen 2002, 416f. und 425f.
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II. Die Peloponnes
antwortung hoffen lässt. Gerade in Bezug hierauf wird es interessant sein, zu sehen, wie sich die Situation in Messene darstellte, das fast zur exakt gleichen Zeit, jedoch unter deutlich anderen Umständen gegründet wurde. Nicht noch einmal eingehen will ich hier auf die Kommemoration der Toten des Jahres 227 v.Chr. und des Philopoimen, da diese weiter oben bereits ausführlich besprochen und kommentiert wurden. Ich denke, dabei anschaulich aufgezeigt zu haben, wie sich die Megalopolitaner in diesen beiden Fällen das Gefallenengedenken zu Nutze machen wollten, indem sie versuchten, durch die Kommemoration der Gefallenen des Bundes bzw. dessen führender Persönlichkeit ihre eigene Position innerhalb des Bundes zu stärken und ihren politischen Willen gegenüber den anderen Bündnern durchzusetzen. Statt also diese Zeugnisse, die auch schon deutlich außerhalb des eigentlichen Untersuchungszeitraumes der Arbeit liegen, noch einmal zu thematisieren, will ich mich der nächsten polis zuwenden.
Megara Wie schon in diversen anderen poleis ist auch in Megara das älteste überlieferte Gefallenenmonument jenen Bürgern der Stadt gewidmet, die bei der Abwehr der Perser in den Jahren 480 und 479 v.Chr. umgekommen waren. Pausanias beschreibt das Grab auf der Agora zwischen dem Prytaneion und dem Bouleuterion nur knapp: εἰσὶ δὲ τάφοι Μεγαρεῦσιν ἐν τῇ πόλει: καὶ τὸν μὲν τοῖς ἀποθανοῦσιν ἐποίησαν κατὰ τὴν ἐπιστρατείαν τοῦ Μήδου, τὸ δὲ Αἰσύμνιον καλούμενον μνῆμα ἦν καὶ τοῦτο ἡρώων.927
Sein Zeugnis wird jedoch durch eine spätantike Inschrift des 4. oder wahrscheinlicher des 5. Jh. n.Chr. ergänzt, die in der Kirche des Heiligen Athanasios in Palaiochori, nördlich des antiken Megara wiederverwendet wurde. Die rechteckige Stele aus dunklem Kalkstein mit einer Höhe von 1,75m, einer Breite von 0,93m und einer Dicke von 0,23m, trägt zehn Zeilen eines Epigramms sowie einen begleitenden Text: τὸ ἐπίγραμμα τῶν ἐν τῷ Περσικῷ πολέμῳ ἀποθανόντων κὲ κειμένω[ν] ἐνταῦθα ἡρώων, ἀπολόμενον δὲ τῷ χρόνῳ Ἑλλάδιος ὁ ἀρχιερεὺς ἐπιγρ[α]ῆναι ἐποίησεν ἰς τειμὴν τῶν κειμένων καὶ τῆς πόλεως. Σιμωνίδης ἐποίει. Ἑλλάδι καὶ Μεγαρεῦσιν ἐλεύθερον ἆμαρ ἀέξειν ἱέμενοι θανάτου μοῖραν ἐδεξάμεθα. 927
Paus. 1.43.3.
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τοὶ μὲν ὑπ’ Εὐβ̣οίᾳ καὶ Παλίῳ, ἔνθα καλεῖται ἁγνᾶς Ἀρτέμιδος τοξοφόρ̣ου τέμενος, τοὶ δ’ ἐν ὄρει Μυκάλας, τοὶ δ’ ἔμπροσθεν Σαλαμῖνος [---] τοὶ δὲ καὶ ἐν πεδίῳ Βοιωτίῳ, οἵτινες ἔτλαν χεῖρας ἐπ’ ἀνθρώπους ἱππομάχους ἱέναι. ἀστοὶ δὲ ἄμμι τόδε [---] γέρας ὀμφαλῷ ἀμφί Νισαίων ἔπορον λαοδόκῳ ῾ν ἀγορᾷ. μέχρις ἐφ’ ἡμῶν δὲ ἡ πόλις ταῦρον ἐνάγιζεν.928
Demnach hätten die Megarer im 5. Jh. v.Chr. also tatsächlich ein Monument für die Gefallenen der Perserkriege errichten lassen, für das sie gar ein Epigramm bei Simonides in Auftrag gegeben hätten. Weil das Denkmal im Laufe der Zeit verfallen und die Inschrift nicht mehr zu lesen war, sei es nun auf Initiative des ἀρχιερεὺς Helladios fast 1000 Jahre später neu eingeschrieben und wiederhergerichtet worden. Sofort drängt sich freilich die Frage auf, wie zuverlässig die Aussage der Inschrift ist und ob das Denkmal mit dem vermeintlichen Epigramm des Simonides tatsächlich direkt nach den Perserkriegen errichtet wurde. Da von dem älteren Monument keine Reste erhalten sind, kann diese Frage einzig anhand einer sprachwissenschaftlichen Analyse des Epigramms selbst beantwortet werden, wie sie in der Folge dann auch von einer Vielzahl Autoren in Angriff genommen wurde. Da die Diskussion um die Authentizität und die Autorenschaft des Epigramms sehr ausufernd geführt wurde und mir zudem die philologische Expertise fehlt, um einen eigenen Beitrag leisten zu können, will ich hier nicht auf die Details der Diskussion eingehen und mich stattdessen auf ihre Ergebnisse konzentrieren. Einigkeit besteht zumindest dahingehend, dass das Epigramm tatsächlich aus dem 5. Jh. v.Chr. stammt, wenn auch die Zuordnung zu Simonides höchstwahrscheinlich nicht korrekt ist.929 Zudem wird auch die Länge des Epigramms, die von der älteren Forschung häufig diskutiert und mindestens als literarische Erweiterung eines möglichen älteren Epigramms angesehen wurde, mittlerweile von den meisten Autoren doch als
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Zitiert nach Petrovic 2007, 194–196, dessen Text Page 1981, 213–215 Nr. XVI folgt. Vgl. auch IG VII 53; GV 9; Wade-Gery 1933, 95–97; Tod 1948, 24f. Nr. 20; Molyneux 1992, 199f.; Petrovic 2007, 194–208; Schörner 2007, 261 Nr. B3; Abb. 174 (Umzeichnung des Epigramms). Zweifel an der Zuordnung zu Simonides äußern Wade-Gerry 1933, 96; Tod 1948, 25; Page 1981, 214 und auch Petrovic 2007, 206–208, wenn Letzterer auch nicht völlig aussschließen will, dass das Epigramm tatsächlich aus der Feder des Simonides stammt. Nur wenige Autoren halten hingegen heute noch an der Zuordnung fest. So etwa Podlecki 1973, 427f. und Molyneux 1992, 199f., der allerdings auch den megarischen Poet Philiadas als möglichen Autor in Erwägung zieht (ebenfalls bei Page 1981, 214 genannt). Siehe hierzu aber Petrovic 2007, 208f.
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II. Die Peloponnes
authentisch akzeptiert. Nur einzelne Elemente wie die Veröffentlichungsformel im letzten Distichon werden von einigen Autoren noch mit Skepsis betrachtet930 und als spätere Zusätze einer literarischen Tradition diskutiert. Die spätantike Restitution der Inschrift sei nämlich nach der weitgehend einheitlichen Meinung der Autoren nicht anhand einer nur noch schwer lesbaren Inschrift, sondern mittels einer literarischen Sammlung von Epigrammen geschehen, was aber keineswegs bedeuten müsse, dass das Epigramm nicht ursprünglich tatsächlich auf der Agora aufgestellt war.931 Zusammengenommen legen der Bericht des Pausanias und die Evidenz der Inschrift also nahe, dass bereits kurz nach der Abwehr der persischen Invasion auf der Agora von Megara ein Monument errichtet wurde, das dem Gedenken an die in den Kämpfen gefallenen Bürger gewidmet war. Hierbei ist stark davon auszugehen, dass es sich nicht um ein Grabmal handelte, wie einige Autoren behaupten, sondern vielmehr um ein Denkmal oder Kenotaph. Schon die Tatsache, dass mit dem Monument nicht die Gefallenen einer einzelnen Schlacht, sondern des gesamten Krieges kommemoriert wurden, spricht für diese Interpretation, da sich daraus doch ableiten lässt, dass das Denkmal erst nach Abschluss der Kampfhandlungen im Jahr 479 v.Chr. errichtet wurde. War dies aber der Fall, hätten die Gefallenen der früheren Schlachten erst mit Verzögerung bestattet oder umgebettet werden müssen. Auch wurden die Gefallenen der griechischen Allianz in jenen Fällen, in denen wir dies nachvollziehen können, stets am Ort der Schlacht selbst bestattet, wie dies etwa auch mit den Megarern geschah, die bei Plataiai von der thebanischen Reiterei aufgerieben worden waren.932 Wahrscheinlich ist daher, dass in Megara lediglich ein Kenotaph oder ein Ehrenmonument für die Gefallenen errichtet wurde, nicht aber ein eigentliches Grab.933 930
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Zuletzt hat Petrovic 2007, 203–205 zwar die Authentizität des letzten Distichons mit guten Argumenten angezweifelt, jedoch sieht er keine Anzeichen dafür, am übrigen Text zu zweifeln. Vgl. ansonsten weiter Wade-Gery 1933, 96; Page 1981, 214; Molyneux 1992, 199f. Wade-Gery 1933, 96 spricht sich vehement gegen eine inschriftliche Überlieferung aus. Vielmehr ließen zahlreiche orthographische Fehler und Eigenheiten wie möglicherweise auch die Auslassungen in der sechsten und neunten Zeile darauf schließen, dass eine literarische Sammlung von Epigrammen als Vorlage gedient habe. Ähnlich auch Page 1981, 213f.; Petrovic 2007, 204–206; Clairmont 1983, 229. An einer Überlieferung auf Stein halten lediglich Tod 1948, 24f. und Podlecki 1973, 427f. fest. Zu den megarischen Toten bei Plataiai s.o. 2. I. Plataiai mit Anm. 343. Laut Pritchett 1985, 175f. habe es sich „clearly“ um ein Kenotaph oder Kriegsdenkmal, kein Grab gehandelt. Auch Wade-Gery 1933, 96f.; Page 1981, 213; Ekroth 2002, 78; Schörner 2007, 71; 147; 261f. Nr. B3 halten ein Kenotaph für wahrscheinlicher. Clairmont 1983, 228f. Nr. 11d glaubt, es habe sich tatsächlich um ein Grab für die Gefallenen der Perserkriege gehandelt, jedoch abzüglich der Toten der Schlacht von Plataiai, die eben vor Ort bestattet worden seien. So auch Legon 1981,173. Prandi 1990, 63–65 erwägt, dass hier vielleicht eine Translation stattgefunden habe. Petrovic 2007, 197f. trifft es wohl am genauesten, wenn er schreibt, dass das Monument wohl zumindest den Eindruck erweckte, die Toten seien vor Ort bestattet worden.
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Freilich sagt auch diese Feststellung wenig über das Wesen des Gedenkens aus. Ein Kenotaph war schließlich ein vollwertiger Ersatz für ein Grab und hätte somit dem Totenkult gedient haben können, während eine andere Form als Ehrenmonument oder als Heroon hätte fungieren können. Sowohl Pausanias als auch die Inschrift legen letztere Deutung nahe, indem das Monument als Heroon bezeichnet und in der Inschrift zudem Opfer (enangismata) erwähnt werden, die oft mit Heorenkulten in Verbindung gebracht werden.934 Die Verlässlichkeit der beiden Zeugnisse bezüglich dieses Aspektes ist jedoch ausgesprochen fragwürdig. Anders nämlich als die letzte Zeile der Inschrift impliziert und manche moderne Autoren glauben, kann doch wohl kaum davon ausgegangen werden, dass vom 5. vorchristlichen bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert eine Kontinuität des Kultes für die Gefallenen bestand. Wie Andrej Petrovic richtig anmerkt, scheint eine solche Vorstellung schon allein angesichts der Tatsache, dass die Stadt innerhalb dieser Zeitspanne zweimal zerstört wurde, nicht realistisch.935 Vielmehr dürfte die Perserkriegskommemoration in Megara wie in anderen Orten Griechenlands vor allem im 1. und 2. Jh. n.Chr. wiederaufgelebt sein und wurde daher auch von Pausanias bezeugt.936 Auch die Form des Monuments bleibt bedauerlicherweise völlig unklar. So wird nicht deutlich, ob die Gefallenen selbst mittels eines Reliefs, einer anderen Plastik oder einer Gefallenenliste repräsentiert waren oder nicht.937 Schließlich lässt sich anhand der beiden Zeugnisse nicht einmal bestimmen, welche Ausmaße das Monument annahm. Handelte es sich etwa doch nur um eine Stele mit der Inschrift oder war diese einem größeren Monument oder gar einem ‚Schrein‘ beigeordnet, wie sie uns aus anderen Fällen bekannt sind?938 Jedoch ist festzuhalten, dass die erste Person Plural, die den Gefallenen im Epigramm eine Stimme verleiht, charakteristisch für Grabepigramme dieser Zeit ist,939 sodass hinsichtlich des Wesens des Monumentes eine Deutung als Kenotaph doch als am wahrscheinlichsten gelten kann.
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Vgl. Nock 1944, 161; Kearns 1989, 3. Siehe Petrovic 2007, 206. Er bezieht sich wohl auf die Zerstörung im Römischen Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Caesar sowie beim Goteneinfall des späten 4. Jh. v.Chr. Von einer Kultkontinuität gehen dennoch aus: Tod 1948, 25; Schörner 2007, 71 sowie scheinbar auch Pritchett 1985, 176. Ekroth 2002, 78 und Chaniotis 2006, 152 sprechen sich hingegen vehement gegen eine solche Kontinuität aus. Tod 1948, 25 geht davon aus, dass das Epigramm von einer Gefallenenliste begleitet wurde. Wade-Gery 1933, 97 erwägt dies ebenfalls. Beide Male handelt es sich jedoch nur um Vermutungen, die nicht weiter begründet werden können. Man siehe etwa das kleine Kultgebäude für Podares auf der Agora von Mantineia (s.o. 2. II. Mantineia mit Anm. 886). Petrovic 2007, 196 meint, die Dicke des Steines und die Leiste am oberen Abschluss würden durchaus erlauben, dass die Stele alleine stand. Jedoch bedeutet dies keinesfalls, dass sie nicht an oder auf einem größeren Monument aufgestellt worden sein könnte. Vgl. etwa nur das Epigramm für die Spartaner an den Thermopylen (s.u. 2. II. Sparta mit Anm. 1013) und jenes für die Korinther bei Salamis (s.o. 2. II. Korinth mit Anm. 810).
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II. Die Peloponnes
Von Bedeutung für die Interpretation des Monumentes ist in jedem Fall sein Aufstellungsort auf der Agora. Dort stand es neben den Denkmälern und Gräbern für die mythischen Heroen und Gründerfiguren der polis, und so wurden die Gefallenen durch diese räumliche Verbindung auch in die Nähe dieser Figuren gerückt.940 Eine solche Assoziation ist auch in anderen poleis zu beobachten;941 in Megara dürfte dieser Beiordnung jedoch eine noch größere Bedeutung zugekommen sein, da hier, ähnlich wie etwa in Argos, die mythische Vergangenheit der polis eine hervorgehobene und besonders ausgeprägte Rolle im kollektiven Gedächtnis eingenommen zu haben scheint. Zumindest legt dies die Beschreibung der Stadt durch Pausanias nahe, der von besonders vielen Gräbern und Monumenten für mythische Figuren im Stadtzentrum berichtet. Sogar die (späteren) Amtslokale und Versammlungsorte der demokratischen polis seien laut des Periegeten auf den Gräbern von Heroen erbaut worden und hätten somit diese Figuren demonstrativ im Wortsinn zur Basis des Gemeinwesens gemacht.942 Bei allen verbleibenden Unsicherheiten und Schwierigkeiten der späten Zeugnisse zu unserem Monument zeigt dessen Positionierung innerhalb dieses Kontextes doch deutlich, welch hervorgehobene Position den Gefallenen der Perserkriege von der Gemeinschaft zugesprochen wurde.943 Wenden wir uns nun den anderen Zeugnissen megarischen Gefallenengedenkens zu, um zu sehen, ob diese hervorgehobene Behandlung einzig den Perserkriegsgefallenen vorbehalten war. Bereits in den 1950er Jahren wurde im Zentrum der antiken Stadt eine Inschrift gefunden, die erst über 30 Jahre nach ihrer Entdeckung 1989 von Charalambos Kritzas veröffentlicht wurde.944 Es handelt sich um das am oberen Ende gebrochene Fragment einer Stele aus weißem Marmor mit einer erhaltenen Höhe von 0,76m und einer originalen Breite von 0,56m. Auf dem Stein sind in stoichedon die Namen von 26 Männern mitsamt ihren Patronymen angegeben. Die Männer 940
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Auch Petrovic 2007, 198 glaubt, dass die Gefallenen durch die Positionierung des Monuments in die Reihen der ktistai eingeordnet werden sollten. So etwa insbesondere in Argos (vgl. 2. II. Argos) aber eben auch im Falle von Podares und Gryllos in Mantineia (vgl. 2. II. Mantineia). Vgl. Paus. 1.41–44.2 sowie Muller 1981, 218–222 und 1983, 627. Bedauerlicherweise überdeckt die moderne Bebauung das antike Megara fast vollständig, sodass Grabungen immer nur punktuell möglich sind. Zum schwierigen Stand der Archäologie in Megara siehe Smith 2008, 1f.; Goette 2001, 307–312. Petrovic 2007, 199 glaubt, aus dem in der vorletzten Zeile des Epigramms angesprochenen Omphalos eine Verbindung zum Kult des Apollon in Megara schließen zu können. Dies scheint zwar möglich, muss jedoch gerade Angesichts der Tatsache, dass Petrovic selbst die Authentizität der letzten beiden Verse anzweifelt, hypothetisch bleiben. Ich will daher hier ebensowenig auf diese These eingehen wie auch auf die Frage, wieso genau Helladion im 4. oder 5. Jh. n.Chr. einen Kult für die Perserkriegsgefallenen wiederaufleben ließ. Siehe hierzu Chaniotis 1988, 255f. Siehe Kritzas 1989, 167–187; Taf. 44 (mit Foto und Umzeichnung des Steins); SEG 39.411; Low 2003, 101–103.
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werden dabei nach Phylen geordnet aufgelistet, wie die Angaben „Ηυλλε͂ς“ und „[Π]άμφιλοι“ in den Zeilen 7 und 13 zeigen. Der Name der dritten dorischen Phyle (Δυμᾶνες), der die sechs zuoberst genannten sowie möglicherweise weitere Namen zugehörig waren, ist verloren. Während die Namen der Phylen deutlich von denen der Personen abgesetzt sind, indem sie fast doppelt so groß eingeschrieben und zudem noch durch entsprechende Zeilenabstände markiert sind, wird in Zeile 22 eine vierte Unterkategorie der „Ἔποικοι“ zusammen mit dem Namen eines weiteren Mannes und in der gleichen Schriftgröße wie dieser genannt. Philip J. Smith glaubt, es handele sich bei dieser letzten Kategorie um eine weitere Phyle, doch kann dies nicht zutreffen, da sie durch die geschilderte Formatierung den beiden genannten Phylen klar untergeordnet ist. Vielmehr wird es sich, wie auch bereits Charalambos Kitzas und nach ihm Polly Low vermuten, um Metöken und andere Bewohner Megaras ohne Bürgerrecht gehandelt haben. Schon der Name „Θρᾶιξ“, der mit der Bezeichnung „Ἔποικοι“ in derselben Zeile genannt wird, lässt auf eine entsprechende Herkunft des Mannes aus Thrakien und möglicherweise auf einen Freigelassenen oder auch einen Sklaven schließen.945 Eine Überschrift oder ein sonstiger Anhaltspunkt, der eine zweifelsfreie Identifikation der Stele ermöglichen würde, finden sich nicht. Jedoch ist aufgrund der beschriebenen Charakteristika wahrscheinlich, dass es sich um eine Gefallenenliste handelt. Polly Low weist darauf hin, dass die ungleichmäßige Verteilung der Namen auf die Phylen und die Berücksichtigung von Nicht-Bürgern eine Deutung als Liste von Magistraten oder anderen Funktionären ausschließen lasse. Zudem finden sich auf der Seite der Liste sowie möglicherweise in Zeile 6 Nachträge von Namen, wie sie auf Gefallenenlisten öfter zu beobachten sind.946 Wenn also auch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann, dass die Inschrift Kriegstote der polis verzeichnete, so lassen sich die geschilderten Befunde doch am schlüssigsten mit dieser Interpretation vereinen. Wie so häufig bleibt uns auch das vorliegende Gefallenenmonument eine absolute Datierung schuldig, sodass erneut nur paläographische Kriterien zu seiner zeitlichen Einordnung herangezogen werden können. Eine entsprechende Analyse wurde von Kritzas vorgenommen und führte zu einer – freilich nur groben – Datierung der Inschrift in das letzte Viertel des 5. Jh. v.Chr. und die Zeit des Peloponnesischen Krieges.947 Gerade für diesen Zeitraum wäre nun aber eine genauere zeitliche Eingrenzung besonders wichtig, da Megara in den frühen Jahren des Peloponnesischen Krieges tiefgreifende politische Unruhen und Umbrüche sah. Ohne konkrete 945
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Vgl. Smith 2008, 114f. sowie Kritzas 1989, 176–179 und Low 2003, 102 mit dem gleichen Hinweis auf einen Sklaven oder Freigelassenen. Vgl. Low 2003, 101 mit dem Hinweis auf die Nachträge auf der Seite. Auch der Name des Εὐφρόνιος in Zeile 6 könnte nachgetragen worden sein, da auffällt, dass zwischen seinem Namen und dem Phylennamen Ηυλλε͂ς in der folgenden Zeile kein Platz gelassen wurde, während vor der Angabe der Phyle [Π]άμφιλοι in Zeile 13 eine ganze Zeile freigelassen wurde. Vgl. Kritzas 1989, 174–176.
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II. Die Peloponnes
Angaben muss völlig unklar bleiben, ob das vorliegende Monument in der Zeit vor, nach oder während dieser Umbrüche errichtet wurde und ob ein oligarchisches oder ein demokratisches Regime den Beschluss zu seiner Aufstellung fasste.948 Polly Low glaubt jedoch, eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen der megarischen Inschrift und den athenischen Gefallenenlisten ausmachen zu können, die möglicherweise auf einen demokratischen Kontext des Monumentes hinweisen könnten. Sie verweist hierbei zunächst auf die Verwendung des vor allem in Athen üblichen stoichedon-Stils in der Inschrift, der für Megara ausgesprochen ungewöhnlich sei und sich dort in insgesamt nur drei Beispielen fände.949 Darüber hinaus hebt sie hervor, dass sich in der Berücksichtigung von nicht-Bürgern auf einer Gefallenenliste eine weitere Parallele zu attischen Praxis finde. Zwar gesteht sie zu, dass dies kein rein attisches Phänomen war, doch will sie hieraus wohl dennoch ein egalitäres Ethos abzuleiten, wie es vor allem für demokratische Systeme charakteristisch scheint.950 Tatsächlich ist gerade die Kommemoration von nicht-Bürgern bemerkenswert, rühmten sich die Megarer laut Demosthenes und Plutarch doch, besonders restriktiv mit der Verleihung ihres Bürgerrechtes an Auswärtige umzugehen.951 Glaubt man diesen Erzählungen, lässt sich aus der Tatsache, dass auf dem vorliegenden Monu948
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So auch Low 2003, 102f. Welches politische System im 5. Jh. v.Chr. in Megara herrschte, ist in der Forschung stark umstritten. Ronald P. Legon (vgl. Legon 2004, 464 und ausführlich 1981, 229–254) meint, die Stadt sei bis ins 4. Jh. v.Chr. von einem oligarchischen Regime regiert worden, dessen Herrschaft nur kurz durch den demokratischen Umsturz im Peloponnesischen Krieg unterbrochen wurde. Hans-Joachim Gehrke (vgl. Gehrke 1985, 106–110) hingegen ist der Überzeugung, Megara sei seit dem 6. Jh. v.Chr. durch eine gemäßigte Demokratie regiert worden und erst im Zuge der politischen Unruhen nach 427 v.Chr. in eine extreme Oligarchie umgewandelt worden. Gehrke äußert dabei explizite Kritik an Legons Interpretation zweier Stellen bei Aristoteles (Pol. 1300A; 1304B), laut derer die Demokratie in Megara durch eine extreme Oligarchie abgelöst worden sei. Legon beziehe diese Aussagen fälschlicherweise auf die archaische Zeit, obwohl sie doch eindeutig die Zeit des Peloponnesischen Krieges beträfen (vgl. v.a. Gehrke 1983, passim). Losada 1969, 146 (wiederholt in Losada 1972, 50) hält fest, dass wir schlichtweg nicht sagen können, ob Megara vor 427 v.Chr. demokratisch oder oligarchisch regiert war. Sicher ist nur, dass es nach Überwindung der inneren Unruhen von einer Oligarchie kontrolliert wurde. Siehe Low 2003, 102, wo sie auf Austin 1938, 15; 71 verweist. Vgl. weiter Jeffery 1990, 133; 137 Nr. 3, 4, 8; Liddel 2009, 416 mit Anm. 38. Zwar schreibt sie dies nicht konkret, doch wird diese Gleichsetzung eindeutig impliziert. Vgl. Low 2003, 102 mit dem Hinweis auf diverse attische Gefallenenlisten, die nicht-Bürger berücksichtigen. Als außerattisches Vergleichsbeispiel nennt sie die Bestattung zweier Eretrier in Tanagra (s.o. 2. I. Tanagra). Hier ließe sich noch die Berücksichtigung der Achaioi und synoikoi in einer Gefallenenliste aus Epidauros anfügen (s.o. 2. II. Epidauros) sowie möglicherweise die Bestattung und Kommemoration der am Lykaion gefallenen Achaier durch die Megalopolitaner 227 v.Chr. (s.o. 2. II. Koinon der Achaier). Siehe Demosth. 23.212 (hiergegen allerdings Paus. 10.9.8) und Plut. mor. 826C. Inschriftliche Belege megarischer Bürgerrechtsverleihungen sind aus klassischer Zeit überhaupt nicht bekannt (vgl. Liddel 2009, 420–422), wenn dies auch darauf zurückzuführen sein mag, dass die Megarer in dieser Zeit ohnehin kaum offizielle Inschriften errichteten (siehe ebd., 415f.). Vgl. zur Bürgerrechtsthematik auch Legon 1981, 261 und 2004, 464.
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ment Bürger und nicht-Bürger zwar klar voneinander unterschieden und hierarchisiert aber dennoch gemeinsam kommemoriert und vielleicht sogar bestattet wurden, ableiten, welch besondere Anerkennung die Megarer der Leistung dieser Männer entgegenbrachten und wie hoch das Opfer der Gefallenen für die polis angesehen war. Somit könnte die Kommemoration der epoikoi aber weniger einen Beleg für das besonders ausgeprägte egalitäre Ethos der Megarer dargestellt haben, denn für die außergewöhnliche Bedeutung, welche diese dem Tod in der Schlacht beimaßen. Auch der Aufstellungsort der Inschrift untermauert diese These weiter, stammte sie doch aus der direkten Umgebung der Agora von Megara, wo sich auch das Monument für die Perserkriegsgefallenen befand. Die anzunehmende Übereinstimmung im Aufstellungsort legt nahe, dass den Gefallenen des vorliegenden Monumentes der gleiche Status und die gleiche Behandlung zugewiesen wurden wie ihren Mitbürgern, die einst im Kampf gegen die Perser gefallen waren. Sollten sie aber tatsächlich, wie die Toten der Perserkriege, zusammen mit den mythischen Vorfahren und Helden der Stadt auf der Agora kommemoriert worden sein, würde dies noch einmal unterstreichen, welche herausragende Rolle den Kriegstoten in Megara zugewiesen wurde, ohne dass dies zwingend mit einem konkreten politischen System in Zusammenhang gestanden haben muss.952 Zwar finden sich in Megara keine weiteren Belege kollektiven Gefallenengedenkens, die diese Hypothese noch festigen und bestärken könnten,953 doch mag eine Reihe von Grabstelen für einzelne Bürger, die in Verbindung mit den Gefallenenmonumenten diskutiert werden,954 weiteren Aufschluss über die Kommemorationspraktiken der Megarer geben. Auffällig ist etwa 952
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Auch Low 2003, 103 weist auf die Bedeutung des Aufstellungsortes der Stele hin: „The location of these monuments is significant not only because of its physical centrality to the life of the city, but also because of its implications for the status of these war-dead“. Eine weitere Inschrift (SEG 13.300), die ebenfalls in stoichedon die Namen von sechs Männern, diesmal aber im Genitiv, aufzählt, soll hier nicht besprochen werden. Obwohl sie außerhalb der Stadt im Gebiet einer der antiken Nekropolen gefunden wurde, handelt es sich entgegen der Meinung mancher Autoren vermutlich nicht um eine Gefallenenliste. Auffällig ist nämlich, dass alle sechs Namen einen maritimen Bezug aufweisen, was Jeffery 1990, 136f. Nr. 4 dadurch erklären will, dass es sich um Matrosen oder Marinesoldaten gehandelt habe, die zur See verloren gegangen seien (bereits erwogen, jedoch zugunsten der folgenden These verworfen von Peek 1934, 52–54 Nr. 10). Zum einen scheint es aber ausgesprochen zweifelhaft, dass alle sechs Männer zufällig maritime Namen getragen haben und auch in diesem Bereich tätig gewesen sein sollen. Zum Anderen findet sich im gesamten griechischen Kerngebiet einzig der Name des Εὐρύαλος ein zweites Mal für eine historische Person (in Thespiai – SEG 19.352k; vgl. LGPN III.B, 165). Hingegen weist Peek a.a.O. darauf hin, dass fünf der sechs Namen auch für Heroen bekannt seien. Er unterbreitet daher den Vorschlag, es handele sich um ein Monument für Heroen, und erhält Zuspruch von Guarducci 1967, 311f. und Knoepfler 2000, 341f. Zwar lässt auch diese Erklärung einige Fragen offen, doch kann sie eher überzeugen als die Interpretation als Gefallenenliste. So etwa von Liddel 2009, 416f.
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II. Die Peloponnes
die mit einem Relief und einer Inschrift versehene Grabstele des Pollis, die 1990 auf dem New Yorker Kunstmarkt auftauchte und vermutlich aus Megara stammt.955 Die große, noch in einer Höhe von 1,5m erhaltene und 0,45m breite Stele zeigt in ihrem unteren Teil Pollis als nackten Hopliten mit Helm und umgehängtem Schwert, der leicht vorgebeugt nach rechts gewandt steht und seinen Schild in der linken Hand erhoben hat, während er seinen Speer waagerecht in der Rechten trägt. Der Stein ist unterhalb der Knie des Kriegers abgebrochen aber ansonsten weitestgehend unbeschädigt. Mit etwas Abstand ist oberhalb des Bildfeldes eine dreizeilige Inschrift eingemeißelt, die in einer Mischung aus korinthischen und attischen Buchstaben gehalten ist, wie sie für Megara typisch ist.956 Der Text lautet: [Αἰ]αῖ ἐγώ Πόλλις Ἁσωπίχω φίλος h ὑιός – ὠ κακὸς ἐὼν ἀπέθνασκον hὑπὸ στίκταισιν – ἐγὼν ᾽ε͂957
Das Epigramm mutet zunächst etwas befremdlich an, doch glauben Aldo Corcella und Joachim Ebert,958 dass mit den „στίκται“, unter deren Hand Pollis gestorben war, die Perser unter Xerxes gemeint sein müssten. Sie führen hierbei die Historien des Herodot an, wo an zwei Stellen von Brandmarkungen durch die Perser berichtet wird. So habe Xerxes nach der Zerstörung der ersten Brücke über den Hellespont symbolisch die Meerenge brandmarken lassen und später, nach der Schlacht an den Thermopylen die zum ihm übergelaufenen Thebaner ebenfalls mit dem Brandeisen zeichnen lassen.959 Die Stele des Pollis sei nun aufgrund der Buchstabenformen der Inschrift und des Stils des Reliefs ins frühe 5. Jh. v.Chr. zu datieren und zeige den Toten überdies als kampfbereiten Hopliten. Es liege daher nahe, davon auszugehen, dass Pollis im Kampf gegen die Perser in den Jahren 480/79 v.Chr. gefallen oder aber in deren Gefangenschaft geraten und dort gestorben sei. Diese letzte Überlegung der Kriegsgefangenschaft leitet sich aus der Zusatzinformation, Pollis sei kein schlechter Mann gewesen, ab, die Corcella und Ebert als Ausdruck seiner Standhaftigkeit interpretieren und die möglicherweise zur Absetzung von und als Spitze 955
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Erstmals veröffentlicht von Walsh 1991, 136 Nr. 6 und kommentiert von Follet, in: BE 1992, Nr. 21; Corcella 1995, passim. Die erste verlässliche Edition mit deutlich verändertem Text stammt von Ebert 1996a und ausführlicher mit fundiertem Kommentar und Abbildungen 1996b, 19–25 mit Taf. 2 + 3 (= SEG 45.421). Siehe auch Schäfer 1997, 51. Diese Mischform des Alphabets ist auch der wichtigste Anhaltspunkt für die Zuordnung der Stele zur polis von Megara. Siehe hierzu die vorherige Fußnote sowie allgemein zu den korinthischen, attischen und boiotischen Formen in den megarischen Inschriften dieser Zeit Jeffery 1990, 134. Text leicht vereinfacht nach Ebert 1996b, 23. Er übersetzt: „Oh weh ich! Pollis, des Asopichos lieber Sohn – ich starb, obwohl kein schlechter Mann, unter den Händen von Brandmarkern – war ich.“. Siehe Corcella 1995, passim; Ebert 1996b, 24f. Vgl. Hdt. 7.35.1 und 7.233.
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gegen die Thebaner gedacht gewesen sei, die sich eben bereitwillig ergeben und brandmarken hätten lassen. Wenn auch diese letzte Hypothese etwas spekulativ anmutet, ist doch zumindest die Zuordnung zu den Perserkriegen plausibel. Sowohl die Datierung der Stele als auch die Darstellung des Pollis würden hierzu passen und auch Corcellas Argumentation, die Anspielung auf die „στίκται“ müsse sich auf eine weit bekannte Erzählung beziehen, um überhaupt vom Betrachter verstanden werden zu können, ist durchaus schlüssig. Wenn aber Pollis tatsächlich im Zuge der Perserabwehr umgekommen sein sollte, stellen sich eine ganze Reihe von Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Offen bleibt alleine schon, ob die Stele aus privaten Mittel finanziert oder durch die polis errichtet wurde, und damit auch, ob das Monument zusätzlich zu jenem für die Opfer des Krieges auf der Agora errichtet wurde oder ob Pollis – möglicherweise aufgrund der Umstände seines Todes – gesondert behandelt und besonders hervorgehoben wurde. Festhalten lässt sich lediglich, dass der Tote vermutlich im Kontext des Kampfes gegen die Perser umgekommen war und dass dieses Faktum auf seiner Grabstele besonders hervorgehoben wurde. Auch dies weist somit vor allem auf die besondere Bedeutung hin, welche das Gedenken an die Perserabwehr und ihre Gefallen in Megara eingenommen zu haben scheint. In etwa aus der gleichen Zeit stammt ein ebenfalls etwas ungewöhnliches Grabepigramm für Lakles, Sohn des Prokles.960 Es wurde auf einer dünnen Platte aus pentelischem Marmor eingeschrieben, die in der Nekropole an der Straße nach Korinth gefunden wurde. Von der in sauberem stoichedon geschriebenen Inschrift sind nur die letzten beiden Verse erhalten, die die Hoffnung ausdrücken, Lakles möge nach der Sitte der polis bestattet werden: -----[Λα]κλε͂ τὸν Προκ/λέος· ταί δ᾽ ἐνπίδε/ς, αἴ τέ κα ἀλε͂ καί κ᾽/ἀλε͂, θαψε͂ν τε͂δε τρ/όποι πό[λιο]ς.961
Was aber ist mit der Bestattung nach Sitte der polis („τρόποι πόλιος“) gemeint? Sollte Lakles, der offenbar fernab seiner Heimat gestorben war, schlichtweg mit den in Megara üblichen Bestattungsriten beigesetzt werden oder äußert sich in der Formel vielleicht der Anspruch auf ein von der polis getragenes Grab, wie Peter Liddel nahelegt?962 War er vielleicht auf staatlichen Auftrag als Gesandter oder eben im Krieg umgekommen und leitete sich daraus der Anspruch auf ein Grab oder ein Kenotaph auf Kosten seiner Heimatpolis ab?963 Zumindest die Qualität der 960
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SEG 13.311; Wilhelm 1906 + Taf. 12 (mit gutem Foto); Solmsen 1906; Pfohl 1967, 52f. Nr. 153; Jeffery 1990, 137 Nr. 3; Liddel 2009, 416. Text nach Pfohl 1967, 52f. Nr. 153. Reste einer weiteren Zeile über den erhaltenen beiden lassen nur die unsichere Lesung von [---]ΟΙΠΑΛ[---] zu und helfen dem Verständnis nicht weiter. Vgl. Liddel 2009, 416. Zu staatlichen Gräbern für Gesandte s.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 545.
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II. Die Peloponnes
Inschrift und der ungewöhnliche stoichedon-Stil würden eine Interpretation als staatliches Monument durchaus stützen. Jedoch lassen der Inhalt der Inschrift und ihr hoffender oder gar fordernder Ton doch erhebliche Zweifel an dieser Deutung aufkommen.964 So mag das Monument wohl mehr Aufschluss über die Bedeutung der heimatlichen Bestattungssitten für die Griechen des frühen 5. Jh. v.Chr. geben als über die Existenz und Verbreitung staatlicher Begräbnisse in Megara. Eine Interpretation als ‚Staatgrab‘ kann dennoch nicht endgültig ausgeschlossen werden. Zumindest in dieser Hinsicht eindeutig ist ein weiterer Grabstein aus Megara, der gegen Ende des 5. Jh. v.Chr. datiert wird und der erklärt, dass er das Grab des Hypsikles markierte, den die Megarer bestattet hätten: Σᾶμα τόδ᾽ Ὑψικλέος Μεγαρῆς τόνδ᾽ ἐ[νθάδ᾽ ἔθαψαν].965
Unklar bleibt jedoch auch in diesem Fall, wer Hypsikles war und warum die Megarer ihn bestatteten. Einzig seine megarische Herkunft dürfte mit einiger Sicherheit zu attestieren sein, da ansonsten wohl eine entsprechende Herkunftsangabe in der Inschrift gegeben worden wäre. Über die Gründe seiner öffentlichen Bestattung hingegen lassen sich nur Vermutungen anstellen. So könnte er in Erfüllung eines Dienstes für die polis – z.B. als Gesandter oder auch im Krieg – gestorben sein oder sich als Athlet oder durch eine sonstige Leistung besonders um seine Heimatpolis verdient gemacht haben, die seinen Einsatz dann mit der besonderen Ehre eines Staatsgrabes würdigte. Da sich ohne weitere Hinweise aber auch in dieser Frage keine Klärung bringen lässt, will ich sie hier nicht weiter diskutieren und stattdessen fragen, ob diese drei Einzelgräber uns in unserem Verständnis des megarischen Gefallenengedenkens weiterbringen können. Insgesamt scheint der Erkenntnisgewinn aus den drei Monumenten gering, da viele zentrale Fragen bezüglich der Denkmäler offen bleiben müssen und sie damit nur stückweise ein sehr diffuses Licht auf die Kommemorationspraktiken der Megarer werfen. Dennoch lassen sich ei964
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Solmsen 1906, 346 glaubt, es handele sich um ein Kenotaph, das von den Angehörigen des Lakles errichtet wurde. Die Hoffnung bestehe dabei darin, dass der Leichnam des Lakles doch noch auftauchen möge, sodass diesem eine ‚richtige‘ Bestattung zukommen könne. Wilhelm 1906, 93 verweist auf die besondere Emotionalität des Epigramms, hat hierbei aber eine etwas andere Lesung des Textes vorliegen. Richtig ist sein Hinweis, dass ταί in Zeile 1 sich auf die Mutter oder die Frau des Lakles beziehen müsse, die im verlorenen Teil der Inschrift genannt wurde. Ob diese aber in einer offiziellen Inschrift genannt worden wären, muss bezweifelt werden. IG VII 3478; Lenormant 1866, 390; GV 61; Pfohl 1967, 53 Nr. 155; Jeffery 1990, 138 Nr. 14; Liddel 2009, 416. Zumindest dem Sinn nach dürfte die Ergänzung in der zweiten Zeile zutreffen. Der Stein fand sich in Wiederverwendung in einer Kirche zwischen Megara und Eleusis und stammt vermutlich aus einer Nekropole in diesem Gebiet.
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nige Beobachtungen festhalten. So hat Peter Lidell – unter anderem unter Hinzunahme der vorgestellten Zeugnisse – unlängst festgestellt, dass die Megarer im 5. Jh. v.Chr. zwar nur eine relativ geringe Zahl öffentlicher Inschriften produzierten, dass aber der weitaus größte Teil dieser wenigen Zeugnisse der Kommemoration der Leistung einzelner Bürger oder der Personen selbst diente.966 Während also etwa Dekrete der polis oder Verträge mit anderen Staaten nur selten in Stein festgehalten wurden, konnten verdiente Einzelne oder Gruppen von Bürgern häufiger auf eine inschriftliche Dokumentation und Ehrung hoffen. Das Grabmal des Hypsikles bestätigt dabei zumindest, dass die Megarer Ende des 5. Jh. v.Chr. staatliche Gräber für einzelne Bürger errichteten, und das Grab des Lakles mag einen Hinweis darauf bieten, dass solche Praktiken auch zu Beginn des Jahrhunderts bereits in der polis existierten. Die Grabstele und insbesondere das Epigramm für Pollis dürfte hingegen wohl kaum aus offizieller Hand errichtet worden sein, kann aber doch wohl zumindest bestätigen, dass dem Tod im Krieg und gerade der Perserkriegskommemoration scheinbar eine besondere Rolle zukam. Freilich kann diesen Zeugnissen im Einzelnen kein übermäßiges Gewicht zugesprochen werden, doch zusammengenommen mit den oben besprochenen kollektiven Monumenten und dem Bericht des Pausanias legen sie nahe, dass die Megarer dem Gedenken an verdiente Bürger nach deren Tod im privaten wie im öffentlichen Bereich eine gesteigerte Aufmerksamkeit widmeten. Insofern die beiden besprochenen Gefallenenmonumente dabei repräsentativ sind, war die größte Auszeichnung den Kriegstoten vorbehalten, die im Zentrum der antiken Stadt Denkmäler erhielten und durch die Nähe zu den Monumenten für die mythischen Vorfahren, Gründer und Verteidiger der polis in deren Ränge und das Kontinuum der Gemeinschaft eingereiht wurden. Auffällig ist schließlich noch, dass sich vergleichbare Monumente im 4. Jh. v.Chr. in Megara nicht mehr finden. Weder bieten sich irgendwelche Anzeichen von Gefallenenkommemoration noch von ähnlichen Denkmälern für individuelle Bürger. Möglicherweise spräche dieser Befund dafür, dass im 5. Jh. v.Chr. eben doch ein oligarchisches Reigme regierte, das dann auch für diese Kommemorationsformen verantwortlich gewesen wäre. Mit der Absetzung der Oligarchen zu Beginn des Korinthischen Krieges wären dann möglicherweise auch diese Gedenkformen abgelegt worden. Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass nicht auch andere gesellschaftliche oder sonstige Veränderungen für das Ausbleiben ähnlicher Praktiken verantwortlich waren. Auch kann das Fehlen megarischer Gefallenenmonumente vor dem Hintergrund der relativ verhaltenen militärischen Aktivität der polis in dieser Zeit nur bedingt verwundern. Schließlich bleibt auch die simple Möglichkeit einer Überlieferungslücke nicht auszuschließen.
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Siehe Liddel 2009, 415–419.
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II. Die Peloponnes
Messene Wie im Falle von Megalopolis sind auch aus Messene keine Belege für staatliche Gefallenenkommemoration bekannt, die vor das 3. Jh. v.Chr. zu datieren wären. Das vermutlich älteste und einzige mit einiger Sicherheit zu identifizierende Monument für messensiche Kriegstote wurde von Petros Themelis erst 1996 im Bereich des Gymnasion und Stadion der polis gefunden.967 In der Oststoa dieses Komplexes entdeckte der Ausgräber eine 0,68m hohe, 0,55m breite und 0,12m dicke Giebelstele, die von einem Mittel- und zwei Seitenakroteren geschmückt wird. Unterhalb des flachen Giebelfeldes setzt mit einigem Abstand eine Überschrift mit den Worten „οἵδε ἐμ Μακίστωι“ an, auf die in etwas kleineren Buchstaben eine Liste von Namen folgt. Da die Stele am unteren Ende gebrochen ist, haben sich lediglich zehn Namen erhalten, die alle männlich sind und ohne Patronym genannt werden.968 Naheliegenderweise schlug Themelis bereits in der Erstpublikation des Stückes vor, dass es sich um eine Liste von Bürgern handeln müsse, die in einer Schlacht bei Makistos gefallen waren und deren Gebeine nach Messene überführt und im Gymnasion der polis bestattet worden waren. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass er mit dieser Interpretation des Befundes richtig liegt, wurden doch ab dem 3. Jh. v.Chr. bekanntermaßen eine ganze Reihe verdienter messenischer Familien mit monumentalen Grabbauten in und nahe des Gymnasions bedacht – und das, obwohl sich dieses innerhalb des Mauerrings der Stadt befand.969 Selbst wenn die Inschrift aber nicht ein Grab markiert haben sollte, ist wohl dennoch wahrscheinlich, dass es sich zumindest um ein Ehrenmonument für Gefallene der polis handelte. Zwar finden sich in Messene in unterschiedlichsten Kontexten Listen, die Reihen von Bürgern aufzählen und diese mit oder ohne Patronyme nennen, ohne dass es sich jeweils um Listen von Kriegstoten handelte.970 Doch legt die Kombination aus einer Liste ausschließlich männlicher Namen mit der charakteristischen und
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Siehe Themelis 1996, 163–165; 2001, 199–201 mit Abb. 4–6; SEG 47.406; Müth 2007, 124f.; Fröhlich 2008, 217f. Wie die Fotos bei Themelis 2001, Abb. 4a u. b zeigen, wäre rechts von der Namensliste noch genug Platz für eine weitere Spalte mit Namen gewesen. Da die Oberfläche der Stele recht stark abgerieben ist, wäre durchaus vorstellbar, dass hier eine zweite Spalte im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Zu den Gräbern an der Westseite des Gymnasions vgl. Müth 2007, 110–119; 127; Fröhlich 2008, 210–221. Die intramuralen Bestattungen in Messene werden auch am Ende dieses Kapitels noch einmal thematisiert. Siehe etwa IG V 1435 (ohne Dat.; FO: „in monte Ithome“); IG V 1439; SEG 41.342 (hellenistisch; FO: vor dem Brunnen d. Arsinoe); SEG 41.343 (2./1. Jh. v.Chr.; FO: nördl. d. Odeion); SEG 51.469 (fr. 3. Jh.; FO: 90m östl. d. Asklepieion). Noch in römischer Zeit war es wohl (noch?) üblich, Bürger ohne ihr Patronym aufzulisten (siehe IG V.1 1438a & b; 1439). Diese Belege zeigen auch, dass Themelis’ Einschätzung, das Weglassen der Patronyme solle den heroischen Charakter der Kriegstoten unterstreichen (Themelis 2001, 200), nicht zutrifft.
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formelhaft verkürzten Überschrift, wie sie uns mittlerweile schon auf einer ganzen Reihe von Inschriften begegnet ist, doch stark nahe, dass es sich um ein Gefallenendenkmal handelte.971 So ist als nächstes zu fragen, ob ein historischer Konflikt identifiziert werden kann, anlässlich dessen ein Gefecht beim eleischen Makistos überliefert ist oder zumindest vorstellbar wäre. Wiederum unterbreitet Themelis bereits in der Erstveröffentlichung einen Vorschlag. Seiner Einschätzung nach sei die Inschrift aufgrund der Schriftform ins 3. Jh. v.Chr. zu datieren. In diesem Zeitraum sei nun lediglich eine einzige Situation überliefert, anlässlich derer die Messener auf elischem Gebiet kämpften: die Besetzung von Elis durch die Messener, von der Pausanias berichtet. Bedauerlicherweise sind die Datierungsangaben des Periegeten wieder einmal ausgesprochen ungenau, sodass sich die messenische Eroberung von Elis lediglich zwischen den Galliereinfall des Jahres 279 v.Chr. und die Eroberung Messenes durch Philipp V. 214 v.Chr. einordnen lässt.972 Zwar meint Themelis, das Schriftbild der Gefallenenliste würde für eine Datierung hin zum späteren Datum sprechen, doch muss eine solche Argumentation anhand paläographischer Kriterien, wie immer, mit Vorsicht betrachtet werden, zumal andere Autoren sich für eine frühere Datierung der Episode aussprechen.973 Ebenfalls skeptisch sollte man auf Themelis’ Vorschlag blicken, dass die Gefallenenliste mit einem Monument, das noch heute vor der Oststoa an der nordöstlichen Ecke des Stadions liegt, in Verbindung stand. Es handelt sich um eine quaderförmige Basis, die aus vier Kalksteinplatten zusammengesetzt ist, die an den Ecken durch kleine, unkannelierte Säulen miteinander verbunden werden. Die vier Orthostatenplatten tragen in ihrer Mitte jeweils das Relief eines Schildes. Die Basisbekrönung stellt ein ionischer Architrav dar, auf dem noch deutlich die Reste von gutae zu erkennen sind. Aufgrund der Massivität der Basis glaubt Themelis, dass sie möglicherweise ursprünglich die sieben Trommeln einer nahebei gefundenen dorischen Säule trug, die wiederum von einem Tropaion oder einer Nike gekrönt worden sein könnte. Sollte die Gefallenenliste tatsächlich diesem Monument zugehörig sein, ließen sich hieraus interessante Vergleiche etwa zur Nike des Paionios in Olympia und zum thebanischen Tropaion bei Leuktra anstellen, die zudem die Frage nach dem Verhältnis von Tropaia und Gefallenenmonumenten aufwerfen wür971 972 973
Auch Müth 2007, 124f. und Fröhlich 2008, 217f. teilen diese Einschätzung. Siehe Paus. 4.28.4–6 mit Themelis 1996, 163–165; 2001, 199–201. Themelis selbst (2001, 200 Anm. 12) verweist auf Roebuck 1941, 63f., der die Besetzung – freilich ohne Kenntnis der erst später entdeckten Inschrift – zwischen 279 und 270 v.Chr. ansetzt. Luraghi 2008, 257 hält Roebucks Datierung für wahrscheinlicher als Themelis’ Vorschlag, da der messenische Angriff auf Elis im historischen Kontext der 270er Jahre v.Chr. besser vorstellbar sei. Ebenso Grandjean 2003, 74. Auch Musti/Torelli 1991, 245f. tendieren zur früheren Datierung. Einzig Müth 2007, 124f. folgt Themelis’ Datierung, wobei sie sich in ihrer Arbeit vornehmlich auf die noch zu besprechende Basis vor der Oststoa konzentriert und der Gefallenenliste und ihrem Kontext kaum Beachtung schenkt. Fröhlich 2008, 217f. referiert lediglich Themelis’ Vorschlag und mahnt zur Vorsicht vor zu schnellen Schlüssen.
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den.974 Allerdings beruht die Zuordnung der Basis und der Inschrift zueinander lediglich auf der relativen Nähe ihrer Fundorte und der Tatsache, dass beide sich offensichtlich auf militärische Auseinandersetzungen bezogen. Monumente mit militärischem Bezug sind jedoch in einem Gymnasion in größerer Zahl zu erwarten und so ergibt sich hieraus noch keine Zugehörigkeit der beiden Denkmäler zueinander. Überdies lässt sich weder klären, ob die Stele nicht vielleicht auch einem der anderen zahlreichen Monumente im Gymnasion zuzuordnen ist, noch ob sie überhaupt einem größeren Denkmal zugeordnet werden muss. Möglicherweise diente schließlich nur sie selbst als Erinnerungsmarker für die Gefallenen, ohne dass noch ein größeres Monument nötig war. Ohne neue Hinweise, die diese Verbindung bekräftigen könnten, muss also die Frage nach der Einbindung der Inschrift in ein größeres Monument ebenso ungeklärt bleiben wie jene nach ihrer genauen Datierung. Wenden wir uns daher stattdessen dem topographischen Kontext des Monumentes zu. Wie ich bereits oben angemerkt habe, wurden im 3. Jh. v.Chr. an der Westseite des Gymnasions eine ganze Reihe aufwendiger Grabbauten und -bezirke errichtet, die wohl ein besonderes Zugeständnis der polis an verdiente Bürger und deren Familien darstellten. Diese Gräber sowie auch der Umstand, dass sich in Messene besonders viele intramurale Bestattungen fanden, die zudem noch deutlich früher auftraten als in anderen poleis des griechischen Mutterlandes, wurden in den vergangenen Jahren vielfach zusammen diskutiert.975 Als Erklärung, warum die Messener so früh und in so großer Zahl die Bestattung verdienter Bürger innerhalb des Mauerringes erlaubten, wurden dabei vor allem zwei Erklärungen angeführt. So meint Silke Müth, dass die Messener hierbei nach den langen Jahren spartanischer Herrschaft schlichtweg eine Sitte der Spartaner übernommen hätten.976 Das Problem dieser These besteht nun aber darin, dass intramurale Bestattungen in Sparta aufgrund der besonderen urbanen bzw. eben dörflichen Struktur der ‚Stadt‘ so häufig auftraten und dabei wohlgemerkt alle Toten einschlossen und nicht nur
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Die Nike des Paionios wurde um 420 v.Chr. von den Messeniern und Naupaktiern in Olympia für einen nicht näher bezeichneten Sieg gestiftet. Es liegt allerdings nahe, von einem Sieg über die Spartaner auszugehen. Der hohe Schaft ihrer Basis war u.a. mit erbeuteten Schilden verziert (zum Monument siehe Paus. 5.26.1; Herrmann 1972, passim aber insb. 243; Hölscher 1974, passim). Auch die Basis des Tropaions bei Leuktra wurde von Schilden in steinernem Relief geschmückt (vgl. Strosczeck 2004, 311; 321f. mit Abb. 2; 3 für einen konzisen Abriss zu dem Monument). Themelis 2001, 201 führt noch weitere Vergleichsbeispiele an, auf die ich hier nicht eingehen will. U.a. von Themelis 2003, 66; Müth 2007, 233f.; Fröhlich 2008, 203f.; Luraghi 2008, 287–291. Fröhlich weist dabei besonders darauf hin, dass in anderen poleis intramurale Bestattungen ‚gewöhnlicher‘ Bürger frühestens im späten 2. Jh. v.Chr. zu beobachten sind. Dies betrifft freilich nicht die Gräber mythischer Heroen und Gründerfiguren sowie Herrscher. Siehe Müth 2007, 233f. Luraghi 2008, 290f. folgt ihr in dieser Interpretation.
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verdiente Bürger.977 In Messene waren es aber eben nur wenige, ausgesuchte Familien, denen eine Bestattung innerhalb des Mauerringes gewährt wurde und nicht die Allgemeinheit der messenischen Bevölkerung.978 Diese Gräber stellten also die Ausnahme und nicht die Regel dar. Plausibler ist daher der Vorschlag Pierre Fröhlichs, die Messenier hätten besonders früh solch monumentale Gräber für verdiente Bürger gestattet, weil sie hiermit ihr Defizit an eigenen historischen exempla zu kompensieren suchten. Freilich verfügten die Messener – anders etwa als die Megalopolitaner – über eine eigene, messenische Vergangenheit in Form von mythischen und historischen Erzählungen gerade über den Kampf gegen die Lakedaimonier. Doch hat Nino Luraghi gezeigt, dass trotz dieser vermeintlich verbindenden Faktoren, die „ethnic unity“ der Messener nur in der Theorie bestanden habe und dass die mangelnde Kohäsion der Polisgemeinschaft bis weit ins 3. Jh. v.Chr. ein zentrales Problem des Gemeinwesens darstellte.979 Es mangelte also an tatsächlichen und konkret erinnerbaren historischen Episoden und Persönlichkeiten, auf die sich die Messener berufen und anhand derer sie eine gemeinsame messenische Identität hätten vermitteln können. Als diese mangelnde Einheit und Kohäsion zunehmend zum Problem zu werden drohten und gerade auch die Gegensätze zwischen der polis Messene und der Landschaft Messene mit ihren vielen kleineren Siedlungen aufzubrechen drohten,980 mag es den Polisbürgern durchaus als sinnvoll erschienen sein, ihr Defizit an historischen exempla durch konkret fassbare Mitbürger bzw. Gruppen von Bürgern,981 die sich um die Stadt verdient gemacht hatten, auszugleichen. Eine ähnliche Strategie konnten wir schließlich schon weiter oben im Falle von Argos beobachten, wo die kollektive Kommemoration auf die mythische Vergangenheit des Gemeinwesens verlagert wurde.982 Im Zuge eines solchen ‚Programmes’ zur Propagierung und Stärkung der Polisidentität983 wäre ein Denkmal für Bürger, die im gemeinsamen Kampf für die polis gefallen waren, sicherlich als ein sehr effektives Mittel angesehen worden. 977
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Luraghi 2008, 290f. legt sehr anschaulich dar, wie jedes der fünf Dörfer aus denen sich Sparta zusammensetzte, seine Toten jeweils vor seinen eigenen Toren bestattete und wie es schließlich mit dem Zusammenschluss und der Ummauerung dieser Dörfer als ‚tatsächliche Stadt‘ dazu kam, dass diese Gräber nun innerhalb des Stadtgebietes lagen. Müth selbst (2007, 231–233) legt dar, dass die Nekropolen der Stadt, soweit sie sich lokalisieren lassen, offensichtlich außerhalb des Mauerringes lagen, auch wenn sie bisher noch nicht umfassender untersucht wurden. Signifikante Zahlen einfacherer Gräber innerhalb des eigentlichen Stadtgebietes sind mir nicht bekannt. Siehe besonders deutlich Luraghi 2008, 287f. Vgl. Luraghi 2008, 277–291. Fröhlich 2008, 221f. weist ganz zurecht auf den Umstand hin, dass in den intramuralen Gräbern in Messene niemals einzelne Individuen bestattet wurden, sondern jeweils ganze Familien oder Gruppen. S.o. 2. I. Argos. Dass es sich hierbei tatsächlich um ein bewusstes Programm gehandelt haben mag, deutet auch die Tatsache an, dass die polis ab dem ersten Viertel des 3. Jh. v.Chr. nunmehr durchweg als „Messene“
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Die Kommemoration der Gefallenen der Schlacht von Makistos hätte sich nahtlos in die zeitgenössische messenische Praxis, verdiente Bürger im Gymnasion zu ehren, eingefügt und dabei zwei wichtige Aspekte des Bürgerdaseins hervorgehoben: den militärischen Dienst für die polis und die Bereitschaft, sein Leben im Ernstfall auch für die polis zu geben. Adressat gerade dieser letzten Botschaft waren sicherlich, wie schon andere Forscher vor mir festgestellt haben,984 vor allem die Epheben, die im Gymnasion in ihren bürgerlichen Pflichten unterwiesen wurden. Damit treffen wir in Messene auf eine Verbindung zwischen dem Gefallenengedenken und der Erziehung der heranwachsenden Bürger, die sich – wie oben gesehen – auch in anderen poleis findet.985 Eine solche Verknüpfung bot sich schließlich auch an, konnte sie doch die zeitliche Dimension des Gefallenengedenkens und dessen Verbindung mit der Kontinuität des Gemeinwesens besonders gut zum Ausdruck bringen. So nämlich, wie die jetzigen und früheren Gefallenen für die polis gekämpft und durch ihr Opfer deren Weiterexistenz gesichert hatten, sollten auch die heranwachsenden Bürger sich eines Tages für das Gemeinwesen einsetzen. Bedauerlicherweise sind keine Quellen erhalten, die uns informieren würden, ob die Kommemoration der Gefallenen auch mit speziellen Ritualen verbunden war. Die Aufstellung der Stele im Gymnasion, in direkter Nähe des Stadions lädt etwa zu der Hypothese ein, dass möglicherweise anlässlich der Bestattung oder des Gedenkens an die Toten von der polis auch Agone veranstaltet wurden. Diese Überlegung muss allerdings rein hypothetisch bleiben, da weitere Zeugnisse zum Gefallenengedenken in Messene rar und überdies in ihrer Identifikation nicht eindeutig sind. Wenig sagen lässt sich etwa zu einem Polyandrion, das zu Beginn der 60er Jahre nördlich des Golf von Navarino an der Küste bei Tragana gefunden wurde.986 Aus den knappen Berichten über die beiden Grabungskampagnen unter der Leitung von George Papathanasopoulos lässt sich entnehmen, dass es sich um einen Grabhügel handelte, innerhalb dessen eine größere Brandschicht gefunden wurde, in der sich u.a. noch intakte Vasen fanden sowie zuunterst drei steinerne Sarkophage, die innerhalb eines 2,50 x 3,10m messenden Peribolos aufgestellt wa-
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bezeichnet wurde, während vorher der Name „Ithome“ geläufig war (vgl. Müth 2007, 16f.; Luraghi 2008, 268f.). Dieser plötzliche Wandel in der Bezeichnung weist klar auf eine bewusste Entscheidung hin. So eben v.a. Fröhlich 2008, 220f., aber auch Müth 2007, 127, wenn sie den Gedanken auch nicht derartig expliziert. So etwa besonders eindrücklich in Athen (vgl. 1. II. ekphora und Grablege mit Anm. 97). Siehe aber auch das Epigramm für Eugnotos aus Akraiphia (vgl. 2. I. Akraiphia), das einen Aufruf an die neoi einschließt. Vgl. überdies das Epigramm für Neon aus Theben (s.o. 2. I. Theben mit Anm. 485). Schließlich vgl. auch unten 3. I. Patris für einige übergreifende Überlegungen. Siehe Papathanasopoulos, in: Arch.Delt. 17 (1961–62) [1963], 98f. mit Taf. 103B; 104; Ders., in: Arch.Delt. 18 (1963) [1964], 91f. mit Taf. 105; 106; Kurtz/Boardman 1971, 282f.; Pritchett 1985, 138f. Weitere Publikationen zu dem wenig beachteten Grabkomplex sind mir nicht bekannt.
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ren. Die Sarkophage maßen alle 2 x 0,55m und enthielten jeweils die Überreste von mehreren Skeletten sowie eine Silbermünze. Eine Sondage aus dem ersten Grabungsjahr förderte zudem eine Vielzahl eiserner Strigiles sowie ein Kurzschwert zutage. Die Berichte nennen nur wenige Details zu den Funden, doch schlägt der Ausgräber wohl aufgrund der Keramik- und der Münzfunde eine Datierung ans Ende des 3. oder den Anfang des 2. Jh. v.Chr. vor. Unklar ist, ob es sich bei dem Komplex tatsächlich um ein Gefallenengrab handelte. Papathanasopoulos äußert sich diesbezüglich nicht und da sein Bericht auch jeglicher Details zu Alter und Geschlecht, geschweige denn Todesursache, der Bestatteten entbehrt, lässt sich hier keine Klärung bringen, wenn auch Donna Kurtz und John Boardman meinen, das Grab „sounds rather like a burial of war dead“.987 Dass es sich keinesfalls um ein Gefallenengrab handeln muss, zeigt jedoch schon ein Blick nach Messene, wo die meisten der erwähnten Gräber an der Westseite des Gymnasions eine ganz ähnliche Struktur mit einer Häufung von Kistengräbern oder Sarkophagen aufweisen, die jedoch sicher nicht für Kriegstote gedacht waren. Ohne also mehr über den eigentlichen Befund und zumindest das Geschlecht der Toten selbst zu wissen, muss der Vorschlag von Kurtz und Boardman doch mit äußerster Skepsis betrachtet werden. Ebenso ist wohl die Identifikation eines weiteren Monumentes, das sich diesmal wieder in Messene selbst befindet, als Gefallenengrab abzulehnen. Eben weil ich die Identifikation als eine Bestattung von Kriegstoten für ausgesprochen unwahrscheinlich halte, will ich mich bei der Beschreibung des Befundes nur auf die nötigsten Details beschränken.988 Der Komplex liegt östlich des Asklepieions, gegenüber dem Bouleuterion Γ und somit nahe des Osteingangs zum Heiligtum. Es handelt sich um ein 11,25 x 4,0m messendes Peribolosgrab, dessen Außenwände aus Kalkstein gebildet werden und das von einem Architrav ionischer Ordnung abgeschlossen wird. Auf drei der Architravblöcke findet sich eine Vielzahl von Namen eingeschrieben, die aus unterschiedlichen Zeitstufen stammen. Die älteste Inschrift nennt die Namen von sechs Männern und vier Frauen in einer Zeile direkt hintereinander und ohne Angabe des Patronyms. Sie wird von Petros Themelis, der die Anlage ausgrub, aufgrund paläographischer Kriterien in die erste Hälfte des 2. Jh. v.Chr. datiert und gehörte wohl zur ursprünglichen Nutzungsphase des Baus. Die Namen von weiteren sechs Frauen und acht Männern, die in wilder Ordnung auf den Architravblöcken angebracht sind, stammen wohl von späteren Bestattungen und lassen sich bis in das 2. Jh. n.Chr. datieren. Im Innern des Grabes waren sieben Kistengräber aus Steinplatten errichtet. 987 988
Kurtz/Boardman 1971, 283. Zum Monument siehe Themelis 2001, 206f. + Abb. 12–14 (mit weiterer Literatur und seinen Grabungsberichten); 2009, 96f. + Abb. 8 u. Taf. 65; Ders./Chaïdemenos 2010, 215f.; Müth 2007, 229–231 mit. Abb. 120–122; Schörner 2007, 235–237 Nr. A15; Fröhlich 2008, 204–208; Chaniotis 2012, 41–43.
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Petros Themelis urteilt, es handele sich bei dem Komplex „sans doute“ um ein Gefallenengrab, das von der polis ursprünglich für die zehn Männer und Frauen errichtet worden sei, die in der ältesten Inschrift genannt werden, und später für weitere Bestattungen – möglicherweise von Angehörigen und Nachfahren der ersten Grabinhaber – genutzt wurde.989 Die Bestattung der vier Frauen will er dadurch erklären, dass die Toten bei der Verteidigung der Stadt entweder gegen Demetrios von Pharos oder gegen den Spartanerkönig Nabis starben, die beide 214 v.Chr. bzw. 201 v.Chr. in relativ kurzer Folge aufeinander versuchten, Messene zu erobern. Er stützt sich dabei auch auf eine Randbemerkung des Pausanias, laut derer die Makedonen unter Demetrios bei dem Angriff auf die Stadt gleichzeitig von den männlichen Messenern am Boden angegriffen und von ihren Frauen von den Dächern aus mit Ziegeln beworfen wurden.990 Nun handelt es sich bei der Schilderung des Pausanias eindeutig um einen topos, der von den antiken Autoren gerne verwendet wurde, um die Dramatik und das Chaos einer Stadteroberung zu untermalen,991 und nicht um die Beschreibung einer realen Szene. Zwar soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch Frauen im Ernstfall an der Verteidigung der Stadt mitwirkten, jedoch vermag der Bericht des Pausanias an dieser Stelle nicht als Beleg für Themelis’ These herzuhalten. Darüber hinaus mangelt es fast vollständig an Indizien, die dafür sprechen würden, den Komplex als Gefallenengrab zu identifizieren und nicht schlichtweg als ein weiteres Grab für eine verdiente Bürgerfamilie. Auch wenn sich der Bau durch seine Lage am Asklepieion von den Gräbern am Gymnasion abhebt, sind die strukturellen Übereinstimmungen mit letzteren Bauten durchaus gegeben – es handelt sich jeweils um einen größeren Grabbau, innerhalb dessen dann Kistengräber Platz für unterschiedliche Bestattungen boten.992 Es schiene daher plausibler, den Komplex am Asklepieion vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe vergleichbarer Familiengräber ebenfalls als ein solches zu interpretieren, anstatt ihn dem Typus eines Gefallenengrabes zuzuordnen, für den sich in der Stadt eine einzige Parallele findet, die zudem eine ganz andere Form annimmt.993 Erschwerend kommt hinzu, dass Christian Habicht 1997 in einem Aufsatz plausibel 989
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Vgl. Themelis 2001, 206f.; Chaniotis 2012, 41–43 folgt Themelis’ Interpretation, wenn auch aus dem simplen Grund, dass ihm ein Grab, das Frauen berücksichtigte, seiner Argumentation sehr gelegen käme. Paus. 4.29.5. Themelis 2001, 207 verweist hierauf, ohne allerdings die Pausaniasstelle konkret zu nennen. Fast identische Beschreibungen finden sich bei Thuk. 2.4.2; Plut. Sul. 9.6.4; Diod. Sic. 13.56.7. Pausanias (1.13.8) selbst verwendet diesen topos auch bei der Beschreibung des Todes des Pyrrhos, der von einem von einer Argiverin geworfenen Ziegel getötet worden sei (ebenso bei Plut. Pyr. 34.1f.). Insbesondere zum sog. Monument K1 sind die Parallelen sehr deutlich. Zu den Gräbern am Gymnasion vgl. Müth 2007, 110–119; 127; Fröhlich 2008, 210–221. Fröhlich 2008, 205 argumentiert zudem, dass auf dem Architrav eine Überschrift nach dem Muster „οἵδε ἐν …“ fehle, die das Monument als Gefallenengrab identifiziere und die Toten verorte. Dieser Einwand ist allerdings nur bedingt berechtigt. Zum einen hätte eine solche Überschrift auch (vielleicht
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machen konnte, dass zumindest die männlichen Gefallenen alle aus lediglich zwei einflussreichen messenischen Familien stammten.994 Fröhlich wiederum greift diese Argumentation auf und schlägt vor, dass die Toten möglicherweise bei einem demokratischen Umsturz im Jahr 215/214 v.Chr. als Angehörige einer oligarchischen Familie umgebracht worden und nach der Wiederherstellung der oligarchischen Ordnung mit dem monumentalen Grab vor dem Asklepieion geehrt worden seien.995 Tatsächlich würde die gleichzeitige Einschreibung der ersten zehn Namen nahelegen, dass die Toten auch gleichzeitig verstarben und beigesetzt wurden. Jedoch könnte die Inschrift ebenso schlichtweg zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt worden sein, wie auch Habicht vorschlägt.996 Obwohl Habichts Argumentation an einigen Stellen nicht voll überzeugen kann und das Grab vielleicht auch nicht einer so dramatischen Erklärung bedarf, wie Fröhlich sie vorschlägt, liegt gerade mit Blick auf die Vergleichsbeispiele vor Ort dennoch auf der Hand, dass eine Deutung des Baus als das Grab einer oder mehrerer verdienter messenischer Familien deutlich wahrscheinlicher ist, als Themelis’ Vorschlag. Auch die späteren Bestattungen innerhalb des Bezirkes scheinen besser zu einem Familiengrab zu passen als zu einem Gefallenengrab, wenn auch beispielsweise vom thebanischen Polyandrion in Chaironeia durchaus ein Fall bekannt ist, in dem sich spätere Bestattungen an ein Grab von Kriegstoten angliederten.997 Damit bleibt mit der eingangs besprochenen Gefallenenliste aus dem Gymnasion lediglich ein einziges überliefertes Beispiel staatlicher Gefallenenkommemoration aus Messene übrig. Es bleibt abzuwarten, ob die weiter andauernden, umfangreichen Grabungen unter der Leitung von Petros Themelis in Zukunft weitere relevante Zeugnisse aufdecken werden. Beim aktuellen Wissensstand mutet die Gefallenenliste aus dem Gymnasion in jedem Fall wie eine Ausnahme an, die keinesfalls einer fest etablierten Praxis zuzuordnen wäre. Vielmehr scheint sie eine Ausprägungsform einer neuen Memorialpolitik gewesen zu sein, die sich gegen Ende des 3. Jh. v.Chr. in Messene durchsetzte und sich eben vor allem in den auffälligen Monumenten und Grabmälern verdienter Bürgerfamilien manifestierte. Aus der Gründungs- und Formierungsphase der polis im 4. Jh. v.Chr. finden sich auffälligerweise keine Zeugnisse staatlichen Gefallenengedenkens, obwohl doch gerade in dieser Zeit solche Versuche zur Affirmation der Gruppenidentität
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zusammen mit einem Epigramm) auf einem weiteren Aufbau platziert worden sein können. Zum anderen ist überhaupt nicht gesagt, dass eine solche Überschrift tatsächlich nötig gewesen wäre. Siehe Habicht 1997, passim. Vgl. Fröhlich 2008, 207. Siehe Habicht 1997, 126. So fanden sich am Grab bei Chaironeia zwei zeitlich relativ naheliegende Bestattungen sowie ein Grab aus römischer Zeit, die allerdings wohlgemerkt außerhalb des Grabbezirkes lagen (vgl. Clairmont 1983, 240f.).
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vielleicht zu erwarten wären. Warum es möglicherweise dennoch nicht zur Ausbildung einer solchen Praxis kam, wird im letzten Hauptteil noch einmal zu diskutieren sein.
Phigaleia In Phigaleia beschränken sich die Zeugnisse zum staatlichen Gefallenengedenken auf einen einzigen Fall, der im Werk des Pausanias überliefert ist. Der Perieget berichtet, dass auf der Agora der Stadt ein Grabmal gelegen habe, in dem gefallene Krieger aus Oresthasion beigesetzt seien, und dass diesen noch in seiner Zeit jedes Jahr Opfer dargebracht würden, wie sie für Heroen üblich wären: Φιγαλεῦσι δὲ ἐπὶ τῆς ἀγορᾶς καὶ πολυάνδριον τῶν λογάδων τῶν Ὀρεσθασίων ἐστί, καὶ ὡς ἥρωσιν αὐτοῖς ἐναγίζουσιν ἀνὰ πᾶν ἔτος.998
Was es mit diesen auserwählten Männern aus Oresthasion auf sich hatte und warum ihnen die Ehre erwiesen wurde, auf der phigaleiischen Agora bestattet zu werden, erklärt Pausanias wenige Paragraphen zuvor. So hätten die Phigaleier sich, nachdem sie in der Mitte des 7. Jh. v.Chr.999 von den Spartanern aus ihrer polis vertrieben worden waren, an das Orakel des Apollon in Delphi gewandt, um zu erfahren, wie sie weiter vorgehen sollten. Die Pythia habe ihnen geantwortet, dass sie ihre Stadt nur wiedergewinnen könnten, wenn sie im Kampf von 100 Kriegern aus Oresthasion unterstützt würden. Trotz der Vorhersage, dass diese 100 Männer bei der Rückeroberung ihr Leben lassen würden, seien die Oresthasier sofort zur Hilfe bereit gewesen und hätten die geforderte Anzahl an Kriegern bereitgestellt, die den Orakelspruch erfüllten.1000 Eben diese Oresthasier, die sich für die Heimkehr und Befreiung der Phigaleier geopfert hatten, seien nun auf der phigaleischen Agora bestattet und verehrt worden. Aus diesen wenigen Angaben lässt sich nun kaum Wesentliches schlussfolgern. Die bestatteten Oresthasier wurden offenbar in gewissem Maße als ktistai oder soteres der Frühzeit des Gemeinwesens angesehen und erfuhren daher wohl auch heroengleiche Verehrung. Ob dieser Kult und das Grabmonument auf der Agora, das Pausanias sah, dabei tatsächlich aus der Zeit der Schlacht stammten oder ob sie zu einem späteren Zeitpunkt, möglicherweise auf Basis einer mündlichen Überlieferung, entstanden bzw. errichtet wurden, bleibt dabei völlig unklar.
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Paus. 8.41.1. Die Zuverlässigkeit der Datierung bei Pausanias ist umstritten (vgl. Pritchett 1985, 160). Doch benötigen wir im vorliegenden Fall auch keine präzise Datierung. Eine grobe Verortung in der Archaik scheint völlig ausreichend. Siehe Paus. 8.39.3f.
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Weder konnten archäologische Reste der Anlage nachgewiesen werden, noch finden sich Hinweise irgendeiner Art auf weitere Fälle staatlichen Gefallenengedenkens in Phigaleia, was in Anbetracht der spärlichen Quellenlage allerdings auch kaum verwundern kann. Es bleibt also lediglich festzuhalten, dass sich hier ein Gefallenenmonument findet, das sich auf die Frühzeit des Gemeinwesens bezog und das in diesem Fall nicht für Tote der eigenen polis errichtet wurde, sondern für Verbündete. Das Denkmal diente demnach nicht nur der Identitätsstiftung nach innen, indem es die Behauptung der Freiheit und Integrität der polis gegenüber den Spartanern zelebrierte, sondern kommemorierte auch die Verbindung zu den Oresthasiern und hatte somit auch eine bedeutsame außenpolitische Dimension.
Sparta Bekanntermaßen hatten die militärische Übung und der Krieg eine ganz besondere und integrale Bedeutung für die Gemeinschaft der Spartaner und so kann es keinesfalls überraschen, dass auch dem Tod auf dem Schlachtfeld eine hervorgehobene Rolle zugewiesen wurde. Schon in den wenigen erhaltenen Fragmenten der archaischen Elegien des Tyrtaios wird dies deutlich. So sei es die größte Schande, wenn junge Männer aus einer Schlacht fliehen würden, während die alten Krieger auf dem Feld blieben und ihr Leben ließen. Stattdessen sollten die jungen Kämpfer mutig und standhaft gegen die Gegner ziehen und nötigenfalls ihr Leben für ihre Frauen, Kinder und Eltern hingeben.1001 Die Fähigkeit, im Angesicht der Schrecken einer Schlacht standzuhalten und den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, sei gar die einzige Qualität, die einen Mann wahrhaft auszeichne und seine ἀρετή beweise. Sollte er im Kampf fallen, brächte er damit seiner polis, seinem Volk („λαός“)1002 und seinem Vater Ehre und werde folgerichtig von der gesamten Gemeinschaft betrauert und erinnert. Auf sein Grab (!) und seine Kinder und Nachfahren werde im Alltag hingewiesen und sein Name und sein Ruhm („κλέος“) würden unsterblich.1003 Zwar würden auch die überlebenden Krieger von Jung und Alt geehrt („τιμάω“),1004 doch wird klar, dass Tyrtaios einen deutlichen qualitativen Unterschied zwischen der Verehrung und der Kommemoration der Gefallenen und der Ehrerweisung gegenüber den überlebenden Kämpfern sah. Diese Themen und Gedankengänge dürften mittlerweile recht bekannt wirken, begegnen uns doch gerade die Idee von der Verwerflichkeit und Schande der Flucht aus der Schlacht sowie
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Siehe vor allem Tyrt. Fr. 10 (= Lyk. Leok. 107), aber auch Fr. 11 (Stob. 4.9.16). Vgl. überdies zu Tyrtaios Gerber 1997, 102–107 mit weiterer Literatur. Möglicherweise bezieht sich „λαός“ hierbei auch auf die Einheit, in der der Krieger diente. Siehe Tyrt. Fr. 12 (Stob. 4.10.1 + 6). Siehe vor allem das Ende von Fragment 12 des Tyrtaios (Stob. 4.10.1 + 6).
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II. Die Peloponnes
die Forderung nach dem Standhalten und der Aufopferung für die patris und für die eigene Familie in zahlreichen der hier behandelten Gefallenenmonumente. Die Elegien des Tyrtaios scheinen sich daher nahtlos in den restlichen Befund zum kollektiven Gefallenengedenken einzufügen1005 und stechen nur dadurch hervor, dass sie deutlich früher zu datieren sind als der Großteil unserer übrigen Zeugnisse. Das zugrunde liegende Ideal aber ist ein- und dasselbe. Gerade weil aber der Ausgangspunkt zur Behandlung der Kriegsgefallenen auch in Sparta derselbe zu sein scheint, wird es im Folgenden ausgesprochen interessant sein, zu zeigen, dass die Formen des Gedenkens an die Kriegstoten sich signifikant von denen anderer klassischer poleis unterschieden. Ich will dabei zunächst die kollektive Kommemoration der spartanischen Gefallenen beleuchten, bevor wir uns dem individuellen Gedenken zuwenden. Wir beginnen mit der Kommemoration der Gefallenen der sog. Schlacht der Champions, die bereits im Kontext des argivischen Gefallenengedenkens besprochen wurde. Die historischen Hintergründe der Schlacht, die um 550 v.Chr. zwischen Argos und Sparta in der Thyreatis geschlagen wurde, und die Überformung des Ereignisses in den späteren Quellen wurden oben ausführlich behandelt und sollen daher hier nicht noch einmal thematisiert werden.1006 Stattdessen soll hier betrachtet werden, wie die Spartaner mit der Erinnerung an diese Schlacht umgingen, und aufgezeigt werden, wo die zentralen Unterschiede zur argivischen Kommemoration dieses Ereignisses lagen. Aus argivischer Sicht war die Episode um die Schlacht der Champions vor allem wichtig, weil sie den für das argivische Selbstverständnis so wichtigen Mythos einer argivisch-spartanischen Erbfeindschaft propagierte und perpetuierte. Den Argivern ging es daher primär um die Darstellung ebendieses Konfliktes und die Feststellung der Ebenbürtigkeit von Spartanern und Argivern. In den Erzählungen der Spartaner, die sich gegenüber den Argivern nicht zu beweisen hatten, lag der Fokus der Erzählung hingegen offenbar auf der kompromisslosen Bereitschaft der dreihundert Krieger, bis zum Äußersten zu kämpfen und das Opfer des eigenen Lebens nicht zu scheuen. Zumindest liegt es nahe, eine bestimmte Version der Erzählung von der Schlacht der Champions, die in den moralia Plutarchs sowie in einigen in der Anthologia Palatina überlieferten Epigrammen erhalten ist, als spartanische Variante der Geschichte zu interpretieren. Gemäß dieser Version habe nämlich der einzige spartanische Überlebende der Schlacht, Orthryadas, nicht nur auf dem Schlachtfeld verweilt und die Waffen der gefallenen Feinde zu einem Tropaion zusammengetragen. Vielmehr habe er zudem mit letzter
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Freilich kann die Authentizität der Fragmente letztlich nicht als gesichert gelten und gerade Fr. 10 aus dem Werk des Lykurg mag stark auf den konkreten athenischen Kontext zugeschnitten worden sein. Insgesamt stimmen die geäußerten Sentimente und Überlegungen aber mit dem überein, was wir über das Werk und die ‚Philosophie‘ des Tyrtaios wissen. S.o. 2. II. Argos.
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Kraft das Siegesmal mit seinem eigenen Blut beschrieben, bevor er noch am Ort starb.1007 In dieser Variante steht also vor allem die Bereitwilligkeit zum Tod in der Schlacht im Zentrum, und noch eine ganze Reihe weiterer Epigramme, die eine spartanische Sichtweise auf die Schlacht annehmen, fokussieren auf das Standhalten und den Tod ihrer Protagonisten.1008 Die Epigramme sind dabei keine zeitgenössischen Produkte der Schlacht, sondern stammen allesamt erst aus hellenistischer und römischer Zeit.1009 Wie auch die Erzählung Plutarchs dürften sie daher massiv von einem konkreten spartanischen ‚exemplum‘ geprägt worden sein: dem Kampf und Opfer des Leonidas und der dreihundert Spartiaten an den Thermopylen. Zweifelsohne war das Ausharren der Truppe des Leonidas im Angesicht der Übermacht des persischen Heeres einer der prägendsten Momente für das spartanische Selbstverständnis überhaupt. Das Bild der dreihundert Spartiaten, die bis zum äußersten Ende dem ‚barbarischen‘ Feind standhielten, der die griechische Freiheit und Existenz bedrohte, war so eindringlich, dass es selbst bis heute kaum etwas von seiner Wirkmacht verloren hat. Vor allem aber ist bemerkenswert, wie eng die Episode mit den Spartanern verknüpft wurde; so eng nämlich, dass die Thespier und Thebaner, die zusammen mit den Spartanern ausgeharrt hatten, in den meisten Versionen der Geschichte gar nicht mehr vorkommen und in den übrigen Varianten nur eine untergeordnete Rolle einnehmen.1010 Die Schlacht des Jahres 480 v.Chr. wurde damit zum exklusiven Symbol spartanischer Tugend und zum Sinnbild des kämpferischen Ethos, mit dem die Spartaner sich in die vorderste Reihe des griechischen Freiheitskampfes eingeschrieben hatten. Es ist denn auch das Monument für die spartanischen Gefallenen, das in der literarischen Überlieferung die prominenteste Rolle einnimmt. Zwar berichtet Herodot bekanntermaßen auch von einem Monument für die Gesamtheit der gefallenen Griechen an den Thermopylen sowie einem Denkmal für den spartanischen Seher Meigistias1011 und Strabon erwähnt gar ins-
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Vgl. Plut. mor. 306A–B sowie Anth. Pal. 7.431 = Page 1981, 287 Nr. LXV mit Page/Gow 1965, 519f. Simonides 5. Siehe etwa Anth. Pal. 7.720 mit Page/Gow 1965, 221 Chairemon 2; Anth. Pal. 7.721 mit Page/Gow 1965, 221f. Chairemon 3; Anth. Pal. 7.432 mit Page/Gow 1965, 225 Damagetos 3 sowie auch Anth. Pal. 7.244, wobei dieses letzte Epigramm beide Seiten gleichermaßen berücksichtigt. So Page/Gow 1965, 220; Robertson 1996, 187f. Siehe hierzu die entsprechenden Stellen in den Kapiteln zu Theben und Thespiai. Erst gar nicht thematisieren will ich die Rolle der übrigen Griechen, die ihre Kontingente abzogen, nachdem die Umgehung des Passes durch die Perser bekannt wurde. Siehe Hdt. 7.228 mit den beiden Epigrammen: „μυριάσιν ποτὲ τῇδε τριηκοσίαις ἐμάχοντο /ἐκ Πελοποννάσου χιλιάδες τέτορες.“ und „μνῆμα τόδε κλεινοῖο Μεγιστία, ὅν ποτε Μῆδοι /Σπερχειὸν ποταμὸν κτεῖναν ἀμειψάμενοι, /μάντιος, ὃς τότε κῆρας ἐπερχομένας σάφα εἰδώς /οὐκ ἔτλη Σπάρτης ἡγεμόνα προλιπεῖν.“. Zum Epigramm des Meigistias siehe auch GV 94; Page 1981, 195f. Nr. VI; Clairmont 1983, 225 Nr. 8e; Petrovic 2007, 231–236.
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II. Die Peloponnes
gesamt fünf Stelen, die die Gräber der Toten am Ort der Schlacht markierten.1012 Doch dominiert stets das Grab der Spartaner mit dem berühmten Epigramm des Simonides, ὦ ξεῖν᾽, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι,1013
die Berichte und stellt alle anderen Monumente weit in den Schatten. Schließlich muss sich dieses Monument, das zu Ehren des Leonidas mit einem steinernen Löwen geschmückt wurde,1014 schon alleine optisch von den anderen Denkmälern abgehoben haben. Glaubt man den Historien des Herodot, ging diese Hervorhebung der Spartaner dabei keinesfalls von den Spartanern selbst aus, sondern von der delphischen Amphiktyonie, die die beiden Epigramme für die gefallenen Griechen und die Dreihundert in Auftrag gegeben habe und damit auch für die besondere Ehrung der Spartaner mit einem separaten Monument verantwortlich gewesen sei. Ob es sich hierbei um eine Fiktion Herodots handelt, mittels derer er die Leistung der Spartaner überhöhen und deren Anerkennung befördern wollte, oder ob die Amphiktyonie sich tatsächlich dazu veranlasst sah, die Toten zu kommemorieren und die Spartaner dabei besonders hervorzuheben, kann schon alleine aufgrund der massiven späteren Überformung der Episode um die Thermopylenschlacht nicht entschieden werden. Auch Strabons Zeugnis, laut dessen sich am Schlachtort fünf (Grab)Stelen fanden, muss nicht zwingend Herodots Aussage widerlegen. Schließlich könnten seit der Zeit Herodots schlichtweg noch mehr Monumente am Ort der Schlacht aufgestellt worden sein, mit denen andere poleis an ihre Gefallenen und ihre Teilnahme an der Schlacht erinnern wollten.1015 In jedem Fall aber wird die Herausstellung der Dreihundert, die in Einklang mit den späteren Erinnerungspraktiken der Spartaner steht, diesen alles andere als unrecht gewesen sein. Auch in der Ebene von Plataiai stach das Grab der Spartaner laut Herodot aus der Reihe der griechischen Polyandrien des Jahres 479 v.Chr. hervor. Während nämlich die anderen poleis ihre Toten jeweils in einem eigenen Grab bestattet hätten, sollen die Spartaner gleich drei Gräber angelegt haben, in denen sie ihre Vollbürger, die Heloten sowie eine dritte Gruppe, bei der es 1012 1013
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Vgl. Strab, 9.4.2. Hdt. 7.228. Vgl. auch Strab. 9.4.16. Siehe zum Monument u.a. GV 4; Page 1981, 231–234 Nr. XXIIb; Petrovic 2007, 245–249; Clarimont 1983, 222f. Nr. 8a; Pritchett 1985, 168–173. So berichtet Hdt. 7.225. Es muss sich dabei keinesfalls um ‚falsche‘ Grabmonumente gehandelt haben, wie Hdt. 9.85.3 sie im Falle von Plataiai berichtet. Vielmehr könnten einige der poleis, die tatsächlich Kontingente an die Thermopylen gesandt und Verluste verzeichnet hatten, im Nachhinein eigene ‚echte‘ Monumente errichtet haben.
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sich entweder um Priester oder eine Gruppe besonders verdienter Männer handelte, separat beisetzten.1016 Die Identifikation der dritten Gruppe ist problematisch. Lange Zeit folgten die Editoren hier einer Erweiterung des Herodot-Manuskripts von „ἰρέας“ und „ἰρέες“ zu „ἰρένας“ bzw. „ἰρένες“, wonach hier die jungen Spartaner, die gerade die Ephebie absolviert hatten, gemeint seien. Verstärkt wurde diese Erweiterung aber in den letzten Jahrzehnten abgelehnt. Die Probleme bezüglich der Identifikation dieser Gruppe sind damit aber keineswegs gelöst. Während sich nämlich etwa Matthew Dillon für die Interpretation als Priester ausspricht, vertreten Nicolas Richer und Stephen Hodkinson die Ansicht, der Begriff meine ‚Helden‘ und bezeichne eine Gruppe von Männern, die sich besonders verdient gemacht hätten.1017 Sollte der Bericht Herodots tatsächlich zutreffen, sähen wir uns wohl mit einer spartanischen Eigenheit konfrontiert, die nur von diesem Gemeinwesen gepflegt wurde. In keiner anderen polis wurden nämlich Bürger unterschiedlichen Status’ getrennt voneinander bestattet und zumindest in Athen konnten selbst Sklaven zusammen mit den Vollbürgern beigesetzt werden, wenn auch freilich in der Kommemorationspraxis zwischen Freien und Unfreien unterschieden wurde.1018 Die separaten Bestattungen der homoioi, der irees und der Heloten hätte somit die strikte Hierarchisierung der lakedaimonischen Bevölkerung widerspiegeln und die Gruppe der irees dezidiert hervorheben sollen. Eine Parallele bietet möglicherweise das einzige erhaltene Begräbnis gefallener Lakedaimonier im Kerameikos von Athen.1019 Dort wurden die beiden Polemarchen und der gefallene Olympiasieger, die im Kampf für die attischen Oligarchen umgekommen waren, in einem eigenen Kompartiment des Grabes beigesetzt. Zudem erhielten sie eine etwas aufwendigere Bestattung (zwei Kopfsteine statt einem) und wurden inschriftlich auf dem Grab genannt.1020 Offenbar wurden hier also die drei Männer, die sich durch ihren Dienst als Polemarch bzw. durch ihre Wettkampfsiege in besonderem Maße um die polis verdient gemacht hatten, mit herausragenden Ehren bei der Bestattung und Kommemoration bedacht. Ob sich dieses Grab tatsächlich als Vergleichsobjekt für die Gräber bei Plataiai eignet, muss indess fraglich bleiben. Wie ich nämlich weiter unten noch darlegen werde, kann weder davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um ein 1016 1017
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Vgl. Hdt. 9.85 und oben S. 93–95. Vgl. Dillon 2007, 158–162 sowie Richer 1994, 64–70 und Hodkinson 2000, 258, der Richer zustimmt. Auch die Interpretation als eirenes wird heute durchaus noch vertreten. So etwa von Jung 2006, 259 Anm. 115. Zur Bestattung und Kommemoration von Sklaven siehe oben 1. II. Die Gefallenenlisten mit Anm. 234 (Athen) und auch die Diskussion um die Frage der Bestattung der athenischen Sklaven bei Marathon (2. I. Plataiai). Das Grab wird weiter unten noch eingehend behandelt. Die übrigen Grabkompartimente unterschieden nicht zwischen unterschiedlichen Statusklassen, sondern lassen sich einzig darauf zurückführen, dass der Grabbau mehrfach erweitert wurde. Auch weisen die restlichen Bestattungen selbst keine weiteren Unterschiede auf.
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II. Die Peloponnes
‚typisches‘ spartanisches Grab handelte, noch sind die internen strukturellen und chronologischen Zusammenhänge des Bauwerks selbst hinreichend erschlossen. Zumindest aber würde diese privilegierte Behandlung besonders verdienter Personen auch mit der Evidenz der sogenannten em polemo-Stelen übereinstimmen, die ebenfalls noch besprochen werden sollen. Betrachtet man die Monumente und Rituale, die an den Thermopylen und in Plataiai für die gefallenen Spartaner errichtet bzw. vollzogen wurden, entsteht zunächst der Eindruck, die Lakedaimonier seien nicht übermäßig oder zumindest nicht in größerem Maße als andere poleis in die Kommemoration ihrer gefallenen Mitbürger involviert gewesen. Immerhin waren sie selbst nur für die Bestattung ihrer Toten aus der Schlacht von Plataiai verantwortlich, während der Grabkult in den Händen der Plataier lag.1021 An den Thermopylen konnten sie freilich nicht selbst Sorge für die Bestattung ihrer Toten tragen. Allerdings hielten sie es offenbar auch nicht für nötig, zusätzlich zu den – bereits sehr eindrucksvollen – Monumenten, die durch die delphische Amphiktyonie errichtet worden waren, ein eigenes Denkmal aufzustellen oder sich auf eine andere Art selbst an der Kommemoration der Toten zu beteiligen. Diese Zurückhaltung würde damit streng dem spartanischen Brauch entsprechen, die eigenen Gefallenen am Schlachtort selbst zu bestatten, ohne ihnen weiterführende Ehren oder Rituale zukommen zu lassen. Sobald wir jedoch unseren Blick auf Sparta selbst richten, ändert sich das Bild deutlich. Dort waren nämlich wohl noch im Laufe des 5. Jh. v.Chr. nahe des Theaters zwei monumentale Gräber errichtet worden, die die nach Sparta überführten Gebeine des Leonidas und des Pausanias aufnahmen: τοῦ θεάτρου δὲ ἀπαντικρὺ Παυσανίου τοῦ Πλαταιᾶσιν ἡγησαμένου μνῆμά ἐστι, τὸ δὲ ἕτερον Λεωνίδου – καὶ λόγους κατὰ ἔτος ἕκαστον ἐπ᾽ αὐτοῖς λέγουσι καὶ τιθέασιν ἀγῶνα, ἐν ᾧ πλὴν Σπαρτιατῶν ἄλλῳ γε οὐκ ἔστιν ἀγωνίζεσθαι –, τὰ δὲ ὀστᾶ τοῦ Λεωνίδου τεσσαράκοντα ἔτεσιν ὕστερον ἀνελομένου ἐκ Θερμοπυλῶν τοῦ Παυσανίου. κεῖται δὲ καὶ στήλη πατρόθεν τὰ ὀνόματα ἔχουσα οἳ πρὸς Μήδους τὸν ἐν Θερμοπύλαις ἀγῶνα ὑπέμειναν.1022
Die Textstelle des Periegten ist durchaus problematisch und kann nicht in allen Einzelheiten diskutiert werden, doch sollen zumindest einige der wichtigsten Fragen und Beobachtungen hier der Reihe nach besprochen werden.
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Unklar bleibt, wann die Eleutheria in Plataiai eingeführt wurden und ob die Spartaner hieran möglicherweise Anteil hatten (s.o. 2. I. Plataiai mit Anm. 365). Paus. 3.14.1.
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Wenden wir uns zunächst dem Grab des Leonidas zu, das gleich aus zwei Gründen besonders wichtig erscheint: Zum einen war Leonidas anders als Pausanias in der Schlacht gefallen, sodass es sich tatsächlich um ein Gefallenengrab handelte. Zum anderen wurde nicht nur der gefallene König alleine kommemoriert, sondern auch die dreihundert mit ihm umgekommen Spartiaten. Gerade dieses Detail ist aber besonders auffällig, weil sich zwar die Rückführung und Kommemoration des Leonidas durch die besondere kultische Stellung der spartanischen Könige erklären lässt,1023 die offizielle Kommemoration namentlich benannter, regulärer Gefallener durch die polis im 5. Jh. v.Chr. aber singulär war. Erneut müssen wir an dieser Stelle jedoch fragen, inwiefern Pausanias’ Schilderung des Zustands des 2. Jh. n.Chr. Gültigkeit für das 5. Jh. v.Chr. beanspruchen kann. Anders formuliert: Wann entstanden die Monumente und Rituale, die Pausanias beschreibt, tatsächlich? Der Perieget selbst gibt an, der Leichnam des Leonidas sei 40 Jahre nach der Schlacht an den Thermopylen auf Veranlassung des Pausanias nach Sparta zurückgeführt worden. Wie vielfach angemerkt wurde, kann es sich hierbei nun nicht um den Sieger von Plataiai gehandelt haben, der um 470 v.Chr. gestorben war. Vielmehr dürfte dessen gleichnamiger Enkel, der zwischen 445 und 427 v.Chr. unter der Vormundschaft seines Onkels Kleomenes König war, zumindest dem Namen nach für die Rückführung verantwortlich gewesen sein.1024 Wie Michael Jung erst kürzlich in einem Artikel dargelegt hat, würde diese grobe zeitliche Verortung der Translation in die 30er Jahre des 5. Jh. v.Chr. überdies sehr gut in den zeitgenössischen politischen Kontext passen.1025 Jung argumentiert, dass die Konkurrenz zwischen Athen und Sparta um die Verdienste in den Perserkriegen sich gerade am Vorabend des Peloponnesischen Krieges deutlich intensivierte und schließlich festgeschrieben wurde, indem die Athener Marathon und Salamis und die Spartaner die Thermopylen und Plataiai als ihre jeweiligen Großtaten beanspruchten. In diesem Kontext hätten die Spartaner mit der Rückführung der Gebeine des Leonidas ein wirksames Zeichen ihrer Verdienste um Griechenland setzen und vielleicht gar ein Gegenstück zum Grab
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Siehe hierzu die Diskussion weiter unten in diesme Kapitel. Vgl. u.a. Richer 1994, 74f. Anm. 135. Connor 1979, 22–24 schlägt vor, dass der Text an dieser Stelle nicht korrekt überliefert worden und dass der Genitiv Παυσανίου eigentlich ein Patronym gewesen sei, das Kleomenes gekennzeichnet habe. Demnach sei es der Sohn des Siegers von Plataiai gewesen, der die Gebeine des Leonidas umgebettet habe. Ich sehe allerdings keinen Grund dafür, die Rekonstruktion derart unnötig zu verkomplizieren. Da der junge Pausanias zu der vom Periegeten benannten Zeit König war, war er formal sicherlich für die Entscheidung zur Translation der Gebeine verantwortlich, auch wenn der Beschluss und die Durchführung faktisch nicht in seinen Händen gelegen haben mögen. Nicht überzeugen kann der zuletzt noch einmal von Paradiso 2009, 523–526 (mit weiterer Literatur) vertretene Vorschlag, die Rückführung habe 4 und nicht 40 Jahre nach dem Tod des Leonidas stattgefunden. Siehe hierzu und zum Folgenden Jung 2011, 99–102. Dieser geht dabei davon aus, dass die Angabe von 40 Jahren seit der Thermopylenschlacht eher als grobe Datierung zu verstehen sei.
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II. Die Peloponnes
der Marathonkämpfer schaffen wollen. Dabei mag der neue ‚Schrein‘ für Leonidas ein älteres Grab obsolet gemacht haben, das möglicherweise im Grabbezirk der Agiadai errichtet worden war und 480 v.Chr. das eidolon des Leonidas empfangen hatte.1026 Zumindest die Richtigkeit von Pausanias’ Angabe zur Datierung der Rückführung der Gebeine des Leonidas ist daher als wahrscheinlich zu erachten. Wie verhält sich dies nun im Fall der Liste mit den Namen der dreihundert Spartaner, die zusammen mit ihrem König an den Thermopylen gefallen waren? Pausanias berichtet lediglich, dass am Grab des Leonidas eine Stele mit den Namen und Patronymen der gefallenen Dreihundert gestanden habe, macht jedoch nicht deutlich, ob diese ein integraler Bestandteil des Grabes war oder möglicherweise erst später hinzugefügt wurde. Die Frage müsste ungeklärt bleiben, würde nicht eine Bemerkung in den Historien Herodots einen wichtigen Hinweis bieten. Der Historiker berichtet nämlich davon, dass er die Namen aller dreihundert gefallenen Spartiaten gekannt habe,1027 und so zog die moderne Forschung aus dieser Aussage den Schluss, Herodot müsse die Liste, die Pausanias über ein halbes Jahrtausend später in Sparta beschrieb, gesehen haben.1028 Tatsächlich könnte zu der Zeit, als Herodot sein Werk verfasste, die Rückführung des Leonidas bereits stattgefunden und auch die Stele der Dreihundert an seinem Grab errichtet worden sein. Dennoch aber hat Annalisa Paradiso zuletzt die These vertreten, dass Herodot seine Informationen nicht von einem Monument bezogen habe, sondern in Sparta selbst mündliche Erkundigungen eingeholt und möglicherweise noch ein Archivdokument zu den Gefallenen der Thermopylen konsultiert habe. Gleichzeitig gesteht sie selbst aber ein, dass das Monument, das Pausanias sah, auf einer deutlich älteren Stele oder wenigstens einem älteren Dokument beruht haben müsse.1029 Wenn sie auch freilich insofern Recht hat, als dass die Namen der Gefallenen bis zu einem erstmaligen inschriftlichen Festhalten anderweitig überliefert worden sein 1026
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Die Frage, wo das eidolon des Leonidas (siehe hierzu die Diskussion weiter unten mit Anm. 1090), beigesetzt worden war, und wie sich das neue zu diesem älteren Grab verhielt, wird in der Forschung nicht explizit diskutiert. Meine Vermutung ist, dass das ältere Grab ganz regulär im Grabbezirk der Agiadai errichtet worden war, da zum Zeitpunkt der Bestattung die Tat und die Figur des Leonidas noch nicht eine derartige Überhöhung erfahren hatten. Erst später, lange nachdem die Invasion des Xerxes abgewehrt worden war, wurde dem Kampf an den Thermopylen schließlich die Bedeutung beigemessen, die dann auch erlaubte, dem heldenhaften König ein Monument an einem solch prominenten Ort der Stadt zu errichten. Vgl. Hdt. 7.224.1. Paradiso 2009, 522f. Anm. 7 führt die wichtigsten Vertreter dieser These an. Clairmont 1983, 223 schlägt vor, die Namen könnten auch auf jenen Stelen eingeschrieben gewesen sein, von denen Strab. 9.4.2 an den Thermopylen berichtet. Diese Möglichkeit kann nicht völlig ausgeschlossen werden, ist m.E. jedoch unwahrscheinlich. Richer 1994, 57 und 62 vertitt ebenfalls die These, dass Herodot die Namen der Liste in Sparta entnommen habe und schlägt vor, dass die Namen möglicherweise nur in Sparta zu lesen gewesen seien, weil die Spartaner „entendent se réserver la faculté d’évoquer ces morts“. Vgl. Paradiso 2009, 527f.
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müssen und dass Herodot noch Zugriff auf eine solche Überlieferung gehabt haben könnte, ist m.E. ein früher Zeitpunkt der inschriftlichen Verstetigung doch wahrscheinlich, könnte dies doch erklären, wie eine ‚offizielle‘ Aufstellung der Gefallenen so scheinbar problemlos bis in die Zeit des Pausanias tradiert werden konnte. Selbst wenn also die Stele mit den Namen der Dreihundert nicht zeitgleich mit dem Grab des Leonidas errichtet worden sein sollte, scheint mir doch sehr wahrscheinlich, dass sie zumindest noch in klassischer Zeit hinzugefügt wurde.1030 Sollte dies tatsächlich der Fall sein, würde dies bedeuten, dass Leonidas und die Dreihundert tatsächlich auch in Sparta selbst Ehrungen erfuhren, die insbesondere im Falle der Dreihundert das übliche Maß weit überragten.1031 Wie wir weiter unten sehen werden, war für gewöhnliche Bürger nämlich auch im Falle ihres Todes in der Schlacht keine Form der Kommemoration durch die polis vorgesehen. Die Inschrift mit ihren Namen stellte damit eine enorme Ehrung dar, die die Bedeutung der Thermopylenschlacht für das spartanische Gemeinwesen und die spartanische Identität noch einmal massiv unterstrich. Auch der promminente Ort,1032 der für das Grab des Leonidas und das Monument der Dreihundert gewählt wurde, bestätigt schließlich diese hervorgehobene Rolle, wurden die spartanischen Könige doch üblicherweise in einem von zwei Arealen bestattet, die für die Gräber der beiden Königsgeschlechter der Agiadai und der Eurypontidai innerhalb der Stadt reserviert waren.1033 Sowohl der Ort als auch die Form der Ehrung zelebrierten somit die außergewöhnliche Rolle, die Leonidas und die anderen Thermopylenkämpfer für das spartanische Gemeinwesen einnahmen. Vermutlich nicht Teil dieser frühen Ehrungen waren das Fest und der Agon, die von Pausanias erwähnt werden. Denn obwohl manche Autoren auch den Beginn dieser Bräuche bereits in der klassischen Zeit ansetzen wollen, sind sie doch auch inschriftlich erst ab der Kaiserzeit belegt und waren damit vermutlich ein Produkt der ‚Renaissance‘ des Gedenkens an die Perserkriege im 1. und 2. Jh. n.Chr.1034
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Auch Hodkinson 2000, 257 spricht sich dafür aus, dass die Stele noch im 5. Jh. v.Chr. aufgestellt worden sei. Auch Low 2006, 101 weist auf den Ausnahmecharakter der Ehrung der Dreihundert hin. Siehe hierzu auch weiter unten die Bemerkungen zur Kommemoration individueller gefallener Krieger in Sparta. Nicht diskutiert werden muss hier das heute als „Leonidaion“ bezeichnete Monument. Dass diese Benennung schlichtweg falsch ist, ist seit dem 19. Jh. bekannt. Siehe etwa Frazers Kommentar zu Paus. 3.14.1 (1898, 324f.). Wie die Angaben bei Paus. 3.14.2 anzudeuten scheinen, lag der Grabbezirk der Agiadai wohl nicht allzu weit weg vom Theater, während jener der Eurypontidai sich etwas weiter entfernt befand (Paus. 3.12.8). Siehe auch Richer 1994, 76. Siehe IG V.1 18; 19; 559 mit Erwähnungen der Leonideia. Vgl. außerdem IG V.1 660, wo ein epitaphios agon für Leonidas, Pausanias und ‚die übrigen Heroen‘ erwähnt wird. Zuletzt vertrat Jung 2011, 105 die These, dass auch der Agon bereits im 5. Jh. v.Chr. eingerichtet wurde. Für eine Entstehung des Festes und Agones in der Kaiserzeit spricht sich u.a. auch Connor 1979, 24f. aus.
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II. Die Peloponnes
Deutlich anders als im Fall des Leonidas stellten sich die Umstände und Gründe der Translation der Gebeine des Pausanias dar. Weder war dieser nämlich im Krieg gefallen, noch war er tatsächlich König gewesen. Vielmehr hatte er als Vormund des Pleistarchos und ‚Regent‘ gedient und in dieser Funktion auch die siegreichen Truppen in der Ebene von Plataiai angeführt. Der Grund, weshalb die Spartaner ihm ein derart monumentales und prominentes Grabmal in ihrer Stadt gewährten lag nun aber eben nicht in der Höhe seiner Verdienste begründet, sondern in den Umständen seines Todes durch die Hände seiner Mitbürger. Als Pausanias sich nämlich nach mehrfacher Beschuldigung des Medismos und des Verrates an Sparta als Schutzsuchender in den Tempel der Athena Chalkioikos gerettet hatte, setzten die Spartaner ihn in dem Heiligtum fest und ließen ihn dort den Hungertod sterben, um ihn danach wie einen Verbrecher zu verscharren.1035 Es war diese Verfehlung gegenüber der Göttin, die die Spartaner auf Geheiß eines delphischen Orakels durch die aufwendige Bestattung des Pausanias am Ort seines Todes zu entsühnen suchten.1036 Nicht politische Überlegungen – wie im Fall des Leonidas – trieben die Spartaner also zu dieser Entscheidung, sondern religiös-kultische Überzeugungen.1037 Wie steht dieses Grab nun in Relation zu jenem des Leonidas? Denn dass die beiden Monumente in Bezug zueinander standen, kann schon alleine aufgrund ihrer unmittelbaren räumlichen Nähe und mit Blick auf die gemeinsame Führungsrolle der beiden Männer bei der Perserabwehr nicht bezweifelt werden. Erneut will ich mich auf die Arbeit Michael Jungs zu den zwei Gräbern berufen, der die überzeugendste These zu ihrer beider Entstehung bietet. Er argumentiert, dass die Gebeine des Pausanias um die Mitte des 5. Jh. v.Chr. und möglicherweise als Reaktion auf das verheerende Erdbeben der 460er Jahre v.Chr. als Entsühnungsmaßnahme im Heiligtum der Athena Chalkioikos beigesetzt wurden, wo überdies in Übereinstimmung mit dem Orakelspruch der Pythia auch zwei Bronzestatuen des Pausanias aufgestellt wurden.1038 Als dann einige Jahre später, kurz vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges beschlossen wurde, 1035
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Die Berichte der antiken Autoren unterscheiden sich teils leicht. So schreibt Thuk. 1.134 etwa, die Spartaner hätten Pausanias kurz vor dessen Tod noch aus dem Heiligtum geführt, damit dieses nicht befleckt werde. Diod. Sic. 11.45.7 hingegen behauptet, er sei noch im Heiligtum selbst gestorben. Letztlich steht aber ohnehin nicht das Miasma, sondern der Vorwurf der Verletzung der Hikesie durch die Spartaner im Vordergrund. Zum Prozess gegen Pausanias, seinem Tod und der Translation seiner Gebeine siehe Thuk. 1.128–134; Diod. Sic. 11.44–45; Paus. 3.17.7–9. Dieser Umstand wurde erst jüngst noch einmal sehr präzise und überzeugend von Jung 2011, 102–105 herausgearbeitet. Siehe auch das Folgende. Siehe hierzu und zum Folgenden Jung 2011, 102–107. Jung folgt explizit der Darstellung des Thukydides (1.134), der als einziger antiker Autor von der Bestattung des Pausanias im Protemenos des Heiligtums berichtet. Diod. Sic. 11.45.7–9 und Paus. 3.17.7–9 erwähnen hingegen nur das Orakel und die beiden Statuen. Pausanias’ Aussage, die Gräber des Leonidas und des Pausanias hätten gegenüber dem Theater (τοῦ θεάτρου δὲ ἀπαντικρὺ) gelegen, ließe sich durchaus so interpretieren, dass der Perieget die Gräber oberhalb der cavea vor dem Heiligtum sah (ähnlich auch Gengler 2009, 153). Schließlich
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die Gebeine des Leonidas nach Sparta zu überführen, sei bewusst die Entscheidung gefällt worden, diese beim Grab des Pausanias beizusetzen, um so auch dessen Monument semantisch umzudeuten und aufzuwerten. War dieses nämlich eigentlich als Sühnemaßnahme errichtet worden und fungierte somit auch als Erinnerung an die Verfehlungen des Pausanias selbst sowie des spartanischen Gemeinwesens insgesamt, so wurde durch die Addition des Leonidasgrabes der Fokus auf die Großtaten der Spartaner in den Perserkriegen verschoben und somit auch dem Grab des Pausanias eine neue Dimension als Monument des Siegers der Schlacht von Plataiai hinzugefügt. Jungs Argumentation ist nicht völlig ohne Probleme. So kann etwa bezweifelt werden, dass die Errichtung des Grabes für Pausanias tatsächlich konkret in Reaktion auf das Erdbeben der 460er Jahre v.Chr. geschah.1039 Jedoch kann die relative Datierung der beiden Monumente überzeugen. Unstrittig dürfte nämlich sein, dass es ausgesprochen unwahrscheinlich ist, dass die Gräber der beiden zentralen Figuren des spartanischen Handelns in den Perserkriegen rein zufällig nebeneinander gelegen haben sollen. Da nun aber der Ort für Pausanias’ Bestattung als Entsühnemaßnahme durch das Orakel, das Thukydides überliefert, mit dem Heiligtum der Athena Chalkioikos festgelegt war, ist die wahrscheinlichste Rekonstruktion in der Tat, dass das Grab des Leonidas erst später an dieses ‚angegliedert‘ wurde und hierdurch die beschriebene semantische Erweiterung und positive Umdeutung des Pausaniasmonuments erfolgte. Möglicherweise ließen sich dem Ensemble dieser ‚Perserkriegsdenkmäler‘ noch zwei weitere Monumente hinzufügen, die Pausanias in Sparta beschreibt: der Schrein für die beiden Brüder Maron und Alpheios, die sich in der Schlacht an den Thermopylen besonders ausgezeichnet hatten, und das Grab des Spartaners Eurybiades, der am Kap Artemision und bei Salamis das Kommando über die griechischen Schiffe geführt hatte.1040 Jedoch finden sich im Falle dieser beiden Denkmäler keinerlei Hinweise darauf, wann sie errichtet wurden, sodass anhand des Zeugnisses des Pausanias nur schwer für die klassische Zeit argumentiert werden kann.1041 Sollten die Monumente aber bereits im 5. Jh. v.Chr. entstanden sein, wäre gerade die Kommemoration des Eurybiades besonders bemerkenswert. Dieser war nämlich weder König gewesen, noch in der
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zeichnet sich das Werk des Pausanias oftmals durch ungenaue Ortsangaben sowie Sprünge und Exkurse in den Beschreibungen aus. Thuk. 1.128 gibt an, die Spartaner selbst hätten einen anderen Fall der Verletzung der Hiketie für diese Katastrophe verantwortlich gemacht (siehe auch Paus. 4.24.5f. und 7.25.3, wo dieser Gedanke wiederholt wird sowie weiterführend Trampedach 2005, 147). Allerdings fügt Thukydides selbst direkt im Anschluss die Episode um die Tötung des Pausanias an, sodass hier möglicherweise doch eine Verbindung hergestellt wurde. Zu Maron und Alpheios siehe Paus. 3.12.9 mit Hdt. 7.226f. und Musti/Torelli 1991, 205. Zu Eurybiades: Paus. 316.6 mit Schörner 2007, 295f. Vgl. Hodkinson 2000, 257 Anm. 60 und 61.
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II. Die Peloponnes
Schlacht gefallen, und wo Pausanias zumindest noch einem der Königsgeschlechter angehört und überdies aufgrund der genannten außergewöhnlichen Umstände sein monumentales Grab erhalten hatte, lassen sich für Eurybiades abseits seiner Rolle in den Perserkriegen keine Gründe für ein Abweichen von der Norm feststellen. Es liegt daher nahe, sein Grab als ein späteres Monument anzusehen, das das Bild von den Errungenschaften der Spartaner in den Perserkriegen komplementieren sollte. Zumindest findet sich in klassischer Zeit abgesehen vom Kenotaph des Brasidas kein weiteres Beispiel, in dem ein spartanischer General, der nicht den Königstitel trug, ein Grabmonument in Sparta erhielt. Wohlgemerkt war Brasidas aber bekannterweise in der Schlacht gefallen, als er Amphipolis gegen die Athener verteidigte und erfüllte somit zumindest die Voraussetzung für ein inschriftliches Monument in Sparta.1042 Ohnehin muss aber auch für dieses Kenotaph, das einzig bei Pausanias belegt ist,1043 gefragt werden, ob es bereits in klassischer Zeit errichtet worden war oder nicht doch erst später.1044 Für alle drei Monumente kann demnach keine verlässliche historische Verortung geleistet werden, sodass sie nur mit äußerster Zurückhaltung in die vorliegende Argumentation einbezogen werden können. In jedem Fall kann aber festgestellt werden, dass die Form und zum Teil schon der Fakt der Kommemoration der genannten Einzelpersonen absolute Ausnahmen darstellten. In besonderem Maße gilt dies zumal für die inschriftliche Kommemoration der dreihundert Gefallenen von den Thermopylen, die für die polis von Sparta singulär war. Üblicherweise beschränkte sich die Sorge der polis für ihre Kriegstoten nämlich einzig auf die Bestattung der Toten am Ort der Schlacht. Eine weitere Kommemoration war nicht vorgesehen und selbst über eine permanente Markierung der Gräber kann lediglich gemutmaßt werden. Nur selten wird die Bestattung spartanischer Kriegsgefallener in den antiken Quellen überhaupt erwähnt. Herodot berichtet von der erfolglosen Expedition des Anchimolios gegen die Peisistratiden 512 v.Chr. und von dessen Grab nahe Phaleron, wo sicherlich auch die mit ihm Gefallenen bestattet waren.1045 Thukydides beschreibt, wie die Spartaner ihre Toten bei Olpai 426/5 v.Chr. hastig am Schlachtort bestatteten, wobei sie allerdings durch Demosthenes zur Eile genötigt wurden.1046 Für den Kampf bei Sphakteria 424 v.Chr. berichtet der Historiker lediglich, dass die Spartaner ihre Toten überführten („διεκομίσαντο“), woraus nicht klar wird, ob sie die Toten nur aufs Festland überführten oder nach Sparta zurücktransportierten. In Anbetracht der heftigen Verluste – inklusive der großen
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Zu den Regelungen bezüglich inschriftlicher Grabmonumente in Sparta siehe weiter unten in diesem Kapitel. Siehe Paus. 3.14.1. Zur Problematik der Datierung des Kenotaphs des Brasidas siehe Hodkinson 2000, 257 mit Anm. 61. Vgl. Hdt. 5.63. Siehe Thuk. 3.109 mit Pritchett 1985, 244.
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Zahl an Gefangenen – liegt eine Bestattung vor Ort aber nahe.1047 Der Autor der Hellenika von Oxyrhynchos wiederum schildert einen Angriff auf die Nachhut des Agesilaos 395 v.Chr., der daraufhin am Ort verweilte, um die Toten zu bestatten.1048 Ebenfalls auf einer Expedition des Agesilaos seien laut Diodor jene Spartaner und Peloponnesier gestorben, die in einem Grab in/ bei Theben bestattet lägen. Die Beschreibung lässt jedoch wenig Rückschlüsse auf die Bestattung der spartanischen Toten zu.1049 Eine Schlachtfeldbestattung wurde schließlich auch nach der verheerenden Niederlage des Jahres 371 v.Chr. bei Leuktra gewählt, wobei in Anbetracht der hohen Verluste ein Transport der Toten ohnehin nicht möglich gewesen sein dürfte.1050 Obwohl wir also nur in wenigen Fällen überhaupt über die Bestattung spartanischer Kriegsgefallener unterrichtet werden, bestätigen diese Berichte doch die Aussage Plutarchs, dass die Spartaner ihre Toten stets am Ort der Schlacht bestatteten: ἔθους δὲ ὄντος Λακωνικοῦ τῶν μὲν ἄλλων ἐπὶ ξένης ἀποθανόντων αὐτοῦ τὰ σώματα κηδεύειν καὶ ἀπολείπειν, τὰ δὲ τῶν βασιλέων οἴκαδε κομίζειν.1051
Lediglich zwei Abweichungen von dieser Regel sind überliefert. So wurden laut Thukydides die lakedaimonischen Gefallenen der Schlacht von Mantineia 418 v.Chr. nicht vor Ort, sondern in der benachbarten Tegeatis bestattet,1052 und auch 395 v.Chr. wurden Lysander und die anderen Spartaner, die bei Haliartos umgekommen waren, nicht vor den Mauern der Stadt, sondern im Gebiet der verbündeten Panopeer beigesetzt.1053 Polly Low schlägt nun vor, diese Ausnahmen seien so zu erklären, dass durch die Bestattung der Spartaner auf alliiertem Territorium die Loyalität der Spartaner zu den jeweiligen Verbündeten demonstriert und so auch das Bündnis 1047 1048 1049
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Vgl. Thuk. 4.38.4 und Pritchett 1985, 190. Siehe Hell. Ox. 24.2. Vgl. Diod. Sic. 15.52.5, wo er u.a. von Stelen berichtet. Das Grab diente jedoch nur als Teil der Schilderung eines Vorzeichens, was die Zuverlässigkeit seiner Beschreibung und möglicherweise die Existenz des Grabes selbst doch stark in Frage stellt. Zum anderen seien hier noch andere Peloponnesier beigesetzt worden, weshalb unklar bleibt, wer sich für die Ausstattung des Grabes und die erwähnten Stelen verantwortlich zeichnete. Einzig Paus. 9.13.11f. spricht explizit von einer Bestattung der Gefallenen am Ort, während Xen. Hell. 6.4.15 und Diod. Sic. 15.56.4 nur von der Aufnahme der Toten berichten. Auch Pritchett 1985, 216f. argumentiert aber aufgrund der genannten Umstände für eine Bestattung vor Ort. Plut. Ages. 40.3. Siehe Thuk. 5.74 sowie Pritchett 1985, 195. Explizit berichtet dies nur Plut. Lys. 29.2f., aber auch Xen. Hell. 3.5.24 und Diod. Sic. 14.81.2 legen nahe, dass der Rückzug der Spartaner sofort nach der Bergung der Toten geschah. Vermutlich war dies Teil der Bedingungen der Boioter für die Aufnahme der Toten gewesen. Solche Bedingungen waren eigentlich nicht üblich und mögen die Spartaner noch zusätzlich gegen ihren König Pausanias aufgebracht haben, der sich hierauf einließ, anstatt die Aufnahme der Toten mit Gewalt zu erzwingen. Siehe
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II. Die Peloponnes
selbst gestärkt werden sollte.1054 Immerhin hätten die Spartaner 418 v.Chr. auf direkte Forderung der verbündeten Tegeaten in Mantineia eingegriffen1055 und auch 395 v.Chr. hätten die Spartaner auf einen expliziten Hilferuf der Phoker reagiert, die sich von den Lokrern und Thebanern bedroht sahen.1056 Die Gräber hätten damit als sichtbares und dauerhaftes Zeichen der Erfüllung der Bündnisverträge und der Loyalität der Spartaner gegenüber ihren Verbündeten gedient. Lows These kann durchaus überzeugen, ist doch auch aus anderen Kontexten bekannt, dass eine polis die Sorge für den Grabkult verbündeter Gefallener übernahm und so ein Zeichen der Freundschaft und der Anerkennung von Loyalität setzte.1057 Es gibt keinen Grund, warum dieser Prozess nicht auch andersherum funktioniert haben sollte, sodass eine polis ein Gefallenenmonument demonstrativ als Symbol der eigenen Loyalität gegenüber den Verbündeten einsetzte. Klar ist auch, dass die manchmal postulierte Sorge, ein Grab könne geschändet werden, wenn es in Feindesland errichtet würde, kein Grund gegen die Bestattung am Schlachtort gewesen sein kann.1058 Weder stellte diese Sorge nämlich in den zahllosen Beispielen von Bestattungen auf dem Schlachtfeld ein Hindernis dar, noch ist meines Wissens ein einziges Beispiel einer solchen Grabschändung unter Griechen überliefert. Plausibler erschiene das Argument, dass durch eine Bestattung in verbündetem Territorium der Vollzug des Grabkultes eher gewährleistet werden könne, da die Zugänglichkeit des Grabes garantiert wäre oder der Kult gleich durch die Verbündeten übernommen werden könne. Doch setzt dieser Gedanke voraus, dass überhaupt ein offizieller Totenkult am Grab gepflegt wurde,1059 und überdies gilt auch hier das Argument, dass die Sorge um den Grabkult die Bestattung am Schlachtort in anderen Fällen nicht verhinderte. Lows Vorschlag, die Abweichung von der Regel durch konkrete politische Überlegungen zu erklären, ist daher auch m.E. die überzeugendste Interpretation des Phänomens. Völlig zu Recht stellt sie nämlich fest, dass auch den antiken Zeitgenossen überaus bewusst gewesen sei, welchen symbolischen Wert die Gefallenendenkmäler hatten und wie diese gewinnbringend eingesetzt werden konnten. Das von ihr zitierte spartanische Sprichwort aus der Sammlung Plutarchs fasst dies schließlich sehr prägnant zusammen:
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auch Pritchett 1985, 211f. Paus. 9.32.5 behauptet, das Grab des Lysander habe in Haliartos selbst gelegen. Siehe hiergegen aber Pritchett a.a.O. Anm. 341. Zum Folgenden siehe Low 2006, 95–97. Vgl. Thuk. 5.64. Siehe Xen. Hell. 3.5.3–5 und Hell. Ox. 21.2–4. Man bedenke etwa alleine die zahlreichen Belege aus Athen (s.o. 1. II. Die Gefallenenlisten sowie die Liste im Anhang ) oder aber eben die Sorge der Plataier für den Grabkult der Gefallenen des Jahres 479 v.Chr. (s.o. 2. I. Plataiai). Vgl. Low 2006, 95, die dieses Argument ebenfalls weitestgehend ablehnt. Private Kulthandlungen ließen sich in keinem Fall verbieten und hätten zur Not wohl auch über individuelle Kontakte durch einen Stellvertreter geregelt werden können.
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Ἀργείου ποτὲ εἰπόντος, ‘πολλοὶ τάφοι παρ᾽ ἡμῖν εἰσὶ Σπαρτιατῶν,’ Λάκων εἶπεν, ‘ἀλλὰ μὴν παρ᾽ ἡμῖν Ἀργείων οὐδὲ εἷς,’ ὡς αὐτῶν μὲν πολλάκις Ἄργους ἐπιβεβηκότων Ἀργείων δὲ τῆς Σπάρτης οὐδέποτε.1060
Es impliziert, dass die Spartaner die Gräber ihrer gefallenen Krieger im Feindesland durchaus auch als Zeichen ihres Erfolgs und als Marker ihres Einflussbereichs verstanden. Auch die Polyandrien der Jahre 418 v.Chr. und 395 v.Chr. demonstrierten letztlich nichts anderes als den Einfluss der Spartaner in der jeweiligen Region, wenn sie auch positiver konnotiert waren als die Gräber aus dem Sprichwort, indem sie auf die freundschaftliche Verbindung der Spartaner hinwiesen. Auch wenn es sich also bei den beiden Bestattungen um Abweichungen von der üblichen Praxis handelte, zeigen gerade sie zwei wichtige Aspekte des spartanischen Gefallenengedenkens auf. Zum einen wird deutlich, wie stark sich auch die Spartaner der politischen Symbolik der Gefallenenmonumente bewusst waren. Zum anderen zeigt sich aber auch eine gewisse Flexibilität in der Gefallenenkommemoration, die den jeweiligen Umständen und Anforderungen angepasst werden konnte, wenn sie auch einen gewissen Rahmen wohl nicht verlassen konnte. Weder berichten die Quellen nämlich in diesen beiden noch in anderen Fällen von besonders aufwendigen Gräbern für die spartanischen Gefallenen oder von sonstigem Aufwand im Zuge der Bestattung oder des späteren Grabkultes. Ironischerweise scheint das einzige erhaltene Grab spartanischer Gefallener auf den ersten Blick genau dieser Schlussfolgerung zu widersprechen. Das Polyandrion der Lakedaimonier im Kerameikos von Athen, das die Gebeine jener Spartaner aufnahm, die 403 v.Chr. bei dem Versuch, die prospartanischen Oligarchen im Kampf gegen die aufständischen Demokraten zu unterstützen, ihr Leben gelassen hatten, beeindruckte nämlich nicht nur mit seiner prominenten Lage vor dem Dipylon, sondern eben auch mit seiner Größe.1061 Der Komplex1062 besteht aus zwei Kernbauten, die neun bzw. einen Leichnam aufnahmen, sowie mehreren späteren Erweiterungen, sodass insgesamt 26 Bestattungen Platz fanden. Erbaut wurde das Grab weitestgehend aus Spolien von gelbem Kalkstein, die wohl in dem Areal zur Verfügung standen, aber
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Plut. mor. 233C. Auch im Folgenden halte ich mich eng an Lows Interpretation (2006, 93f.). Zum Grab siehe vor allem die neueren Arbeiten von Stroszeck 2006, passim, die auch eine gute Übersicht über die älteren Arbeiten bietet, und vonKienlin 2003, 113–118. Es sind vor allem die Ergebnisse dieser neueren Untersuchungen, die im Folgenden wiedergegeben werden. Vgl. weiter aber auch Willemsen 1977, 128–139; 151–156; Clairmont 1983, 203f. Nr. 60a; Pritchett 1985, 133f.; Low 2006, 98f.; Arrington 2010a, 31f.; 2010b, 512–514. Für den Baubefund und die Bestattungen siehe insbesondere Stroszeck 2006, 103–107 und vonKienlin 2003, 113–118.
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auch aus Blöcken anderer Art sowie Bruchsteinen. Die Bauweise zeugt damit von einer gewissen Eile beim Bau, die wohl auch aufgrund der gewählten Bestattungsweise vonnöten war. Anders als die attischen Gefallenen, waren die Spartaner nämlich nicht verbrannt worden, sondern die intakten Leichname in dem Grab beigesetzt worden. Die erhaltenen, ausschließlich männlichen Skelette lassen erkennen, dass sie für die Bestattung in einen Mantel oder ein Tuch eingehüllt worden waren. Ihre Köpfe ruhten bei der Entdeckung jeweils auf einem Bruchstein, der als προσκεφάλαιον diente. Nur bei drei der Männer, die in einem separaten Kompartiment im südlichen Kernbau bestattet waren, ruhten die Köpfe jeweils auf zwei Steinen. Bis auf das einzelne Grab im nördlichen Kernbau, dem ein Alabastron beigegeben war, fanden sich überdies keine Grabbeigaben,1063 jedoch waren in manchen Gräbern noch die Pfeil- und Lanzenspitzen erhalten, die ihren Inhabern den Tod gebracht hatten. Die recht unaufwendigen Beisetzungen entsprachen somit den Vorgaben einer spartanischen Bestattung, die weiter unten noch diskutiert werden, und bekräftigen die Identifikation als Polyandrion der Spartaner weiter. Ohnehin kann aber nicht daran gezweifelt werden, dass es sich tatsächlich um das Grab der gefallenen Spartaner des Jahres 403 v.Chr. handelte. Gekrönt wurde der Grabbau nämlich von einem länglichen Stein, auf dem sich noch die Reste einer linksläufigen Inschrift im lakonischen Alphabet fanden, die unter einer als ΛΑ[ΚΕΔΑΙΜΟΝΙΟΙ] ergänzten Überschrift, die Namen Chairon und Thibrachos, welche als Polemarchen bezeichnet werden, sowie den Anfangsbuchstaben Λ eines weiteren Namens nennt.1064 Xenophon berichtet nun aber, dass in den Gefechten des Jahres 403 v.Chr. die beiden spartanischen Polemarchen Chairon und Thibrachos sowie der spartanische Olympionike Lakrates umgekommen seien. Es liegt auf der Hand, dass ebendiese drei Männer auf der Inschrift am Grab genannt wurden. Unschlüssigkeit besteht noch hinsichtlich der zeitlichen Stellung der einzelnen Kompartimente zueinander. Während nämlich Jutta Stroszeck die einzelnen Abschnitte des Baus chronologisch nah beieinander verorten und alle zusammen in den Kontext des Jahres 403 v.Chr. rücken will, vertritt Alexander von Kienlin die These, dass einige der Kompartimente, deren Bodenniveau deutlich über dem der Kernbauten liege, erst mit einigem zeitlichen Abstand hinzugefügt worden seien.1065 Auf den ersten Blick scheint von Kienlins These überzeugender, doch kann aufgrund des vorläufigen Charakters beider Arbeiten kein endgültiges Urteil gefällt werden. Klärung in diesem Punkt wird wohl erst die Abschlusspublikation zu den Untersuchungen
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Bei der lakonisch-rotfigurigen Keramik, die in den oberen Schichten der Gräber gefunden wurde, handelte es sich nicht um Beigaben, sondern um Gefäße, die bei den Opfern, die die Bestattung begleiteten, Verwendung gefunden hatten und am Grab verblieben waren. Vgl. Stroszeck 2006, 107. Siehe IG II/III2 11678. Vgl. Stroszeck 2006, 103f. und vonKienlin 2003, 113–116. Auch Willemsen 1977, 151 plädiert für einen engen zeitlichen Zusammenhang.
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der letzten Jahre bringen, die derzeit in Arbeit ist.1066 Keineswegs handelt es sich dabei um ein unwichtiges Detail, könnten sich hieraus doch Hinweise für die wichtigste Frage bezüglich des Lakedaimoniergrabs ergeben: Handelte es sich um ein spartanisches oder ein athenisches Grabmal? Zwar entsprach die eigentliche Bestattung der Spartaner in ihrem Mantel und ohne Beigaben ganz offensichtlich dem spartanischen Brauch, doch lässt sich ein derartig eindeutiges Urteil nicht zu allen Elementen des Polyandrion fällen. Schon die grundlegende Form des Baus als Peribolos entsprach ebenjenem Typus, der sich seit dem letzten Drittel des 5. Jh. v.Chr. zunehmend in Athen durchgesetzt hatte.1067 Auch der Charakter der Inschrift erinnert stark an die attischen Gefallenenlisten, die mit der Nennung der Athener oder einer Phyle begannen, und die gerade in dieser Zeit vermehrt dazu neigten, Trierarchen und sonstige Funktionsträger explizit zu kennzeichnen.1068 Die Benennung der Polemarchen könnte eine direkte Übertragung dieser Praxis dargestellt haben und während aus Athen keine Nennungen siegreicher Athleten auf den Gefallenenlisten bekannt sind, könnte die Kennzeichnung des Lakrates eine Rücksichtnahme auf die Gepflogenheiten der Spartaner gewesen sein, die die Sieger panhellenischer Agone in besonderen Ehren hielten und offenbar auch die (privaten) Grabmarker gefallener Wettbewerbssieger besonders kennzeichneten.1069 Zwar ist davon auszugehen, dass auch die Spartaner die Gräber ihrer Kriegstoten in der Fremde in irgendeiner Form markierten, und auch die gesonderte Behandlung der drei Männer könnte in Parallele zum vermeintlichen Grab der „ἰρέες“ bei Plataiai als spartanische Eigenheit interpretiert werden. Doch widerspräche die Auflistung einzelner Individuen auf diesen Gräbern doch allem, was wir über die Bestattungssitten der Spartaner wissen. Insgesamt ist es daher plausibler, dass der Bau des Grabes von den attischen Verbündeten initiiert und auch maßgeblich gestaltet wurde.1070 Freilich nahmen sie 1066 1067
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Die Publikation durch Jutta Stroszeck sollte in nächster Zeit erfolgen. S.o. 1. II. Die Form der Gräber. Besonders sei auf die vor einigen Jahren ausgegrabenen, jedoch noch immer sehr schlecht publizierten Gräber in der Salaminosstraße hingewiesen, die möglicherweise ebenfalls eine interne Unterteilung aufwiesen (vgl. Arrington 2010a, 56). S.o. 1. II. Die Gefallenenlisten. Vgl. Stroszeck 2006, 106, die allerdings den Befund eindrucksvoller klingen lässt, als er ist. Tatsächlich ist nur eine einzelne solche Stele aus Sparta bekannt und nicht mehrere (IG V.1 708). Siehe auch weiter unten. Nicht kommentieren will ich die Zusammensetzung einiger Opfergaben, die in den oberen Schichten der ersten Phase des Kernbaus gefunden wurden. Es handelt sich um eine Mischung lakonischer und attischer Keramik, die zum Teil offenbar eigens für dieses Begräbnis angefertigt wurden. Die Funde werden ausführlich von Stroszeck 2006, 107–118 behandelt, die meint, zumindest bei der lakonischen Keramik müsse es sich um Stücke handeln, die die Spartaner mit sich geführt oder extra für das Begräbnis aus Sparta hatten kommen lassen. Ich sehe jedoch keine Notwendigkeit, dass diejenigen, die lakonische Keramik kauften und am Grab der Spartaner deponierten tatsächlich auch selbst Spartaner sein mussten, standen diese Möglichkeiten den Reihen der spartafreundlichen Athener doch ebenfalls
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II. Die Peloponnes
dabei Rücksicht auf die spartanischen Gepflogenheiten und passten sich diesen in einer Reihe von Punkten an. Ähnlich waren die Athener schließlich wohl auch im Falle der argivischen Gefallenen des Jahres 458/7 v.Chr. vorgegangen, die sie in einem eigenen Grab im demosion sema bestattet und mit einer Gefallenenliste im argivischen Alphabet kommemoriert hatten. Für die attischen Oligarchen und ihre Gefolgsleute muss diese Ehrerbietung gegenüber den Spartanern als gute Gelegenheit erschienen sein, sich deren anhaltender Unterstützung zu versichern. Ohne die Truppen des Pausanias mussten sie – wie sich dann ja auch bestätigte – mit einem Sieg der attischen Demokraten rechnen und für sich selbst das Schlimmste fürchten. Sie übernahmen also die demokratische Tradition der Kommemoration von Verbündeten und nutzten sie für ihre eigenen Zwecke. Die Spartaner, die ihre Kriegstoten ohnehin stets am Ort der Schlacht beisetzten, dürften kaum etwas dagegen gehabt haben, ihre Toten direkt vor den Toren des einstigen Erzfeindes inmitten von dessen ‚Staatsfriedhof ‘ bestatten zu lassen und somit auch diesen Ort in gewissem Sinne zu erobern. Dabei mögen sie auch großzügig darüber hinweggesehen haben, dass einige Details des attischen Brauches nicht mit ihren eigenen Traditionen harmonierten. Sollte die Gestaltung der Bestattung tatsächlich weitestgehend in der Hand der Athener gelegen haben, ließe sich so auch erklären, warum das Lakedaimoniergrab in Athen in solchem Gegensatz zu den anderen Zeugnissen zu stehen scheint – es handelte sich nämlich im eigentlichen Sinne nicht um ein spartanisches Gefallenengrab, sondern um ein attisches Polyandrion mit spartanischen Einflüssen.1071 Klammert man dieses Monument daher aus der Diskussion aus, lässt sich für die Gräber spartanischer Kriegsgefallener festhalten, dass diese entweder direkt auf dem Schlachtfeld oder in Ausnahmefällen auch auf dem Gebiet benachbarter Verbündeter errichtet wurden und dass dabei wohl kein größerer Aufwand für eine monumentale Ausgestaltung oder Markierung be-
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offen. Ohnehin dürfte wohl davon auszugehen sein, dass an der eigentlichen Bestattung sowohl Lakedaimonier als auch Athener teilnahmen. Siehe auch das Folgende. Der Gedanke, dass die Bestattung primär von den attischen Oligarchen ausging, wurde erstmals von Tod 1933, 111 geäußert, der ebenfalls auf die anderen Bestattungen attischer Verbündeter im demosion sema verweist. Er mutmaßt dabei, dass die Spartaner zwar von den wiedereingesetzten Demokraten bestattet worden seien, dass letztere dies aber nur taten, weil die Zehn den Spartanern die Bestattung im Kerameikos zugesagt hätten und die Demokraten sich nicht trauten, diese Zusage zu übergehen. Ich sehe nicht, warum der Grabbau erst unter den Demokraten entstanden sein soll. Die Bauweise deutet schließlich darauf hin, dass er recht schnell entstand. Selbst wenn man aber auf einer Errichtung unter dem demokratischen Regime bestehen möchte, könnte man das Grab als Versöhnungs- und Dankesgeste interpretieren. Immerhin hatte Pausanias maßgeblich dazu beigetragen, dass die Demokratie wiedereingerichtet wurde. Auch Clairmont 1983, 204 und Arrington 2010b, 514 diskutieren Tods Idee. Low 2006, 98f. deutet das Lakedaimoniergrab völlig anders und will hierin ein rein spartanisches Monument sehen, das demonstrativ in feindlichem Gebiet errichtet worden sei. Sie ignoriert schlichtweg die Tatsache, dass Athen selbst 403 v.Chr. von den Dreißig bzw. den Zehn und den Dreitausend kontrolliert wurde und dass die Spartaner explizit zu deren Unterstützung angerückt waren.
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trieben wurde. In Sparta selbst fand sich als einziges kollektives Gefallenenmonument die Liste der dreihundert Thermopylenkämpfer. Ihre Existenz rührte aus der Bedeutung dieser Episode für das spartanische Selbstverständnis und die spartanische Darstellung nach außen her, fungierte dabei aber wohl mehr als Ergänzung dieses ‚exemplum‘, das sich vor allem an der Person des Leonidas kristallisierte. Auch wenn demnach aber keine staatliche und kollektive Form des Gedenkens für die Kriegstoten in Sparta praktiziert wurde, fand sich in den spartanischen Bestattungsgesetzen doch eine Bestimmung, die den Gefallenen jene besondere soziale Wertschätzung zusprach, die man in einer Gesellschaft wie dem antiken Sparta vielleicht erwarten würde. Eigentlich zeichneten die Spartaner sich nämlich durch eine besonders strikte Grabgesetzgebung aus, die sie noch auf Lykurg zurückführten.1072 Plutarch berichtet im Detail, dass die Spartaner stets ohne Beigaben und nur in ihren roten Mantel gehüllt zu bestatten waren und dass einzig einige Olivenzweige hinzugelegt werden durften. Darüber hinaus sei die Trauerzeit auf elf Tage beschränkt und lautes Klagen untersagt worden. Vor allem aber sei verboten worden, die Gräber mit Inschriften zu markieren, es sei denn, der oder die Tote sei im Krieg oder im Wochenbett gestorben.1073 Wurden der Aufwand einer Bestattung (Teilnehmerkreis, Lautstärke) und auch die Größe der Grabmonumente – also all jene Elemente einer Bestattung, die besonders stark in die Öffentlichkeit wirkten – schon seit der Archaik in einer Vielzahl von poleis beschränkt,1074 stellt das völlige Verbot von Inschriften an den Gräbern einen absoluten Einzelfall dar. Umso bedeutsamer ist daher auch der Ausschluss der Gefallenen und der Wöchnerinnen1075 von dieser Regelung. Er ist sicherlich dadurch zu erklären, dass beide Gruppen den 1072
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Zu den Gesetzen siehe u.a. Low 2006, 86–91; Hodkinson 2000, 243–262; Pritchett 1985, 243–246; Toher 1991, 170–173; Papastolou 2009, passim. Vgl. Plut. Lyk. 27.1f. und mor. 238D. S.o. 1. II. ekphora und Grablege mit Anm. 76 für die zahlreichen Grabluxusgesetze der Athener sowie Toher 1991, 159–169, der einen Überblick über archaische Funerärgesetze gibt. Papapostolou 2009, 493 bemerkt, dass Grabgesetze zu den häufigsten und ältesten bekannten Gesetzen gehören. Ich werde an dieser Stelle nicht auf die etwas leidige Diskussion um die Frage eingehen, ob bei Plut. Lyk. 27.2 Wöchnerinnen gemeint sind oder doch Priesterinnen oder eine sonstige Gruppe von Personen. Tatsächlich ist die Stelle textkritisch problematisch, doch sprechen die erhaltenen Grabinschriften aus Sparta, die im Kindbett verstorbene Frauen (λεχόι) kommemorieren, wohl stark für die hier vertretene Auslegung der Stelle. Siehe IG V.1 713; 714; 1128 (hier ist die Edition nicht korrekt, da λεχόι fälschlicherweise als ergänzt angegeben wird, obwohl doch das beiliegende Facsimile zeigt, dass das Wort auf dem Stein zu lesen war). Auch MacDowell 1986, 120–122; Cartledge 1987, 336; Papapostolou 2009, 497f. sprechen sich für diese These aus, während Dillon 2007, passim; Toher 1999, 125f. und Brulé/Piolot 2002, passim; Hodkinson 2000, 260–262 glauben, es müsse sich um andere Gruppen handeln. Selbst wenn die Vorschrift sich aber tatsächlich nicht auf Wöchnerinnen, sondern Priesterinnen, die im Amt verstorben waren, beziehen sollte, würde sich dies nur in Maßen auf die hier
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Tod fanden, während sie einen Beitrag zur Sicherstellung der Kontinuität und der Prosperität der Gemeinschaft leisteten. Dieser Gedankengang mutet für den modernen Betrachter etwas krude an, scheint mir aber doch der Praxis zugrunde zu liegen. Aus Sicht der Spartaner hatten die verstorbenen Frauen das Fortbestehen der Bürgergemeinschaft durch die Geburt neuer Mitglieder befördert, während die gefallenen Krieger das Gemeinwesen gegen äußere Feinde verteidigt und so ihren Anteil zu seiner Fortdauer geleistet hatten. Dass genau dieser Aspekt auch für das spartanische Gefallenengedenken von zentraler Bedeutung war, haben die eingangs dieses Kapitels zitierten Elegien des Tyrtaios gezeigt. Tatsächlich finden sich in Sparta sehr wenige Grabmarker aus klassischer Zeit, die überdies meistens Fremden galten, die von den Grabgesetzregelungen möglicherweise nicht betroffen waren. Jedoch haben sich in den eher spärlichen Reihen spartanischer Grabmonumente eben drei Steine erhalten, die verstorbene Wöchnerinnen nannten, sowie 25 Stücke, die alle spartanische Gefallene kommemorierten und somit die Schilderung Plutarchs bestätigen.1076 Es handelt sich jeweils um recht simple, maximal kniehohe Stelen, die nur in wenigen Fällen Verzierungen in Form von Giebeln oder Akroteren aufweisen. Die Inschriften bieten nur ein Mindestmaß an Information und bestehen jeweils einzig aus dem Namen des Gefallenen ohne Patronym und dem Zusatz ἐν πολέμῳ. Lediglich zwei der Stelen brechen mit diesem Muster. Die Stele des Eualkes nennt neben seinem Namen und dem Fakt, dass er im Krieg starb, auch noch den Ort seines Todes mit dem Zusatz „ἐν Μαντινέαι“. Das Grabmal des Euryades und des Taskos sticht hingegen gleich in mehrerlei Hinsicht hervor, weil es (1.) mit 0,9m Höhe deutlich größer ist als die anderen Marker, (2.) gleich zwei Gefallene kommemoriert und (3.) Euryades zudem noch als Olympioniken ausweist. Die Größe des Steins resultiert wohl aus der Tatsache, dass nicht nur ein, sondern zwei Männer genannt werden, die möglicherweise Brüder oder anderweitig verwandt waren und deshalb ein gemeinsames Monument erhielten. Die Hervorhebung des Olympiasieges des Euryades hingegen, überrascht nicht zu sehr, bestätigt sie doch nur einmal mehr, welch hohes Ansehen Sieger von panhellenischen Agonen in Sparta genossen. Zugleich liefert sie aber auch eine Zusatzinformation zur Rolle des Gefallenen in der Schlacht, dienten die siegreichen Athleten doch bekanntermaßen in der Leibgarde der spartanischen Könige.1077 Die
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vorgeschlagene Interpretation auswirken. Zwar nähme die inschriftliche Kommemoration der Gefallenen und der Priesterinnen nämlich nicht mehr diesselbe existentielle Dimension an, wie die Kommemoration der Gefallenen und der Wöchnerinnen. In beiden Fällen ließe sich aber zumindest feststellen, dass die Toten im Dienst für die polis gestorben waren. Zu den Markern für die Wöchnerinnen siehe die vorherige Anmerkung. Zu den Stelen für die Gefallenen siehe beispielsweise IG V.1 701–710; 918; 921; 1124; 1125; 1320; 1591. Low 2006, 102 Anm. 3 bietet eine fast vollständige Liste der Monumente, der nur noch ein Neufund (SEG 60.404) hinzuzufügen ist, über den allerdings keine Details bekannt sind. Vgl. Plut. Lyk. 22.4; mor. 639E.
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meisten der Inschriften werden zwischen dem 5. und dem 3. Jh. v.Chr. datiert, wobei sich auch noch einige spätere Exemplare aus dem 2. und dem 1. Jh. v.Chr. finden.1078 Interessant ist vor allem die topographische Verteilung der Stelen, die sich nicht etwa nur in Sparta selbst fanden, sondern im gesamten lakedaimonischen Gebiet verteilt waren.1079 Hieraus lässt sich schließen, dass die Inschriften am jeweiligen Wohn- oder Heimatort des Toten aufgestellt wurden und dort vermutlich den Hinterbliebenen als Kristallisationsort der Erinnerung dienten. Da die Gefallenen – wie oben dargelegt – jeweils am Schlachtort bestattet wurden, muss es sich bei den Markern um Kenotaphe gehandelt haben.1080 Neben der persönlichen und emotionalen Dimension bei der Verarbeitung des Verlustes eines Angehörigen kam den Grabstelen vor allem eine soziale Bedeutung zu. Der ‚gute‘ oder ‚schöne‘ Tod in der Schlacht brachte nämlich nicht nur dem Individuum Ruhm, sondern war für die gesamte Familie von Tragweite. Auf die Gedichte des Tyrtaios, die verkünden, ein Mann, der im Krieg stirbt, bringe seinem Vater und seinen Nachkommen anhaltende Ehre, habe ich bereits hingewiesen. Ihr Zeugnis wird ergänzt von einer fast zahllosen Menge an – größtenteils fiktiven – Epigrammen und Erzählungen, die alle ein ähnliches Bild der spartanischen Gesellschaft zeichnen. Aelian etwa berichtet, dass die spartanischen Mütter die Leichname ihrer Söhne auf dem Schlachtfeld nach ruhmreichen Wunden an der Vorderseite ihres Körpers untersuchten und nur Körper aufnahmen, die auch solche Zeichen aufwiesen, während sie die übrigen Gefallenen zur namenlosen Bestattung auf dem Schlachtfeld hinterließen.1081 Deutlich wird die soziale und politische Dimension für die Familie auch im Verhalten der Angehörigen nach dem Schlachtentod eines Verwandten. Xenophon beschreibt, dass nach den Niederlagen bei Lechaion 390 v.Chr. und Leuktra 371 v.Chr. die Verwandten der Gefallenen in der Öffentlichkeit Gefasstheit und gar Freude zeigten, während nur die restlichen Spartaner, deren Angehörige 1078
1079
1080
1081
Die Datierung kann aus Gründen, die auf der Hand liegen, stets nur anhand paläographischer Kriterien erfolgen. Siehe die nützliche Karte bei Low 2006, 89, die jedoch nicht alle Stelen erfasst. Eine der Stelen wurde sogar außerhalb Lakoniens in tegeatischem Gebiet entdeckt. Als alternative Deutungen der Stelen wird vorgeschlagen, dass die Toten in Schlachten nahe ihrer Heimatorte gefallen oder zu einem späteren Zeitpunkt ihren Verwundungen erlegen waren (vgl. Hodkinson 2000, 253 für die entsprechende Literatur und einschlägige Kritik an dieser Einschätzung). Während die erste Alternative unwahrscheinlich und inkonsistent erschiene, kann der zweite Vorschlag nicht ausgeschlossen werden. Jedoch verwundert dann die Masse der erhaltenen Stelen. Daher ist doch am wahrscheinlichsten, dass die Stelen als Kenotaphe dienten. So u.a. auch Petropoulou 2009, 598; Hodkinson 2000, 249–254. Ael. Var. Hist. 12.21. Freilich ist dieser Bericht nicht als Zeugnis einer tatsächlichen Praxis zu verstehen, so wie Robertson 1996, 166 Anm. 2 dies scheinbar noch tut. Vielmehr soll die Stelle das spartanische Ethos und die Bedeutung vom Tod in der Schlacht unterstreichen. Auch die Heimführung durch die Familie trifft zumindest für die klassische Zeit nicht zu, auch wenn sie sich in einer ganzen Reihe späterer Anekdoten und Epigramme wiederfindet (siehe beispielsweise Anth. Pal. 7.435 oder 7.229).
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II. Die Peloponnes
die Schlachten überlebt hatten, trauerten.1082 Hierbei handelte es sich natürlich nur um „politische Freude“1083 und eine bewusste Umkehrung der zu erwartenden emotionalen Reaktionen. Nichtsdestotrotz zeigt die Episode, wie die Spartaner die Idee vom ‚schönen Tod‘ im Krieg in ihr Extrem trieben und den Schlachtentod wie kaum ein anderes Gemeinwesen zelebrierten.1084 Ein Epigramm, das in der Anthologia Palatina überliefert ist und dem Dioskorides zugeschrieben wird, fasst denn auch noch einmal prägnant die grundlegenden Bestandteile des schönen Todes zusammen, indem es den Vater eines Gefallenen ausrufen lässt: Δειλοὶ κλαιέσθωσαν· ἐγὼ δὲ σέ, τέκνον, ἄδακρυς θάψω, τὸν καὶ ἐμὸν καὶ Λακεδαιμόνιον.1085
Besonders bemerkenswert ist die Aussage, der Tote gehöre nicht mehr alleine der Familie, sondern ebenso der Gemeinschaft, verdeutlicht sie doch, wie auch in Sparta zwischen den Bedürfnissen der Familie und der Gemeinschaft vermittelt wurde. Anders nämlich als Nicollete Pavlides über das spartanische Gefallenengedenken urteilt, wenn sie schreibt, „the individual’s importance lies not in his personal identity, but what he has contributed to the community”,1086 wurde die Identität des Individuums keineswegs negiert. Freilich stand das Wohl der Gemeinschaft deutlich im Vordergrund und es war erst das Opfer für die polis, das die Gefallenen dafür qualifizierte, dass ihr Grab überhaupt mit ihrem Namen geschmückt und sie somit als Individuum sichtbar erinnert wurden. Doch erlaubte die Markierung des Grabes bzw. Kenotaphes am Heimatort der Toten zumindest im lokalen Kontext sehr wohl eine hervorgehobene Kommemoration des Individuums. Demgegenüber muss wohl eher die zentrale, staatliche und kollektive Kommemoration, wie sie die Athener betrieben, als unpersönlich und anonym erschienen sein, verschwanden hier doch die einzelnen Individuen sowohl namentlich auf den Gefallenenlisten als auch physisch in den larnakes mit der Asche der Toten tatsächlich in der Masse der Opfer.1087 Die spartanische Praxis mit ihrer dezentralen Kommemoration gewährte dem Individuum also
1082 1083 1084
1085 1086 1087
Siehe Xen. Hell. 4.5.10f. und 6.4.16. Der Begriff stammt von Tamiolaki 2013, 40f. Auch in den athenischen epitaphioi logoi wird oftmals darauf hingewiesen, dass die Hinterbliebenen keinen Grund zur Trauer hätten und sich über den schönen Tod ihrer Angehörigen freuen sollten (s.o. 1. II. Der epitaphios logos). Jedoch sind sie weit entfernt von der forcierten und völligen Invertierung der Reaktionen, wie sie die beiden Episoden bei Xenophon schildern. Anth. Pal. 7.229. Siehe auch Page/Gow 1965, 261f. Dioskorides 30. Pavlides 2009, 154. Die Problematik dieser Anonymität wurde bereits oben (1. II. Die Gefallenenlisten) diskutiert und führte wohl zu einer anhaltenden Debatte in Athen sowie dem Errichten von zusätzlichen Kenotaphen (vgl. hierzu auch noch einmal unten 3. II. Der Patrios Nomos und das attische Imperium
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sogar mehr Raum und spiegelte somit wohl auch die noch deutlicher aristokratisch geprägte Struktur des spartanischen Staates wieder, in dem der einzelne Vollbürger eine deutlich stärkere soziale und politische Position innehatte als etwa im diversitäreren Athen. Dennoch darf ein zentraler Punkt nicht übersehen werden: Während in Athen die Kommemoration der Gefallenen aktiv von der polis betrieben wurde, lag sie in Sparta weiterhin vollständig in der Hand des oikos. Dem spartanischen Staat kam hier allenfalls eine passive Rolle zu, indem er die Exklusivität der privaten Monumente für Gefallene und verstorbene Wöchnerinnen garantierte. Eine aktive, durch den Staat organisierte und getragene Bestattung und Kommemoration war einer einzigen Gruppe von Spartanern vorbehalten: den Königen. Herodot und eine Reihe weiterer antiker Autoren berichten ausführlich über die Vorkehrungen der Spartaner beim Tode eines ihrer Könige.1088 Der Tod des Königs sei zunächst in allen Städten Lakoniens verkündet und in Sparta selbst laut und in aller Öffentlichkeit von den Bürgerinnen beklagt worden. Pro bürgerlichem oikos seien sodann ein Mann und (s)eine verheiratete Frau dazu verpflichtet gewesen, öffentlich Trauer zu zeigen und zur Bestattung des Königs nach Sparta-Stadt zu reisen. Ebenso sei ein bestimmter Teil der Periöken und Heloten zur Anwesenheit bei der Beisetzung und zur Trauer um den Monarchen bestimmt worden. Nach der Bestattung galt zehn Tage lang eine offizielle ‚Staatstrauer‘, während derer die Agora geschlossen blieb und auch keine politischen Versammlungen oder Wahlen abgehalten werden durften. Dies schloss wohl die Bestimmung des königlichen Nachfolgers ein. Sollte nun ein König im Ausland oder gar im Kriegseinsatz umgekommen sein, wurde sein Körper konserviert und nach Sparta zurückgeführt. Dies war von größter Wichtigkeit für die Spartaner und die Vorstellung, dass der Leichnam eines gefallenen Königs in die Hände der Feinde fallen könnte, barg die schlimmste Schande für die homoioi.1089 Sollte sich ein solcher Unglücksfall dennoch ereignen – wie im Falle des Leonidas, für den diese Innovation vermutlich eingeführt wurde,1090 und des Archidamos III. – wurde ein eidolon des Königs geschaffen und an Stelle des Leichnams in Sparta beigesetzt. Die gefallenen Könige wurden demnach nicht anders behandelt als Könige, die eines natürlichen Todes starben. Die besondere Sorge für die Rückführung ihres Leichnams wurde nicht nur ihnen, sondern auch allen anderen Königen, die fern von Sparta starben, zuteil und leitet sich aus der kultischen Bedeutung des Leichnams des Königs ab. Überhaupt lagen dem Aufwand 1088
1089 1090
Hdt. 6.58 liefert die ausführlichste Beschreibung des Brauches. Sein Zeugnis wird aber bestätigt und ergänzt durch Xen. Lak. pol. 15.9; Hell. 3.3.1; 5.3.19; Plut. Ages. 40.3; Diod. Sic. 15.56.1; Paus. 3.14.1; 4.14.4. Von der zahlreich vorhandenen Literatur sei hier nur verwiesen auf Cartledge 1987, 331–343; Parker 1988 und die Antwort von Cartledge 1988; Schäfer 1957, passim; Toher 1999, passim; Pritchett 1985, 241f.; Petropoulou 2009, passim; Arrington 2015, 119. Vgl. u.a. Paus. 9.13.10; Diod. Sic. 15.56.1. Siehe Jung 2006, 98f.; Petropoulou 2009, 596f.
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zur Bestattung der Könige wohl keine politischen Gründe, sondern vielmehr religiöse Überzeugungen zugrunde. Ich will die genauen Zusammenhänge hier nicht weiter ausführen, da sie schon oft genug behandelt wurden.1091 Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass es eben die besondere kultisch-religiöse Stellung der Könige war, an der sich auch die Kontinuität und das Gedeihen des gesamten Gemeinwesens kristallisierten, die in ihrem Fall zur Umkehrung der spartanischen Bestattungssitten führte. Eben weil es sich vor allem um ein primär religiös motiviertes Ereignis handelte, dürfte es sich besonders gut dazu geeignet haben, die Aufmerksamkeit der Lakedaimonier zentral auf Sparta zu lenken und dort im gemeinsamen Ritual zu vereinen und die soziopolitische Ordnung demonstrativ zu bestätigen, ohne Gefahr zu laufen, dass sich hier politische Ungleichgewichte entladen könnten. Wir sehen demnach, dass der spartanische Staat neben der Sorge für die Bestattung der Gefallenen aktiv keine weiteren Maßnahmen zur Ehrung oder Kommemoration seiner Kriegstoten unternahm. Selbst jene Könige, die im Krieg gefallen waren, erhielten bei der Bestattung keine bevorzugte Behandlung gegenüber anderen spartanischen Monarchen. Dennoch wurde jenen Mitbürgern, die ihr Leben im Kampf für die Gemeinschaft verloren hatten, auch von Seiten der polis ein besonderer Status und damit verbundene Privilegien zugesprochen. Anders als in den anderen poleis, die eine Form des Gefallenengedenkens praktizierten, nahm der Staat aber eben keine aktive Rolle ein, indem er für die Kriegstoten spezielle Monumente errichtete oder aufwendige Rituale abhielt. Stattdessen beschränkte er sich durch die Aufhebung des Inschriftenverbotes für die Gefallenen auf ein passives Eingreifen, das aber nichtsdestotrotz dazu führte, dass die toten Krieger gegenüber der restlichen Bürgerschaft deutlich hervorgehoben wurden. Im Gegensatz zu den meisten anderen poleis scheinen die Spartaner zudem während der gesamten klassischen Epoche und noch darüber hinaus relativ streng an dieser Praxis festgehalten zu haben. Dennoch finden sich auch hier Abweichungen von der Regel. Am eindrücklichsten traten hierbei die Maßnahmen zur Kommemoration des Leonidas und der Dreihundert hervor, denen ganz bewusst eine besonders prominente Rolle in der Geschichte des spartanischen Gemeinwesens zugesprochen wurde. Jedoch finden sich noch weitere Ausnahmen wie vermutlich im Falle der Toten der Schlacht von Plataiai und der gefallenen Spartaner des Jahres 403 v.Chr. Vielleicht wurde überdies noch in klassischer Zeit das Kenotaph des Brasidas errichtet, das die Erinnerung an den gefallenen Feldherrn auch in seiner Heimat lebendig halten sollte. In Anbetracht der Hinweise auf die privilegierte Behandlung besonders verdienter Mitbürger, wie sie sich in den Nennungen der Sieger panhellenischer Agone finden, wäre dies wohl zumindest denkbar, wenn ich der Frage gegenüber auch weiterhin skeptisch bin. Tatsächlich zeigt sich aber 1091
Siehe hierzu und zum Folgenden zentral Cartledge 1987, 337–341 und ihm folgend Toher 1991, 171–173; 1999, 115 sowie ähnlich auch Schäfer 1957, 225; Petropoulou 2009, 585f.; 599.
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in diesen Beobachtungen erneut, wie sehr wir uns davor hüten sollten, allzu starre Modelle für die Praxis des Gefallenengedenkens zu entwerfen. Die Bräuche und Monumente waren stets den jeweiligen historischen Bedingungen und Zwängen unterworfen und konnten dementsprechend flexibel den akuten Bedürfnissen der polis angepasst werden.
Sikyon Erst spät finden sich in Sikyon Hinweise auf die staatliche Kommemoation von Bürgern, die im Krieg gefallen waren. Der einzige sichere Beleg stammt dabei aus dem Reisebericht des Pausanias, der vor dem Stadttor nach Korinth ein Polyandrion beschreibt, das die Toten von insgesamt vier Schlachten aufgenommen habe: προελθοῦσι δὲ ἐντεῦθεν τάφος Σικυωνίοις ἐστίν, ὅσοι περὶ Πελλήνην καὶ Δύμην τὴν Ἀχαιῶν καὶ ἐν Μεγάλῃ πόλει καὶ περὶ Σελλασίαν ἐτελεύτησαν: τὰ δὲ ἐς αὐτοὺς σαφέστερον ἐν τοῖς ἐφεξῆς δηλώσω.1092
Die erwähnten Schlachten wurden in den Jahren zwischen 226 und 222 v.Chr. geschlagen und fielen allesamt in den Kontext der Auseinandersetzung zwischen dem Bund der Achaier und Kleomenes III., der die spartanische Hegemonie auf der Peloponnes wiederherzustellen suchte.1093 Pausanias liefert keine weiteren Informationen zu dem Grabkomplex, sodass nur Vermutungen zu seiner Anlage und Gestaltung möglich sind. William K. Pritchett glaubt jedoch aufgrund der Tatsache, dass hier die Toten aus mehreren aufeinanderfolgenden Jahren und aus teilweise weit entfernten Schauplätzen beigesetzt wurden, einige Rückschlüsse ziehen zu können.1094 Er schlägt demnach vor, dass die Toten jeweils am Schlachtort kremiert, nach Sikyon überführt und dort in einem gemeinsamen Bezirk beigesetzt wurden, der dann bei Bedarf nach und nach erweitert wurde. Alternativ könne die unmittelbare Nähe der Gräber, die es für Pausanias unmöglich gemacht habe, zwischen den einzelnen Bestattungen zu unterscheiden, höchstens dadurch erklärt werden, dass hier nach dem Ende des Kampfes gegen Kleomenes ein
1092 1093
1094
Paus. 2.7.4. Siehe auch Pritchett 1985, 152; 233. Zu den Schlachten vgl. knapp Pritchett 1985, 233 sowie ausführlicher auch zum Kleomenischen Krieg insgesamt Urban 1979, 97–159. Pritchett verweist darauf, dass die Sikyonier in dem betreffenden Zeitraum noch an zahlreichen weiteren Schlachten beteiligt waren und u.a. auch ihre eigene Stadt gegen Kleomenes verteidigen mussten. Das Fehlen dieser Schlachten im Bericht des Pausanias sollte aber nicht allzu große Irritation hervorrufen, da es sich möglicherweise schlichtweg durch den Zustand des Monumentes bzw. der Monumente erklären ließe, der nicht mehr alle Schlachtorte erkennen ließ. Siehe Pritchett 1985, 152; 233.
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gemeinsames Kenotaph für alle Gefallenen des Krieges errichtet wurde, wie dies etwa auch die Megarer für die Gefallenen der Perserkriege getan hatten.1095 Tatsächlich dürften dies die beiden plausibelsten Interpretationen der Beschreibung sein. Während aber die zweite Variante vor allem für die Bedeutung des Kleomenischen Krieges für die Achaier und Sikyonier spräche, würde Pritchetts bevorzugter erster Vorschlag nahelegen, dass das staatliche Gefallenengedenken in Sikyon gegen Ende des 3. Jh. v.Chr. einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht hätte. Diese These einer späten Institutionalisierung des staatlichen Gefallenengedenkens wird möglicherweise weiter gestützt durch ein Epigramm des 3. Jh. v.Chr., das der Feder des Mnasalkes entstammen soll und in der Anthologia Palatina überliefert ist, wo es fälschlicherweise auf die Schlacht an den Thermopylen bezogen wird.1096 οἵδε πάτραν πολύδακρυν ἐπ᾽ αὐχένι δεσμὸν ἔχουσαν ῥυόμενοι δνοφερὰν ἀμφεβάλοντο κόνιν· ἄρνυννται δ᾽ ἀρετᾶς αἶνον μέγαν. ἀλλά τις ἀστῶν τούσδ᾽ ἐσιδὼν θνᾴσκειν τλάτω ὑπὲρ πατρίδος.1097
Eindeutig geht aus dem Text hervor, dass die Gefallenen bei Kämpfen zur Befreiung ihrer Stadt umgekommen waren und dass sie hierfür nun von ihrer patris geehrt wurden. Überdies wird davon gesprochen, dass die Bürger der Stadt die Gefallenen bzw. deren Denkmal sehen konnten, weshalb davon auszugehen ist, dass sich dieses in oder nahe der Stadt befand. Johannes Geffcken schlug nun vor, das Epigramm könne sich auf Aratos’ Befreiung Sikyons von der Tyrannenherrschaft im Jahr 251 v.Chr. beziehen.1098 Problematisch ist jedoch, dass aus dem Gedicht selbst nicht einmal deutlich wird, dass es sich tatsächlich auf die polis von Sikyon bezieht. Vielmehr erfolgt diese Zuweisung lediglich aufgrund der Tatsache, dass sein Autor, Mnasalkes, vermutlich aus Sikyon stammte.1099 Die Zuweisung zu diesem Ereignis muss daher fraglich bleiben, wenn sie auch ausgesprochen attraktiv wäre. Man könnte gar mutmaßen, dass die Kommemoration 1095 1096 1097
1098
1099
S.o. 2. II. Megara. Siehe hierzu Page/Gow 1965, 404f. Nr. VII und Pritchett 1985, 232. Anth. Pal. 7.242 zitiert nach Page/Gow 1965, 404f. Nr. VII. Vgl. auch GV 31 und Pritchett 1985, 232. Siehe Geffcken 1916, 127 Nr. 317; Page/Gow 1965, 404. Zur Vertreibung des Nikokles durch Aratos siehe Plut. Arat. 4–9 mit Urban 1979, 13–38. Laut Plutarch (Arat. 9.2) sei der Regimewechsel unblutig abgelaufen, doch mag seine Biographie, die wohl maßgeblich auf Aratos’ eigenem Tatenbericht basierte, hier schlichtweg nicht die Tatsachen wiedergeben. Auch von Verbannungen berichtet Plutarch etwa nicht, obwohl es hierzu doch sicherlich gekommen sein muss. Siehe diesbezüglich auch Urban 1979, 33. Vgl. Page/Gow 1965, 400.
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der sikyonischen Bürger, die bei der Befreiung ihrer Heimatstadt von der Tyrannis des Nikokles umgekommen waren, den Anfangspunkt eines staatlichen Gefallenengedenkens in Sikyon im 3. Jh. v.Chr. darstellte. Immerhin ließ sich im Zuge meiner Untersuchung beobachten, dass gerade Ereignisse, in denen Männer zur Bewahrung oder zum Gewinn der Freiheit ihrer polis starben, besonders häufig kommemoriert wurden und dass auch den Gestorbenen in diesen Fällen eine hervorgehobene Rolle zugewiesen wurde. So wäre gut vorstellbar, dass die Bürger Sikyons ihre (wieder)gewonnene Freiheit zelebrierten und kommemorierten, indem sie den im Zuge der Befreiung Gefallenen ein prominentes Grab in oder nahe der Stadt errichteten und es mit einem Epigramm ihres berühmtesten zeitgenössischen Dichters schmückten. Der gemeinsame Akt der Bestattung und Kommemoration der Gefallenen hätte gleichzeitig einen dringend benötigten Kohäsionseffekt auf die Gemeinschaft der Sikyonier ausgewirkt. Immerhin waren nach dem ‚Staatsstreich‘ des Aratos, den dieser zusammen mit anderen Vertriebenen initiiert und ausgeführt hatte, eine große Zahl von Sikyoniern, die zum Teil bereits seit einem halben Jahrhundert im Exil gelebt hatten, in ihre Heimat zurückgekehrt.1100 Diese Rückkehrer galt es nun, wieder in die Gemeinschaft einzugliedern und etwaige Animositäten aus dem Weg zu räumen.1101 Das gemeinsame Gefallenengedenken könnte damit als identitätsstiftende und gemeinschaftsbildende Maßnahme der neuen Führungsriege unter Aratos verstanden werden und stellte möglicherweise die innenpolitische Parallele zur Absicherung der polis nach außen durch den Beitritt zum Achaischen Bund dar. Wie oben bereits betont wurde, handelt es sich hierbei um rein hypothetische Überlegungen, da die Zuordnung des Epigramms zur Vertreibung des Tyrannen Nikokles nicht mit Sicherheit zu belegen ist. Zumindest aber entbehrt die Überlegung, der politische Umsturz des Jahres 251 v.Chr. und der darauffolgende Aufstieg Sikyons innerhalb des Achaischen Bundes könnten zur Entstehung neuer Kommemorationspraktiken geführt haben, nicht einer gewissen Attraktivität. Schließlich erlebte die polis von Sikyon unter der Führung des Aratos nicht nur eine Phase massiver innerer Umbrüche, sondern vor allem auch der außenpolitischen Erfolge, die zu großen Teilen auch militärisch erkämpft waren. Es wäre naheliegend, wenn die Sikyonier ihre Mitbürger, die bei der Erstreitung dieser Erfolge umgekommen waren, für ihre Taten ehrten, so wie sie ja auch Aratos nach dessen Tod auszeichneten. Freilich fiel dessen Bestattung auf der Agora von Sikyon, die überdies mit kultischer Verehrung verknüpft wurde,1102 in ein anderes Register, das näher am hellenistischen Herrscherkult lag. Doch mag sie ebenso wie das Gefallenenmonument vor der Stadt
1100 1101
1102
Laut Plut. Arat. 9.3 seien fast 600 Bürger zurückgekehrt. Plut. Arat. 9.3 berichtet etwa von Rückkehrern, die Anspruch auf ihre alten Besitzungen erhoben und dabei in Konflikt mit den aktuellen Eigentümern kamen. Siehe auch Urban 1979, 23f. zur Aufgabe der Zusammenführung der unterschiedlichen Gruppen. Siehe Plut. Arat. 53; Paus. 2.8.1; 2.9.4; Polyb. 8.14.
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und das – problematische – Epigramm des Mnasalkes Ausdruck eines veränderten Kommemorationsverhaltens gewesen sein, das die Sikyonier in der zweiten Hälfte des 3. Jh. v.Chr. entwickelten.
Tegea Auch im Fall von Tegea beginnt die Geschichte staatlichen Gefallenengedenkens offenbar mit dem Kampf der Griechen gegen das Heer des Xerxes. Zumindest findet sich der früheste Beleg für ein tegeatisches Gefallenengrab mit dem Polyandrion für die Toten der polis aus der Schlacht von Plataiai. Die Gräber dieser Schlacht wurden oben bereits ausführlich besprochen,1103 sodass ich hier nicht noch einmal genauer darauf eingehen will. Ohnehin lässt sich der einzigen knappen Beschreibung bei Herodot nicht mehr entnehmen, als dass die Tegeaten ihre Toten eben in einem separaten Grab bestatteten und somit nicht von den Praktiken der anderen poleis abwichen.1104 Als zusätzliche Information erfahren wir lediglich, dass bei Plataiai 16 Tegeaten ihr Leben verloren hätten – eine Zahl, die Plutarch in seiner Biographie des Aristeides wiederholt und die mit Sicherheit zu niedrig ansetzt.1105 Aus diesen knappen Bemerkungen und der Tatsache, dass Herodot die Tegeaten überhaupt erwähnt, während er die Leistung anderer poleis bei Plataiai verschweigt oder völlig negiert, lässt sich also lediglich entnehmen, dass die Tegeaten ihre Toten, wie die anderen poleis auch, zusammen in einem einzigen Grab bestatteten. Vermutlich war auch dieses Grab von einer gewissen Größe oder in irgendeiner Form monumental gestaltet und markiert. Da jedoch weder ein Epigramm noch ein sonstiger Hinweis auf die Ausgestaltung des Grabes tradiert sind, muss es bei diesen grundlegenden Feststellungen bleiben. Weitere Aussagen über das tegeatische Gefallenengedenken lassen sich anhand dieses Monumentes nicht tätigen. Völlig im Dunkeln lassen uns die Quellen bezüglich der Bestattung der tegeatischen Gefallenen an den Thermopylen. Tatsächlich wird in der literarischen Überlieferung nicht einmal erwähnt, dass außer den dreihundert Spartanern, den Thespiern und Thebanern überhaupt andere Griechen in dieser Schlacht den Tod gefunden hätten. Dies ist freilich auf die Darstellung Herodots 1103 1104
1105
S.o. 2. 1. Plataiai. Siehe Hdt. 9.85.2: „οὗτοι [οἱ Λακεδαιμόνιοι] μὲν οὕτω ἔθαπτον, Τεγεῆται δὲ χωρὶς πάντας ἁλέας, καὶ Ἀθηναῖοι τοὺς ἑωυτῶν ὁμοῦ“. Paus. 9.2.5 berichtet bekanntermaßen nur von einem Grab für die Athener, einem für die Spartaner und einem gemeinsamen der übrigen Griechen, jedoch habe ich oben bereits dargelegt, dass es sich hierbei vermutlich um eine falsche Angabe handelt. Zum Grab der Tegeaten und der übrigen Griechen bei Plataiai siehe auch Clairmont 1983, 103–105 Nr. 11a–c; Pritchett 1985, 174f. Vgl. Hdt. 9.70 und Plut. Arist. 195. Laut Hdt. 9.27.3 seien die Tegeaten mit 1500 Hopliten angetreten, die von 1500 psiloi verstärkt wurden (Hdt. 9.61.2). Zur Höhe der Gefallenenzahlen, die Herodot und Plutarch angeben siehe ebenfalls oben Anm. 343 sowie Clairmont 1983, 102–105 Nr. 11a–c.
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zurückzuführen, die fast vollständig auf die dreihundert Spartiaten um Leonidas fokussiert. Da aber die Tegeaten und die Mantineier mit zusammen 1000 Hopliten eines der größten Kontingente bei den Thermopylen stellten,1106 ist sehr wohl zu erwarten, dass sie Verluste zu verzeichnen hatten und dass diese zusammen mit den anderen Toten vor Ort bestattet wurden.1107 Jedoch schweigen sich die Quellen zu diesen Gefallenen eben vollständig aus, sodass sich auch hier keine Rückschlüsse auf den Umgang der Tegeaten mit ihren Gefallenen ziehen lassen. Anders sieht es mit einem Epigramm aus, das in der Anthologia Palatina überliefert ist, und das offensichtlich tegeatische Bürger ehrte, die bei der Verteidigung der Stadt gefallen waren. Das Gedicht, das in der Anthologia dem Simonides zugeschrieben wird, lautet wie folgt: τῶνδε δι᾽ ἀνθρώπων ἀρετὰν οὐχ ἵκετο καπνὸς αἰθέρα δαιομένας εὐρυχόρου Τεγέας, οἵ βούλοντο πόλιν μὲν ἐλευθερίαι τεθαλυῖαν παισὶ λιπεῖν, αὐτοὶ δ᾽ἐν προμάχοισι θανεῖν.1108
Aus dem Epigramm selbst wird nicht klar, in welchem Konflikt die geehrten Männer ihr Leben verloren, da weder ein Gegner noch ein sonstiger konkreter Hinweis genannt wird. Klar ist lediglich, dass Tegea, das von den Männern nur knapp davor bewahrt wurde, in Flammen aufzugehen und ‚seinen Rauch gen Himmel zu schicken‘, unmittelbar bedroht gewesen sein muss. In der älteren Forschung wurde nun die These vertreten, das Epigramm müsse sich auf eine Schlacht beziehen, die knapp bei Herodot erwähnt wird und in den Jahren kurz nach der Schlacht von Plataiai stattgefunden habe. Der Historiker berichtet nämlich, einer der vier großen Siege, welche die Spartaner nach Plataiai mit der Hilfe des elischen Sehers Teisamenos errungen hätten, sei bei Tegea über die Argiver und die Tegeaten gewesen.1109 Die Tegeaten – so die ältere Forschung – hätten hier zwar eine Niederlage erlitten, seien gleichzeitig aber in der Lage gewesen, ihre Stadt vor der Plünderung oder Zerstörung zu retten, und hätten dies nun mit einem Epigramm kommemorieren lassen.1110 Die Zuordnung zu dieser Schlacht basiert zu weiten Teilen auf der Annahme, dass das Epigramm tatsächlich aus der Zeit des Simonides
1106 1107 1108
1109 1110
Siehe Hdt. 7.202. Auch das Grab der Mantineier findet freilich keine Erwähnung. Anth. Pal. 7.512 zitiert nach Page 1981, 278f. Nr. LIII. Siehe auch GV 11; Peek 1960, 293 Nr. 7; Bowra 1960, 198; Clairmont 1983, 230 Nr. 14; Pritchett 1985, 217–219. Siehe Hdt. 9.35. So u.a. GV 11; Peek 1960, 293 Nr. 7 und auch noch Clairmont 1983, 230 Nr. 14. Siehe auch Page 1981, 279 Anm. 1 und Pritchett 1985, 218 für weitere Referenzen.
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stammte, wenn es diesem nicht sogar selbst zuzuordnen sei.1111 Nun hat aber Denys Page in seiner Sammlung griechischer Epigramme darauf hingewiesen, dass das vorliegende Werk zwar von guter Qualität sei und „an old fashioned dignity“ in seinem Stil vermittle, es jedoch völlig unmöglich sei, auch nur zu entscheiden, ob das Epigramm im 5. oder im 4. Jh. v.Chr. verfasst wurde, geschweige denn es einem konkreten Autor zuzuordnen. Zwar gibt auch er eine Datierung um 470 v.Chr. an, doch weist er selbst darauf hin, dass er dies nur tue, weil bis dato weder ein attraktiverer Vorschlag noch konkrete Argumente gegen die Zuordnung zu der von Herodot beschriebenen Schlacht angeführt worden seien.1112 William K. Pritchett meint nun aber, eine Alternative anbieten zu können, indem er auf eine Stelle im Werk des Pausanias verweist, wo der Perieget von einem erfolglosen Angriff der Spartaner auf Tegea berichtet, der ins Jahr 369 v.Chr. oder doch zumindest kurz nach der Schlacht von Leuktra zu datieren ist.1113 Diese Interpretation böte immerhin den Vorteil, dass Pausanias konkret von einem Angriff der Lakedaimonier auf die Tegeaten spricht, den diese erfolgreich abwehren konnten, während Herodot nur von einer Niederlage der Tegaten und Argiver gegen die Spartaner berichtet und die Rettung der Stadt in diesem Fall von den modernen Autoren ergänzt wird, damit die Episode zum Epigramm passt. Pritchetts Vorschlag mutet daher naheliegender und plausibler an. Dennoch muss klar sein, dass jegliche Zuordnung stark hypothetisch bleiben muss, da wir über beide der erwähnten Ereignisse nur außerordentlich schlecht informiert sind und sich überdies nicht ausschließen lässt, dass das Epigramm möglicherweise auch ein völlig anderes, uns nicht bekanntes Ereignis kommemorierte. In jedem Fall muss der Anlass, zu dem das Gedicht in Auftrag gegeben wurde, von einiger Bedeutung für die Tegeaten gewesen sein. Betrachtet man nämlich das Epigramm, fällt sofort auf, wie sehr es auf die polis von Tegea und eben nur auf die polis von Tegea fokussiert.1114 Weder werden Verbündete oder auch nur Feinde genannt, und die Erwähnung der Kinder der Gefallenen, denen die Toten eine Stadt in Freiheit vererben wollten, verleiht dem Epigramm fast eine persönliche Note. So sind es die Väter, die sich todesmutig und bereit zum Opfer des eigenen Lebens in den vordersten Reihen in die Schlacht stürzen, um ihren Kindern ein Leben in Freiheit und eine autonome polis zu hinterlassen. Dieses Bild des Kampfes der älteren Bürger für die nachkommende Generation findet sich in ähnlicher Form auch in anderen poleis und sollte die Kontinuität der Polisgemeinschaft über die Zeit und einzelne Kriege hinweg betonen. Promi1111
1112 1113
1114
Bowra 1960, 198 ist wohl der letzte Autor, der die Zuordnung zu Simonides ohne Zögern oder Zweifel akzeptiert. Vgl. Page 1981, 279. Siehe Paus. 10.9.5f. („ἐφεξῆς δὲ Τεγεατῶν ἀναθήματα ἀπὸ Λακεδαιμονίων [Beschreibung der Weihungen]. ταῦτα μὲν δὴ οἱ Τεγεᾶται ἔπεμψαν ἐς Δελφούς, Λακεδαιμονίους ὅτε ἐπὶ σφᾶς ἐστρατεύσαντο αἰχμαλώτους ἑλόντες“) mit Pritchett 1985, 217–219. Auch Page 1981, 279 hebt diese Fokussierung hervor.
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nent ist etwa der Aufruf des Perikles im thukydideischen epitaphios logos an die Söhne, Brüder und jüngeren Verwandten der Gefallenen, den Toten in ihren Taten nicht nachzustehen und sie sich als Vorbild zu nehmen, um so das Weiterbestehen der polis zu garantieren.1115 Das Epigramm für die gefallenen Tegeaten sticht aber doch dadurch hervor, dass es emotional besonders stark aufgeladen wird. Indem in den ersten beiden Zeilen das Bild der brennenden Stadt, deren Rauch gen Himmel aufsteigt, heraufbeschworen wird, soll dem Leser ganz unmittelbar das Ausmaß der Bedrohung vergegenwärtigt werden. Statt die Gefahr durch eine Formel oder ein Gleichnis zu beschreiben, wie viele andere Epigramme dies tun, wird hier dem Betrachter konkret vor Augen geführt, welche Konsequenz eine Niederlage gehabt hätte: die Vernichtung der Stadt und ihrer Bewohner. Nur dank der ἀρετή der Gefallenen, die sich für ihre polis und für ihre Kinder dem Gegner entgegengeworfen hatten, war es gelungen, die Katastrophe abzuwenden. Diese emotionale Aufladung der Darstellung und die absolute Fokussierung auf die polis von Tegea und ihre Bewohner ergänzen und verstärken einander und verleihen dem Epigramm eine Dringlichkeit sowie eine persönliche Unmittelbarkeit, wie sie sich in anderen Gefallenenmonumenten nur selten so findet. Sollte das Epigramm überdies tatsächlich jener Schlacht zuzuschreiben sein, von der Pausanias berichtet, würden wohl auch die zugehörigen Weihgeschenke in Delphi davon zeugen, dass es sich für die Tegeaten um ein ausgesprochen bedeutungsvolles Ereignis handelte. Pausanias beschreibt nämlich eine Vielzahl hochwertiger Statuen, die die Tegeaten nach ihrem Sieg über die Spartaner in Delphi gestiftet hätten und die sie in einer Stoa aufstellten, welche sie wiederum möglicherweise erst anlässlich dieses Erfolges erbauten.1116 So zumindest will William K. Pritchett Pausanias’ Zeugnis in Korrelation mit der Erkenntnis deuten, dass die besagte Stoa am Eingang des delphischen Heiligtums nur wenige Jahre nach der Schlacht von Leuktra von den Tegeaten erbaut wurde.1117 Er will gar so weit gehen, nicht nur die Stoa und die Statuen in Delphi sowie das vorliegende Epigramm, sondern noch ein weiteres Gefallenenmonument aus Tegea1118 dieser einen Schlacht oder doch zumindest diesem einen Jahr zuzuordnen. Eben hier zeigt sich aber die gesamte Problematik in der Zuordnung der Monumente zu einzelnen Ereignissen. Das Jahr 370/69 v.Chr. sah nämlich nicht nur die Verteidigung Tegeas gegen die Spartaner, von der einzig Pausanias berichtet, sondern noch zahlreiche weitere Konflikte in Arkadien sowie die erste Expedition des Epameinondas, der zur Unterstützung des neu gegründeten Arkadischen Bundes auf die Peloponnes eilte und im Zuge seiner Operationen die Messener von der spar-
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Siehe Thuk. 2.43 und 45 sowie auch Plat. Men. 247a–c; Hyp. or. 6.31f. S.o. Anm. 1113. Siehe Pritchett 1985, 135f. und 217–219 mit Bezug auf Vatin 1981, 453–459 (zur Stoa der Tegeaten in Delphi). Siehe im Folgenden unten.
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tanischen Vorherrschaft befreite. Den Tegeaten bot sich demnach eine Vielzahl von Anlässen, zu denen sie die Monumente in Delphi oder auch die Monumente für ihre Gefallenen hätten errichten können. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass Pausanias hier die Weihgeschenke mehrerer Anlässe unter einer Formel, nämlich der Bedrohung Tegeas durch die Lakedaimonier, zusammenfasste. Möglicherweise konnte er die einzelnen Anlässe auch überhaupt nicht unterscheiden bzw. konkreten Weihungen zuordnen. Auch die heute noch am Stylobat der Stoa erhaltenen Weihinschriften weisen schließlich lediglich allgemein darauf hin, dass die Weihgeschenke als Zehntgabe eines Sieges der Tegeaten und der Arkader über die Lakedaimonier gestiftet worden seien.1119 Ohne konkrete Hinweise stellt sich jedenfalls der Versuch, einzelne der Monumente – seien dies Stiftungen an die Götter oder Denkmäler für Gefallene – bestimmten Ereignissen zuordnen zu wollen, recht aussichtslos dar. Auch Pritchetts entsprechende Vorstöße sollten daher kritisch gesehen werden, wenn auch die Zuordnung des Gefallenenepigramms zu der von Pausanias referierten Schlacht weiterhin die plausibelste der bekannten Optionen darstellt. Wie bereits kurz angemerkt wurde, findet sich ein weiteres Gefallenenmonument aus Tegea, das möglicherweise demselben zeitlichen Horizont zuzuordnen ist. Anders als in den bisherigen Fällen basiert unser Wissen um das Grab nicht auf einer literarischen Überlieferung, sondern auf archäologischem und epigraphischem Material aus Tegea selbst. Hier fanden sich nämlich westlich der antiken Stadt nahe der Kapelle der Ἁγία Κυριακή die Fragmente einer Inschrift aus lokalem Marmor, die die Reste zweier Grabepigramme und einer Gefallenenliste trugen.1120 Werner Peek ist die ungefähre Anordnung der Fragmente und damit eine zumindest teilweise Rekonstruktion der Inschrift zu verdanken, die auf einem recht dicken Stein eingeschrieben war und daher von Mendel als Basis angesprochen wurde. Wahrscheinlicher ist aber wohl, dass die Fragmente Teil der Mauer eines peribolen Grabbezirkes oder einer breiteren Stele waren und deshalb so dick ausfielen.1121 Die Reste einer Leiste, die sich am oberen Rand einiger Fragmente erhalten haben, zeigen an, dass sie den oberen Abschluss des Monumentes bildeten. Die ursprüngliche Größe der Inschriftenfläche lässt sich aufgrund des stark fragmentarischen Zustandes des Steines nicht schätzen. Einzig der obere Teil der Inschrift kann aufgrund der erhaltenen Leiste mit einiger Sicherheit rekonstruiert werden. Dort waren die beiden Epigramme, die gleich noch besprochen werden sollen, nebeneinander eingeschrieben. Sie standen vermutlich 1119 1120
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Vgl. Vatin 1981, 455. Die Edition in IG V.2 173 wird maßgeblich ergänzt und korrigiert durch Peek 1971, 16–19 Nr. 6 mit Taf. II.4; III (Fotos eines Fragments und einiger Abklatsche – siehe hier Abb. 23a/b). Vgl. außerdem GV 24; Mendel 1901, 271f.; Wilhelm 1904, 108f.; Rhomaios 1912, 368–370; Clairmont 1983, 237f. Nr. 71a; Pritchett 1985, 134–136. Vgl. auch Peek 1971, 17.
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mittig am oberen Rand der Stele, da zumindest rechts und unterhalb von ihnen, vermutlich aber auch zu ihrer Linken, Spalten mit den Namen der Gefallenen standen, die ohne Nennung der Patronyme ihren Phylen zugeordnet wurden. Erhalten sind die teils stark fragmentarischen Reste der Namen von 19 Individuen und vier Phylen („[Κρ]αριῶται“, „[Ἱππ]οθοῖτ[αι]“, „Ἀπο[λλ]ωνιᾶ[ται]“ und „[ἐπ᾽Ἀ]θαν[αίαν]“).1122 Die beiden Epigramme sind unterschiedlich gut bewahrt. Während das erste Epigramm noch zum größten Teil lesbar ist, haben sich nur wenige Stücke des zweiten Gedichtes erhalten, sodass auch eine Ergänzung kaum möglich ist. Die Lesungen und Ergänzungen nach Peek lauten wie folgt: [ἀθάνατο]ν Τεγέα[ι τε] καὶ Ἀρκάσιν ἐξέτι τ[η]λοῦ [κῦδος ἀ]π᾽ ἀρχαίων πέπταται ἁγεμόν[ων]· [ὅιδε δ᾽ ἐπε]ιγόμενοι πατέρων κλέος ἴσον [ἀρέ]σθαι [γυίοις ἐγ]γαίαν ἀμφιέσαντο κόνιν. [γᾶς ὕπ]ερ οἵδε [φίλας βίον ὤλεσα]ν, ἀντία βά[ντες] [τοῖς Σπ]άρτας [δάιοις ἀνδράσι καὶ β]ασιλε[ῖ] [---]λον[---]Καφέ[ος ἄστυ] [---]ν[---]πο[---].1123
Wir erfahren, dass das Monument wohl anlässlich einer gemeinsamen Aktion der Tegeaten und der Arkader errichtet wurde und dass – insofern die Ergänzung in der zweiten Zeile des zweiten Epigramms zutrifft – überdies die Spartaner involviert waren. Aufgrund des Inhaltes des ersten Epigramms und der begleitenden Bürgerlisten liegt es nun nahe, zu schließen, dass die genannten Männer im gemeinsamen Kampf mit den anderen Arkadern gegen die Spartaner umgekommen waren. So schloss bereits Gustave Mendel aus diesen grundlegenden Anhaltspunkten, dass das Monument wohl in die kurze Blütephase des Arkadischen Bundes zwischen seiner Gründung 370 v.Chr. und der Schlacht von Mantineia 362 v.Chr. datiert werden müsse.1124 Während er selbst aber glaubte, das Denkmal sei dem Jahr 370/69 v.Chr. zuzuordnen, sprechen
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Zur Anordnung der Fragmente und der Rekonstruktion des Steins siehe Peek 1971, 17–19 mit Beilage 1. Die Phylennamen lassen sich mithilfe von Paus. 8.53.6 sowie anderer Inschriften aus Tegea ergänzen (so etwa Ἀπολλωνιᾶται und ἐπ᾽Ἀθαναίαν mit IG V.2 174). Zitiert nach GV 24. Peek 1971, 19 bietet auch einen Vorschlag zur Ergänzung der letzten beiden Verse. In Anbetracht der wenigen erhaltenen Buchstaben muss dieser aber rein hypothetisch bleiben, weshalb ich ihn hier nicht wiedergebe. Schon die Ergänzung der ersten beiden Verse des zweiten Epigramms ist hoch spekulativ. Siehe Mendel 1901, 273f.
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sich zahlreiche andere Autoren für die Zugehörigkeit zur Schlacht von Mantineia aus.1125 Unterstützung findet Mendels These von William K. Pritchett, der – wie oben bereits dargelegt – das vorliegende Gefallenenmonument zusammen mit dem zuvor besprochenen Epigramm und den Siegesweihungen in Delphi, die von Pausanias beschrieben werden, den Ereignissen der Jahre 370/69 v.Chr. zuordnen will.1126 Während aber eine Zuschreibung der Siegesweihungen zu den Erfolgen dieser Jahre wahrscheinlich ist und auch vom Zeugnis des Pausanias gedeckt wird, muss dies keinesfalls für die vorliegende Inschrift gelten. Schließlich war die Errichtung eines Gefallenenmonumentes nicht an den Erfolg oder Misserfolg der Toten gebunden, sondern nur an das Faktum, dass sie im Kampf für die polis gestorben waren. Der Aufwand des Monumentes mit gleich zwei Epigrammen ließe sich wiederum auch durch die Zahl der Opfer oder die Bedeutung der Niederlage für das Gemeinwesen erklären.1127 Es kann daher schlichtweg nicht entschieden werden, welcher Schlacht oder welchem Jahr die Inschrift konkret zuzuordnen ist. Zumindest aber lässt sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit in die Jahre zwischen 370 und 362 v.Chr. datieren und somit einem recht engen Zeitraum zuordnen. Inhaltlich fallen einige Unterschiede zwischen dem bereits diskutierten Epigramm der Anthologia Palatina und den vorliegenden Gedichten auf. Während ersteres nämlich einzig auf Tegea selbst blickt und in seiner Fokussierung auf die Bedrohung der Gemeinschaft dabei stark emotional und persönlich anmutet, schlagen die beiden Epigramme auf der Inschrift deutlich andere Töne an. Indem sie die Arkader als Verbündete und die Spartaner als Gegner nennen, erfassen sie einen deutlich erweiterten Bezugsrahmen, der über die polis hinausblickt und zudem mit ganz anderen Ansprüchen verknüpft wird. Nicht mehr werden das bloße Überleben der Gemeinschaft und der Erhalt der Freiheit gefeiert, sondern der Ruhm der Vorfahren beschworen, dem die Toten gerecht geworden wären und hinter dem sie nicht zurückständen. Zwar wird hiermit also wiederum ein interner Bezug auf die Traditionen und das Kontinuum der polis hergestellt, der sich in ähnlicher Form auch im Gefallenengedenken anderer poleis findet.1128 Doch ist dieser Bezug nicht mehr explizit nach innen gerichtet, sondern zeugt auch von einem gewissen Sendungsbewusstsein nach außen. Die Epigramme riefen also kein festes
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So Weber 1917, 545–551; Hiller in IG V.2 173; Page 1981, 278 Anm. 1. In GV 24 gibt auch Peek eine Datierung in das Jahr 362 v.Chr. an, während er sich später (1971, 16–19 Nr. 6) nicht mehr hierzu äußert. Eine Zuordnung zur Schlacht bei Kromnos 365 v.Chr. oder zur sog. „tränenlosen Schlacht“ 368 v.Chr. wird zwar oft als Möglichkeit erwähnt, jedoch nicht ernsthaft erwogen. Tatsächlich spricht der Aufwand, der für das vorliegende Monument betrieben wurde, wohl eher für eine Zuordnung zu einer der beiden größeren Schlachten. Vgl. hierzu Clairmont 1983, 238; Pritchett 1985, 135f. Vgl. Pritchett 1985, 135f. sowie weiter 217–219. Ähnlich auch Clairmont 1983, 238. Wiederum ließe sich als prominentestes Beispiel der thukydideische epitaphios logos des Perikles anführen, wo das Vorbild der Väter und Großväter gleich zu Beginn bemüht wird (s.o. Anm. 1115).
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Repertoire an topoi und Themen ab, sondern passten sich dem jeweiligen Ereignis an. Entsprach das Gedicht aus der Anthologia Palatina in seinem nach innen gerichteten, defensiven Charakter dem vermutlichen Anlass der Verteidigung der Stadt, blickten die Epigramme des vorliegenden Monumentes mit dem Thema des „πατέρων κλέος“ stärker nach außen und spiegelten somit wohl auch den verstärkten Geltungsanspruch wider, der mit dem neuen machtpolitischen und militärischen Agieren der polis in Kooperation mit den anderen Arkadern einher ging. Bedauerlicherweise gewähren nicht alle der überlieferten Zeugnisse einen derartig konkreten Einblick in die Rezeption und Einordnung der tegeatischen Gefallenen. Dies liegt vor allem darin begründet, dass die übrigen Monumente weitaus fragmentarischer auf uns gekommen sind und sich etwa keine weiteren Epigramme oder ähnliche aussagekräftige Elemente erhalten haben. Dennoch lassen sich aus der Gesamtheit der Zeugnisse, die ich im Folgenden vorstellen will, doch noch einige relevante Beobachtungen ziehen. Zunächst ist hier eine weitere Gefallenenliste zu nennen, die von Konstantinos Rhomaios in unmittelbarer Nähe zu dem Ort gefunden wurde, an dem die Fragmente der vorherigen Inschrift entdeckt worden waren.1129 Neben der Inschrift wurden in dem Areal auch zehn Skelette gefunden, die in einer Reihe nebeneinander lagen, sowie die Reste weiterer Bestattungen. Ob diese Bestattungen der Inschrift zugehörig waren, ist äußerst fraglich und soll unten eingehender diskutiert werden. Ich will mich zunächst jedoch auf die Beschreibung der Gefallenenliste konzentrieren, die auf einer Stele aus lokalem Marmor eingeschrieben ist. Der Stein ist einzig an der oberen linken Ecke gebrochen, ansonsten aber mit einer Höhe von 0,82m, einer Breite von 0,33m und einer Dicke von 0,12m vollständig erhalten und nur an wenigen Stellen leicht bestoßen. Den oberen Abschluss der Stele bilden eine einzelne hohe Faszie und ein hohes Kymation, die auf die beiden geglätteten Schmalseiten des Steines umlaufen. Die Inschrift beginnt ein ganzes Stück unterhalb der Faszie mit dem Namen einer der vier tegeatischen Phylen („[Ἀ]πολλωνιᾶτα[ι]“), dem vier männliche Namen ohne Patronyme folgen. Mit einigen Zentimetern Abstand setzt hierunter der Name einer weiteren Phyle („ἐπ᾽Ἀθαναίαν“) an, der ebenfalls vier Namen ohne Patronyme zugeordnet sind. Erneut lässt sich aufgrund dieser – mittlerweile bekannten – Charakteristika der Inschrift selbst in Kombination mit ihrem Fundort in einer der städtischen Nekropolen schließen, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Liste gefallener Bürger handelt. Die Buchstabenformen weisen dabei starke Ähnlichkeiten zur vorigen Inschrift auf und auch die Nähe der beiden Fundorte könnte zumindest als Indiz dafür genommen werden, dass die beiden Inschriften aus demselben zeitlichen Kontext stammen, weshalb eine Datierung in die 360er Jahre v.Chr. damit ausgesprochen attraktiv wird.
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Die Corpusnummer ist IG V.2 174. Siehe vor allem Rhomaios 1912, 367–370 Nr. 5 (inkl. Zeichnung) aber auch Clairmont 1983, 238f. Nr. 72; Pritchett 1985, 134–136.
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Die Stele markierte demnach wohl ein Grab von Gefallenen von zwei der vier tegeatischen Phylen, während ein zweiter Stein wahrscheinlich die Bestattung der anderen beiden Phylen markierte. Es darf überdies wohl angenommen werden, dass die Gräber vermutlich in einem gemeinsamen Bezirk, der noch weiter durch ein Epigramm oder eine sonstige Beischrift gekennzeichnet wurde, lagen.1130 Leider müssen diese Überlegungen allerdings reichlich spekulativ bleiben, da der Grabungsbericht von Konstantinos Rhomaios sehr knapp ausfällt und da die Grabung wohl ohnehin nur aus einzelnen Schnitten bestand und den Grabkomplex in seiner ganzen Ausdehnung überhaupt nicht erfasste.1131 Ohnehin ist meiner Ansicht nach die Zugehörigkeit der freigelegten Bestattungen zu der Gefallenenliste keinesfalls erwiesen. Denn wenn auch die Zahl der gefundenen Bestattungen, der wohl nach weiteren Grabungen noch einige hinzuzufügen wären, in etwa der zu erwartenden Zahl an Gefallenen aller vier Phylen entspräche, muss doch auch klar sein, dass die Stele nicht in ihrem ursprünglichen Aufstellungskontext gefunden wurde. Vielmehr zeigt die auf dem Kopf stehende Inschrift am unteren Ende der Stele, dass der Stein zu einem späteren Zeitpunkt umgedreht und als Grabstein für eine Frau namens Eukrita wiederverwendet wurde.1132 Selbst wenn aber der Stein für diese Zweitnutzung nicht besonders weit transportiert wurde, muss damit die Zuordnung zu den zehn Bestattungen fragwürdig erscheinen, zumal Rhomaios nur ungenügende Belege für eine unabhängige Datierung der Beisetzungen bietet.1133 Mit der Feststellung, dass die Körperbestattungen und die Inschrift möglicherweise überhaupt nicht einander zugehörig waren, fällt auch das Argument weg, dass die Toten in einer Schlacht nahe der Stadt gefallen sein müssten, da sie für einen längeren Rücktransport vermutlich kremiert worden wären.1134 Selbst wenn aber die aufgedeckten Gräber doch zu der Gefallenenliste gehört haben sollten, bedeutet dies nicht zwingenderweise, dass die Toten tatsächlich in unmittelbarer Nähe Tegeas gefallen waren. Immerhin hatten die Thespier 424 v.Chr. ihre Gefallenen der Schlacht vom Delion über eine Distanz von gar 50km transportiert, um sie erst in 1130 1131 1132
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Ähnlich auch Clairmont 1983, 239. Siehe Rhomaios 1912, 368–370 mit dem knappen Kommentar bei Peek 1971, 17. Die Inschrift liest als typische Formel für einen Grabstein „Εὐκρίτα χαῖρε“. Obwohl die Wiederverwendung von allen Bearbeitern außer Pritchett 1985, 134–136 erwähnt wird, sieht scheinbar keiner der Autoren ein Problem darin, die Inschrift dennoch den zehn Bestattungen zuzuordnen. Rhomaios 1912, 369 Anm. 2 führt lediglich eine Kylix an, die bei den Toten gefunden wurde und die aus dem 4. Jh. v.Chr. stamme. Weder bietet er eine Abbildung oder andere Referenzen zu diesem Stück, noch erwähnt er andere Funde aus dem Grab oder stratigraphische Beobachtungen, die seine Behauptungen stützen würden. Siehe Rhomaios 1912, insb. 369 Anm. 2 und Clairmont 1983, 239. Die Überlegung, dass einer der Toten, dessen linke Hand auf seinem Gesicht lag, in ebenjener Haltung, die den Schmerz seiner letzten Momente ausdrücke, auf dem Schlachtfeld gefunden und genauso bestattet worden sei, bedarf wohl keines Kommentares.
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der Heimat zu verbrennen.1135 Den einzigen Hinweis zur Identifikation der Schlacht, in der die genannten Männer starben, bietet damit aber die geringe Zahl der Gefallenen, die die Tegeaten zu verzeichnen hatten. Sollten nämlich die anderen beiden tegeatischen Phylen, deren Grabmarker verloren ist, nicht überdurchschnittlich hohe Verluste erlitten haben, dürfte die Gesamtzahl der Toten wohl kaum deutlich mehr als 20 betragen haben. Aus diesem Grund will William K. Pritchett denn auch ausschließen, dass die Toten in der Schlacht von Mantineia gefallen waren, da hierfür doch mit mehr Opfern auf Seiten der Tegeaten zu rechnen gewesen wäre. Stattdessen schlägt er vor, dass die Männer 365 v.Chr. in der Schlacht bei Kromnos umgekommen sein könnten, in der die Arkader wohl nur geringe Verluste zu verzeichnen hatten.1136 Tatsächlich wäre dies eine attraktive Möglichkeit, wobei wohl nicht auszuschließen ist, dass die Toten in einem anderen, kleineren Gefecht gefallen waren, über das die Quellen uns nicht informieren. Schließlich dürfte es in der Zeit der Auflösung der spartanischen Hegemonie auch abseits der großen Feldschlachten und der Expeditionen der Boioter immer wieder zu solchen größeren und kleineren Scharmützeln gekommen sein. Als nächstes wollen wir uns dem Fragment eines weiteren Monumentes zuwenden, das zunächst lange nicht als separates Denkmal wahrgenommen wurde. Der Stein wurde zusammen mit den anderen Teilen der bereits besprochenen Gefallenenliste mit den beiden Epigrammen gefunden und zunächst als Bruchstück ebendieser Inschrift interpretiert.1137 Erst ein Dreivierteljahrhundert nach seiner Erstpublikation untersuchte Werner Peek die Inschriftenfragmente noch einmal genauer und kam hierbei zu dem Schluss, dass eines der Bruchstücke aufgrund seines Schriftcharakters nicht zu der Gefallenenliste gehören könne.1138 Tatsächlich lässt sich auf dem Abklatschfoto, das er veröffentlichte, deutlich erkennen, dass die Schrift jener der anderen Fragmente zwar stark ähnelt, sie aber breiter angelegt ist und dass die Abstände zwischen den einzelnen Buchstaben und Zeilen kleiner ausfallen. Peek urteilte, das Fragment müsse jünger sein als die Gefallenenliste, versäumte es jedoch konkrete Gründe oder Vergleichsbeispiele anzuführen, die diese Einschätzung bestätigen würden. Mir scheint eine etwas vorsichtigere Einschätzung geboten, da eine ganze Reihe von Gründen für die Unterschiede zwischen den beiden Inschrif-
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S.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 589. Siehe Pritchett 1985, 135f. sowie Xen. Hell. 7.4.22–25 für eine Schilderung der Schlacht. Es handelt sich um Fragment k von IG V.2 173. Siehe Peek 1971, 17 und das Abklatschfoto auf Taf. 3. Die Konsequenzen von Peeks Beobachtung wurden von den nachfolgenden Autoren offenbar nicht erkannt. Während Pritchett 1985 Peeks Arbeit nicht zitiert und sie vermutlich schlichtweg nicht kannte, zitiert Clairmont 1983, 237f. Nr. 71a die Abhandlung zwar, geht aber nicht auf Fragment k ein.
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ten angeführt werden könnten.1139 Sehr wahrscheinlich ist aber, dass das Fragment tatsächlich von einem separaten Monument stammte und dass dieses zeitlich nah an dem oben behandelten Denkmal lag. Zudem lässt sich eine Reihe von Indizien anführen, die darauf hinweisen, dass es sich bei der Inschrift ebenfalls um eine Gefallenenliste handelte. Zum einen ist hier der Fundort des Fragmentes zu nennen, das nicht nur eindeutig einem sepulkralen Kontext entstammte, sondern überdies noch in einem Areal gefunden wurde, in dem noch zwei weitere Gefallenenlisten entdeckt wurden. Zum anderen lässt sich trotz des fragmentarischen Zustandes der Inschrift, von deren zwölf erhaltenen Zeilen jeweils nur maximal die ersten vier Buchstaben lesbar sind, erkennen, dass es sich um eine Liste von Namen gehandelt haben muss.1140 Nimmt man nun aber die Beobachtungen zusammen, dass wir eine Liste mit einer größeren Zahl von Namen vor uns liegen haben, die in demselben Areal wie auch zwei weitere Gefallenenlisten gefunden wurde und die zudem in hoher Qualität gearbeitet ist, liegt die Schlussfolgerung, dass auch dieses Fragment zu einer Liste gefallener Bürger gehörte, auf der Hand. Wir haben somit gleich drei Gefallenenlisten vorliegen, die allesamt in unmittelbarer Nähe zueinander gefunden wurden und die zudem vermutlich auch aus einem sehr engen zeitlichen Kontext stammten. Sollte überdies das in der Anthologia Palatina überlieferte Epigramm tatsächlich ebenfalls diesem Zeitraum zuzuordnen sein, käme sogar noch ein viertes Zeugnis tegeatischen Gefallenengedenkens in den Jahren nach der Schlacht von Leuktra hinzu. Wie in kaum einem anderen der behandelten Gemeinwesen außerhalb Athens scheint es daher berechtigt, in Tegea von einem ‚Staatsfriedhof ‘ zu sprechen.1141 Betrachtet man nun die zeitliche Verortung der behandelten Monumente, liegt es nahe, dieses plötzliche Aufblühen des staatlichen Gefallenengedenkens mit dem demokratischen Umsturz des Jahres 370 v.Chr. in Verbindung bringen zu wollen.1142 Tatsächlich muss die stasis dieses Jahres, die mit der Vertreibung einer großen Zahl prospartanisch gesinnter Bürger endete,1143 einen massiven Einschnitt in der Geschichte des Gemeinwesens dargestellt haben und weitreichende politische wie 1139
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Peek selbst (1971, 17) weist daraufhin, dass die Meißelführung recht unsicher wirke. Möglicherweise war für die Inschrift, zu der Fragment k gehörte, schlichtweg ein unerfahrenerer Steinmetz und vielleicht gar ein Lehrling derselben Werkstatt verantwortlich. Zumindest im Fall von neun der zwölf Zeilen mit den Anfängen Θρα[---], Εύχ[---], Δαμ[---], Ἀρισ[--], Μενι[---], Ξενο[---], Καλλ[---], Μεν[---], Θεο[---] ist ausgesprochen wahrscheinlich, dass es sich um Namen handelte. So denn auch Weber 1917, 551; Clairmont 1983, 238 (jeweils ohne Kenntnisnahme des zuletzt behandelten Monuments). Vgl. auch Pritchett 1985, 136. Siehe hierzu Xen. Hell. 6.5.6–10 und Diod. Sic. 15.59 mit Gehrke 1985, 154f. Xen. Hell. 6.5.10 berichtet, dass sich alleine 800 Tegeaten nach Sparta gerettet hätten. Diod. Sic. 15.59.2 spricht von insgesamt 1400 Geflohenen. Hinzu sei beiden Berichten zufolge eine große Zahl Toter und Gefangener gekommen.
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soziale Veränderungen mit sich gebracht haben, die die Entstehung oder Intensivierung der Praxis bedingt haben könnten. Gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass der demokratische Umsturz in Tegea nur Teil und Konsequenz eines größeren Umwandlungsprozesses war, der mit der Schlacht von Leuktra seinen Anfang genommen hatte. Nachdem die Spartaner dort den Thebanern unterlegen waren und ihre Vormachtstellung auf der Peloponnes ins Wanken geriet, war es schließlich erst die Bewegung zur Gründung eines Bundes der Arkader, die zum politischen Umsturz in Tegea führte. Der interne Wandel war somit vor allem auch ein Schritt hin zur politischen Selbstbestimmung und zur autonomen Handlungsfähigkeit der polis, nachdem die tegeatische Außenpolitik seit der Mitte des 6. Jh. v.Chr. weitestgehend durch die Spartaner bestimmt und kontrolliert worden war.1144 Somit wird aber auch ein anderer Rahmen für das militärische Agieren der polis und den Umgang mit ihren Gefallenen gesetzt und es kann kaum überraschen, dass denn auch die Themen der behandelten Epigramme entsprechend gewählt wurden. So feiert das Epigramm aus der Anthologia Palatina, das vermutlich in der frühen Phase dieses Umwandlungsprozesses entstand, die Freiheit der polis und reagierte damit vielleicht konkret auf den spartanischen Versuch, den demokratischen Umbau in Tegea durch militärisches Eingreifen zu verhindern.1145 Die beiden inschriftlich überlieferten Epigramme hingegen blicken über Tegea hinweg und mögen hiermit das Selbstvertrauen und die bereits getestete Handlungsstärke einer späteren Phase widerspiegeln. Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass die Entdeckung der besprochenen Inschriften nie zu einer systematischen Ausgrabung des betreffenden Areals führte, lässt die gegebene Funddichte doch auf weitere Zeugnisse hoffen, die einen tieferen Einblick in das tegeatische Gefallenengedenken ermöglichen könnten.1146 Der vorliegende Befund legt nahe, dass die Tegeaten zwar mit den anderen griechischen poleis an der Kommemoration der Perserkriegsgefallenen teilhatten, 1144
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Siehe hierzu Heine Nielsen 2004, 531 und Gehrke 1985, 152f. jeweils mit weiterer Literatur und Quellenangaben. Insbesondere seit der Schlacht von Mantineia 418 v.Chr. muss die Kontrolle der Tegeaten durch die Spartaner stark zugenommen haben. Von entsprechenden Versuchen berichten sowohl Diod. Sic. 15.59.4 als auch Xen. Hell. 6.5.10–21, wobei sich der Angriff der Spartaner in der Erzählung Xenophons gegen Mantineia richtete, das die Tegeaten bei der antispartanischen Revolution unterstützt hatte. Auch die oben erwähnte Stelle bei Paus. 10.9.5f. mag sich auf die Abwehr der spartanischen Gegenreaktion bezogen haben. Nicht besprechen werde ich zwei weitere Zeugnisse, die mit dem tegeatischen Gefallenengedenken in Verbindung gebracht werden. Zum einen handelt es sich um ein weiteres Epigramm auf tegeatische Gefallene, das ebenfalls unter dem Namen des Simonides in der Anthologia Palatina (7.442) überliefert ist. Dieses wurde jedoch mit großer Sicherheit deutlich später verfasst und soll daher hier nicht besprochen werden (vgl. Page 1981, 279f. Nr. LIV mit weiterer Literatur). Zum anderen benennt Hiller in IG V.2 175 ein Fragment einer Namensliste als mögliches Polyandrion. Das Stück wurde jedoch im Stadtteil Paleo-Episkopi am östlichen Rand des Zentrums der antiken Stadt gefunden und könnte daher auch eine Liste beliebiger anderer Art sein, wie sie sich in Tegea zuhauf finden. Es wird folgerichtig auch weder bei Clairmont 1983 noch bei Pritchett 1985 aufgeführt.
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dass sie nach 479 v.Chr. aber keine Form staatlicher Gefallenenkommemoration institutionalisierten. Erst nach den Umwürfen des Jahres 370/69 v.Chr. begannen sie, der Bestattung und Kommemoration ihrer Kriegstoten ganz massiv Aufmerksamkeit zu widmen, wofür sie möglicherweise gar ein eigenes Areal in der nordwestlichen Nekropole der Stadt reservierten. Während sich aber dieses plötzliche Aufkommen des Gefallenengedenkens sehr wohlfällig anhand der politischen und sozialen Entwicklungen dieser Periode erklären lässt, bleibt wie so häufig ungeklärt, warum sich keine späteren Spuren der Praxis finden. Stattdessen kann nur spekuliert werden, ob sein ‚Verschwinden‘ durch weitere historische Veränderungen zu erklären ist oder ob es vielleicht nur auf die schlechte Quellenlage und den aktuellen Stand der archäologischen und epigraphischen Erschließung der antiken polis zurückzuführen ist.
Thelphousa Nur ein einziges Gefallenenmonument ist aus der arkadischen polis Thelphousa überliefert. Es handelt sich um ein Epigramm, das auf der Front einer steinernen Basis angebracht ist, die in der Nähe des antiken Ortes gefunden wurde.1147 Die Basis misst in der Höhe wie der Breite 0,79m, ist 0,48m tief und diente wohl zur Aufnahme einer Stele. Die Inschrift liest: ἄξια σοῦ, Θέλφουσα, καὶ Ἑλλάδος ἄνυσαν ἔργα μαρνάμενοι πάτρας οἵδε περὶ σφετέρας· ἦ γὰρ ἔσω νυκτὸς πυμάτας ὑπὲρ ἕρκεα πύργων βάντα κατ᾽ ἀκροτάτων ἤλασαν ἐκτὸς Ἄρη δυσμενέων, πολλοὺς δὲ δι᾽ αἵματος ἐκτανύσαντες [κάτ]θανον εὐνομίαν ῥυσάμενοι πατέρων.1148
Das Epigramm selbst nennt keinen Gegner oder sonstige Details, die eine zweifelsfreie Zuordnung des Denkmals erlauben würden. Jedoch wird deutlich, dass Thelphousa selbst angegriffen wurde und wohl nur knapp dem Untergang entkam. Daher wurde bereits von den ersten Editoren vorgeschlagen, das Monument müsse einer Schlacht der Thebaner und ihrer Verbündeten gegen die Spartaner zuzuordnen sein, die Diodor für das Jahr 352 v.Chr. überliefert.1149 Der Grund für diese Einordnung besteht darin, dass dies die einzige Schlacht in der Nähe von Thelphousa ist, von der in den Quellen berichtet wird. Nun wird aus der kurzen Erwähnung bei 1147 1148 1149
Siehe IG V.2 412; GV 25; Peek 1960, 295 Nr. 14; Clairmont 1983, 239f. Nr. 74; Pritchett 1985, 222. Zitiert nach IG V.2 412. Siehe Diod. Sic. 16.39.6 mit IG V.2 412; Clairmont 1983, 239f. Nr. 74; Pritchett 1985, 222.
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Diodor jedoch weder deutlich, ob die Stadt selbst damals attackiert wurde, noch können wir ausschließen, dass das Epigramm sich auf einen anderen, nicht überlieferten, Anlass bezieht, zu dem die polis tatsächlich angegriffen wurde. Zudem hat Werner Peek vorgeschlagen, die Inschrift aufgrund ihrer paläographischen Eigenschaften erst ins 3. Jh. v.Chr. zu datieren, womit die vorgeschlagene Identifikation hinfällig wäre. Da jedoch weder ein Foto noch eine sonstige Reproduktion des Steines veröffentlicht sind und sich Peeks Vorschlag daher nicht überprüfen lässt, bleibt eine konkrete Datierung und Zuordnung des Monumentes beim derzeitigen Wissensstand unmöglich. Wenden wir uns daher einer inhaltlichen Analyse des Epigrammes zu. Ähnlich wie das tegeatische Epigramm aus der Anthologia Palatina1150 zeichnet sich auch das vorliegende Gedicht durch eine für das Genre doch sehr konkrete Schilderung der Bedrohung aus. So wird beschrieben, wie die nicht näher bezeichneten Feinde in der Nacht in die Stadt eindringen und somit alle Bewohner der Stadt direkt gefährdet sind. Erst der aufopfernde Einsatz der kommemorierten Männer, der in fast archaisch anmutender Manier als blutiges Niederstrecken der Eindringlinge beschrieben wird, bringt der polis die Rettung und ihren Rettern den Tod. Auch hier wird der Mut der Gefallenen und die Größe ihres Opfers angemessen gewürdigt, doch wo das tegeatische Epigramm das Überleben der Gemeinschaft und die Erhaltung der Freiheit der polis zelebriert, starben die gefallenen Thelphousier für die „εὐνομία“ der polis. Nicht die Bedrohung der Existenz des Gemeinwesens an sich wurde demnach abgewehrt, sondern eine Gefahr für seine politisch-soziale Ordnung und seine Lebensform. Der Unterschied mag zunächst marginal erscheinen, doch ergibt sich hieraus eine deutlich andere Konnotation des Epigramms, die gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Feinde bereits in die Stadt eingedrungen waren, doch bemerkenswert ist. Abgesehen von dieser Auffälligkeit finden sich in dem Gedicht recht gängige Themen und topoi. So wird präzisiert, dass die gerettete εὐνομία von den Vorfahren ererbt sei und somit auf die Kontinuität des Gemeinwesens und dessen Überlebensfähigkeit hingewiesen, die ja auch im vorliegenden Fall wieder demonstriert worden war. Darüber hinaus loben die ersten Verse die Tapferkeit und moralische Wertigkeit der Toten, die andernorts vielleicht als „ἀρετή“ bezeichnet worden wäre. Die Taten, die die Gefallenen für ihre patris erbracht hatten, seien nämlich nicht nur dieser, sondern auch ganz Griechenlands würdig gewesen. Hier wird auf etwas plump wirkende Weise versucht, der Episode, die sich ansonsten doch nur auf Thelphousa selbst bezieht, eine panhellenische Dimension zu geben. Es wäre ausgesprochen interessant, zu wissen, welches Ereignis das Epigramm tatsächlich kommemorierte und ob dieser Anspruch in irgendeiner Form gerechtfertigt war. Beim derzeitigen Kenntnisstand ist eine solche Zuordnung
1150
S.o. 2. II. Tegea mit Anm. 1108.
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II. Die Peloponnes
jedoch unmöglich, sodass das Epigramm das einzige, augenblickliche Schlaglicht auf das Gefallenengedenken in Thelphousa bleibt.
Zwischenfazit Peloponnes Wie in Boiotien finden sich auch auf der Peloponnes nur in wenigen poleis Belege einer dauerhaften oder zumindest zeitweise konstanten Praxis kollektiven Gefallenengedenkens. Am deutlichsten lässt sie sich in Tegea fassen, wo eine Reihe von Gefallenenlisten ein kurzes, aber intensives, Aufleben der staatlichen Gefallenenkommemoration in den Jahren nach 371/0 v.Chr. aufzeigen. Auch in Mantineia und Sikyon könnte es im 4. Jh. v.Chr. bzw. in Sikyon erst spät im 3. Jh. v.Chr. solche relativ kurzen Phasen der Pflege der Praxis gegeben haben. Da aber hier die Zahl und Dichte der Quellen geringer ausfällt, müssen diese Einschätzungen mit einer gewissen Vorsicht getroffen werden. Anders stellt sich die Situation für Argos dar, wo eine Reihe von Belegen, die sich etwas breiter auf die letzten beiden Drittel des 5. Jh. v.Chr. verteilen, nahelegen, dass die Praxis zumindest in dieser Zeit zu einem gewissen Grad etabliert war. Auffällig ist in diesem Fall, dass das Gefallenengedenken wohl eng mit der Beziehung der Argiver zu den Athenern verknüpft war. Es scheint, dass die Argiver sich in der Kommemoration ihrer Kriegstoten vom Vorbild der attischen Verbündeten beeinflussen ließen, ähnlich wie der attische Brauch wohl auch Einfluss auf das Gefallenengedenken der Plataier hatte.1151 Die Argiver zeigten sich damit deutlich empfänglicher für die attischen Sitten als etwa die Kleonier. Wie den Argivern ließen die Athener nämlich auch den gefallenen Kleoniern der Schlacht von Tanagra eine Bestattung in ihrem demosion sema zukommen, ohne dass die Kleonier sich jedoch hiernach veranlasst sahen, eine ähnliche Praxis für ihre Kriegstoten einzuführen. Zumindest finden sich keine Hinweise darauf, dass in Kleonai jemals in kollektiver Form der Gefallenen der polis gedacht wurde. Weitaus disparater präsentiert sich der Befund in anderen poleis, wo sich höchstens punktuell und vereinzelt Fälle staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens nachweisen lassen. Nicht immer kann hierbei ausgeschlossen werden, dass der Mangel an Zeugnissen nicht einfach der oftmals schwierigen Überlieferungssituation geschuldet ist. Doch kann in vielen Fällen mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass das kollektive Gefallenengedenken hier keinen Platz hatte und dass stattdessen tatsächlich andere Kommemorationspraktiken vorherrschten. So wurde beispielsweise in Megara und Messene, wo sich auch einzelne kollektive Gefallenenmonumente fanden, der Kommemoration verdienter Einzelpersonen allgemein mehr Bedeutung zugemessen als in den oben genannten poleis. Überhaupt lässt sich auch auf der Peloponnes ab dem zweiten Viertel des 4. Jh. v.Chr. eine verstärkte Tendenz zur Auszeichnung herausragender 1151
S.o. 2. I. Plataiai.
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Individuen feststellen, wie sie sich etwa auch in Boiotien und insbesondere in Theben ab dieser Zeit abzeichnete.1152 Die Spartaner wiederum warteten mit einem ganz eigenen Umgang mit den Kriegsgefallenen auf, der aber in all seiner Außergewöhnlichkeit eindrucksvoll den Respekt und die Ehrerbietung gegenüber den Kriegstoten erkennen lässt, der sich auch in den Bräuchen anderer griechischer poleis zeigt. Wie schon in Boiotien bestätigt sich auch auf der Peloponnes, dass die Bestattung und Kommemoration der Gefallenen weiterhin vollauf in der Hand der poleis lag. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Arkadische, der Archaische oder sonst ein Bund in irgendeiner Form direkt in das Gefallenengedenken involviert war – die Sorge für herausragende Einzelpersonen, wie Philopoimen, ausgenommen. Jedoch versuchten einzelne poleis durchaus, sich das Gedenken an Bundesgefallene zunutze zu machen und es für die Stärkung ihrer eigenen Rolle und zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele innerhalb des Bundes zu instrumentalisieren. Besonders deutlich wird dies in den Beispielen aus Megalopolis, aber auch in Sikyon deuten sich solche Versuche an. Überhaupt wird aus einer Vielzahl von Gefallenenmonumenten von der Peloponnes deutlich, dass sie ganz klar auch eine außenpolitische Absicht verfolgten. Lässt sich eine solche Dimension etwa in den Bestattungen spartanischer Gefallener auf verbündetem Territorium zumindest vermuten, zeigt sie sich sehr deutlich in der Sorge für die Bestattung gefallener Verbündeter, wie sie neben den Monumenten aus Megalopolis etwa auch das leider undatierte Grab der Phigaleier für die Oresthasier belegt.1153 Ebenfalls zeigt sich ein solches Sendebewusstsein auch in den Epigrammen, die die Polyandrien zierten. Nicht selten behaupten diese, die Toten hätten ihr Leben nicht nur für die eigene polis, sondern auch für ganz Griechenland oder auch für den jeweiligen Bund hingegeben. Der topos des Opfers für die Freiheit und den Erhalt ganz Griechenlands stammt bereits aus der Zeit der Perserkriege und belegt die anhaltende Bedeutung und Wirkmacht des Gedenkens an gerade diesen Konflikt und seine Opfer, die ja auch in der Vielzahl der entsprechenden Monumente deutlich werden. Immerhin hielten es nicht nur die Megarer und die Korinther für angemessen, ihren Gefallenen aus den Kämpfen gegen die Perser zusätzlich zu den Gräbern an den Schlachtorten auch in der Heimat Denkmäler zu setzen. Selbst die Spartaner, die sich sonst gegen die staatliche Kommemoration von Gefallenen verwehrten, errichteten vermutlich noch im 5. Jh. v.Chr. neben dem Kenotaph des Leonidas eine Liste der dreihundert Gefallenen von den Thermopylen. Obwohl die Kommemoration der Perserkriegsgefallenen nun aber derartige Prominenz einnahm und in vielerlei Hinsicht den Grundstein für das spätere Gefallenengedenken legte und 1152 1153
Vgl. oben 2. I. Theben. Die verschiedenen attischen Gräber für gefallene Verbündete von der Peloponnes will ich hier nicht noch einmal aufzählen, da es sich eben um attische Monumente handelte. Dennoch spielen sie für diesen Aspekt freilich eine Rolle, da die verbündeten poleis hier zumindest die Rolle des Rezipienten einnahmen.
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II. Die Peloponnes
seine Formen nachhaltig prägte, zeigt sich in keiner der peloponnesischen poleis eine direkte Übernahme der Praxis. Von den peloponnesischen Gemeinwesen, die an der Perserabwehr beteiligt waren, finden sich einzig in Megara weitere Belege für staatliches Gefallenengedenken im 5. Jh. v.Chr., während solche Zeugnisse in Korinth, Mantineia und Tegea erst ab dem 4. Jh. v.Chr. wieder auftauchen und in Sparta völlig ausbleiben. Überhaupt sind die Zeugnisse kollektiven Gefallenengedenkens im 5. Jh. v.Chr. für die Peloponnes abseits der Perserkriegskommemoration rar. Dafür setzte aber wohl auch hier nach der Schlacht von Leuktra ein massiver Schub in der Entwicklung und Verbreitung der Praxis ein, der dann allerdings auch recht schnell wieder abflachte. Besonders deutlich ist dieser Anstieg in Tegea zu erkennen, aber auch in Mantineia finden sich Anzeichen für ein kurzes Aufleben des staatlichen Gefallenengedenkens. Es liegt nahe, zu vermuten, dass diese plötzliche und punktuelle Entwicklung auf das Engste mit der Schwächung und Auflösung der spartanischen Hegemonie verbunden war, die zum einen den peloponnesischen Gemeinwesen neue militärische und außenpolitische Handlungsräume eröffnete und zum anderen in einigen poleis auch interne Umstöße nach sich zog. Durchaus beachtlich ist die große Zahl an Zeugnissen, die Fälle staatlichen Gefallenengedenkens auch nach dem 4. Jh. v.Chr. belegen. Während nämlich solche Belege in Boiotien die Ausnahme darstellen und sich in Athen nach dem 4. Jh. v.Chr. überhaupt keine Anzeichen des patrios nomos mehr finden, weisen Belege aus Sikyon, Megalopolis und Messene auf ein ‚Nachleben‘ der Praxis bis ins 3. Jh. v.Chr. und in einem einzelnen Fall aus Epidauros gar ins 2. Jh. v.Chr. hin. Der Begriff ‚Nachleben‘ steht dabei ganz bewusst in Anführungszeichen, da er eigentlich nicht zutrifft. In keiner der drei poleis finden sich nämlich frühere Hinweise auf staatliches, kollektives Gefallenengedenken. Richtiger wäre es daher wohl, in diesen Fällen von ‚Nachzüglern‘ zu sprechen, wenn auch dieser Begriff wohlmöglich ebenso etwas irreleitet, impliziert er doch eine gewisse Kontinuität. Sowohl in Megalopolis als auch in Messene und in Epidauros findet sich aber jeweils nur ein einziger Fall, in dem dem Kollektiv der Gefallenen gedacht wurde. Es handelte sich also vermutlich um singuläre Maßnahmen, die zumindest in Megalopolis und Epidauros wohl aufgrund einer akuten militärischen Bedrohung der polis gewählt wurden und die innere Kohäsion des Gemeinwesens sowie seine Absicherung innerhalb des jeweiligen Bündnissystems gewährleisten sollten. Einzig in Sikyon könnte der – immer noch äußerst spärliche – Quellenbefund andeuten, dass hier mit der Befreiung der Stadt von der Tyrannis des Nikokles durch Aratos auch das kollektive Gefallenengedenken für eine Weile seinen Platz fand. Erneut wird an diesem und anderen Beispielen die politische Dimension des Gefallenengedenkens deutlich, die auch in den boiotischen Zeugnissen klar zum Vorschein tritt. Nicht noch einmal eingehen will ich hier auf die Bedeutung des politischen Systems und der politischen Selbstbestimmung der poleis für die Ausprägung der Praxis, da diese Aspekte im Kleinen bereits 325
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ausführlich diskutiert wurden und im nächsten Hauptteil dann ohnehin noch einmal im größeren Zusammenhang betrachtet werden sollen. Wichtig erscheint es mir, auch an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, wie bedeutsam der lokale und tagespolitische Kontext für das Gefallenengedenken und dessen konkrete Ausprägungsformen war. Alleine das Beispiel Spartas zeigt doch, dass die poleis in Bezug auf die Kommemoration ihrer Kriegsgefallenen deutlich flexibler waren, als wir modernen Historiker oft annehmen oder uns die überlieferten Sepulkral-‚Gesetze‘ glauben machen.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis Nachdem ich mich in den beiden vorangegangenen Teilen intensiv mit dem Gefallenengedenken in Athen sowie in den einzelnen poleis Boiotiens und der Peloponnes auseinandergesetzt und dabei stets eine polisinterne Perspektive beibehalten habe, ist es nun Zeit, die gesammelten Beobachtungen zusammenzuführen und das Phänomen des griechischen Gefallenengedenkens in seiner ganzen Breite zu betrachten. Ich will dabei nicht noch einmal einzeln alle formalen Elemente der Praxis durchgehen und gegenüberstellen, da dies bereits weitestgehend in den Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Abschnitte geschehen ist. Stattdessen will ich zur Ausgangsfrage der Untersuchung zurückkehren, warum das kollektive, von der Gemeinschaft getragene Gefallenengedenken im klassischen Griechenland aber in keinem anderen vormodernen Gemeinwesen Europas entstand, und versuchen, durch die Beantwortung der Frage auch zu einem besseren Verständnis des Gefallenengedenkens insgesamt zu gelangen. Mein Erklärungsansatz gliedert sich in zwei Teile. Im ersten, strukturellen, Teil will ich zunächst vier Faktoren herausstellen und darlegen, wie deren Existenz überhaupt erst bedingte, dass es zum Gefallenengedenken in der dargelegten Form kommen konnte. Da aber diese Faktoren alleine nicht automatisch zur Entwicklung kollektiven Gefallenengedenkens führen mussten, will ich im zweiten, historischen, Teil dann die Praxis des staatlichen Gefallenenkultes mit konkreten historischen Ereignissen in Beziehung setzen und so einige spezifische Anlässe und Entwicklungen herausarbeiten, die die Entstehung, die Verbreitung und die Entwicklung des Gefallenengedenkens im 5. und 4. Jh. v.Chr. beeinflussten.
I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung In der bisherigen Untersuchung ist bereits hinreichend deutlich geworden, dass das kollektive, öffentliche Gefallenengedenken in der griechischen Antike stets von der polis ausging und nicht etwa von größeren oder kleineren Organisationseinheiten. Daher liegt es nahe, die Bedingungen für die Entstehung der Praxis in der Polisideologie zu suchen. Ich will im Folgenden vier Aspekte behandeln, die sowohl charakteristisch für die griechischen poleis als auch zugleich entscheidend für die Entwicklung des Gefallenengedenkens waren: die ausgeprägte Gleichheitsvorstellung der Bürger, das hohe Identifikationspotential der polis, die aktive Teilhabe des Einzelnen 329
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
an der Gemeinschaft und die unabhängige Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens als Ganzem. Die Trennung der vier Aspekte voneinander ist dabei in der Theorie klarer, als sie es in der Wirklichkeit war. Eigentlich sind die Faktoren auf das Engste miteinander verbunden und bedingen einander häufig auch gegenseitig. Dennoch lässt sich die separate Behandlung der vier Aspekte für die Analyse nicht umgehen. Aufgrund der problematischen Überlieferungssituation besteht zudem die Notwendigkeit, für diesen Abschnitt wieder vermehrt auf Material aus Athen zurückzugreifen. Jedoch wird versucht, dieses soweit wie möglich durch nicht-athenische Evidenz zu ergänzen.
Gleichheit Ian Morris argumentiert,1154 dass eine grundlegende Voraussetzung für die Entstehung demokratischer Gemeinwesen im Griechenland des 5. Jh. v.Chr. in der Vorstellung bestand, dass alle Mitglieder der Gruppe der Vollbürger zumindest in einem bestimmten Maße über die gleichen Fähigkeiten und Qualitäten verfügten und somit zur aktiven politischen Teilhabe am Staat geeignet seien. Dieses Konzept des Strong Principle of Equality, das Morris bei Robert Dahl entleiht,1155 zirkuliere um die Vorstellung eines middling citizen, die sich in der Archaik in allen griechischen Gemeinwesen entwickelt habe und der sich alle Mitglieder der Gemeinschaft ungeachtet aller weiterhin bestehenden finanziellen, sozialen oder sonstigen Unterschiede zuschlagen und unterordnen konnten. Diese Gleichheitsvorstellung liegt auch dem kollektiven Gefallenengedenken zugrunde. Schließlich entwickelte sich auch das Strong Principle of Equality maßgeblich aus dem gemeinsamen Militärdienst der sich stetig ausweitenden Gruppe der Vollbürger. Somit ist nur folgerichtig, dass es sich auch im Gedenken für die gefallenen Krieger niederschlug. Nirgendwo tritt die Bedeutung des Gleichheitsideals für die Kommemoration der Kriegsgefallenen deutlicher zutage als im egalitären Format der Listen mit den Namen der Toten, die sich in einer Vielzahl der behandelten poleis gefunden haben. Hier wurden die Gefallenen gemeinsam, oft nach Phylen
1154 1155
Zum Folgenden siehe Morris 1996, passim. Vgl. Dahl 1989, 97: „The assumption that a substantial portion of adults are adequately qualified to govern themselves might be called a Strong Principle of Equality (to distinguish it, for example, from the weaker principle expressed in the Idea of Intrinsic Equality).“ Zum Weiteren siehe wieder Morris 1996. Hingegen beharrt Hansen 1998, 21–25 darauf, dass Gleichheit in Athen stets ausschließlich politische Gleichheit bedeutet habe. Die Überzeugung von einer gewissen Wesensgleichheit, die Morris in den griechischen Gemeinwesen erkennen will und als Grundvoraussetzung für die Umsetzung politischer Gleichheit erachtet, sieht Hansen nicht.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
oder sonstigen Untereinheiten geordnet, aber meist unter Auslassung des Patronyms und anderer Distinktionsmerkmale, aufgeführt, sodass die polis alle genannten Personen als gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft präsentierte. Freilich finden sich Listen, auf denen einzelne Personen oder bestimmte Gruppen besonders hervorgehoben wurden. So haben wir gesehen, dass in Athen und Argos Strategen und Trierarchen, aber auch Seher und andere Funktionsträger als solche gekennzeichnet werden konnten,1156 während in Thespiai oder Sparta Sieger panhellenischer Agone als solche auf den Grabmälern benannt wurden.1157 Doch zum einen wurden nur solche Personen auf den Monumenten markiert, die sich durch besondere Leistungen ausgezeichnet hatten, die auch der polis zugute kamen.1158 Zum anderen galt nach dem beschriebenen Gleichheitsverständnis keineswegs die Annahme absoluter Wesensgleichheit. Vielmehr bestand die Vorstellung darin, dass jeder Vollbürger über einen Grundstock von Qualitäten verfügte, die ihn zur Teilhabe am Gemeinwesen befähigten. Er konnte sich aber auch darüber hinaus noch durch zusätzliche Leistungen und Qualitäten auszeichnen und hierfür auch entsprechende Ehrungen erhalten.1159 Hinsichtlich einer vollständigen Gleichsetzung aller Kriegsleistungen fanden sich denn auch deutliche kritische Stimmen. Gerade in Athen, wo das staatliche Gedenken auf die breite Schicht der Ruderer und gar auch auf Sklaven ausgeweitet wurde, finden sich Zeichen einer anhaltenden Diskussion um die Gleichsetzung der Leistung aller Waffengattungen. Neben einer ganz allgemeinen Kritik am „ναυτικὸς ὄχλος“,1160 der sich aus den niederen sozialen Schichten zusammensetzte und sich daher durch Unberechenbarkeit und moralische Minderwertigkeit ausgezeichnet habe, wurde nämlich auch die Leistung der Ruderer im Krieg für die polis massiv in ihrer Wertigkeit angegriffen. Sie entsprach schlichtweg nicht dem Ideal des Bürgerhopliten, der sich (1.) durch seine Bereitschaft auszeichnete, für die polis das persönliche Risiko von Verletzung, Verstümmelung oder Tod in der Schlacht einzugehen und der (2.) seinen Wert dadurch
1156
1157
1158
1159 1160
S.o. 1. II. Die Gefallenenlisten und die Liste im Anhang zu Athen sowie 2. II. Argos um Anm. 778 zu Argos. In Thespiai wurden auf dem Grab für die Gefallenen vom Delion ein Olympionike und ein Pythionike genannt (s.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 555) In Sparta findet sich eine Gefallenenstele, die einen Olympioniken nennt (s.o. 2. II. Sparta mit Anm. 1076), und auch am Lakedaimoniergrab in Athen wurde wohl der Olympionike Lakrates genannt (s ebd. mit Anm. 1064). Auch der Sieg bei einem panhellenischen Agon wurde bekanntermaßen als Auszeichnung der polis verstanden und dementsprechend auch von dieser durch Ehrungen vergolten. Siehe hierzu Mann 2001, 33–35; Morris 1996, 37. Siehe zu diesem Punkt auch Raaflaub 1996, 153 sowie Cartledge 1996, 178–182. Thuk. 8.72.2. Siehe auch ebd. 48.3; 86.5 und Aristot. Ath. pol. 1327A–B. Vgl. auch van Wees 2004, 200f.; Strauss 2000, 266f.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
bewies, dass er im Anblick des Feindes seine Position in der Schlachtordnung ein- und dem Gegner standhielt.1161 Gemäß dieser Sichtweise demonstrierten die Hopliten im Feld ihre moralischen Qualitäten (ἀρετή) und ihre geistige Festigkeit, während der Kriegsdienst der Ruderer primär als körperliche und mechanische Leistung (τέχνη) zu verstehen gewesen sei.1162 Obwohl auch die Ruderer ihr Leben durch den Dienst auf einer Triere riskierten, standen sowohl die Art der Leistung unter Deck als auch die Strategien des Seekampfes, die neben dem Rammen häufig auch den taktischen Rückzug einschlossen, in krassem Gegensatz zum standhaltenden Ideal des Hopliten.1163 So prangert beispielsweise Plato die vermeintliche Feigheit des seebasierten Kampfes an,1164 und auch Aristophanes reagiert wohl auf aristokratische Kritik an der Gleichbehandlung von Ruderern und Hopliten, wenn er sich über die ‚plattgesessenen Hinterteile‘ der Schiffsmannschaften auslässt.1165 Dennoch wurden auch die attischen Schiffsmannschaften im demosion sema bestattet und kommemoriert. Sowohl Pausanias als auch die Inschriften der Gräber selbst belegen, dass die Gefallenen unterschiedlicher Seeunternehmungen im attischen Staatsfriedhof ihre letzte Ruhe fanden.1166 Überdies zeigen drei Ehrungen, die um die Wende vom 5. zum 4. Jh. v.Chr. auf der
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1163 1164 1165
1166
Die Bedeutung des Standhaltens wird etwa im Eid der Epheben und dem sog. Eid von Plataiai besonders gut deutlich. Siehe Tod 1948, Nr. 204. Vgl. auch Müller 1989, 320f., der explizit die Bedeutung des menein hervorhebt. In Tyrt. Fr. 12 (= Stob. 4.10.1 + 6) werden gar alle (bürgerlichen) Qualitäten außer dem Standhalten in der Schlacht als irrelevant klassifiziert. Die beiden Aspekte zur Auszeichnung des Hopliten werden sehr klar von Pritchard 1999, 108–110 herausgearbeitet. Seine Arbeit ist grundlegend für die Frage, nach der Bewertung und Kommemoration der Ruderer in Athen. Auf den Kontrast zwischen der ἀρετή der Kämpfenden und der τέχνη der Rudernden weist auch Pritchard 1999, 117f. hin. Siehe hierzu Pritchard 1999, 115–121; van Wees 2004, 200f. Vgl. Plat. leg. 706b–707d und Pritchard 1999, 117f. Siehe Aristoph. Equ. 783–785; 1366–1368; Vesp. 1118f. Besonders abschätzig fällt sein Urteil in Ra. 1069–1077 aus. Auch andere antike Autoren äußern sich kritisch bezüglich der gleichberechtigten Anerkennung der Ruderer. Siehe z.B. Aristot. Pol. 1275A–B; 1297B. Vgl. Pritchard 1999, 238f. Mindestens sechs der durch den Periegeten beschriebenen Gräber bezogen sich auf Kampagnen, die klar maritimen Charakters waren: Aigina (Paus. 1.29.7), Zypern (ebd. 13), karische Küste (ebd. 7); Sizilien (ebd. 13), Euboia, Chios, Asien und Sizilien (ebd. 11); Hellespont (ebd. 13). Siehe hierzu Pritchett 1985, 145–151. Zudem weisen zwei Epigramme (IG I3 1147; 1162) und fünf Gefallenenlisten, auf denen Trierarchen oder „ἄρχοντες τõ ναυτικῶ“ verzeichnet sind, auf die Opfer solcher Unternehmungen hin (IG I3 1166; 1186; 1190; 1191; 1192). Pritchard 1999, 239f. bemerkt überdies, dass sowohl Lysias als auch Platon in ihren Gefallenenreden diverse Seeschlachten nennen und teils auch näher auf diese eingehen. Lysias erwähnt unter anderem die Schlacht am Kap Artemision (2.27–32) und Aigospotamoi (ebd. 58–60), die auch Platon beide einbezieht (Men. 241a–c und 243c–d).
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
Akropolis aufgestellt wurden, und die exklusiv der Ehrung von Schiffsmannschaften dienten,1167 eindeutig, dass die Ruderer ehr- und kommemorationsfähig waren. So zeigt sich in diesem Punkt vor allem die ambivalente Haltung der Athener und insbesondere der attischen Oberschicht zu ihrer Rolle als Seemacht und zu ihren ärmeren Mitbürgern, die die attischen Trieren ruderten. Einerseits waren sie sich der Bedeutung, die die Flotte für ihre polis und deren Rolle in der griechischen Staatenwelt hatte, vollauf bewusst, und waren daher auch gewillt, dem eine gewisse Anerkennung zu zollen.1168 Andererseits bedeutete dies keineswegs, dass alle Bürger höheren Standes die Theten und deren militärische Leistung als völlig gleichwertig akzeptierten.1169 Doch auch die Bewertung des Hoplitenkampfes stellte sich nicht so unproblematisch dar, wie die eisernen Vertreter einer Hoplitenpoliteia meinten. Vielmehr wurden in der Zeit des Phalanxkampfes und der Massenschlachten mit teils Zehntausenden Beteiligten zunehmend auch Stimmen laut, die am Bild des standhaften Hopliten rüttelten. So ließ etwa Euripides in den Hiketiden den Theseus verlauten: ἓν δ᾽ οὐκ ἐρήσομαί σε, μὴ γέλωτ᾽ ὄφλω, ὅτῳ ξυνέστη τῶνδ᾽ ἕκαστος ἐν μάχῃ ἢ τραῦμα λόγχης πολεμίων ἐδέξατο. κενοὶ γὰρ οὗτοι τῶν τ᾽ ἀκουόντων λόγοι καὶ τοῦ λέγοντος, ὅστις ἐν μάχῃ βεβὼς λόγχης ἰούσης πρόσθεν ὀμμάτων πυκνῆς σαφῶς ἀπήγγειλ᾽ ὅστις ἐστὶν ἁγαθός. οὐκ ἂν δυναίμην οὔτ᾽ ἐρωτῆσαι τάδε
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Hierbei handelt es sich zum einen um das Relief, das zur Ehrung der Besatzung der Paralos errichtet wurde und das vielleicht mit der Rolle dieses Schiffes bei der Überwindung des Regimes der Vierhundert in Verbindung zu setzen ist. Vgl. Beschi 1969, 117–132. Zum anderen handelt es sich um die Fragmente eines ausführlichen Kataloges der Mannschaften von acht Trieren, der ebenfalls als Ehrenmonument angesehen wird. Siehe IG I3 1032 für die Edition sowie die ausführlichen Behandlungen durch Laing 1965 und v.a. Graham 1992, 263–269; 1998, passim sowie Funke 1983. Erst in den letzten Jahren wurde ein Fragment eines weiteren Schiffskatalogs entdeckt, der die gleiche Organisationsstruktur aufweist, jedoch einem anderen Monument zuzuordnen ist. Siehe SEG 54.226; Bardani 2004, 141–154. Ob auch dieses auf der Akropolis aufgestellt war, ist ungewiss, da der Fundort nicht bekannt ist. Bardani nimmt dies aber in Parallele zu dem anderen Monument an. Der Komplex wird jeweils sehr anschaulich von Strauss 2000, 262–264 und Pritchard 1999, 224f. herausgearbeitet. Besonders in den Theaterstücken finden sich häufiger auch Wertschätzungen der Schifffahrt und der Ruderkunst. Siehe etwa Aristoph. Av. 108; Equ. 550–564; 600–604; Soph. Oid. K. 707–719. Vgl. beispielsweise Ps.Xen. Ath. pol. 1.2, wo die politische Teilhabe der Theten gelobt wird, weil sie schließlich auch für den Erfolg des Seebundes verantwortlich seien, wo aber dennoch deutlich wird, dass dies keine Gleichwertigkeit der Theten und der oberen Klassen bedeute.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
οὔτ᾽ αὖ πιθέσθαι τοῖσι τολμῶσιν λέγειν: μόλις γὰρ ἄν τις αὐτὰ τἀναγκαῖ᾽ ὁρᾶν δύναιτ᾽ ἂν ἑστὼς πολεμίοις ἐναντίος.1170
Hier, wie auch an anderen Stellen,1171 wird bemängelt, dass vor allem „die Sicht- und Nachweisbarkeit individueller Leistung“1172 nicht mehr möglich war. Anders als im homerischen Zweikampf und den archaischen Scharmützeln aristokratischer Gruppen war im Gewirr und Getöse der Massenschlachten des 5. Jh. v.Chr. schlichtweg nicht mehr zu sagen, wer sich tatsächlich tapfer dem Feind entgegengestellt hatte, und wer im Angesicht der Gefahr für Leib und Leben wohlmöglich gezögert oder gar sein Heil in der Flucht gesucht hatte. Mehr noch: Nicht nur waren die ἀρετή und das kriegerische Können des Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar; sie waren auch nicht mehr ausschlaggebend für dessen Überleben. So lässt Thukydides etwa einen der bei Sphakteria gefangenen Spartaner zynisch die Bedeutung des Zufalls für Leben und Tod in der Schlacht kommentieren: παρὰ γνώμην τε δὴ μάλιστα τῶν κατὰ τὸν πόλεμον τοῦτο τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο: τοὺς γὰρ Λακεδαιμονίους οὔτε λιμῷ οὔτ᾽ ἀνάγκῃ οὐδεμιᾷ ἠξίουν τὰ ὅπλα παραδοῦναι, ἀλλὰ ἔχοντας καὶ μαχομένους ὡς ἐδύναντο ἀποθνῄσκειν. ἀπιστοῦντές τε μὴ εἶναι τοὺς παραδόντας τοῖς τεθνεῶσιν ὁμοίους, καί τινος ἐρομένου ποτὲ ὕστερον τῶν Ἀθηναίων ξυμμάχων δι᾽ ἀχθηδόνα ἕνα τῶν ἐκ τῆς νήσου αἰχμαλώτων εἰ οἱ τεθνεῶτες αὐτῶν καλοὶ κἀγαθοί, ἀπεκρίνατο αὐτῷ πολλοῦ ἂν ἄξιον εἶναι τὸν ἄτρακτον, λέγων τὸν οἰστόν, εἰ τοὺς ἀγαθοὺς διεγίγνωσκε, δήλωσιν ποιούμενος ὅτι ὁ ἐντυγχάνων τοῖς τε λίθοις καὶ τοξεύμασι διεφθείρετο.1173
Wie aber sollte unter solchen Umständen noch bestimmt werden, wer sich tugendhaft verhalten hatte und somit als ἀγαθός des Gedenkens würdig war? Im Falle Athens findet sich die Antwort auf diese Frage in der feststehenden Formel „ἄνδρες ἀγαθοὶ γενόμενοι“, die vor allem in den epitaphioi logoi zur Bezeichnung der Gefallenen diente.1174 Es fällt auf, dass das in der Formel verwendete Verb γίγνομαι in den epitaphioi logoi mit 1170 1171
1172 1173 1174
Eur. Suppl. 846–856. Ähnlich etwa auch Andr. 693–700, wo betont wird, dass alle Kämpfenden die gleiche Leistung erbrächten. Mann 2001, 19. Thuk. 4.40. Siehe z.B. Thuk. 2.35; Lys. 2.25; 69 (durch den Satzbau leicht aufgespalten aber dem Sinn nach der Formel entsprechend); Lykurg. Leok. 82 (über die Gefallenen von Plataiai); Plat. Men. 242b. Ebd. 243c findet sich auch die Variante „ἄνδρες γενόμενοι ὁμολογουμένως ἄριστοι“. Auch außerhalb der Gat-
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
wenigen Ausnahmen1175 stets im Aorist erscheint und damit also den punktuellen, augenblicklichen Aspekt des ‚Werdens‘ zum ἀνήρ ἀγαθός betont.1176 Da nun aber auch Reiter, Leichtbewaffnete und Ruderer Aufnahme in das demosion sema fanden, kann mit dieser Formel nicht der Moment des Standhaltens in der Feldschlacht gemeint sein. Schließlich zeichneten sich diese drei Waffengattungen eben nicht durch diese Qualität aus. Folgerichtig bleibt stattdessen nur ein einziges Kriterium ersichtlich, das diese augenblickliche Transformation zum ἀνήρ ἀγαθός bedingt haben kann: der Tod in der Schlacht. Dieser Gedanke lässt sich nicht nur in dieser einen Formel finden, sondern begegnet auch andernorts in den attischen epitaphioi logoi. So erklärt Perikles in der thukydideischen Gefallenenrede, dass ihn die Worte und Taten eines Mannes während seiner Lebzeiten überhaupt nicht interessierten, da sich der Wert eines Mannes ohnehin erst in seinem Untergang zeige.1177 Dabei scheint es weniger von Bedeutung zu sein, wie ein Mann dem Tod entgegengeht, sondern vielmehr, dass er ihn überhaupt empfängt. Dies mag zunächst banal erscheinen – freilich musste ein Krieger erst sterben, bevor er im demosion sema bestattet werden konnte. Der entscheidende Punkt liegt aber darin, dass dieses das einzig notwendige Kriterium darzustellen scheint, um von der polis die Ehre des Gefallenenbegräbnisses zu empfangen. Dass einzig der Tod in der Schlacht Voraussetzung für die Verehrung war, die die Gefallenen erfuhren, zeigt sich schließlich auch an der Ausblendung der Leistung ihrer Mitstreiter. Ihre Kameraden, die in den gleichen Schlachten kämpften und die gleiche ἀρετή zeigten, aber überlebten, bleiben in den epitaphioi logoi größtenteils unsichtbar. Selbst die Kriegsversehrten und Invaliden werden
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tung findet sich diese Formel. Gerade Plutarch verwendet sie ausgesprochen häufig: Alkibiades 25.5; Alexander 24.2; de Pyth. or. 395A; de sera 553C; mor. 202D. Siehe außerdem Hdt. 6.14; 9.75; Aischin. Ctes. leg.154; Xen. Hell. 7.1.30; Kyr. 6.4.6; 7.1.12; 32; Plat. leg. 641B; 802A. Auch im Arginusenprozess lautete der Vorwurf an die Athener Kommandeure, sie hätten es versäumt, „τοὺς ἀρίστους ὑπὲρ τῆς πατρίδος γενομένους“ zu retten (Xen. Hell. 1.7.11). Die gesteigerte Formel mit „ἄριστοι“ findet sich nur sehr selten. So ergab eine Suche im TLG Online als weitere Beispiele lediglich Hdt. 1.31.5 (mit Bezug auf die mythischen Helden Kleobis und Biton) und 7.181 (mit Bezug auf Pythes, der in einem Vorgefecht von Kap Artemision außerordentlichen Kampfesmut zeigte und dabei in Stücke gehackt wurde [„κατεκρεογήθη“] aber nicht starb). Schon Loraux 1981, 99–105 verweist auf die Bedeutung dieser Formel, entwickelt aber davon ausgehend eine Argumentation, die sich deutlich von der im Folgenden vorgestellten unterscheidet. Demosth. or. 60.1: „ἄνδρας ἀγαθοὺς ἐν τῷ πολέμῳ γεγονότας“ (Perfekt). Hyp. or. 6.28: „ἄνδρες ἀγαθοὶ γεγόνασιν“ (Perfekt). Eine weitere Stelle aus der Rede des Hypereides (ebd. 8) ist nicht vollständig erhalten und muss zweifelhaft bleiben. Die Verwendung des Perfekt betont in diesen Fällen lediglich das Resultative ihres Todes in der Rückschau. Es handelt sich wohl um einen ‚effektiven‘ Aorist. Siehe Bornemann/Risch 1978, 217f. sowie Schwyzer 1950, 260f. Vgl. Thuk. 2.42.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
mit keinem Wort erwähnt. Dabei wäre es doch durchaus naheliegend gewesen, auch ihr Opfer zu erwähnen, zumal sie ebenso wie die Hinterbliebenen der toten Krieger durch den attischen Staat finanziell unterstützt wurden.1178 Während aber die Versorgung der Angehörigen der Gefallenen regelmäßig in den epitaphioi logoi erwähnt wird, bleiben Referenzen auf die Versehrten aus. Im Gefallenenbegräbnis und den epitaphioi logoi ging es also nicht primär um das Standhalten und die Risikobereitschaft des Hopliten. Zwar herrschten diese Ansprüche als Teil der Bürgerideologie weiter vor und wurden auch im Begräbnis der Kriegstoten erwähnt. Zentrales Kriterium für die Bestattung war aber eben nicht dies, sondern schlichtweg der Tod für die polis, der als hinlänglicher Beleg der Tugenden der Gefallenen galt und somit auch deren (relative) Gleichwertigkeit attestierte.1179 Hierdurch lässt sich denn auch erklären, warum nicht nur alle Bürger – gleich welcher Waffengattung –, sondern auch Metöken, Söldner und sogar Sklaven im demosion sema kommemoriert werden konnten. Inwiefern können nun aber diese Schlussfolgerungen bezüglich der athenischen Verhältnisse auch Gültigkeit für andere poleis beanspruchen? Weder Art noch Dichte der Quellen erlauben es, diese Frage mit Sicherheit zu beantworten. Die Formel ἄνδρες ἀγαθοὶ γενόμενοι findet sich in den Epigrammen anderer poleis bis auf eine Ausnahme nicht wieder,1180 wenn auch zuhauf von ἀγαθοί und ἄριστοι gesprochen wird.1181 Auch fehlen in den untersuchten Epigrammen jegliche Hinweise auf die Gleichheit der Gefallenen. Lediglich die kollektiven Monumente und insbesondere die Gefallenenlisten weisen also darauf hin, dass auch in anderen poleis die Gleichheitsvorstellung Grundlage des staatlichen Gefallenengedenkens war. Allerdings sollten diese Zeugnisse nicht unterschätzt werden. Schließlich kann kaum ein anderes Faktum als stärkeres Anzeichen für die gleichwertige Wahrnehmung der Toten erachtet werden, als der Umstand, dass sie nicht nur als einheitliche Gruppe bestattet, sondern auch kommemoriert und geehrt werden konnten.
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Siehe Plut. Sol. 31; Aristot. Ath. pol. 49.4; Lys. 24. Vgl. auch oben Anm. 166 sowie Cecchet 2015, 69–84 (insb. zur Wahrnehmung der Kriegsinvaliden). Auch Loraux 1981, 99–105 identifiziert den Tod selbst als das zentrale Kriterium, vertritt aber die Meinung, dass auch die Art, wie ein Mann dem Tod entgegentrat weiter von Bedeutung gewesen sei. Welwei 1974, 45 stellte bereits für sich fest, dass all jene Kriegsteilnehmer, die im Krieg fielen, ἄνδρες ἀγαθοί waren. Dies ist der Fall in Rhodos (siehe Kontorini 2012/2013, passim). Wie weiter unten noch etwas genauer ausgeführt werden soll, orientierten sich aber gerade die Rhodier besonders stark am attischen patrios nomos (s.u. Anm. 1196). So beispielsweise auch in Thasos (siehe Fournier/Hamon 2007) sowie häufig in den Epigrammen, wie jenem für Eugnotos aus Akraiphia (s.o. 2. 1. Akrapihia), und auch in der Ode für Strepsiades (s.o. 2. I. Theben).
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
Patris Gleichheit alleine bedingte noch nicht die Entstehung des kollektiven Gefallenengedenkens. Die Praxis bedurfte auch eines Bezugsrahmens, innerhalb dessen sie verortet werden konnte. Die literarischen und epigraphischen Zeugnissen zum Gefallenengedenken bei den Griechen lassen keinen Zweifel daran, dass die polis ebendieser Bezugsrahmen war. Entweder stellen nämlich die Monumente selbst einen direkten Bezug zur polis her, indem sie diese konkret auf dem Denkmal benennen,1182 oder aber die epigraphischen und literarischen Zeugnisse attestieren den Toten, dass sie für ihre jeweilige patris gefallen seien.1183 Dass hiermit aber ebenfalls die polis gemeint ist und nicht etwa Griechenland, ein koinon oder eine sonstige Entität, wurde in der bisherigen Untersuchung hinlänglich deutlich.1184 Stets war es nämlich die polis, die die Gefallenen bestattete und sie als Teil ihrer Gemeinschaft kommemorierte. Kleinere Gruppen wurden nur in Ausnahmefällen aktiv1185 oder waren nur als Untereinheiten der polis vertreten,1186 und auch in den Fällen, in denen verbündete poleis ihre Gefallenen gemeinsam bestatteten, blieben die einzelnen Stadtstaaten der Referenzrahmen. Dies zeigt sich in den großen panhellenischen Abwehrkämpfen gegen die Perser und die Makedonen ebenso wie im Kontext der militärischen Aktivitäten der griechischen Bundesstaaten. So wurden die Toten der Schlachten von Marathon, Salamis, Plataiai und Chaironeia nach poleis getrennt beigesetzt und weder im Falle des Boiotischen noch des Achaischen oder eines anderen Bundes finden sich Anzeichen für eine Bestattung und Kommemoration der Gefallenen auf Bundesebene. Vielmehr weisen auch hier alle erhaltenen Quellen darauf hin, dass die jeweilige Heimatstadt der dominante Bezugspunkt blieb. Hiermit aber sind wir schon beim Kern der Verbindung der Polisideologie und des Gefallenengedenkens angelangt. Die sicht- und wahrnehmbare Agency der polis und ihre explizite Nennung auf den Monumenten waren wichtig, weil hierdurch eine Antwort auf die Frage ge-
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So wurde selbst auf Monumenten, die in der Heimatpolis der Gefallenen aufgestellt wurden und somit eigentlich eindeutig zuzuordnen waren, die Agency der polis und die Zugehörigkeit der Gefallenen noch einmal expliziert. Neben den bekannten Kopfzeilen aus Athen lassen sich als Beispiele hier auch Monumente aus Thespiai, Theben, Tegea und Thelphousa (siehe jeweils die entsprechenden Kapitel) anführen. Vgl. etwa das frühe Epigramm aus Theben (s.o. Anm. 417); die Ode für Strepsiades (s.o. 2. II. Theben); ein weiteres Epigramm aus Sikyon (s.o. Anm. 1097) sowie für nur einige literarische Belege Xen. Hell. 1.7.11 (s.o. Anm. 1174); Dion. Hal. Ant. Rom. 5.17.4 (s.o. Anm. 41); Diod. Sic. 15.94.1; Paus. 8.27.3 (s.o. Anm. 926). Vgl. auch Heine Nielsen 2004, 58–70. So etwa im Falle des Grabmonuments der attischen Reiter von 394 v.Chr. (s.o. Anm. 228). So in den zahlreichen Fällen, in denen Gefallenenlisten nach Phylen geordnet wurden. Außerhalb Athens finden sich Beispiele in Korinth, (s.o. Anm. 853), Mantineia (s.o. Anm. 866 und das dort Folgende), Megara (s.o. Anm. 943), Tegea (s.o. Anm. 1129) und Argos (Stele der Gefallenen von Tanagra in Athen s.o. Anm. 740; Stele in Argos selbst s.o. Anm. 778).
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
boten wurde, wofür die Toten ihr Leben gelassen hatten. Der gewaltsame Tod eines Menschen bedarf immer einer Erklärung oder einer Rechtfertigung, und wenn diese Erklärung nicht im Ehrgewinn oder sonstiger persönlicher Bereicherung des Einzelnen – wie Beute oder Ländereien – oder in seiner monetären oder zwangsweisen Verpflichtung zum Kriegseinsatz liegt, muss sein Verlust auf andere Art und Weise gerechtfertigt werden.1187 Dieser Rechtfertigungsdruck ist freilich besonders hoch in jenen modernen Systemen, in denen allgemeine Wehrpflicht herrscht und in denen gewählte Regierungen stellvertretend über Krieg und Frieden entscheiden und nicht die Bürgerschaft selbst: Indem nicht der einzelne über Krieg und Frieden entscheidet, sondern das Gemeinwesen, wird der Tod des Soldaten zur politischen Angelegenheit. Die damit getroffene Verfügung über das Leben eines einzelnen erzwingt deshalb politische Antworten: Welchen Sinn hat dieser Tod für das Gemeinwesen? Wie ist er zu rechtfertigen? Wie kann das Gemeinwesen diese Toten erinnern?1188
Doch auch in den oligarchischen und demokratischen poleis des klassischen Griechenland, in denen die Versammlung der Vollbürger direkt die Kriegsentscheidung trug, war eine Rechtfertigung nötig, da der einzelne Bürger eben nicht mehr unabhängig über sein eigenes Leben verfügte. Die Verantwortung für die Entscheidung zum Krieg lag bei der souveränen polis, nicht beim Einzelnen, bei einem Teil des Gemeinwesens oder bei einer größeren Entität. Auch heute werden schließlich Soldaten, die etwa im Einsatz für die Vereinten Nationen oder ein anderes internationales Bündnis ums Leben kommen, nicht primär durch diese Organisationen oder Verbünde kommemoriert, sondern durch ihre Heimatstaaten.1189 Aus diesem Zusammenhang lässt sich denn erschließen, wie zentral die gemeinsame Polisidentität für die Entstehung der
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Siehe Koselleck 1979, 256f.; 1994, 9; Münkler 2008, 27 sowie die folgenden Darlegungen und Anmerkungen. Hettling 2008, 18 (im Kontext seiner Abhandlung zum Gefallenengedenken in der BRD). Siehe weiter auch Ders./Echternkamp 2013a, 13–15; Kruse 2008, 33f. Koselleck 1979, 260 weist darauf hin, dass die Existenz einer allgemeinen Wehrpflicht die Entwicklung des Gefallenengedenkens immens fördere, jedoch nicht zwingend notwendig sei, da sich Formen staatlicher, kollektiver Gefallenenkommemoration auch in Gemeinwesen entwickeln können, die sich nicht auf Wehrpflichtige, sondern auf Freiwilligenarmeen stützen. Siehe Hettling 2013, 29 für diesen wichtigen Hinweis. Freilich kommt es regelmäßig auch zu Würdigungen der Gefallenen durch die Bündnisse oder Organisationen, doch finden diese meist in kleinerem Rahmen statt und schließen niemals die Bestattung der Toten ein. Die Vereinten Nationen beispielsweise nutzen den 29. Mai, um an diesem International Day of United Nations Peacekeepers an die BlauhelmsoldatInnen und UN-MitarbeiterInnen zu erinnern, die im Dienst ihr Leben verloren. Überdies verleihen sie die postume Dag Hammarskjöld Medaille.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
staatlichen Gefallenenkommemoration in den griechischen Gemeinwesen war und warum das Gedenken stets auf der Ebene der polis stattfand und nicht etwa auf der Ebene des koinon. Eine Ausnahme stellt hier in gewissem Maße wohl die Kommemoration der Gefallenen der Schlacht von Plataiai dar, derer schließlich in einem gemeinsamen Grabkultritual und (später) auch mit Wettkämpfen gedacht wurde. Doch wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass auch hier kata polin bestattet wurde und damit die einzelnen poleis die dominanten Ordnungseinheiten blieben. Zudem wurden wohl auch die Bemühungen um die regelmäßigen Gedenkrituale für diese Kriegstoten vor allem von den Plataiern (und später den Spartanern?) betrieben, die hiermit konkrete außenpolitische Ziele verbanden.1190 Überhaupt schloss die Grundausrichtung des Gefallenengedenkens auf das eigene Gemeinwesen den Einsatz als Kommunikationsmittel nach außen keineswegs aus. Aus Athen etwa sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen die Athener zusammen mit ihren eigenen Gefallenen auch Verbündete in denselben oder auch in separaten Gräbern beisetzten.1191 Auch in Epidauros, Megalopolis und anderen poleis finden sich Belege der Kommemoration von Alliierten.1192 Die Sorge für gefallene Verbündete entsprang zum einen sicherlich dem Bestreben, die bestehenden Bündnisse auch weiterhin aufrecht zu erhalten und die betreffenden poleis als Partner zu bewahren.1193 Zum anderen konnte sie der Markierung und der Zurschaustellung des eigenen Erfolgs und der eigenen Einflusssphäre dienen, wie denn auch – insofern man sich hier Polly Lows entsprechender These anschließen möchte – die Bestattung eigener Gefallener in verbündetem Gebiet von den Spartanern zu diesem Zweck genutzt wurde.1194 Nichtsdestotrotz blieb das Gefallenengedenken vor allem nach innen gerichtet. Dies zeigt sich an den spezifischen Formen, die die Praxis in den unterschiedlichen poleis annahm und die sich stets entsprechend der konkreten politischen, sozialen und traditionellen Gegebenheiten des jeweiligen Gemeinwesens entwickelten. Kaum bestritten werden kann dabei, dass gerade der attische patrios nomos starken Einfluss auf die Verbreitung der Praxis in einigen poleis hatte und auch die Prävalenz bestimmter Formen – wie beispielsweise der Gefallenenlisten – beding-
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Diese wurden bereits oben (2. I. Plataiai) besprochen und sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Siehe hierzu oben Anm. 230 sowie die Abschnitte zu den Gräbern der Argiver (2. II. Argos) und der Spartaner (2. II. Sparta) in Athen. Auch die Kommemoration von Einzelpersonen wie jene des Brasidas durch die Amphipolitaner oder des Gryllos durch die Mantineier sollten hier wohl genannt werden. Vgl. o. Anm. 251 für diese und weitere Beispiele. Siehe die Überlegungen zu den Beispielen aus Epidauros und Megalopolis sowie auch zu den Gräbern für die Argiver und Lakedaimonier in Athen (siehe die obige Anmerkung). Vgl. Low 2003, 95–101 sowie oben im Kapitel zu Sparta und Jung 2006, 262.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
te. Dies wird besonders deutlich in den Fällen von Argos und Plataiai1195 sowie in den beiden poleis von Thasos und Rhodos, die hier nicht näher behandelt werden konnten.1196 In allen vier Fällen ist aufgrund zahlreicher Ähnlichkeiten und Überschneidungen davon auszugehen, dass diese Gemeinwesen sich das attische Gefallenengedenken konkret zum Vorbild nahmen, was in Anbetracht der zeitweise ausgesprochen engen Beziehungen dieser Städte zu den Athenern und der reichhaltig belegten Praxis der Athener, Verbündete im demosion sema zu bestatten, plausibel ist.1197 Auch andere poleis wie Thespiai, Tegea und vielleicht auch Theben, die nicht so eng mit Athen verbunden waren, orientierten sich vermutlich in gewissem Maße am patrios nomos. Doch finden sich auch in den Vorkehrungen all dieser Städte jeweils spezifische Elemente, die eine Abwandlung des bekannten attischen Musters oder unabhängige, individuelle Ausprägungen darstellten, die Rücksicht auf lokale Eigenheiten nahmen. Die Variationen konnten sich dabei in Inhalt und Form der Inschriften und Monumente manifestieren, schlossen aber auch den Ort der Bestattung bzw. des Gedenkens ein und setzten sich bis ins Ritual fort.1198 Bemerkenswert ist dabei auch, dass sich keine regionalen Charakteristika der Monumente oder der sonstigen Gedenkformen beobachten lassen. So sind auch innerhalb der Bundesstaaten weder S.o. die jeweiligen Kapitel zu den beiden poleis. Laut Diod. Sic. 20.84.1–4 beschlossen die Rhodier, als sie 305 v.Chr. von Demetrios Poliorketes belagert wurden, eine ganze Reihe von Maßnahmen, die sich offensichtlich an attischen Vorbildern orientierten. Unter anderem beschlossen sie, für die Gefallenen Gräber auf Staatskosten zu errichten und ihre Eltern und Kinder aus öffentlicher Kasse zu unterstützen, wobei die Mädchen mit einer Mitgift bedacht werden sollten, während die männlichen Nachkommen der Gefallenen beim Erreichen des Mannesalters bei den Dionysien bekränzt und mit einer Panhoplie(!) ausgestattet werden sollten. Siehe hierzu auch weiter unten 3. II. Der patrios nomos und das attische Imperium. Auf die Regelungen der Thasier bezüglich der Kommemoration ihrer Kriegsgefallenen und bezüglich der Versorgung ihrer Hinterbliebenen wurde bereits oben (siehe Anm. 257) verwiesen. 1197 Gerade die Bestattung von Verbündeten dürfte hierbei besondere Impulse zur Nachahmung gegeben haben. Schließlich ist wahrscheinlich, dass zu solchen Anlässen auch offizielle Vertreter der entsprechenden poleis oder vielleicht auch Verwandte der Toten in Athen anwesend waren und die ganze Wirkmacht des Rituals aus nächster Nähe erleben durften. Selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, dürfte die große Zahl von Metöken, Gesandten, Händlern und Reisenden, die nach Athen kamen, die Kunde vom patrios nomos und den Monumenten für die attischen Gefallenen in ganz Griechenland verbreitet haben. Bereits mehrfach wurde auf die Anwesenheit und Teilnahme von Fremden hingewiesen, die auch die antiken Autoren betonen. Dennoch musste das Beispiel der Athener nicht zwingend überall Anklang finden. So wurde oben (2. II. Kleonai) hervorgehoben, dass die Kommemoration der gefallenen kleonischen Verbündeten durch die Athener scheinbar keine Nachahmung durch die Kleonier nach sich zog. Freilich ist die Quellenlage für Kleonai allerdings so dünn, dass dies nur Vermutung bleiben kann. 1198 Rituelle Vorkehrungen lassen sich freilich außerhalb Athens selten fassen. Doch finden sich durchaus einige Vergleichsmöglichkeit, wie etwa die angeführten thasischen Bestimmungen zum staatlichen Gefallenenbegräbnis. In Thasos wurde in der Mitted es 4. Jh. v.Chr. die Klage im Vergleich zur attischen Praxis viel stärker eingeschränkt und zudem jegliche zusätzliche private Kommemoration der Toten verboten (siehe hierzu 1. III. Zwischenfazit Athen mit Anm. 257). 1195 1196
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
eine einheitliche Ausprägung des Gefallenengedenkens noch Übereinstimmungen in den Formen auszumachen. Besonders eindrücklich lässt sich der Einfluss lokaler Gegebenheiten nachvollziehen, wenn man die temporale Dimension des Gefallenengedenkens in den Blick nimmt. Wiederholt wurde im Vorangegangenen darauf verwiesen, dass die aktuellen Gefallenen häufig in ein zeitliches Kontinuum der polis eingeordnet wurden, indem ihre Taten einerseits denen ihrer mythischen und historischen Vorfahren gegenübergestellt wurden und indem ihr Opfer andererseits der Sicherung der Existenz des Gemeinwesens und als Vorbild für kommende Generationen von Bürgersoldaten diente.1199 Gerade die historische Verortung der Toten konnte nun aber auf sehr unterschiedliche Weise geschehen und völlig divergierende Aspekte betonen. So wurde oben ausführlich dargelegt, wie in Megara und Argos1200 Gefallenenmonumente im Zentrum der polis auf der Agora errichtet wurden, und dass auch die Mantineier in einem ähnlichen Modus ihres Mitbürgers Podares und des Atheners Gryllos, die 362 v.Chr. als aristoi in der Schlacht von Mantineia gefallen waren, auf ihrer Agora gedachten. Die Monumente für diese Gefallenen wurden dabei inmitten der zentralen Heiligtümer sowie der Schreine und Monumente für die Heroen und Gründungsfiguren dieser poleis errichtet.1201 Durch diese räumliche Assoziation wurden sie nun aber auch auf der Bedeutungsebene diesen für die Identität der polis zentralen göttlichen und gottähnlichen Figuren der gemeinsamen Vergangenheit des Gemeinwesens angenähert. Die Gefallenen waren demnach ebenso für die Existenz der Gemeinschaft verantwortlich wie auch seine Heroen und seine zentralen Schutzgottheiten dies waren – wenn auch wohl in anderem Maße. Gerade in Megara und Argos ist dieser Umstand bemerkenswert, weil in diesen beiden Gemeinwesen die entrücktere, mythische Vergangenheit einen besonders wichtigen Aspekt der Polisidentität ausmachte und somit auch den Gefallenen durch die räumliche Verknüpfung eine entsprechende Bedeutung zugewiesen wurde. Dass in Anbetracht dieser Annäherungen die Wesensunterschiede zwischen den zeitgenössischen Gefallenen und den Figuren der deep history verschwammen, sodass in der Folge weder wir noch vielleicht die antiken Akteure selbst länger zwischen Heroenkult und Gefallenenkult unterscheiden konnten, ist hierbei wohl weniger verwunderlich als beabsichtigt.1202 Etwas komplexer, aber nicht weniger charakteristisch bot sich die historische Einordnung der Gefallenen in Athen dar. Hier war das Areal um den Dromos wohl ganz dezidiert ausgewählt worden, weil es historisch weitgehend unbelastet war. 1199
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Siehe Kruse 2008, 35 für den Hinweis, dass diese dreistufige Temporalstruktur auch das moderne Gefallenengedenken auszeichnet. In Argos lässt sich dabei nur ein historisches Gefallenenmonument auf der Agora fassen, das aber durch weitere Monumente für Kriegstote der mythischen Vergangenheit ergänzt wurde. S.o. die jeweiligen Kapitel. Dieser Liste ließen sich auch noch die Monumente der Spartaner für Leonidas und Pausanias anfügen. Ich danke Julia Shear für einige wichtige Hinweise und Anregungen bezüglich dieser Frage.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Zwar befanden sich auch hier einige wichtige Heiligtümer, doch handelte es sich eben nicht um die zentralen Kultstätten der polis und auch Bezüge zur deep history Athens wurden weitestgehend vermieden.1203 Vielmehr fokussierten die Gräber im demosion sema die Aufmerksamkeit der Betrachter auf den ‚Kanon‘ zeitgenössischer und noch greifbarer Ereignisse und Taten, der mit jedem Jahr und jedem Gefallenengrab weiter anwuchs und somit auch die Beständigkeit des Gemeinwesens stärker demonstrierte. Dennoch wurden die Verbindungen zur frühesten Geschichte Athens nicht vernachlässigt. Zum einen konnten diese Assoziationen durch die Reden auf die Toten evoziert werden;1204 zum anderen leisteten auch die Formen und die Bildsprache der Monumente hier einen wichtigen Beitrag. Denn wie schon zahlreiche moderne Autoren bemerkt haben, wiesen die Reliefs, die die Gefallenenlisten im demosion sema zierten, starke kompositorische und formale Ähnlichkeiten zu anderen staatlichen Monumenten auf und evozierten beispielsweise die Assoziation mit den mythischen Szenen des Parthenonfrieses.1205 Auch in Athen fanden demnach die Heldentaten der mythischen Vorfahren ihren Platz innerhalb des Gefallenengedenkens. Doch wurden durch die Verortung der Gräber und durch die Gewichtung innerhalb der epitaphioi logoi bezeichnenderweise die Bezüge zur jüngeren Vergangenheit in den Vordergrund gestellt, die die Erfolgsgeschichte des demokratischen Systems betonten. So erkennen wir an diesem Komplex einerseits sehr deutlich, wie die lokalen Gegebenheiten und Traditionen sich auf die Formen des Gefallenengedenkens auswirkten, und sehen andererseits noch einmal, wie immens wichtig die Polisidentität in all ihren Dimensionen für das Entstehen und das Verständnis der Praxis ist. Die polis hatte die Entscheidung getroffen, Krieg zu führen, und somit war es an den wehrpflichtigen Bürgern, ihr eigenes Wohl im Interesse der polis zu riskieren. Worin genau die Gründe für ein militärisches Vorgehen lagen, geriet dabei schon fast zur Nebensache. Zumindest finden sich auch auf den Gefallenenmonumenten – abgesehen von Hinweisen auf eine akute Bedrohung des Gemeinwesens oder von dessen Unabhängigkeit – keine oder nur sehr verallgemeinernde Formeln, die auf einen Einsatz ‚für 1203 1204
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Siehe das Kapitel zum demosion sema. Charakteristischerweise spart der thukydideische epitaphios logos des Perikles die mythischen Taten der Athener vollständig aus (vgl. Thuk. 2.35). Andere Autoren begnügen sich mit einer bewusst knappen Erwähnung, die Details übergeht und auf die historischen und aktuellen Gefallenen fokussiert, dabei aber eben doch auf die Verbindung zu den mythischen Taten der Athener hinweist. So etwa Plato Menex. 239B und Hyp. 6.4, der seinen Helden Leosthenes in einem späteren Abschnitt gar über die Helden von Troja stellt (ebd. 35–39). Wieder andere Redner widmen sich hingegen in längeren Abschnitten den Taten des Theseus und anderer attischer Helden (so insbesondere Lys. or. 2.3–16). Demosthenes (or. 60.7–10) unterscheidet in seiner Rede gar zwischen den Taten der mythischen und der näheren Geschichte, lässt aber keinen Zweifel an der Historizität und Gültigkeit der mythischen Taten. Auch Isokrates bedient sich im Panegyrikos ausgiebig mythischer Beispiele, um sein Argument für ein gemeinsames griechisches Agieren zu untermauern (so insbesondere bei or. 4.52–60 aber auch an anderen Stellen der Rede). Vgl. oben Anm. 619.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
die patris‘ hinwiesen und jegliche konkreten Ziele oder Gründe für die kriegerische Auseinandersetzung mieden. Auch die temporale Dimension des Gefallenengedenkens kam hier noch einmal zum tragen. Indem nämlich das Wohl und Interesse der polis als historische Konstante abstrahiert und die Idee des Einsatzes für die polis und deren Bewohner in einer ganz verallgemeinernden Form dargestellt wurde, erübrigte sich die Frage nach konkreten Gründen. Die Existenz und das Bestehen der polis selbst, für das so viele Mitbürger bereits ihr Leben gelassen hatten und für das auch in Zukunft noch Männer würden sterben müssen, wurde ausreichender Grund für den Einsatz und das Opfer für die patris. Die Bereitschaft der Bürger, für die Gemeinschaft zu sterben, speiste sich also aus der geteilten Polisidentität. Indem die polis das Opfer ihrer Bürger honorierte und kommemorierte, bestätigte sie ebendiese Werte, gliederte die Toten in ihr historisches Kontinuum ein und leistete somit auch einen Beitrag zur Bewahrung und Weiterentwicklung der Polisidentität.1206
Partizipation Ein weiterer Faktor, der ausschlaggebend war für die Entstehung staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens, war die aktive Teilhabe des Einzelnen am Gemeinwesen. Dieser Faktor ist auf das Engste verwoben mit den bereits diskutierten Punkten einer ausgeprägten Gleichheitsvorstellung und einer starken geteilten Identität, weshalb einige seiner wesentlichen Aspekte bereits in diesem Zusammenhang diskutiert wurden. Dennoch ist es nötig, diesen Punkt noch einmal gesondert hervorzuheben und genauer zu betrachten, da er eben nicht automatisch aus den beiden anderen Phänomenen resultieren muss, wenngleich im vorliegenden Kontext alle drei Faktoren feste Bestandteile der Polisideologie waren. Schließlich bestand das Bürgerdasein in einer griechischen polis nicht nur aus der Wahrnehmung gleicher Rechte und Freiheiten, sondern vor allem auch aus der aktiven Teilhabe des Einzelnen an politischen Entscheidungen sowie aus dem persönlichen Einsatz für das Gemeinwesen im Krieg. Zwar schließt Aristoteles in seiner Definition des Bürgers in der Politik den militärischen Aspekt explizit aus und erklärt einzig die politische und richterliche Teilhabe als entscheidend für das Bürgerdasein.1207 Doch wählt er diese Definition ganz bewusst, um hervorzuheben, dass die Demokratien des 5. und 4. Jh. v.Chr. eben nicht mehr der Vorstellung einer Hoplitenpoli1206
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Wie das Gefallenengedenken Anteil an der Konstruktion der Polisidentität haben konnte, wurde freilich schon in den bekannten und hier ausgiebig diskutierten Arbeiten von Loraux 1981; Low (insb. 2003); Arrington 2015; 2010 und Anderen behandelt. Siehe Aristot. Pol. 3.1.1–12 und insbesondere 3.1.12: „τίς μὲν οὖν ἐστιν ὁ πολίτης, ἐκ τούτων φανερόν: ᾧ γὰρ ἐξουσία κοινωνεῖν ἀρχῆς βουλευτικῆς ἢ κριτικῆς, πολίτην ἤδη λέγομεν εἶναι ταύτης τῆς πόλεως, πόλιν δὲ τὸ τῶν τοιούτων πλῆθος ἱκανὸν πρὸς αὐτάρκειαν ζωῆς, ὡς ἁπλῶς εἰπεῖν.“.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
teia entsprachen, weil sie auch solchen Bürgern volle Rechte zugestanden, die sich keine eigene Rüstung kaufen und somit keinen Dienst an der Waffe im eigentlichen Sinn leisten konnten.1208 Er erklärt weiter, dass die ersten Bürgerverfassungen (politeiai) der Griechen aus genau dieser Verknüpfung militärischer und politischer Teilhabe entstanden seien, die zu seiner Zeit nur noch in oligarchischen Systemen gepflegt würden.1209 Tatsächlich wurde dieser Punkt in Verfassungsdebatten häufig als Argument für ein oligarchisches Regime angeführt. So erklärten etwa laut Thukydides auch die Führer des oligarchischen Umsturzes in Athen von 411 v.Chr., dass nur jene, die mit ihrem Körper und ihrem Vermögen für die polis einstünden, politische Rechte erhalten sollten.1210 Nun sollte man sich aber freilich nicht von solchen politischen Kampfparolen fehlleiten lassen. Wie in den beiden vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, sahen die poleis der klassischen Zeit ihre ärmeren Bürger zweifelsohne ebenso in der Pflicht, für die Interessen des Gemeinwesens und deren Verteidigung nötigenfalls auch ihr eigenes Wohl im Krieg zu riskieren, wie ihre reicheren Politen, die sich eine teure Rüstung leisten konnten. Ob die Bürger ihren Militärdienst in der Hoplitenphalanx, in einer Einheit Leichtbewaffneter oder als Ruderer auf einem Kriegsschiff ableisteten, war nicht unmittelbar von Belang. Wie auch Aristoteles in seiner Definition deutlich macht, war für das Bürgerdasein vielmehr entscheidend, dass der Einzelne willens war, persönlich Verantwortung für das Schicksal des Gemeinwesens zu übernehmen und sich aktiv hierfür einzusetzen.1211 Dieser aktive Einsatz betraf freilich zunächst einmal die politische Partizipation an der Gemeinschaft, setzte sich jedoch fort im militärischen Dienst für das Gemeinwesen im Krieg. Elementar war hierbei, dass die Entscheidung zum persönlichen Einsatz für das Gemeinwesen freiwillig erfolgte und nicht erzwungen war. Denn wie im vorangegangenen Kapitel im Kontext der Wehrpflichtsfrage dargelegt wurde, lag genau hierin ein entscheidender Punkt für die Entstehung des staatlichen Gefallenengedenkens. Indem nämlich der Bürger sich aus freien Stücken – hierzu zählt auch die Akzeptanz der Verpflichtung zum Wehrdienst – dazu bereit erklärte, die Konsequenzen aller politischen Entscheidungen zu tragen, erklärte er sich auch dazu bereit, für den Staat ins Feld zu ziehen. Damit wurde die Trennung zwischen der politischen Bürgerschaft und der kämpfenden Truppe aufgehoben. Dies wiederum bedeutete, dass auch der Tod des Soldaten, der nicht mehr durch Zwang oder den Gewinn von Prestige oder materiellen 1208
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Schütrumpf 1991, 338 betont, dass sich Aristoteles hier zudem gegen die Definition des Bürgers in Platons Staat wende, „wo Krieger, Handwerker und Bauern, die keine politische[n] Rechte haben, doch Bürger genannt waren“ (Hervorhebung am Ort). Vgl. Aristot. Pol. 4.13. Siehe Thuk. 8.65.3. Auch bei Ps.-Xen. Ath. pol. 2 sind diese Argumentationslinien noch sichtbar. Vgl. den oben zitierten Abschnitt in Aristot. Pol. 3.1.1–12. Siehe weiter auch Walter-Karyde 2015, 169.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
Gütern erklärt wurde, einer politischen Rechtfertigung und Würdigung bedurfte.1212 Aus diesem Grund finden sich schließlich in keiner der monarchisch regierten poleis, in denen der Kriegsdienst aufgrund persönlicher oder monetärer Verpflichtung gegenüber dem Alleinherrscher verrichtet wurde, Hinweise auf ein kollektives Gefallenengedenken. Im Gegenteil lassen sich mit Athen und Sikyon zwei Beispiele für poleis anführen, in denen das Gefallenengedenken erst kurz nach dem Umsturz eines monarchischen Regimes Fuß fasste. Im Zentrum des staatlichen Gefallenengedenkens stand im antiken Griechenland also das Konzept des Bürgersoldaten, der sich nicht scheute, im politischen wie auch im militärischen Bereich Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Vielmehr zeichnete ihn aus, dass er sich aktiv und aus eigenen Stücken für die Interessen der Gemeinschaft einsetzte, selbst wenn ihm dies persönlichen Schaden beibringen konnte. Hierin findet sich eine Parallele zum modernen Gefallenengedenken der westlichen Nationalstaaten. Auch hier war die Emanzipation der Bürgerschaft, die deren aktive politische und militärische Teilhabe am Gemeinwesen bedeutete, entscheidend für die Entstehung der staatlichen Kommemoration der Kriegstoten: Die Aufwertung des Untertanen zum Bürger [im 19. Jh.] war mit dem Anspruch auf politische Teilhabe an der Nation verbunden, und diese politische Teilhabe schloss auch die Verpflichtung und Bereitschaft zur militärischen Verteidigung mit ein. Damit wurden alle Trennungen von Bürger und Soldat (bzw. Söldner) oder von Bürger und spezifisch adligen [sic] Kriegerstand aufgehoben. Dadurch wurde der Tod des Soldaten zu einem politischen Thema, das eine politische Rechtfertigung erforderte.1213
Dies ist also der Kern des antiken wie auch des modernen Gefallenengedenkens. Es kommt jedoch noch ein weiterer Faktor hinzu, der von großer Bedeutung für die Entstehung der Praxis ist und der gerade im Kontext der griechischen poleis stark zu ihrer Verbreitung beitrug.
Autonomie der polis Der aktiven und freien Teilhabe des Einzelnen am Gemeinwesen stand auf der höheren, kollektiven Ebene die unabhängige Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens gegenüber. Die freie 1212 1213
Siehe auch oben 3. I. Patris mit Anm. 1187. Hettling 2013, 12. Siehe weiter Hettling/Echternkamp 2013, 123–127 sowie Koselleck 1979, 259f. und 1994, 12: „Alle haben mit ihrem Leben für die Nation oder das Volk einzustehen, dessen Identität mit ihrem Tode zu verbürgen, – so lautet die Denkmalbotschaft und wird, solange sie rituell gepflegt wird, so erfahren.“.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Selbstbestimmung war spätestens seit dem Beginn des 5. Jh. v.Chr. von großer Bedeutung für die griechischen Stadtstaaten und ein häufiger Grund für Streitigkeiten und militärische Auseinandersetzungen. Bereits zur Zeit der Perserkriege wurden unter dem Schlagwort der ἐλευθερία die Unabhängigkeit der griechischen poleis und die persönliche Freiheit ihrer Bürger zelebriert.1214 Um die Mitte des 5. Jh. v.Chr. trat dann der Begriff der αὐτονομία hinzu, der spezifisch die politische Selbstbestimmung der polis bezeichnete.1215 Die Geschichte und Bedeutung beider Termini ist komplex und kann hier nicht näher untersucht werden. Sowohl ἐλευθερία als auch αὐτονομία konnten in unterschiedlichen Kontexten und von verschiedenen Personengruppen sehr unterschiedlich verstanden, ausgelegt und eingesetzt wurden.1216 Im vorliegenden Kontext soll es ausreichen, festzuhalten, dass ich mich in der Verwendung des Begriffs der ‚Autonomie‘ auf die Fähigkeit einer polis beziehe, ohne direkten, institutionalisierten Zwang über ihre innenpolitischen und außenpolitischen Handlungen entscheiden zu können. Für das Gefallenengedenken war die unabhängige Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens deshalb so wichtig, weil sie Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Gruppenmitglieder war. Sah sich nämlich die polis in ihren Entscheidungen äußeren Zwängen ausgesetzt, konnte letztlich auch das einzelne Mitglied des Gemeinwesens nicht frei über seine Handlungen bestimmen. Wie wir aber in den letzten Kapiteln gesehen haben, war die freiwillige Entscheidung zum aktiven Einsatz für die polis zentral für das Entstehen des Gefallenengedenkens. Daher konnten die oben dargelegten Faktoren, die das Entstehen der Praxis beeinflussten, überhaupt nur dann wirksam werden, wenn ein Gemeinwesen über seine eigenen Handlungen – im vorliegenden Kontext also über einen militärischen Einsatz – auch tatsächlich unabhängig entschied. Zumindest – so muss wohl eingeschränkt werden – muss der Entscheidungsprozess dementsprechend dargestellt und wahrgenommen worden sein, sodass die einzelnen Bürger zu der Überzeugung gelangen konnten, dass keine äußeren Faktoren ihre Entscheidung erzwangen, sondern dass die Bürgergemeinschaft selbst aus freien Stücken die militärische Option wählte. Mehrfach wurde in der Untersuchung der Formen des Gefallenengedenkens in den einzelnen poleis denn auch auf Fälle hingewiesen, in denen ein Aufleben oder auch ein Aktualisieren der Praxis zu beobachten ist, nachdem zuvor ein Abhängigkeitsverhältnis überwunden und die autonome Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens (wieder)hergestellt worden war. In diesen Fällen zeigt sich anschaulich, wie unter den veränderten Voraussetzungen die oben skizzierten Faktoren ihre Wirkung entfalten und zur Entscheidung für die kollektive Kommemoration
1214 1215
1216
Siehe Jung 2006, Kapitel 7.3 und 7.5. Vgl. hierzu u.a. Hansen 1998, 77–83 sowie auch Jung 2006, 283–286 mit Anm. 199 (inkl. weiterer Literatur). Vgl. etwa Keen 1996, passim.
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I. Struktureller Teil: Die polis als Voraussetzung
der Gefallenen durch die Gemeinschaft führen konnten. Das Gefallenenbegräbnis konnte dabei auch ganz bewusst dazu eingesetzt werden, die (wieder)gewonnene Autonomie der polis zu zelebrieren und demonstrativ unter Beweis zu stellen – eindrucksvoll ist etwa die Zahl der Gefallenenmonumente, die sich in Tegea und Mantineia nach dem Aufbrechen der spartanischen Hegemonie finden. Die Bürger der polis hatten sich gemeinsam und unabhängig zum militärischen Handeln entschieden und damit sich und alle Mitbürger zum Kriegsdienst verpflichtet. Im Gegenzug bekannten die Überlebenden sich zu ihrer Verpflichtung gegenüber den gefallenen Mitbürgern, indem sie beschlossen, die Toten im gemeinsamen Ritual auf Kosten der polis und unter deren Ägide zu bestatten. Allgemein eignete sich das Gefallenengedenken besonders gut zur Markierung und Erinnerung solcher high-stakes Situationen. Eine Lage, in der eine polis eine Bedrohung ihrer physischen oder politischen Existenz erfolgreich überwunden hatte, bot eine optimale Gelegenheit, um die gesamte Gemeinschaft zusammenzuführen und hinter einer gemeinsamen Identität zu einen. Das Gefallenenbegräbnis, das in einem emotional hoch aufgeladenen Ritual gleichzeitig die Kosten der eigenen Freiheit und Autonomie vor Augen führte, aber eben auch deren Vorteile beschwor und die Verbundenheit der Gemeinschaft durch die Würdigung des Einsatzes ihrer Mitglieder eindrücklich in Szene setzte, präsentierte sich dabei als besonders wirksame Form eines solchen Kommemorationsaktes. Anders als andere Bräuche, etwa das Aufstellen von tropaia oder das Stiften von Siegesweihungen, verlor das Gefallenenbegräbnis zudem selbst im Falle einer Niederlage kaum etwas von seiner Wirkmacht.1217 Während andere Rituale nämlich einzig für den Fall des Sieges reserviert waren und nicht zum Auffangen und Abdämpfen einer Niederlage beitragen konnten, demonstrierte die gemeinsame Bestattung und Kommemoration der Toten auch nach einer Niederlage das Fortbestehen der polis und deren Handlungsfähigkeit. Die Monumente für die Gefallenen dienten zudem als permanente Erinnerung daran, dass die Gemeinschaft in der Vergangenheit auch Momente größter Gefahr erlebt und diese durch gemeinsamen Einsatz erfolgreich überwunden hatte. Beispiele solch demonstrativen Einsatzes des Gefallenengedenkens finden sich entsprechend etwa nach der Abwehr der Bedrohung durch die Perser, die eine breite Kommemoration der Gefallenen sowohl an den Orten der entscheidenden Schlachten als auch in den beteiligten poleis selbst nach sich zog. Auch nach dem Aufbrechen der spartanischen Hegemonie nach 371/0 v.Chr., der bereits die Auflösung der athenischen Vorherrschaft vorangegangen war, finden sich zahlreiche Anzeichen dafür, dass die nun frei agierenden poleis ihre neu erlangte Unabhängigkeit auch in den Gefallenenmonumenten zelebrierten und hiermit den Anbruch einer neuen Phase in der Geschichte ihres Gemeinwesens markierten. Allerdings bleibt bei diesen von mir gezogenen Verknüpfungen ein grundlegendes Problem bestehen: Unsere literarischen Quellen berichten eben bevorzugt von Extremsituationen – 1217
Vgl. auch Hettling/Echternkamp 2013, 12.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
beispielsweise wenn eine polis in ihrer Existenz bedroht war. Gleichzeitig neigten die antiken Autoren dazu, kleinere, weniger gravierende Auseinandersetzungen auszulassen. In der Konsequenz ergibt sich daraus für die moderne Wissenschaft die Tendenz, die oftmals unsicher datierten Zeugnisse gerade diesen extremen Ereignissen zuzuordnen – schlichtweg weil dies die einzigen Anlässe sind, über die wir unterrichtet sind. Wie auch im Untersuchungsteil dargelegt wurde, kann die Verknüpfung einzelner Monumente mit konkreten Ereignissen daher in vielen Fällen nicht ausreichend belegt werden und muss hypothetisch bleiben. Dennoch lässt sich anhand der sicher zuzuordnenden Beispiele sowie einiger weiterer Fälle, in denen eine bestimmte Zuordnung doch zumindest wahrscheinlich ist, die Verbindung zwischen Autonomiegedanke und Gefallenengedenken aufzeigen. M.E. trug diese Verknüpfung besonders dazu bei, dass sich das staatliche, kollektive Gefallenengedenken im 5. und 4. Jh. v.Chr. in den griechischen poleis so weit verbreitete. Es wird daher auch ein Ziel der im nächsten Abschnitt folgenden chronologischen Analyse sein, ebendiesen Zusammenhang noch einmal systematisch zu untersuchen.
Bedingungen und Möglichkeiten Bewusst habe ich bei der Diskussion der vier Faktoren darauf verzichtet, diese als Bedingungen des staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens zu bezeichnen. Sie können nämlich zum einen nicht als notwendige Bedingung definiert werden, da sich zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen durchaus ähnliche Gedenkformen fanden, ohne dass die hier beschriebenen Faktoren gegeben waren. So finden sich beispielsweise in der europäischen Geschichte des 20. Jh. zahlreiche diktatorische Systeme, die zeitgenössische demokratische Versionen staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens imitierten, obwohl doch die Ausgangssituation sich völlig anders präsentierte als in demokratischen Systemen.1218 In Japan wiederum resultierte der kollektive Totenkult für gefallene Krieger vor allem aus den spezifischen religiösen Vorstellungen, die mit einem ausgeprägten Loyalitätsdenken gegenüber dem Kaiser verknüpft wurden. Das Gefallenengedenken ist in diesem Kontext nur bedingt als politischer Akt zu sehen.1219 Zum anderen können die beschriebenen Faktoren auch nicht als hinreichende Bedingung bezeichnet werden, da ihr Vorhandensein keineswegs automatisch zur Entstehung des Gefallenengedenkens in der
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1219
Freilich handelte es sich hierbei oft um Versuche, durch die Imitation demokratischer Bräuche die Existenz demokratischer Strukturen vorzutäuschen und Legitimität zu suggerieren. Vgl. Schölz 2013, 301–312 zur Entstehung und Entwicklung des japanischen Gefallenenkultes zwischen dem Japanischen Bürgerkrieg und dem Ende des 2. Weltkrieges.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
hier behandelten Form führte.1220 Wie ich nämlich schon eingangs dieses Teils der Arbeit angemerkt habe, waren alle vier Aspekte integrale Bestandteile der Polisideologie. Zwar waren demnach in allen griechischen poleis die Umstände für das Entstehen des Gefallenengedenkens gegeben, jedoch kam es nicht überall zur Herausbildung dieser Praxis. Vielmehr hat die Untersuchung gezeigt, dass sich in vielen poleis überhaupt keine Anzeichen für eine Form staatlicher Gefallenenkommemoration finden, und dass in jenen Gemeinwesen, in denen die Praxis belegt werden konnte, diese oftmals nur über einen kurzen Zeitraum oder gar nur in Einzelfällen nachgewiesen werden kann. Zweifelsohne lassen sich überdies noch weitere Faktoren anführen, die die Entstehung des Gefallenengedenkens begünstigen konnten. Wie die Forschung zum modernen Gefallenengedenken gezeigt hat, trug in der Moderne etwa auch die zunehmende Distanz der Austragungsorte der Konflikte zu den Heimatorten der Gefallenen entscheidend zur Entstehung staatlicher Vorkehrungen zur Bestattung und Rückführung der Toten bei.1221 Auch im Falle der griechischen poleis und gerade im Kontext der geographisch ausgedehnten Aktivitäten der Athener im Seebund könnte der Tod in der Ferne einen wichtigen Faktor dargestellt haben.1222 Doch auch wenn durchaus noch andere Faktoren Auswirkungen auf die Entstehung des Gefallenengedenkens und auf konkrete Kommemorationsformen gehabt haben mögen, ist fraglich, ob sie tatsächlich in der Breite oder doch nur in einzelnen Gemeinwesen wirksam wurden. Vor allem liegt aber auf der Hand, dass sie die Ausformung der Praxis nicht in solch grundlegender Weise betrafen wie die hier hervorgehobenen vier Aspekte, die alle am Kern der politischen Grundlage des Gefallenengedenkens standen.
II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen Obwohl wir uns mit der Herausarbeitung der vier diskutierten Faktoren einer Erklärung für die Verbreitung des Gefallenengedenkens in den griechischen poleis angenähert haben, genügten die beschriebenen Gegebenheiten alleine nicht, um die Entstehung und Entwicklung des Brauches zu erklären. Ich will daher im Folgenden einige konkrete Ereignisse identifizieren, die die Entwicklung des Gefallenengedenkens beeinflussten und als Zäsuren in seiner Geschichte identifiziert werden können.
1220
1221 1222
Gemäß der Definition einer hinreichenden Bedingung muss aber ihre Erfüllung auch zum Resultat – in diesem Fall zur Entstehung des Gefallenengedenkens – führen. Vgl. z.B. Faust 2008, 9f. zur Kommemoration der Gefallenen des Amerikanischen Bürgerkriegs. Siehe etwa die Auflistung von Epigrammen bei Heine Nielsen 2004, 53f., die den Tod in der Ferne beklagen. Vgl. auch Stroszeck 2002/2003, passim.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Demokratie Bereits eingangs dieser Arbeit wurde festgestellt, dass die Bestattung der Kriegstoten in allen europäischen Gemeinwesen zu allen Zeiten eine Notwendigkeit und eine grundlegende Verpflichtung der Gemeinschaft darstellte. Dies traf freilich auch auf die vorklassischen griechischen Gemeinwesen zu und wird durch eindrucksvolle Zeugnisse wie das Polyandron des späten 8. Jh. v.Chr. bezeugt, das um die Jahrtausendwende in einer der Nekropolen auf Paros entdeckt wurde.1223 Wenn wir aber danach fragen, wann das Gefallenengedenken im Sinne einer vom Staate getragenen Bestattung und dauerhaften Memorialisierung bzw. Kommemoration aller Kriegstoten entstand, so führt die Evidenz uns erneut nach Athen. In keiner anderen polis finden sich sichere Indizien, die bezeugen würden, dass hier der Gefallenen zu einem früheren Zeitpunkt in ähnlicher Form gedacht wurde. Zwar lassen sich mögliche Belege frühen Gefallenengedenkens auch in anderen poleis fassen. So findet sich in Theben das Gefallenenepigramm des 6. oder 5. Jh. v.Chr., das zu einem späteren Zeitpunkt neu eingeschrieben wurde, und im Falle von Argos führt Pausanias eine ganze Reihe von Monumenten für Gefallene der mythischen und historischen Vorzeit der polis an, die bereits der früh- oder vorklassischen Zeit entstammen könnten. Wie ich jedoch weiter oben bereits dargelegt habe, lässt sich im Falle von Argos weder aus dem archäologischen Befund noch aus anderen Quellen ableiten, dass diese Monumente tatsächlich bereits so früh entstanden. Zudem bleibt Pausanias jegliche Details zu den Komplexen und möglichen einhergehenden Ritualen schuldig, sodass die Evidenz äußerst spärlich ausfällt und alle Aussagen zu einem argivischen Gefallenengedenken in dieser Zeit ausgesprochen spekulativ bleiben müssen.1224 Im Falle des Epigramms aus Theben wiederum lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass es sich tatsächlich um ein Monument für thebanische Kriegsgefallene handelte. Allerdings bleibt hier die Datierung ungenau, da sie sich einzig auf paläographische Kriterien stützt und die Inschrift daher sowohl bereits am Ende des 6. Jh. v.Chr. oder aber auch erst in der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. entstanden sein könnte. Wie ich oben dargelegt habe, tendiere ich dabei zu einer späteren Datierung, die das Epigramm mit der Perserabwehr oder der Schlacht von Tanagra in Beziehung setzen würde, wenngleich auch diese Zuordnung spekulativ bleibt.1225 In jedem Fall finden sich weder aus dem 6. noch aus dem 5. Jh. v.Chr. weitere Zeugnisse, die für eine Existenz des Gefallenengedenkens im hier behandelten Sinne in Theben sprächen.
1223 1224 1225
Vgl. Agelarakis 2017. S.o. 2. II. Argos. Siehe die Diskussion des Monuments im Kapitel zu Theben.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Wenden wir uns hingegen Athen zu, verdichtet sich die Evidenz für eine Entstehung des Gefallenengedenkens um die Wende vom 6. zum 5. Jh. v.Chr. signifikant.1226 So berichtet Pausanias von einem Grab für Athener, die in einem Konflikt gegen Aegina gefallen waren, der kurz nach den kleisthenischen Reformen datiert wird. Zudem ist in der Anthologia Palatina ein Epigramm auf athenische Krieger erhalten, die vermutlich im Jahr 507/6 v.Chr. gegen Chalkis gefallen waren. Vor allem aber bezeugen eine attische Gefallenenliste aus Lemnos, die in das Jahr 498 v.Chr. datiert wird, sowie schließlich das Monument für die Gefallenen der Schlacht von Marathon die Existenz des Brauches spätestens zu Beginn des 5. Jh. v.Chr. Wie bereits weiter oben dargelegt wurde, handelte es sich dabei noch nicht um den voll ausgeformten Brauch, wie ihn Thuydides im Kontext der Gefallenenrede des Perikles beschreibt: Weder war die Rückführung der sterblichen Überreste bereits fester Bestandteil des Begräbnisses, noch wurden die Toten eines gesamten Jahres gemeinsam bestattet. Auch finden sich keinerlei Anzeichen dafür, dass die Rede auf die Gefallenen bereits zu diesem Zeitpunkt gehalten wurde, wie auch die Agone für die Toten frühestens mit den Perserkriegen eingeführt worden sein dürften. Jedoch zeigen die erwähnten Zeugnisse deutlich, dass bereits eine Form des Brauches etabliert worden war, bei der die Toten einer Schlacht oder eines Feldzuges nicht nur gemeinsam am Ort der Schlacht bestattet wurden, sondern eben auch mittels eines gemeinsamen Monuments durch die polis kommemoriert wurden.1227 Die Stelen von Lemnos und Marathon zeigen dabei überdies, dass die Toten bereits zu diesem Zeitpunkt in der charakteristischen isonomen Form mit Namen aber ohne Patronyme oder andere Differenzierungskriterien genannt wurden. Die Zuordnung zu einer der zehn attischen Pyhlen war die einzige nähere Charakterisierung, die die Monumente boten. Die Tatsache, dass die Toten auf den Monumenten vollständig gleichgestellt und einzig nach ihrer politischen Zugehörigkeit angeordnet werden, sowie die Datierung dieser frühen Fälle von Gefallenenkommemoration kurz nach den Kleisthenischen Reformen lassen kaum Zweifel daran, dass die Einführung dieser neuen Form des Umgangs mit und des Gedenkens an die Kriegstoten auf das Engste mit der Etablierung der Demokratie in Athen verknüpft war. Bereits frühere Autoren haben ebendiesen Schluss gezogen und eine Einrichtung einer Frühform des Brauches kurz nach dem demokratischen Umschwung postuliert. Insofern das Epigramm für die Gefallenen von Euboia authentisch ist, wäre die isonome Kommemoration der Kriegstoten
1226
1227
Siehe zum Folgenden die Diskussion weiter oben (1. I. Die Entstehung des Gefallenengedenkens in Athen). Vgl. ebd. für die Quellen- und Literaturangaben. Im Falle der Athener, die im Kampf gegen Aegina umgekommen waren, lässt sich annehmen, dass aufgrund der unmittelbaren Nähe zu Athen sowie der Tatsache, dass zumindest ein Teil der Kampagne zur See ausgetragen wurde, ausnahmsweise eine Rückführung vorgenommen wurde. Ebenso auch Clairmont 1983, 12. Die Monumente von Lemnos, Chalkis und Marathon legen jedoch nahe, dass eine Bestattung am Schlachtort üblich war. Siehe auch Wienand 2018, 61–75.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
gleich anlässlich des ersten Feldzuges, den die junge Demokratie führte, etabliert worden.1228 Die polis reagierte hiermit auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen das Gemeinwesen nun Krieg führte. Nicht die Peisistratiden, sondern das Kollektiv der freien Bürgerschaft traf die Entscheidung für einen Einsatz des Heeres. Folgerichtig war es auch an der Bürgergemeinschaft, die Kriegstoten zu bestatten, zu ehren und zu kommemorieren, um so das Opfer derjenigen, die die Konsequenz der Entscheidung mit ihrem Leben trugen, zu würdigen und die destruktive Wirkungs des Verlusts für die Gemeinschaft aufzufangen. Vor dem Hintegrund der Überlegungen des vorangegangenen Kapitels scheint dies nur naheliegend. Denn wenn ich auch gezeigt habe, dass die vier Faktoren, die ich als Grundlage des Gefallenengedenkens identifiziert habe, nicht exklusiv in demokratischen Gemeinwesen existierten und sich der Brauch dementsprechend auch in oligarchisch regierten poleis nachweisen lässt; so liegt doch auf der Hand, dass in einem demokratischen System – und insbesondere in einer stark ausgeprägten Variante wie der ‚radikalen’ Demokratie im kleisthenischen Athen – auch die genannten Faktoren besonders stark ausgeprägt waren. Freilich ergibt sich auch hieraus wiederum kein Auotmatismus. Noch immer bedurfte es einer bewussten Anstrengung, um den Brauch als offizielle Maßnahme der polis zu etablieren. Doch zeigt das kleisthenische Grabluxusgesetz, das den Aufwand für private Gräber massiv einschränkte und somit auch hier den Gleichheitsanspruch autoritativ durchsetzte, dass die Reformer dezidiert auch den sepulkralen Bereich ins Auge fassten. Sie erkannten sein disintegratives Potential zur aristokratischen Selbstdarstellung und suchten dieses durch die neuen Bestimmungen zu neutralisieren. Es erscheint nur als konsequente Weiterführung dieser Politik, dass dieselben Akteure sich das integrative Potential der Sepulkralpraktiken zu Nutze machten, indem sie der Gemeinschaft der Kriegstoten gedachten und so auch die ideologischen Grundlagen des neuen Systems stärkten. Zwar war noch ein gehöriger Entwicklungsschritt nötig, bis das Gefallenengedenken jene Form hatte, die Thukydides für das Jahr 431 v.Chr. beschreibt. Doch ist kaum zu bezweifeln, dass die Idee hinter dem Gefallenengedenken und dessen grundlegende Form in den Jahren nach den Kleisthenischen Reformen etabliert wurden. Bevor wir uns nun der weiteren Entwicklung des Gefallenengedenkens zuwenden, will ich kurz einen weiteren Aspekt thematisieren, der oben bereits kurz angesprochen wurde. Wiederholt wird in der Forschung die Überlegung geäußert, die Idee der athenischen Autochthonie habe eine Rolle für die Entstehung des Gefallenenbegräbnisses in Athen gespielt.1229 Der Gedanke ist
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So unter anderem zuletzt Arrington 2015 und Wienand 2018. Am deutlichsten Clairmont 1983, 13f. Siehe aber beispielsweise auch Walter-Karydi 2015, 171– 176 sowie die folgende Anmerkung.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
naheliegend, wenn man davon ausgeht, dass die Rückführung der Kriegstoten von Beginn an Teil des Brauchs war. Denn wenn die Athener überzeugt waren, auf besondere Art und Weise mit dem Boden Attikas verbunden zu sein, wäre es nur folgerichtig, dass sie sich verstärkt darum bemüht hätten, ihre Kriegstoten auch in attischer Erde beizusetzen. Als Evidenz ließen sich überdies die erhaltenen epitaphioi logoi anführen, die bis auf die thukydideische Rede allesamt der athenischen Autochthonie einen eigenen Abschnitt widmen.1230 Schließlich böte sich gar ein vermeintlicher Umkehrschluss an, überliefern doch u.a. Xenophon und Platon ein attisches Gesetz, das bestimmt, dass Tempelraub, Vatermord und ähnliche schwerwiegende Verbrechen dadurch zu bestrafen seien, dass die Schuldigen nicht nur hingerichtet, sondern ihre Leichname zudem unbestattet außerhalb des Polisgebietes geworfen werden sollten.1231 Eindringlicher lässt sich kaum aufzeigen, welche Bedeutung der Bestattung im heimatlichen Boden zukam und wie gravierend deren Verwehrung für die antiken Zeitgenossen gewesen sein muss. Auch andere Quellen – nicht zuletzt einige der in dieser Arbeit behandelten Grabepigramme1232 – beklagen den Tod und die Bestattung in der Fremde, die dem Toten und den Angehörigen zusätzliches Leid bringe.1233 Besonders schwer wog hierbei die Tatsache, dass durch die Bestattung fern der Heimat der Vollzug der Grabkultriten, welche die Hinterbliebenen zu verrichten hatten, erschwert oder gar ungmölich gemacht wurde.1234 Eben aus diesem Grund errichteten Angehörige schließlich auch Kenotaphe, an denen sie ihren Verpflichtungen nachkommen konnten. Im Falle des Verbots wird jedoch deutlich, dass noch eine weitere Bedeutungsebene zum Tragen kommt und dass durch die Entfernung von attischem Boden auch der physische Ausschluss des Schuldigen aus der Gemeinschaft verdeutlicht werden sollte. Zweifelsohne zeigt sich hierin die Vorstellung der besonderen Verbundenheit der Athener mit ihrem Land, die sich im Schlagwort der Autochthonie fassen lässt.
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1231 1232
1233
1234
Demosth. or. 60.4f.; Hyp. or. 6.6f.; Lys. 2.17; Plat. Menex. 237b–238b; Lyk. Leok. 41; 48; Isok. or. 4.24f. Bei Thukydides wird die athenische Autochthonie nicht explizit erwähnt, doch lässt sich Thuk. 2.36 durchaus als eine Anspielung hierauf verstehen. Siehe auch Loraux 1981, 147–156; Stupperich 1977, 42f.; Brock 2013, 32f.; Wienand 2018, 82. Vgl. Xen. Hel. 1.7.22 und Plat. leg. 854d–855a und 960c. So z.B. das Epigramm für die gefallenen Korinther der Schlacht von Salamis, das unmittelbar in der ersten Zeile darauf verweist, dass die Toten nicht in ihrer Heimatstadt bestattet wurden (s.o. 2. II. Korinth mit Anm. 810 und 812). So etwa Hyp. or. 2.20. Siehe zudem die Verweise auf diverse private Grabepigramme bei Stroszeck 2002/2003, 159. Weiter oben wurden zudem bereits Theaterstücke wie die Antigone oder die Eumeniden besprochen, die neben de Verweigerung einer Bestattung auch die Bestattung in der Ferne problematisierten. Siehe Stroszeck 2002/2003 sowie auch Stupperich 1977, 66; Robertson 1983, 85–87; Brown-Ferrario 2006, passim; Walter-Karydi 2015, passim.
353
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Doch auch wenn es vor diesem Hintergrund attraktiv erscheinen mag, die Entstehung des Gefallenenbegräbnisses mit der Autochthonievorstellung der Athener zu verknüpfen, lässt sich eine solche Verbindung nicht nachweisen. So ist zunächst zu vermerken, dass die Rückführung der Toten in den frühen Jahren des Brauches nicht Teil des Gefallenenbegräbnisses war. Einzig im Falle der Athener, die in der Schlacht gegen Aegina fielen, wurden die Überreste der Gefallenen in Athen und nicht auf Aegina bestattet. Hierbei handelte es sich allerdings um eine Ausnahme. Sowohl das Epigramm für jene Athener, die gegen Chalkis gefallen waren, als auch die Stelen für die Toten von Lemnos und Marathon zeigen deutlich, dass eine Bestattung am Schlachtort zu dieser Zeit die Regel war. Wenn aber die Autochthonievorstellung eine Rolle für die Entstehung des Gefallenenbegräbnisses gespielt haben sollte, wäre doch davon auszugehen, dass schon hier eine Rückführung angestrebt worden wäre. Es ließe sich wohl argumentieren, dass der Autochthoniegedanke durchaus von Bedeutung für die Entwicklung des Gefallenenbegräbnisses war, dass eine Überführung der Gefallenen nach Athen den Verantwortlichen aber schlichtweg nicht als umsetzbar erschien. Doch muss man in diesem Fall fragen, ob die logistischen Voraussetzungen für die Rückführung um 500 v.Chr. nicht ebenso gegeben waren wie 40 Jahre später. Vor allem aber hat Josine Blok gezeigt, das der Mythos der athenischen Autochthonie zwar bereits um die Mitte des 5. Jh. v.Chr. entstand, dass er aber erst ab den 430er Jahren v.Chr. auch in größerem Maße propagiert und rezipiert wurde.1235 Die Rückführung der Gefallenen war aber spätestens seit den 460er Jahren v.Chr. fester Bestandteil des patrios nomos. Es ist daher zu bezweifeln, dass die Vorstellung der athenischen Autochthonie eine Rolle für die Entstehung des Gefallenenbegräbnisses oder auch für die spätere Ausformulierung des Brauches inklusive der Rückführung der Toten spielte. Auch die Überlegung, die Rückführung der Gebeine des Theseus durch Konon sei ein entscheidender Schritt und laut Christoph Clairmont gar der Anlass der Einführung des patrios nomos in seiner späteren Form gewesen,1236 verliert vor diesem Hintergrund an Gewicht, wenngleich die Möglichkeit einer Vorbildfunktion nicht vollständig abzulehnen ist. In jedem Fall vollzog sich die Entstehung des Gefallenenbegräbnisses in Form einer isonomen Bestattung und Kommemoration aller Kriegstoten der Athener lange bevor die Idee der athenischen Autochthonie sich erstmals in den Quellen fassen lässt. Das Gefallenenbegräbnisses in Athen entstand nicht vor einem kulturellen Hintergrund. Stattdessen fußte es auf konkreten politischen Bedingungen und Überlegungen.
1235 1236
Siehe Blok 2009. Vgl. Clairmont 1983, 13f.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Die Abwehr der Perserinvasionen Zweifelsohne stellten die Perserkriege und insbesondere die gemeinsame Abwehr der Xerxesinvasion in den Jahren 480/79 v.Chr. einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Gefallenengedenkens dar. Schon alleine die Masse der überlieferten Gefallenenmonumente und die Zahl der beteiligten poleis belegen dies anschaulich. Außer für Athen und Sparta sind besondere Vorkehrungen zur Kommemoration der Gefallenen der Perserkriege auch für Korinth, Megara, Plataiai, Tegea, Phleius und Thespiai1237 belegt. Darüber hinaus sind entsprechende Maßnahmen für eine Reihe weiterer poleis anzunehmen. Diese Fülle an Zeugnissen weist auf eine veränderte Erinnerungspraxis hin: Die Kommemoration beschränkte sich nicht mehr alleine auf das Ereignis selbst und den griechischen Triumph, indem tropaia oder sonstige Siegesweihungen errichtet wurden. Zwar griffen die verbündeten Griechen bekanntermaßen auch auf solche etablierten Formen zurück und stifteten in den drei großen panhellenischen Heiligtümern entsprechende eindrucksvolle Siegesmonumente, von denen sich mit der delphischen Schlangensäule bis heute immerhin eines erhalten hat.1238 Doch eröffneten die Alliierten dem Gedenken an Krieg und Konflikt nun eben auch eine neue Dimension, indem sie ihre Gefallenen gemeinsam – wenn auch nach poleis getrennt – an den Schlachtorten beisetzten und ihrer mit permanenten Grabmarkern (und Ritualen) gedachten. Die plötzliche Popularität des Gefallenengedenkens ist durch die weitreichende Bedeutung, die die Perserabwehr für die griechischen poleis hatte, zu erklären sowie durch die Notwendigkeit der poleis, ihre Partizipation am Kampf gegen die Perser zu demonstrieren. War die Tragweite der Schlacht von Marathon, an der auf griechischer Seite nur die Athener und Plataier teilgenommen hatten, nämlich zunächst kaum von den Zeitgenossen wahrgenommen worden, sah dies im Fall der Verteidigung des griechischen Vaterlandes gegen die Invasion des Xerxes deutlich anders aus. Hier erkannten die Führer der beteiligten poleis schon früh das Ausmaß und die Bedeutung des Konfliktes, der vermutlich schon während er ausgetragen wurde, als Kampf um die Freiheit und das Überleben der griechischen Gemeinwesen gezeichnet wurde. Im Mindesten konnte sich diese Darstellungsweise schon kurz nach den Ereignissen etablieren und im griechischen Siedlungsraum verbreiten. So erklärt nicht nur das Epigramm auf die Korinther, die bei Salamis gefallen waren, dass die Toten Griechenland gerettet hätten.1239 Auch in Aischylos’
1237
1238 1239
Im Falle Thespiais ist kein konkretes Monument überliefert, jedoch ist, wie oben ausführlich dargelegt wurde, stark davon auszugehen, dass sich sowohl an den Thermopylen als auch in der Ebene von Plataiai Monumente für die dort gefallenen Thespier befanden. Siehe Hdt. 9.81. S.o. 2. II. Korinth mit Anm. 810 und 812.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Persern aus dem Jahr 472 v.Chr., wurden die Griechen bei Salamis aufgefordert, ihr Vaterland, ihre Frauen und Kinder, die Sitze der Götter und die Gräber der Vorfahren zu befreien: ὦ παῖδες Ἑλλήνων ἴτε, ἐλευθεροῦτε πατρίδ᾽, ἐλευθεροῦτε δὲ παῖδας, γυναῖκας, θεῶν τέ πατρῴων ἕδη, θήκας τε προγόνων: νῦν ὑπὲρ πάντων ἀγών.1240
Der Stellenwert der Perserabwehr als lieu de mémoire der griechischen poleis wurde weiter oben bereits besprochen und erst in den letzten Jahren mehrfach ausführlich untersucht, sodass ich hier nicht auf Details verfallen muss.1241 Deutlich ist aus den Quellen ersichtlich, wie die Teilhabe an den Perserkriegen für die Kommunikation auf der panhellenischen Ebene rasch an Bedeutung gewann und auch polisintern zu einem zentralen identitätsstiftenden Moment wurde. Nirgendwo wird dies augenfälliger als im Verhalten der siegreichen poleis gegenüber jenen Gemeinwesen, die sich entweder nicht oder gar auf Seiten der Perser an den Kämpfen beteiligt hatten. Bezeichnend ist etwa, wie hart die Thebaner direkt nach der Schlacht von Plataiai von der Allianz der ‚freien Griechen‘ unter dem Vorwurf des Medismos angegangen wurden. Vor allem ist aber interessant, wie das Argument der Teilhabe bzw. nicht-Teilhabe an der Perserabwehr in den Jahren danach, noch bis in die Zeit des Peloponnesischen Krieges und darüber hinaus, eingesetzt wurde. So fanden sich etwa die Argiver, die sich damals neutral verhalten hatten, nach dem Krieg zunehmend politisch isoliert und sahen sich genötigt, eine Erklärung für ihre Zurückhaltung zu propagieren. Sie verwiesen darauf, dass ihr Gemeinwesen sich nach der schweren Niederlage in der Schlacht von Sepeia 494 v.Chr. schlichtweg noch nicht genügend erholt hatte, um sich an den Aktionen gegen die Perser zu beteiligen.1242 Auch die Mantineier mussten sich rechtfertigen. Sie waren zu spät zur Schlacht von Plataiai gekommen und mussten sich daher vorwerfen lassen, dies sei Absicht gewesen; sie hätten den Ausgang der Schlacht abwarten und sich dann auf die Seite des Siegers schlagen wollen, so der Vorwurf. Als Reaktion auf diese Anschuldigungen verbannten sie die verantwortlichen Heerführer und drängten im griechischen Kriegsrat darauf, die Perser auf ihrer Rückkehr in den Osten zu verfolgen.1243 Herodot 1240 1241
1242
1243
Aischyl. Pers. 402–405. Die wichtigsten Beiträge der jüngeren Zeit sind Jung 2006, passim aber insb. 265–271 und Osmers 2013, 190–279. Siehe auch das Folgende. Hdt. 7.148–153 berichtet sowohl von der Erklärung der Argiver selbst, die diese für ihre Abwesenheit gaben, sowie auch von zwei weiteren Versionen, die zu seiner Zeit kursierten und die Argiver in deutlich schlechterem Licht darstellten. Siehe auch oben das Kapitel zu Argos sowie Bearzot 2006, 114f. und Vanicelli 2004, 292–294. Vgl. Wolff 2010, 54–57.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
erhebt schließlich den Vorwurf, die Aigineten und weitere, nicht näher von ihm bezeichnete, poleis hätten die Dreistigkeit besessen, in der Ebene von Plataiai Gräber für ihre angeblichen Gefallenen des Jahres 479 v.Chr. zu errichten, obwohl sie an der Schlacht überhaupt nicht teilgenommen hatten.1244 Wie oben1245 bereits dargelegt wurde, ist es dabei weniger von Bedeutung, ob Herodots Behauptung tatsächlich zutraf. Viel wichtiger ist hingegen, dass sie zeigt, welches Gewicht einer Partizipation am Kampf gegen die Perser beigemessen wurde und wie stark der Beitrag der einzelnen Gemeinwesen zur Abwehr der Invasion umstritten war. Das Gerangel um die Position als ‚Retter Griechenlands‘ führte im Laufe des 5. Jh. v.Chr. dann sogar dazu, dass die Athener versuchten, die Korinther zu diskreditieren und ihre Leistungen zu schmälern, obwohl doch die Korinther maßgeblich zum Sieg bei Salamis beigetragen hatten und auf der Schlangensäule in Delphi direkt nach den Athenern für ihre Verdienste gegen die Perser geehrt wurden.1246 Am Beispiel des angeblichen Scheingrabes der Aigineten wird dabei deutlich, warum nun den Gräbern und Monumenten für die Gefallenen eine derartige Bedeutung zukam: Sie dienten als ultimativer Beleg für die Teilhabe an der Perserabwehr und demonstrierten in Form der verlorenen Leben den Einsatz der jeweiligen polis für die Gemeinschaft der Hellenen und die Freiheit der griechischen Gemeinwesen. Niemand hätte schließlich – so möchte man meinen – einer polis die Beteiligung am Kampf gegen die Truppen des Xerxes und Mardonios absprechen können, wenn am Ort der Schlacht ein monumentales Grab zu sehen war, das das Gegenteil belegte. Dass Herodot dies aber dennoch versuchte, zeigt die Vehemenz, mit der um die aristeia der Perserkriege und die Deutungshoheit über die Ereignisse gestritten wurde. Gleichzeitig werfen diese Episoden aber auch ein Licht auf die Grenzen der Belastbarkeit der Argumentationslinie. Wenn im letzten Drittel des 5. Jh. v.Chr. nämlich nicht nur den Aigineten, sondern selbst zentralen Akteuren wie den Korinthern ihr Beitrag streitig gemacht werden konnte, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Teilhabe an der Perserabwehr insgesamt als politisches Argument auf der panhellenischen Bühne an Gewicht verlieren musste. Folgerichtig zeigen sich die Spartaner in der Erzählung des Thukydides zu Beginn des Peloponnesischen Krieges dann auch völlig unbeeindruckt von den Versuchen der Plataier, gegen die Belagerung und Zerstörung ihrer Stadt zu argumentieren, indem sie auf ihre Leistungen in den Perserkriegen verweisen. So wirksam die Monumente für die Gefallenen der Perserkriege noch in der ersten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. dazu genutzt werden konnten, die Stärke einer polis zu demonstrieren und ihre Position im Geflecht der griechischen Stadtstaaten aufzuzeigen, so wenig Relevanz hatten sie für die akuten politischen Entscheidungen zu Ende desselben Jahrhunderts. Ausgenommen von dieser Entwicklung waren lediglich die Athener und die Spartaner; sie konnten ihre gemeinsame Führungsrolle in 1244 1245 1246
Siehe Hdt. 9.85. Vgl. 2. I. Tespiai mit Anm. 534. Auch hierzu siehe bereits oben 2. II. Korinth und Osmers 2013, 270–275.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
den Perserkriegen behaupten, wenn sie sich diese auch weiterhin gegenseitig streitig zu machen suchten.1247 Sicherlich war die außenpolitische Dimension entscheidend dafür, dass das Gefallenengedenken in den Jahren 480 und 479 v.Chr. nun auf einmal von einer Vielzahl an poleis in solch einer Breite praktiziert wurde. Gleichzeitig sollte man sich aber davor hüten, die Kommemoration der Gefallenen nur auf diese außenpolitische Komponente zu beschränken. Monumente für die Gefallenen wurden nämlich nicht nur an den Schlachtorten errichtet, sondern eben auch in den poleis selbst bzw. auf deren Gebiet. So können wir heute noch das Kenotaph der Korinther am Isthmos, das Monument der Megarer auf ihrer Agora, das Kenotaph der Marathonomachai im Kerameikos sowie die Monumente für Leonidas, die Dreihundert und Pausanias in Sparta fassen.1248 Mit Ausnahme des korinthischen Kenotaphs waren diese Denkmäler, die eben nicht an den Schlachtorten und auf den großen panhellenischen Bühnen errichtet wurden, primär nach innen gerichtet. Denn schließlich sollte nicht vergessen werden, dass die Teilhabe an der erfolgreichen Perserabwehr auch für die einzelnen poleis einen großen Erfolg darstellte, über den das Gemeinwesen sich in Zukunft dann auch identifizierte und an den es zu erinnern galt. Freilich konnte dies auch mittels anderer Monumentformen erreicht werden und so finden sich auch andere Denkmäler und Weihungen, die von einzelnen poleis anlässlich des Sieges über die Perser gestiftet wurden. Doch wurden gerade die Gefallenenmonumente an besonders auffälligen Orten errichtet, die für das jeweilige Gemeinwesen zentrale Bedeutung hatten. Dass den Gefallenen solche Aufmerksamkeit gewidmet wurde, und dass nicht nur am Ort der Schlacht, sondern auch in ihren Heimatpoleis durch prominente Denkmäler an sie erinnert wurde, lässt sich sicherlich auch dadurch erklären, dass die Gefallenenmonumente einen direkten und exklusiven Bezug zwischen dem siegreichen Kampf gegen die Perser und der jeweiligen polis herstellten, während die Siegesweihungen das eigene Gemeinwesen nur als Teil der siegreichen griechischen Allianz feierten. Interessant ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Frage, wie jene griechischen Städte, die nicht am Kampf gegen die Perser beteiligt waren, auf die Erinnerungspraktiken der anderen poleis reagierten. Wie ich weiter oben angemerkt habe, lässt sich dies aufgrund der schlechten Überlieferungslage kaum beantworten. Doch habe ich vorgeschlagen, dass dieser Makel zumindest im Falle von Argos möglicherweise durch eine verstärkte Kommemoration der mythischen Großtaten der Argiver kompensiert wurde, während er in Theben bedingt haben könnte, dass das staatliche Gefallenengedenken erst im zweiten Viertel des 4. Jh. v.Chr. (wieder?) auflebte.1249
1247 1248 1249
Vgl. insbesondere Jung 2006, Kapitel 7.5. S.o. in den jeweiligen Kapiteln zu Korinth, Megara, Athen und Sparta. Die Frage, ob das Gefallenenbegräbnis in Theben im 4. Jh. v.Chr. erstmals entstand oder wiederauflebte, hängt stark davon, ob man das älteste Zeugnis aus Theben tatsächlich als Gefallenenmonument interpretiert und ob dieses dann auch vor die Perserkriege datiert.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Darüber hinaus sollte schließlich noch darauf hingewiesen werden, dass es falsch ist, die Gräber einzig als Siegesmonumente zu interpretieren. Alan Borg tut dies etwa, wenn er überspitzt urteilt: „no one mourns at Marathon“.1250 Diese Auffassung spricht den Gräbern und Kenotaphen fälschlicherweise ihre kultische Funktion als Grabmonumente ab. Diese übten sie aber offenkundig aus.1251 Wäre dies nicht der Fall, wären auch die überlieferten Totenkultrituale nicht notwendig gewesen. Richtig ist indes, dass die Monumente vor allem eine politische Funktion erfüllten. Diese klare und sehr zielgerichtete politische Funktion der Monumente mag auch erklären, warum die Kommemoration der Perserkriegsgefallenen kaum nachhaltige Effekte auf die Entwicklung des Gefallenengedenkens insgesamt hatte. Denn obwohl zahlreiche poleis mit großem Aufwand ihrer Gefallenen aus dem Abwehrkampf gegen die persischen Invasoren gedachten, bedingte dies in der Folge keineswegs eine Institutionalisierung des Gefallenengedenkens in den beteiligten Gemeinwesen. Im Gegenteil – die Zahl der Zeugnisse von Gefallenenkommemoration außerhalb Athens im 5. Jh. v.Chr. ist gering. In keiner der poleis lässt sich eine feste Etablierung des Brauches nachweisen und einzig in Plataiai, Argos und Thespiai finden sich überhaupt Hinweise darauf, dass der Brauch im 5. Jh. v.Chr. in mehr als einem Fall Anwendung fand. Die frühesten Belege aus anderen poleis finden sich erst ab dem letzten Viertel des 5. Jh. v.Chr. –ein halbes Jahrhundert nach den Schlachten von Salamis und Plataiai. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die den Gefallenen der Perserkriege gewidmet wurde, setzte sich die Idee des Gefallenengedenkens demnach nicht in den griechischen poleis fest. Das Gefallenengedenken wurde somit augenscheinlich dezidiert für seine konkrete erinnerungspolitische Funktion im Kontext der Perserkriegskommemoration praktiziert, wie ich sie hier nachgezeichnet habe. Weiterführende Anreize, die zu einer Institutionalisierung der gemeinschaftlichen Bestattung aller Toten eines Konflikts von staatlicher Seite geführt hätten, sah zumindest der überwiegende Teil der griechischen poleis offensichtlich nicht. Erneut zeigt sich hierin, dass das Gefallenengedenken nicht als Automatismus der genannten strukturellen Grundlagen entstand, sondern eines bewussten Aktes zu seiner Etablierung und Perpetuierung bedurfte. Naheliegend ist die Vermutung, dass der Impuls für die gemeinschaftliche Kommemoration der Gefallenen 480 und 479 v.Chr. von den Athenern bzw. deren Vorbild ausging. Da die Athener eine der Führungsmächte der antipersischen Symmachie waren, ist wahrscheinlich, dass sie auch die Bestattungsformen der griechischen Symmachie beeinflussten, wenn auch offen bleiben muss, ob dies im Rahmen gemeinsamer Beschlüsse geschah oder ob die Athener möglicherweise einfach entsprechend ihrer eigenen Bräuche und dem Vorbild von Marathon handelten 1250 1251
Borg 1991, 53. Vgl. Arrington 2015, 104–109, der ebenfalls betont, dass die Griechen sehr wohl zwischen Siegesund Gefallenenmonumenten zu unterscheiden wussten.
359
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
und die anderen poleis ihrem Beispiel aus eigener Initiative folgten. Gerade weil die meisten Monumente für die Perserkriegsgefallenen nur literarisch überliefert sind und wir daher keine Vorstellung über ihre Gestalt haben, wird hier ein sicheres Urteil weiter ausbleiben müssen. Die Umstände machen eine attische Vorbildfunktion aber wahrscheinlich. Hierfür spricht auch, dass gerade jene drei poleis, in denen sich Zeichen einer gewissen Etablierung des Gefallenengedenkens fanden – namentlich Argos, Plataiai und Thespiai, sich politisch eng an Athen ausrichteten. Sie mögen daher auch nach 479 v.Chr. weiter dem Vorbild Athens gefolgt sein und ähnliche Erinnerungspraktiken ausgeübt haben. Ähnlichkeiten in den Kommemorationsformen wie etwa die isonome Auflistung der Gefallenen am Grab ohne Patronyme und weitere Marker, die sich auch in Argos und Thespiai findet, stützen diese Überlegung weiter. Inwiefern lässt sich nun aber für die Perserkriege tatsächlich von einem Einschnitt in der Entwicklung des Gefallenengedenkens sprechen? Denn wenn es in diesem Kontext zwar zu einer punktuellen Praktizierung des Brauches kam, eine Übernahme durch die anderen griechischen poleis aber ausblieb, so muss gefragt werden, worin der nachhaltige Effekt für die Entwicklung des Gefallenengedenkens bestand. Tatsächlich war das Gedenken an die Toten der Jahre 480/479 v.Chr. gleich in mehrfacher Hinsicht formativ für die weitere Entwicklung der Praxis. Auf einer grundlegenden Ebene boten die Perserkriege erstmals überhaupt eine Bühne, auf der die Idee staatlicher Gefallenenkommemoration einem breiten griechischen Publikum präsentiert und als neue Erinnerungspraxis aufgezeigt wurde. Dass dies nicht ganz ohne Effekt blieb, zeigt die Übernahme entsprechender Formen in Argos, Plataiai und Thespiai. Darüber hinaus wurde in den Monumenten für die Toten der Perserkriege das Gedenken an die Gefallenen eng mit dem Ideal des Kampfes für die Freiheit und Selbstbestimmtheit der eigenen polis verknüpft. Ebendiese Verbindung sollte gerade im 4. Jh. v.Chr., das die Hochphase der Praxis in den griechischen poleis sah, von enormer Bedeutung werden und ausschlaggebend für das Aufleben des Brauches in dieser Zeit werden. Schließlich lassen sich auch für die Entwicklung des athenischen Gefallenengedenkens Auswirkungen beobachten. Denn wenn auch in Athen die Perserkriege keine unmittelbaren Veränderungen des Brauches bedingten, lässt sich doch annehmen, dass das prominente und vorbildhafte Zelebrieren des Gefallenengedenkens auf der panhellenischen Bühne, das überdies mit dem Rückbezug auf die Bestattung der Marathonomachai noch eine historisch-sieghafte Konnotation erhielt, die den Athenern quasi exklusiv zugänglich war, den Brauch auch in der athenischen Bürgergemeinschaft noch einmal stärker verankerte. Zudem wurde mit dem Kenotaph für die Gefallenen der Schlachten von Salamis und Plataiai erstmals ein Gefallenenmonument in Athen errichtet, das die Opfer von mehr als einer Schlacht kommemorierte. Möglicherweise wurde durch diese gemeinsame Kommemoration auch die Basis für die spätere jahresweise Bestattung der Kriegstoten geschaffen.1252 1252
Siehe hierzu Wienand 2018, 76–80.
360
II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Der patrios nomos und das attische Imperium Wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesehen haben, brachten die Perserkriege trotz ihrer Bedeutung und trotz der Prominenz, die die Gräber der Gefallenen des Konfliktes erreichten, keine unmittelbare Konsequenz für die Verbreitung oder die Ausformung des Gefallenenbegräbnisses mit sich. In keiner griechischen polis – auch nicht in Athen – lässt sich eine Veränderung des Umgangs mit den Kriegstoten als Konsequenz der Abwehr des Xerxes feststellen. Tatsächlich vollzog sich eine der entscheidensten Veränderungen des Brauches erst in den 460er Jahren v.Chr., als die Athener beschlossen, ihre Kriegstoten nicht mehr jeweils zu einem einzelnen Anlass zu bestatten, sondern stattdessen alle Gefallenen eines gesamten Jahres gemeinsam beizusetzen. Die jahresweise Bestattung der Kriegstoten war das entscheidende Distinktionsmerkmal des attischen patrios nomos. Zweifelsohne waren auch andere Aspekte des Brauches prägend für seine Ausgestaltung und Wahrnehmung. Elemente wie die Wettkämpfe oder die Rede zu Ehren der Toten wurden bereits von den antiken Autoren – freilich meist nicht ohne Eigeninteresse – hervorgehoben und waren in ihrer Prominenz zentral für die Bekanntheit des patrios nomos. Doch bestimmten diese Elemente das Ritual nur in seiner Ausformung. Die jahrweise Bestattung der Toten aber ist singulär in der europäischen Geschichte und unterscheidet den attischen Brauch auch in seinem Wesen grundsätzlich von allen anderen poleis (und allen modernen Nationalstaaten). Ganz zu Recht hat daher Joahnnes Wienand in seiner jüngst eingereichten Habiliationsschrift besondere Aufmerksamkeit auf dieses Element gelegt und hieraus einen neuen Datierungsvorschlag für die Entstehung des voll ausformulierten patrios nomos entwickelt.1253 Demnach sei der Brauch in seiner voll ausformulierten Version 465 v.Chr. von Kimon anlässlich der Bestattung der Toten der Schlacht vom Eurymedon als neue, feste Form des Gefallenenbegräbnisses eingeführt worden. Seine Überlegungen können hier nicht noch einmal im Detail wiederholt werden und ich verweise stattdessen auf seine Arbeit. Weiterhin besteht m.E. keineswegs die Notwendigkeit, anzunehmen, der patrios nomos sei mit einem einzigen Beschluss als monolithischer Block eingeführt worden. Richtig ist indessen Wienands Beobachtung, dass der Wechsel weg von einer anlassbezogenen und hin zu einer jahresweisen Bestattung einen bewussten Akt darstellt, der eines Beschlusses der ekklesia bedurfte. Der Vorschlag, diesen Beschluss mit einem Profilierungsversuch des Konon nach der Schlacht am Eurymedon 465 v.Chr. zu verbinden, erscheint dabei durchaus attraktiv, da der erste inschriftliche Beleg einer Jahresbestattung aus dem Folgejahr 464 v.Chr. stammt. In Anbetracht der großen Überlieferungslücken kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Athener schon zuvor zu einer jahresweisen Bestattung ihrer Kriegstoten wechselten. 1253
Vgl. Wienand 2018, 80–88. Er stützt sich dabei zu Teilen auf Humphreys 1999.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Von größerer Bedeutung als die konkrete Datierung sind letztlich auch die Konsequenz und die Zielsetzung der Veränderung. Mit dem Wechsel zu einer jahresweisen Bestattung der Toten wurde nämlich nicht nur einzelnen Strategen die Deutungshoheit über konkrete Schlachten entzogen. Vor allem wurde die Bestattung der Gefallenen auch von Sieg und Niederlage entkoppelt. Alle Athener, die am Ende eines Jahres bestattet wurden, waren für den Erhalt und den Ausbau der attischen arche gestorben – völlig unabhängig davon ob das jeweilige Gefecht gewonnen oder verloren worden war. Im patrios nomos wurden die Kosten des attischen Imperiums in Form der gefallenen Mitbürger anerkannt und den Vorteilen, die sich für die Athener (und ihre Verbündeten) aus ihrer Herrschaft ergaben, gegenübergestellt. Dem Tod der Mitbürger wurde ein Sinn gegeben, ihr Verlust wurde aufgefangen und die Bürgergemeinschaft wurde stabilisiert und in ihrem Zusammenhalt gestärkt, indem sie auf das gemeinsame Ziel der Erhaltung der arche fokussiert wurde.1254 Mehr als dreißig Jahre scheint dieses System erfolgreich funktioniert zu haben und einen wichtigen Beitrag zur Stabislierung der athenischen Gesellschaft im Anblick von Tod und Verlust im Dienste imperialer Machtpolitik geleistet zu haben. Jahr für Jahr wurden die Gefallenen der Kriege in zunehmend vereinheitlichten Gräbern bestattet und durch einen epitaphios logos und den epitaphios agon geehrt.1255 Anzeichen für Veränderungen am patrios nomis finden sich erst gegen Ende des Jahrhunderts in der zweiten Phase des Peloponnesischen Krieges. Der Krieg, der sich über fast drei Jahrzehnte erstreckte und die gesamte griechische Welt erfasste, brachte das Gemeinwesen, einzelne Familien und Individuen aber eben auch das politische System, seine Instuitiutionen und seine Rituale an ihre Belastungsgrenzen. Dies zeigt sich in den großen Umwälzungen wie den beiden oligarchischen Umstürzen 411 v.Chr. und 403 v.Chr. aber eben auch im Aufbegehren im Kleinen. Im Abschnitt zu Athen wurde bereits darauf verwiesen, dass sich gegen Ende des 5. Jh. v.Chr. eine zunehmende Tendenz seitens reicher attischer Familien erkennen lässt, für ihre gefallenen Angehörigen zusätzlich zu den Bestattungen im demosion sema auch private Kenotaphe zu errichten.1256 Offensichtlich empfanden manche Mitglieder der Bürgerschaft die bestehenden Rituale nicht als ausreichend oder angemessen und entschieden sich daher dazu, selbst zusätzliche Vorkehrungen zu treffen. Wie das politische System selbst wurden auch die Rituale der polis zunehmend in Frage gestellt. Freilich ließ die demokratische polis diese Kritik nicht unbeantwortet. Julia Shear hat erst in den letzten Jahren in einer Monographie und einer Reihe an Artikeln sehr deutlich herausge1254
1255
1256
Die Verknüpfung mit der athenischen arche wurde bekanntermaßen am deutlichsten von Loraux 1981 herausgearbeitet, wird aber auch in den neueren Arbeiten von Low 2010; 2012, Arrington 2015 und zuletzt Wienand 2018 wieder stark aufgegrifen. Zur Durchsetzung des peribolen Grabtypus und der damit einhergehenden Vereinheitlichung der Listen siehe oben 1. II. Die Form der Gräber sowie 1. II. Die Gefallenenlisten. S.o. Anm. 256.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
arbeitet, wie die Demokraten auf die oligarchischen Umstürze reagierten, indem sie sich der Gesetze, der Topographie und eben auch der Monumente und Rituale der polis annahmen und diese an die veränderten Bedürfnisse und Herausforderungen anpassten. Ihre Arbeiten bieten einen vielversprechenden Ausgangspunkt, um zu verstehen, warum und wie sich auch das Gefallenenbegräbnis in diesem Zeitraum wandelte.1257 Bezüglich des Umsturzes von 411 v.Chr. zeigt Shear, dass die Reaktion der demokratischen polis darin bestand, nach der Überwindung des oligarchischen Zwischenspiels vor allem die Persistenz und die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Ordnung zu demonstrieren. Bereits 410 v.Chr. wurde beschlossen, die Drakonischen und andere vor 411 v.Chr. beschlossene Gesetze als eindrucksvolle Inschriften auf der Agora erneut zu veröffentlichen,1258 um so das Weiterbestehen der alten Ordnung und die Handlungsfähigkeit der polis demonstrativ zur Schau zu stellen. Dabei wurde mit der Agora ein zentraler Ort der Stadt neu definiert und für die Angelegenheiten der demokratischen polis in Beschlag genommen. Begleitet wurden diese Maßnahmen durch Beschlüsse, die den aktiven Widerstand gegen mögliche oligarchische Umtriebe belohnen und befördern sollten. So wurde ebenfalls noch 410 v.Chr. das sogenannte Dekret des Demophantos1259 ratifiziert, das alle attischen Bürger dazu verpflichte, per Eid zu schwören, sich gegen etwaige Oligarchen und oligarchische Sympathisanten zu stellen und nötigenfalls auch mit der Waffe gegen diese vorzugehen. Jeder Bürger, der bei dem Versuch, einen Oligarchen zu töten, stürbe, solle ebenjene Ehren erhalten, die auch die Tyrannenmörder Aristogeiton und Harmodios erhalten hatten – d.i. eine Bronzestatue auf der Agora, einen Heroenkult sowie sitesis, proedria und ateleia für ihre Söhne. Indem jeder Bürger in einem gemeinsamen Ritual mit den restlichen Mitgliedern seiner Deme, seiner Phyle und der gesamten Bürgerschaft den Eid zur Verteidigung der Demokratie schwor, wurden ebendiese Untereinheiten sowie auch die Bürgerschaft insgesamt in ihrer Gruppenzugehörigkeit und ihrem Kollektivempfinden bestärkt. Eindeutig wurde hier auf die Athener als eine Einheit von gleichen Bürgern fokussiert. Erneut wurden einzig jene, die ihr Leben für den Erhalt der Gemeinschaft und der politischen Ordnung gaben, gesondert hervorgehoben und für ihr Handeln geehrt. Jenen, die zwar gegen etwaige oligarchische Gruppierungen kämpften, aber überlebten, wurden keine zusätzlichen Ehrungen zugesagt, da sie schließlich ‚nur’ ihre Bürgerpflicht erfüllt hatten. Anders stellten sich die Maßnahmen zur Auszeichnung jener xenoi und Metöken dar, die 411/10 v.Chr. zusammen mit den Athenern gegen die Oligarchen gekämpft hatten. Wie IG I3 102 belegt, wurden ihnen – abhängig von der Größe ihres jeweiligen Beitrags zur Verteidigung der Demokratie – eine ganze Reihe an Rechten und Ehrungen zugestanden. Neben einer ge1257 1258 1259
Zum Folgenden siehe insbesondere Shear 2011 und 2007. IG I3 104. Das Dekret ist überliefert bei Andok. 1.96–98.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
meinsamen inschriftlichen Ehrung auf der Akropolis, die sie als Euergeten Athens auszeichnete, erhielten sie auch das Recht, in Athen zu leben und Grundbesitz zu erwerben. Diese Maßnahmen verblassen jedoch gegenüber jenen, die zur Ehrung des Kalydoners Thrasyboulos beschlossen wurden, der Phrynichos, einen der Führer der oligarchischen Partei, umgebracht hatte. Er wurde bei den Großen Dionyosien1260 vor der versammelten Bürgerschaft mit einem goldenen Kranz geehrt und erhielt zudem das attische Bürgerrecht. Die Verleihung des Bürgerrechts stellte dabei zweifelsohne die größere Ehrung dar. Dennoch soll die Bekränzung im Kontext der Großen Dionysien noch einmal genauer betrachtet werden. Der Kontext des Wettkampfes bot nämlich nicht einfach nur eine größtmögliche Aufmerksamkeit für die Verleihung des Kranzes. Bekanntermaßen wurden im Rahmen der Großen Dionysien nämlich auch die Tribute der Seebundsmitglieder präsentiert sowie jene jungen Bürger, deren Väter im Krieg gefallen waren und die nun auf Kosten der polis mit einer Rüstung ausgestattet worden waren. Das Fest diente somit auch der Zurschaustellung der athenischen arche und ihrer konkreten Vorteile, verknüpfte diese Demonstration aber eben auch mit einer Würdigung jener, die ihr Leben für den Erhalt und den Ausbau des Imperiums gegeben hatten. Indem die Kranzverleihung für Thrasyboulos in diesen Kontext gelegt wurde, wurde auch er in die Nähe der Kriegstoten gerückt, die vertreten durch ihre Söhne ebenfalls für ihre Leistungen für die polis ausgezeichnet wurden. Diese Annäherung zeigt sich auch im Dekret des Demophantos, das die geehrten xenoi (wohlgemerkt nicht nur Thrasyboulos!) als ἄνδρες ἄγαθοι bezeichnet.1261 Wir sehen also, dass die demokratische polis neue Möglichkeiten der Ehrung verdienter Personen beschloss, dass diese sich aber je nach Status stark unterschieden. In Bezug auf die Gruppe der Bürger stand weiterhin das Kollektiv im Vordergrund. Individuelle Ehrungen wurden nur für außergewöhnliche Taten und auch dann nur postum verliehen. Für nicht-Athener waren hingegen individuelle Auszeichnungen in verschiedenen Formen und Dimensionen schon zu Lebzeiten möglich. Ich möchte nun vorschlagen, dass auch in Bezug auf das Gefallenenbegräbnis einige Anpassungen vorgenommen wurden, die eine differenziertere Ehrung der Toten und eine dezidierte Anerkennung bestimmer Leistungen ermöglichten. Konkret beziehe ich mich auf die zunehmende Nennung von Funktionsbezeichnungen, die sich auf den Gefallenenlisten des ausgehenden 5. Jh. v.Chr. nachweisen lässt. Wurden nämlich auf den Gefallenenlisten, die vor dem Peloponnesischen Krieg entstanden, einzig Strategen und in jeweils einem Fall ein Seher und ein Arzt explizit als solche bezeichnet, werden auf den späteren Listen auch Trierarchen, Taxiarchen, Phylarchen, Archonten der Flotte, Peripolarchen sowie möglicherweise Phrourarchen 1260
1261
Der erhaltene Teil der Inschrift erwähnt nur die Bekränzung im Rahmen eines Agons. Die Ehrungerleihung bei den Dionysien lässt sich allerdings anhand zahlreicher späterer historischer Parallelen sicher rekonstruieren. Vgl. IG I3 102, Z. 6. Die Annäherung wird auch von Shear 2011, 141–146 sowie explizit 153 und 163 hervorgehoben.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
benannt.1262 Ich habe bereits oben angemerkt, dass der Befund durchaus problematisch ist, da sich die Belege für die Nennung des erweiterten Funktionärskreises auf lediglich fünf Stelen finden, von denen nur eine einzige fest datiert werden kann. Es handelt sich um IG I3 1191, die aufgrund prosoporaphischer Angaben und der Nennung des Titels ἄρχον τῶ ναθτικῶ in das Jahr 410/09 v.Chr. datiert wird. Zwei weitere Inschriften (IG I3 1186 und 1190) werden aufgrund paläographischer und formaler Ähnlichkeiten mit IG I3 1191 in zeitliche Nähe zu dieser gerückt, während eine weitere Inschrift nur grob in die Zeit des Dekeleischen Kriges datiert wird (IG I3 1192). Die letzte Liste wiederum wurde von Donald Bradeen aufgrund von „some points of resemblance“, die er zu der auf das Jahr 447 v.Chr. datierten Gefallenenliste (IG I3 1162) sah, bereits in die Mitte des 5. Jh. v.Chr. datiert. Da das Stück aber verloren ist und Bradeen außer einer Zeichnung von Pittakis wohl weder Fotos noch Abklatsche vorlagen, ist diese Datierung, die zudem von David Lewis aus Notizen aus Bradeens Nachlass abgeleitet wurde, mit gewisser Skepsis zu bertrachten.1263 Es liegen demnach ein fest datiertes Stück vor, das in die Zeit nach 411 v.Chr. gehört, drei Stücke, die nicht exakt datiert werden können, sich aber der Zeit nach 411 v.Chr. gut zuordnen ließen, sowie eine weitere Liste, die möglicherweise bereits früher entstand, deren Datierung allerdings nicht auf Autopsie beruht und daher problematisch erscheint. Demnach aber wäre es durchaus möglich, dass alle Gefallenenlisten, die den ausgedehnten Kreis der Funktionsträger nannten, erst nach 411 v.Chr. entstanden und somit ein Produkt der wiedererstarkten Demokratie waren. Ich möchte daher vorschlagen, dass diese Expilzierung der Funktionen auf den Gefallenenlisten ebenfalls als eine Reaktion auf den oligarchischen Umsturz des Jahres 411 v.Chr. zu sehen ist. Wie die von Julia Shear herausgearbeiteten Maßnahmen zeigen, sahen die demokratischen Führer offensichtlich einen Bedarf, die Funktionsfähigkeit der Demokratie zu demonstrieren, um oligarchische Sympatisanten abzuschrecken und die Bürgerschaft hinter der demokratischen Ordnung zu einen. Teil dieser Demonstration war nun eben auch die Zurschaustellung 1262 1263
Siehe zur Orientierung die Tabelle mit der Nennung der Funktionsträger, Allierten etc. im Anhang. IG I3 1186 wurde in der Vergangenheit häufig mit der Sizilienexpedition in Verbindung gesetzt und würde somit früher datieren als 411 v.Chr. Bradeen 1969, 157–159 argumentiert, dass die Liste keinesfalls das alleinige Monument für die große Niederlage des Jahres 412 v.Chr. gewesen sein könne, da es hierfür nicht groß genug gewesen wäre. Er räumt allerdings ein, dass sich das Monument möglicherweise auf einen Teil der Gefallenen bezog und dabei vielleicht erst mit einigem zeitlichen Abstand entstand, da sich erst im Laufe der Folgejahre für einzelne Athener geklärt haben dürfte, ob diese tatsächlich umgekommen oder nicht vielmehr in Gefangenschaft und Sklaverei geraten waren. Eine Datierung nach 411 v.Chr. wäre daher durchaus möglich. Schließlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Liste auch überhaupt keinen Bezug zur Sizilienexpedition hatte. Ähnlich gestaltet sich die Situation für IG I3 1190. IG I3 1192 (= Agora XVII 22) wiederum bietet noch weniger Hinweise auf eine konkrete Datierung und wird aufgrund paläographischer Kriterien nur grob dem Dekeleischen Krieg zugeordnet. Mit IG I3 1191 (= Agora XVII 23) findet sich nun gerade eine der wenigen Gefallenenlisten, die aufgrund der genannten Personen fest datiert werden können. Konkret handelt es sich bei dem
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
der Fähigkeit, verdienten Bürgern und anderen Unterstützern Ehrungen zukommen zu lassen, ohne dass hierdurch die isonome Ordnung gefährdet wurde. Dies war besonders dann gefahrlos möglich, wenn die polis entweder gleich eine ganze Gruppe ehrte und somit die einzelnen Individuen wieder weitgehend in den Hintergrund drängte oder wenn sie ein Individuum ehrte, das nicht Teil der Bürgergemeinschaft war. Xenoi wie etwa Thrasyboulos konnten nur auf derartige Weise ausgezeichnet werden, weil ihre Ehrung keine Disruption des isonomen Bürgerschaftsgedanken mit sich brachte. Schon zuvor waren Fremde dementsprechend vermutlich von anderen Restriktionen wie etwa den Grabluxusgesetzen ausgenommen worden, die die Freiheiten der attischen Bürger deutlich einschränkten.1264 Freilich wurde Thrasyboulos im Zuge seiner Ehrung auch zum attischen Bürger gemacht. Doch stellte diese Statusveränderung den Gipfel der ihm zugestandenen Ehren dar. Er wurde nicht zum Bürger gemacht, der dann zusätzlich mit einem Kranz geehrt wurde. Stattdessen war er ein xenos, der mit einem Kranz und anderen Ehren bedacht wurde und der dann zusätzlich als höchste Auszeichnung noch das attische Bürgerrecht verliehen bekam.1265 So konnte er problemlos in die Bürgergemeinschaft eingefügt werden, da seine Bekränzung noch außerhalb derselben vollzogen worden war. Wie die xenoi konnten daher auch die Kriegstoten als einzige attische Bürger die besonderen Ehrungen eines Gefallenenbegräbnisses erfahren, weil sie selbst hieraus kein weiteres Kapital mehr schlagen konnten und ihre Ehrung somit ‚ungefährlich’ war. Sie konnten in gewissem
1264 1265
in Zeile 107 genannten Pasiphon mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Sohn des Phrearrhios, der 410/ 09 v.Chr. einer der Strategen der Athener auf Samos war (vgl. auch PAA 768020 und 768025). Vermutlich erklärt sich so auch die ungewöhnliche Bezeichnung als ἄρχον τῶ ναυτικῶ, da er durch die Flotte bei Samos gewählt worden war und nicht mittels des üblichen Weges in Athen. Problematisch für die hier vorgeschlagene These ist eben einzig IG I3 1166. Das Stück, das ohnehin nur fragmentarisch erhalten war, ist heute verloren. Laut Bradeen/Lewis 1979, 242 sei das Stück aufgrund von „some points of resemblance“, die Bradeen zu der auf das Jahr 447 v.Chr. datierten Gefallenenliste (IG I3 1162) sah, ebenfalls in die Mitte des 5. Jh. v.Chr. zu datieren. Dabei konnte sich Bradeen allerdings wohl nur auf die Zeichnung von Pittakis berufen, nicht auf das Original oder einen Abklatsch. Clairmont 1983, 316 Anm. 91 äußert aus ebendiesen Gründen Zweifel. Gleichzeitig unterliegt er dem Zirkelschluss, dass er das Stück später datieren will, weil er davon ausgeht, dass Nennungen von Trierarchen erst ab dem späten 5.Jh. v.Chr. auf den Listen zu finden sind. Tatsächlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei IG I3 1166 um ein frühes Beispiel für eine Nennung von Trierarchen handelte. Gleichwohl ist Skepsis bezüglich der Datierung durch Bradeen geboten, solange das Originalstück nicht zum Abgleich vorliegt. Zur Datierung der Gefallenenlisten kommentiert Bradeen 1969, 147 selbst: „Be that as it may, one of the most disappointing things about the lists is the difficulty in dating them. Only five can be definitely dated from internal evidence, thus giving fixed points in the series. These are IG i2. 928 in 464;’ IG i2. 929 in 460;2IG i2. 945 in 432;3IG i2. 949 in 423;4and SEG xxi. 131 in 409.“ Vgl. Stroszeck 2002/03, 176; Hildebrandt 2006, 204f. Siehe zu dieser Frage auch Brown-Ferrario 2006, 86–88. Diese Abfolge mag auch im Ehrendekret deutlich werden, das zuerst die Bekränzung nennt und dann in einem zweiten Antrag die Verleihung des Bürgerrechts.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Maße eine Überhöhung erfahren, weil sie außerhalb der Gruppe der lebenden Bürger standen und somit nicht mehr den gleichen Beschränkungen unterlagen. Wenn nun aber die demokratische polis neue Modi und Möglichkeiten von Ehrungen suchte, mit denen sie verdiente Bürger auszeichnen und zugleich das Bild des ‚guten Bürgers’ weiter stärken und zur Nachahmung empfehlen wollte, muss sich auch das Gefallenenbegräbnis hierfür angeboten haben. Jeder Kriegstote hatte zweifelsohne eine bemerkenswete Leistung für die polis erbracht und seine Auszeichnung war gefahrlos möglich, da er selbst hieraus kein weiteres Kapital schlagen und so die isonome Ordnung durchbrechen konnte. Nichts sprach also dagegen, Bürgern, die im Kampf für die polis gefallen waren und die zudem noch innerhalb des Systems besondere Aufgaben und Lasten übernommen hatten, auch zusätzliche Anerkennung zu gewähren und ihr Vorbild zur Nachahmung zu empfehlen, indem ihr Amt bzw. ihre Funktion auf den Gefallenenlisten mitangegeben wurde. Besonders möchte ich hierbei auf den Umstand verweisen, dass ausgerechnet die Gruppe der Trierarchen in besonders großer Zahl auf den besprochenen fünf Gefallenenlisten erscheint. Glaubt man nämlich den Quellen und insbesondere der Darstellung des Thukydides waren es gerade die Trierarchen bzw. jene Gruppe reicher Bürger, aus der die Trierarchen rekrutiert wurden, die in wesentlichem Maße zum Sturz der Demokratie im Sommer 411 v.Chr. beigetragen hatten. So seien es die Trierarchen und die Mächtigsten der Athener („οἱ ἐν τῇ Σάμῳ τριήραρχοί τε τῶν Ἀθηναίων καὶ δυνατώτατοι“)1266 gewesen, die den politischen Umsturz geplant und versucht hätten, die Flotte bei Samos gegen die Demokratie aufzubringen. Freilich bedient der Autor hier den topos des oligarchisch gesonnenen Trierarchen und des demokratischen ναυτικὸς ὄχλος.1267 Doch sollte diese überspitzende Darstellung nicht davon ablenken, dass dieser Gruppe von reichen Athenern im andauernden Kriegszustand tatsächlich eine kritische Rolle zukam. Die Trierarchen kommandierten schließlich nicht nur die Schiffe, die die Dominanz und Existenz Athens sicherten. Sie waren auch für deren Ausrüstung, Instandhaltung und ihre gesamte Finanzierung zuständig. In dieser Position waren sie nicht nur für die Wehrfähigkeit der attischen Flotte verantwortlich; sie hatten auch unmittelbaren Einfluss auf den Lebensstandard und die Überlebenschancen ihrer jeweiligen Schiffsmannschaft. Zweifelsohne kamen ihnen damit auch großes soziopolitisches Kapital und entsprechende Einflussmöglichkeiten zu. Gleichzeitig musste die Dauerbelastung, die der Peloponnesische Krieg insbesondere für die Flotte mit sich brachte, auch die Nerven, Geldbörsen und Gesundheit der Trierarchen besonders strapazieren. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn gerade Mitglieder dieser Klasse unzufrieden mit der politischen Führung waren. Sie mussten zunehmend zusätzliche Belastungen (er)tragen, erhielten dafür aber keine zusätzliche Anerkennung. Die Frustration hierüber wurde denn auch in 1266 1267
Thuk. 8.47.2. Vgl. etwa auch Thuk. 8.72.2.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
der Formel sichtbar, die die Oligarchen für die Bestimmung der Bürgerklasse wählten: Politische Rechte sollten nur jene 5000 Athener haben, die dem Staat am besten ‚unter Einsatz ihres Körpers und ihres Vermögens’ (τοῖς χρήμασι καὶ τοῖς σώμασιν) dienen könnten.1268 Auch die Demokraten, die ab 410 v.Chr. die alte Ordnung wiedererrichteten, erkannten die enorme Belastung für die Gruppe der reichen Athener, zu der freilich auch die führenden Männer der demokratischen Partei selbst gehörten, und sahen aktuen Handlungsbedarf. Bereits kurz nach der Wiederherstellung der Ordnung führten sie daher die Syntrierarchie ein, die es zwei oder mehr Bürgern auf deren Wunsch erlaubte, sich die Unterhaltskosten und das Kommando über eine Triere zu teilen.1269 Vermutlich zur gleichen Zeit wurde auch die Sperrfrist, die Bürger davor schützen sollte, zwei Jahre in Folge eine Trierarchie übernehmen zu müssen von einem Jahr auf zwei Jahre erweitert. Schließlich wurde ebenfalls zum Ende des 5. Jh. v.Chr. die Synchoregie eingeführt. Auf diese Weise sollte die Gruppe der reichen Athener sowohl monetär als auch zeitlich entlastet werden. Die Maßnahmen wurden offensichtlich wohlwollend angenommen, brachten aber auch Probleme mit sich, da nun eine sehr viel größere Zahl an Leiturgieleistenden benötigt wurde. Freilich konnte nun auch die Klasse der Leiturgieverpflichteten erweitert werden, da weniger Vermögen notwendig war, um sich an einer Trierarchie zu beteiligen. Doch sprechen insbesondere Quellen aus dem 4. Jh. v.Chr. dafür, dass sich oftmals nicht genug Leiturgieträger fanden. Ob dieses Problem bereits 410 v.Chr. und in den Folgejahren bestand, ist allerdings nicht bekannt. Sicher ist hingegen, dass neben der Einführung der Syntrierarchie noch weitere Maßnahmen unternommen wurden, um die Trierarchie attraktiver zu machen. Ein besonderer Quell für Unzufriedenheit unter den Trierarchen bestand wohl in Streitigkeiten um die Übergabe der Trieren und der vom Staat gestellten Ausrüstung. Wiederum sind es vor allem Quellen des 4. Jh. v.Chr., die im Kontext der Gerichtsreden von entsprechenden Streitigkeiten berichten.1270 Doch auch im 5. Jh. v.Chr. scheint das Problem eine gewisse Brisanz gehabt zu haben. Unter den Gesetzen, die nach 411 v.Chr. als erstes neu eingeschrieben wurden, fand sich nämlich auch ein Dekret, dass die Rechte und Pflichten der Trierarchen regelte und dabei besonderes Augenmerk auf die Übergabe von Schiff und Materialien von einem Trierarchen an den nächsten legte.1271 Die Tatsache, dass dieses Gesetz als eines der ersten neu eingeschrieben und auf der Agora aufgestellt wurde, spricht für seine Relevanz und bezeugt erneut den Versuch, die Trierarchie so attraktiv wie möglich zu machen. In diesem Fall sollte den Trierarchen Rechtssicherheit gegeben und
1268 1269
1270 1271
Siehe Thuk. 8.65.3 und Arist. Ath. pol 29.5. Die Einführung der Syntrierarchie wurde spätestens 408/7 v.Chr. vollzogen, möglicherweise aber bereits 409/8 oder 410/9 v.Chr. Siehe hierzu und zum Folgenden Gabrielsen 1994, 173–182. Siehe etwa Demosth. 47. Vgl. weiter Gabrielsen 1994, 149–157. IG I3 236. Zur Datierung siehe Shear 2001, 78.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
verhindert werden, dass sie mit zusätzlichen Ausgaben oder gar einer langwierigen Klage vor Gericht belastet würden.1272 Wir können somit eine ganze Reihe von Maßnahmen fassen, die dezidiert darauf abzielten, die Belastungen, die eine Trierarchie mit sich brachte, zu reduzieren. Die Demokraten hatten die Sorgen und Unzufriedenheiten vieler reicher Athener erkannt und bemühten sich um einen Ausgleich, der die Akzeptanz dieser Form der Leiturgie und der zugrundeliegendenen Ordnung bestärken sollte. Vor diesem Hintergrund wird nun vorstellbar, dass die Athener noch weitere Maßnahmen zur Beförderung dieser Akzeptanz umsetzten und eben auch beschlossen, von nun ab Trierarchen im Falle ihres Todes mit dem entsprechenden Titel in den Gefallenenlisten zu markieren. So wurde publik gemacht, dass sie sich nicht nur mit ihrem Körper für die patris eingesetzt hatten, sondern dass sie diese eben auch mit ihrem Vermögen unterstützt und zudem die Verantwortung für eine Triere und deren Besatzung übernommen hatten. Die zusätzliche Verantwortung und Belastung sollte auch durch zusätzliche Anerkennung belohnt werden, während gleichzeitig das Risiko einer Höherstellung innerhalb der Gruppe der lebenden Bürger vermieden wurde. Vielmehr wurde der Tote als pflichtbewusster Bürger gezeigt, der innerhalb der demokratischen Ordnung ein bestimmtes Amt ausgeübt hatte und in dessen Pflichterfüllung gestorben war. Damit aber wurde auch das politische System selbst wieder bestätigt und andere Bürger weiter zur Nachahmung angehalten. Ob in diesem Kontext die Ehrung der anderen Funktionäre wie Taxiarchen, Phylarchen etc. eine nachgeschobene Idee darstellte oder ob von vorneherein angedacht war, den Kreis der kommemorierten Funktionsträger auch auf diese Gruppen zu erweitern, vermag ich nicht zu entscheiden. In jedem Fall aber erscheint es schlüssig, die Erweiterung des Kommemorationsrahmens als Reaktion auf die Umwürfe des Jahres 411 v.Chr. und die darin zutage getretenen Unzufriedenheiten in Teilen der Bevölkerung zu sehen. Indem die polis so reagierte, zeigte sie, dass sie die Bedürfnisse aller Athener, selbst jener, die gegen die bestehende Ordnung rebelliert hatten, ernst nahm und mit entsprechenden Maßnahmen hierauf reagierte. Dennoch kam es 403 v.Chr. mit der Niederlage der Athener erneut zum oligarchischen Umsturz, der diesmal auch deutlich einschneidender ausfiel, eine signifikante Zahl an Todesopfern forderte und erst nach schweren Kämpfen zwischen den demokratischen und den oligarchischen Lagern durch die Vermittlung des Spartanerkönigs Pausanias überwunden werden konnte. Wie schon in der Folge des Umsturzes von 411 v.Chr. reagierte die restituierte demokratische polis auch dies-
1272
Freilich hatte das Gesetz darüber hinaus Bedeutung, weil Athen sich eben im Kriegszustand befand und auf die Flotte angewiesen war. Es lag also im höchsten Interesse der polis, sicherzustellen, dass ihre Schiffe adäquat ausgerüstet waren und die zuständigen Trierarchen Klarheit über ihre Rechte und Pflichten besaßen.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
mal mit Veränderungen in der Erinnungspolitik, die sich nun allerdings nicht alleine auf eine Ausweitung der Ehren beschränkten, sondern das System zur Verteilung von Ehren und Monumenten grundlegend modifizierten. Bevor ich mich allerdings näher mit diesen Veränderungen auseinandersetze, will ich zunächst noch betrachten, wie mit den Toten umgegangen wurde, die 403 v.Chr. im Kampf um die politische Vorherrschaft in Athen ihr Leben verloren hatten. Das einzige Grabmonument, das aus diesem Kontext bekannt ist, galt dabei bezeichnenderweise gerade nicht athenischen Bürgern. Es handelt sich um das Grabmal der Lakedaimonier, das vor dem Dipylon errichtet wurde und weiter oben bereits besporchen wurde.1273 Wie ich dort dargelegt habe, war das Monument vermutlich durch die attischen Oligarchen für die Spartaner errichtet worden, die zu ihrer Unterstützung angereist und in den Kämpfen gegen die Demokraten gefallen waren. Die Dreißig besorgten die Bestattung der Spartaner, um ihren Verbündeten eine besondere Ehre zu erweisen und sich so ihrer andauernden Unterstützung zu versichern. Sie bedienten sich dabei einer Strategie der demokratischen polis, die bekanntermaßen zu einzelnen Anlässen den Gefallenen verbündeter poleis die Ehre einer eigenen staatlichen Bestattung im Kerameikos gewährt hatte, um so deren Einsatz zu goutieren und ihre Bindung an Athen zu stärken.1274 Bezüglich der Opfer aus ihren eigenen Reihen wählten die Dreißig hingegen offenbar eine andere Vorgehensweise. Zwar lassen sich keine konkreten Monumente für einzelne Gefallene der Dreißig nachweisen, doch gibt Xenophon in seiner Beschreibung eines Angriffs auf die Truppen der Dreißig nahe Phyle einen entscheidenden Hinweis. Er erwähnt, dass die Gefallenen auf Seiten der Oligarchen nach der Schlacht von ihren Angehörigen geborgen worden seien: οἱ δὲ ἐξ ἄστεως ἱππεῖς βοηθήσαντες τῶν μὲν πολεμίων οὐδένα ἔτι εἶδον, προσμείναντες δὲ ἕως τοὺς νεκροὺς ἀνείλοντο οἱ προσήκοντες ἀνεχώρησαν εἰς ἄστυ.1275
Es handelt sich hierbei um den einzigen Hinweis, den die Quellen zum Umgang der Dreißig mit ihren Gefallenen liefern. Denn wenn wir auch einige der oligarchischen Opfer namentlich kennen, finden sich keine Anzeichen dafür, wie mit ihnen nach ihrem Tod verfahren wurde.1276 Wenn wir Xenophons Formulierung wörtlich nehmen, ließe sich hieraus Ableiten, dass die Sorge um die Gefallenen wie einst vor der Einführung des staatlichen Gefallenenbegräbnisses in die Hand der Kameraden oder der Verwandten zurückgefallen war. Nun lässt sich nicht 1273 1274 1275 1276
S.o. 2. II Sparta. Man denke etwa an die Gräber für die Argiver, Plataier und Kleonier. Xen. Hell 2.4.7. Siehe u.a. Diod. Sic. 14.33.1 (Schlacht bei Acharnai – signifikante Verluste aufseiten der Truppen der Dreißig); 14.33.2f. (Schlacht von Munychia – Tod des Kritias); Xen. Hell. 2.4.5–7 (Angriff auf Truppen der Dreißig, die 120 Hopliten und einen der Reiter, Nikostratos, verlieren; Bergung durch Angehörige);
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
ausschließen, dass Xenophon den Sachverhalt hier nur verkürzt darstellte oder bewusst einen Gegensatz zum patrios nomos aufbauen wollte. Doch würde die Rückgabe der Bestattungsverpflichtung an die Familien der Toten sich mit jenen Ambitionen und Wünschen decken, die wir bereits auf Seiten der oligarchisch gesinnten oder sympathisierenden Athener festgestellt haben. Denn schließlich zeigt die Errichtung der Zweitgräber eindeutig, dass ein Teil der attischen Familien die Sorge für ihre Toten wieder für sich reklammieren wollte. M.E. können daher keine Zweifel daran bestehen, dass Xenophons Zeugnis beim Wort zu nehmen ist und dass unter den Oligarchen jede Familie wieder für ihre eigenen Toten zuständig war und sich nach Gutdünken ihrer Bestattung und der Form des Grabmonuments annehmen konnte. Wie war es nun um die gefallenen Athener auf Seiten der Demokraten bestellt? Erneut bezeugen die literarischen Quellen zwar durchaus signifikante Verluste für die demokratische Partei,1277 bewahren jedoch weitestgehend Stillschweigen hinsichtlich ihrer Bestattung. Wiederum bildet Xenophon eine Ausnahme. Er berichtet, dass der Seher, der auf Seiten der Demokraten bei den Kämpfen im Piräus umgekommen sei, nachdem er zuvor seinen eigenen Tod vorausgesagt hatte, am Übergang über den Kephisos begraben liege. Der Mantis hätte demnach wohl ein individuelles Grab erhalten, womit auch ein reguläres Gefallenenbegräbnis aller Opfer ausgeschlossen scheint.1278 Die Stelle, der eine Rede des Thrasyboulos vorausgeht, ist jedoch wohl kaum wörtlich zu nehmen und diente vielmehr der dramatischen Zuspitzung der Episode, zumal Xenophon den Namen des vermeintlichen Sehers schuldig bleibt, während er auf Seiten der Dreißig gleich mehere Gefallene namentlich benennt. Wenden wir uns daher dem zweiten Zeugnis zu diesem Komplex zu: Im epitaphios logos des Lysias hebt der Autor explizit hervor, dass die polis jene xenoi, die im Kampf gegen die Dreißig gefallen waren, δημοσίᾳ bestattet und ihnen die gleichen Ehren wie den Bürgern zukommen lassen habe.1279 Zumindest die xenoi erhielten demnach ein Grab im Kerameikos, wie es vor ihnen schon den Argivern und anderen Verbündeten zuteil geworden war. Gleichzeitig sollte hieraus
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1278
1279
2.4.19 (Dreißig verlieren Kritias, Hippomachos, Charmides und 70 weitere Männer); 2.4.27 (Piräusepartei tötet einen Reiter der Dreißig, Kallistratos aus der Phyle Leontis). Für keinen der namentlich genannten Männer lässt sich ein Grabmal identifizieren. Vgl. u.a. Xen. Hell. 2.4.32–35 (Zusammenstoß zwischen Spartanern unter Pausanias und Piräuspartei. Tote bei Spartanern, die im Grab am Dipylon beigesetzt sind; auf Piräusseite 150 gefallene Hopliten und 70 gefallene Leichtbewaffnete). Zwar berichten weder Xenophon noch Diodor von Verlusten auf Seiten der Demokraten bei dem Gefecht im Piräus, doch sollte Xenophons Angabe von mehr als 70 Toten auf Seiten der Dreißig stimmen, so wäre auch auf demokratischer Seite zumindest von einer kleinen Zahl Gefallener auszugehen. Gemäß der üblichen Verfahrensweise des patrios nomos hätte der Seher ohnehin mit den übrigen Gefallenen des gesamten Jahres beigesetzt werden müssen. Lys. or. 2.66.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
aber nicht geschlossen werden, dass auch die attischen Bürger ein reguläres Gefallenenbegräbnis erhielten. Denn wenn Lysias berichtet, die xenoi erhielten dieselben Ehren wie die attischen Bürger, so bezieht er sich auf alle gefallenen Athener, die im Kerameikos in einem Staatsgrab bestattet worden waren, nicht aber explizit auf jene attischen Bürger, die im Kampf gegen die Dreißig umkamen. Bezüglich der attischen Bürger, die sich in Phyle gesammelt hatten, verkündet er lediglich, diese seien in ihrer geistigen Disposition den Taten der im Kerameikos bestatteten Kriegstoten verwandt gewesen: οἱ δὲ κατελθόντες αὐτῶν, ἀδελφὰ τὰ βουλεύματα τοῖς ἔργοις τῶν ἐνθάδε κειμένων ἐπιδεικνύντες1280
Diese explizite Unterscheidung zwischen Gesinnung und Taten kommt aber m.E. nicht von ungefähr. Vielmehr spricht sie dafür, dass die gefallenen Bürger eben kein Staatsgrab im Kerameikos erhielten, sondern in anderer Form bestattet wurden. Die Formulierung des Lysias sollte alle demokratischen Widerständler (lebende wie verstorbene) in die Nähe der Kriegstoten rücken, während sie aber gleichzeitig deutlich machte, dass hier weiterhin ein Unterschied bestand.1281 Auch das sogenannte Dekret des Theozotides spricht schließlich dagegen, dass die gefallenen Bürger auf Seiten der Demokraten ein reguläres Gefallenenbegräbnis erhielten. Es erklärt, dass die Kinder ebenjener gefallenenen Bürger dieselben Rechte erhalten sollten, die auch den Kindern regulärer Gefallener zustanden. Der Fakt aber, dass es überhaupt notwendig war, erst noch zu spezifizieren, dass die Ansprüche dieselben waren, zeigt, dass die gefallenen Demokraten eben kein reguläres Gefallenenbegräbnis erhalten hatten. Die Tatsache, dass die xenoi eine öffentliche Bestattung erhielten, diese den Bürgern aber offensichtlich verwehrt blieb, spricht dabei im Übrigen für eine bewusste Vermeidung, da das Ausbleiben eines Staatsgebräbnisses offensichtlich nicht alleine der unübersichtlichen Situation und dem ungewissen Ausgang des Konflikts geschuldet war. Denn wenn die xenoi nach Überwindung der stasis ein solches Begräbnis erhalten konnten, wäre dies freilich auch im Falle der Bürger möglich gewesen. Möglicherweise wurde ein reguläres Gefallenengrab für die getöteten Demokraten als Hindernis auf dem Weg zu einer Aussöhnung gesehen, da es die Spaltung der Bürgerschaft nochmals verdeutlicht und die Gefallenen auf Seiten der Dreißig als Verräter gebrandmarkt hätte. Wie
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Lys. or. 2.64. Auch Shear 2001, 255 spricht von einer Annäherung der Toten an die Kriegsgefallenen, scheint aber davon auszugehen, dass es sich eben nicht um ein reguläres Gefallenenbegräbnis handelte. Ihre Überlegung, dass die Opfer unter den Demokraten im Kerameikos beigesetzt worden sein mögen, spricht dabei keineswegs gegen die hier vorgebrachte These, sondern hätte die Annäherung nur noch bestärkt.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
aber die Quellen zeigen, waren die Demokraten explizit darum bemüht, nur die Dreißig und die anderen Führungspersönlichkeiten der Oligarchen als Feinde zu zeichnen, während sie mit den restlichen Anhängern der oligarchischen Partei die Aussöhnung suchten.1282 Diese Feststellung ist aber wichtig, weil sie verdeutlicht, dass die Athener sich 403 v.Chr. nicht prinzipiell vom patrios nomos abwandten, sondern auf eine konkrete, exzeptionelle Situation mit einer dezidierten, einmaligen Abweichung vom üblichen Brauch reagierten. Dies wird weiter bestätigt durch die Gefallenenliste und das Reiteranthemion für die Opfer des ersten Jahres des Korinthischen Krieges, 394 v.Chr., die beide die Opfer unterschiedlicher Konflikte kommemorierten und daher als Jahresbegräbnisse im üblichen Sinne zu verstehen sind.1283 Obwohl sich somit aus den Ereignissen des Jahres 404/3 v.Chr. keine unmittelbaren Veränderungen für den patrios nomos ergaben, muss in der demokratischen Reaktionen auf den erneuten Umsturz dennoch der Grundstein für einen erneuten signifikanten Wandel des Gefallenenbegräbnisses gesehen werden, der schließlich auch eine Erklärung für das scheinbare Verschwinden des Brauches im 4. Jh. v.Chr. liefert. Wie bereits nach 411 v.Chr. beschloss die wiedererstarkte Demokratie nämlich auch nach 403 v.Chr. eine ganze Reihe von Maßnahmen, die ihre Handlungsfähigkeit auf legislativer, topographischer und eben auch kommemorativer Ebene demonstrieren sollte.1284 Wieder schloss dies auch Ehrungen jener Personen ein, die sich im Kampf gegen das oligarchische Regime besonders verdient gemacht hatten und wieder wurde zwischen unterschiedlichen Gruppen und unterschiedlichen Graden der Auszeichnung differenziert. So wurden die xenoi erneut entsprechend ihrer Leistung für die Wiederherstellung der Demokratie ausgezeichnet, indem jene Fremden, die den Athenern bereits in Phyle zur Seite standen, mit dem attischen Bürgerrecht ausgezeichnet wurden, während jene, die zu einem späteren Zeitpunkt zur Untersützung der Demokraten kamen, mit entsprechend geringeren Ehren bedacht wurden.1285 Auch attische Bürger wurden für ihren Einsatz ausgezeichnet. So wurde beschlossen, dass jene Bürger, die mit Thrasyboulos bereits in Phyle gegen die Oligarchen gestanden und somit den Kern des demokratischen Widerstands gebildet hatten, mit einem Olivenkranz geehrt werden und jeder eine gewisse Summe
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1283 1284 1285
Vgl. Arist. Ath. pol. 39; Xen. Hell. 2.4.42f.; Diod. Sic. 14.33.6. Vgl. auch Shear 2011, sowie Wolpert 2002, passim. IG II/III2 5221 und 5222. Siehe hierzu und zum Folgenden Shear 2011 und 2007. Das entsprechende Dekret, das auf der Akropolis errichtet wurde, ist nur fragmentarisch erhalten (IG II/III2 10 + 2403), doch lassen sich weitere Details aus späteren Quellen ableiten. Siehe hierzu Rhodes/ Osborne 2003, 20–27 Nr. 4.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
für Opfergaben und Weihungen aus dem Staatsschatz erhalten sollte. Das betreffende Dekret wurde als Inschrift auf der Agora aufgestellt und ist fragmentarisch auf uns gekommen.1286 Ebendiese Ehrung stellt nun aber eine fundamentale Neuerung in den attischen Kommemorationspraktiken dar, weil hier erstmal eine ausgewählte Gruppe noch lebender attischer Bürger durch ein Ehrenmonument ausgezeichnet wurde.1287 Wie ich im Vorangegangenen dargelegt habe, waren Ehrungen für kleinere Gruppen oder individuelle attische Bürger bisher vermieden worden, weil sie die ideologische Grundlage der isonomia der attischen Bürgerschaft durchbrochen hätten. Einzig xenoi oder tote Athener, die außerhalb der Gruppe der attischen Bürger standen, konnten ausgezeichnet werden, ohne dass dieses Risiko bestand. Offensichtlich hatten die demokratischen Führer nach dem zweiten oligarchischen Umsturz innerhalb weniger Jahre nun aber erkannt, dass die restriktive Honorarpolitik des frühen 5. Jh. v.Chr. unter den veränderten Umständen nicht mehr ausreichte. Sie beschlossen daher, den Kreis der Ehrfähigen zu erweitern und zumindest bestimmte Gruppen von Bürgern, die sich um die polis verdient gemacht hatten, noch zu Lebzeiten zu ehren. Derart boten sie einerseits den Bürgern die geforderte Möglichkeit zur öffentlichen Anerkennung ihrer Leistungen durch die polis und schufen andererseits Vorbilder, die den übrigen Bürgern zur Nachahmung empfohlen wurden. Erneut berufe ich mich hierbei auf die Ergebnisse von Julia Shear, die den Komplex und seine Entwicklung bis in das 4. Jh. v.Chr. hinein sorgfältig nachgezeichnet hat.1288 Sie kann zeigen, wie die Ehrung der Männer von Phyle als Stein des Anstoßes fungierte, dem eine stetige und immer schnellere Ausweitung der Honorarpraktiken folgte. Bereits 394/3 v.Chr. wurden auf der Agora individuelle Ehrenstatuen für den Strategen Konon und Euagoras von Salamis errichtet, die aufgrund ihrer militärischen Leistungen gefeiert wurden.1289 Es handelte sich hierbei um die ersten individuellen Statuen auf der Agora, seit ein Jahrhundert zuvor die Gruppe der Tyrannenmörder errichtet worden war, und um die ersten Ehrenstatuen für lebende Athener überhaupt. Innerhalb der nächsten 20 Jahre folgten mindestens drei weitere Statuen für erfolgreiche Generäle sowie zahlreiche Ehrendekrete, die Bürger für Verdienste anderer Art auszeichneten. So wurde also sowohl der Kreis der auszuzeichnenden Personen als auch der gewürdigten Leistungen ausgeweitet. Es war eben nicht mehr alleine der Tod in der Schlacht, der einen Athener ‚ehrwürdig’ machte. Auch andere Leistungen im militärischen und zivilen Bereich konnten nun eine Ehrung des Einzelnen bedingen.1290 1286
1287 1288 1289 1290
Das fragmentarische Dekret (SEG 28.45) wird durch Aisch. 3.187–191 ergänzt, der die wesentlichen Bestimmungen sowie das Epigramm wiedergibt. Vgl. hierzu und zum Folgenden wieder Shear 2011 (insb. 270–285) und 2007. Siehe Shear 2011 und 2007. Konon: Demost. or. 20.69f. Euagoras: Rhodes/Osborne 2003, 50–54 Nr. 11). Brown Ferrario 2006, 95f. verweist etwa darauf, dass auch die Speisung im Prytaneion für attische Bürger, die als Gesandte gewirkt hatten, wohl bereits in der Zeit des Peloponnesischen Krieges oder
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Eben aus diesen Veränderungen lässt sich nun auch ein Verständnis dafür gewinnen, warum das Gefallenenbegräbnis im frühen 4. Jh. v.Chr. einen erneuten Wandel durchlebte. Denn wenn sich auch weiterhin keine konkrete Entwicklungslinie aufzeigen lässt, die zum Verschwinden des Gefallenenbegräbnisses führte, so lässt sich anhand der hier dargelegten Entwicklungen der attischen Honorarpraktiken doch nachvollziehen, warum das Gefallenenbegräbnis an Bedeutung verlor. Wenn sich nämlich die Honorarpraktiken der Athener innerhalb kurzer Zeit derart einschneidend veränderten und 394/3 v.Chr. bereits eine so offensive Ehrung, wie sie Konon und Euagoras erfuhren, möglich war, muss sich dies auch auf die Wirkung und Bewertung des Gefallenenbegräbnisses niedergeschlagen haben. In der Zeit der Pentekontaetie waren die Bestattung im demosion sema und die Nennung auf einer Gefallenenliste die höchstmögliche Auszeichnung für einen Athener. Ein verdienter Feldherr und Politiker aus reichem Hause wurde dabei in der gleichen Weise und gemeinsam mit einem einfachen Bauern oder Tagelöhner geehrt. Nun aber konnten einzelne Gruppen und Individuen für ihre Leistungen mit Dekreten, rituellen Begünstigungen oder gar einer individuellen Ehrernstatue auf der Agora geehrt werden und diese Ehrungen sogar selbst noch sehen und erleben. Demgegenüber muss die kollektive Bestattung, bei der das Individuum weitestgehend in der Masse der Toten verschwand, zwangsläufig signifikant an Attraktivität verloren haben. Das Ideal einer konsequenten isonomia, das im Zentrum des Gefallenenbegräbnisses stand und entscheidend für seine Akzeptanz und Attraktivität war, wurde zunehmend aufgelockert. Die demokratische polis öffnete und weitete ihre Honorarpraktiken aus und reagierte so auf ein offenkundig erhöhtes Bedürfnis individueller Anerkennung und Repräsentation weiter Teile der Gesellschaft, das sich ab dem letzten Drittel des 5. Jh. v.Chr. in zahlreichen Lebensbereichen manifestierte. So ist etwa auch das Wiedereinsetzen der aufwendigen Grabreliefstelen in diesem Kontext zu sehen.1291 Indem die polis so handelte, versicherte sie sich auf der einen Seite der Akzeptanz des Systems durch einige der wichtigsten Gruppen des Gemeinwesens und stellte so auch dessen Überlebensfähigkeit sicher. Auf der anderen Seite wurden durch die Maßnahmen auch zentrale Aspekte wie der Isonomiegedanke gelockert, wodurch auch einige etablierte Praktiken und Rituale wie das Gefallenenbegräbnis an Wirkmacht verloren und möglicherweise obsolet wurden. Auch wenn wir daher eine konkrete Rekonstruktion der Entwicklung des Gefallenenbegräbnisses im 4. Jh. v.Chr. weiterhin schuldig bleiben, lässt sich doch zumindest nachvollziehen, warum der Brauch in dieser Zeit an Bedeutung verlor. Hinsichtlich der spezifischen Entwicklung bleiben schlichtweg zu viele Fragen offen, um eine sichere Rekonstruktion liefern zu können. Dennoch will ich die Lage kurz skizzieren und die unterschiedlichen Erklärungsansätze knapp diskutieren. Die Fakten bestehen darin, dass die
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kurz danach eingeführt wurde. Zum Wiedereinsetzten der Grabmarker vgl. oben Anm. 259. Siehe zudem Morris 1994.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Gefallenenliste des Jahres 394 v.Chr. den letzten sicher identifizierbaren materiellen Beleg für ein Gefallenenbegräbnis in Athen darstellt und dass die literarischen Quellen staatliche Bestattungen anlässlich der Schlacht von Chaironeia 338 v.Chr. und des Lamischen Krieges 323/22 v.Chr. bezeugen. Zudem finden sich noch Hinweise darauf, dass der Athener Archinos in der Anfangsphase des Korinthischen Kriegs eine Gefallenenrede hielt.1292 Schließlich nennt Pausanias in seiner Beschreibung des Kerameikos noch eine ganze Reihe an Gefallenengräbern, die dem 4. Jh. v.Chr. zuzuschreiben sind. Ob es sich hier jeweils um authentische Zeugnisse des 4. Jh. v.Chr. handelte, lässt sich allerdings nur in einigen Fällen entscheiden.1293 Alle weiteren Zeugnisse – insbesondere epigraphischer Art – lassen sich nur unter großen Zweifeln Gefallenengräbern zuordnen.1294 Die Erklärungsansätze für diesen Mangel an Evidenz lassen sich nun vier grundlegenden Argumentationen zuordnen, die sich durchaus auch miteinander verbinden ließen. 1. Die Quellenlage ist schuld Gemäß diesem Ansatz wurde das Gefallenenbegräbnis auch im 4. Jh. v.Chr. unverändert weitergeführt, die relevanten Quellen seien jedoch schlichtweg noch nicht entdeckt worden. Da das 1292
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Zur Rede des Archinos, die bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigt wurde, siehe Wienand 2018, 244–249. Neben den auch anderweitig überlieferten Gräbern für die Gefallenen des Korinthischen Krieges (Paus. 1.29.11) und von Chaironeia (1.29.13) nennt er außerdem ein Grab für Athener, die gegen Olynth fielen, das vermutlich auf 349 v.Chr. zu datieren ist (1.29.7); für Apollodoros, der vermutlich um 340 v.Chr. eine Truppe Athener im Dienste des Satrap von Phrygien führte (1.29.10); für Euboulos, der 330 v.Chr. starb, und die Männer, die mit ihm fielen (1.29.10); für jene, die in den Kämpfen gegen Kassander fielen – also wohl im letzten Viertel des 4. Jh. v.Chr. (1.29.8). Außerdem berichtet er von Gräbern, in den Athener bestattet lägen, die die Römer im Kampf gegen die Karthager unterstützt hätten (1.29.13). Ob es sich hierbei jedoch um ein authentisches Gefallenengrab handelte, ist zweifelhaft. Siehe zur Beschreibung des Pausanias auch Clairmont 1983, 33. So wurde 1968 im Bereich des demosion sema das Fragment einer länglichen flachen Basis entdeckt, das in einem römischen Grab wiederverwendet worden war. Auf dem Stein sind die Reste einer Inschrift zu erkennen, die in die Mitte des 4. Jh. v.Chr. datiert wird und die Zuordnung zu einem Gefallenengrab nahelegt: „[--- πατρ]ίδος Ἑλλάδι πάσηι σώιζοντες [---]“ (Siehe Arch.Delt. 1968, Chron. 94f. mit Taf. 53α; SEG 28.240; Stupperich 1977, 213; Clairmont 1983, 215 Nr. 75). In der älteren Forschung wurden schließlich wiederholt Inschriften angeführt, bei denen es sich möglicherweise um späte Gefallenenlisten handelte. So schlug Donald Bradeen vor, ein Fragment einer Stele des 4. Jh. v.Chr., das einen Strategen und vielleicht die Phyle Oineis nannte, aufgrund formaler und paläographischer Kriterien als Gefallenenliste zu identifizieren und der Schlacht von Chaironeia zuzuordnen (Bradeen 1964, 56–58; 1974, Nr. 25; Clairmont 1983, 218f. Nr. 77c). Da das Stück allerdings stark beschädigt ist, bleibt diese Interpretation spekulativ. Benjamin Meritt identifiziert drei Fragmente einer weiteren Inschrift, die auf der Agora gefunden wurden, als späte Gefallenenliste. Wie Bradeen argumentiert auch er vor allem anhand von Kriterien des Aufbaus und des Formats der Liste. Auf Meritts Inschrift, von
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Gebiet, in denen sich die Gefallenengräber befanden, nur sehr partiell und größtenteils nur durch Notgrabungen erschlossen wurde, seien die Zeugnisse des 4. Jh. v.Chr. schlichtweg noch nicht zu Tage gefördert worden. Möglicherweise sei gerade jener Bereich, in denen sich die Gräber dieser Zeit befanden, auch bereits in der Antike zugeschüttet oder überbaut worden, weshalb sich bisher auch keine Reste von Inschriften oder anderen Monumentteilen gefunden hätten.1295 Diese Erklärung kann freilich nicht überzeugen. Zum einen geht sie davon aus, dass die Gräber des 4. Jh. v.Chr. alle in einem relativ kleinen Areal konzentriert waren, was aber in Anbetracht der jüngsten Arbeiten von Nathan Arrington, die eine stärkere Verteilung der Gräber in einzelnen Clustern nahelegt, unwahrscheinlich ist. Zudem wäre es in Anbetracht der relativ dichten Überlieferung und der großen Anzahl an inschriftlichen Resten der Gefallenenmonumente des 5. Jh. v.Chr. doch sehr erstaunlich, wenn aus dem 4. Jh. v.Chr. einzig das Monument des Jahres 394 v.Chr. auf uns gekommen sein sollte. 2. Das Format der Gefallenenliste wurde geändert Vermutlich der populärste Erklärungsansatz besagt, dass das Format der Gefallenenlisten im 4. Jh. v.Chr. verändert worden sei, um die Gefallenen etwa auch mit dem Patronym und/oder dem Demotikon zu nennen. Daher aber seien die Gefallenenlisten kaum von anderen ‚zivilen’
1295
der deutlich größere Teile erhalten sind, werden dabei die ‚Gefallenen‘ zusammen mit ihrem Patronym und Demotikon genannt (Meritt 1933, 151–155, Nr. 3. Weitere Beispiele führt Dow 1983 an. Siehe hierzu auch den Kommentar von Lewis 2000–2003, 15–17). Der Autor erklärt dies dadurch, dass sich die Praxis des 5. Jh. v.Chr., Gefallene ohne jegliche solche Kennzeichnungen zu nennen, im 4. Jh. v.Chr. gewandelt habe. Er schlägt sich somit in das Lager der Forscher, die das Verschwinden der Gefallenenlisten als Problem der Identifikation sehen wollen, das durch einen Wandel im Format der Listen bedingt sei. Diese Erklärung mag durchaus zutreffen, da die übrigen formalen Übereinstimmungen mit den Gefallenenlisten des 5. Jh. v.Chr. durchaus auffällig sind. Jedoch fehlen konkrete Hinweise oder gar Belege dafür, dass es sich tatsächlich um ein Gefallenenmonument handelte. Der Fundkontext auf der Agora – wo im Übrigen auch Bradeens Inschrift entdeckt wurde – würde sowohl für Meritts als auch für Bradeens Inschrift auch eine Interpretation als Bürgerliste anderer Natur ermöglichen, wenn auch eine Verschleppung der Steine vom demosion sema auf die Agora denkbar wäre und in einer Vielzahl anderer Fälle belegt ist. Wie Donald Bradeen in der Einleitung zu Band 14 von The Athenian Agora feststellt (Bradeen 1974, 1), sind ein Viertel der Inschriften, die auf der Agora gefunden wurden, funerären Charakters. Ein Großteil dieser Grabinschriften stammte mit Sicherheit aus dem naheliegenden Kerameikos. Vertreter dieser These sind Arrington 2011, 186 (mit einer detaillierteren Ausarbeitung der Argumentation) sowie Lewis 2000–2003, 17, der sich für eine Zuschüttung noch in der Antike ausspricht. Auch Stupperich 1977, 252f. diskutiert die Möglichkeit unterschiedlich starker Spoliierung, hält sie jedoch für unwahrscheinlich.
377
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Bürgerlisten zu unterscheiden.1296 In Anbetracht der oben dargelegten Erweiterung der Listen um zusätzliche Funktionsbezeichnungen und die generellen Tendenzen zu einer Lockerung der Honorarrestriktionen birgt dieser Erklärungsversuch durchaus eine gewisse Attraktivität in sich, zumal er mit dem erstgenannten Ansatz kombinierbar wäre. Dennoch erscheint mir auch diese Erklärung unzureichend, da sie nicht begründet, warum sich aus dem 4. Jh. v.Chr. keine Inschriftenreste mit Epigrammen, Kopfzeilen oder sonstigen Merkmalen einer Gefallenenliste erhalten haben. 3. Modifikation des patrios nomos Dieser Ansatz geht davon aus, dass das Gefallenenbegräbnis weiterbestand, dass es aber insgesamt in seiner Form zurückgenommen und hierdurch auch die Aufmerksamkeit, die der Brauch erfuhr, verringert wurde. So mag die Form der eigentlichen Grabmonumente reduziert worden und vielleicht sogar die Auflistung der Gefallenen am Grab aufgegeben worden sein.1297 Darüber hinaus wäre etwa auch denkbar, dass einzelne rituelle Elemente wie die Agone oder die Grabreden abgeschafft und nur zu außergewöhnlichen Anlässen punktuell wiederaufgegriffen wurden.1298 4. Aufgabe des patrios nomos und Rückkehr zur anlassbezogenen Bestattung Schließlich ließe sich der Mangel an Zeugnissen für das 4. Jh. v.Chr. noch dadurch erklären, dass die Athener die jährlichen Bestattungen ihrer Gefallenen aufgaben und zu einer anlassbezogenen Bestattung zurückkehrten. Hierbei wäre dann zu fragen, ob die polis weiterhin alle Gefallenen bestattete, diese dann aber nach den einzelnen Gefechten und Schlachten geordnet bestattete1299 oder ob die kollektive Rückführung und Bestattung insgesamt aufgegeben und ein Staatsbegräbnis nur zu außergewöhnlichen Anlässen ausgerichtet wurde. Während aber den letzteren Fall kaum ein Autor ernsthaft erwägt – wohl weil er zu stark mit dem Brauch des 5. Jh.
1296
1297 1298
1299
So etwa Lewis 2000–2003, 17 mit Bezug auf Dow 1983, passim; Meritt 1933, 151–155; Low 2012, 28. Auch Stupperich 1977, 6; 252f. und Arrington 2011, 186 erwägen diese Möglichkeiten. Osborne 2010, 262–264 ist wiederum der Ansicht, dass zumindest die Gefallenenlisten, wenn nicht die gesamte Praxis, 394 v.Chr. endeten. Zu den epitaphioi logoi des Demosthenes und Hypereides und den anderen Zeugnissen des patrios nomos nach dieser Zeit äußert er sich nicht. Vgl. Stupperich 1977, 25f.; Dow 1983. So etwa jüngst Wienand 2018, 113–136, der sich aber zugleich auch für eine Rückkehr zu anlassbezogenen Bestattungen ausspricht. Siehe hierzu im Folgenden. Siehe Wienand 2018, 113–136.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
v.Chr. und den einzelnen Zeugnissen für Gefallenenbegräbnisse im 4. Jh. v.Chr. kontrastiert1300 – bliebe in ersterem Fall weiterhin die Frage bestehen, warum so wenige Zeugnisse des Gefallenenbegräbnisses aus dem 4. Jh. v.Chr. überliefert sind. Keiner dieser Ansätze bietet eine befriedigende Erklärung für die gegebene Quellenlage. Inbesondere der Versuch, die Frage des Quellenmangels auf Probleme der Überlieferung der relevanten Quellen zu verlagern, kann nicht überzeugen und erscheint als Kapitulation vor einem nur schwer zu erklärenden Befund. Klar scheint schließlich zumindest, dass das attische Gefallenenbegräbnis in Folge der hier nachgezeichneten historischen Entwicklungen und Ereignisse im frühen 4. Jh. v.Chr. einen erneuten Wandel durchmachte, der dazu führte, dass die etablierte Form des patrios nomos, wie sie ab den 460er Jahren v.Chr. bestand, aufgegeben wurde. Dabei hat Johannes Wienand zuletzt durchaus überzeugend dafür argumentiert, dass die Athener kurz nach 394 v.Chr. wieder zu einer anlassbezogenen Bestattung ihrer Kriegstoten zurückkehrten. Wie er nämlich zeigen kann, wurden zumindest die Bestattungen der Gefallenen von Chaironeia und jener des Lamischen Krieges nicht zum Jahresende vollzogen, sondern bereits kurz nach den jeweiligen Schlachten, in denen die Bestatteten gefallen waren.1301 Dies aber spricht freilich gegen die Existenz einer jahresweisen Bestattung in dieser Zeit, da diese jeweils am Ende eines jeden Jahres vollzogen wurde. Auch mit dem Zeugnis des Pausanias ließe sich diese Theorie vereinen, da sich aus den Beschreibungen des Periegeten nicht ableiten lässt, ob es sich bei den beschriebenen Monumenten um anlassbezogene oder jahresweise Bestattungen handelte. Akzeptieren wir aber diese These einer Rückkehr zu einer anlassbezogenen Bestattung, schließen sich eine ganze Reihe von Fragen nach den konkreten Modalitäten und Formen an. Zumindest bezüglich der Bestattungen der Jahre 338 v.Chr. und 323/2 v.Chr. legen die Quellen keinen formalen Unterschied zu den Begräbnissen gemäß des patrios nomos nahe. Demnach wäre alle Gefallenen gemeinsam in den von Pausanias beschriebenen Gräbern beigesetzt, diese mit einer Gefallenenliste markiert1302 und schließlich die Grabreden auf die Toten gehalten worden. Wenn nun aber weiterhin alle Gefallenen diese Behandlung erfahren hätten, diese aber eben nur nach dem jeweiligen Anlass und nicht mehr jahresweise durchgeführt worden wären, erklärt dies weiterhin nicht die geringe Zahl materieller Überreste der Gräber des 4. Jh. v.Chr. Diese Diskrepanz ließe sich nur erklären, wenn die Quellen uns hier ein falsches Bild liefern und die Gräber für die Gefallenen 1300
1301 1302
Einzig Osborne 2010, 262–264 erwägt dies mit gewisser Überzeugung. Brown Ferrario 2006, 97 und Clairmont 1983, 3; 209–221 implizieren zumindest, dass dies tatsächlich eine Möglichkeit gewesen sein könnte. Vgl. Wienand 2018, 122–136. Bradeen 1964, 55–58 Nr. 16 glaubt möglicherweise ein Fragment der Liste der Gefallenen von Chaironeia identifiziert zu haben. Aufgrund der geringen Größe und der schlechten Erhaltung des Stückes ist diese Identifikation allerdings sehr spekulativ. Vgl. auch Clairmont 1983, 218f.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
tatsächlich deutlich verändert wurden und daher nicht identifiziert werden können oder aber wenn für diese beiden (und möglicherweise noch andere vereinzelte) Anlässe das alte Protokoll verwendet wurde, während für die übrigen Gefallenenbegräbnisse des 4. Jh. v.Chr. eine reduzierte Form des Brauch vollzogen wurde, die auch eine bescheidenere Grabform mit sich brachte. Eine solche Rekonstruktion, die mehrere der vorgestellten Erklärungsansätze kombinieren würde, wäre durchaus denkbar. Zugleich setzt sie aber eine ganze Reihe von Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen des Brauches voraus und erscheint damit als stark konstruiert. Ginge man zudem von zwei Varianten des Gefallenenbegräbnisses aus, stellte sich überdies die Frage, nach welchen Kriterien darüber entschieden wurde, wann eine Gruppe Gefallener eine reguläre Bestattung erhielt und wann sie für ein ‚volles’ Begräbnis nach Art des patrios nomos in Frage kam. M.E. ist es daher sinnvoller, eine weniger komplizierte, wenn auch radikalere Rekonstruktion der Veränderungen des Brauches anzunehmen. Gehen wir nämlich davon aus, dass die polis im Laufe des frühen 4. Jh. v.Chr. nicht nur die jahresweise Bestattung der Gefallenen, sondern die Sorge für die Kriegstoten insgesamt aufgab und nur bei bestimmten Anlässen auf Antrag in der ekklesia ein Staatsbegräbnis gewährte, ergibt sich ein sehr viel simpleres und kohärenteres Bild. Demnach wäre die Versorgung der Toten wieder in die Hand der Familien und der Angehörigen gegeben worden, wo sie schließlich auch vor den Reformen des Kleisthenes gelegen hatte und wie es auch in den übrigen griechischen Gemeinwesen die Regel war. In Anbetracht der wiederansteigenden Bedeutung der Privatgräber und der zunehmenden Unzufriedenheit bestimmter Teile der Bürgerschaft mit den repräsentativen Möglichkeiten der Staatsgräber in Kombination mit den neuen Möglichkeiten zur Auszeichnung einzelner Bürger durch die polis mögen viele der Familien diese Regelung sogar begrüßt haben. Denn wie wir im ersten Hauptteil dieser Arbeit gesehen haben, stellte die Übernahme der Bestattung der Gefallenen durch die polis nicht nur eine Ehrung, sondern eben auch einen Eingriff in die Sphäre des oikos dar, dessen invasive Wirkung durch diverse Kompromisse und Zugeständnisse vermindert werden sollte. Die Aufgabe des Gefallenenbegräbnisses hätte somit auch eine Rückgabe von Rechten an die Familie bedeutet und dieser nicht nur den Vollzug eines individuellen Rituals, sondern eben auch die Errichtung eines individuellen Grabmonumentes explizit gestattet. Auch erscheint in diesem Szenario die Frage nach der Gewährung eines Staatsbegräbnisses weniger problematisch. Denn während im Falle zweier Varianten des Gefallenenbegräbnisses unklar gewesen wäre, wo die Grenze zwischen dem ‚reduzierten’ und dem ‚vollen’ Begräbnis gezogen werden sollte, wäre dies im vorgeschlagenen Modus weniger problematisch gewesen. Das staatliche Gefallenenbegräbnis hätte dann schlichtweg eine zusätzliche Ehrung durch die polis dargestellt, die wie andere Ehrungen auch in der Volksversammlung hätte beantragt werden können, wenn die Meinung vorherrschte, dass die Gefallenen sich in besonderem Maße ausgezeichnet hatten, oder wenn die Ehrung mit anderen konkreten Zwecken verknüpft wurde. Die Beschlussfassung wäre somit demselben Procedere gefolgt, wie es beispielsweise auch im Fall der Staatsbegräbnisse für auswärtige Honoratioren galt. 380
II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Wie das nächste Kapitel zeigen wird, ist eine solche Verknüpfung des Gefallenengedenkens mit einem konkreten Zweck in einer ganzen Reihe anderer Fälle nachweisbar, und gerade für die Bestattungen der Jahre 338 v.Chr. und 323/2 v.Chr. ließe sich entsprechend argumentieren. Zweifelsohne erscheint die Idee einer Aufgabe des patrios nomos in dieser Form als radikaler Bruch mit der Tradition des 5. Jh. v.Chr. Doch sollte man zum einen nicht unterschätzen, wie fundamental sich die Kommemorationspraktiken der polis im ausgehenden 5. und frühen 4. Jh. v.Chr. wandelten. Zum anderen sollte man sich nicht zu sehr auf die Idee eines attischen ‚Sonderweges’ im Umgang mit den Kriegsgefallenen versteifen. Denn wenn auch der patrios nomos zweifelsohne ein einzigartiges Phänomen der griechischen Welt darstellte, das seine Wurzeln und seine Wirkmacht in der attischen Demokratie hatte, so folgt hieraus nicht zwangsläufig, dass er auch solange praktiziert wurde, wie die demokratische Ordnung vorherrschte. Wie die Demokratie sich im Laufe der Zeit wandelte und sich neuen Gegebenheiten anpasste, mussten sich auch ihre Institutionen und Rituale anpassen. Löst man sich zudem von der athenozentrischen Perspektive und nimmt die anderen griechischen poleis in den Blick, zeigt sich, dass sich die Athener mit der Übergabe der Totenfürsorge an die Familien keine außergewöhnliche Maßnahme getroffen oder ihre Kriegstoten vernachlässigt hätten. Vielmehr hätten sie sich schlichtweg den Praktiken in den anderen griechischen poleis angepasst, wo die Versorgung der Kriegstoten durch die Angehörigen den Normalfall darstellte. Obwohl die hier vorgebrachte Rekonstruktion einige Details schuldig bleibt und sicherlich weiterer Belege bedürfte, die anhand der aktuellen Quellenlage nicht zu erbringen sind, denke ich doch, gezeigt zu haben, dass ein solches Szenario nicht so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Im Gegenteil gewinnt es in der panhellenischen Perspektive deutlich an Plausibilität gegenüber den komplizierten und oftmals deterministischen Rekonstruktionen, die eine athenozentrische Betrachtung mit sich bringt. Das nächste Kapitel, das sich vor allem mit außerathenischen Entwicklungen auseinandersetzt, sollte diese Erkenntnis daher noch weiter bestärken.
Der Aufstieg und das Scheitern Thebens Die nächste entscheidende Phase in der Geschichte des Gefallenenbegräbnisses ist im Vierteljahrhundert zwischen dem Erlass des Königsfriedens 386/5 v.Chr. und der zweiten Schlacht von Mantineia 362 v.Chr. anzusetzen. Sie ist im Zusammenhang mit dem Zurückdrängen der spartanischen Vorherrschaft sowie dem in der Folge entstehenden Machtvakuum zu sehen, in das die Thebaner vorzustoßen versuchten. Vor allem in den drei poleis Thespiai, Mantineia und Tegea wird dieser Zeitraum durch kurze Phasen intensiver Aktivität im Bereich des staatlichen Gefallenengedenkens gekennzeichnet. Doch auch für Theben findet sich eine größere Zahl an Monumenten mit solchem Bezug, wobei sich hier sowohl Formen kollektiven Gefallenenge381
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
denkens als auch staatliche Ehrungen einzelner Bürger fassen lassen – allen voran der beiden prominenten Figuren Epameinondas und Pelopidas. Wiederholt habe ich im zweiten Hauptteil der Arbeit darauf hingewiesen, dass das vermehrte Auftreten von Zeugnissen staatlichen Gefallenengedenkens in gerade diesem, von starken innen- und geopolitischen Umbrüchen geprägten Vierteljahrhundert die Bedeutung unabhängiger politischer Handlungsfähigkeit für die Praxis des Gefallenengedenkens veranschaulicht. Ich will im Folgenden versuchen, die Indizien noch einmal zusammenzutragen und so die innen- und außenpolitischen Bezüge der Praxis herauszuarbeiten. Wenden wir unseren Blick zunächst noch einmal nach Boiotien, wo durch die Autonomieklausel des Königsfriedens der Boiotische Bund aufgelöst und die alten Abhängigkeitsverhältnisse aufgebrochen wurden. Damit wurde auch Thespiai, das seit 423 v.Chr. unter direkter thebanischer Kontrolle gestanden hatte, wieder unabhängig. Die Thespier feierten das Abschütteln der thebanischen Vorherrschaft, indem sie am Grab für die Gefallenen vom Delion ein aufwendiges Grabkultritual vollzogen und die Erinnerung an die Toten und das Ereignis damit aktualisierten.1303 Zwar lässt sich die Aktualisierung nur grob in die 390er oder 380er Jahre v.Chr. datieren, sodass auch eine Zuordnung zur Zeit des Korinthischen Krieges durchaus möglich wäre. Doch bietet sich – wie ich oben bereits ausgeführt habe – die Assoziation mit dem Wiedererlangen der politischen Unabhängigkeit aus zwei Gründen an: Zum einen muss die Aktualisierung, die nach drei oder vier Jahrzehnten völliger Inaktivität am Grab vollzogen wurde, durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst worden sein. Aus dem betreffenden Zeitraum ist aber außer dem Königsfrieden kein Vorkommnis bekannt, das die Entscheidung zur Aktualisierung des Gedenkens an die Gefallenen hätte bedingt haben können. Dies schließt zwar nicht aus, dass durchaus auch eine andere Begebenheit existiert haben könnte, die schlichtweg nicht überliefert ist. Jedoch böte zum anderen die Assoziation der Aktualisierung mit den Ereignissen des Jahres 386/5 v.Chr. auch die Möglichkeit eines Brückenschlags zwischen dem Verlust und dem Wiedergewinnen der thespischen Unabhängigkeit. Schließlich muss die Bestattung und Kommemoration der Gefallenen vom Delion 424 v.Chr. einen der letzten großen politischen Akte der polis dargestellt haben, bevor sie im Folgejahr von den Thebanern in ein Abhängigkeitsverhältnis gezwungen wurde. Damit hätten die Thespier nach der Wiederherstellung ihrer Autonomie durch die Aktualisierung des Gedenkens an die Toten des Jahres 424 v.Chr. direkt an ihre Vergangenheit als unabhängige polis angeknüpft und die Zeit der thebanischen Abhängigkeit bewusst negiert. Auch wenn diese Verknüpfung der Ereignisse daher nicht sicher zu belegen ist, bietet sie doch die plausibelste Erklärung für den Befund. Auch das zweite Zeugnis von thespischer Gefallenen-
1303
Vgl. hierzu und zum Folgenden das Kapitel zu Thespiai. Der Vorschlag, die Grabkultrituale mit dem Wiedererlangen der Autonomie in Verbindung zu bringen, wurde bereits von Schilardi 1977 gemacht, jedoch etwas anders begründet als hier. Siehe hierzu ebf. oben a.a.O.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
kommemoration aus dieser Zeit ist in einem ähnlichen Kontext zu sehen. Es handelt sich um die besprochene Gefallenenliste der 370er Jahre v.Chr.1304 Da die Thespier in dieser Zeit maßgeblich damit beschäftigt waren, sich der erneuten zwangsweisen Eingliederung in den Boiotischen Bund durch die Thebaner zu erwehren,1305 liegt es nahe, die Gefallenenliste in diesem Kontext zu sehen. So wie die Aktualisierung des Gedenkens an die Gefallenen vom Delion das Wiedererlangen der politischen Autonomie der polis markieren sollte, hätte nun die Kommemoration der aktuellen Gefallenen deren Opfer im Kampf für den Erhalt ebendieser Unabhängigkeit zelebrieren, die thespische Bevölkerung in ihrer gemeinsamen Identität bestätigen und sie zum Kampf für ihre Selbstbestimmtheit motivieren sollen. Die Bemühungen der Thespier blieben letztlich ohne Erfolg. Unter der Führung des Pelopidas und des Epameinondas gelang es den Thebanern, den durch die Spartaner unterstützten Widerstand in Boiotien zu überwinden, sich erneut als Führungsmacht des Boiotischen Bundes zu etablieren und schließlich sogar die Spartaner bei Leuktra in offener Feldschlacht zu schlagen. Die Niederlage der Spartaner und die darauf folgenden Eingriffe der Thebaner auf der Peloponnes führten zum Zusammenbruch des alten Machtgefüges, in dem die Spartaner die anderen poleis der Halbinsel weitestgehend dominiert hatten. Epameinondas’ Sieg stand damit am Anfang einer langen Kette tiefgreifender außen- und innenpolitischer Veränderungen auf der Peloponnes. Genau in dieser heftig bewegten Zeit entschlossen sich nun sowohl die Bürger von Tegea als auch von Mantineia in mehreren Fällen dazu, ihre Kriegstoten auf Staatskosten zu bestatten und mit entsprechenden Monumenten zu kommemorieren. Insbesondere für Tegea ist der Befund sehr eindrucksvoll, haben sich hier doch Fragmente von gleich drei, zeitlich nah beieinander liegenden Gefallenenlisten erhalten. Ebenfalls dieser Zeit zuzuordnen ist vermutlich ein Epigramm auf tegeatische Kriegstote, das in der Anthologia Palatina überliefert ist.1306 Aus Mantineia sind aus dieser Zeit zwei kollektive Denkmäler in Form von Gefallenenlisten bekannt sowie die beiden individuellen Monumente für Podares und den Athener Gryllos.1307 In beiden Gemeinwesen hatte die spartanische Niederlage bei Leuktra fast unmittelbar tiefgreifende soziopolitische Veränderungen ausgelöst. Die Mantineier überwanden 370 v.Chr. den dioikismos ihrer polis, der 385 v.Chr. durch die Spartaner erzwungen worden war, und konnten erneut unabhängig über ihr politisches Agieren entscheiden.1308 Nachdem sie zunächst die demokratische Ordnung wiedererrichtet hatten, nutzten die Mantineier ihre neugewonnene 1304 1305
1306 1307 1308
S.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 630. Zum Kampf der Thespier gegen die Thebaner siehe Roesch 1965, 43–45; Tuplin 1986, passim. Auch andere boiotische poleis wehrten sich gegen die Versuche der Thebaner, sie wieder unter ihre Kontrolle zu führen. Vgl. allgemein Buck 1994, 81–105; Bakhuizen 1994, passim; Beck 1997, 98–106. Zu den Listen und dem Epigramm s.o 2. II. Tegea. Vgl. oben 2. II Mantineia. Siehe eb. mit Anm. 884.
383
3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Handlungsfähigkeit denn auch sofort, indem sie die Gründung des Arkadischen Bundes vorantrieben und die Arkader somit als eigenständige Größe auf dem Tableau griechischer Mächte zu etablieren versuchten.1309 Die Tegeaten hielten den Spartanern zunächst die Treue, jedoch brachen schon bald interne Unruhen in der Stadt aus, die durch das Eingreifen der Mantineier weiter befördert wurden. Resultat dieser stasis waren die Exilierung der prospartanischen Partei, die Einrichtung eines demokratischen Systems und der Beitritt Tegeas zum arkadischen koinon.1310 Die erwähnten Zeugnisse des Gefallenengedenkens aus den beiden poleis fallen nun genau in jene bewegten Jahre nach der Schlacht von Leuktra und entstanden somit in einer Zeit, in der sowohl die Mantineier als auch die Tegeaten interne Umwälzungen ihrer poleis sahen und in der sie mit der Rückendeckung des Arkadischen Bundes in zunehmendem Maße eine eigenständige und unabhängige Außenpolitik betrieben. In allen drei poleis, Thespiai, Mantineia und Tegea, ist also zeitgleich mit dem Überwinden einer Phase weitgehender politischer Abhängigkeit ein Anstieg in der Zahl der Zeugnisse zum Gefallenengedenken zu vermerken. Diese zeitliche Koinzidenz in allen drei Fällen kann nun aber nicht als reiner Zufall abgetan werden. In allen drei poleis war es aufgrund der veränderten politischen Umstände sowie aufgrund des Drucks durch die Spartaner bzw. Thebaner dringend notwendig, die Bürgerschaft hinter einer gemeinsamen politischen Identität zu vereinen und das Gemeinwesen somit auch für die Abwehr der auswärtigen Bedrohungen zu stärken. Wollten die poleis ihre Unabhängigkeit behalten, mussten sie sich gegen ihre direkten Konkurrenten behaupten und sich selbst einen Platz unter den griechischen Mittelmächten erstreiten. Ohne innere Geschlossenheit und die Bereitschaft des einzelnen Bürgers, sich für das Wohl der polis einzusetzen, war dieses Vorhaben aber zum Scheitern verurteilt. In genau diesen Situationen konnte das Gefallenengedenken als mächtiges Instrument zur Stärkung der internen Kohäsion eines Gemeinwesens und zur Propagierung gemeinsamer Ziele eingesetzt werden. Die Schwierigkeit besteht nun darin, diese Verbindung zwischen dem Gefallenengedenken und der Autonomiefrage anhand konkreter Zeugnisse zu belegen. In Tegea finden sich auf keiner der drei Gefallenenlisten entsprechende Hinweise – etwa indem in den Überschriften oder den Epigrammen konkrete Bezüge zu den Motiven von Unabhängigkeit und Freiheit o.ä. hergestellt würden.1311 Immerhin merkt jedoch das bereits erwähnte Epigramm, das in der Anthologia Palatina überliefert ist, an, dass die Tegeaten, die es ehrt, ihr Leben gegeben hätten, um ihren
1309
1310 1311
Vgl. u.a. Heine Nielsen 1996, 93–100; Amit 1973, 174–182. Zunächst wurden die Mantineier dabei wohl noch von den Thebanern gegen die Spartaner unterstützt. Später sagten sie sich dann aber von den Boiotern los. Vgl. oben 2. II. Tegea sowie Gehrke 1985, 154f.; 1986, 111; Beck 1997, 74f. Vgl. o. 3. I. Autonomie der polis.
384
II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
Kindern eine polis in Freiheit („οἵ βούλοντο πόλιν μὲν ἐλευθερίαι τεθαλυῖαν παισὶ λιπεῖν“)1312 zu hinterlassen. Hier ist also zumindest die Verbindung zwischen den beiden Komplexen durch ein Monument selbst belegt, wenn auch dessen chronologische Zuordnung zu den 360er Jahren v.Chr. nicht gesichert ist.1313 In Mantineia sind die Gefallenenlisten ebenfalls wenig aussagekräftig, da sie außer den Phylenüberschriften und den Namen der Gefallenen keine weiteren Informationen liefern. Jedoch liegen mit den Monumenten für Gryllos und Podares zwei Zeugnisse vor, die mit einiger Sicherheit kurz nach der Schlacht von Mantineia 362 v.Chr. datiert und somit auch in einen spezifischen historischen Kontext eingeordnet werden können.1314 Wie ich oben bereits ausführlich dargelegt habe, mögen diese Denkmäler einerseits als Reaktion auf die Kommemoration des Epameinondas vor den Toren Mantineias fungiert haben, setzten andererseits vor dem Hintergrund des Zerbrechens des arkadischen Bundes vor allem aber auch ein dringend benötigtes Zeichen der Stärke und der Behauptung des Gemeinwesens im Angesicht einer prekären Situation.1315 In Thespiai wiederum liefern die Monumente selbst ebenfalls keine sicheren Angaben zur Einordnung. Jedoch mag ein wichtiges Indiz in der bereits besprochenen Aktualisierung des Deliongrabes liegen, die eine Verbindung zur Geschichte des Gemeinwesens als autonome polis herstellen sollte. Schließlich könnte das Gefallenengedenken in einem ähnlichen Kontext auch in Theben ein kurzes Aufleben erfahren haben. So habe ich vorgeschlagen, die Aktualisierung eines Gefallenenmonuments des 5.Jh. v.Chr. durch die Thebaner um ca. 370 v.Chr. als bewussten Versuch zu interpretieren, die ‚Renaissance‘ des Gemeinwesens nach dem erfolgreichen Kampf gegen die spartanische Vorherrschaft zu zelebrieren.1316 Hier hätte die Aktualisierung nicht alleine die Überwindung einer Phase der Abhängigkeit markiert, sondern vor allem zur Propagierung der Erfolge Thebens in diesen Jahren gedient, das nach der ‚Befreiung‘ Boiotiens als prominente und ernstzunehmende Macht im griechischen Staatengefüge auftrat. Weitere kollektive Gefallenenmonumente finden sich in Theben in dieser Zeit allerdings nicht, abgesehen von einer nur unsicher zuzuordnenden Bürgerliste. Vielmehr sprechen die aufwendigen Grab- und Ehrenmonumente für Pelopidas und Epameinondas sowie das private Monument für Xenokrates, Theopompos und Mnasilaos eher dafür, dass sich die thebanische Kommemorationspraxis schon bald wieder stärker auf Individuen und deren Leistung für die polis konzentrierte. Rituale mit kollektivem Bezug wurden nun möglicherweise nicht mehr in Form des Gefallenengedenkens abgehalten, das sich einzig auf die polis bezog, sondern wurden stattdessen auf die Ebene
1312 1313 1314 1315 1316
Anth. Pal. 7.512 zitiert nach Page 1981, 278f. Nr. LIII. Siehe auch oben Anm. 1108. S. o. 2. II. Tegea mit Anm. 1108. Vgl. o. 2. II. Mantineia. Vgl. ebd. S. o. 2. I. Theben.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
des Bundes verlagert und dort in Form ‚normaler‘ religiöser Feste praktiziert. So richtete der Boiotische Bund unter Führung der Thebaner nach der Schlacht von Leuktra den Kult des Zeus Basileos in Lebadeia ein, um hiermit die Erinnerung an den Sieg der Boioter zu perpetuieren und so auch einen Referenzpunkt geteilter boiotischer Identität zu schaffen.1317 Die gemeinsame Feier des Sieges über die Spartaner eignete sich deutlich besser, um die Einheit der Boioter unter der Führung der Thebaner zu propagieren, als dies eine Kommemoration der Gefallenen – etwa nach Art der Monumente in Plataiai – getan hätte. Die Gefallenengräber hätten nämlich doch wieder stärker die einzelnen poleis in den Blick genommen und somit auch Raum für Dissens schaffen können, weil die boiotischen poleis doch erst in den Jahren zuvor wieder von den Thebanern unterworfen worden waren. Stattdessen wurde mit dem Kult des Zeus Basileos der gemeinsame Erfolg in den Vordergrund gestellt und gleichzeitig eine Parallele zum Kult des Zeus Eleutherios in Plataiai geschaffen, die die Boioter – und allen voran eben die Thebaner – als Befreier der Griechen von der spartanischen Vorherrschaft stilisierte.1318 Die Gesamtschau der Quellen dieser Epoche zeigt, dass der Zusammenhang zwischen der politischen Autonomie eines Gemeinwesens und dem Gefallenengedenken nur schwer erwiesen werden kann. In den wenigsten Fällen wurden solche Verbindungen an den Monumenten expliziert und nur in einer geringen Zahl weiterer Fälle lassen sich Indizien eines solchen Zusammenhangs konkretisieren. Zudem zeigt das Beispiel Thebens, dass diese Verknüpfung in mancher Situation möglicherweise auch bewusst vermieden wurde. Dennoch aber erscheint mir bereits die Tatsache, dass sich in den behandelten poleis in jeweils ähnlichem Kontext eine Häufung von Zeugnissen staatlicher Gefallenenkommemoration findet, als ein deutliches Anzeichen dafür, dass ein Zusammenhang zwischen dem neu gewonnenen politischen Handlungsspielraum und der Praxis des Gefallenengedenkens bestanden haben muss. Ich hoffe, diese Verbindung im nächsten Kapitel, das sich der makedonischen Expansion widmet, noch einmal deutlicher machen zu können.
Die makedonische Expansion und die Diadochenkriege Eine letzte Phase gesteigerter Aktivität im Bereich des Gefallenengedenkens lässt sich zwischen dem Beginn der makedonischen Expansion unter Philipp und Alexander und den Diadochenkriegen feststellen. Betrachten wir hierbei zunächst den epitaphios logos des Demosthenes für 1317
1318
Vgl. hierzu Buckler 1980, 24; Mackil 2014, 55–57. Gerade Mackil meint, der Kult für Zeus Basileos sei entscheidend für den Zusammenhalt des Bundes in den 360er Jahren v.Chr. gewesen. Insbesondere wird dieses Rollenverständnis in der Unterstützung der Gründung des Arkadischen Bundes und im vehementen Bestehen auf der Forderung nach einem autonomen messenischen Staat deutlich. Vgl. u.a. Beck 1997, 240–244; Jehne 1994, 82f. Siehe auch Urban 1991, 169–177 zur Frage, wie die Autonomieklausel des Königsfriedens von 386 v.Chr. hierbei referenziert wurde.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
die attischen Gefallenen der Schlacht von Chaironeia 338 v.Chr. Die Rede fiel in eine sowohl für die polis als auch für den Sprecher ausgesprochen prekäre Situation. Die Allianz der antimakedonischen Griechenstädte hatte in der boiotischen Ebene die entscheidende Niederlage gegen die Makedonen erlitten. In der Folge blieb jeder der verbündeten poleis nur die Wahl, sich entweder mit Philipp zu arrangieren und auf Milde zu hoffen, oder aber den wenig aussichtsreichen Kampf gegen die makedonische Übermacht fortzuführen. Dass nun die Athener in dieser Situation, in der auch sie selbst sich einer akuten Bedrohung ausgesetzt sahen, gerade Demosthenes dazu auserkoren, die Rede auf die Gefallenen der Schlacht zu halten, ist bemerkenswert. Einerseits mag die Wahl durchaus naheliegend erscheinen, da schließlich Demosthenes einer der führenden Vertreter der antimakedonischen Fraktion war, die zum Kampf gegen Philipp aufgerufen hatten. Andererseits hätten die Athener auch einen politischen Kurswechsel signalisieren können, indem sie einen anderen Redner auswählten. Die Tatsache, dass sie dennoch Demosthenes für diese Ehre bestimmten, deutet darauf hin, dass sie weiter an der antimakedonischen Politik festhalten und Athen notfalls gegen die Truppen Philipps verteidigen wollten.1319 Entsprechend gestaltete Demosthenes denn auch seine Rede auf die Gefallenen, die die Athener auf den gemeinsamen Kampf gegen Philipp einschwören sollte. So stilisierte er die Athener als Retter aller Griechen und Kämpfer für die griechische Freiheit und versuchte derart, den Kampf gegen die Makedonen als Pflicht der Athener darzustellen. Hierzu zog er eine Parallele zwischen den Perserkriegen und dem aktuellen Konflikt und schrieb den Athenern in beiden Situationen die Führungsrolle unter den freien Griechen zu. Damals wie im aktuellen Fall seien es die Athener gewesen, die die Gefahr der auswärtigen Bedrohung frühzeitig erkannt und sich dieser zum Wohl aller Griechen entgegengestellt hätten.1320 Die Parallele zwischen dem ‚Freiheitskampf ‘ gegen die Perser und jenem gegen die Makedonen stellte dabei keineswegs eine Neuerung dar, sondern war die konsequente Fortführung der antimakedonischen Rhetorik des Demosthenes und anderer attischer Politiker, die Philipp schon in den Jahren vor der Schlacht von Chaironeia als barbarischen Aggressor zeichneten.1321
1319 1320
1321
Demosthenes selbst betont diesen Fakt in der Kranzrede. Siehe die oben zitierte Stelle (Anm. 134). Siehe Demosth. or. 18.10f., wo die Athener als Garanten der griechischen Freiheit und des innergriechischen Friedens und Wohlstandes stilisiert werden und wo die Leistungen der Perserkriegsgefallenen noch über jene der Helden vor Troja gestellt werden. Später (or. 18.18) zieht er dann die Parallele zur aktuellen Situation, wenn er behauptet, die Athener hätten die makedonische Bedrohung früh erkannt, zum Kampf gegen Philipp aufgerufen und sich selbst mit vollem Einsatz der Gefahr entgegengeworfen. Die Gefallenen von Chaironeia hätten schließlich durch ihr Opfer die Freiheit Hellas’ bewahrt (or. 18.23). Am deutlichsten wird dies wohl in der dritten Philippischen Rede (or. 9.31). Siehe u.a. Worthington 2013, 222; MacDowell 2009, 350f. Auch der sog. Eid von Plataiai entspringt wohlmöglich diesem Kontext (siehe Kellogg 2008, insb. 362–368).
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Noch stärker als Demosthenes versuchte Hypereides in seinem epitaphios logos aus dem Lamischen Krieg die Athener als Garanten der griechischen Freiheit und des Friedens darzustellen: Leosthenes und die anderen Athener, die 323/2 v.Chr. ihr Leben im Kampf gegen Antipatros und dessen Verbündete verloren hatten, seien nicht nur für ihre patris, sondern für ganz Griechenland gefallen. Der Feldzug, bei dem sie nicht nur gegen die Makedonen, sondern auch gegen deren griechische Verbündete gekämpft hatten, sei der schwierigste gewesen, den je ein griechisches Heer habe führen müssen.1322 Selbst die Leistung des Leonidas und der dreihundert Spartaner werde von der aktuellen, zweiten Schlacht an den Thermopylen unter Leosthenes übertroffen, die erneut einen auswärtigen, ‚von Hybris erfassten‘ Feind in seine Schranken gewiesen habe.1323 Hypereides geht schließlich gar so weit, zu behaupten, Leosthenes und seine Männer hätten sowohl die Helden des Trojafeldzuges als auch die Helden der Perserkriege, Miltiades und Themistokles, und sogar Harmodios und Aristogeiton übertroffen und mit ihrer ἀρετή und ἀνδραγαθία die Freiheit aller Griechen gerettet.1324 Damit erhob er die Gefallenen über die wichtigsten Figuren der Gründungsphase der attischen Demokratie. Gerade das Überbieten der Tyrannenmörder, die als Archetypen des guten Bürgers galten, der sich für das Wohl der polis aufopfert, fällt besonders auf.1325 Es zeigt, wie stark Hypereides seine Rede auflud, um seinen gefallenen Mitstreiter Leosthenes zu ehren und so die Athener auf den weiteren Kampf gegen die Makedonen einzuschwören. Zwar blieben die attischen Versuche, ihre Unabhängigkeit gegenüber den Makedonen zu behaupten, sowohl 338 v.Chr. als auch 323/2 v.Chr. erfolglos, doch konnten die Athener trotz ihres heftigen Widerstandes zumindest jeweils zu einer Einigung mit Philipp bzw. Antipatros gelangen und so größerem Schaden entkommen. Anders sah dies für die Thebaner aus. Auch sie waren nach der Schlacht von Chaironeia, in der sie heftige Verluste erlitten hatten, zunächst zu einer Einigung mit Philipp gelangt und so einem schlimmen Schicksal entgangen. Doch sollte ihnen diese Gunst nicht noch einmal beschieden sein, als sie drei Jahre später gegen die makedonische Oberherrschaft rebellierten, nachdem sich zuvor das Gerücht verbreitet hatte, Alexander sei in Illyrien gefallen. Alexander, der sehr wohl am Leben war und ein Exempel für andere Aufständische statuieren wollte, ging
1322 1323
1324
1325
Siehe v.a. Hyp. or. 6.9–12 und 23–26. Vgl. Hyp. or. 6.18f. zu den Thermopylen und 20f. zum Vorwurf der Hybris an die Makedonen, die ihre Herrscher wie Götter verehren würden. Dass hiermit auf die Perser und insbesondere Xerxes angespielt werden sollte, liegt auf der Hand und wird durch den weiteren Inhalt der Rede noch weiter verdeutlicht. Siehe Hyp. or. 6.35–40. Der Fokus liegt dabei noch mehr als in der restlichen Rede auf der Person des Leosthenes. Auch Herrmann 2009, 21–23 weist darauf hin, dass in anderen epitaphioi logoi die Taten der aktuellen Gefallenen zwar auf eine Stufe mit denen der Vorfahren gestellt werden konnten, dass aber nirgends ein Übertreffen impliziert wurde.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
mit ausgesprochener Schnelligkeit und Härte gegen die Thebaner vor. Die männlichen Bürger der Stadt wurden hingerichtet, während die übrigen Bewohner versklavt wurden. Zudem ließ er mit Ausnahme der Tempel alle öffentlichen Gebäude zerstören und legte eine dauerhafte Besatzung in die Kadmeia.1326 Selbst wenn die Strafmaßnahmen gegen die Thebaner nicht so heftig ausfielen, wie die Quellen uns glauben machen wollen, wurde hiermit doch die Existenz Thebens als autonom funktionierende polis vorerst beendet. Fast 20 Jahre vergingen, bis sie 317/6 v.Chr. durch Kassander neu gegründet wurde und die Überlebenden des Jahres 335 v.Chr. wieder in ihrer Heimatstadt zusammenfanden. Die Neugründung kann kein leichtes Unterfangen gewesen sein. Denn obwohl der physische Wiederaufbau der Stadt großzügig durch Kassander und zahlreiche griechische poleis unterstützt wurde, musste die Bevölkerung auch mental erst neu zusammenfinden. Schließlich hatten die überlebenden Thebaner fast 20 Jahre in oftmals unsicheren Verhältnissen und teils räumlich weit getrennt voneinander gelebt. Die politischen Führer der Thebaner standen daher 317/6 v.Chr. nicht nur vor der Herausforderung, die polis physisch wiederaufzubauen. Sie mussten auch die ideologische Gemeinschaft wiederherstellen und die Bürger erneut hinter einer gemeinsamen Identität der Thebaner zusammenführen. Zu diesem Zweck könnten auch das Grabmonument der Thebaner in der Ebene von Chaironeia und das Grab für jene, die bei der Verteidigung der Stadt gegen Alexander umgekommen waren, errichtet worden sein. Ebenso wie die Aktualisierung des Deliongrabes durch die Thespier mag auch die Monumentalisierung dieser beiden thebanischen Gräber einen bewussten Versuch dargestellt haben, eine direkte Brücke zur Vergangenheit Thebens als unabhängiger polis zu schlagen und die Thebaner durch die gemeinschaftliche Anstrengung und das gemeinschaftliche Ritual auf ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre kollektive Identität einzuschwören. Interessant ist insbesondere, dass vermutlich auch die Thebaner hierbei eine Parallele zur Perserabwehr des vorigen Jahrhunderts herzustellen versuchten, so wie wir dies auch in den epitaphioi logoi des Demosthenes und des Hypereides gesehen haben. Für das Grabmonument der thebanischen Gefallenen von Chaironeia wählten sie einen aufrecht sitzenden Löwen, wie er auch das Grab des Leonidas an den Thermopylen schmückte.1327 Freilich finden sich Löwenstatuen auch auf anderen Grabmonumenten. Das Grab der gefallenen Thespier vom Delion etwa wurde von einem liegenden Löwen geziert. Die zeitlich naheliegendste Verbindung wäre wohl der Löwe von Amphipolis. Doch ist aus thebanischer Perspektive, die die Schlacht im Kontext der ‚Verteidigung Griechenlands‘ gegen die makedonische Expansion sah, plausibler, dass der Löwe, der die Ebene von Chaironeia überschaute, als Referenz auf das Opfer des Leonidas für die Verteidigung Griechenlands gedacht war und die Form des Löwenmonumentes als Symbol 1326 1327
Vgl. hierzu und zum Folgenden 2. I. Theben. Siehe Hdt. 7.225.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
des Kampfes für die Freiheit beanspruchte.1328 Zumindest ließe sich diese Einordnung der Gefallenen von Chaironeia sehr gut mit der antimakedonischen Rhetorik und mit dem Framing der Gefallenen in den behandelten epitaphioi logoi vereinen. Im Kontext des Kampfes gegen Philipp und Alexander bleibt es bei diesen wenigen Belegen staatlichen, kollektiven Gefallenengedenkens. Dennoch machen sie eindrucksvoll deutlich, wie zumindest die Athener und Thebaner den Gefallenenkult einsetzten, um die Integrität ihrer polis zu wahren bzw. wiederherzustellen. Auch in der Zeit der Diadochenkriege finden sich ähnliche Fälle staatlichen Gefallenengedenkens, in denen zum Teil auf die Freiheitstopik des letzten Drittels des 4. Jh. v.Chr. zurückgegriffen wurde.1329 Am Monument, das die Akraiphier für ihren gefallenen General Eugnotos auf ihrer Agora errichteten, wird etwa beschrieben, wie der Geehrte wiederholt und ohne Rücksicht auf das eigene Leben den Angriff gegen die Truppen des Demetrios Poliorketes anführte und schließlich im Kampf für seine Familie, seine polis und die Boioter sein Leben ließ. Die Freiheitsthematik wird in diesem Fall besonders graphisch mit dem Gefallenenmonument verknüpft, indem im Epigramm für Eugnotos geschildert wird, wie die Gegner seinen Leichnam, aus dem noch ‚freies Blut‘ strömte („ἐλεύθερον αἷμα χέοντα“1330), den Akraiphiern zur Bestattung überreichten. Selbst seine Gegner seien im Anblick des Mutes und der Tugend, die Eugnotos im Kampf für die Freiheit seiner Heimat bewiesen habe, in Ehrfurcht erstarrt. Wie die beiden thebanischen Gefallenenmonumente wurde auch dieses Monument vermutlich nicht direkt im Anschluss an das Ereignis errichtet, sondern erst nachdem die Akraiphier wieder mehr politischen Handlungsspielraum gewonnen hatten.1331 Auch hier könnte es sich demnach um eine Aktualisierung des Gedenkens an den Gefallenen handeln, die den Wiederaufstieg der polis markieren sollte. Schwieriger stellt sich die Interpretation eines weiteren möglichen Gefallenenmonuments dieser Zeit dar, das in Thespiai gefunden wurde.1332 Aufgrund seiner Datierung in die erste Hälfte des 3. Jh. v.Chr. wird auch dieses Denkmal den Aufständen gegen Demetrios Poliorketes zu Beginn dieses Jahrhunderts zugewiesen. Sicherheit kann hier jedoch nicht bestehen, da das betreffende Epigramm nur äußerst fragmentarisch erhalten ist und alle Deutungen stark hypothetisch bleiben müssen. Zumindest ließen sich aber die Reste des Epigramms, das wohl vom Kampf der Boioter gegen das Sklavendasein (δουλοσύνη) der Griechen handelte, derart am plausibelsten 1328 1329
1330 1331 1332
Ähnlich auch Ma 2008, 80. Nicht näher eingehen will ich auf ein mögliches Grab für Athener, die ‚im Kampfe gegen Kassander’ gefallen waren, von dem Pausanias (1.29.8) berichtet. Weder lassen sich nämlich anhand der knappen Angaben des Periegeten die Historizität dieses Grabes noch seine genaue Datierung überprüfen. S.o. 2. I. Akraiphia mit Anm. 263. Vgl. ebd. Zum Monument und der Problematik seiner Identifikation s.o. 2. I. Thespiai mit Anm. 648.
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II. Historischer Teil: Anlässe und Entwicklungen
auslegen. Sollte diese Interpretation zutreffen, wäre auch in diesem Fall die Verknüpfung des topos vom Freiheitskampf mit dem Gefallenenbegräbnis gegeben, die sich auch in den anderen erhaltenen Gefallenenmonumenten dieser Zeit aufzeigen lässt. Mit Blick auf die hier behandelten Zeugnisse und die bisher gezogenen Schlüsse überrascht diese Paarung keineswegs. Wie wir nämlich festgestellt haben, finden sich Belege für staatliche Gefallenenkommemoration besonders häufig dann, wenn eine polis sich entweder einer akuten Bedrohung ihrer Existenz ausgesetzt sah oder aber eine solche Bedrohung oder auch eine Phase der politischen Handlungsunfähigkeit gerade überwunden hatte. Kein anderes politisches Ritual, das den poleis zur Verfügung stand, konnte derart wirkmächtig dazu eingesetzt werden, die Kohäsion des Gemeinwesens zu befördern und die Mitbürger zum Einsatz für die eigene polis zu motivieren. Wie bewusst die politischen Eliten das Gefallenengedenken zu diesem Zweck einsetzten, wird gerade in jenen Situationen deutlich, in denen eine Stadt einer konkreten existentiellen Bedrohung gegenüberstand. Als etwa 305 v.Chr. Demetrios Poliorketes sich auf die Belagerung von Rhodos vorbereitete, versuchten die Rhodier, ihre Mitbürger auf den Abwehrkampf einzuschwören, indem sie versprachen, alle Gefallenen würden nach attischem Muster mit einem Staatsbegräbnis bedacht werden. Zudem sicherte die polis zu, die Hinterbliebenen der Toten angemessen zu versorgen. Das Versprechen eines Staatsbegräbnisses stellte nicht die einzige ‚Notstandsmaßnahme‘ der Rhodier in dieser Situation dar. Unter anderem beschlossen sie auch, allen Sklaven, die für sie in die Schlacht zogen, die Freiheit zu schenken und ihnen – zusammen mit allen Metöken und xenoi, die für die Rhodier kämpften – das rhodische Bürgerrecht zu verleihen.1333 Diodor betont in seinem Bericht über die Belagerung explizit, dass es den politischen Eliten gelungen sei, durch diese Vorkehrungen den Kampfgeist der Bevölkerung für die anstehende Belagerung zu wecken.1334 In diesem Kontext wurde das Versprechen eines Staatsbegräbnisses, für das sich in Rhodos ansonsten keine Anzeichen finden, und der Sorge für die Angehörigen dezidiert als Instrument eingesetzt, um die rhodische Bevölkerung für den Kampf gegen Demetrios zu mobilisieren. Wie aus dem Bericht Diodors deutlich wird, stellte dieses Vorgehen zwar bei weitem nicht die einzige Möglichkeit dar, wie solche Anreize geschaffen werden konnten. Gerade das Zugeständnis größerer Rechte und Freiheiten an die Metöken, die Kriegsdienst leisteten, findet sich relativ häufig, und selbst die Freilassung von Sklaven ist in
1333 1334
Siehe Diod. Sic. 20.84.1–4 sowie oben Anm. 1196. Diod. Sic. 20.84.4: „διὰ δὲ τούτων ἐκκαλεσάμενοι τὰς ἁπάντων προθυμίας εἰς τὸ τοὺς κινδύνους ὑπομένειν εὐψύχως“. Diodor liefert sogleich auch ein Beispiel des Mutes und der Opferbereitschaft der Rhodier, wenn er vom selbstlosen Einsatz dreier Schiffsmannschaften berichtet, die sich äußerster Gefahr aussetzten, um die Belagerungsmaschinen des Demetrios außer Gefecht zu setzen (ebd. 88.1–6).
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
solchen Fällen mehrfach überliefert.1335 Vor allem in Hinblick auf die Motivation der Vollbürger muss sich aber das Inaussichtstellen der Ehrung durch ein Staatsbegräbnis als besonders attraktive und effektive Maßnahme zur Stärkung des inneren Zusammenhaltes und zur Affirmation des politischen Systems dargeboten haben. Dass nun gerade in dieser Epoche der griechischen Geschichte diese Paarung von Freiheitstopik und Gefallenengedenken so häufig auftrat, erschließt sich aus zwei Gründen. Zum einen bot sich der historische Vergleich zwischen dem Kampf gegen die Makedonen und jenem gegen die Perser, wie ihn denn auch Demosthenes und Andere zogen, aufgrund struktureller Ähnlichkeiten an. So war es naheliegend, beide Konflikte als Kampf der freien Griechen gegen einen nicht-griechischen Monarchen, der die freien poleis ihrer Unabhängigkeit berauben wollte, zu zeichnen. Da nun aber eine zentrale Form des Gedenkens an die Perserkriege, darin bestand, an die Gefallenen dieser Auseinandersetzungen zu erinnern, war es nur naheliegend, auch für die Kommemoration der aktuellen Auseinandersetzungen auf ebendiese Form zurückzugreifen. Zum anderen ergänzten Freiheitstopik und Gefallenengedenken sich besonders gut und konnten enorme Synergien freisetzen. Dies war auch den politischen Eliten der Zeit durchaus bewusst – wie die hier behandelten Zeugnisse zeigen – und so versuchten sie, sich das Potential, das dem Gefallenengedenken als politischem Ritual innewohnte, entsprechend zu Nutzen zu machen. Eher mag es in Anbetracht dieses Bewusstseins verwundern, dass nach der Zeit des Kampfes gegen Demetrios nur noch sehr vereinzelt Zeugnisse staatlichen Gefallenengedenkens in den griechischen poleis begegnen. Ich will im nächsten Kapitel einige mögliche Erklärungen für dieses Verschwinden der Praxis diskutieren.
III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens Im vorangegangenen Kapitel habe ich bereits einen Erklärungsvorschlag für die abnehmende Zahl an Zeugnissen des Gefallenenbegräbnisses in Athen im 4. Jh. v.Chr. vorgebracht. Gemäß diesen Überlegungen verlor der patrios nomos aufgrund eingehender Veränderungen in den Kommemorations- und Honorarpraktiken der polis deutlich an Attraktivität und wurde daher möglicherweise aufgegeben und nur punktuell wiederbelebt, zumindest aber von einer jahres1335
Beispielsweise verliehen die Akraiphier jenen Metöken, die mit ihnen gegen Demetrios Poliorketes gekämpft hatten, isoteleia (s.o. 2. I. Akraiphia mit Anm. 271). Auch bei den auf den attischen Listen als engraphoi geführten Gefallenen könnte es sich um Metöken gehandelt haben, deren Einsatz entsprechend gewürdigt wurde (s.o. 1. II. Die Gefallenenlisten mit Anm. 233). Zu den Freilassungen von Sklaven vgl. die Diskussion in den Kapiteln zu Plataiai und Epidaruos sowie Boulay 2014, 227–232.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
weisen wieder auf eine anlassbezogene Durchführung umgestellt, bevor er gegen Ende des 4. Jh. v.Chr. endgültig aufgegeben wurde. Andernorts lassen sich kaum Entwicklungslinien dieser Art nachzeichnen, da außerhalb Athens Zeugnisse des Gefallenengedenkens meist nur punktuell überliefert sind und nur in wenigen Fällen allenfalls ein kurzes Aufleben der Praxis anzeigen können. Zwar finden sich Belege staatlicher Gefallenenkommemoration durchaus noch bis ins 2. Jh. v.Chr. hinein – Beispiele hierfür wurden u.a. bereits im Falle von Sikyon und Epidauros behandelt, lassen sich aber auch in anderen poleis aufzeigen.1336 Doch treten sie deutlich seltener und nur vereinzelt auf, sodass sich auch hier festhalten lässt, dass die Zahl der Belege nach dem Beginn des 3. Jh. v.Chr. merklich zurückgeht. Entgegen der Meinung mancher Autoren gibt es daher keinen Grund, davon auszugehen, dass die hellenistischen poleis dem in dieser Frage häufig zitierten Rat des Philon von Byzanz folgten: Δεῖ δὲ καὶ τῶν ἀγαθῶν ἀνδρῶν τοὺς τάφους καὶ πολυάνδρια πύργους κατασκευάξειν, ΐνα ἥ τε πόλις ἀσφαλεστέρα γίνηται καὶ οἱ μὲν δι᾽ ἀρετὴν ἀριστεύσαντες, οἱ δ᾽ ὑπὲρ τῆς πατρίδος τελευτήσαντες ἐν αὐτῆ τῆ πατρίδι καλῶς ὦσι τεθαμμένοι.1337
Vielmehr verhallte Philons pathetischer Aufruf zur Kommemoration der Gefallenen weitestgehend ungehört. Im Folgenden will ich nun versuchen, zu erklären wie es zu diesem langsamen Verklingen der Praxis ab dem 3. Jh. v.Chr. kam. Dabei will ich auch noch einmal auf die eingangs dieses Hauptteils diskutierten Faktoren eingehen. Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits deutlich wurde, bestand die wichtigste Veränderung gegenüber dem 5. und 4. Jh. v.Chr. zweifelsohne im Aufstieg der Makedonenkönige und der Etablierung der hellenistischen Monarchien. Dies löste nicht nur einen zeitweisen Anstieg in der Praxis staatlicher Gefallenenkommemoration aus, als die griechischen poleis vehement versuchten, sich der Vorherrschaft der Könige und der Diadochen zu erwehren, und sich hierfür auch das politische Potential des Gefallenengedenkens zu Nutze machten. Auch brachte die endgültige Etablierung der Hegemonie der Könige weitreichende strukturelle Veränderungen der politischen Landschaft mit sich, die sich auch auf das Gefallenengedenken auswirkten. Waren nämlich im 5. und 4. Jh. v.Chr. noch die poleis die wichtigsten Akteure in den militärischen Auseinandersetzungen, wurden die großen Konflikte des 3. und 2. Jh. v.Chr. vorwiegend unter den
1336
1337
Vgl. u.a. Chaniotis 2005, 236f. zu einigen hellenistischen Gefallenengräbern sowie Boulay 2014, 477–483 für Beispiele dieser Zeit aus Kleinasien. Phil. Byz. A 86, ed. Garlan 1974, 300. Unter anderem wird er auch zitiert von Chaniotis 2005, 236f. und Boulay 2014, 478.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
hellenistischen Königen – oder zumindest unter deren Ägide – ausgetragen. Dies soll keineswegs heißen, dass die poleis keine Kriege mehr führten. Kriege und militärische Konflikte waren im Hellenismus ebenso allgegenwärtig wie in den Jahrhunderten zuvor.1338 Doch beschränkte der Großteil der Kriege, in die die poleis eigenständig involviert waren, sich nun auf die lokale Ebene. Mit Ausnahme der Erhebungen einzelner poleis gegen die Könige erreichten die militärischen Auseinandersetzungen der poleis daher kaum noch das Ausmaß und die existentielle Tragweite der früheren Kriege.1339 Wenn nun die Bürger der poleis aber immer häufiger nicht mehr für die polis selbst, sondern für die Könige kämpften, muss sich dies auch auf die Kommemoration der Gefallenen ausgewirkt haben. Wie ich nämlich weiter oben dargelegt habe, war die unabhängige Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens essentiell für die Entstehung des Gefallenengedenkens, da sie die Voraussetzung für die freiwillige Entscheidung des Einzelnen zum Kriegsdienst für die polis war. War sie nicht gegeben, fiel somit auch ein wichtiger Faktor, der das Gefallenengedenken bedingte, weg. So sehr die poleis auch auf ihrer Freiheit und Unabhängigkeit beharrten und so sehr sie durch geschicktes Lavieren zwischen den Potentaten Freiräume für sich selbst gewinnen konnten, so deutlich wurde ihnen doch immer wieder vor Augen geführt, dass die hellenistischen Monarchen auch ihr Schicksal bestimmten. Die Könige wiederum konnten die Freiheit der griechischen poleis so häufig beschwören, wie sie mochten – ihre Garnisonen in den Akropoleis Griechenlands zeigten den Bürgern dieser Städte sehr deutlich, wie es um ihre politische Autonomie bestellt war. Um es mit den Worten Mogens Herman Hansens zu sagen: „ [In Hellenistic times] the concept of autonomia had changed its meaning from ‚independence‘ to ‚self-government combined with subordination to a superior power‘.“1340 Selbst in jenen Fällen, in denen eine polis sich aus freien Stücken dazu entschloss, einen bestimmten König im Kampf zu unterstützen, weil sie sich hiervon konkrete Vorteile versprach, mag das Gefallenengedenken daher nicht mehr so attraktiv gewesen sein. Schließlich wären auch hier die Gewinne nicht durch die Stadt selbst errungen, sondern ihr von Herrschers Gnaden zugestanden worden. Es bleibt zu bezweifeln, ob dieser Einsatz für die Sache eines Königs in ähnlichem Maße als freiwilliger Einsatz der unabhängigen Bürgergemeinschaft für die eigene polis hätte konzeptionalisiert werden können. Die Problematik wird noch einmal besonders deutlich, wenn wir einige Episoden aus Arrians Bericht über den Alexanderzug betrachten. Der Autor berichtet, nach der Schlacht am Granikos habe Alexander sowohl die gefallenen Hetairoi als auch alle anderen gefallenen Reiter 1338 1339 1340
Vgl. die Einleitung zu Chaniotis 2005, wo dies besonders deutlich dargelegt wird. Siehe etwa Chaniotis 2005, 14–17. Hansen 1995, 41.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
und Fußsoldaten mitsamt ihren Rüstungen sowie zusätzlichen Grabbeigaben beisetzen lassen. Auch habe er ihre Angehörigen von Steuern und anderen persönlichen Abgaben befreien lassen und zudem den berühmten Bildhauer Lysipp damit beauftragt, Bronzestatuen von den 25 gefallenen Hetairoi anzufertigen, die in Dion aufgestellt wurden.1341 Weiter habe der Makedonenkönig nach der Schlacht von Issos das gesamte Heer in Formation antreten und die Toten der Schlacht mit besonderen Ehren bestatten lassen.1342 Schließlich habe Alexander in seiner Ansprache an die meuternden Makedonen bei Opis u.a. dargelegt, dass die Gräber der Gefallenen in seinen Reihen Monumentstatus erreichen und die Toten in ihrer Heimat mit Statuen geehrt würden, während die Eltern der Toten von Abgaben befreit seien.1343 Auch Plutarch berichtet ähnliches, wenn er darlegt, Alexander habe nach der Versöhnung mit seinen Truppen festgelegt, die Kriegswaisen sollten weiter den Sold ihrer gefallenen Väter erhalten.1344 Auch der Makedonenkönig nahm sich demnach der Sorge um die gefallenen Soldaten in seinen Reihen an und machte damit gleichzeitig deutlich, auf wessen Befehl die Krieger in die Schlacht gezogen waren. Gleichzeitig ist diese Art der Totenfürsorge nicht mit den Gefallenenbegräbnissen der poleis gleichzusetzen, da sie sich sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Semantik hiervon unterschied. So beschränkten sich die Maßnahmen Alexanders offensichtlich auf die Bestattung der Toten und nicht auf deren Kommemoration. Einzig im Falle der getöteten Hetairoi wurden Monumente für die Toten gesetzt, die in diesem Fall aber zum einen einer bestimmten und eng mit dem König verbundenen Gruppe vorbehalten waren und die zum anderen in erster Linie als Monumente der Leistungen Alexanders dienen sollten.1345 Hinweise auf eine dauerhafte Markierung oder Monumentalisierung der Gräber finden sich nicht.1346 Damit aber entspricht diese Art der Fürsorge eben nicht den staatlichen Gefallenenbegräbnissen, die auch eine dauerhafte Kommemoration und Einordnung der Toten suchten. Stattdessen handelte es sich vielmehr um eine gesteigerte Form der Grundsorge für die Toten, die üblicherweise durch die Feldherren oder die
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Arr. 1.16.4f. Plut. Alex. 16.7f. berichtet, Alexander habe von allen Gefallenen, nämlich den 25 Hetairoi sowie neun Fußsoldaten, Statuen errichten lassen. Zur Bestattung der Toten äußert er sich nicht. Arr. 2.12.1. Arr. 7.10.4. Wohlgemerkt ist dieser Monumentstatus im übertragenen Sinne zu sehen. Keineswegs behauptet er damit, selbst Monumentalgräber für die Gefallenen zu errichten. Plut. Alex. 71.5. Nicht ohne Grund erwähnen sowohl Arrian als auch Plutarch die 25 Statuen in engem Zusammenhang mit den 300 erbeuteten Schilden, die Alexander nach Athen schicken ließ. Ebenso wie diese sollten die Statuen an den Sieg des Makedonenkönigs erinnern. Siehe auch Bemerkungen in Anm. 1343. Alexander macht deutlich, dass er selbst keine Monumente für die Gefallenen setzte, sondern dass die Gräber aufgrund der Tragweite der Feldzüge des Königs wie Monumente behandelt werden und die Gefallenen in der Heimat entsprechende Ehrungen erhalten würden. Auch im materiellen Befund fehlen Hinweise auf eine monumentale Fassung von Gefallenengräbern unter den Makedonen.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Kameraden der Gefallenen geleistet wurden. Mit der bewussten Inszenierung der Bestattung, der Ausstattung mit zusätzlichen Grabbeigaben und den Begünstigungen der Hinterbliebenen suchte Alexander seine persönliche Wertschätzung und Fürsorge zu demonstrieren. So wollte er seine eigene Person als General und Anführer weiter inszenieren und die Soldaten über die persönliche Bindung zur Gefolgschaft zu motivieren. Besonders deutlich machen dies auch die Kontexte, in denen die Maßnahmen beschrieben werden. Sowohl am Granikos als auch bei Issos werden die Berichte bezüglich der Sorge für die Gefallenen in einem Atemzug genannt mit Episoden, die Alexander beim Besuch der Verwundeten im Lazarett zeigen. Bei Issos folgt auf die Beschreibung der Bestattung zudem eine Szene, in der der König einzelne Soldaten für ihre Taten in der Schlacht auszeichnet und mit Geschenken belohnt. In der Ansprache Alexanders an die meuternden Makedonen in Opis wiederum werden der Sorge für die Toten gleich zwei ganze Paragraphen vorangestellt, in denen er die Verdienste Philipps und seiner selbst rühmt und seine eigenen Verwundungen und Entbehrungen denen der Soldaten gegenüberstellt. Nicht nur habe er die Leiden der Soldaten geteilt, er selbst habe mehr ertragen und sich mehr zugemutet als jedem Anderem in seinem Heer. An keiner der drei Stellen werden die Gründe für den Heereszug thematisiert. Staattdessen werden einzig die Person des Feldherrn und seine Beziehung zu den Soldaten inszeniert. Dabei ist es für unser Verständnis zweitranging inwieweit Arrians Beschreibung Alexanders Worten und Taten entsprach. Wichtig ist vielmehr die Feststellung, dass die königliche Sorge für die Gefallenen einer anderen Intention entsprang, eine andere Botschaft senden sollte und sich daher auch in seiner Form von den Gefallenenbegräbnissen der poleis unterschied. Im Zentrum standen nicht die Sinnstiftung und die dauerhafte Kommemoration der Toten, sondern die persönliche Fürsorge des Königs für seine Soldaten und deren resultierende Loyalität gegenüber dem Monarchen. Gleichzeitig wird hierdurch deutlich, warum im diesem Kontext ein Gefallenenbegräbnis durch die poleis kaum möglich war. Schließlich war es der König gewesen, auf dessen Anweisung die Krieger in die Schlacht gezogen waren und so konnte der König auch jederzeit die Toten für sich beanspruchen. Die Deutungshoheit über den Sinn ihres Opfers lag in der Hand des Monarchen, nicht der poleis. Ein Faktor, der zum Verschwinden des Gefallenengedenkens beigetragen haben könnte, bestand demnach in den veränderten Machtverhältnissen, die den Rahmen für die kriegerischen Auseinandersetzungen seit dem 3. Jh. v.Chr. bildeten. Denn wenn es auch keineswegs zu einem Rückgang in der Zahl der militärischen Konflikte unter Beteiligung der poleis kam, boten sich doch deutlich weniger Anlässe, in denen das Gefallenengedenken die angemessene Kommemorationsform dargestellt hätte. Gleichzeitig liegt auch auf der Hand, dass hierin nicht der alleinige Grund dafür gelegen haben kann, dass das Gefallenengedenken sich in hellenistischer Zeit seltener fand. Selbst in jenen Fällen nämlich, in denen sich poleis gegen die hellenistischen Monar396
III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
chen auflehnten und zumindest für eine Zeit ihre Unabhängigkeit wiedergewannen, tendierten sie offenbar dazu, dies nicht durch ein Gefallenenbegräbnis zu kommemorieren, sondern an das Ereignis in anderer Form zu erinnern – etwa durch die Einführung von kultischen Festen und Wettbewerben, wie sie einst auch für die Siege bei Plataiai oder Leuktra eingerichtet worden waren.1347 Einzig im Falle Sikyons wurden anlässlich der Befreiung von der Tyrannis des Nikokles durch Aratos möglicherweise sowohl ein Fest eingerichtet als auch die bei den Kämpfen umgekommenen Bürger kommemoriert.1348 Es gilt daher, nach weiteren Faktoren zu fragen, die zum Verschwinden des Gefallenengedenkens beitrugen. Zwei weitere solche Faktoren waren die bereits im 4. Jh. v.Chr. einsetzende und stetig zunehmende Professionalisierung des Militärwesens und der vermehrte Einsatz von Söldnern sowohl durch die hellenistischen Könige als auch durch die einzelnen poleis. Die Gründe, die zu dieser Entwicklung führten sind vielfältig und sollen hier nur gestreift werden.1349 Zum einen hatte sich in den Konflikten schon des 5. und 4. Jh. v.Chr. in zunehmendem Maße gezeigt, welche Erfolge mit spezialisierten Truppen erzielt werden konnten, sodass in der Folge die Spezialisierung auf einzelne Waffengattungen ab dem 4. Jh. v.Chr. stark vorangetrieben wurde und auch insgesamt zu einer verstärkten Professionalisierung des Militärwesens führte. Zum anderen bedingten sozioökonomische Entwicklungen, dass viele Bürger griechischer poleis, die keine oder nur unzureichende Landlose besaßen, deshalb nicht einmal mehr Subsistenzwirtschaft betreiben konnten. Der bezahlte Kriegsdienst präsentierte sich in dieser Situation als vielversprechende Möglichkeit, nicht nur einen angemessenen Sold und die Chance auf Beute zu erhalten, sondern vielleicht auch ein ausreichend großes Stück Land zu ergattern. Da gerade die hellenistischen Monarchen konstant große Massen an Soldaten für ihre Feldzüge und ihre Garnisonen benötigten, bestand zudem seit der Erweiterung des griechischen Einflussbereiches durch Alexander besonders großer Bedarf an Söldnern. Schon zuvor hatten sich aber auch nicht-griechische Herrscher und selbst die Perserkönige als attraktive Dienstherren erwiesen. Keineswegs führte diese Entwicklung zu einem völligen Bedeutungsverlust der Bürgerheere, wie ihn Isokrates und andere zeitgenössische Kritiker anprangerten oder zumindest befürchteten.1350 Auch Demosthenes, der in seiner ersten Philippischen Rede vorschlug, für den Kampf gegen die Makedonen ein 2000 Mann starkes stehendes Heer aufzustellen, das immerhin zu drei 1347 1348
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Für eine Reihe solcher Feste siehe Chaniotis 2005, 231f. Zum möglichen Epigramm auf die Gefallenen siehe oben 2. II. Sikyon mit Anm. 1097. Der Kult, der sich sowohl an Zeus Soter als auch an Aratos, der die Befreiung angeführt hatte, richtete, wird bei Plut. Arat. 53.4 bezeugt. Siehe zum Folgenden u.a. Griffith 1935, 1–7; Chaniotis 2005, 78–88; Trundle 2013, 331–338. Auch Pritchett 1974, 59–125 geht auf die Gründe für die Zunahme des Söldnerwesens ein. Besonders eindrücklich ist Isok. or. 8.44–47. Siehe weiter Griffith 1935, 82–89; Trundle 2013, 335f.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Vierteln aus Söldnern bestehen sollte, betonte, wie wichtig es sei, dass auch attische Bürger Teil dieser Truppe waren.1351 Vor allem in den kleineren Konflikten, die zwischen den einzelnen poleis ausgetragen wurden, kam den Bürgerheeren noch immer eine zentrale Rolle zu.1352 Überdies zogen aber auch manche poleis durchaus Nutzen aus dem erhöhten Bedarf an spezialisierten Söldnertruppen, indem sie selbst schon seit dem 4. Jh. v.Chr. zeitweise einzelne Kommandierende mit einer Abteilung Bürger in den Dienst eines der Monarchen oder auch einer anderen Stadt stellten. Die so erzielten Einnahmen konnten der polis zugeführt werden, während gleichzeitig das Problem der Versorgung der landlosen Bevölkerung gelöst oder zumindest gemindert wurde.1353 Obwohl aber der Militärdienst der Polisbürger damit ein wichtiger Faktor blieb, ist dennoch zu konstatieren, dass der Anteil der Söldner in den Heeren, die die poleis aufstellten, seit dem 4. Jh. v.Chr. deutlich anwuchs.1354 Dieser Umstand musste sich auch auf den Umgang mit den Gefallenen auswirken. Denn wie ich oben dargelegt habe, bestand gegenüber Söldnern – anders als gegenüber den eigenen wehrpflichtigen Bürgern – keine Kommemorationsverpflichtung. Zwar finden sich vereinzelt auch Monumente, die von einer polis für gefallene Söldner errichtet worden waren. Doch handelt es sich hierbei um Ausnahmefälle, in denen einzelne, besonders verdiente Personen geehrt wurden.1355 Die Athener bestatteten gar die in ihren Reihen gestorbenen Söldner zusammen mit ihren eigenen Toten und verewigten sie auf den Listen der Kriegstoten.1356 Jedoch war die Inklusion der Söldner in die kollektive Kommemoration der Gefallenen vor allem Ausdruck des besonderen Charakters des patrios nomos, der selbst gefallene Sklaven einschloss. Auch die häufig betonte Tatsache, dass die Dienstherren der Söldner vertraglich zur Bestattung der Gefallenen und zur Versorgung ihrer Hinterbliebenen verpflichtet werden konnten, wie im Falle Eumenes’ I.,1357 sollte nicht falsch ausgelegt werden. Keineswegs ist sie nämlich als Ehrbezeugung an-
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Vgl. Demosth. or. 4.21–27; Pritchett 1974, 69. Siehe Pritchett 1974, 105–107; Chaniotis 2005, 78f. Vgl. insbesondere Pritchett 1974, 59–125 zu den sog. condottieri des 4. Jh. v.Chr. sowie weiter auch Chaniotis 2005, 83f. Siehe Kertész 1988, 130; Trundle 2013, 336–338. Außerhalb Athens ist oft kaum zu entscheiden, ob es sich bei auswärtigen Gefallenen um Metöken oder Söldner handelte und ob ein Monument von einer polis oder durch Privatleute gestiftet wurde. Mögliche Beispiele sind aber das Epitaph des 3. oder 2. Jh. v.Chr. für den Arkader Botrichos in Sparta (IG V 1.724; Cairon 2009, 103–106 Nr. 35) oder jenes des 2. Jh. v.Chr. für Kallias und Epiteles in Tegea (Arch. Delt. 18 [1963)] 90 Nr. III.1; Cairon 2009, 125–128 Nr. 39). Die toxotai barbaroi auf den attischen Listen werden allgemein als auswärtige Söldner identifiziert. Sie finden sich auf IG I3 1172; 1180; 1190; 1192. Siehe auch den Anhang hier. Siehe IvP Nr. 13, wo Eumenes den Söldnern eine Bestattung garantierte und eine Regelung für die Vormundschaft der Hinterbliebenen traf, die gerade wegen der Auszahlung noch ausstehender Gelder von Bedeutung war. Vgl. zu dem Vertrag auch Kertész 1988, 129–131; Chaniotis 2005, 86f.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
zusehen und mit den Staatsbegräbnissen gleichzusetzen. Vielmehr ließen sich die Söldner, die sich außerhalb ihrer heimischen sozialen Kerngruppe bewegten, durch ihren Auftraggeber, der durch keinerlei soziale Bande hierzu verpflichtet war, vertraglich die Übernahme der notwendigen Verrichtungen nach ihrem Tod zusichern. Umgekehrt konnten die Auftraggeber hoffen, die Söldner durch diese Zusicherungen enger an sich zu binden und sich ihre Loyalität und ihren Kampfeswillen zu sichern, ähnlich wie auch Alexander in den oben genannten Beispielen versuchte, seine Soldaten durch die Totenfürsorge und die Waisenversorgung enger an sich zu binden. Es handelte sich also schlichtweg um vertragliche Garantien, die das grundlegende religiöse Bedürfnis der Söldner nach einer angemessenen Bestattung decken sollten, nicht aber um besondere Ehren, die den im Dienst umgekommenen Söldnern zugestanden wurden. Erneut zeigt sich hierin der Wesensunterschied zwischen dem Militärdienst eines wehrpflichtigen Bürgers und eines Söldners. Weil der Bürgersoldat seinen Kriegseinsatz freiwillig bzw. als Teil seiner Bürgerpflicht auf die Entscheidung des politischen Gemeinwesens hin ableistete, war die Gemeinschaft auch in der Pflicht, sich im Falle seines Todes um seine Bestattung zu kümmern und sein Opfer damit zu würdigen. Für den Söldner hingegen war der Tod in der Schlacht ein kalkuliertes Berufsrisiko, das in seiner Bezahlung entsprechend berücksichtigt wurde. Sein Auftraggeber war ihm über das vertragliche Verhältnis hinweg in keiner Weise verpflichtet.1358 Hierdurch erklärt sich auch, warum staatliche Ehrungen für Söldner nur selten bezeugt sind. Sie wurden nur erwiesen, wenn die Auftraggeber herausragende Leistungen belohnen und somit andere Krieger in ihren Diensten zur Nachahmung anspornen wollten oder wenn die Dienstherren die Söldner hierdurch stärker an sich binden wollten. Prinzipiell aber waren sie nicht dazu verpflichtet. Der zunehmende Einsatz von Söldnern auch in den Bürgerheeren der poleis mag daher auch zu einer schwindenden Bereitschaft der Polisbürger, die Kriegstoten staatlich zu kommemorieren, geführt haben. Weder waren sie nämlich dazu verpflichtet, die Berufskrieger zu kommemorieren, noch bestanden zu dieser Gruppe die sozialen Bande, die sie mit den gefallenen Mitbürgern teilten. Die beschriebene Entwicklung hatte vermutlich auch Anteil an einem grundlegenden Wandel der Kommemorationspraktiken, der von einer exklusiven Ehrung der Kriegstoten hin zu einer Kommemoration aller kriegsdienstleistenden Bürger führte. In einer Vielzahl griechischer poleis lässt sich nämlich beobachten, dass ab dem 3. Jh. v.Chr. verstärkt Ephebenlisten und Kataloge wehrpflichtiger Bürger inschriftlich festgehalten wurden, während Gefallenenlisten nur noch selten begegnen.1359 Offenbar war also nicht mehr der Tod in der Schlacht das
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Siehe auch oben 3. I. Patris um Anm. 1187. Zu den Militärkatalogen und den Listen der Epheben siehe Chankowski 2010, 305–310; Reinmuth 1971, passim; I.Thesp. 88–99; Roesch 1982, 317–354; deVottéro 2001, 44–47; Chaniotis 2005, 48– 50.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
entscheidende Kriterium für eine öffentliche Ehrung, sondern der Militärdienst an sich. Hierin spiegelt sich die gewandelte Bedeutung der Bürgersoldaten für die Durchsetzung der Interessen der poleis wider: Der Militärdienst des Bürgers für die polis war in einer Zeit, in der ein großer Teil der Polisarmeen sich aus Söldnern rekrutierte, keine Selbstverständlichkeit mehr. Daher honorierten die hellenistischen poleis bereits den militärischen Einsatz an sich und nicht erst den Tod in der Schlacht. Mit Sicherheit hatten auch andere Entwicklungen in gewissem Maße Einfluss auf die Entstehung dieser neuen Praktiken. Zumindest für Athen ist bekannt, dass die Ephebie sich seit dem 4. Jh. v.Chr. zunehmend zu einer exklusiven Institution der reicheren Bevölkerungsschichten entwickelte.1360 Die vermehrte Präsenz der Epheben in den öffentlichen Inschriften ist daher wohl auch auf ein entsprechendes Distinktionsbestreben dieser sozialen Gruppe zurückzuführen. Jedoch finden sich Ephebenlisten auch in anderen Städten, wo die gemeinsame Ausbildung der jungen Männer eine weniger exklusive Angelegenheit war.1361 Insgesamt muss daher wohl auch das Auftreten der Militärkataloge und der Ephebenlisten vor allem in den Kontext tiefgreifenderer Veränderungen in den Kommemorationspraktiken der griechischen Stadtstaaten in dieser Zeit eingeordnet werden. Das Phänomen wurde im Kapitel zur Entwicklung des attischen patrios nomos in der zweiten Hälfte des 5. und dem frühen 4. Jh. v.Chr. bereits behandelt.1362 Die Veränderung betraf dabei das Verständnis vom kommemorationswürdigen Dienst für das Vaterland, der nun eben nicht mehr (fast) ausschließlich im Tod für die polis bestand. Auch andere Verdienste um das eigene Gemeinwesen konnten nun durch öffentliche Ehrungen ausgezeichnet werden. In Athen zeigte sich die Veränderung im letzten Drittel des 5. Jh. v.Chr. im Wiederaufkommen der privaten Grabreliefs ebenso wie in der zunehmenden Nennung von Funktionsträgern auf den Gefallenenlisten, wie sie oben beschrieben wurde. Zum Ende des 5. und Anfang des 4. Jh. v.Chr. setzte sie sich dann mit zunehmender Dynamik fort, indem die Formen, mit denen die Leistung Einzelner für die polis ausgezeichnet werden konnten, sich vervielfältigten und ausdifferenzierten, sodass beispielsweise schon ab dem Korinthischen Krieg auch einzelne Bürger noch zu Lebzeiten mit individuellen Ehrenstatuen bedacht werden konnten. Wie weit diese Entwicklung bereits zum Ende des 4. Jh. v.Chr. fortgeschritten war, zeigt der letzte überlieferte epitaphios logos des Hypereides, der bereits besprochen wurde. Die Rede konzentriert sich derart stark auf die Leistung des Strategen Leosthenes, dass dem Kollektiv der mit ihm gefallenen Krieger schon fast eine Nebenrolle zugewiesen
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Vgl. Chaniotis 2005, 48–50. So etwa in Boiotien. Siehe Roesch 1982, 317–354; Chaniotis 2005, 48. Siehe 3. II. Der patrios nomos und das attische Imperium.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
wird.1363 Eine solche Fokussierung auf einzelne Führungsfiguren ist aus anderen poleis durchaus schon früher bekannt. So wurden die beiden thebanischen Generäle Epameinondas und Pelopidas mit besonders aufwendigen Grabmonumenten am Ort ihres Todes geehrt und die Mantineier bedachten Podares, den mantineischen aristos der Schlacht des Jahres 362 v.Chr., gar mit einem Heroon auf ihrer Agora. Im 3. Jh. v.Chr. bieten das Monument für Eugnotos auf der Agora von Akraiphia oder die Palmettenstele für den thespischen Polemarchen Glaukias eindrückliche Beispiele für die staatliche Ehrung einzelner herausgehobener Gefallener. Demnach waren auch im Hellenismus die Taten einer polis im Krieg noch immer von großer Bedeutung für deren kollektive Identität. Jedoch musste diese kollektive Identität nicht mehr ausschließlich durch eine kollektive militärische Leistung kommuniziert werden. Stattdessen war das Gleichheitsideal bereits seit dem 4. Jh. v.Chr. zumindest soweit modifiziert worden, dass auch einzelne Mitglieder eines Gemeinwesens problemlos als Identifikationsfiguren dienen konnten. Mit den erfolgreichen Eroberungsfeldzügen Alexanders und dem Ringen der Diadochen um seine Nachfolge wurde diese Tendenz freilich noch verstärkt und das Individuum auch im polisinternen Kontext immer weiter in den Vordergrund gerückt.1364 Weder musste sich die staatliche Auszeichnung militärischer (oder ziviler) Leistungen länger auf kollektive Erfolge beschränken, noch war sie alleine den Kriegstoten vorbehalten. Weil aber die Ehrung eines einzelnen verdienten Bürgers zu seinen Lebzeiten nicht mehr als problematisch angesehen wurde, verlor auch das isonome Gefallenengedenken seine exklusive Stellung als einzige Möglichkeit der Ehrung der Polisbürger. Daneben finden sich noch andere Veränderungen in den Kommemorationspraktiken, die sich auch auf die Popularität und Attraktivität des Gefallenengedenkens auswirkten. So tendierten die hellenistischen poleis dazu, fast ausschließlich Siege zu feiern, Niederlagen andererseits zu vergessen.1365 Diese Entwicklung war zweifelsohne eine Nebenerscheinung der monarchischen Selbstdarstellung dieser Zeit, die zwangsläufig auf die Sieghaftigkeit der Könige fokussierte.1366 Die poleis kopierten und adaptierten die Siegestopik der Könige. Diese Praxis stand in krassem Gegensatz zu jener des 5. und 4. Jh. v.Chr., die über das Medium des Gefallenengedenkens die Kommemoration der Niederlagen von Chaironeia oder Tanagra ebenso erlaubte wie jene der
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Shear 2013, 534 weist darauf hin, wie bemerkenswert es ist, dass die epitaphioi logoi auch im 4. Jh. v.Chr. weiterhin auf die Gruppe fokussierten, obwohl in dieser Zeit in anderen Medien bereits zunehmend Individuen geehrt wurden. Umso auffälliger ist daher der Bruch, der sich in der Rede des Hypereides zeigt. Vgl. Chaniotis 2005, 241–243: „The Hellenistic Age was the golden age of protagonists, and this is also reflected in the emphasis given to great individuals in the commemoration of war: kings, generals, and leaders“ (Zitat 242). Siehe auch Pollitt 1986, 19; Rice 1993, 225–227; Osborne 2010, 262–264 zum Beginn dieser Entwicklung in Athen. Siehe Chaniotis 2012, 45–48; 51; 2005, 227f.; 233–240; Low/Oliver 2012, 9. Vgl. v.a. Gehrke 1982, passim aber etwa auch Chaniotis 2005, 57–77.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
Siege von Plataiai und Salamis. Das Paradigma der Sieghaftigkeit übertrug sich demnach auch auf die Selbstdarstellung der poleis, und so wird unter dieser Voraussetzung weiter deutlich, warum das Gefallenengedenken nicht mehr die gleiche Attraktivität bot, die es noch in den Jahrhunderten zuvor ausgestrahlt hatte. Wenn nämlich der ideologische Referenzrahmen ausschließlich auf den Sieg des Gemeinwesens ausgerichtet war, verlor das Gefallenengedenken, das stets auch einen Verlust an Leben und individuelle Niederlagen kommemorierte,1367 immens an Attraktivität. Wurde das Erinnern an den Kampf und die Opferbereitschaft der Mitbürger einst dazu genutzt, das Fortbestehen des Gemeinwesens auch in schlechten Zeiten zu demonstrieren und zu zelebrieren, bevorzugten die poleis nunmehr Monumente und Rituale, die in Anlehnung an die monarchische Repräsentation Sieghaftigkeit und Triumph betonten. Dies erklärt auch, warum die poleis ihre Erfolge im Kampf gegen die hellenistischen Monarchen bevorzugt durch Feste zelebrierten und kommemorierten, anstatt auf das Gefallenengedenken zurückzugreifen. Die politischen und sozialen Umwälzungen, die die griechische Staatenwelt seit dem 4. Jh. v.Chr. erfassten, wirkten sich demnach auf vielfältige Weise auch auf das Gefallenengedenken aus und trugen so zu dessen Verschwinden bei. Zum einen bedingten die zunehmende Aufweichung des Gleichheitsideals gegenüber der prononcierteren Herausstellung einzelner Bürger, der weitgehende Verlust der politischen Unabhängigkeit der poleis und die Ausweitung des Söldnerwesens, dass das staatliche, kollektive Gefallenengedenken an Attraktivität verlor. Alle drei Entwicklungen trafen die Praxis im Kern und obwohl die Auswirkungen des soziopolitischen Wandels in den einzelnen Bereichen nicht allzu gravierend erscheinen mögen, konnten sie doch weitreichende Folgen für die Kommemoration der Gefallenen haben. Schließlich waren es gerade die Konvergenz und das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren, die die Praxis des Gefallenengedenkens in den griechischen poleis begünstigten. Auch kleinere Veränderungen konnten daher in der Summe die Attraktivität des Gefallenengedenkens deutlich verringern. Zum anderen lassen sich noch andere Entwicklungen außerhalb des hier aufgestellten Modells fassen, die den Rückgang der Praxis bedingten. Insbesondere sind hier die Ausweitung der paradigmatischen Sieghaftigkeit der Könige auf die poleis sowie die verminderte Restriktivität bezüglich der Ehrung von Individuen zu nennen, die die Kommemorationskultur der poleis in ihrem Kern veränderten und sich negativ auf die Attraktivität des Gefallenengedenkens auswirkten. Freilich bieten die hier aufgelisteten Faktoren und Entwicklungen keineswegs eine allgemein gültige Erklärung, die das Entstehen und Verschwinden des staatlichen Gefallenengedenkens in jedem Fall verständlich machen könnte. Schon alleine die Tatsache, dass sich trotz der hier nachgezeichneten Veränderungen bis ins 2. Jh. v.Chr. hinein Zeugnisse staatlicher, kollektiver 1367
Zu diesem negativen Aspekt der Gefallenenkommemoration siehe Arrington 2010, 67–73; 2011, 192f. sowie etwas zurückhaltender auch 2015, 90; 113. Ähnlich auch Low 2010, 356f.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
Gefallenenkommemoration finden, zeigt dies. Zudem gäbe es sicherlich noch weitere Bereiche der griechischen Lebens- und Geisteswelt, deren Bedeutung für das Gefallenengedenken genauer untersucht werden müsste. So ließe sich beispielsweise fragen, welche Rolle Jenseitsvorstellungen oder andere religiöse Konzepte für die Entwicklung der Praxis spielten. Doch weil es sich – wie im Vorangegangenen deutlich geworden ist – beim griechischen Gefallenengedenken um ein dezidiert politisches Ritual handelte, lassen sich bereits mithilfe der hier aufgeführten Zusammenhänge die zentralen Funktionen der Praxis aufzeigen und die generellen Tendenzen ihrer Geschichte erklären. Überdies ergeben sich hieraus wichtige Ansätze für die Beantwortung der Frage, warum das Gefallenengedenken in der europäischen Vormoderne nur in diesen wenigen Jahrhunderten und nur in diesem Kulturraum auftrat. In der Geschichte Roms findet sich beispielsweise nur eine einzige Gelegenheit, bei der die Gefallenen einer Schlacht bzw. eines Feldzuges kollektiv beigesetzt und ihr Grab mit einem permanenten staatlichen Monument markiert wurde: das trajanische Denkmal von Adamklissi, das mit seinem auffälligen tropaion nicht nur den Ort der Schlacht markierte, sondern auf dem zugehörigen Altar auch die Namen der gefallenen römischen Soldaten auflistete.1368 Einen ähnlichen Fall staatlicher, kollektiver Gefallenenkommemoration gab es weder in der Zeit der Römischen Republik noch in der Kaiserzeit, wenn wir von der Bestattung der Gefallenen der Varusschlacht durch Germanicus absehen. Hier ließe sich argumentieren, dass die Bestattung der Toten, die erst sechs Jahre nach der Schlacht vollzogen wurde, aufgrund dieser besonderen Umstände und der Person des Germanicus den Charakter eines Staatsbegräbnisses angenommen haben mag.1369 In diesem Fall ist die besondere Sorge für die Toten freilich auf das vorangegangen Versäumnis der Bestattung zurückzuführen, die so zugleich entsühnt werden konnte. Im Übrigen wird in den Qurellen keine Monumentalisierung des Grabes erwähnt. Abgesehen von diesen beiden Episoden ist in diesem Kontext nur noch eine weitere Begebenheit zu erwähnen. So forderte Cicero in seiner vierzehnten Philippischen Rede gegen Marcus Antonius, die Gefallenen der Schlacht von Forum Gallorum auf staatliche Kosten zu bestatten und auf dem Schlachtfeld ein Denkmal zu ihren Ehren zu errichten.1370 In der Rede selbst wird deutlich, dass Ciceros Vorschlag eine absolute Ausnahme darstellte, die ein Abweichen von den üblichen römischen Traditionen bedeutet hätte. Diese Abkehr von der Norm sollte den Ernst der Lage verdeutlichen, Antonius als hostis brandmarken und die Sol1368
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1370
Zum Monument siehe Florescu 1965, passim; Rossi 1971, 55–65; 1997, passim; Wesch-Klein 1993, 56f.; Hope 2003, 91f.; Peretz 2005, 126f.; Cooley 2012, 67–71. So äußert sich etwa Wesch-Klein 1993, 55f. Von der Bestattung berichten Tac. Ann. 1.60.3–62; Suet. Cal. 3.2; Cass. Dio 57.18.1. Vgl. Cic. Phil. 14.33f. sowie Wesch-Klein 1993, 53–55; Hope 2003, 90f.; Peretz 2005, 125f.; Cooley 2012, 64–67.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
daten in den Heeren der beiden gefallenen Konsuln auf Seiten des Senats halten. Ciceros Vorschlag wurde vom Senat jedoch nicht umgesetzt, sodass es auch in diesem Fall bei den üblichen Verrichtungen für die Gefallenen blieb. Diese bestanden lediglich in der Bestattung der Toten auf dem Schlachtfeld, für die der jeweilige Kommandant Sorge zu tragen hatte, schlossen aber eben keine Rückführung oder sonstige Formen der Kommemoration ein. Solche Verrichtungen lagen ausschließlich in der Hand der Angehörigen oder der Kameraden und wurden von staatlicher Seite nicht weiter befördert.1371 Ganz im Gegenteil wurden derartige zusätzliche Maßnahmen zum Teil sogar eingeschränkt. Appian berichtet beispielsweise, dass der Senat 90 v.Chr. verfügt habe, dass keine privaten Rückführungen von Gefallenen mehr durchgeführt werden dürften, weil die Senatoren befürchtet hätten, der Anblick der Toten und die extensive Trauer könnten sich negativ auf die Moral der Bürger auswirken. In einer ähnlichen Bestimmung hatte der Senat laut Livius bereits zur Zeit des 2. Punischen Krieges die Klage um Gefallene in der Öffentlichkeit eingeschränkt und die Trauerzeit auf 30 Tage begrenzt.1372 Wie in Griechenland stuften auch in Rom die führenden Politiker übermäßige Klage als gefährlich und moralzersetzend ein. Wo jedoch zumindest einige der griechischen poleis versuchten, diese potentiell gefährlichen Energien durch die Einrichtung eines staatlichen Gefallenenrituals aufzufangen, in geregelte Bahnen zu lenken und sogar noch einen positiven moralischen Effekt zu erzielen, versuchten die Senatoren, sie schlichtweg zu unterdrücken. Keineswegs blendeten die Römer dabei militärische Niederlagen völlig aus, wie dies die hellenistischen Monarchen und poleis weitestgehend taten. Stattdessen hielten sie solche Ereignisse als dies nefasti in ihrem Kalender fest1373 und verlegten die Kommemoration von Niederlagen damit in die religiöse Sphäre. In der physischen – visuellen! – Kommemoration der Kriege durch Monumente und Weihgeschenke beschränkten sich die Römner ausschließlich auf Siege. Im Sieg wie in der Niederlage erinnerten sie zudem primär an die Ereignisse selbst und nicht so sehr an die beteiligten Personengruppen. Lediglich einzelne, besonders verdiente Feldherren konnten durch besondere Ehrungen ausgezeichnet werden, und so blieb auch das funus publicum auf Einzelpersonen beschränkt.1374 Gemein war den Römern und den Griechen im Umgang mit ihren Gefallenen demnach nur die grundlegende Verpflichtung zur Bestattung. Will man sich nun der Frage, warum das staatliche, kollektive Gefallenengedenken sich in Rom nie durchsetzen konnte, systematisch nähern, bietet es sich an, auf die oben diskutierten Faktoren zurückzukommen, die auch im Falle Roms dabei helfen können, die Kommemorati-
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Siehe Webster 1969, 271–273, Wesch-Klein 1993, 53; Hope 2003, 87–90; Peretz 2005, 123f.; Cooley 2012, 72–77. Vgl. App. B.C. 1.5.43 und Liv. 22.55.3–56.5 sowie Peretz 2005, 128; Hope 2003, 87f. Siehe Hope 2003, 84. Vgl. Wesch-Klein 1993, 6–19.
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III. Das Verschwinden des Gefallenengedenkens
onspraktiken bzw. deren Fehlen zu verstehen. Wenden wir das oben aufgezeigte Raster zunächst einmal auf das republikanische Rom an, so sehen wir, dass die Kriterien einer starken, geteilten Identität und der unabhängigen Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens zweifelsohne gegeben sind, dass sich aber in den anderen Bereichen durchaus signifikante Unterschiede feststellen lassen. Denn obwohl auch in Rom alle Bürger frei und aktiv an den politischen Entscheidungen des Gemeinwesens und somit auch an der Kriegsentscheidung beteiligt waren, lassen sich die direkte Stimm- und Redebeteiligung der griechischen ekklesiai nur schwer mit dem Körperschaftensystem bei der Abstimmung in den Zenturiatkommitien gleichsetzen. Auch wenn sich nämlich die breite Bürgerschaft hier durchaus Gehör verschaffen konnte,1375 war die Dominanz der aristokratischen Oberschicht in diesem Gremium doch wohl allen Beteiligten bewusst. Hinzu kommt, dass mit der territorialen Erweiterung des Römischen Reiches mehr und mehr Bürger faktisch nicht mehr an den Kriegsbeschlüssen beteiligt waren, weil eine Teilnahme an den comitia für sie aufgrund der räumlichen Distanz nicht möglich war. Daher muss durchaus fraglich erscheinen, ob die Kriegserklärungen, die in diesem Gremium beschlossen wurden, tatsächlich in ähnlichem Maße als Entscheidungen der gesamten Bürgerschaft wahrgenommen wurden, wie jene, die in den griechischen poleis getroffen wurden.1376 Vor allem führt uns dieser Punkt aber zum wohl wichtigsten Faktor, der die Entwicklung kollektiven Gefallenengedenkens in Rom hemmte. Anders als selbst in den oligarchischen poleis Griechenlands, setzte sich in Rom nämlich nie eine ähnlich ausgeprägte Gleichheitsvorstellung durch. Vielmehr handelte es sich im Falle Roms um eine stark stratifizierte Ständegesellschaft mit einem fest institutionalisierten Klientelsystem, deren aristokratische Oberschicht ihre Agonalität eben primär auf den Feldern der Politik und des Militärwesens auslebte. In dieser Konstellation war die demonstrative Zurschaustellung der Leistung des einzelnen Aristokraten von derartiger Bedeutung für seine eigene soziale Stellung und die seiner Familie, dass die Senatoren überhaupt kein Interesse daran gehabt haben können, die Aufmerksamkeit auf das Kollektiv der gefallenen Bürgersoldaten zu lenken. Gerade der Umgang der senatorischen Familien mit den eigenen Kriegsgefallenen zeigt dies besonders deutlich. Das oben zitierte Verbot der Rückführung Gefallener war nämlich nur beschlossen worden, weil die Angehörigen und Freunde der getöteten patrizischen Krieger dem Rücktransport und der Bestattung der Toten derart große Sorge gewidmet hatten und damit so gewaltige Aufmerksamkeit erregt hatten, dass sie das effektive Funktionieren des Gemeinwesens gestört hatten.1377 In einem solchen Gemeinwesen, 1375
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So beispielsweise als der Kriegsbeschluss für den Zweiten Makedonischen Krieg zunächst von den comitia abgelehnt wurde (vgl. Liv. 31.6–8.1). Zum Aufbau und Funktionieren der Zenturiatkommitien siehe grundlegend Rosenberg 1911; Taylor 1990; Kienast 1975. Vgl. Anm. 1372. App. B.C. 1.5.43 betont ausdrücklich, dass es sich um patrizische Gefallene gehandelt habe.
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3. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis
in dem private aristokratische Begräbnisse Staatsakten gleichkamen1378 und in dem das höchste militärische Ritual in der gottgleichen Ehrung des siegreichen Feldherrn im Triumph bestand, war nicht zu erwarten, dass die politischen Entscheidungsträger, die alle selbst auf eine solche Ehrung ihrer Person hofften, den Fokus der Kriegskommemoration auf das Kollektiv der Gefallenen lenken würden. Zweifelsohne sind auch hier noch weitere Faktoren anzuführen, die bedingten, dass das Gefallenengedenken im antiken Rom nie Fuß fasste. In der Kaiserzeit war etwa von großer Bedeutung, dass das römische Heer in ein Berufsheer umgewandelt wurde. Hierdurch wurde die Gemeinschaft in ähnlicher Weise von der Kommemorationspflicht entbunden, wie wir dies auch schon im Falle der Söldner in den hellenistischen poleis gesehen haben.1379 Darüber hinaus ließe sich beispielsweise fragen, wie sich die religiöse Konstruktion des Kriegs als bellum iustum auch auf die Kommemoration des Krieges und seiner Opfer auswirkte.1380 Obwohl sich daher noch weitere Untersuchungsperspektiven anbieten würden, will ich es dennoch bei dieser kursorischen Betrachtung der römischen Verhältnisse belassen. Denn anhand dieses Exkurses konnte bereits in ausreichendem Maße gezeigt werden, dass die von mir definierten Faktoren dazu beitragen können, zu erklären, warum das Gefallenengedenken gerade im Kontext der griechischen Polisstaaten entstand, nicht aber in den übrigen Gemeinwesen der westlichen Vormoderne. Die strukturellen und ideologischen Grundlagen der polis begünstigten die Idee einer staatlich organisierten Kommemoration aller gefallenen Bürger, deren freiwilliges Opfer für das gemeinsam getragene Gemeinwesen anerkannt und geehrt werden sollte. Gleichzeitig muss aber auch deutlich gemacht werden, dass das Gefallenengedenken nicht zwangsläufig aus dieser Konstellation entstehen musste. Vielmehr musste sich aus den konkreten historischen Umständen ein Anlass ergeben, der die politischen Entscheidungsträger der jeweiligen polis dazu bewog, diese spezielle Form der politischen Ehrung zu bemühen. Schließlich stand den poleis noch eine Reihe weiterer politischer Rituale zur Verfügung, die sie ebenfalls zur Kommemoration militärischer Ereignisse einsetzen konnten. Auch wenn sich daher einige bestimmte Konstellationen aufzeigen lassen, in denen das Gefallenengedenken sich aufgrund seiner speziellen Charakteristika besonders anbot, bestimmten letztlich doch die konkreten Umstände und die jeweiligen politischen Entscheidungsträger, ob der Gefallenen im Kollektiv gedacht werden sollte oder nicht.
1378 1379
1380
Man denke nur an die eindrucksvolle Beschreibung der pompa funebris bei Polyb. 6.53–54.3. Vgl. Wesch-Klein 1993, 57f. und den Kommentar bei Cooley 2012, 72 sowie auch Hölscher 2003, 14. Siehe Rüpke 1990.
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Was vom Tode übrigbleibt …
Was vom Tode übrigbleibt … Zum Schluss dieser Arbeit will ich nicht auf lange Zusammenfassungen der Ergebnisse oder auf eine ausufernde Einordnung des griechischen Gefallenengedenkens in die breitere Geschichte der Praxis verfallen. Beides ist im Rahmen der Untersuchung – im letzten Hauptteil sowie zu Ende der jeweiligen geographischen Abschnitte – bereits in ausreichendem Maße geschehen. Stattdessen will ich nur kurz einige übergreifende Erkenntnisse der Arbeit hervorheben und auf einige offene Probleme und Perspektiven für weitere Arbeiten hinweisen. Zunächst möchte ich noch einmal auf Athen zurückkommen, das auch Ausgangspunkt der Arbeit war. Die Untersuchung der außerattischen Zeugnisse des Gefallenengedenkens hat diesbezüglich – trotz der enormen Unterschiede in Zahl, Art und Dichte der Belege – eindrucksvoll bestätigt, dass die Praxis in Athen tatsächlich so stark ausgeprägt war wie in keinem anderen griechischen Gemeinwesen. Sowohl in der Bandbreite als auch in der Konsequenz, mit der jedes Jahr die Kriegstoten zurückgeführt und beigesetzt wurden, war der attische patrios nomos, wie er von ca. 465 v.Chr. bis ins erste Viertel des 4. Jh. v.Chr. durchgeführt wurde, singulär. In keiner anderen der untersuchten poleis deuten die erhaltenen Zeugnisse auch nur im Ansatz darauf hin, dass das staatliche, kollektive Gefallenengedenken mit ähnlicher Regelmäßigkeit oder vergleichbarem Aufwand praktiziert wurde. Wie ich oben dargelegt habe, ist die außergewöhnliche Form und Bedeutung des attischen patrios nomos auf die Besonderheiten der attischen Demokratie sowie auf seine enge Verknüpfung mit der attischen arche zurückzuführen. Der Erfolg der demokratischen Ordnung, der sich in den Siegen über die Perser eindrucksvoll angekündigt hatte und sich dann in der Errichtung des Seebundes und der Herrschaft über die Bundesmitglieder perpetuierte, wurde mittels des politischen Rituals des Gefallenengedenkens zelebriert, das zugleich die Bürger auf die Kosten und den Einsatz für die Erhaltung der arche einschwor. Der patrios nomos wurde zum Symbol für die Stärke und den Zusammenhalt der Athener und als solches mit jedem Jahr und jedem neuen Gefallenengrab wirkmächtiger. Erst als gegen Ende des 5. Jh. v.Chr. die Belastungen des andauernden Kriegszustands zu einer Veränderung der soziopolitischen Rahmenbedingungen und der Honorarpraktiken führten, sah sich auch das attische Gefallenengedenken einem beschleunigten Wandel ausgesetzt. Darüber hinaus hat die Arbeit deutlich machen können, dass die Anwendung von allzu starren Modellen für die Untersuchung des Gefallenengedenkens in den griechischen poleis nicht sinnvoll ist. Selbst in Athen, wo die Praxis sich durch eine außergewöhnliche Beständigkeit 407
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auszeichnet, sind regelmäßig Ausnahmen, Variationen und Abweichungen vom vermeintlichen ‚Standardformat‘ des patrios nomos zu beobachten. In anderen poleis manifestierte sich der Variantenreichtum sogar noch stärker. Nur selten lassen sich überhaupt Kontinuitäten in den Formen oder den Modi des Gedenkens nachweisen. Wurde in einem Jahr aller Gefallenen gemeinsam durch ein Epigramm gedacht, konnte nur wenige Jahre später ein einzelner Gefallener besonders hervorgehoben und im Zentrum der Gemeinschaft kommemoriert werden, während wieder einige Zeit darauf möglicherweise eine Gefallenenliste die Toten des Gemeinwesens aufzählte. Erneut muss hier auf die schlechte Überlieferungslage für den Großteil der behandelten poleis hingewiesen werden, der zweifelsohne viele der zu beobachtenden Lücken und Inkongruenzen geschuldet sind. Dennoch kann die Vielfalt der Formen und Modi nicht alleine durch einen Verweis auf die Quellenproblematik erklärt werden. Vielmehr zeigt sich hierin die Flexibilität der Praxis, die stets den konkreten historischen Umständen angepasst und auf die akuten Bedürfnisse der Gemeinschaft ausgerichtet werden konnte. Schließlich wurde die Ausformung des Gefallenengedenkens nicht nur durch den historischen, sondern auch durch den lokalen Kontext bestimmt. Denn wie die Untersuchung ebenfalls gezeigt hat, richteten sich die konkreten Formen der Praxis stets nach den politischen, sozialen, aber auch traditionellen Gegebenheiten der jeweiligen polis. Selbst in jenen Städten, in denen eine Nachahmung des attischen Vorbildes angenommen werden könnte, finden sich daher Abwandlungen, die eine lokale Prägung des Gefallenengedenkens durch die jeweilige ausrichtende polis erkennen lassen. Ob der Kriegstoten etwa, wie in Athen, zentral oder, wie in Sparta, völlig dezentral gedacht wurde, oder ob eine polis, wie in Argos, vor allem der mythischen Gefallenen gedachte oder sich, erneut wie in Athen, auf die historischen Kriegstoten konzentrierte, lässt sich durch die soziopolitische Struktur und die Traditionen des Gemeinwesen erklären. Eben daher war ein zentrales Anliegen der Arbeit, das Gefallenengedenken jeweils erst im polisinternen Kontext zu betrachten. Nur so lassen sich die Details und kleinen Unterschiede in der Praxis erkennen, die aber doch so wichtig sind, um das Gefallenengedenken selbst sowie die ihm zugrundeliegenden Strukturen zu verstehen. Die spezifischen Formen des Umgangs mit den Gefallenen wurden von den spezifischen Charakteristika des jeweiligen Gemeinwesens determiniert und lassen daher auch Rückschlüsse auf dieses zu. Freilich sind dem Erkenntnisgewinn hier Grenzen gesetzt. Wiederholt habe ich auf die lückenhafte Überlieferungslage und die Probleme der Datierung hingewiesen, die es oftmals unmöglich machen, die Zeugnisse des Gefallenengedenkens in einem konkreten Kontext zu verorten. Gerade die Einordnung in polisinterne Entwicklungen und die Identifikation von Akteuren und Autoren des Gefallenengedenkens wird hierdurch signifikant erschwert. Ob beispielsweise eine bestimmte Gefallenenliste vor oder nach einem demokratischen Umsturz entstand und damit als Versuch der Affirmation der alten Ordnung oder als demonstrative Zurschaustellung des 408
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neuen Systems anzusehen ist, lässt sich anhand einer ausschließlich paläographischen Datierung kaum entscheiden. Sicherheit könnten hier freilich einzig neue Erkenntnisse oder gar neue Funde aus der jeweiligen polis bringen. Schwieriger gestaltet sich hingegen die Frage, wie mit dem völligen Fehlen von Zeugnissen des Gefallenengedenkens in einigen poleis umzugehen ist. Lässt sich hieraus schließen, dass die Praxis in diesen Gemeinwesen schlichtweg nicht existierte oder muss das Ausbleiben von Belegen doch auf die oftmals schlechte Quellenlage zurückgeführt werden? Einerseits sollte vermieden werden, ex silentio zu argumentieren. Andererseits zeigen die Unterschiede, die sich in der Ausprägung des Gefallenengedenkens in den poleis finden, dass Analogieschlüsse – wenn überhaupt – nur mit äußerster Vorsicht gezogen werden können. Auch die Annahme, die Praxis habe in jeder polis in irgendeiner Form existiert, schlichtweg weil sie sich in vielen poleis zu einem oder mehreren Zeitpunkten nachweisen lässt, verbietet sich somit. Ich habe mich daher dazu entschieden, in diesen Fällen ein Ausbleiben des Gefallenengedenkens anzunehmen. Erst unter der Prämisse, dass das staatliche, kollektive Gefallenengedenken eben keine Selbstverständlichkeit war, konnten schließlich die oben präsentierten Erkenntnisse hinsichtlich der Entstehung und des Verschwindens der Praxis gewonnen werden. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Quellenfunde in diesen Punkten Klarheit bringen und unser Verständnis des griechischen Gefallenengedenkens noch weiter vertiefen. Gerade in Hinblick auf die Einordnung der Praxis in polisinterne Entwicklungen versprechen neue Materialien einen signifikanten Erkenntnisgewinn. Auch wäre es wünschenswert, den Vergleich zum privaten Grabkult in mehr Fällen und größerem Detail anstellen zu können, um so tiefere Einblicke in das Verhältnis von oikos und polis im Gefallenengedenken zu erlangen. Es bleibt jedoch äußerst fraglich, ob dies jemals auch nur in einem annähernden Maße möglich sein wird wie im Falle Athens. Schließlich böte sich für künftige Untersuchungen eine weitere Verschiebung der Perspektive an. Denn obwohl das griechische Gefallenengedenken zweifelsohne primär politisch determiniert war, wäre auch die Frage, inwiefern die religiösen Vorstellungen der Griechen sich auf die Praxis auswirkten, von großem Interesse. Ebenfalls denkbar wäre eine Erweiterung des Vergleichsrahmens in diachroner wie geographischer Hinsicht. Gerade die eingangs der Untersuchung zitierten, neueren Arbeiten zum modernen Gefallenengedenken bieten eine Reihe vielversprechender Ansatzpunkte für historische Vergleiche. So beginnt und endet diese Arbeit über die antike Gefallenenkommemoration beim Gedenken an die Kriegstoten in der Moderne. Dies ist freilich kein Zufall. Die Ähnlichkeiten in den Formen und Modi des Erinnerns liegen nicht nur in strukturellen Gemeinsamkeiten der antiken und modernen Gemeinwesen, sondern vor allem in bewussten Imitationen begründet. 409
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Hierin zeigt sich denn noch einmal die Wirkmacht der Praxis. Das Epigramm für Leonidas und die Dreihundert, der epitaphios logos des Perikles und der Löwe von Chaironeia hielten die Erinnerung an die Gefallenen nicht nur für die Zeitgenossen fest. Selbst Jahrhunderte und Jahrtausende nachdem sie ihr Leben im Kampf für ihre Heimat ließen, wird ihrer noch immer gedacht.
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434
Anhang
Anhang Tabelle der auf den attischen Gefallenenlisten verzeichneten Offiziere, Funktionsträger und Verbündeten Die folgende Tabelle listet alle Offiziere und Funktionsträger, die in den attischen Gefallenenlisten verzeichnet werden, mit Name, Phylenzugehörigkeit, Datum und IG-Nummer auf. Hierdurch soll ein Überblick über die genannten Amtsbezeichnungen und anderen Titel erleichtert sowie deren Verteilung auf eine relativ geringe Zahl von Monumenten verdeutlicht werden. Die Datierungen entsprechen jeweils den Angaben in IG, wobei die häufig vorgeschlagene, präzise Datierung auf ein Jahr zumeist nicht als absolut gesichert gelten kann. Name
Phyle
Position
Datum
IG-Nr.1381
[---]antos
?
Trierarch
2. H. 5.Jh.
1166, Z. 2
Daisias
Aiantis
Trierarch
ca. 411
1186, Z. 108
Lukeas
?
Trie[rarch]
ca. 411
1190, Z. 42
Phokion
?
Trie[rarch]
ca. 411
1190, Z. 3
Menon
?
Trierarch
5. Jh.
1192, Z. 8
Nautes
?
Trie[r]arch
5. Jh.
1192, Z. 34
---
Oineis
[Trierarc]h
409
1191, Z. 203f.
[---]os
Oineis
[Trierar]ch
409
1191, Z. 201f.
[---]mos
Oineis
[Trierar]ch
409
1191, Z. 199f.
1382
1383
Soweit nicht anders vermerkt bezieht sich die Angabe auf IG I3. An dieser Stelle sei nochmals darauf verwiesen, dass anstelle der hier gegebenen Rekonstruktion als Trierarch für viele der nur fragmentarisch erhaltenen Titel auch eine Rekonstruktion als Taxiarch oder Toxarch möglich wäre. Vgl. Anm. 220. 1383 CLAIRMONT 1983, 201f. Nr. 58c schlägt „410?“ als Datierung vor. 1381 1382
435
Anhang
[---]s
Oineis
[Trierar]ch
409
1191, Z. 197f.
[---]kles
Aigeis
[Triera]rch
409
1191, Z.42f.
[---]menes
Aigeis
[Trier]arch
409
1191, Z. 40f.
[---]pos
Aigeis
[Trier]arch
409
1191, Z.38f.
[---]emos
Aigeis
[Trier]arch
409
1191, Z.36f.
[---]mos
Aigeis
[Trier]arch
409
1191, Z. 34f.
[---o]n
Aigeis
[Trierar]ch
409
1191, Z. 32f.
Leok[---]
Pandionis
Trier[arch]
409
1191, Z. 55f.1384
Nikomachos
Leontis
Trierarch
409
1191, Z. 114f.
Kephisophon
Leontis
Trierarch
409
1191, Z. 116f.
Lysanias
Leontis
Trierarch
409
1191, Z. 118f.
Sophilos
Leontis
Trierarch
409
1191, Z. 120f.
---
Hippothontis
[Tri]erarch
ca. 411
1186, Z. 75
Theoros
Leontis
Archon to Nautiko
409
1191, Z.104-106
Pasiphon
Leontis
Archon to Nautiko
409
1191, Z.107-109
Name
Phyle
Position
Datum
IG-Nr.
Ph[---]chos
Erechtheis
Stratege
460(?)
1147, Z. 5f.
Hippodamas
Erechtheis?
Stratege
460(?)
1147, Z. 62f.
Epiteles
?
Stratege
447
1162, Z. 4
Mnesikl[---]
Oineis
Stratege
394/3
II/III2 5221
[Tho]ukle[ides]
Aiantis
[S]trateg[e]
394/3
II/III2 5221
---
Hippothontis
[Peri]polarch
ca. 411
1186, Z. 77
Gemäß der in Anm. 229 vorgeschlagenen Argumentation werden hier die in Z. 58 u. 59 genannten Keph[---] und Charo[---] nicht als Trierarchen aufgelistet.
1384
436
Anhang
Isodikos
Aiantis
Toxarch
ca. 411
1186. Z. 80
---
?
Phro[urarch] (Name?)
ca. 411
1190, Z. 73
[---]estratos
Pandionis
[Phro]urarch (Name?)
409
1191, Z.93f.
[..]preus
?
Ph[rour]arch (Name?)
5. Jh.
1192, Z. 122f.
Puthodoros
Hippothontis
Phylarch
ca. 411
1190, Z. 179
Antiphanes
?
Phylarch
394/3
II/III2 5222
Eukleides
Aiantis
Taxiarch
ca. 411
1186. Z. 79
Amphiloxos
Leontis
Taxiarch
409
1191, Z. 110f.
Python
Leontis
Taxiarch
409
1191, Z. 112f.
Diokl[es]
Leontis
Physikos (Name?)1386
ca. 411
1190, Z. 152
[..]esino[s]
Erech[th]eis?
[I]ateros?
ca. M. 5. Jh.
1160, Z. 5f.
Telenikos
Erechtheis?
Mantis
460(?)
1147, Z. 128f.
Diverse
?
Hippeis
394/3
II/III2 5222
Phruros et al.
Erechtheis?
Toxsotai
460(?)
1147, Z. 67-70
Diverse
?
Bogenschützen
423
1184
Hippo[toxotes]
5. Jh.
1192, Z. 158f.
[Toxsotai barb]aroi
nach M. 5. Jh.
1172, Z. 35-37
Alexs[---]
Diverse
-
1385
Zur Frage, ob es sich bei den Phrourarchen in den Listen um Namen oder Amtsbezeichnungen handelt siehe Anm. 224. 1386 Vgl. Anm. 227. 1385
437
Anhang
Diverse
-
Barbaroi Toxsotai
439-435
1180, Z.26-29
Diverse
-
To[xs]otai [b]arbaroi
ca. 411
1190, Z. 136-141
Diverse
-
Tox[sotai] barba[roi]
5. Jh.
1192, Z. 152-157
Kalippos
aus Eretria
Metöke?
ca. 411
1190, Z. 13f.
Delodotos
aus Keio[s]
Metöke?
v. M. 5. Jh.
1150, Z. 13
Kallikles
aus Eleutherai Metöke?
447
1162, Z. 95f.
Diverse
-
423
1184, Z. 76-78
Xsenoi
-
439-435
1180, Z. 5-8
Xsenoi
-
423
1184, Z. 89-95
Xsenoi
-
ca. 411
1190, Z. 65-72
[H]ylas
-
464
1144, Z. 139f.
Engraph[oi]
[Th]erapontes
Verbündete Madytioi
-
464
1144, Z. 34-38(?)
Byzantioi
-
464
1144, Z. 118-138 (?)
Lemnier
-
kurz n. M. 5. Jh.1387
1164
Lemnier
-
5. Jh.
1165
Beide Monumente für die Lemnier werden von Clairmont zwischen 428 und 422 v.Chr. datiert. Vgl. CLAIRMONT 1983, 184–186 Nr. 46 bzw. 47.
1387
438