108 67 30MB
German Pages [460] Year 2008
V&R
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 117
Vandenhoeck & Ruprecht
Wieland Kastning
Morgenröte künftigen Lebens Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichtsund Wirklichkeitsverständnis
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525- 56345-8
© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht G m b H & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: ® Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort
11
Einleitung
13
I
Geschichte als Ereignisgestalt der Wirkgegenwart Gottes
19
1
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
20
1.1 1.1.1 1.1.2
20 20
1.2 1.3 2
Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung 2.1
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.3 2.4 2.5 3
Begrifflichkeit Geschichte/Historia Begriffe für das Ganze raum-zeitlichen Geschehens Historia magistra vitae Historia mater veritatis Die Engfuhrung der Geschichtsdeutung durch den noetischen Einsatz beim gekreuzigten Christus Der Gekreuzigte als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte Die bleibende Notwendigkeit der metaphysischen Fragestellung Die Notwendigkeit der Rede von der Verborgenheit Gottes remoto Christo Kein hermeneutischer Generalschlüssel zu Luthers Geschichtsdeutung Die Verneinung einer Geschichtstheorie Kritik einzelner Deutungskategorien Abschwächung der soteriologischen Relevanz der Rede vom verborgenen Gott Die kontingente Affektbestimmtheit als Zugang zu Luthers Geschichtsdeutung
Zur Differenz von Erfahrung und Verständnis der Geschichte zwischen Reformation und Neuzeit
24 27 36 42
42 43 47 50 59 60 64 67 73 77
6
Inhalt
II Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes 4
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.5.1 4.6.5.2 4.6.5.3 4.5.6.4 4.6.6
4.7
Terminologische Überlegungen zum Begriff Wirklichkeit bei Luther Metaphysik in Konsequenz der christologisch begründeten Heilsgewissheit Vorchristliche Erfahrung der schöpferischen Allmacht Gottes Wirkende Allmacht und machtvolle Allwirksamkeit Gottes Differenz von Schöpfer und Geschöpf Differente Modi der Wirkgegenwart Gottes in der Schöpfung Differenz zwischen Kreatur erhaltender und Sünde realisierender Wirkgegenwart Gottes Differenz zwischen Zorn realisierender und Gnade mitteilender Wirkgegenwart Gottes Differenz in der Wirkrichtung der Sünde realisierenden Wirkgegenwart Gottes Die ontologische Differenz der Modi der Wirkgegenwart Gottes im Sünder Die ontologische Differenz zwischen dem Personsein Christi und der Christen Die Person Christi als Gottes Ereignung der Rechtfertigung des Sünders Glaube als Vollzug exzentrischen Personseins in Christus Exkurs: Vergöttlichung des Menschen? Luthers Verwendung des Substanz-Prädikates im Kontext der Rechtfertigung des Sünders Erneuerung der Kreaturen im Zusammenspiel von erhaltender und erlösender Wirkgegenwart Gottes Resümee
87 87 87 91 94 96 98 103 105 107 111 115 121 121 127 135 148
157 159
Inhalt
5
Die Geschichte als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang von Luthers Wirklichkeitsverständnis 5.1 5.2
5.3
5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
5.10 6
Erfahrung als von Gott verfugte Konstellation der Wirklichkeit Verschlossenheit und Transzendenz der Welt als Erfahrung von verklagendem Gesetz und tröstendem Evangelium Weltgeschehen und Welterfahrung als Modi der schöpferischen, richtenden und rettenden Wirkgegenwart Gottes Die Partikularität des Heils und der Kampf um die Wahrheit der Geschichte Das Werden der neuen Schöpfung im Streit um die Person des gerechtfertigten Sünders Die zwei Zeiten des Christen: Zeit des Krieges und Zeit des Friedens Exkurs: Simultaneität und Sukzessivität von Anfechtung und Glaubenstrost Die Erfahrung der Verborgenheit Gottes zwischen Anfechtung und vergötzter Welt Die partielle Versöhnung der Wirklichkeit in der Geschichte des angefochtenen und getrösteten Glaubens Die Kohärenz der Vielgestaltigkeit Lutherscher Geschichtsreflexion
Heilsgewissheit und Geschichte in Ellert Herms' Interpretation des Lutherschen Wirklichkeitsverständnisses 6.1 6.1.1
6.1.2
6.1.3
Herms' Rekonstruktion des Lutherschen Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis Die Heilsgewissheit des christlich-frommen Subjekts als Einsatz des Wirklichkeitsverständnisses Die Erfahrung des verborgenen Willens Gottes in der Notwendigkeitsgewissheit als Ursprungsgewissheit des christlich-frommen Selbstbewusstseins Notwendigkeitsgewissheit als Freiheitsgewissheit
7
163 163
165
171 177 185 191 193 199
202 205
212 212
212
217 220
8
Inhalt
6.1.4
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Die differenten Modi der Notwendigkeitsgewissheit als gestufte Modi der Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Schöpfers Bewertung und Kritik Ausblendung der Wirklichkeit des deus absconditus Heilsgewissheit als geschenkte Selbstgewissheit Die Aufhebung der qualitativen Differenz von Schöpfung und Erlösung
III Ereignung der Wirklichkeit als Geschichte zwischen Zorn und Gnade - Der reformationsgeschichtliche Kontext 7 8 9
221 230 230 232 236
245
Geschichtsdeutung zwischen Angefochtenheit und Glaubenstrost
247
Luthers Wirklichkeitserfahrung in der Anfechtung vor der reformatorischen Wende
259
Die Zeit des Zorns
272
9.1
Gegenwart als Zeit drohender endzeitlicher Durchsetzung der Herrschaft des Antichrists 9.1.1 Die Herrschaft des Antichrists als System des Selbstabschlusses der Welt vor Gott 9.1.1.1 Exkurs: Der Kampf des Teufels gegen den dreieinigen Schöpfer 9.1.2 Das Hervortreten des Papsttums in Rom als Sitz des Antichrists im Ablass-Streit 9.1.3 Der Antichrist als Gott dieser Welt und der faktische Atheismus seines Systems 9.2 Die Gegenwart als Zeit des nahen endzeitlichen Zorns 9.2.1 Zeit des Zorns und Zeit der Gnade im Antilatomus 1521 9.2.2 Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung während des Wartburgaufenthaltes 1521/22 10 Die Zeit der Gnade unter Vorbehalt 10.1 Das goldene Zeitalter 10.2 Die gegenwärtige Zeit der Gnade 10.2.1 Die Zeit bis zum Tode Kurfürst Friedrichs 1525
272 272 278 281 293 299 301 308 318 319 326 326
Inhalt
10.2.2 Die Zeit bis zum Tode Kurfürst Johanns 1532 10.2.3 Kirchenbegriff und innergeschichtliche Reformation nach 1532 10.2.4 Zusammenfassung 11 Luthers Verständnis des Atheismus als endzeitliche Ereignung des Zorns Gottes im Spiegel der Lutherforschung 11.1 11.2 11.3
Luther und der Atheismus Zeit des Zorns Der Atheismus als Kennzeichen der Zeit des Zorns
9
336 345 348
349 350 354 367
12 Der historische Kontext von Luthers Ansage der Zeit des Zorns
378
13 Resümee: Geschenkte Freiheit am Ende der Zeiten
385
IV Abschließende Überlegungen
391
14 Zur Vergleichbarkeit der soteriologischen Grundsituationen in Spätmittelalter und Neuzeit
391
15 Lutherrezeption und Lutherdeutung im Spiegel des reformatorischen Geschichtsverständnisses
397
15.1 15.2 15.3
15.4
Die geschichtsphilosophische Umformung von Luthers Freiheitsverständnis Die Existenzdialektik von Gesetz und Evangelium Ursachen für den Ausfall theologisch qualifizierenden Redens von Schöpfüng und Geschichte Das Schweigen Gottes als Thema der neueren systematischen Theologie
16 Die Gleichzeitigkeit differenter Erfahrungen der Wirkgegenwart Gottes in der späten Moderne
399 401
405 411 421
Literatur
427
1
427
2
Quellentexte 1.1
Martin Luther
427
1.2
Sonstige Quellentexte
427
Sekundärliteratur und Hilfsmittel
Sach- und Namensregister
429 445
Für Cornelia
Vorwort
»Wir,« sprach D. Martinus, »sind jetzt in der Morgenröte des künftigen Lebens, denn wir fangen an, wiederum zu erlangen das Erkenntnis der Kreaturen, die wir verloren haben durch Adams Fall. Jetzt sehen wir die Kreaturen gar recht an, mehr als im Papsttum irgendwann. Erasmus aber fragt nichts darnach, bekümmert sich wenig, wie die Frucht im Mutterleibe formiert, zugerichtet und gemacht wird; so achtet er auch nicht den Ehestand, wie herrlich der sei. Wir aber beginnen von Gottes Gnaden seine herrlichen Werk und Wunder auch aus den Blümlein zu erkennen, wenn wir bedenken, wie allmächtig und gütig Gott sei; darum loben und preisen wir ihn, und danken ihm. In seinen Kreaturen erkennen wir die Macht seines Wortes, wie gewaltig das sei. Da er sagte, er sprach, da stand es da, auch in einem Pfirsichkern; derselbe, obwohl seine Schale sehr hart ist, muss sie sich doch zu seiner Zeit auftun durch den sehr weichen Kern, der drinnen ist. Dies übergeht Erasmus fein und achtet es nicht, sieht die Kreaturen an wie die Kuh ein neues Tor.« WAT 1. 574,8-19
12
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 2003 bei der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation eingereicht. Für die Drucklegung wurde der Text geringfügig verändert und der Anmerkungsteil um einige Hinweise auf neuere Beiträge zum Thema erweitert. Am Ende eines langen Weges ist nun auch fälliger Dank abzustatten: An erster Stelle ist Herr Prof. Dr. Jörg Baur zu nennen, der mir den Zugang zu einem aneignenden Umgang mit Luthers Theologie eröffnet hat. Die Freiheit der Forschung, die er mir während einer fünfjährigen Zeit als Assistent an seinem Lehrstuhl gewährte, die Geduld und die Umsicht, mit der er den auf dem Meer seiner selbst gewählten Großthematik Segelnden immer wieder zum Kurshalten auf rettendes Ufer hin anleitete, fanden Fortsetzung in der Beständigkeit, mit der er den mittlerweile als Gemeindepfarrer und Leiter einer Erwachsenenbildungsstätte Tätigen zum Abschluss seiner Untersuchung ermutigte. Herr Prof. Dr. Joachim Ringleben erstellte des Zweitgutachten. Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar und Herr Prof. Dr. Gunther Wenz befürworteten als Herausgeber die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Herr Dr. Rainer Alisch nahm sich der mühevollen Arbeit der Erstellung der Druckvorlage an, Frau Tina Bruns besorgte verlagsseitig die Redaktion. Glücklich kann sich ein Pfarrer schätzen, dessen wissenschaftliche Passionen seitens seiner Landeskirche nicht nur verständnisvoll begleitet, sondern auch noch großzügig gefördert werden. So geht, stellvertretend für die Schaumburg-Lippische Landeskirche, herzlicher Dank an Herrn OKR Dr. Werner Führer für einen sehr namhaften Zuschuss zu den Druckkosten. Ebenso danke ich meinen Eltern, Johanna und Georg Kastning, für ihre freigiebige Unterstützung der Veröffentlichung meiner Arbeit. Ich widme dieses Buch meiner Frau Cornelia. Wir freuen uns, dass es nun, so Gott will, auch ein Leben nach der Dissertation gibt. Wieland Kastning Bückeburg, in der Osterzeit 2008
Einleitung
»Wenn reformatorisch von der pluralen Vielfältigkeit des Handelns Gottes ausgegangen wird, dann vermag die interne Pluralität der nicht mehr als Persönlichkeit stabilen Subjekte und die Vielspältigkeit des allgemeinen Lebens nicht in Schrecken zu versetzen. [...] Die Beweglichkeit christlichen Lebens auf der Spur des vielgestaltig handelnden Gottes macht dieses zum nüchternen Sympathisanten der Vielfalt gegenwärtiger Lebenswelt.« 1 Diese das neuzeitliche Ideal der Persönlichkeit gelassen verabschiedenden wie das christliche Denken zugleich zu unverstellter Zeitgenossenschaft einladenden Sätze formuliert Jörg Baur im Ausgang von Luthers Wirklichkeitsverständnis. Seine »Überlegungen zur christlichen Identität an der Schwelle zum 21. Jahrhundert« 2 sind geeignet, dem in der Gegenwart fortgeschrittener Moderne in krisenhafter Auflösung begriffenen Selbstverständnis des von der europäischen Aufklärung geprägten Subjekts als selbstbestimmter, vernünftiger Persönlichkeit die Diagnose zu stellen und ihm mit dem Glauben als Vollzug exzentrischen Lebens in Christus eine heilvolle Alternative zum aporetischen Versuch seiner Selbstintegration gedanklich zu eröffnen. Nach Baurs Analyse gelingt die Selbststabilisierung des Subjekts ebenso wenig wie die Ausarbeitung eines einheitlichen, das Ganze der komplexen Wirklichkeit aufschließenden Erkenntnisprinzips. Beides scheitert an der nicht ausweisbaren und nur in Irrtümer verwickelnden Voraussetzung der Einheitlichkeit der Wirklichkeit selbst: Gott ist nicht als »die einheitsstiftende Macht einer einheitlich gefugten Welt« in Anspruch zu nehmen, »unsere gegenwärtige Welt [ist] nicht durch eine singularische Großformel zu begreifen«. 3 Gott ist in der Vielgestaltigkeit seiner Weltgegenwart »nicht >dingfest< zu machen, weder in einem spekulativ erschwingbaren An-Sich noch in der Unmittelbarkeit einer im Gefühl erschlossenen Weltimmanenz des Göttlichen.« 4 Deshalb kann sich der Mensch auch nicht Christentum, 64 und 66 (Thesen 2 und 19). Christentum, III. 3 BAUR, Christentum, 64, These 1, vgl. auch 54: Baur führt die im Vergleich zu den seinerzeitigen Wirkungen Bultmanns und Barths gegenwärtig nur geringe Schulbildung und bestimmende kirchliche Wirkung im letzten Drittel dieses Jahrhunderts von Theologen wie Pannenberg, Moltmann, Ebeling und Jüngel darauf zurück, dass »all diese Versuche in einem entscheidenden Punkt nicht zeitgemäß [waren]. Sie suchten immer noch nach dem Generalschlüssel, der mit dem Zugang zur theologischen Tradition zugleich auch das Schloß der Gegenwart öffnete«. 1
BAUR,
2
BAUR,
4
BAUR,
Christentum,
15.
14
Einleitung
im Verfolg einer als schon immer gegeben vorgestellten, der vorgeblichen Einheit Gottes entsprechend strukturierten Identität selbst gewinnen. In Verkennung dieser Wirklichkeit »sucht der Mensch in der Sünde einen eigenzentrierten Selbst-stand zu gewinnen, um sich selbst als identischen zu haben. Statt, individuell und kollektiv, konkreter Ort des Durchgangs des sich hingebenden Schöpfers zu sein, statt sich in der Offenheit des Empfangs seiner selbst und in der Gemeinschaft mit den anderen Geschöpfen anzunehmen, verschließt sich der Mensch im Eigenen. Alles andere, einschließlich der Gottheit, wird ihm zum Mittel für diesen Zweck.«5 Ex negativo eröffnet diese Diagnose der sich selbst entgleitenden Subjektivität in der fortgeschrittenen Moderne den Weg zur Heilung: Neue Stabilität gewährt allein der exzentrisch in die Person Jesu Christi eingründende Glaube an den Gott, der in Gesetz und Evangelium den Sünder in seiner jeweiligen Situation anredend, dessen wahre Situation vor Gott offenbart und dessen verlorene Identität auch angesichts innerer und äußerer Disparitäten in sich birgt.6 Der Gewinn dieses Glaubens könnte in der Befreiung vom Joch des unerfüllbaren Imperativs zur ganzheitlichen Selbstvermittlung und Selbstintegration durch den Lebensvollzug selbst bestehen. 7 Die Gewissheit, in Christus geborgen zu sein, wird mit Blick auf die schwindelerregende Mobilität der Geschichte, 8 die Disparität der Lebenswelten und das Fragmentarische des individuellen Lebensentwurfes nicht verzweifeln lassen,9 sie wird im Gegenteil Kräfte gegen resigniert verhärtete Gleichgültigkeit10 und unverbindliche Indifferenz11 mobilisieren. 5
BAUR, Christentum,
15.
»>Sola Gratia« werden die Sünder ihrer verkehrten Eigenkonstitution entnommen und in Christus versetzt, der für sie als ihr neuer Lebensort offen ist, um ihnen mit sich Anteil am trinitarisch kommunikativen Leben Gottes zu geben.« BAUR, Christentum, 18. 6
7 Vgl. BAUR, Christentum, 66, These 18: »Die Leibhaftigkeit der Heilszuwendung im Sakrament schenkt, was alle Versuche zur Synthesis der zerspaltenen Subjekte nicht gewähren und befreit zugleich von naturalistischen und ästhetischen >Verheißungen< humaner Ganzheitlichkeit.« 8 Vgl. BAUR, Christentum, 66, These 20: »Der Weltumgang der Christen in sachbezogener Liebe und freier Dienstbarkeit erliegt nicht dem Bann des Schwindelgefühls angesichts der nicht aufzuhaltenden Mobilität der Geschichte.« 9 Vgl. BAUR, Christentum, 67, These 21: »Wenn Welt und Ich Gottes Materie (materia dei) hin auf ihre zukünftige Gestalt sind, muß die Erfahrung einer richtungslosen Prozessualität des Geschehens und des bleibend Fragmentarischen individueller Lebensentwürfe nicht in die Verzweiflung abstürzen.« 10 Vgl. BAUR, Christentum, 66, These 19 (Text siehe die vorliegende Untersuchung, 13 Anm. 1) und These 22: »In der Erwartung der künftigen Selbstidentifikation des offenbaren Gottes (Deus revelatus) am verborgenen Gott (Deus absconditus) werden Klage und Anklage des Warum nicht erstickt, wohl aber aus ihrer sich verhärtenden Ausweglosigkeit befreit.« 11 Vgl. BAUR, Christentum, 67, These 23: »Die Unterstellung aller Gestalten der Kirche unter das Kriterium der Einvermittlung von Menschen in Christus bindet die Vielfalt frömmigkeitlicher und theologischer Pluralität streng an die Bedingungen dieses Vollzuges. Beliebigkeit des Meinens korrumpiert die Christenheit.«
Einleitung
15
Solche Gewissheit ist mit dem Glauben gegeben, dass Gott selbst in, mit und unter der polymorphen Wirklichkeit begegnet und in der jeweiligen Geschichte mit den Seinen in Christus heilvoll unterwegs ist.12 Baur ist überzeugt, dass sich das reformatorische Christentum in Fortfuhrung der »Sache« Luthers13 auch auf der Schwelle des 21. Jahrhunderts in die Gegenwart identitätsstiftend einbringen wird. So »lässt sich als Vermutung im vorab sagen, dass die radikale Ausdifferenzierung von Moderne und Postmoderne, die Inadäquanz holistischer Lösungen für eine unübersichtliche Welt, die Pluralität der Wertungen und Orientierungen mit dem reformatorischen Christentum in je konkreter Weise vermittelbar sind. Reformatorisches Christentum bekommt es nicht mit einer es fremd umstehenden Größe zu tun, wenn es sich der zersplitterten Gegenwart in der Besinnung auf seine eigenen Ursprünge und in erneuertem Vertrauen auf deren beanspruchbare Kräfte stellt.«14 In der vorliegenden Untersuchung soll Baurs affirmatives Urteil bezüglich der Wirklichkeitserschließenden Potenz des reformatorischen Christentums für die späte Moderne im Ausgang von Schriften und Texten Luthers15 dargestellt und bewährt werden. Die nachstehenden Überlegungen entfalten unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten die Grundzüge des Wirklichkeitsverständnisses, das für Luthers Geschichtsreflexion und seine Überlegungen zur menschlichen Freiheit leitend ist. Die Darstellung der reformatorischen Einsichten im Kontext ihres historischen Entdeckungszusammenhanges bildet das Fundament, von dem aus ihre Bedeutung für das religiöse Verstehen in der Gegenwart zu erheben ist und aufgrund dessen dann ermittelt werden kann, welchen Einsichten Luthers zu Recht ein Platz unter den gegenwärtig beanspruchbaren Kräften der reformatorischen Ursprünge zukommt. Luthers Wirklichkeitsverständnis arbeitet sich aus im Spannungsfeld zwischen Heiliger Schrift und nichtbiblischer Literatur, zwischen seiner persönlichen Erfahrung des an und in ihm wirkenden Gottes und seiner eigenen Geschichtswahrnehmung.16 Aufgrund dieser Korrelation von SchriftVgl. B A U R , Christentum, 67, These 21 (vgl. Anm. 9) und These 22 (vgl. Anm. 10). Zum Begriff vgl. B A U R , Christentum, 1 4 F F sowie 6 3 . 1 4 B A U R , Christentum, 63. 15 In der Hauptsache liegen der systematisch-theologischen Lutherdarstellung folgende Texte zugrunde: Rationis Latomianae pro incendiariis Lovaniensis scholae sophistis redditae, Lutheriana confutatio. 1521; De servo arbitrio. 1525; Daß diese Worte Christi (Das ist mein Leib) noch fest stehen wider die Schwarmgeister. 1527; Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528; In epistolam S. Pauli ad Galatas commentarius, ex praelectione D.M.Lutheri collectus. 1531. 1535Dr; Ennaratio Psalmi LI. 1538; [1. Mose] GenesisVorlesung. 1535-1545. 12
13
16 Vgl. z.B. WA 44. 156,5f (Genesis. 1535ff): »quia scriptura idem testatur, nihil dubitabimus respondere experientiam«. WA 44. 724,18-20 (Genesis. 1535ff): »Seimus autem ex scriptura sacra et experientia rerum, quod divinae promissiones et comminationes, cum implentur ac velut in cursu sunt, videntur prorsus contraria.« WA 44. 807,9-11 (Genesis. 1535ff): »cum tarnen sciam verum esse, quod offertus in verbo, non solum ex
16
Einleitung
auslegung, Glaubensvollzug und Welterfahrung kommt es weder zu einer abständigen Rekonstruktion eines biblischen Wirklichkeitsverständnisses noch zu einer deduktiven Einstellung der erfahrenen Wirklichkeit in ein theologisches Konstrukt. Die Korrelation weist vielmehr in die Weite der schon vor und auch nach jeder Begegnung mit Schrift und Verkündigung gegebenen Erfahrung von Gott, Selbst und Welt. Sie bleibt auch vorausgesetzt, wenn von der spezifisch christlichen Erfahrung des Glaubens inmitten und an schon gegebener Erfahrung die Rede ist. Gegenstand dieser spezifisch christlichen »Erfahrung mit der Erfahrung«17 ist die Umstellung des Gottes-, Selbst- und Weltverhältnisses im Widerfahrnis der Anfechtung und ihrer Uberwindung. In einem ersten Gedankenkreis (Teil I) wird mit einer Reihe von Überlegungen die Frage nach Möglichkeit und Notwendigkeit der Ausarbeitung eines der Lutherschen Sicht der Geschichte zugrundeliegenden Wirklichkeitsverständnisses begründet. Auf Klärungen zu Luthers Verwendung des Begriffsfeldes Geschichte/historia (Kap. 1) folgen forschungsgeschichtliche Einblicke in die insbesondere systematisch-theologische Interpretation von Luthers Geschichtsanschauung (Kap. 2). Hermeneutische Überlegungen zum Wandel des Verständnisses von Geschichte zwischen Reformation und Neuzeit (Kap. 3) schließen das I. Kapitel ab. Ein zweiter Gedankenkreis (Teil II) analysiert das für Luthers Sicht der Geschichte konstitutive Verständnis der Wirklichkeit. Im Ergebnis zeigt sich, dass alles raum-zeitliche Geschehen Ereignung eines nach Zeit und Raum differierenden Mit- und Gegeneinanders zu unterscheidender Modi verborgener Welt- und Wirkgegenwart Gottes ist. Auch diesen Überlegungen gehen terminologische und forschungsgeschichtliche Erwägungen voraus, die ihrerseits Möglichkeit wie Notwendigkeit der Erhebung von Luthers Wirklichkeitsverständnis begründen. Dem ersten analytisch-deduktiven Zugang zu Luthers Wirklichkeitsverständnis (Kap. 4) korrespondiert ein zweiter, synthetisch-induktiver Gedankengang (Kap. 5), der die Geschichtserfahrung des angefochtenen Glaubens als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang von Luthers Wirklichkeitsverständnis vorstellt. Er zeigt aus der Erfahrungsperspektive auf, dass in Luthers Verständnis zwar von einer eschatologisch manifest werdende Einheit der Wirklichkeit, nicht aber von einer geschichtsimmanent ausweisfähigen einheitlich strukturierten Wirklichkeit geredet werden kann. Vielmehr ist die Wirklichkeit, und mit ihr das vom Geist ergriffene Subjekt des Glaubens, hineingestellt in die Spannung ihres simultanen wie auch sukzessiven Schwingens zwischen Bejahung und Verneinung, Anfechtung und Trost, Zorn und Gnade, Schweigen Gottes und Ereignung seines Wortes. Der dritte Gedankengang scriptura sacra, sed experientia in tentationibus doctus et confirmatus.« Vgl. auch W A 44, 73,37-74,2 (Genesis. 1535ff); BSLK 568,21ff/W 30 I. 137,15ff (Gr.Kat. 1529); W 51. 232,19-21 (Psalm 101. 1534/35): »Es will und mus bey einander sein falsche lere und morden, wie die gantze Schrift, alle historien und tegliche erfarunge zeugen.« 17 Formulierung im Anschluss an JÜNGEL, Sache, 8.
Einleitung
17
(Kap. 6) bietet eine kritische Sichtung der von Ellert Herms vorgelegten Darstellung Lutherscher Fundamentaltheologie, die er aufgrund der Schrift De servo arbitrio und mit Hilfe des Großen Katechismus entwickelt. Im Unterschied zu den in dieser Untersuchung vertretenen Einsichten zeigt sich Herms überzeugt, ausgehend von der Heilsgewissheit des christlich-frommen Subjekts ein trinitarisch-prozessuales und damit wiederum einheitliches Verständnis der Wirklichkeit bei Luther ausweisen zu können. Ein dritter Gedankenkreis (Teil III) wendet sich Luthers Rede vom objektiven Verfugtsein bestimmter geschichtlicher Zeiten und Räume unter dem Zorn oder der Gnade Gottes zu. Luther sieht die Morgenröte künftigen Lebens18 aufscheinen über der Zeit, die die Nachwelt als Reformation bezeichnet. Von einer Hoffnung besserer oder einem Anbrach neuer Zeiten kündet seine Zeitansage freilich nicht. Die Gegenwart ist vielmehr die dem nahen Ende der Geschichte vorauslaufende Zeit, die schon erhellt ist von dem Licht des anbrechenden Tages, mit dessen Aufgang sie vergehen wird. Das geschichtlich unableitbar die Gegenwart erhellende Licht des reformatorischen Evangeliums fuhrt das Ende der Geschichte herauf und bestimmt eine befristete Spanne der noch verbleibenden Zeit des alten Äons neu als Zeit der Gnade. Christus, der in seinem wirkmächtigen Geist-Wort wiederkehrt, ergreift das geschichtliche Dasein des Sünders als Stoff seines erneuernden Schöpfungshandelns und führt es in Kampf und Scheidung zwischen Glaube und Unglaube als angefochtene Existenz des Glaubens seiner vollendeten Gestalt im künftigen Leben entgegen. Der Glaube gewinnt die mit der Ursünde verlorene Erkenntnis Gottes und seiner Kreaturen anfänglich wieder und befreit zu einer neuen Wertschätzung des geschichtlichen und naturhaften Lebens. Die spannungsgeladene Geschichte des reformatorischen Aufbruchs zwischen evangelischer Erneuerung und zunächst allein altgläubigem, dann auch innerreformatorisch schwärmerischem Widerstand legt sich ihm im Licht der Heiligen Schrift als sukzessive Abfolge wie auch komplexe Verschränkung von vorendzeitlicher Zeit der Gnade und naher Zeit des endzeitlichen Zorns aus. Die aufbrechende Geschichtsmächtigkeit einer sich in den Bildungsschichten meldenden epikureischen, den neuzeitlichen Atheismus präfigurierenden Weltanschauung sowie einer sich ausbreitenden religiös gleichgültigen Lebenspraxis bestätigt seinen Eindruck, in der Zeit des nahenden Endes der Welt und des kommenden Gottesgerichtes zu leben. Gott schweigt und zieht sein wirksam richtendes und rettendes Wort zurück. Luthers Unterscheidung soteriologisch different bestimmter Zeiten bietet mithin nicht nur eine exemplarische Vertiefung der systematisch-theologischen und ontologischen Einsichten in das Wirklichkeitsverständnis des Reformators. Sie wirft überdies ein Licht auf die bis zum Äußersten 18
Vgl. WAT 1. 574,8. Den vollständigen Text WAT 1. 574,8-19 vgl. die vorliegende Untersuchung, 11.
18
Einleitung
gespannten geistlichen Herausforderangen und theologischen Problemkonstellationen, denen sich Luther trotz und gerade wegen der Wiederentdeckung des Evangeliums ausgesetzt sah. Der Kampf zwischen dem Reich Christi und dem Reich des Satans, zwischen der wahren und der falschen Kirche wird mit dem reformatorischen Aufbrach manifest als endzeitlicher Kampf zwischen evangelischem Glauben und atheistischem Unglauben. Luthers eschatologische Lozierung seiner Gegenwart in der Morgenröte des künftigen Lebens und im Horizont des andrängenden endzeitlichen Zorns steht quer zum populären Bild einer sich der geschichtlichen Nachhaltigkeit ihres Aufbraches gewissen reformatorischen Bewegung. Auch sind Luthers Feststellungen sich zeitgleich entwickelnder epikureisch-atheistischer Lebenskonzepte und deren Qualifizierung als Zeichen des endzeitlichen Schweigens Gottes unverträglich mit der Vorstellung der Reformation als eines geistlichen Aufbruchs von gesellschaftlicher Breitenwirkung. Eine Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung, die die geschichtstheologische Selbstverortung des Reformators Ernst nimmt, hätte in ihrer Darstellung jedenfalls Grand zu einer ausfuhrlicheren Würdigung des endzeitlich-apokalyptischen Horizontes, in den Luther sein reformatorisches Wirken gestellt sah.19 Der systematisch-theologischen Arbeit obläge die Prüfung, ob des Reformators theonome Bestimmung der atheistischen Signatur seiner Zeit sachgemäß und mit Aussicht auf geistlichen Gewinn in diejenigen soziologischen, theologischen und geistesgeschichtlichen Diskussionen einzubringen ist, die in der Gegenwart unter den Stichworten Abbruch christlicher Tradition, Säkularisierung, Individualisierung und Privatisierung des Religiösen wie auch religiös-ethisch-weltanschauliche Instabilität des Subjekts respektive Risikogesellschaft gefuhrt werden.
19
Obgleich in umfassender Kenntnis von Luthers universal- und endgeschichtlichen Überzeugungen, urteilt SCHWARZ, Luther, 574: »In ihrer historisierten Form berühren diese apokalyptischen Vorstellungen [sc. Antichrist; tausendjähriges Gebundenseins Satans] nicht L[uther]s Grundverständnis der christlichen] Rjeligion], Vgl. zur Interpretation des apokalyptischen Horizontes von Luthers Geschichtsverständnis durch Reinhard Schwarz auch die vorliegende Untersuchung, 13ff, 229ff.
Teil I: Geschichte als Ereignisgestalt der Wirkgegenwart Gottes
Martin Luther selbst hat den Inbegriff und die Einheit der Mannigfaltigkeit raum-zeitlichen Geschehens auch ohne den modernen Begriff Geschichte in einer Weise ins Denken genommen, dass sich der systematisch-theologischen Nachfrage ein konsistentes Verständnis von der Wirklichkeit geschichtlichen Geschehens erschließt. Die literarisch greifbaren Bezugnahmen Luthers auf die Geschichte erwecken allerdings den Eindruck, der Reformator unterwerfe die geschichtlichen Fakten teilweise in theorieloser Willkür und unter nicht nachvollziehbarem eklektischem Gebrauch überkommener Theorieelemente einer letztlich subjektiven Anschauung oder Deutung. So bieten die Quellen keine Ausführungen Luthers zum Zusammenhang seiner Ausführungen. Die geschichtliche Thematik an sich ist nicht Thema seiner theologischen Arbeit. Eine selbständige und zusammenfassende Darstellung aus der Hand Luthers, die unter dem Titel Theologie der Geschichte oder Das Geschichtsverständnis des Glaubens präsentierbar wäre, existiert nicht. Seine entsprechenden Überlegungen entwickelt er zumeist im Kontext thematisch anderweitig ausgerichteter Erörterungen. Gleichwohl ist die geschichtliche Wirklichkeit in beeindruckender Fülle unter verschiedenen theologischen, pädagogischen und historischen Perspektiven in der Breite seines exegetisch-, systematisch- und praktisch-theologischen Schrifttums präsent. Zunächst soll Luthers Begrifflichkeit und sein theologischer Umgang mit Geschichte und geschichtlichen Fakten in ersten Umrissen vorgestellt werden (Kap. 1). Der weitere Gang der Untersuchung wendet sich der systematisch-theologischen Beurteilung und Erschließung von Luthers Geschichtsverständnis durch die bisherige Forschung zu. Diese hinterlässt auf weite Strecken den Eindruck der theoretischen Inkohärenz von Luthers Darlegungen (Kap. 2). Dominant ist der Versuch, einseitig über die Christologie einen noetischen Zugang zu Luthers Geschichtsdeutung im Ganzen zu finden (Kap. 2.1). Verschiedene Autoren weisen aufgrund des Fehlens einer apriori konstruierten Geschichtstheorie die Theoriehaltigkeit von Luthers Geschichtsanschauung überhaupt zurück (Kap. 2.2). Wichtige Gesichtspunkte reformatorischer Geschichtsbetrachtung werden aufgrund eigener systematisch-theologischer Entscheidungen entweder ausgeblendet oder unterbestimmt (Kap. 2.3). Prinzipiell infrage steht Luthers differenzierter theologischer Umgang mit Geschichte unter den Gesichtspunkten
20
Wirkgegenwart Gottes
von Zorn, Gnade und geschöpflicher Güte, wenn der theologischen Rede v o m deus absconditus christologisch Recht und Sinn bestritten wird und das weite Feld geschichtlicher Erfahrung konturlos in einem existenzialisierenden Begriff von Welt als Nichterfahrung Gottes eingeebnet wird (Kap. 2.4). Fruchtbar und für die Einsicht in die Kohärenz Lutherscher Geschichtsbetrachtung förderlich ist dagegen der Einsatz bei der angefochtenen Glaubensexistenz bzw. bei der kontingenten Affektbestimmtheit des Glaubenden (Kap. 2.5). Im abschließenden Gedankengang dieses Kapitels steht die Differenz zwischen Luthers und dem neuzeitlichen Geschichtsverständnis zur Sichtung an (Kap. 3).
1 G e s c h i c h t e als G e g e n s t a n d d e r T h e o l o g i e Luthers 1.1 Begrifflichkeit 1.1.1 Geschichte/Historia Der terminologische Befund zeigt, dass Luther den Begriff Geschichte nicht im neuzeitlich allgemein gewordenen Sinne verwendet: Weder hat Luther unter dem Begriff Geschichte noch unter seinem lateinischen Äquivalent historia/Historie einen Versuch unternommen, über sein Verständnis der »Weltgeschichte oder geschichte schlechthin« als dem »inbegriff alles in der weit geschehenen«, dem »lauf der weltbegebenheiten«, 1 theologisch Rechenschaft abzulegen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt der heute gebräuchliche Kollektivsingular des ehemals singularisch verwendeten Neutrums oder Femininums geschieht, Plural: die geschicht(e/n) auf und bringt n u n die drei Ebenen Sachverhalt (res gestae), Erzählung (narratio rerum gestarum) und Geschichtswissenschaft (historia) auf einen Begriff. 2 Luther verwendet den Begriff geschieht noch im wesentlichen zur Bezeichnung eines begrenzten Ereignisses oder Geschehenszusammenhanges (res gestae) wie auch im Sinne des gegenwärtig gebräuchlichen Begriffes Geschichte für die erzählerische Wiedergabe (narratio) eines in sich abgeschlossenen und auf einen Skopus zentrierten Ereigniszusammenhanges (res gestae). Durchgängig fällt die semantische Nähe zu den heutigen Begriffen Geschehen und Geschick auf, die mehr auf das Faktum selbst (res gestae) in seinem Ereignungs-
1 GRIMM, IV/1,2 (Nachdruck 5), Art. Geschichte, 3863, bietet diese allgemeine Definition als »allumfassende [n] Gipfelpunkt« der Begriffsentwicklung von geschicht(e/n) (Femin i n u m u n d Neutrum) im Sinne von »begebenheit, Vorgang, ereignis im allgemeinen« (Grimm, 3859f) z u m Kollektivsingular geschichte (Femininum, Singular!). Zur Begriffsgeschichte vgl. G R I M M , 3857-3866; B R U N N E R / C O N Z E / K O S E L L E C K , Grundbegriffe 2 , 5 9 3 -
7 1 7 ; MEHLHAUSEN; SCHOLTZ. 2 Vgl. wie 657.
KOSELLECK,
Historia, 50f; ausfuhrlicher
KOSELLECK,
Herausbildung, 647-653 so-
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
21
charakter als auf seine überlieferte Gestalt in einer Geschichte abheben. 3 Das Vergangene wird im Erzählvorgang als es selbst präsent und appelliert als exemplarische Erfahrung gewissermaßen unmittelbarer und überführender als ein abstrakter Lehrbegriff an das gegenwärtige Verstehen.4 Ein in der Gegenwart noch nicht abgeschlossenes Geschehen sowie überhaupt die Dimension des Zukünftig-Möglichen fasst Luther nicht unter den Begriff Geschichte, für dessen Verwendung die unbezweifelbare Faktizität und empirische Gewissheit des bezeichneten Vorgangs konstitutiv ist.5 3 Vgl. z.B. den Gebrauch von Geschichte in Luthers Jona-Vorlesung von 1526; WA 19. 191,28f: »es hilfft wol dazu, das man seyn buch [sc. eines Propheten] verstehen müge, wenn man zeyt, stete, person und geschichte weys, die sich dazumal hegeben haben.« WA 19. 192,16f: » O b nu dis geschichte [Plural!] J o n a zu Nineve und ym walfische sey geschehen«·, WA 19. 195,24: »wir sehen die geschickt geringe an« [Jonas Bußpredigt in Ninive]; WA 19. 199,31: »Widder die gnaden sundigen geschieht auff zwo weyse«; WA 19. 203,34: »Also ist nun dis geschichte [Singular!] eyn tröstlich exempel gottlicher gnade (Gesamtzusammenhang von Ninives Sünde und Verschonung, nachdem die Stadt auf Jonas Predigt hin Buße getan hat); WA 19. 217,9 ff: »du must abermal J o n a hie [als er ins Meer springen muss] nicht ansehen, als uns die geschickt ansihet. Denn weyl wyr fur uns haben diegantzegeschieht, wie er ist erlöset worden, dunckt es uns geringe und bewegt uns wenig.« [Gesamtzusammenhang von Anfechtung und Rettung Jonas aus dem Bauch des Walfisches], Vgl. auch WA 50. 266,32ff (Die drei Symbola oder Bekenntnis des Glaubens Christi. 1538): »Ich hab erfaren und gemerckt jnn allen geschichten der gantzen Christenheit, das alle die jenigen, so den heubtartickel von Jhesu Christo recht gehabt und gehalten haben, sind fein und sicher jnn rechtem Christlichen glauben blieben«; C12. 457,17fF/WA 15. 45,12fF, Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 22 A n m . 7; Hervorhebg. v. Verf. Die Orientierung am Faktum selbst erhellt auch aus dem Gebrauch von »res gestae< als lateinischem Äquivalent fur geschieht. Vgl. die deutsche und die lateinische Parallele des Freiheitstraktates (1520) in WA 7. 29,7ffpar. 58,31 f f / S t A 2. 282,36ff par. 283,30ff: »Auß dem allen lernen wir/das es nit gnug sey gepredigt/Wen man Christus leben vnd werck oben hynn vnd nur als ein histori vnd Cronicken geschieht predigt.« par. »puto per haec d a r u m fieri N o n esse satis nec Christianum, si Christi opera vitam et verba, praedicemus historico more, ceu res quasdam gestas«. 4 Vgl. z.B. Luthers Vorrede zur Historia Galeatii Capellae aus dem Jahr 1538 (WA 50. 383,8fif): »Denn was die Philosophi, weise Leute und die gantze vernunfft leren und erdencken kan, das zum ehrlichen Leben nützlich sey, das gibt die Historien [Singular] mit Exempeln und Geschichten gewaltiglich und stellet es gleich fur die äugen, als were man dabey, und sehe es also geschehen, alles, was vorhin die wort durch die lere jnn die ohren getragen haben.« Vgl. dazu auch Senecas viel zitierte Formel »longum iter est per praeeepta, breve et efficax per exempla«. (Ep. 6,5); zitiert nach GÜNTHER, 642. 5 Charakteristisch für die perfektische Zeitstruktur und den Faktizitätsgehalt ist Luthers theologisch wie seelsorgerlich angemessene, gleichwohl terminologisch uneigentliche Prädikation der endzeitlichen Totenauferstehung durch die Begriffe Geschichte, res gesta und Historie in seiner Predigt anlässlich des Todes von Kurfürst Johann aus dem Jahre 1532 über I Thess 4,13ff: »Et dicit, quasi iam factam, et quasi esset res gesta. Q u i a vult certos facere ut ipse, ut pestem kunnen lernen gering achten und das gros achten, das er nach komen wird, wen die Pestilentz hat aufgericht.« (WA 36. 269,7ff; Hs Rörer). »Des sollen wir uns gewislich versehen (beschleusst Sanct Paulus) und mit solchen worten unter einander trösten, U n d beschreibts so gewis, als were es bereits geschehen, und weissaget von zukünfftigen unerfarnen Sachen, als were es ein Historj und geschieht, A u f f das er uns so gewis mache, wie es ist, das wir nicht für dem tod
22
Wirkgegenwart Gottes
In seinen deutschen Schriften hat das lateinische Lehnwort Historie/n in der Regel die Bedeutung des Fachterminus fur das literarische Erzeugnis der Historiographie. Seltener kann an seiner Stelle auch geschieht erscheinen. 6 Der Begriff Historie schließt antiquarische wie auf Augenzeugenschaft beruhende Gegenwartsgeschichtsschreibung ein.7 Auch mit diesem singularisch und pluralisch verwendeten Begriff bezeichnet Luther ausschließlich die Dokumentation zeitlich wie sachlich abgegrenzter Ereigniszusammenhänge. Der gleiche Befund bietet sich in den lateinischen Schriften und Vorlesungen für die Verwendung von historia/e dar: Der Begriff hat stets partialgeschichtliche Bedeutung. Der Singular historia kann auch größere zeitliche Räume umgreifen. Luther nennt beispielsweise die Erzählung von der Zeit bis zur Sintflut »historia dieser glücklichsten Periode der Menschheit und der ursprünglichen Welt«.8 Mit dem Plural historiae wird eine
erschrecken und alle plage, pestilentz, kranckheit gering ansehen.« (WA 36. 269, 28ff Dr). Diese Eigenart der Lutherschen Verwendung der Termini entspricht völlig seiner Einsicht in den passiven Ereignungscharakter der Wirklichkeit, in den der tätige Mensch kooperatorisch in- und mitwirkend, aber nicht schöpferisch entwerfend, eingebunden ist: »quum euenta rerum non sint in potestate nostra, ut tu dicis, quomodo est hominis res gerere? [...] Ideo maxime operandum est, quia incerta nobis sunt omnia futura, ut Ecclesiastes ait: Mane semina semen tuum et uespere non cesses, quia nescis, an hoc uel illud sit oriturum. Nobis inquam sunt incerta cognitione, sed necessaria euentu. Necessitas nobis timorem Dei ineutit, ne praesumamus et securi simus. Incertitudo uero fiduciam park, ne desperemus.« (C1 3. 245,5iif/WA 18. 746,37ff; DSA. 1525). 6 Vgl. WADB 1. 281,29: »Die geschieht aber des koniges David beyde die ersten und letzten sihe die sind geschrieben unter den geschichten Samuel.« 7 Zum Begriffsverständnis von historia im Mittelalter vgl. ENGELS, 610-624; zum Gebrauch im Sinne des historiographischen Fachterminus vgl. WA 50. 383,8ff, Text vgl. diese Untersuchung, 21 Anm. 4: Die Historia Galeatii Capellae beschreibt den mailändischen Krieg von 1521-1530 aus der Perspektive des Augenzeugen; die folgenden Zitate zeigen jedoch, dass Luther auch die antiquarische Geschichtsschreibung als bistorien verstand. Pluralische Verwendung findet sich WA 50. 384,2ff: »Die Historien sind nichts anders denn anzeigung, gedechtnis und merckmal Göttlicher werck und urteil, wie er die weit, sonderlich die Menschen, erhelt, regiert, hindert, fördert, straffet und ehret, nach dem ein jglicher verdienet.« WA 50. 383-385 passim; C1 2. 457,17ff/WA 15. 45,12ff(An die Ratsherrn. 1524): »Wo man sie [sc. die Kinder] aber leret vnd zöge ynn schulen oder sonst/da gelerte vnd züchtige meyster vnd meysterynn weren/da sie sprachen vnd andere künst vnd historien lereten/da würden sie hören die geschichte [Plural!] vnd Sprüche aller wellt [...] Dazu witzig vnd klug werden aus den selben historien/was zu suchen vnd zu meyden were ynn dissem eusserlichen leben/vnd andern auch darnach radten vnd regirn.« (Vgl. den vollständigen Text in der vorliegenden Untersuchung, 31). 8
WA 42. 251,26f (Genesis. 1535fF): »Fuerunt autem sine dubio in isto quoque numero multi praestantes Sancti, quorum si historiam haberemus, omnes mundi historias superaret.« - Luther spricht von der nachparadiesischen Welt, über die der Leser der Bibel nicht mehr erfährt als jene kurzen Angaben, die die so genannten Geschlechtsregister Gen 4f enthalten. Das hohe Lebensalter der genannten Männer führt Luther darauf zurück, dass sie hervorragende heilige Männer waren. Mose schreibt jedoch nichts über ihren Lebenswandel vor Gott. Luther schließt aber aus ihrem Lebensalter, dass die historia dieser Männer alle weitere Geschichte der Welt hell überstrahlen würde: »Vere
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
23
Mehrzahl solcher partialgeschichtlichen Erzählungen angesprochen, die »alle Geschichten (historias) der Welt«, 9 also den Gesamtumfang alles Erzählbaren umgreifen kann und damit den universalen Gegenstandsbereich des modernen Geschichtsbegriffes einschließt. Aber auch eine begrenzte Zahl v o n historiae in einer Zeit bildet die historia einer Epoche. Die Geschichten (historiae) der großen Männer, die vor der Sintflut lebten, bilden insgesamt die Geschichte (historia) der ursprünglichen Welt.10 Der gesamte Umfang der biblischen historiae kann als »(tota) historia sacra«11 bezeichnet werden. Sie können allerdings ebenso als sacrae historiae in Absetzung v o n den res gestae oder historiae der heidnischen Geschichtsschreibung eingeführt werden, denen der Bezug auf Gottes Wort fehlt. 12 Die historia sacra bezeichnet die historiographische Überlieferung der Heiligen Schrift im Unterschied zur lehrhaften und stellt insofern die biblisch zusammengefasste Einheit der vielen Geschichten dar, die das Wort Gottes und den Glauben zu ihrem Skopus haben. Nicht der Gedanke eines immanent-geschichtlichen Zusammenhanges lässt v o n der historia sacra reden, die in die Vielheit der historiae sacrae auseinander tritt, sondern das M o m e n t des Glaubens und des wirkenden Wortes Gottes schließt diese Geschichten sachlich als heilige Geschichte gegenüber den in der heidnischen Geschichtsschreibung dokumentierten Ereignissen zusammen. A u f keinen
igitur aureum illud seculum fuit, ad quod nostra aetas vix lutea dici meretur, siquidem novem Patriarchae cum sua posteritate simul vixerunt consentientes in promissionem Seminis benedicti. Haec omnia Moses indicat, non explicat, alioqui esset haec historia historiarum.« (WA 42. 251,39ff; Genesis. 1535ff). Den vornehmsten Platz nimmt nun die Sintflutgeschichte ein: »Sed sicut originalis Mundus periit, ita quoque periit historia eius. Primum itaque locum in Historiis habet historia Diluvii, ad earn si alias conferas, vix scintillae quaedam sunt. De priore autem mundo nihil quam nomina habemus, quae tarnen ipsa ceu notae maximarum historiarum sunt.« (WA 42. 251,30ff; Genesis. 1535ff). Hervorhebg. v. Verf. 9 Vgl. WA 42. 251,27 (Genesis. 1535ff); Text s. vorstehende Anm. 10 Vgl. WA 42. 251,30ff (Genesis. 1535ff); Text s. vorstehende Anm. 8. 11 WA 44. 212,15f (Genesis. 1535ff): »Ac profecto mira est, quod fere in tota historia sacra primogeniti sunt infoelices.« WA 44, 246,32f (Genesis. 1535fif): »testatur sacra historia sanctos Patriarchos et Prophetos habuisse somnia«. 12 WA 42. 513,4-6.9-11.17-19 (Genesis. 1535ff): »Saepe autem monui, quod in historiis, seu, ut vulgus appellat, legendis sanctorum, haec praecipua historiae pars maxime spectanda sit, nempe verbum Dei. [...] Hoc enim prae omnibus ornat sanctorum legendas, et saeparat eas agentilium historiis: Ideo enim vocantur sacrae historiae, quia in eis verbum Deilucet. [...] Abrahae historia excellentissima est, quia referta est verbo Dei, quo, universae res ab ipso gestae ornantur, praecedente scilicet ubique verbo Dei promittentis, praecipientis, consolantis, monentis«. - WA 43. 212,21ff (Genesis. 1535ff): »Es muss hindurch gehen, was du anfengest auff sein Verbum, und solt kein Engel im himel bleiben. In hoc igitur antecellunt gentilium res gestas historiae sacrae.« Siehe auch vorstehende Anm. Hervorhebg. v. Verf.
Wirkgegenwart Gottes
24
Fall denkt Luther an den innergeschichtlichen Tatsachen- und Entfaltungszusammenhang einer Heils- oder Offenbarungsgeschichte, die gegenüber der Profangeschichte zu separieren wäre. Der lateinische Terminus historia umschließt anders als das deutsche Lehnwort die semantischen Felder von geschickt und Historie. Häufig erscheint der Begriff in der Bedeutung von geschieht und indiziert wie dieser die mündliche und schriftliche Vergegenwärtigung von Geschehenem sowie das Faktum selbst.13 Im letztgenannten Sinn kann er auch an die Stelle von (res) gesta treten.14 Luther folgt in der Verwendung der drei Termini damit weitgehend der aus dem Mittelalter überkommenen zeitgenössischen Fachsprache.15 1.1.2 Begriffefür das Ganze raum-zeitlichen Geschehens Trotz des von der modernen Sprache abweichenden Gebrauchs der Begriffe historia und Geschichte im Sinne des abgrenzbaren Geschehens, seiner 13
Im Sinne von Einzelerzählung und in deutlicher Unterscheidung von res gestae: WA 42. 513,4ff.l7ff (Genesis. 1535ff; Text siehe vorstehende Anm.); dsgl. WA 30/111. 539f (Vorrede zu Justus Menius. 1532), passim. Im Sinne des historiographischen Erzeugnisses, das einen umfassenderen sachlichthematischen Zusammenhang in derZeit dokumentiert, WA 42. 68,30 (Genesis. 1535ff): Luther versteht die Urgeschichte als Dokument von Geschichte, so dass er sagen kann, »Mosen historiam scribere atque eam de rebus iam olim praeteritis.« WA 30/111. 539,35ff (Vorrede zu Justus Menius. 1532): »Quid enim est historia sacra quam visibile verbum fidei seu opus fidei, quod idem nos docet facto et opere, quod alias scriptura tradit verbo et sermone? Quod si fidem in historiis sacris omittas tractare [...], erunt gentium historiae longe maiores et clariores, ut necesse sit animum fide vacuum et ratione naturali duetum abhorrere et contemnere sacras historias ceu leves quasdam minutias ad ingentes Monarcharum res gestas.« WA 50. 3,3ff.8ff (Vorrede zu R. Barns. 1536): »Eusebius Caesariensis Episcopus [...] praefatur in libris Ecclesiasticae historiae [...] sese cogi sine vestigiis novum iter ingredi [...]. Quodsi illo tempore veteri Ecclesiae proximo vel sub veteri Ecclesia currente adeo sunt neglectae res Ecclesiasticae ab illis viris [...] vel per iniquitatem temporis perditae, ut nullam post se reliquerint historiam«·, WA 50. 4,15ff (Vorrede zu R. Barns): »Ita potest misericordia videri, quod historiam multorum patrum veteris Ecclesiae Deus voluerit intercidere, ita ut nec ipsorum Apostolorum (excepto libro Act.) res gestas ullius historiae certa veritate cognitas habeamus«. WA 50. 4,33f; 5,2f (Vorrede zu R. Barns): »Accessit ad cumulum irae, quod nec huius quidem monstri et novi Christi dignam et iustam historiam habeamus [...]. Si res eiusgestae fuissent aliquot fidelibus historicis proprie et vere traditae«. Hervorhebg. v. Verf. 14 Im Sinne von Geschichtstatsachen (res gestae) WA 50. 5,26ff (Vorrede zu R. Barns. 1536): »Ego sane in prineipio non valde gnarus nec peritus historiarum a priori (ut dicitur) invasi papatum, hoc est ex scripturis sanetis. Nunc mirifice gaudeo alios idem facere a posteriori, hoc est ex historiis. Et plane mihi triumphare videor, cum luce apparente historias cum scripturis consentire intelligo. Nam quod ego S. Paulo et Daniele Magistris didici et docui, Papam esse ilium Adversarium Dei et omnium, hoc mihi historiae clamantes re ipsa velut digito monstrant«. (Hervorhebg. v. Verf.). 15 Zum mittelalterlichen Sprachgebrauch vgl. E N G E L S , 6 1 1 ; K O S E L L E C K , Herausbildung, 653f.
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
25
Erzählung oder der chronikförmigen Aufzeichnung vieler res gestae kann Luther doch auch den mit dem modernen Begriff von Geschichte angesprochenen Gegenstandsbereich benennen. Der Weltlauf16 als die Zeit von der Schöpfung bis zum Ende der Welt17 wird von Luther häufig als Kontinuum sich gleichbleibender Grundsituationen menschlichen Daseins und göttlicher Bestimmungen gefasst. 18 Wendungen wie die (ganze) Welt19 oder dieses Leben schließen das irdisch-geschöpfliche Leben der Menschheit mit all seinen Daeinsbestimmungen terminologisch zusammen. 2 0 Vor allem ist auf Luthers gesamtgeschichtliche Vorstellung hinzuweisen, wie er sie in seiner Supputatio annorum mundi von 154121 im Anschluss an Melanchthons Einteilung der Gesamtgeschichte erarbeitet hat. 22 Melanchthon unterschied nach einem biblisch nicht überlieferten, von ihm aber für echt gehaltenen Spruch des Elia 23 drei je 2 0 0 0 Jahre dauernde Weltzeitalter. Er deutet die Weissagung so, dass die erste Weltzeit von der Schöpfung bis zu Abraham gewährt habe als eine jugendliche Zeit, in der es noch keine weltliche Herrschaft gab und die Gottesverehrung noch nicht durch eine ausdrückliche Weisung geordnet werden musste. Die zweite Weltzeit sei 16 C1 3. 139,30f/WA 18. 651,16f (DSA. 1525): »An etiam hie incredibile dices, Deum tot tantosque uiros, perpetuo mundi cursu, reliquisse et frustra niti permisisse?« (Hervorhebg. v. Verf.). Vgl. WA 15. 373,15 (Psalm 127. 1524). 17 C1 3. 139,36/WA 18. 651,21 (DSA. 1525): »ab initio mundi usque in finem«; WA 42. 57,41f (Genesis. 1535ff): »Ita Deus per verbum suum currit ab initio mundi usque ad finem«; WA 43. 213,22f (Genesis. 1535ff): »Hic cursus mundi est ab initio usque ad finem.« 18 WA 3. 273,31f (Dictata super psalterium. 1513-16): »Due enim sunt generationes ab initio mundi usque ad finem [...] una rectorum, altera impiorum«; WA 42. 290,36 (Genesis. 1535ff; zu Gen 6,5): »mundus sui similis manet«. 19 WA 42. 190,5ff (Genesis. 1535fF): »Bene igitur fecit Deus, qui Cain sic permisit ruere, ut esset exemplum toti mundo, ne quis gloriaretur de nobilitate sanguinis«; WA 42. 237,19f (Genesis. 1535ff): »Nam Lamech est exemplum mundi, in quo Moses voluit ostendere, quale mundus cor, voluntatem et sapientiam habeat.« (Hervorhebg. v. Verf.). 20 Vgl. z.B. C1 3. 290,35f/WA 18. 785,19 (DSA. 1525): »cum haec uita sit nihil nisi praecursus aut initium potius futurae uitae.« WA 43. 455,39-41 (Genesis. 1535ff): »ordinationes et creaturae Dei, donatae ad banc vitam, quae debet transigi [. . .] usque ad mortem.« WA 44. 66,8f (Genesis. 1535ff): »Quicquid enim rerum in hoc vita geritur, hoc omne propter homines pios et eos, qui salvandi sunt, geritur.« WA 44. 66,llf (Genesis. 1535ff): »omnia, quae sunt in coelo et terra, ad hunc finem ordinata sunt, ut colligantur iusti«; (Hervorhebg. v. Verf.).
WA 53. 22-184 (1545 in zweiter, von Luther überarbeiteter Auflage erschienen). Zu Melanchthons Zeiteinteilung in der Einleitung zu Joh. Canons Chronica von 1 5 3 2 vgl. insbesondere SCHWARZ, Wahrheit, 1 6 8 - 1 7 0 sowie die hier folgenden Anm. 23fF. 23 Vgl. SCHWARZ, Wahrheit, 168 Anm. 35 aus Melanchthons Einleitung: »Ich will fur mich nehmen den köstelichen sprach des trefflichen propheten Elia, der hat die weit fein geteilet in drei alter und damit angezeiget die höchsten verenderungen in der weit, auch, wenn Christus hat komen sollen, wie lang auch diese welt weren sol, und lautet also: Der sprach des hauses Elia. Sechs tausent jar ist die weit, und darnach wird sie zubrechen [= zerbrechen]. Zwei tausent die zeit Christi. Und so die zeit nicht gantz erfüllet wird, wird es feilen umb unser sunde willen, wilche gros sind.« 21
22
Wirkgegenwart Gottes
26
die von Abraham bis Christus. Sie habe im Zeichen des mosaischen Gesetzes gestanden und war durch die großen Imperien v o m Reich der Assyrer bis zum römischen Reich geprägt. Die letzte dritte Epoche sei die Zeit nach der Menschwerdung des Messias. Trotz der klarsten Offenbarung Gottes würden in dieser Zeit Sünde und Glaubensverdunklung am stärksten um sich greifen, so dass sie nicht mehr die vollen 2 0 0 0 Jahre erreichen werde. Luther nahm diese Aufteilung in seine Geschichtstabelle, die Supputatio annorum mundi, auf: »6000 Jahre wird die Welt stehen. Für 2 0 0 0 Jahre frei. Für 2 0 0 0 Jahre Gesetz. Für 2 0 0 0 Jahre der Messias.« 24 Auch er rechnete mit einer Verkürzung der dritten Weltzeit, deren Ende er 1540 25 nahe wähnte. Ursächlich für diese Annahme waren nicht frei auf dem dictum Eliae errichtete Zeitspekulationen, sondern seine apokalyptischen Vorstellungen, die sich mit dem K a m p f zwischen dem von ihm mit dem Antichrist identifizierten Papsttum und der Kirche des Evangeliums verbanden. 26 Das Schwanken seiner diesbezüglichen Erwartungen 27 zeigt zwar, dass seine Datierungen des Weltendes nicht den Rang von theologisch verbindlichen Aussagen beanspruchen können. Aber als bloß subjektiv-expressiver Ausdruck seiner Naherwartungsgewissheit wären sie dennoch völlig unterbewertet. Denn Luther war überzeugt, dass er in der auf das nahe Ende zulaufenden letzten Weltzeit lebe, dass Gott in diesen letzten Zeiten das Evangelium noch einmal in ganzer Fülle gesandt habe und mit ihm das WA 53. 22,11-14 (Supputatio 1541/45): »Sex milibus annorum stabit mundus. Duobus milibus inane. Duobus milibus lex. Duobus milibus Messiah.« 25 Vgl. WA 53. 171 Anm. 11:1 (Supputatio. 1541/45); WAT 5. 366,6-10; Nr. 5813: »Martinus Lutherus: Hodiernus annus salutis nostrae 1540, annus Mahomet 940, papae 960. [Kaiser Phocas 602-610 ist hier terminus a quo; der Verf.], Hoc anno 1540. numerus annorum mundi praecise 5500. Quare sperandus est finis mundi, nam sextus millenarius non complebitur, sicut tres dies mortui Christi non sunt completi.« Zur Heranziehung der drei Tage der Grabesruhe Christi vgl. SCHWARZ, Wahrheit, 171: Luther habe den eschatologischen Skopus der Eliaweissagung durch die Analogisierung der drei Epochen zu den drei Tagen zwischen dem letzten Mahl und der Auferstehung präzisiert. Der dritte Tag sei erst zur Hälfte verstrichen gewesen, als Jesu Auferstehung geschah. »Der Mitte des dritten Tages, an dem Christus auferstanden ist, entspreche die jetzt erreichte Mitte des letzten, 6. Jahrtausends.« (SCHWARZ, Wahrheit, 171). - An der Unstimmigkeit, dass nach dieser Analogie das letzte Weltzeitalter von 2000 Jahren nur zur Hälfte hätte verlaufen dürfen, hat Luther sich offensichtlich nicht gestoßen. Er rechnete mit 5500 Jahren, wobei er fur das letzte Weltzeitalter 1500 Jahre veranschlagte, und zwar nicht von Christi Geburt ausgehend, sondern vom Jahr 40 nach Christus an. Vgl. SCHWARZ, Wahrheit, 171 Anm. 39; dazu WA 53. 171; WAT 5. 51,6ff; Nr. 5301; Nr. 5813. 24
Vgl. die vorliegende Untersuchung, 272-299. Vgl. z.B. WA 42. 247,13ff (Genesis. Mitte 1536; Zeitpunkt der Vorlesung berechnet von M E I N H O L D , Genesisvorlesung, 140f): »Quodsi primus Mundus, qui tantam copiam summorum Patriarcharum habuit, sic misere corruptus est, Quid nobis non est metuendum in tanta imbecillitate naturae? Det igitur Dominus, ut in fide et confessione Filii sui Ihesu Christi quam citissime colligamur ad Patres illos et intra viginti annos moriamur, ne horribiles illas postremi temporis miserias et calamitates tum spirituales tum corporales videamus. Amen.« 26
27
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
27
Licht der ersten Schöpfung partiell wieder habe aufleuchten lassen. 28 Die ungefähre Berechnung des Zeitpunkts der Wiederkunft Christi mithilfe einer seinerzeit allgemein anerkannten universalgeschichtlichen Chronologie, wie sie im Schema der drei Doppelmillennien gegeben war, unterstützte Luthers Überzeugung, von objektiv bevorstehenden Sachverhalten zu reden, durch ein weiteres Argument, indem er eine zeitgenössische Vorstellung v o m Gang der Universalgeschichte zum Zeugen für seine endzeitliche Zeitansage aufruft. 29
1.2 Historia magistra vitae
Der alte Luther hat im Blick auf die menschliche Verweigerung gegenüber dem Wort Gottes ausgesprochen, was seine Sicht der geschichtlichen Möglichkeiten des Menschen überhaupt charakterisiert: »die Welt bleibt sich gleich«}0 Gegenüber den sich in der Geschichte durchhaltenden Grundstrukturen des menschlichen Daseins bleiben die M o m e n t e positiver Entwicklung sekundär - und überdies umkehrbar. 31 Innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums sich gleich bleibender Erfahrungen und Erwartungen ist alles, was je geschah, der Möglichkeit nach gleichzeitig mit jeder späteren Welt. Deshalb repräsentiert es auch eine Möglichkeit gegenwärtigen Daseins und kann als plastisch vorgestelltes rhetorisches Beispiel unmittelbar zur Steigerung der Uberzeugungskraft der Rede eingesetzt werden. Die hier zugrunde liegende Vorstellung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist nicht mit der spezifisch neuzeitlichen Erfahrung zu verwechseln, die sich auch mit dieser Formel und ihrer Umkehrung beschreiben lässt:32 Diese hebt auf die Gleichzeitigkeit mehrerer Stadien einer als progressiveinmaligen Entwicklung verstandenen Geschichte innerhalb einer partikulären Gesellschaft oder in der globalen Weltgemeinschaft ab. Das Empfinden der Ungleichzeitigkeit entsteht hier aufgrund der Voraussetzung, dass das Bewusstsein sich noch nicht in all seinen subjektiven und objektiven Konkretionen auf die H ö h e des geschichtlichen Wissens und der ihm entsprechenden Möglichkeiten geschichtlichen Daseins erhoben hat. M a n denke etwa an den wieder aufgebrochenen militanten Nationalismus in einem zur politischen Einheit werdenden Europa am Ende des 20. Jahr-
28
Vgl. die vorliegende Untersuchung, 33-36, 318-349. Auf den »in der damaligen Zeit rationalen, wissenschaftlichen Wert« dieses Systems macht aufmerksam SCHWARZ, Weltzeit, 55. 30 WA 42. 290,36 (Genesis. 1535ff). 31 Vgl. WA 43. 289,18fF (Genesis. 1535ff): »Constat fere omnes populos omnium regionum non ultra viginti annos retinere disciplinam et virtutem, et honestatem colere. Testantur id omnes historiae profanae et sacrae.« 32 Vgl. KOSELLECK, Einleitung, 595; KOSELLECK, Leitbegriff, 702ff. 29
28
Wirkgegenwart Gottes
hunderts. Es handelt sich um die Gleichzeitigkeit von in unterschiedlichen Graden durch die Entwicklung überholten Gestalten geschichtlichen Bewusstseins mit seiner höchst möglichen, sei es projektiv erwarteten, sei es schon verwirklichten Gestalt. Die Wiederholbarkeit einer in ihrer Gleichzeitigkeit fur das avancierte Bewusstsein rückständigen Gestalt innerhalb seiner weiteren Geschichte wird nicht gedacht - es sei denn als Atavismus. Für das vorneuzeitliche Geschichtsbewusstsein ist das vergangene Geschehen nur als Faktum, nicht aber als eigene Möglichkeit geschichtlichen Seins vergangen. Luther beruft sich in seiner Vorrede zur Geschichte des Mailändischen Krieges von Galeatius Capeila nahtlos auf die antike rhetorische Tradition exemplarischer Rede, um den Nutzen der Geschichtsschreibung vor Augen zu stellen: »Es spricht der hochberühmte Römer Varro, das die aller beste weise zu leren sey, wenn man zu dem wort Exempel oder Beyspiel gibt, Denn die selben machen, das man die rede klerlicher verstehet, auch viel leichter behelt, Sonst, wo die rede on Exempel gehört wird, wie gerecht und gut sie jmer ist, beweget sie doch das hertz nicht so seer, ist auch nicht so klar und nicht so fest behalten. Darumb ists ein seer köstlich ding umb die Historien. Denn was die Philosophi, weise Leute und die gantze vernunfft leren oder erdencken kan, das zum ehrlichen leben nützlich sey, das gibt die Historien mit Exempeln und Geschichten gewaltiglich und stellet es gleich fur die äugen, als were man dabey, und sehe es also geschehen, alles, was vorhin die wort durch die lere jnn die ohren getragen haben.« 33 Die antike rhetorische Tradition setzte ebenso wie Luther die Kontinuität des geschichtlichen Erfahrungsraumes voraus und konnte daher mit Cicero die Geschichte als magistra vitae verstehen. 34 Die Historia wurde innerhalb des antiken Triviums als Hilfswissenschaft für Grammatik und Rhetorik betrieben und diente dieser als Schatz exemplarisch-nützlichen Wissens zur Steigerung des rhetorischen Erfolges, jener zur Kommentierung gelesener Schriften. 35 In beiden Hinsichten nimmt auch Luther das historische Wissen als Theologe in Anspruch. Seine antiallegorische, streng am historischen Sinn orientierte Schriftauslegung ist auf möglichst umfangreiches historisches Wissen angewiesen.36 Als Lehrer zukünftiger Pfarrer weist er seine Studenten immer wieder auf den exemplarischen Charakter 33
WA 50. 383,2ff (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538). Cicero, De orat. 2,36: »Historia vero testis temporum, lux veritatis, vita memoriae, magistra vitae, nuntia vetustatis, qua voce alia nisi oratoris immortalitati commendatur?« Zitiert nach G Ü N T H E R , 641. 34
35
36
V g l . ENGELS, 6 2 2 .
Vgl. WA 43. 667,4ff (Genesis. 1535ff): »Hortor itaque studiosos Theologiae, ut fugiant hoc genus interpretationis in sacris literis. Quia allegoria est perniciosa, quando non congruit cum historia, praecipue vero, quando in locum historiae succedit, ex qua rectius eruditur Ecclesia de mirabili administratione Dei in omnibus ordinibus vitae, in oeconomia, politia et Ecclesia.« Vgl. WA 19. 191,28f (Jona. 1526); Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 21 Anm. 3.
G e s c h i c h t e als Gegenstand der T h e o l o g i e Luthers
29
der biblischen Erzählungen hin, mit deren Beispiel Gott die Angefochtenen trösten, die Hochmütigen schrecken will.37 U m des Glaubens willen ist am historischen Sinn der prophetischen Zeugnisse festzuhalten: »Aus der Geschichte muss der Glaube aufgebaut werden, in der allein wir verbleiben müssen und von der wir nicht so leichthin auf allegorische Auslegungen verfallen dürfen«.38 37 Vgl. z.B. W A 42. 1 9 0 , 5 - 9 (Genesis. 1535ff): »Bene igitur fecit Deus, qui Cain sic permisit ruere, ut esset exemplum toti mundi, nequis gloriaretur de nobilitate sanguinis, sicut Iudaei de patre Abraham aut Graeci de sapientia. Vult enim Deus se timeri, nos autem vult humiliari.« Freilich indiziert die Fortsetzung, dass auch Luthers die Gleichzeitigkeit der Zeiten voraussetzende Auslegung sich im Erfahrungsraum einer Art historischen Bewusstseins, dem das Vergangene fremd und überkommen erscheint, bewähren muss: »Sed frustra fere vult: N o n enim movent nos tantae irae, perditiones, excisiones primorum H o m i n u m et primarum Nacionum.« W A 42. 211,29f (Genesis. 1535ff): »Ideo exaggeranda et diligenter inculcanda sunt exempla patrum, in quibus efficatia et virtus verbi D e i et fidei conspicitur.« W A 43. 205,14f (Genesis. 1535ff; Gott prüft Abraham mit dem Befehl, seinen S o h n Isaak zu opfern): »Haec exercitia sancti patriarchae nobis proposita sunt, ut animemur in nostris tentationibus«; W A 43. 4 6 5 , 3 - 7 (Genesis. 1535ff): »Vides autem, quam benignus sit D o m i n u s erga suos sanctos. Tentat quidem eos [...]. Sed parat tarnen hospitium pulcherrimum, quietum et tutum, et dat pacem in medio inimicorum. Ista scribuntur ad confirmandam fidem nostram.« W A 43. 4 6 , 2 2 f (Genesis. 1535fF, im Anschluss an G e n 19 auf die Sintflut und Noahs Rettung sowie den Untergang Sodoms und die Rettung Lots bezogen): »Ergo exempla irae divinae, quale h o c praesens est, sie sunt tractanda, ut faciant ad doctrinam et eruditionem nostram.« W A 43. 47,21-48,2 (Genesis. 1535ff): »Haec magna sapientia est, et in ministerio admodum necessaria, ut duplices auditores recte discernantur, et quisque audiat suam v o c e m , Duri horribilia irae divinae exempla, pavidi autem suaves consolationes. [...] N o n enim sine discretione universi damnandi sunt. Sicut enim diluvium et Sodomitarum interitus ceu fulmina sunt, quibus animi terrentur: Ita his irae exemplis additur consolatio de servato Noah et Loth: sic fiet, ut pavidi n o n desperent. Hie est finis, cur huiusmodi horribiles historiae a m e legantur, licet invitus eas legam, quia terreor magnitudine irae Dei, et tarnen video prodesse hanc doctrinam, n o n solum, ut superbi terreantur, sed etiam ut pii in timore Dei contineantur, nec exemplo impiorum peccent et pereant. Deinde sie proponitur in hisce exemplis ira Dei, ut tarnen simul eluceat Dei benignitas, misericorditer servantis fideles.« 38 W A 31/11. 2 4 2 , 2 4 f f (Jesaia. 1 5 2 7 - 1 5 3 0 ) : »Ex historia edificanda est fides, in qua sola permanere deberemus et non tarn facile ad allegorias labamur, nisi eas metaphorice ad alias res trahamus secundum racionem fidei.« Die Fortsetzung lautet allerdings, »es sei denn daß wir sie in metaphorischer Weise a u f andere Sachverhalte nach dem Maßstab des Glaubens beziehen.« Luther legt die Möglichkeiten der Sprache und der Auslegung keinesfalls a u f den historischen Sinn fest, aber er grenzt die Möglichkeiten der allegorischen Verwendung a u f Metaphern ein, die in der Heiligen Schrift entweder selbst gebraucht werden oder historischen Anhalt haben an der Geschichte von Verheißung und Erfüllung des Heils in Christus. Vgl. z . B . W A 42. 172ff (Genesis. 1535ff): Luther setzt sich auseinander mit der freien allegorischen Produktivität von Origines, Lyra, Hieronymus und auch Augustin. »Persuasum enim fuit omnibus, quod praesertim in historiis veteris Testamenti Allegoriae essent spiritualis intellectus, Historia autem seu literalis sententia esset carnalis intellectus. Sed quaeso, an n o n h o c est profanare sacra?« (WA 42, 173,17-20; Genesis. 1535ff). Als abschreckendes Beispiel führt er Origines' geistliche Auslegung der Paradiesesgeschichte an: »Origines ex Paradiso coelum, ex arboribus An-
Wirkgegenwart Gottes
30
Luther setzt den Nutzen exemplarischer Mitteilung von Geschichte aber nicht nur im Dienst anschaulicher Predigt von überführendem Gesetz und tröstendem Evangelium an, sondern auch in der Stiftung von Weltklugheit. So fahrt er in der Vorrede zur Historia Galeatii Capellae fort: »Und wenn mans gründlich besinnet, So sind aus den Historien und Geschichten fasst alle rechte, kunst, guter rat, Warnung, drewen, schrecken, trösten, stercken, Unterricht, fürsichtigkeit, Weisheit, klugheit sampt allen tugenden etc. als aus einem lebendigen brunnen gequollen. Das macht: die Historien sind nichts anders denn anzeigung, gedechtnis und merckmal Göttlicher werck und urteil, wie er diese weit, sonderlich die menschen, erhelt, regiert, hindert, fördert, straffet und ehret, nach dem ein jglicher verdienet, Böses und Gutes. Und ob gleich viel sind, die Gott nicht erkennen noch achten, [Den-] Noch müssen sie sich an die Exempel und Historien stossen und furchten, das jnen nicht auch gehe, wie dem und dem, so durch die Historien werden fürgebildet, da durch sie herter bewegt werden, denn so man sie schlecht mit blossen worten des rechts oder Lere abhelt und jnen weret, Wie wir denn lesen nicht allein jnn der heiligen Schrifft, Sondern auch jnn den Heidnischen büchern, wie sie einfüren und fürhalten der Vorfaren Exempel, wort und werck, wo sie etwas erheben wollen bey dem volck oder wenn sie fürhaben zu leren, ermanen, warnen, abschrecken.« 39 Insbesondere denkt Luther an die Schulen, die er den Ratsherren einzurichten dringend empfiehlt, damit für die Aufgaben in Kirche, ebenso aber eben auch in Politik und Wirtschaft, dem »weltlichen Regiment«, 40 künftig fähige Christenmenschen zur Verfügung stehen. Luther weist zunächst auf die Vorbildlichkeit der heidnischen Römer und Griechen in ihrem Einsatz
gelos facit. Hoc si ita est, ubi manebit articulus creationis?« (WA 42. 173,20ff; Genesis. 1535ff). Gegenüber diesen dem Glauben abträglichen Auslegungen kennt Luther aber auch zulässige Allegorisierung. Unter anderem nennt er Eph 5,32 als Beispiel: Die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau ist ein auch sachlich angemessenes Bild fur die Gemeinschaft von Christus und der Kirche. »Haec Allegoria erudita et plena consolationis est: Quid enim potest dici iucundius, quam quod Ecclesia sit sponsa, et Christus sponsus? Significatur enim hie illa tum societas tum communicatio laetissima omnium donorum, quae sponsus habet, et obruuntur simul peccata et calamitates omnes, quibus misera sponsa onerata est.« (WA 42. 174,7-11; Genesis. 1535fif). Deshalb gilt die Regel: »Qui igitur Allegoriis volunt uti, hi fundamentum earum ex ipsa historia petent. Historia enim est, quae, ceu Dialectica, vera et indubitata docet.« (WA 42. 173,41f; vgl. 174,19f; Genesis. 1535ff)- Vgl· auch C1 3. 194,29-35/WA 18. 700,31-35 (DSA. 1525): »Sic potius sentiamus, neque sequelam neque tropum in ullo loco scripturae esse admittendum, nisi id cogat circumstantia uerborum euidens, et absurditas rei manifestae, in aliquem fidei articulum peccans, sed ubique inhaerendum est simplici puraeque et naturali significationi uerborum, quam grammatica et usus loquendi habet, quem Deus creauit in hominibus.« Vgl. hierzu auch KRUMWIEDE, USUS legis. 39 40
WA 50. 383,17-384,14 (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538). Vgl. z.B. C1 2. 456,20f/WA 15. 44,llf (An die Ratsherrn. 1524): »Nu hie ist nicht
not zu sagen/wie das welltlich regiment eyn göttlich Ordnung vnd stand ist.«
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
31
für die schulische Erziehung ihrer Nachkommen hin.41 Die öffentlichen Schulen bieten gegenüber der naturwüchsigen Erziehung daheim, die oft genug ohnehin nicht geleistet wird oder werden kann,42 den unüberholbaren Vorzug, dass sie die geschichtlich gesammelte Lebenserfahrung vermitteln, die innerhalb eines Lebens durch persönliche Erfahrung niemals gesammelt und umgesetzt werden kann: »Und wenn die [sc. häusliche] zucht auffs höhest getrieben wird/vnd wol gerett/so kompts nicht ferner/ denn das eyn wenig eyn eyngezwungen vnd erbar geberde da ist/sonst bleybens gleychwol eyttel holtzböcke/die wider hie von noch da von wissen zu sagen/niemand wider radten noch helffen können. Wo man sie aber leret vnd zöge ynn schulen oder sonst/da gelerte vnd züchtige meyster vnd meysterynnen weren/da die sprachen vnd andere künst vnd historien lereten/da würden sie hören die geschichte[n!]43 vnd Sprüche aller wellt/wie es dieser stad/disem reich/disem Fürsten/disem man/disem weybe/gangen were/vnd kündten also ynn kurtzer zeyt/gleich der gantzen wellt von anbegynn/wesen/leben/rad vnd anschlege/gelingen vnd vngelingen/fur sich fassen/wie ynn eym spigel/daraus sie denn yhren synn schicken/vnd sich ynn der wellt laufft richten künden mit Gottis furcht/Dazu witzig vnd klug werden aus den selben historien/was zu suchen vnd zu meyden were ynn dissem eusserlichen leben/vnd andern auch darnach radten vnd regirn. Die zucht aber die man daheyme on solche schulen fur nimpt/die will vns weyse machen durch eygen erfarung/ehe das geschicht/so sind wyr hundert mal tod/vnd haben vnser lebenlang alles vnbedechtig gehandelt/denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt.«44 Den häuslichen Lehrmeistern fehle mangels Bildung die Möglichkeit zur Vermittlung eines breiten Wissensbestandes. Sie könnten ihre Kinder nur mit wenigen autoritär eingezwungenen und äußerlich aufgesetzt bleibenden Verhaltensregeln in ein Leben entlassen, in dem sie darauf angewiesen wären, aus eigener Erfahrung weise und verständig zu werden. Um aus Schaden klug zu werden und durch persönliche Erfahrung zum Erwerb eines umfassenden Wissens zu gelangen, sei eines Menschen Lebenszeit einfach zu kurz. Überdies fehle der häuslichen Erziehung und ihrer autoritär befehlenden Vermittlungsgestalt die Plausibilität. Dagegen mache die schulische Bildung durch die bildhafte Nachvollziehbarkeit der Geschichten und Weisheiten aus aller Welt witzig [sc. verständig] und klug. Sie provoziere eigenes Nach-Denken und Verstehen, führe zu eigener Einsicht 41 C1 2. 456,23-28/WA 15. 44,14-18 (An die Ratsherrn. 1524): »Vnd hie bieten uns die heyden eyn grossen trotz und schmach an/die vorzeyten/sonderlich die Römer und Kriechen/gar nichts gewust haben/ob solicher stand Gott gefiele aber [lies: oder] nicht/ vnd haben doch mit solichem ernst und fleys/die iungen knaben und meydlin lassen lernen und auffzihen/das sie dazu geschickt wurden/das ich mich vnser Christen Schemen mus«. Vgl. C1 2. 448,23-449,7/WA 15. 34,25-35,12 (An die Ratsherrn. 1524). 42 Vgl. C1 2. 447,23-448,22/WA 15. 33,17-34,23 (An die Ratsherrn. 1524). 43 »geschichte« ist hier der alte Plural von geschieht. 44 C1 2. 457,13ff/WA 15. 45,9ff(An die Ratsherrn. 1524).
32
Wirkgegenwart Gottes
in die Vernunft der Gottesfurcht, zeige durch ihre Exemplarizität sinnvolle und zu vermeidende Lebenskonzepte auf und setze als erzählerisch wiederholbare Erkenntnis zur lehrenden Weitergabe und staatsmännischen Anwendung instand. Luther kann also gemäß der antiken rhetorischen Tradition die überlieferte Geschichte exemplarisch aufgreifen. Auch er bezieht sich in praktischer Abzweckung zur Vermittlung eines begrifflich formulierbaren, aber durch das historische Beispiel wirkungsvoller darzustellenden Inhalts auf literarisch geronnene Erfahrung der Geschichte. Zwar ist Luthers Interesse an den historischen Exempla neben pädagogischen Abzweckungen weitgehend theologisch-seelsorgerlich bedingt. Aber in hermeneutischer Perspektive ist die Bedingung für Sinn und Wirksamkeit exemplarischer Unterweisung aus der Geschichte insoweit allgemein, als sie auf der Voraussetzung fußt, dass das erzählte Geschehen mit dem späteren Erzähler und seinem Zuhörer den Erfahrungsraum teilt. Zweifellos sieht auch Luther, dass dem Lernen aus der Geschichte enge Grenzen gesetzt sind. Schon das Verstehen setzt Erfahrung voraus, wie sein letztes handschriftliches Zeugnis eindrücklich zeigt: »Den Vergil in den Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, es sei denn, er war erst fünfJahre Hirte oder Bauer. Den Cicero in seinen Epistola (so sehe ich es) versteht sodann niemand, es sei denn er habe sich auch 20 Jahre in einem bedeutenden Staatswesen bewegt. Die Heiligen Schriften möge niemand meinen, genugsam ausgekostet zu haben, er habe denn 100 Jahre mit den Propheten die Kirchen geleitet.«45 Er vertraut zwar in gewissem Umfang auf die dem bloßen Wort gegenüber größere pädagogische Wirkung geschichtlicher Beispiele und Vorbilder,46 weiß aber auch, dass zumal der geistliche Gewinn exemplarischer Geschichtserzählung als einweisende und der Sünde überführende Erfahrung des Gesetzes wie bei jeder Gestalt der Verkündigung von der kontingenten Wirkgegenwart des Heiligen Geistes abhängt. 47 Kontinuierliche Entwicklung und progressive Veränderung in der Geschichte wird bei diesem Umgang mit der Überlieferung nicht angenommen. Entsprechend wird ein die Wahrnehmung der Wirklichkeit veränderndes Eintreten neuer Gottes- und Welterkenntnis nicht als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung verstanden. Ebenso wenig denkt Luther an 45 WAT 5. 317,11-17; Nr. 5677 (vgl. WAT 5. 168,27ff; Nr. 5468): »Vergilium in Bucolicis et Georgicis nemo potest intelligere nisi quinque annis primum fuerit Pastor aut Agricola. Ciceronem in epistolis nemo secundo intelligit, nisi viginti annis versatus sit in republica aliqua insigni. Scriptüras sacras sciat se nemo gustasse satis, nisi centum annis cum prophetis ecclesias gubernaverit.« Hierzu BAYER, Aeneis. 46 Vgl. WA 50. 384,7f (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538): »>[Den]Noch müssen sie sich an die Exempel und Historien stossen und furchten, das jnen nicht auch gehe, wie dem und dem«. 47 Vgl. WA 50. 384,6 (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538): »Und ob gleich viel sind, die Gott nicht erkennen noch achten«.
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
33
die anamnetische Restitution eines dem Menschen ursprünglich gegebenen göttlichen Wissens. Die Besserung der konstitutiven Vollzüge menschlichgeschichtlichen und naturhaften Daseins führt er in der Regel zurück auf die von Gott kontingent verfugte Wiederherstellung einer geschichtlich schon dagewesenen, aber mit dem Paradies verlorenen Möglichkeit des von ihm im Dasein gehaltenen geschöpflichen Seins. Der durch Wort und Geist geschenkte Glaube erneuert den ganzen Menschen: »Der Glaube ist eine Veränderung und Erneuerung des ganzen Wesens, so dass Ohren, Augen, Herz ganz anders hören, sehen, spüren als alle anderen Menschen [...]. So bildet der Glaube, Werk des Heiligen Geistes, einen anderen Verstand und andere Sinne, und macht den Menschen völlig neu.« 48 Die Würde des ehelichen Lebens und der Erziehung von Kindern scheint neu auf: »Deshalb hat Gott auch seine Freude an der Beschreibung solch niedriger Dinge, damit er bezeuge, dass er nicht verschmähe, auch keine Abscheu habe oder sich auf Abstand halte von der Hauswirtschaft, von einem guten Ehemann, von der Frau, von den Kindern. Weshalb tut er dies? Weil er selbst sie geschaffen hat, deshalb lenkt und erhält er sie auch als seine Kreatur. [...] Was kann besser und nützlicher in der Kirche gelehrt werden als das Beispiel einer gläubigen Hausfrau? Eine die betet, seufzt, schreit, Dank sagt, das Haus fährt, tut, was der Berufung ihres Geschlechts gemäß ist, die sich Kinder wünscht mit höchstem Anstand, Dankbarkeit, Glauben? Was mehr soll sie tun? Aber Papst, Kardinäle und Bischöfe dürfen dies nicht sehen, weil sie dessen nicht würdig sind. Der Heilige Geist lässt sie wandeln in sonderbaren und überhimmlischen Dingen, und sich in ihrer Keuschheit bewundern, die der Freudenhäuser würdig ist. Diese Dinge aber sollen sie nicht sehen. Unterdessen fuhrt der Heilige Geist die heiligen Frauen so, dass er bezeugt, dass sie seine Geschöpfe seien, die er lenken will, nicht allein nach dem Geist, sondern auch nach dem Fleisch, dass sie Gott anrufen, anbeten, danken u m des Nachkommens willen und dem Manne gehorsam sind usw.« 49 48 WA 42. 452,14-21 (Genesis. 1535ff): » N o n enim norunt [sc. Sophistae] fidem esse mutationem et renovationem totius naturae, ut aures, oculi, cor ipsum prorsus diversum audiant, videant, sentiant ab omnibus aliis hominibus. [...] Ita fides, spiritus sancti opus, aliam mentem et sensus alios fingit, ac prorsus novum facit hominem.« 49 WA 43. 656,22-25; 657,5-14 (Genesis. 1535ff): »Itaque delectatur Deus descriptione tarn humilium rerum, ut testetur se non despicere, nec abhorrere aut abesse ab oeconomia, a b o n o marito, ab uxore, a liberis. Q u a r e hoc facit? Q u i a ipse creavit, ideo gubemat et conservat tanquam suam creaturam. f...] Q u i d potest melius et utilius in Ecclesia doceri, quam exemplum piae matrisfamilias: quae orat, gemit, clamat, agit gratias, regit d o m u m , facit officium sexus, desiderat prolem cum summa castitate, gratitudine, pietate? Q u i d faciat amplius? Sed Papa, Cardinales et Episcopi haec non debent videre, quia digni non sunt. Spiritus sanctus sinit eos ambulare in mirabilibus et supercoelestibus, et admirari suam castitatem dignam lupanaribus. Haec vero neutiquam cernere debent. Interim gubernat sanctas mulieres, ut testetur esse eas suam creaturam, quas velit regere, non tantum secundum spiritum, sed etiam secundum carnem, ut D e u m invocent, adorent, gratias agant pro prole et sint obedientes marito etc.«
34
Wirkgegenwart Gottes
In summa kann Luther jubelnd bei Tisch aussprechen und damit zugleich einem reinen Bücherwissen die Absage erteilen: »Nos iam sumus in aurora futurae vitae, quia cognitionem omnium creaturarum incipimus nancisci, quam per Adae lapsum amisimus. Introspicimus nunc penitius creaturas quam olim sub papatu. Erasmus non curat, quomodo foetus in utero matris formatur; coniugii dignitatem ignorat. Nos vero gratia Dei ve ex flosculi consideratione incipimus cognoscere, quam omnipotens et bonus sit Deus. Ideo ipsum laudamus, benedicimus et ei gratias agimus et in ipsius creaturis cognoscimus potentiam verbi ipsius: Dixit, et facta sunt. In nucleo persici pomi, quae nux licet durissima sit, tarnen suo tempore cogitur se aperire mollissimo nucleo. Haec Erasmus praeterit, non aliter creaturas inspiciens atque vacca.«50 Das Evangelium und die Erkenntnis Gottes leuchten neu auf: »Nachdem aber das Licht des Evangeliums durch gottlose Päpste ausgelöscht war, war es ein Leichtes, den Leuten all jene Greuel [sc. Fegefeuer, Messopfer und andere Gottlosigkeiten] aufzudrängen. Unaussprechlich also ist dieses Geschenk, dass Gott nicht allein durch sein Wort mit den Menschen redet, sondern seinem Wort auch Zeichen der Gnade beigibt, als da sind im Neuen Testament Taufe, Eucharistie, Absolution. [...] Gott sei gepriesen in Ewigkeit, der uns heute durch sein Wort zurückgerufen hat von solchen haltlosen Irrtümern und Abgöttereien und uns so mit seinen Gnadenzeichen begabt hat, dass wir sie vor unseren Türen, ja in unserem Haus und im Bett haben können.«51 Auch das kulturelle Leben kommt zu neuer Blüte in Geistes- und Naturwissenschaften. Die Technik des Buchdrucks gehört ebenso zu den Geschenken Gottes in der Morgenröte des künftigen Lebens: »Aber izt, ο Gott, woll hab ich so ein edle zeit erlebet, souil revelationes, et vere sicut Christus dicit de novissimi diei temporibus: Es soll yhn der bluet stehn vnd darnach der jungst tag drauffkummen. Omnes artes florent; quando hoc fit, sagt Christus, sol es dem sommer nit weyt sein.«52 »At Deus omnia semel effundit, gibts gar auff einmal, drum acht mans nicht; quotidiana vilescunt. Iam totum pelagus verbi sui nobis donavit; omnes linguae et liberales artes gratis dantur, emuntur libri vilissimo pretio. Opera omnia Ouidii septem grossis, Terentius, Liuius, Plinius, Homerus litera Frobeniana 50 WAT 1. 573,31-574,5; Nr. 1160 (1. Hälfte der 30er Jahre). Vgl. das Motto der vorliegenden Untersuchung, 11; WAT 1. 574,8ff; Nr. 1160, die in deutscher Sprache überlieferte Variante der Tischsentenz. Zur Sache vgl. BAYER, Welt, 57f. 51 WA 42. 185,30-42 (Genesis. 1535ff): >»[P]ostquam lux verbi per impios Pontifices extincta est, facile fuit obtrudere hominibus omnes istas abominationes. Ineffabile igitur hoc donum est, quod Deus non solum dignatur loqui per verbum hominibus, sed etiam addit verbo visibilia signa gratiae, Sicut in novo Testamento sunt Baptismus, Eucharistie, Absolutio. [...] Deus sit benedictus in secula, qui hodie nos per verbum suum revocavit a vagis istis erroribus et Idolatrias et sie nos signis gratiae suae ditavit, ut ea ante fores nostras, imo domi nostrae et in lectulo habere possimus.« 52 WAT 1. 85,29ff; Nr. 193 (Februar/März 1532).
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
35
dimidio venduntur pretio. Vae nostrae ignaviae! Deus suam misericordiam iterum claudet ac satis parce nobis contenet, deinde mendacia et irrisores Dei adorabimus iterum, qui iam verbum et ministros illius negligimus.«53 Auch die Heilkunst beruht nicht auf menschlichem Fleiß und Erfindungsgabe: »Wenn neue Krankheiten auftauchen, gibt es auch neue Medikamente. Es ist nicht der Fleiß von Menschen, sondern die Aufgabe der Engel, die die Gedanken der kunstfertigen Meister lenken und anstoßen.« 54 Auch die Schöpfung von Recht als Inbegriff der Staatskunst hängt von Gottes Geben ab: »Also schreibt auch der Heide Plato: Es sey zweiley Recht, Justum Natura, Justum Lege. Ich wils das gesunde recht und das krancke recht nennen. Denn was aus krafft der Natur geschieht, das gehet frisch hindurch auch on alles Gesetz, reisst auch wol durch alle Gesetze.« Das gesunde Natunecht lässt sich aber nicht qua ontologischer Partizipation an der lex aeterno, anamnetisch restituieren, sondern bedarf als Inbegriff schöpferischen göttlichen Rechtswillens zu seiner den Umständen jeweils entsprechenden geschichtlichen Aufrichtung der kontingenten Erneuerung durch Gott selbst: »Nu ist die Welt ein kranck ding und eben ein solcher Peltz, da haut und har nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind seltzam und Gott gibt sie theur und m u ß doch regirt sein, wo menschen nicht sollen wilde thier werden. Darumb bleibts jnn der weit gemeiniglich eitel flickwerg und betteley, und ist ein rechter Spital, da beide Fürsten und Herrn und allen regirenden feilet an Weisheit und mut, das ist an glück und Gottes treiben wie den krancken an krafft und stercke. Darumb mus man hie flicken und pletzen, sich behelffen aus den buchstaben oder büchern mit der Helden Recht, Sprüche und Exempel, und müssen also der stummen meister (das ist der bücher) schüler sein und bleiben und machens doch nimermehr so gut, als daselbs geschrieben stehet, Sondern kriechen hinach und halten uns dran als den bencken oder stecken, folgen auch daneben dem Rat der besten, so mit uns leben, bis die zeit kompt, das Got wider einen gesunden Helden oder Wundermann gibt, unter des hand alles besser gehet oder ja so gut, als jnn keinem buch stehet, der das Recht entweder endert oder also meistert, das es im lande alles grünet und blüet mit fride, zucht, schütz, straffe, das es ein gesund regiment heissen mag«.55 Luther erlebt die Reformationszeit als von Gott geschenkte Zeit der Gnade, in der Gott alles wiederherstellt, wie es von ihm gewollt und geschaffen war: »Gott hat alles vor dem jüngsten Tag wollen wieder zurecht bringen in seinen ersten Stand, dazu es geschaffen und geordnet, als das
53
WAT 2. 453,7ff; Nr. 2407b (Januar 1532). WA 43. 69,5ff (Genesis. 1535ff): »quod nascentibus novis morbis nova remedia ostenduntur: non hominum ea industria est, sed Angelorum ministerium, qui artificum animos gubernant et impellunt.« 55 WA 51. 214,15ff.29ff (Psalm 101. 1534/35); zu den so genannten Helden und Wunderkuten vgl. die vorliegende Untersuchung, 305ff, 321ff. 54
36
Wirkgegenwart Gottes
Evangelium, den Ehestand, die Oberkeit etc.«56 Diese Sicht eines letztlich unableitbaren Neueinsatzes Gottes am Ende der Geschichte setzt der exemplarischen Geschichtshermeneutik jenseits aller geschichtlich immanenten Grenzen des Lernens aus den Erfahrungen anderer deutliche Schranken: Der Erwerb von Wissen ist sowohl hinsichtlich seiner objektiven Voraussetzungen, beispielsweise in den schriftlichen Überlieferungen, wie auch hinsichtlich des subjektiven Aneignungswillen verfugt in Gottes Geben.57 Sofern aber die von Luther geschilderten reichen Möglichkeiten des Lernens, wie etwa durch den Buchdruck und durch die Gelegenheit, bürgerliche Schulen einzurichten, gegeben sind, soll man sie auch zum Besten des Gemeinwesens nutzen. 58
1.3 Historia mater veritatis59 Ein gegenüber der Auslegung der heiligen Schrift und einer präzis theologisch bestimmten Sicht des Lebens sich verselbständigendes Interesse an der Geschichte hat Luther nicht. Das schließt die Hochschätzung der Geschichtsschreibung nicht aus. Die Geschichte ist Gottes Werk. Folglich sol56
WAT 6. 37,2ff; Nr. 6555 (o.J.). Vgl. auch C1 2. 445,29-33/WA 15. 31,9-14 (An die Ratsherrn. 1524): »Denn Gott der allmechtige hatt fur war vns deutschen ietzt gnediglich daheymen gesucht/vnd eyn recht gülden iar auff gericht. Da haben wyr ietzt die feynsten gelertisten iunge gesellen vnd menner/wo man yhr brauchen wollt/das iunge volck zu leren.« 57 Vgl. Luthers Beurteilung des Umstandes, dass, was die bekannte Kirchengeschichte angeht, »nos vix lacera quaedam historiarum fragmenta verius quam historias habeamus. Sed credo Deum omnipotentem (ut fides nostra confitetur), sine cuius consilio et nutu hoc (sicut omnia alia) fieri n o n potuit. An vero factum id sit consilio fiirentis vel miserentis maiestatis, meum non sit iudicare. Miserentis mallem, furentis suspicor.« (WA 50. 4,4-9; Vorrede zu R. Barns. 1536). 58 Damit ist die deo cooperatio hominis angesprochen. Vgl. CI 3. 253, 15ff/WA 18. 754,4ff (DSA. 1525): Deus »non operatur in nobis sine nobis, ut quos ad hoc creauit et seruauit, ut in nobis operaretur, et nos ei cooperaremur.« WA 43. 70,22f (Genesis. 1535ff): »Deus vult per suarum creaturarum ministerium agere.« WA 43. 71,7ff (Genesis. 1535ff): »Manet igitur regula [...], quod Deus non amplius vult agere secundum extraordinariam, seu, ut Sophistae loquuntur, absolutam potestatem: sed per creaturas suas, quas non vult esse otiosas.« WA 43. 547,34-548,3 (Genesis. 1535ff): »Hoc exemplum diligenter notandum est propter eos, qui omnia referunt ad praedestinationem, et ita tollunt omnes actiones et media, quae ordinavit Deus. [...] Hae cogitationes prophanae et impiae sunt, quia vult Deus te uti mediis, quibus potes, vult te oblatam occasionem amplecti et ea uti, siquidem per te ea vult efficere, quae ordinavit.« Hierzu SEILS, Gedanke. Weitere Literatur und Bemerkungen zur Sache vgl. die vorliegende Untersuchung, 43ff Anm. 85, 96ff, 132 Anm. 158, 137f Anm. 191, 171ff, besonders 172 Anm. 291. 59 Vgl. KRUMWIEDE, Glaube, 45f, 51ff und SCHWARZ, Wahrheit, 159-168. Zu Luthers Geschichtskenntnis vgl. SCHÄFER; K Ö H L E R ; DELIUS, Quellen. - Zur Geschichtsschreibung der Reformation: M E N K E - G L Ü C K E R T ; M E I N H O L D , Geschichte-, SCHULIN.
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
37
len Geschichtskenntnisse und geschichtlich überlieferte Erfahrungen und Erkenntnisse dem schöpfungsgemäßen Aufbau des gegenwärtigen Lebens im Gnadenkairos des Evangeliums dienen. Aus diesem Grunde bedauert Luther, nicht über breitere Kenntnisse aus Geschichtsschreibung und Dichtung zu verfügen. 60 Konsequenterweise regt er auch die Geschichtsschreibung an61 und fördert sie, wie seine zahlreichen Vorreden zu historiographischen Schriften zeigen. 62 In Fragen v o n geistlicher Bedeutung wäre ein Urteil freilich ohne Wert, das allein auf nichtbiblischen Quellen beruht und nicht zuerst aus der Heiligen Schrift gezogen wird. Aber die Heilige Schrift steht nicht in Opposition zur Geschichte, sie besteht neben den lehrhaften Texten und Reden weithin selbst aus historiae und stellt die historia sacra vor Augen. Während der Leipziger Disputation 1519 nennt er die historia »mater veritatis«.63 Er wusste aus Piatinas Historia de vitis pontificum zu belegen, dass der römische Bischof nicht zu allen Zeiten den Primat über alle übrigen Bischöfe der Christenheit innegehabt hatte. Dieser Wahrheitserweis aus der Geschichte bestätigte ihm den Schriftbeweis, aufgrund dessen er den römischen Suprematsanspruch als Stiftung göttlichen Rechts zurückgewiesen sah, allenfalls noch als Satzung menschlichen Rechts gelten lassen wollte. Auch seine Rückschau auf die Ereignisse, die ihn schließlich zur Identifizierung des Papsttums mit dem Antichrist führten, zeigen diese Gewichtung der Argumente: Aus der Schrift wird der Beweis »apriori« geleistet, aus der Geschichte aber »aposteriori«. 64 60
Vgl. C1 2. 458,12ff/WA 15. 46,18ff(An die Ratsherrn. 1524): »Ja wie leyd ist mirs itzt/das ich nicht mehr Poeten vnd historien gelesen habe/vnd mich auch die selben niemand gelernt hat. Habe dafür müst lesen des teuffels dreck/die Philosophos vnd Sophisten mit grosser kost/erbeyt/vnd schaden/das ich gnug habe dran aus zufegen.« 61 Vgl. etwa die Bemerkung WA 50. 77,19-21 (Donatio Constantini. 1537): »Ach wolt Gott, das etwa ein müssiger und gelerter Historicus solche Exempel zusamen trüge, wie offt die Bepste nach den Keiserlichen und Königlichen kronen gegriffen haben«. - Allerdings ist deutlich, daß Luther nicht an die Selbstläufigkeit der Aufklärung durch historische Arbeit in emanzipativem Interesse glaubt. Auch das Lernen aus der und die Aufklärung durch die Geschichte ist bedingt und umgriffen von Gottes Wollen. Vgl. WA 50. 83,3-13 (Donatio Constantini. 1537): »Summa, es sind alle zeit gelerte, weise leute gnug gewest, wie die Historien zeigen, beide jnn Weltlichen und Geistlichen Stenden, sonderlich die des Bapsts schalckeit und Tyranney wol gemerckt und da wider gered und gethan haben. Aber des Bapsts stündlin ist nicht da gewest, darumb haben sie nichts geschafft [...]. Solch stündlin will jtzt hie sein, ob Gott will, Doch das sie es ja nicht gleuben, wenn sie es gleich so hart fületen, das jnen das hertz jnn die schuch und noch tieffer feilet.« 62 Vgl. z.B. die in dieser Arbeit angeführten Vorreden zu Barns erster antirömischer Papstgeschichte (WA 50. 3-5), zu Capellas Geschichte des Mailändischen Krieges (WA 50. 383-385) und zu Menius Erklärung des ersten Buches Samuel (WA 30/111. 539f). 63 WA 2. 289,13f (Leiziger Disp. 1519): »Platynae nihil tribuo, sed historiae quae est mater veritatis, quam scribit Platyna.« 64 WA 50. 5,26ff (Vorrede zu R. Barns. 1536; Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 24 Anm. 14). In der Umkehrung bedeutet dies, dass das Faktische nicht an sich Erweismittel des Geistes und der Kraft ist, sondern des erschließenden bzw. bestätigenden gött-
38
Wirkgegenwart Gottes Freilich ist d e r z u s ä t z l i c h e G e s c h i c h t s b e w e i s h o c h w i l l k o m m e n . 6 5 D i e
L e k t ü r e v o n L o r e n z o Vallas De βalso credita et ementita Constantini
donatione
A n f a n g des J a h r e s 1 5 2 0 schafft i h m die b e u n r u h i g e n d e Gewissheit u n d bestätigt seine exegetisch v o r b e r e i t e t e V e r m u t u n g , 6 6 es m i t d e m A n t i c h r i s t in der Gestalt des r ö m i s c h e n Papstes z u t u n z u h a b e n . 6 7 D e r G e s c h i c h t s beweis h a t g e g e n ü b e r d e m a u t o r i t a t i v e n Schriftbeweis d e n Vorzug, dass er die T a t s a c h e n u n d P e r s o n e n k o n k r e t b e i m N a m e n n e n n t , w ä h r e n d mittels des Schriftbeweises eine allgemeine Charakteristik erst in e i n e m zweiten Schritt a u f ein historisch k o n k r e t Existierendes b e z o g e n w e r d e n k a n n . 6 8 Diese Einsichten ändern aber nichts an der grundsätzlichen Sicht der D i n g e : D i e Schrift ist die in geistlicher H i n s i c h t s o w o h l e r s c h ö p f e n d e wie a u c h m a ß g e b l i c h e u n d i m Streitfall a u c h allein e n t s c h e i d e n d e A u t o r i t ä t in S a c h e n des G l a u b e n s , weil sie G o t t e s W o r t ist. In d e r B e s t i m m t h e i t d u r c h das W o r t G o t t e s g r ü n d e t z u d e m die g r ö ß e r e historische Zuverlässigkeit d e r b i b l i s c h e n G e s c h i c h t s b e r i c h t e g e g e n ü b e r aller n i c h t b i b l i s c h e n G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g . L e t z t e r e ist häufig d u r c h eine ten-
lichen Wortes bedarf: vgl. WA 43. 416,31-38 (Genesis. 1535ff): »semper danda est opera, ut habeamus certum verbum. Aut si non semper praecedit mandatum Dei, tarnen post factum cernitur, qualis fuerit instinctus. Sicut David interfecit Leonem, Ursum et Goliath, sed irruit in eum spiritus, is fuit instinctus post factum demum visus. Ac tales habent fundamentum verbum Dei. Aut si sunt sine verbo initio, tarnen postea agnoscuntur et iudicantur fuisse ex Deo. Sicut nobis accidit. Nos adorti sumus Papam sine verbo, sed iam videmus fuisse illum divinum instinctum, sine nostra cogitatione et consilio.« 65 WA 50. 5,29f (Vorrede zu R. Barns. 1536): »Et plane mihi triumphare videor, cum luce apparente historias cum scripturis consentire intelligo.« 66 Vgl. zum Verhältnis von Schriftauslegung und Geschichtsdeutung die vorliegende Untersuchung, Teil III, Kap. 7-10. 67 »Habeo in manibus officio Dominici Schleupner Donationem Constantini A Laurentio Vallensi confütatam per Huttenum editam. Deus bone, quante seu tenebre seu nequitie Romanensium & quod in Dei iuditio mireris per tot secula non modo durasse, Sed etiam praeualuisse ac inter decretales relata esse. Tarn impura tarn crassa tarn impudentia mendacia inque fidei articulorum (nequid monstrosissima monstri desit) vicem successisse. Ego sie angor, vt prope non dubitem papam esse proprie Antichristum illum, quem vulgata opinione expectat mundus; adeo conueniunt omnia, quae viuit, facit, loquitur statuit.« (WAB 2. 48,20-49,2; 24. Februar 1520 an Spalatin). 68 Vgl. WA 50. 5,3 Off (Vorrede zu R. Barns. 1536): »Nam quod ego S. Paulo et Daniele Magistris didici et docui, Papam esse illum Adversarium Dei et omnium, hoc mihi historiae clamantes re ipsa velut digito monstrant et non genus neque speciem, sed ipsum Individuum, non vagum (ut vocant) ostendunt.« Ähnlich auch das Verhältnis von biblischer Lehre und biblischer Geschichtserzählung: »Quid enim est historia sacra quam visibile verbum fidei seu opus fidei, quod idem nos docet facto et opere, quod alias scriptura tradit verbo et sermone?« (WA 30/111. 539,35-540,1; Vorrede zu Justus Menius. 1532); zum Verhältnis von Weltweisheit und Geschichte vgl. WA 50. 383,8ff. Vorrede zu Historia Galeatii Capellae. 1538; Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 21 Anm. 4.
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
39
d e n z i ö s e B e r i c h t e r s t a t t u n g verfälscht. 6 9 W ä r e sie w a h r h e i t s g e m ä ß verfasst, h ä t t e sie a u c h in geistlichen D i n g e n zwar keine eigene, so d o c h eine helfende, aufklärende S t i m m e . B e z ü g l i c h seiner Identifizierung des P a p s t t u m s m i t d e m A n t i c h r i s t h ä t t e sich L u t h e r d u r c h a u s eine Hilfe v o n einer wahrheitsgetreuen H i s t o r i o g r a p h i e des P a p s t t u m s vorstellen k ö n n e n . Vielleicht h ä t t e sich der Papst ü b e r h a u p t n i c h t o d e r z u m i n d e s t n i c h t s o erfolgreich a n die Stelle d e r g ö t t l i c h e n M a j e s t ä t s e t z e n k ö n n e n , » w e n n seine T a t e n v o n einigen zuverlässigen H i s t o r i o g r a p h e n eigentlich u n d w a h r überliefert w o r d e n w ä r e n , w o d u r c h gottgläubige M e n s c h e n e r m a h n t w o r d e n wären«. 7 0 L u t h e r bezweifelt n i c h t prinzipiell, dass eine zuverlässige u n d wahrheitsgetreue G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g a u c h a u ß e r h a l b der Bibel m ö g l i c h sei. A b e r er zeigt sich diesbezüglich ä u ß e r s t pessimistisch; d e n n »es g e h ö r t d a z u e i n trefflicher M a n , der ein L e w e n h e r t z h a b e , u n e r s c h r o c k e n die warheit z u s c h r e i b e n . [...] A b e r das wird n u m e h r , a c h t ich w o l , n i c h t g e s c h e h e n , Es k e m e d e n n die Ordnung wider, die bei d e n J ü d e n gewest ist.« 71 Diese U n s i c h e r h e i t fordert z u m i n d e s t i m A n s a t z z u einer A r t historischer Kritik heraus. » I n n des m ü s s e n wir uns lassen b e n ü g e n a n u n s e r n H i s t o r i e n , wie sie 6 9 Vgl. WA 5 3 . 2 6 , 4 1 - 4 3 ; 27,5-9 (Supputatio annorum mundi. 1541.1545): »Ich gründe mich auf die heilige Schrift. Daher werde ich auch genötigt, den Philo, wiewohl ungern, zu verwerfen, der innerhalb der Wochen Daniels an einer Stelle achtzehn Jahre zuviel setzt.« Derartige Abweichungen haben Luther zu der Entscheidung geführt, »dass ich die Geschichtsschreiber zwar nicht ganz und gar verachtet habe, aber die heilige Schrift ihnen vorzog. Ich gebrauche dieselben so, dass ich nicht gezwungen werde, der Schrift zu widersprechen. Denn ich glaube, dass in der Schrift der wahrhaftige Gott rede, aber in den Historien sehr gute Leute nach ihrem Vermögen ihren Fleiß und ihre Treue (aber als Menschen) erweisen, oder wenigstens, dass die Abschreiber haben irren können.« (»Ego solis Scripturis sanctis nitor. Unde et Philonem, quanquam valde invitus, cogor reijcere, intra hebdomadas Danielis alicubi superantem 18. annis. [...] Haec causa me movit, ut Historicos non quidem in totum contemptos haberem, Sed sacram scripturam illis praeferrem. Utor illis ita, ut non cogar scripturis contradicere. Qilia credo in scripturis deum veracem loqui, In historijs homines optimos suam, quam potuerunt, diligentiam et fidem (sed ut homines) praestare, aut saltem transcriptores eorum potuisse errare.«
WA 44. 158,Iff (Genesis. 1535ff): »Josephus, qui alioqui magnus vir fuit, tarnen saepe studio gentis suae turpissime mentitur, contra scripturam sacram in historiis, ut cum facit ex Saulo heroicum et sanctum virum.« WA 50. 385,2-11 (Vorrede zu Historia Galeatii Capellae. 1538): »Das mehrer Teil schreiben also, das sie jrer zeit laster oder unfal den herm oder freunden zu willen gern schweigen oder auffs beste deuten, wiederumb geringe oder nichtige tugend allzu hoch auffmutzen, Widerumb aus gunst jres Vaterlands und ungunst der Frembden die Historien schmücken oder suddeln, darnach sie jemand lieben oder feinden. Damit werden die Historien über die masse verdechtig und Gottes werck schendlich vertunckelt. [...] Und zu letzt dahin kompt, das man nicht weis, was man glauben sol. Also verdirbt der edle, schöne, höheste nutz der Historien«. 7 0 WA 50. 4,39-5,3 (Vorrede zu R. Barns. 1536): »Homo scilicet peccati et filius perditionis, vermis et putredo (ea est ira super ingratum mundum) ausus est in locum maiestatis se levare. Quod forte non fuisset factum aut non tarn foeliciter factam, Si res eius gestae fuissent aliquot fidelibus historicis proprie et vere traditae, per quas pij homines fuissent admoniti«. 71
WA 50. 385, lf.l8ff (Vorrede zu Historia Galeatii Capellae. 1538).
40
Wirkgegenwart Gottes
sind, und zu weilen selbs dencken und urteilen, ob der Schreiber etwa aus gunst oder ungunst schlipffere, zu viel oder zu wenig lobet und schild, dar nach er den leuten oder Sachen geneigt ist.« 72 Den Historicus Galeatius Capeila möchte Luther von seinem skeptischen Urteil freilich ausgenommen wissen; denn in seiner Beschreibung des Mailändischen Krieges kann »man auch wol sehen [...] Gottes werck, wie wünderlich er die Menschen kinder regieret, und wie gar böse der Teufel ist und seine Glieder, damit wir lernen Gott furchten und seinen rat und hülffe suchen, beide jnn grossen und kleinen sachen.« 73 Damit ist der exemplarisch-geistliche Sinn der Geschichtsbetrachtung angesprochen, der fur Luther im Vordergrund steht und in der biblischen Historiographie in größter Klarheit hervortritt. Denn der gegenüber aller nichtbiblischen Geschichtsschreibung weit größere Vorzug der biblischen Geschichtsschreibung besteht nicht nur in ihrer historischen Zuverlässigkeit, sondern vor allem darin, dass sie über alle Tatsachenbeschreibungen hinaus die Geschichte als den Menschen anredendes Werk und Wort Gottes vergegenwärtigt. 74 72
WA 50. 385,20-24 (Vorrede zu Historia Galeatii Capellae. 1538).
73
WA 50. 385,31-34 (Vorrede zu Historia Galeatii Capellae. 1538).
74 Vgl. WA 14. 566,37-567,31 (Deut. Mosi cum annot. 1525): »Nota vero, quamvis huius populi historia, si in specie consideretur, similis videtur gentilibus historiis: si enim nunc vincunt, nunc vicuntur, nunc abundant, nunc egent et utcunque miracula celebrentur, tarnen sic abscondit sese deus, ut videantur omnia geri humana prudentia et casu. Sic apparuit absque dubio gentibus illis impiis omnibus, ideo et restiterunt et sie egerunt in illos, quasi nullus esset deus in Israel. Ideo huius populi historiae sunt ab omnium gentium historiis separandae, quantum distat coelum a terra. In historiis gentium spectare licet vel magnitudinem vel parvitatem operum. In hac vero unicum hoc admirandum et venerandum est, nempe verbum dei cuius duetu et nutu omnia geruntur ac fiunt. Denique vere vocantur sacrae historiae, non quod a sanetis hominibus res illae gestae sunt, sed quod secundum verbum sanctum dei, quod sanetifieat omnia, et nomine saneto ac vice dei gestae sunt. Ideo quamvis o m n i u m gentium facta sint et ipsa mera mirabilia et opera dei, tarnen testimonium verbi et beneplaciti dei non habent, ideo sunt res et historiae eorum solum testes irae terribiles valde significationes horrendi iudicii dei. Proinde totius mundi historiae simul aeeeptae incomparabiliter viliores sunt quam una et vilissima quaedam huius populi historia.« WA 30/111. 539,10-16 (Vorrede zu Justus Menius. 1532): »Infeliciter sane (ne dicam perniciose) etiam veteres aliquot Patres tractaverunt historias (ut vocant) veteris Testamenti. Omissa enim fide per charitatem operosa, quae caput et summa est in historijs sacris (qua una virtute a prophanis gentium historijs differt, quantum coelum a terra, lux a tenebris, vita a morte), frigidas et ineptas allegorias nobis obtruserunt, quae et ipsae tarnen nihil aliud erant quam novae historiae de rebus fidelium et haereticorum in Ecclesia gestis sub nomine veterum historiarum propositae.« WA 43. 212,21-24 (Genesis. 1535ff): »Es muss hindurch gehen, was du anfengest auff sein Verbum, und solt kein Engel im himel bleyben. In hoc igitur antecelIunt gentilium res gestas historiae sacrae. Hic enim mandato Dei, illic fortuito et consiliis humanis geruntur omnia.« Vgl. auch die folgenden Texte aus der Genesisvorlesung: WA 42. 430,6ff; 443,13ff; WA 43. 236,7ff; 672,13ff; WA 44. 725,28ff. Z u m exemplarischen Sinn vgl. auch WA 44. 533,10ff (Genesis. 1535ff): »Et eiusmodi terrores et pericula ad nos erigendos et confirmandos pertinent in nostris tentationibus«.
Geschichte als Gegenstand der Theologie Luthers
41
Umso wichtiger ist es, dass die biblische Geschichtsschreibung frei von Verfälschungen tradiert wird.75 Der exemplarische Anredecharakter der biblischen Geschichte vertieft sich, wenn man sich in die Situation der geschilderten Personen hineinversetzt.76 Dazu kann auch das richtige Verständnis der Abfolge der Geschichte behilflich sein. Luther erarbeitete sich deshalb eine die gesamte Weltgeschichte umgreifende Zeittabelle, seine Supputatio annorum mundiJ1 Zum Verständnis der Auslegung des Jesaia-Buches ist die Kenntnis der Geschichte der Könige, unter denen Jesaia gelebt und verkündigt hat und wie sie in den Königsbüchern und den Chronikbüchern nachzulesen ist,78 noch wichtiger als die genaue Kenntnis der hebräischen Sprache.79 Der historische Sinn eines Textes ist so wichtig für die Auferbauung des Glaubens, weil er den exemplarischen Charakter der biblischen Geschichtsschreibung festhält.80 Als Fazit ist festzuhalten: Die Geschichte bzw. die historiographische Überlieferung ist in Luthers Sinn insoweit mater veritatis, wie sie die geschichtlichen Fakten zuverlässig und ohne tendenzielle Verzerrungen überliefert. Aufgrund der historischen Zuverlässigkeit der biblischen Geschichtsschreibung kommt dieser im Konflikt mit der profanen Geschichts75 Vgl. WA 30/111. 539,10-16 (Vorrede zu Justus Menius 1532; Text siehe vorstehende Anm.). 76 Vgl. WA 43. 466,9ff (Genesis. 1535ff): »Iam considera circumstantias, et te in rem praesentem constitue.« 77 W A 53. 2 2 - 1 8 4 . Vgl. W A 44. 133,3 I f f (Genesis. 1535ff): »Est enim diligentia utilis et necessaria inquirere et meminisse Seriem temporum in sacra historia. [...] Haec enim ad cognitionem scripturae sanctae plurimum prodest.« WA 44. 133, 40ff (Genesis. 1535ff): »Sed temporum supputatio necessaria est, vel ob hanc causam: ut Iudaei convinci possint de adventu Christi, cuius testimonia illustrissima ex Serie temporum sumi possunt.« (Luther spricht damit den Tatbestand an, dass die alttestamentlichen Schriften auf Christus als den verheißenen, zukünftig kommenden Herrn weisen.); W A 44. 210,9f (Genesis. 1535ff): »Chronographia multa utiliter monet, et illustrat historiam, et saepe occasionem praebet multarum pulcherrimarum cogitationum.« 78 Vgl. W A D B 11/1. 17,16-26 (Vorrede auffden Propheten Jesaiam. 1528/45) »Den Titel aber meine vnd heisse ich nicht alleine, das du diese wort, Usia, Jotham, Ahas, Jeheskia, der könige Juda etc. lesest oder verstehest. Sondern fur dich nemest das letzte Buch von den Königen, vnd das letzte Buch der Chronica, dieselbigen wol einnemest, Sonderlich die Geschieht, rede vnd zufelle, so sich begeben haben vnter den Königen, die im Titel genennet sind, bis zu ende der selbigen Bücher. Denn es ist von nöten, so man die Weissagung verstehen wil, das man wisse wie es im Lande gestanden, die Sachen drinnen gelegen sind gewesen. Wes die Leute gesinnet gewest, oder für anschlege gehabt haben, mit oder gegen jre Nachbar, Freunde vnd Feinde. Und sonderlich, wie sie sich in jrem Lande gegen Gott, vnd gegen den Propheten in seinem Wort vnd Gottesdienst, oder Abgötterey gehalten haben.« 79 Vgl. WA 31/11. 1,5-11 (Jesaia. 1527/30): »Ad ennarrandum prophetam opus est duplici cognicione. Prima Grammatica, et haec potest ut potentissima haberi. [...] Altera magis necessaria, videlicet cognicio historiae, [...] et haec non solum est sciencia rei factae, ut verba sonant in Uteris et sillabis, sed simul complectitur Rhetoricen et dialecticen, ut scilicet figurae et circumstantiae diligenter animadvertantur.« 80
Vgl. die vorliegende Untersuchung, 2 9 f Anm. 38.
42
Wirkgegenwart Gottes
Schreibung die unbestreitbare Autorität zu. Die geschichtlichen Fakten bestätigen und konkretisieren den Ertrag biblischer Exegese, wie die Auseinandersetzung um den göttlichen oder menschlichen Ursprung des römischen Suprematsanspruchs illustriert. Sodann sprechen die Fakten als exemplarische Erfahrungen und Geschehnisse den Menschen auf jeden Fall auf seine Stellung vor Gott an.81 Luthers Interesse an der Wahrheit der Geschichte ist weithin orientiert an der Aufgabe der Schriftauslegung und der Verkündigung des Gotteswortes. Geschichtskenntnis dient der Erkenntnis des historischen Sinnes der Schrift und steht damit im Dienste der applikativen Auslegung des Schriftwortes. In den Umfang dieser Aufgabenstellung gehört selbstverständlich auch die schriftgeleitete Kritik des HistorischFaktischen. Sie tritt exemplarisch in Luthers Auseinandersetzung mit dem Papsttum hervor, wird mit den Mitteln biblischer Exegese begründet und durch die historiographisch überlieferten Geschichtstatsachen bestätigt. Das Lernen aus den Erfahrungen früherer Zeiten hat seinen Ort jedoch nicht nur im Bereich des Geistlichen, sondern findet ebenso in der Sphäre des Weltlichen statt.82 Biblische wie nichtbiblische Geschichtsüberlieferung haben fur den Aufbau von Kenntnissen in Politik, Ökonomie oder auch Haushaltung hohen Rang. Die biblische Geschichtsschreibung ist freilich in geistlicher Hinsicht von unvergleichlich höherem Rang als alle übrige Historiographie, weil sie die Geschichte als den Sünder anredendes Wort und Werk Gottes zur Sprache bringt.
2 Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung 2.1 Die Engführung der Geschichtsdeutung durch den noetischen Einsatz beim gekreuzigten Christus Die erste Bestandsaufnahme weist Luthers vielfältige Kenntnis und Verwendung materialer Geschichtsdaten wie auch seinen Umgang mit zeitgenössischer Geschichtstheorie aus. Jedoch lässt sich ein selbständiges theologisches Interesse des Reformators an der geschichtlichen Thematik nicht erkennen. In der Lutherforschung wird aus diesem Befund weithin der Schluss gezogen, Luthers Bezug auf die Geschichte sei ausschließlich kerygmatisch-praktisch motiviert. Diese an sich zutreffende Einsicht wird jedoch antimetaphysisch dahin gewendet, dass sich Luthers Geschichts81 So bedauert Luther, »das wir unser Vorfaren vor tausent jam Geschichte und Exempel nicht haben und fast nichts wissen, wo wir her komen sind«. Auch diese verlorene Geschichte hätte einen Wert zur Erbauung der Gegenwärtigen. »Denn weil Gottes werck on unterlas für sich gehet, wie Christus spricht: >Mein Vater wircket bis daher, Und ich auchseelsorgerlichen Impressionismus< zum Opfer gefallen ist, und daß sich seine Deutung der Geschichte in einen Haufen temperamentvoller >seelsorgerlicher Eruptionen< auflöst.«167 Zum Erweis des Gegenteils reicht es allerdings nicht, Luther als »großartige(n) Systematiker«168 zu beschwören. Die bloße Behauptung, seine Urteile über die Geschichte stünden »in Richtung auf die Mitte seiner Theologie«, so dass »seine Geschichtsdeutung [...] nichts anderes als das Geltendmachen des Rechtfertigungsbekenntnisses in der konkreten geschichtlichen Situation«169 sei, trägt für die gedankliche Eröffnung des Interpretationsvorganges zu wenig aus, zumal Zahrnt im Einzelnen auch nicht an den Texten ausweist, in welcher Richtung Luthers jeweilige Aussagen auf die Mitte seiner Theologie stehen sollen. Zahrnt versucht, innerhalb eines kurzen Eingangskapitels unter der Überschrift »Geschichte und Offenbarung«, in locker beschreibender Zitatreihung eine Art von systematischen Begründungsrahmen für Luthers Aussagen über die Geschichte zu erstellen.170 Er beginnt mit der Feststellung, Luther habe »Gottes unentrinnbare Gegenwart, seine bedrängende Nähe fast leibhaftig gespürt.«171 Zum Beleg werden Texte zitiert, die Aufschluss über Luthers Verständnis von Gottes allgegenwärtigem und allmächtigem Wirken in der Welt geben.172 Dieses habe seine »Wurzel nicht in pantheistisch-mystischen Seinsspekulationen, sondern in dem biblisch begründeten Schöpferglauben«.173 Die Zweideutigkeit der Geschichte erlaube aber keinen Rückschluss auf Gottes Willen mit dem Menschen; denn »die Geschichte ist keine Offenbarung«, die Erkenntnis Gottes ermöglichen würde.174 Der »natürliche Mensch«, der zwar eine Erkenntnis der Macht, nicht aber des Willens Gottes habe, fixiere seine Erwartungen auf die Gegenwart, statt »auf eine Sinnenthüllung in der Zukunft zu warLuther, 186 (Zitat im Zitat: Luther, 186. 169 ZAHRNT, Luther, 186. 170 Vgl. ZAHRNT, Luther, 19-39. 171 ZAHRNT, Luther, 19. 172 Vgl. ZAHRNT, Luther, 19-22. 173 ZAHRNT, Luther, 19. 174 ZAHRNT, Luther, 30; vgl. 22-25. 167
ZAHRNT,
168
ZAHRNT,
RÜCKERT,
Luther, 6f).
62
Wirkgegenwart Gottes
ten«, und betrachte die Geschichte somit »ex analogia entis«:175 Sichtbarer Erfolg bzw. Misserfolg spiegele für ihn das Verhältnis zwischen Gott und Mensch und gäbe mithin Auskunft über Gottes Willen in der Geschichte. Dagegen muss der Fromme erleben, dass es den Gottlosen augenscheinlich wohl geht, er selbst aber leiden muss.176 Die aus sich selbst keinen oder nur scheinbaren Sinn entlassende Geschichte wird erst im Licht der Christusoffenbarung erschließbar, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal gebe sie dem Menschen erst »die Möglichkeit an die Hand, das ganze Weltgeschehen als von Gott gewirkt zu erkennen«, und es »anzusehen, ohne dass Gott ihm darüber zum >Tyrannen< wird.«177 Zum anderen sei »das Handeln Gottes in Christus [...] paradigmatisch für sein Geschichtshandeln überhaupt«: 178 Gott verbirgt sich selbst und sein Werk unter dem Gegensatz dessen, was menschliches Sinnen und Empfinden erwartet; er tötet, um lebendig zu machen etc. Allerdings könne aus dieser Einsicht nicht der Schluss auf ein allgemein gültiges, für die Vernunft anwendbares »Gesetz des Gegensatzes«179 gezogen werden, das die unterstellte Analogie von Erfolg und heilvoller Nähe Gottes nur umkehrt: Gotteserkenntnis ist in der Geschichte allein über sein aktuell ergehendes Wort möglich. »Das richtende und begnadigende Wort« 180 trifft den Menschen so, dass es ihn aus allen innergeschichtlichen Sicherungen herausstößt: Geschichtserkenntnis wird als Bekenntnis des Lobes Gottes und der eigenen Sünde akut. Das Wort Gottes zerschlägt jeden »mit einem selbständigen apriorischen Begriffsdenken« konstruierten »Sinn« der Geschichte. Gott allein ist es, der ihr durch sein Wort den Sinn gibt, der jeweils gehorsam entgegenzunehmen ist.181 Für die Geschichte an sich bedeutet dies, dass sie keine Anrede Gottes entlässt: »Die realistische Geschichtsbetrachtung des theologus cruris führt zur Entzauberung der Welt.«182 Zu Zahrnts systematischer Begründung und Ausrichtung der Lutherschen Geschichtsdeutung ist kritisch anzumerken: Zum einen: Die Vermittlung von Weltgeschehen und Heilsgeschehen wird nicht gedanklich durchdrungen. Offenbarung und Geschichte stehen sich diastatisch gegenüber. Das Wort Gottes in Gesetz und Evangelium wird nicht zureichend als Teil der Geschichte selbst bedacht, sondern ihr supra-
Luther, 2 6 . Luther, 23ff. 177 ZAHRNT, Luther, 3 1 . 178 ZAHRNT, Luther, 3 3 . 179 ZAHRNT, Luther, 3 6 . Gegen Erich Seeberg, dem ZAHRNT, Luther, 212f Anm. 158, zu Recht vorwirft, »aus dem Offenbarungsgeschehen ein geschichtsphilosophisches Schema« gemacht zu haben. 180 ZAHRNT, Luther, 3 7 . 181 ZAHRNT, Luther, 37f. 182 ZAHRNT, Luther, 3 7 . 175
ZAHRNT,
176
Vgl.
ZAHRNT,
Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung
63
natural entgegengesetzt als sinnstiftendes Wort. Die Geschichte kommt im Verhältnis zum Wort Gottes nur als selbstmächtig durch den Sünder gedeutete Geschichte zur Sprache. Die Entzauberung der Welt aufgrund supranaturaler Information und Erkenntnis entspricht nicht Luthers Nachdenken über die differenten Modi der Wirk- und Weltgegenwart Gottes in der Geschichte in seinem Wort und nach seiner verborgenen Allmacht. Zum anderen: Zahrnt vermag eine Konvergenz zwischen Gottes verborgen wirkender Allmacht und seinem Heilshandeln in Luthers Sinn nicht auszusagen. Die Geschichte wird allein in ihrer Zweideutigkeit thematisiert. Dass der in ihr wirkende verborgene Gott mit dem in Christus sich gnädig erschließenden Gott fur den Glaubenden gegen den Augenschein identisch ist, dass der Glaubende deshalb sowohl der Verheißung wie der Weltlenkung Gottes, wenn auch unter Anfechtungen, trauen darf, kommt zwar zur Sprache: »Nur wer auf die Verheißung Gottes hört, vermag in dem, was ihm widerfährt, Gottes Absicht zu erkennen.« 183 Aber Zahrnt fuhrt nicht aus, wie Gottes Wirken in der den Glaubenden anfechtenden Geschichte vorzustellen ist. Das in Christus vorgebildete Handeln Gottes sub contraria specie, das opus alienum, mittels dessen Gott zu seinem opus proprium, Trost und Erhöhung, gelangen will, wird daher völlig unvermittelt als Paradigma seines Geschichtshandelns eingebracht und ganz unter dem noetischen Gesichtspunkt der Erkenntnis Gottes in seinem geschichtlichen Wirken entfaltet. Zahrnt fuhrt nicht aus, was es fur die Geschichte selbst und ihre Erfahrung seitens des Menschen bedeutet, dass Gott in ihr gegenwärtig wirksam sei. Es ist nicht zureichend, Luthers Verständnis vom Handeln Gottes sub contraria specie in die eben wiederum keine Aussage über Gottes Handeln in der Geschichte zulassende Einsicht von der Sinnlosigkeit der Geschichte zu überfuhren, weil ein Handeln und Wollen Gottes in ihr nicht erkennbar sei.184 Schließlich: Zahrnt zufolge sieht Luther die Geschichte wesentlich in der Perspektive von Sinnlosigkeit oder vergötzter Endlichkeit. Wohl unter dem Eindruck der nachkriegsdeutschen Wirklichkeit vermag er den Gabecharakter von Schöpfung und Geschichte nicht angemessen zu prädizieren, der sich jedenfalls nicht auf die Dürftigkeit einer entzauberten Welt reduzieren lässt. Luther konnte auch trotz der Wirklichkeit von Kreuz und Anfechtung das Lob des Schöpfers anstimmen. Er spricht ausdrücklich von Gottes geschichtlichem Wirken in erhaltender Güte, Zorn und Gnade. Das weiß auch Zahrnt, wie seine weitere Darstellung zeigt.185 Aber er kommt in systematisch-theologischer Hinsicht nicht über ein abstraktes Konstatieren des Allmachtsgedankens neben dem ebenso abstrakt eingeführten Gesichtspunkt des Handelns Gottes unter der gegenteiligen Erscheinung hinaus. Die Verweis auf die Lebenserfahrung, dass Luther Gottes Luther, 34f. Luther, 34f. ZAHRNT, Luther, 1 4 9 - 1 8 4 .
183
ZAHRNT,
184
Vgl. Vgl.
185
ZAHRNT,
64
Wirkgegenwart Gottes
»bedrängende Nähe fast leibhaftig gespürt«186 habe, vermag den Gedanken der ubiquitären omnipotentia generalis nicht zureichend gegenüber dem Verdacht spekulativer Geschichtsmythologie schützen, weshalb Zahrnt auf den biblischen Schöpferglauben als tragende Begründung zu rekurrieren sucht.187 Dabei vermisst der Leser jedoch hermeneutische Einweisungen in das Verhältnis von Schrift und Lebenserfahrung. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Luthers bedrängenden Erfahrungen der Nähe Gottes und dem biblischen Zeugnis? Wenn ja, leitet die Schrift zur Erfahrung der Nähe Gottes in allem an? Oder besteht eine Korrespondenz in der Weise, dass die Schrift zu neuer Erfahrung mit schon vorgegebener Erfahrung anleitet? Zahrnt bleibt die Antworten auf diese Fragen schuldig.
2.3 Kritik einzelner Deutungskategorien Rudolf Hermann 188 urteilt, Luthers Rede von Gottes Masken- und Larvenspiel in der Geschichte stehe »nicht auf der Höhe des Glaubens an den Schöpfer, der seinen Sohn Fleisch werden läßt«. Ursache seiner Kritik sind vermutete »metaphysische Voraussetzungen (wohl aus Occams Schule)«,189 wonach Gott sein Erhaltungswerk auch ohne die Mitwirkung seiner Geschöpfe treiben könne. »Das irdische Geschehen [scheint] von dem Wirken Gottes nicht sowohl übernommen und zugleich durchwaltet zu sein, als vielmehr nur gleichsam herangezogen und auch wieder beiseite geschoben, also mehr bloß auf Widerruf angestellt, zu werden.«190 Hermanns Sorge gilt dem Eindruck, Luther verunsichere mit seiner Larvenlehre das Vertrauen in die Treue Gottes des Schöpfers. Der Interpret berücksichtigt aber nicht den Kontext dieser Aussagen und kann so gerade nicht zur Geltung bringen, dass es Luther gerade um die Abweisung occamistischer Spekulation in lebenspraktischer Absicht geht: Gott hat sich in seinem Wort gerade in die Schöpfung hineingebunden und ruft durch sein Wort zu cooperatorischer Einstimmung in den Institutionen, die sein Wort haben.191 Überdies zwingt Luthers Rede vom Gaukelspiel Gottes keineswegs dazu, die Geschichte als willkürliche Schöpfung des Scheins zu denken, wohl aber schließt sie jede Divinisierung des Geschöpflich-Geschichtlichen in seiner Zuhandenheit aus.
Luther, 19. Luther, 19.
186
ZAHRNT,
187
ZAHRNT,
188
HERMANN, Frage, 190.
189
HERMANN, Frage, 188.
190
HERMANN, Frage, 189.
191
Vgl. C1 3. 253,15FF/WA 18. 754,4FF (DSA. 1525): »non operator in nobis sine nobis, ut quos ad hoc creauit et seruauit, ut in nobis operaretur, et nos ei cooperaremur.«
Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung
65
Offensichtlich zustimmend, weil nicht kommentierend, weist Hermann Dörries auf Hermanns Kritik.192 Mehr abschwächend als kritisierend behandelt Martin Schmidt die Rede von Gottes Maskenspiel: »Das waren freilich Bilder und Versuche, die sich nicht zu tragenden Behauptungen verdichten ließen, so daß sie gleichwertig neben seine Anschauungen vom Heil, seine Lehre von Rechtfertigung und Glauben träten oder gar diese bestimmten.« 193 Dieses Urteil ist nur insoweit zutreffend, als die von Luther verwandten Metaphern nicht als notwendig geltend gemacht werden dürfen, um die gemeinte Sache zum Ausdruck zu bringen. Luther verdichtet sie systematisch-theologisch freilich selbst im Begriff der cooperatio sive extra sive intra regnum suum 194 und stellt sie in den Aussagezusammenhang über die Weltlenkung Gottes. Irreführend erscheint der Hinweis, sie träten nicht gleichwertig neben Luthers zentrale soteriologischen Aussagen. Sofern mit dieser Beurteilung der Annahme einer noetischen Vor- oder Gleichordnung einer remoto Christo entwickelten Schöpfungs- und Geschichtstheologie als Fundament der Soteriologie bei Luther widersprochen werden soll,195 ist Schmidt zuzustimmen. Aber sie übergeht zugleich, was Ernst Kohlmeyer, wenn auch in schiefer Verallgemeinerung, zu Recht herausstellt: Das Evangelium ergeht an den Menschen, der in, mit und unter der Erfahrung der Geschichte bereits unter dem Eindruck der Wirklichkeit und der unerfüllbaren Forderung Gottes des Schöpfers steht.196 Zudem blendet sie die für Luther ganz entscheidende, in der Larvenmetaphorik sprachliche Gestalt findende Einsicht aus, dass Gott das Werk der Erhaltung seiner Schöpfung wie auch die Hervorbringung seiner neuen Schöpfung durch Wort und Werk von Menschen, unter der Larve der Berufe, wirkt. Schließlich lässt sie auch die tröstende wie anfechtende Erfahrung außer Acht, welche die Rede von der larvenartigen Verborgenheit Gottes im Welttheater für die Glaubenden, aber auch nur für sie, mit sich führt: Weil ihnen in aller Wirklichkeit Gott verborgen begegnet, wirkt ihnen als denen, die ihn lieben, auch alles zum Besten mit. Grundsätzlich stellt sich auch im Zusammenhang mit Luthers Rede vom Maskenspiel Gottes in der Geschichte die Frage nach seinem Wirklichkeitsverständnis, das zwar nicht als anderweitig, etwa im Rahmen einer remoto Christo gewonnenen natürlichen Theologie begründetes und bestimmendes Fundament seiner Theologie zu verstehen ist (so aber Kohlmeyer), gleichwohl aber mit Luthers Verständnis des durch Gesetz und Evangelium zur Rechtfertigung des Sünders handelnden Gottes unmittelbar gegeben ist: Die Geschichte ist für den vom Geist ergriffenen Glaubenden, nach im Fol192
DÖRRIES, 2 3 A N M . 9 .
SCHMIDT, Geschichte, 55. Vgl. die vorliegende Untersuchung, 43ff Anm. 85. 195 So nämlich KOHLMEYER. 193
194
196
V g l . KOHLMEYER, 1 6 4 f .
66
Wirkgegenwart Gottes
genden noch differenziert darzustellenden Modi, Rede Gottes an seine Kreatur durch die Kreatur.m Zähmt moniert, mit Berufung auf Martin Doerne,198 die Affinität des die Einheit der Geschichte begründenden Gedankens der Allwirksamkeit Gottes zum unpersönlichen Schichalsglauben. »Die Sachechtheit evangelisch-theologischen Denkens« sei gefährdet, wo, wie in der Polemik Luthers gegen Erasmus innerhalb seiner Schrift Über den unfreien Willen, der antike Schicksalsglaube zur Verdeutlichung des Allmachtsgedankens herangezogen würde.199 Zahrnt bezieht sich auf folgende Passage: »Die natürliche Vernunft selbst ist gezwungen einzugestehen, dass solch ein Gott lächerlich wäre, ja vielmehr ein Götze, der die Zukunft ungewiss vorhersieht oder durch die Ereignisse getäuscht wird, während auch die Heiden ihren Göttern das unausweichliche Schicksal zugewiesen haben.«200 Die Pointe von Luthers Ausführungen besteht jedoch nicht darin, die christliche Gotteserfahrung in die Nähe zum antiken Schicksalsglauben zu rücken, sondern er bezieht sich auf diesen zum Aufweis der Erfahrung der Unausweichlichkeit (fatum ineluctabile) verfügender göttlicher Allmacht. In der Tat rückt Luther201 den antiken Schicksalsglauben und die christliche Gotteseifahrung in der Anfechtung unter dem Aspekt zusammen, dass sich der menschlichen Vernunft im Blick auf die Geschichte kein dieser immanent ausweisbares Sinnpotential erschließt. Er betont jedoch zugleich in Unterscheidung vom Schicksalsglauben die Personalität des in der prophetischen Anfechtung begegnenden, oder genauer: sich entziehenden Gottes: »Die Propheten aber, die daran glaubten, dass ein Gott sei, waren noch mehr angefochten über die Ungerechtigkeit Gottes.«202 Nicht ein blindes Schicksal hinzunehmen wird gelehrt, sondern der lebendige Gott treibt in die Verzweiflung. Diese Näherbestimmung der Gotteserfahrung des angefochtenen Glaubens ändert freilich nichts an der Tatsache, dass Gott in der Situation akuter Angefochtenheit in der Maske blinder Schicksalsmacht erscheint, freilich um gerade so den Glauben an den gnädigen Gott zu provozieren. Wird diese Erfahrungsbezogenheit Lutherscher Rede von Gott berücksichtigt, stellt sich eher die Frage, ob nicht der Verzicht auf solche Überspitzung des Allmachtsgedankens gerade der Sachechtheit evangelisch-theologischen Denkens abträglich wäre, bliebe doch ohne diesen Gedanken nur eine recht 197 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 1 6 3 - 2 1 1 ; zu Hamanns Formulierung Rede an die Kreatur durch die Kreatur vgl. die vorliegende Untersuchung, 4 0 9 Anm. 4 3 . 198
Vgl. DOERNE, Ehre.
199
ZAHRNT, Luther, 2 0 7 Anm. 66.
C1 3. 2 1 3 , 3 6 f f / W A 18. 7 1 8 , 1 6 f f (DSA. 1525): »ipsa ratio naturalis cogitur confiteri, uidelicet, quod ridiculus ille Deus fuerit, aut idolum uerius, qui incerto praeuideat futura, aut fallatur euentis, cum et gentiles Dijs suis fatum dederint ineluctabile.« 200
201
Vgl. C1 3. 2 9 0 , 5 f f / W A 18. 7 8 4 , 3 5 f f (DSA. 1525).
C1 3. 2 9 0 , 2 3 f / W A 18. 7 8 5 , 9 f (DSA. 1525): »Prophetae uero, qui Deum esse crediderunt, magis tentantur de iniquitate Dei.« 202
Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung
67
abstrakte Theorie von der Allwirksamkeit Gottes übrig, die nicht mit Gottes Heilshandeln vermittelbar ist. Die kritischen Anmerkungen der angeführten Autoren signalisieren deren Probleme im Umgang mit Luthers Auffassung von der omnipotentia generalis Dei. Jeweils wird die Christologie als theologische Kontrollinstanz gegenüber der christlichen Rede von der Allwirksamkeit Gottes in Anschlag gebracht. Man versucht, auf der Ebene begrifflichen Denkens auszugleichen, was für Luther allein im Vollzug des Glaubens als Durchleiden des Gegensatzes in der Anfechtung überwindbar ist und denkerisch deshalb nur unter Verkürzung der Wirklichkeit harmonisiert werden kann: In der Anfechtung steht die Gerechtigkeit Gottes angesichts seines blind wirkenden Zugriffs auf dem Spiel. Die Rede vom Maskenspiel Gottes kränkt jeden menschlichen Anspruch auf autonome Autorenschaft in der Geschichte. Luther selbst formuliert gegenüber Erasmus: »Also stehen das Vorherwissen und die Allmacht Gottes in diametralem Gegensatz zu unserem freien Willen; denn entweder würde Gott in seinem Vorherwissen getäuscht und würde sich irren, wenn er handelt (was unmöglich ist), oder wir handeln und werden gehandelt gemäß des Vorherwissens und Handelns von jenem.«203 Luthers Geschichtsverständnis kann kaum hinreichend erfasst und plausibel gemacht werden, wenn man sich der Radikalität seines Redens von der Allmacht Gottes entzieht. Die systematische Konstruktion eines monopolisierten Zugangs zu Luthers Geschichtsdeutung ohne Beachtung des konstitutiven Sachverhalts der Allwirksamkeit Gottes wirkt sich auf die Weite von Luthers Gedanken ebenso reduktiv aus wie die theologische Kritik einzelner seiner Vorstellungen. Des Weiteren gilt, was bereits begründet wurde: Gottes Verborgenheit in der Niedrigkeit und im Kreuz Christi kann im Sinne Luthers nicht als Zugang zur Erkenntnis der Verborgenheit Gottes in der Geschichte angegeben werden.204
2.4 Abschwächung der soteriologischen Relevanz der Rede vom verborgenen Gott Es bedarf zur theologischen Absicherung der Eindeutigkeit des göttlichen Heilserweises in Christus keiner Abschwächung der Lutherschen Rede vom »verborgenen Gott in der Majestät, der weder weint noch den Tod weg203 C1 3. 214,7-10/WA 18. 718,25-28 (DSA. 1525): »Pugnat itaque ex diametro praescientia et omnipotentia Dei cum nostro libero arbitrio, Aut enim Deus falletur praesciendo, errabit et agendo (quod est impossibile), aut nos agemus et agemur secundum ipsius praescientiam et actionem.« 204 Vgl. LILJE, 68ff; ZAHRNT, Luther, 3 I f f ; BERNHARD LOHSE, Luther, 198; vorsichtiger: BANDT, 125ff; SCHMIDT, Geschichte, 48 u. 54f.
Wirkgegenwart Gottes
68
nimmt, sondern Leben, Tod und alles in allen wirkt.«205 Eberhard Jüngel stellt zwar zu Recht gegen Rudolf Hermann 206 fest, »Luthers Unterscheidung von deus praedicatus und deus absconditus hat [...] nicht die Funktion, die Verborgenheit Gottes und die Offenbarung Gottes in ein dialektisches Gleichgewicht zu bringen oder gar die Offenbarung Gottes durch die Erinnerung an den verborgenen Gott als immer wieder problematisierbar aufzuweisen.«207 Die Wahrheit und Gewissheit der Ereignung des Heils in Christus wird durch die Rede von der Verborgenheit Gottes weder problematisiert noch werden Gott und Gott sozusagen gleichgewichtig auf die logisch-begrifflichen Waagschalen theologischer Theorie gelegt. In Luthers Denken gibt es innergeschichtlich kein logisch zuhandenes Drittes, über das ein wie auch immer charakterisiertes Gleichgewicht der beiden Weisen verborgener göttlicher Wirkgegenwart denkbar oder vermittelbar wäre. Unter dem existenziell erfahrenen Gegensatz von Zorn und Gnade hingegen gibt es kein Gleichgewicht, sondern nur das Entweder-Oder von Ereignung und Betroffensein. Jüngel blendet allerdings die existenzielle Spannung der Gleichzeitigkeit von Verheißungsgewissheit und Unbegreiflichkeit der Wirkgegenwart Gottes aus, wie sie sich für Luther in der Partikularität göttlichen Erwählens darstellt und in der Anfechtung des Glaubens akut wird. Während der Reformator die Identität von verborgenem und im Wort offenbar werdendem Gott gegen die auch kreuzestheologisch nicht durchgängig zu erhellende Erfahrung der Wirklichkeit allein im Modus eschatologischer Hoffnung festhalten kann, reduziert Jüngel die Dimension des Angegangenseins durch den Deus absconditus auf ein bloßes Gegebensein, indem er das religiöse Verhalten exklusiv christologisch bindet: »Kurz: nur indem der Mensch sich dem offenbaren Gott zuwendet, verehrt er den verborgenen Gott. Das Geheimnis des verborgenen Gottes respektiert der Mensch also, indem er es sich nichts angehen läßt. So und nicht anders.«208 Luther hingegen unterscheidet zwischen der soteriologisch relevanten Orientierung an dem im Wort heilvoll gegenwärtigen Gott und dem zu furchtenden und anzubetenden, gleichwohl nicht zu erforschenden Willen Gottes in seiner Majestät.209 Gott in seinem unerforschlich bleibenden Willen gilt ein selbständig festzuhaltendes Wissen um sein Gegebensein wie auch eine entsprechende religiöse Praxis. Allerdings fordert Luther mit seinem Hinweis 205 »Deus absconditus in maiestate neque deplorat neque tollit mortem, sed operator vitam, mortem, et omnia in omnibus«. C1 3. 1 7 7 , 3 6 - 3 8 / W A 18. 6 8 5 , 2 1 - 2 3 (DSA. 1525). 206
HERMANN, Theologie, 160f.
207
JÜNGEL, Quae supra nos, 229.
208
JÜNGEL, Quae supra nos, 231.
Vgl. C1 3. 1 7 8 , 4 - 1 3 / W A 18. 6 8 5 , 2 9 - 6 8 6 , 3 (DSA. 1525): »Nunc autem nobis spectandum est uerbum, relinquendaque illa uoluntas imperscrutabilis, Verbo enim nos dirigi, non uoluntate illa inscrutabili, oportet. [...] Satis est, nosse tantum, quod sit quaedam in Deo uoluntas imperscrutabilis, Quid uero, C u r et quatenus illa uelit, h o c prorsus non licet quaerere, optare, curare, aut tangere, sed tantum timere et adorare.« (Hervorhebg. v. Verf.). 209
Luthers Geschichtsverständnis im Spiegel der Forschung
69
auf das der uoluntas imperscrutabilis in Deo geltende timere und adorare nicht ein einem sozusagen namenlosen Gott neben Christus gebührendes religiöses Verhalten ein. Dagegen steht: »So hat er nicht gewollt, dass wir mit ihm zu schaffen haben.«210 Im Unterschied zu allem heidnischen Beten richtet sich das Gebet der Kinder des Vaters Jesu Christi auf den bekannten Gott.211 Nicht ein absoluter, unerforschlicher Wille an sich, sondern zu furchten und anzubeten ist die uoluntas imperscrutabilis in Deo.212 Diese Rede von Gott ist inklusiv. Sie umschließt Gott als Subjekt seines verborgenen wie auch seines im Wort offenbaren Wollens. Gott kann allerdings im Sinne Luthers nur deshalb als mein Gott angebetet werden, weil er sich in seinem Wort fur mich definiert hat. Insofern sich der Glaubende auf Christus bezieht, betet er zugleich den Gott an, dessen Heilswille sich nur partikular in der geschichtlichen Wirklichkeit durchsetzt und der dennoch Subjekt der christologisch nicht durchgängig erschlossenen Gesamtwirklichkeit ist. Zwar hat Jüngel Recht, dass diese Verehrung nicht einem absoluten Gott ohne Christus gilt, bekäme man es dann doch nach Luther, wie Jüngel zutreffend anmerkt, »statt mit Gott mit dem Teufel zu tun.«213 Aber er verfehlt eindeutig die Intention Luthers, wenn er aus dessen Ablehnung eines unmittelbaren spekulativen oder religiösen Verhaltens zum Deus absconditus den Schluss zieht, ein den unerforschlichen Willen in Gott positiv einschließendes religiöses Verhalten sei vollständig irrelevant für das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Nicht »indem er es sich nichts angehen läßt«,214 wird das Geheimnis des verborgenen Gottes durch den Menschen respektiert, sondern indem er es sich als das Geheimnis des Gottes angehen lässt, der zwar jetzt schon wollendvoraussehender Treiber des gesamten Weltgeschehens ist, dessen Identität mit dem in Christus sich heilvoll eröffnenden Gott aber erst eschatologisch manifest sein wird.215 Für das religiös-praktische Verhalten bedeutet dies, dass der sich im Gebet auf den im Wort eindeutig zum Heil erschlossenen Gott beziehende Mensch Gott zugleich als demjenigen vertraut, der, fur den geschichtlich existierenden Menschen vollkommen unbegreiflich, 210
»nec sic uoluit a nobis agi cum eo«. (Cl. 3. 177,28/WA 18. 685,15; DSA. 1525).
Vgl. z.B. W A 19. 206,31-207,13 (Jona. 1526); W A 40/11. 329,9ff.22ff; (Psalm 51. 1533/34). 211
212 Vgl. auch Cl 3. 1 7 8 , 2 - 4 / W A 18. 685,27f (DSA. 1525): »Multa facit Deus, quae uerbo suo non ostendit nobis, Multa quoque uult, quae uerbo suo non ostendit sese uelle«; Cl 3. 1 8 2 , 2 5 - 2 9 / W A 18. 689,32-690,2 (DSA. 1525): »Huius itidem Dei incarnati est flere, deplorare, gemere super perditione impiorum, cum uoluntas maiestatis ex proposito aliquos relinquat et reprobet, ut pereant. Nec nobis quaerendum, cur ita faciat, sed reuerendus Deus, qui talia et possit et uelit.« (Hervorhebg v. Verf.). Vgl. auch den Text vorstehende Seite Anm. 209. 213
JÜNGEL, Quae supra nos, 232.
214
JÜNGEL, Quae supra nos, 231.
Vgl. Cl 3. 2 9 1 , 1 5 - 1 7 / W A 18. 785,35-37 (DSA. 1525): »»At lumen gloriae aliud dictat, et deum, cuius modo est iudicium incomprehensibilis iustitiae, tunc ostendet esse iustissimae et manifestissimae iustitiae.« 215
70
Wirkgegenwart Gottes
auch im Gesamtgeschehen von Geschichte wollend-voraussehend als der Gerechte wirksam ist.216 So lässt der Glaubende die Geschichte Gottes Werk sein, indem er, den unerforschlichen Willen in Gott verehrend, sich weder zum süperben Subjekt von Geschichte aufwirft noch resignativ an der Weltlenkung Gottes verzweifelt. Allein unter der Voraussetzung der All- und Alleinwirksamkeit Gottes behält der Glaube die Gewissheit, dass Gottes Verheißung trotz der ihr zu widersprechen scheinenden Erfahrung der Geschichte Bestand hat. Das Vertrauen in die undurchschaubare Weltlenkung Gottes ist jedoch nicht als unverrückbarer und unanfechtbarer Standpunkt des Glaubens in zeitübergreifender Gewissheit gegeben. Die Geschichte bleibt unerforschlich und ficht an. Heilsgewissheit muss je und je neu unter Anfechtungen von Gott geschenkt und im Geist gewirkten Kampf des Glaubens errungen werden. Des Menschen Fragen nach dem Warum geht ins orientierungslos Leere. Gleichwohl soll er das Dass göttlich-unerforschlichen Wollens im je kontingent sich für ihn Ereignenden wissen, furchten und verehren; denn es ist nicht nur das Wollen des einen Gottes, der sich in Christus den Erwählten heilvoll mitteilt und verheißen hat, sondern auch das Wirken des Gottes, der den alten Menschen gesetzhaft verklagt, ihn anfechtend destabilisiert und abbaut. Mit der Rede vom Deus absconditus in maiestate fuhrt Luther also nicht eine den Heilswillen Gottes ungewiss machende voluntas Dei absoluta ein. Vielmehr bringt sie den einen Gott zur Sprache, der seinen Heilswillen nicht unvermittelt in einem gottfernen Raum eröffnet, sondern in einer Welt erweist, die schon immer seine Schöpfung ist und als solche wirksam von ihm durchgriffen und gegen das Nichts erhalten wird. Zugleich bedeutet dies, dass der Mensch durch die begegnende Wirklichkeit immer schon von Gott her angegangen ist; denn dass der Deus absconditus in maiestate sich spekulativem wie kontemplativem Ausgriff entzieht, schließt nicht aus, dass Gott auf ungreifbare Weise in aller Kreatur und aller Kreatur wirksam gegenwärtig ist: adesse non est salvare. Jüngel reduziert die Spannung von verborgen gegenwärtiger Allmacht und heilsamer Gegenwart Gottes auf die Erfahrung einer gottlosen Welt außerhalb der Offenbarung in Christus. Die gottlose Welt ist eine Weise der (Nicht-) Begegnung mit dem Deus absconditus: »Der deus absconditus ließe sich dann - wohlgemerkt vom deus revelatus her - bestimmen als Gott, insofern er statt seiner die Welt begegnen läßt; >alls were keyn Gott daGeschichte< begriffen wird, ist [sc. gegenüber dem vorneuzeitlichen Denken] neu. Wo früher Recht oder Strafe, Gewalt, Macht, Vorsehung oder Zufall, Gott oder das Schicksal beschworen werden mochten, konnte man sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichte berufen.«
Wirkgegenwart Gottes
78
Der sich seiner geschichtlichen Perspektivität im Verhältnis zu einem Geschehen in der Vergangenheit bewusste Forscher hat im Blick auf Luthers Geschichtsverständnis den Umstand zu reflektieren, dass er aus dem Abstand der Jahrhunderte und der umfassenderen Kenntnis der historischen Zusammenhänge der damaligen Zeitgeschichte zu einer anderen Wertung der die Reformation bestimmenden Ereignisse als Luther kommen kann. Bei der Frage nach Luthers Geschichtsverständnis wird er zudem zu berücksichtigen haben, dass, wie Koselleck in Reflexion auf die neuzeitliche Erfahrung der Geschichte herausstellt,243 das Verstehen der Geschichte selbst geschichtlich ist. Während die moderne (implizite) Theorie des Verstehens von Geschichte apriori geschichtlich ist, versteht Luther die Geschichte nichtgeschichtlich. Er interpretiert, wie schon der terminologische Befund zeigt, das Weltgeschehen nicht als Geschichte. »Der wellt laufft«, wie er den neuzeitlich als Geschichte begriffenen Gegenstandsbereich häufig bezeichnet, »und sonderlich seyner heyligen wesen« ist kein Reflexionsbegriff des sich selbst als Träger des Geschehens verstehenden Menschen, sondern »Gottes mummerey, darunter er sich verbirgt und ynn der wellt so wunderlich regirt und rhumort.«244 Das bedeutet nicht, dass Luther die Ereignisse ungeschichtlich im Sinne des mythischen Weltbildes versteht. Er stellt die Gegenwart nicht vor als Wiederholung ihres vorzeitlichen Ursprungs in der »grundlegenden und folgenschweren Geschichte der Götter, in deren Nachwirkung man noch immer lebt.«245 Auch das Verständnis Gottes als Subjekt der Geschichte zieht nicht zwingend die Konsequenz eines ungeschichtlichen Verstehens des Weltgeschehens nach sich.246 Trotz der verborgenen Wirksamkeit Gottes in allem Geschehen haben auch die Gläubigen ihre Geschäfte im zeitlichen Dasein so zu organisieren, »alls were keyn Gott da und müsten sich selbs erretten und selbs regiren.«247 Luther begreift selbst Schöpfungs- und Paradiesesgeschichte als Vorgänge in der bis in die Gegenwart sich kontinuierenden, von Gott ursprünglich geschaffenen Zeit: »diese sechs Tage waren wirklich 243 244 245
Vgl. KOSELLECK, Einleitung, sowie KOSELLECK, Herausbildung. WA 15. 373,15-17 (Psalm 127. 1524). SL0K, 1 2 6 4 .
Andernfalls müsste man beispielsweise auch Hegel a limine den Sinn für geschichtliches Verständnis absprechen! Freilich, aus der Perspektive eines Denkens, das nicht nur die Kompetenz des Glaubensverstehens, sondern auch die Wirklichkeitsauslegung der autonomistischen Metaphysik radikal in Frage stellt, müssten Luthers und Hegels Urteilen über innere Bewegung und Wesen der Geschichte gleichermaßen der Anspruch auf Sinnhaltigkeit und also Bedeutung abgesprochen werden; denn während sich im aufklärerischen Europa des späten 18. Jahrhunderts ein Begriff von Geschichte durchzusetzen beginnt, der ihre Einheit in der einen Menschheit als Subjekt der Hervorbringung wie als Subjekt des Wissens der Geschichte begründet sieht, (vgl. KOSELLECK, Neuzeit; SPARN), ist nach Hegel und Luther, ceteris imparibus, ausschließlich Gott als Subjekt einer Geschichte anzusetzen, die als Selbstvollzug Gottes gemäß seines ihm selbst durchsichtigen, ihn wesenhaft bestimmenden Willens zu verstehen ist. 246
247
WA 15. 373,3f (Psalm 127. 1524).
Zur Differenz von Erfahrung und Verständnis der Geschichte
79
sechs natürliche Tage«.248 Mose schreibt auch in den ersten drei Kapiteln der Genesis historia, wirklich Geschehenes, Ereignisse in Raum und Zeit, nieder, deren geschichtliche r«-Haltigkeit trotz ihrer durch den Sündenfall verwirkten Möglichkeiten nicht allegorisch überspielt werden darf.249 Gleichwohl substituiert in Luthers Schriften der Begriff" Weltlauf den modernen Begriff Geschichte nicht im Sinne eines einfachen Äquivalents. Der Reformator versteht die Zeit zwischen Anfang und Ende der Welt als Raum sich gleich bleibender Möglichkeiten. Der neuzeitliche Geschichtsbegriff setzt dagegen eine objektiv qualitative Differenz zwischen der Vergangenheit und Gegenwart an, sieht diese aber vermittelt durch die Einmaligkeit der sich in die Zukunft: bewegenden einen Geschichte, die, nach meditativ-konstruktiver Erschließung ihrer Bewegungsgesetze, zugleich als Vollzugsgestalt der sich planend nach vorne entwerfenden Menschheit begriffen wird. Das Vergangene wird zur Vorgeschichte der Gegenwart, und im Sinn stiftenden Wissen von der Geschichte kehrt das forschende Subjekt im Sich-selbst-Verstehen als geschichtlich Gewordenes zu sich zurück. In diesem Wissen wirkt es als tätig werdendes auf die Geschichte zurück, so dass diese wiederum zur Hervorbringung des Menschen gemäß seiner Einsicht in die Formprinzipien ihres Werdens wird. Die Geschichte wird damit durchsichtig als prozessuales Fortschreiten menschlicher Selbsterkenntnis und einer dieser entsprechenden Gestaltung menschlichen Lebens. In diesem Reflexionsprozess lernt sich der Mensch als Subjekt der Geschichte verstehen und lädt sich damit zugleich die Verantwortung fiir sein Bestehen als geschichtlich existierendes Wesen auf. Durch die praktische Rückwirkung seiner theoretischen Einsicht von der Geschichte auf die Geschichte beschleunigte er die Frequenz der sukzessiven Ablösung kontinuierlicher Erfahrungsräume und produzierte als theomorphes Subjekt schließlich selbst jene Wirklichkeit, deren zunächst kontingente Erfahrung im Traditionsabbruch der Französischen Revolution der Begriff Geschichte ursprünglich indiziert. 250 Die Geschichte ist nicht wiederholbar. Allein die selbstverantwortete Geschichte macht klug. Nicht die Vergangenheit, sondern die selbst zu schaffende Zukunft belehrt den handelnden Menschen. Aus der Historie, 248
»isti sex dies fuerunt vere sex dies naturales«. WA 42. 52,25 (Genesis. 1535ff). Vgl. WA 42. 68,26-30 (Genesis. 1535ff): »Originem offendit distantia fluviorum, cogitat enim spacium horti, qualia fere apud nos sunt. Ideo vertitur ad Allegoriam. Paradisum fingit coelum, arbores Angelos, flumina sapientiam. Sed istae nugae Theologo indignae sunt; Poetam lascivientem fortasse non dedecerent ista. Non vidit Origines Mosen historiam scribere atque eam de rebus iam olim praeteritis.« WA 42. 176,25f (Genesis. 1535ff): »Mosen non voluisse Allegorias proponere sed simpliciter primi mundi historiam scribere.« 250 Vgl. KOSELLECK, Leitbgriff, 7 1 2 : »Die Geschichte, die sich früher >ereignete< und in gewisser Weise mit den Menschen geschah, konnte erst als Handlungsfeld, als machbar und produzierbar erachtet werden, nachdem sie im deutschen Idealismus als Prozeß menschlicher Selbstverwirklichung entworfen worden war.« 249
80
Wirkgegenwart Gottes
der niedergeschriebenen vergangenen Geschichte, als »anzeigung, gedechtnis und merckmal Göttlicher werck und urteil«,251 Handlungsanweisungen fur ein gegenwärtig gebotenes Verhalten zu gewinnen, ist aufgrund der Akzeleration sich ablösender Räume kontinuierlicher Erfahrung ausgeschlossen.252 Die Geschichte rückt »zu einem regulativen Prinzip aller Erfahrung und möglicher Erwartung auf«253 und übernimmt die Funktion, die traditionell der metaphysische Gottesbegriff als einender Einheit der Wirklichkeit im Ganzen innehatte. 254 Gegenwärtige Interpretationen haben bei der Beurteilung von Luthers Geschichtsdeutung demnach Folgendes zu beachten: 1. Im Unterschied zum neuzeitlichen Nachdenken stellt das geschichtliche Geschehen als Geschichte für Luther kein theologisches Problem dar. Es fehlt ihm sowohl die spezifisch neuzeitliche Erfahrung von beschleunigt sich ablösenden und nebeneinander tretenden Kontinuen geschichtlicher Erfahrung und Erwartung wie auch die diesem Sachverhalt entsprechende Reflexion auf die Geschichte als immanentem Bewegungs- und Wirklichkeitszusammenhang. Innerhalb des sich durch die Zeiten gleich bleibenden Raumes menschlicher Erfahrungen und Möglichkeiten bedarf der nach Selbstunterbringung in der Wirklichkeit im Ganzen fragende Mensch nicht der theoretischen Rekonstruktion und praktischen Anwendung der geschichtlichen Bewegungsgesetze. Vielmehr kann er sich weisheitlich durch die zu Geschichten und Lehren geronnene Lebenserfahrung der Alten orientieren lassen. Weil sich Luther nicht im Horizont des spezifisch neuzeitlichen Problembewusstseins dem Weltgeschehen zuwendet, ist bei ihm keine Theorie der Geschichte gemäß ihres neuzeitlichen Reflexionsund Wirklichkeitsbegriffs zu erwarten. Ihm wird das Zeitgeschehen als erzählbare Geschichte unmittelbar zum Problem auf dem Hintergrund der Erkenntnis der sich geschichtlich gleich bleibenden Bedingungen der conditio humana, wie sie sich ihm durch das Studium der Heiligen Schrift sowie der nichtbiblischen und außerchristlichen Uberlieferung erschließen. Der unmittelbare Bezug auf das geschichtliche Geschehen ohne dezidierte Nachfrage nach seinen innergeschichtlichen Bedingungszusammenhängen vollzieht sich, wie im Einzelnen noch zu zeigen ist, gleichwohl nicht theorielos. Luthers Theorie des geschichtlichen Seins erscheint in der Gestalt eines theonomen Wirklichkeitsverständnisses, das das Weltgeschehen als Ereignung der verborgenen und im Wort richtend-rettend hervor-
251
W A 50. 384,3f (Vorrede zur Historia Galeatii Capaellae. 1538).
252
Vgl. KOSELLECK,
253
KOSELLECK,
Historia.
Herausbildung, 6 7 8 . 254 Vgl. KOSELLECK, Herausbildung, 6 5 1 : »Hinter dieser neuen Begrifflichkeit, die die Geschichte als Agens auf sich selbst zurückverweist,« ist wirkungsgeschichtlich »die versteckte oder verwandelte Vorsehung Gottes zu erblicken.« - »Die Geschichte rückt auf zu einer letzten Instanz. Sie wird zum Agens menschlichen Schicksals oder gesellschaftlichen Fortschritts.« (KOSELLECK, Herausbildung, 6 4 9 ) . Vgl. auch KOSELLECK, Herausbildung, 666f, sowie KOSELLECK, Leitbegriff, 7 1 1 .
Zur Differenz v o n Erfahrung und Verständnis der Geschichte
81
tretenden Wirk-Gegenwart Gottes begreift. Jedes Ereignis stellt die Konstellation eines bestimmten Zusammenseins von Gott, Mensch und Welt dar und hat innerhalb der Weltlenkung Gottes seine ihm zugewiesene Stelle.255 Gott treibt einerseits als allmächtiger Schöpfer seine durch die Sünde alt gewordene Schöpfung unter dem Zorn voran und erhält sie trotz seines Zornes in schöpferischer Güte, andererseits reißt er seine durch die Sünde alt gewordene Kreatur in Christus hinein und erneuert sie worthaft-kommunikativ in der Kondeszendenz des Heiligen Geistes. Dieser Gott stellt sich in dem Weltgeschehen dar, auf das sich Luther als Exempel göttlichen Zorns und göttlicher Gnade beruft. Die zwischen Gegenwart und Reformation bestehende Differenz in der Wahrnehmung der Geschichte besteht nur vordergründig zwischen einem theologisch-gläubigen und einem säkularen Begreifen der Geschichte. Zum einen besteht die fundamentale Differenz schon auf vortheologischer Ebene:256 Vorneuzeitlich wird das Weltgeschehen als Vielzahl und Inbegriff von potenziell wiederholbaren Geschichten und Ereignissen innerhalb eines sich prinzipiell gleich bleibenden Zeit-Raum-Kontinuums verstanden, neuzeitlich dagegen als der in stetem Wandel begriffene und Wiederholungen nicht zulassende Gesamtprozess der einen Geschichte. Zum anderen stehen beide Grundannahmen über das Weltgeschehen sowohl einer theologischen wie einer nichttheologischen Interpretation offen: Luther teilt mit der antiken Rhetorik die Überzeugung, dass sich Geschichte in einem grundsätzlich gleichbleibenden Erfahrungsraum ereignet und deshalb auch zum exemplarischen Umgang mit Geschichtstatsachen einlädt. Hegel und mit ihm weithin die Moderne verstehen dagegen die Geschichte als dialektischen Fortschritt und unterlegen der Geschichte eine unumkehrbare Entwicklung, deren Subjekt die Menschheit ist. Hegels Geschichtstheorie ist aber zugleich Theorie des göttlichen Weltgeistes. Er teilt mit Luther, weithin gegen die Moderne, die Uberzeugung, dass sich Gott selbst in die Geschichte investiert, denkt freilich die Wirklichkeit im Ganzen als Vollzugsgestalt des einen und einheitlichen, sich als (gottmenschliches) Selbstbewusstsein explizierenden und mitteilenden Geistes Gottes. Dieses Bewegungsprinzip der Weltgeschichte ist dem vernünftigen Vernehmen durchsichtig und explikabel. Für Luther dagegen ist die Wirklichkeit nur als spannungsvolles Mit- und Gegeneinander zu unterscheidender Modi verborgener und offenbarer Wirkgegenwart Gottes beschreibbar. Die Gerechtigkeit Gottes im Weltlauf, mit Hegels Worten: die Vernunft der Geschichte, ist weder durch das gemeinmenschliche Licht der Vernunft noch das geschenkte Licht des Glaubens begreifbar. Sie wird erst in der eschatologischen Offenbarung der Identität des ver2 5 5 Vgl. z.B. C1 3 . 1 0 8 , 3 0 - 3 3 / W A 18. 6 1 5 , 3 1 - 3 3 (DSA. 1525), Text s. folgende Seite Anm. 2 5 8 . Zum Verständnis vgl. die Ausführungen in der vorliegenden Untersuchung, 103ff, 163 ff. 256
Z u m inhaltlichen Verständnis vgl. die vorliegende Untersuchung, 84ff.
82
Wirkgegenwart Gottes
borgenen Gottes, der unergründlich das Weltgeschehen vorantreibt, mit dem in Christus rettend offenbaren Gott zur Gewissheit.257 Er bestimmt das Weltgeschehen als notwendigen Vollzug planend-schaffender Willensmächtigkeit Gottes: »alles was wir tun, alles was geschieht, auch wenn es uns wandelbar und zufällig zu geschehen scheint, geschieht in Wahrheit doch mit Notwendigkeit und unwandelbar, wenn du den Willen Gottes in Betracht ziehst. Der Wille Gottes ist wirkmächtig. Er kann nicht gehindert werden, denn er ist ja gerade die wesenhafte Macht Gottes. Sodann ist er weise, so dass er nicht getäuscht werden kann. Wenn aber sein Wille nicht gehindert werden kann, kann das Werk selbst auch nicht gehindert werden, so dass es geschieht, an dem Ort, zu der Zeit, in der Weise und in dem Maße, wie er selbst es vorgesehen hat und will.«258 Hegel begreift die Weltimmanenz Gottes monistisch und versteht die Besonderheit des Seins in Christus als das Allgemeine, wenn er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Weltgeschichte als »Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit« bzw. »als die Entwickelung des Begriffes der Freiheit« darzulegen sucht. 259 Denn Gott bzw. »die Natur seines Willens, d.h. seine Natur überhaupt«, ist, sofern man »die religiöse Vorstellung in Gedanken« fasst, »die Idee der Freiheit«, die sich in der Weltgeschichte »zum Bewußtseyn [...] und damit zur Wirklichkeit« bringt.260 Das Interesse der Philosophie ist nun, »den Entwicklungsgang der sich verwirklichenden Idee zu erkennen«.261 Der vermeintliche »Endzweck der Welt, das Bewußtseyn des Geistes von seiner Freiheit, und eben damit die Wirklichkeit seiner Freiheit«262 im Rechtsstaat,263 der die Allgemeinheit der Freiheit als konkret-vermittelte Freiheit realisiert, sowie im einzelnen Subjekt, das die Vernünftigkeit dieser »objektiven Freiheit« einsieht und als »subjektive Freiheit«, als vermittelte Selbstbestimmung vollzieht, 264 rechtfertigt für den Einsichtigen die Negativität des Faktischen; denn »dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeiten gebracht worden.«265 Das Einzelmoment ist immer schon aufgehoben in den endzwecklichen Selbstvoll257
Vgl. C1 3. 289,3-291,19/WA 18. 784,1-785,38 (DSA.1525). »omnia quae facimus, omnia quae fiunt, etsi nobis uidentur mutabiliter et contingenter fieri, reuera tamen fiunt necessario et immutabiliter, si Dei uoluntatem spectes. Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei, Deinde sapiens, ut falli n o n possit. Non autem impedita uoluntate, opus ipsum impediri non potest, quin fiat, loco, tempore, modo, mensura, quibus ipse et praeuidet et uult.« (CI 3. 108,30-37/WA 18. 615,31-616,2; DSA. 1525). 258
259 260 261 262
263 264 265
Philosophie der Geschichte, 4 6 , 5 6 8 . Philosophie der Geschichte, 4 7 . H E G E L , Philosophie der Geschichte, 5 6 9 . H E G E L , Philosophie der Geschichte, 46f. Vgl. H E G E L , Philosophie der Geschichte, 7Iff. Vgl. H E G E L , Philosophie der Geschichte, 568f. H E G E L , Philosophie der Geschichte, 4 7 . HEGEL,
HEGEL,
Zur Differenz von Erfahrung und Verständnis der Geschichte
83
zug der Idee der Freiheit,266 weshalb »ein welthistorisches Individuum«, das »ganz rücksichtslos dem Einen Zwecke an [gehört]«, auch apriori gerechtfertigt erscheint, wenn es »manche unschuldige Blume zertreten, Manches zertrümmern« muss auf seinem Wege. 267 Der Mensch, der den objektiven Prozess der Freiheit als Wahrheit seiner selbst ergriffen hat, sieht ein, »daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.«268 Denn ihre Vernünftigkeit besteht eben darin, der Entwicklungsgang der sich verwirklichenden Idee der Freiheit zu sein, welche Wahrheit als Notwendigkeit und Substanz des eigenen Wesens zu ergreifen Inbegriff der subjektiven Freiheit ist.269 Die Geschichtsphilosophie, die sich somit als Selbstexplikation der in der Weltgeschichte zur Selbsterkenntnis fortschreitenden Idee der Freiheit versteht, erkennt in und mit ihrer Einsicht in die Weltgeschichte als Entwicklungsgang der Idee der Freiheit »die wahrhaftige Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte.« 270 Die Theodizee ist vollzogen, die Vorsehung in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit erkannt und nachvollzogen 271 in der Einsicht des Geistes, mit der er sich selbst als ein in der Weltgeschichte seiner selbst bewusst werdender und realisierender Geist der Freiheit erkennt. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Weltgeschichte, im Gegensatz zu Luthers Überzeugung, der jetzt schon begriffene Selbstvollzug Gottes ist: »Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.«272 Die hermeneutische Differenz zwischen reformatorischem und neuzeitlichem Geschichtsverständnis besteht gleichwohl unabhängig von der theologischen Interpretation zwischen einem Verständnis von Geschichte als sich kontinuierlich gleich bleibendem Ereignisraum von Geschichten und einem Verständnis von Geschichte als einlinigfortschreitendem und unumkehrbarem Prozess der Entwicklung in der Zeit. Die Konnotation einer unausweichlich fordernden, aber gleichzeitig selbst zu gestaltenden Wirklichkeit273 ruft der 266
Vgl.
267
HEGEL,
Philosophie der Geschichte, 47. Philosophie der Geschichte, 6 3 . H E G E L , Philosophie der Geschichte, 3 4 . 269 Vgl. HEGEL, Philosophie der Geschichte, 71. H E G E L , Philosophie der Geschichte, 5 6 9 . 271 Vgl. HEGEL, Phibsophie der Geschichte, 42f. H E G E L , Philosophie der Geschichte, 569, Schlusssatz des Werkes. HEGEL,
268
270
272
Auf die Ambivalenz des neuzeitlichen Geschichtsbegriffes macht KOSELLECK, Einleitung, 594, aufmerksam: Geschichte ist sowohl objektiver »Bewegungsbegriff [...] als Prozeß, als Fortschritt, als Entwicklung oder als Notwendigkeit« wie subjektiver »Aktionsbegriff [...] als Handlungsfeld und Tat, als Freiheit. Geschichte wird planbar, produzierbar, machbar. [...] Beide Varianten, die objektive wie die subjektive Seite, die sich logisch einander ausschließen, verleihen dem Begriff eine Zweideutigkeit, die ihm seitdem innewohnt. Seine Verwendung als Schlagwort, seine Anfälligkeit für Ideologie und Ideologiekritik sind daraus ableitbar.« 273
84
Wirkgegenwart Gottes
Begriff Geschichte auch dann auf, wenn er nicht als säkulares Äquivalent fur die göttliche Vorsehung oder den Prozess der Selbstexplikation des Geistes der Freiheit im Sinne Hegels verstanden wird. Auch ohne Rekurs auf eine theologische oder quasireligiöse Begründung vermag er als integraler Begriff die den Menschen bestimmende und fordernde Wirklichkeit im Ganzen aufzurufen. Jedoch gibt es auch eine vortheologische Gemeinsamkeit beider Geschichtsverständnisse: 2. Offensichtlich teilt der neuzeitliche Begriff Geschichte mit der vorneuzeitlich als Exempel erzählten Geschichte das Vermögen, ohne zusätzliche Reflexionen weltanschaulicher Art oder wissenschaftliche Verifikationen eine allgemeine Erfahrung und Vorstellung von Wirklichkeit aufzurufen. Damit verbunden ist zugleich die Möglichkeit, unbewusst einer ideologiehaltigen Vorstellung von Welt aufzusitzen. Allerdings ist der Status von Allgemeinheit formal und material hier und dort je ein anderer. Der vorneuzeitliche Gebrauch geschichtlicher Beispiele hebt auf das einzelne Ereignis ab und knüpft unmittelbar an die naturwüchsige Erfahrung einer in ihren fundamentalen Möglichkeiten sich gleichbleibenden Welt an. Der neuzeitliche Begriff von Geschichte hingegen ist apriori reflexiv-weltbildhaft. In seinem Gebrauch ist auch dann die Vorstellung eines die raumzeitliche Erstreckung der Welt umgreifenden Prozesses mitgesetzt, wenn ausschließlich ein besonderes erzählbares Geschehen thematisch wird. Dieser Prozess wird aber nicht als naturwüchsig verstanden, sondern als Realisierungsgestalt menschlicher Entscheidungen und Handlungen. Die historische Untersuchung der Bedingungen etwa eines Krieges oder die psychoanalytische Ergründung der Vorgeschichte eines Patienten zwecks Erhellung erworbener und unbewusst wirkender Determinanten in einem sich gegenwärtig krankhaft auswirkenden Verhalten setzen ebenso wie der planende Vorgriff in die Zukunft voraus, dass es in der Weltgeschichte vernünftig zugehe oder zugehen könne; denn die Rekonstruktion eines vergangenen Ereigniszusammenhanges kann nur dann gelingen, wenn zu Recht unterstellt werden darf, dass die ihn hervorbringenden Kräfte zumindest potenziell nach analogen Gesetzmäßigkeiten wie die ihn nachträglich erklärende Vernunft gewirkt haben. Die Leistung der neuzeitlichen historischen Forschung für die Selbsterkenntnis und Weltorientierung der Gegenwart ist unbestreitbar. Assoziationen weltbildhafter Qualität mögen in der alltäglichen Verwendung des Begriffs Geschichte nur verschwommen und unreflektiert präsent sein. Gleichwohl signalisiert die Selbstverständlichkeit seines Gebrauchs, dass er allgemein auf Erfahrung und Vorstellung des Weltgeschehens als der durch humane Theorie und Praxis vermittelten umgreifenden Wirklichkeit anzusprechen vermag. In ihrer reflexiv vermittelten Eigenart ist die Erfahrung des Weltgeschehens als Geschichte neuzeitlich gewissermaßen zur zweiten unhintergehbaren Natur geworden. Ihr Begriff indiziert die transzendentale Wende im Bereich der Auslegung der menschlichen Verhaltungen, die Kant für die Naturwissenschaft so formulierte: Die Wissenschaftler »be-
Zur Differenz von Erfahrung und Verständnis der Geschichte
85
griffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse«.274 Wie an die Stelle des Naturerlebens und -beschreibens die wissenschaftliche Empirie und an die Stelle der Kultivierung der Natur ihre technische Unterwerfung tritt, so an die Stelle unmittelbarer H i n n a h m e und ihr folgender Bewältigung sich ereignenden Weltgeschehens seine theoretisch-konstruktive Durchdringung als Geschichte wie seine auf vorgreifende Sicherstellung des menschlichen Daseins abhebende Planung. Eine Revision des Prozesses scheint weder denkbar noch wünschenswert in Ansehung des mit ihm auf weite Strecken identischen Verlaufes der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte und der mit ihr gegebenen Erwartung vernünftiger Regulierbarkeit und Gestaltung des menschlichen Lebens. Zugleich hat jedoch die neuzeitliche Freiheitsgeschichte in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, den gewaltsamen Realisierungsversuchen der marxistischen Geschichtsphilosophie und der fortschreitenden Zerstörung der naturhaften Lebensbasis ihre schreckende Kehrseite gezeigt. Geschichtsphilosophischen Entwürfen wird aufgrund solcher lebensgeschichtlichen Widerfahrnisse weithin Skepsis entgegengebracht. Der transzendentalen Orientierungsfunktion des Begriffs Geschichte muss damit nicht grundsätzlich abgeschworen werden. Die in jenen Entwürfen systematisch reflektierten Kategorien der progressiven geschichtlichen Veränderung, der Einmaligkeit dieser Bewegung und des menschheitlichen Fortschritts im geschichtlichen Verstehen und Handeln bleiben auch o h n e explizite Rechenschaft über deren geschichtsphilosophische Herkunft: unbewusst vorstellungsleitend. Aus diesem Grunde kann der Verzicht auf geschichtstheoretische Reflexion nicht an sich schon als Kriterium für ein weltanschaulich neutrales Verständnis von Gegenstand und Begriff der Geschichte gewertet werden. Die Flucht in eine vortheoretische Unmittelbarkeit des Umgangs mit der Geschichte scheitert nicht zuletzt an der Macht jener Vorstellungen, die auch ohne reflexe Rechenschaftsablage lebensweltlich wirksam bleiben und sich in ihrer weltbildhaften Theoriehaltigkeit unerkannt der Distanz n e h m e n d e n Kritik entziehen. In Ansehung dieser Tatsache ist es problematisch, wenn die angeblich theorielose Geschichtsbetrachtung Luthers immer wieder als Vorbild für ein praktisch-unmittelbares Eingehen auf das Weltgeschehen herangezogen wird. Die Projektion nicht erfüllbarer Wünsche des modernen Interpreten auf die Texte Luthers verstellt nur den Blick für deren Theoriehaltigkeit und benimmt das theologische Denken der Möglichkeit, einen konstruktiv-kritischen Umgang mit dem ihm selbst vorausgesetzten Wirklichkeitsverständnis zu pflegen. Die Literatur bietet vielfach nichts als traktatenhafte Nacherzählungen praktischer Geschichtsauslegung Luthers. Sie 274
KANT,
K.d.r.V., 2 3 .
86
Wirkgegenwart Gottes
fuhrt damit, in der Regel ohne methodische Rechenschaft, den von Luther praktizierten exemplarischen Umgang mit der Geschichte vor, offensichtlich von der Annahme geleitet, durch die unmittelbare Vergegenwärtigung von Luthers Einsichten ins Weltgeschehen den Menschen des 20. Jahrhunderts mit seiner problematischen Stellung vor Gott konfrontieren zu können. 275 So anschaulich und informativ dieses Vorgehen ist, verstellt es doch die Einsicht in Luthers eigentlich so zu nennendes Geschichtsverständnis. Zweifellos kann eine sich aus anderen Quellen speisende Geschichtstheorie die Möglichkeit eines originär theologischen Verständnisses des Weltgeschehens verstellen. Insofern erscheint es theologisch natürlich nur wünschenswert, dass Luther keine Theorie der Geschichte übernommen oder selbst entwickelt habe. Nur verdeckt diese opinio communis, dass eine Theorie der Geschichte nicht zwangsläufig die Gestalt einer subjektzentrischen Konstruktion der Wirklichkeit haben muss. Wie zu zeigen ist, lassen sich Luthers Überlegungen zum Weltgeschehen als Elemente einer theonomen Theorie der Wirklichkeit verstehen, die als weisheitliche und theologisch-kritische Erschließung des Daseins zur soteriologisch entlasteten Wahrnehmung und Mitverantwortung der Geschichte anleiten. Geprägt von idealistischer Geschichtstheorie und irritiert von den christologischen Einwendungen Barthscher Theologie gegenüber einer »Natürlichen Theologie« begibt man sich mit dem Verzicht auf die ontologische Fragestellung an Luther von vornherein der Möglichkeit eines kommunikablen Gewinns aus dessen Geschichtsverständnis. Damit wird zugleich die Chance vertan, sich mit den weltbildhaften Implikationen des eigenen Geschichtsbegriffs auseinander zu setzen. Die exemplarische Wiederholung Lutherscher Geschichtsauslegung dürfte jedenfalls kaum geeignet sein, an den Plausibilitäten des soteriologisch als Prozess des Fortschritts aufgeladenen neuzeitlichen Geschichtsverständnisses zu rütteln. Das Fragen nach dem sich in Luthers Geschichtsinterpretation präsentierenden Wirklichkeitsverständnis geschieht daher in der Erwartung, einen theologisch vermittlungsfahigen Begriff von der Ereignungsstruktur des Weltgeschehens finden oder ausarbeiten zu können, der die Modi vorneuzeitlicher und neuzeitlicher Erfahrung von Geschichte gleichermaßen als Möglichkeit in sich zu begreifen wie auf Glauben hin zu erschließen vermag.
275
Auf folgende, besonders charakteristische Beispiele sei hingewiesen: BEYER; B O R N Gott; BORNKAMM, Luther, PETER BRUNNER; D O E R N E , Gott, DÖRRIES; H E R M A N N , Frage-, SCHMIDT, Geschichte-, ZAHRNT, Luther. KAMM,
Teil II: Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
4 Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes 4.1 Terminologische Überlegungen zum Begriff Wirklichkeit bei Luther In Luthers Schriften taucht der Begriff Wirklichkeit ebenso wenig auf wie dessen klassischen Äquivalente actualitas/energeia und realitas. Allerdings verwendet Luther das Adjektiv actualis, das Verb agere und das Subjektiv actio in streng definitorischem Sinn zur Bezeichnung der unablässig wirkenden und der Kreatur Notwendigkeit auflegenden, schöpferischen Allmacht Gottes: »Die Allmacht Gottes aber nenne ich nicht jene Macht, mit der er vieles nicht tut, was er kann, sondern jene wirkende (actualem illam) Macht, mit der er machtvoll alles in allen wirkt, wie auch die Schrift ihn den Allmächtigen nennt. [...] Alle Menschen nämlich finden diesen Satz in ihren Herzen geschrieben, erkennen ihn an und bestätigen ihn, freilich unfreiwillig, wenn sie ihn behandelt hören. Erstens: Gott ist allmächtig nicht allein durch seine Macht, sondern auch durch seine Wirksamkeit (actio), wie ich gesagt habe, andernfalls wäre er ein lächerlicher Gott. Zweitens: er kennt alles und weiß alles vorher, und weder kann er irren noch getäuscht werden. Wenn dieses beides von aller Herz und Verstand zugegeben wird, müssen sie sogleich mit unausweichlicher Konsequenz zugestehen, dass wir nicht nach unserem Willen werden, sondern dass uns Notwendigkeit auferliegt. Also tun wir nicht irgendetwas kraft des Rechtes eines freien Willens, sondern wie Gott es vorhergesehen hat und ausfuhrt (agit) nach seinem Rat und mit unfehlbarer und unwandelbarer Kraft.«1 1
»Omnipotentiam uero Dei uoco, non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura uocat eum omnipotentem. [...] Omnes enim homines inueniunt hanc sententiam in cordibus suis scriptam, et agnoscunt eam ac probant (licet inuiti), cum audiunt eam tractari. Primo Deum esse omnipotentem non solum potentia, sed etiam actione (ut dixi), alioqui ridiculus foret Deus. Deinde ipsum omnia nosse et praescire, neque errare neque falli posse. Istis duobus omnium corde et sensu concessis, coguntur mox ineuitabili consequentia admittere, Nos non fieri nostra uoluntate, sed necessitate, Ita nos non facere
88
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Im Gefalle des Lutherschen Denkens ist unter Wirklichkeit also zum einen die ins Dasein setzende und dem Geschaffenen Notwendigkeit auflegende, im Werden haltende und vorantreibende Wirkgegenwart des allmächtigen Gottes zu verstehen. Gott ist bestimmend wirkende Allmacht. Gleichzeitig ist aber die Wirkgegenwart Gottes in seiner Kreatur von dieser zu unterscheiden als der res, die er ins Dasein ruft und im Werden hält. Wirklichkeit ist zum anderen folglich auch die gewirkte realitas, die sich dem unverstellten Blick als wirklich Gegebenes zu erkennen gibt. So »nennt der Theologe der Herrlichkeit das Böse gut und das Gute böse. Der Theologe des Kreuzes sagt das, was die Sache ist«,2 wie es sich wirklich verhält: dass nämlich der wahre Gott verborgen im Leiden gefunden wird. Erasmus gilt trotz des unüberbrückbaren Gegensatzes in der Beurteilung der menschlichen Willensfreiheit, der Heilsgewissheit und der Geschichtsquodlibet pro iure lib. arb., sed prout Deus praesciuit et agit consilio et uirtute infallibili et immutabili.« C1 3. 214,11-14; 215,1-11/WA 18. 718,28-31; 719,22-30 (DSA. 1525). Vgl. DSA. 1525: C1 3. 103, 37/WA 18. 610,2f: »ab agente gratia«; C1 3. 107,10f/WA 18. 614,22-24: »Deimisericordiam solam omnia agere et uoluntatem nostram nihil agere, sed potius pati«; C1 3. 166,20/WA 18. 675,33f: »non continuo magis ac magis actum et auctum spiritu Dei«; C1 3. 177,34f/WA 18. 685,19f: »Hoc enim agit Deus praedicatus, ut ablato peccato et morte, salui simus«; C1 3. 193,8-11/WA 18. 699,11-13: »Christiani uero non lib. arb., sed spiritu Dei aguntur, Roma. 8. Agi uero non est agere, sed rapi, quemadmodum serra aut securis a fabro agitur«; C1 3. 204,11-14/WA 18. 709,19-22: »subiectum omnipotentiae et actioni diuinae [...]. Quando ergo Deus omnia in omnibus mouet et agit, necessario mouet etiam et agit in Satana et impio. Agit autem in illis taliter, quales illi sunt«; C1 3. 205,39f/WA 18. 711,1: »inquietus [...] actor Deus in omnibus creaturis suis, nullamque sinat feriari«; C1 3. 206,31f/WA 18. 711,28: »omnipotens actor«; C1 3. 207,30f/WA 18. 712,23: »actio Dei«; C1 3. 210,6/WA 18. 714,28; C1 3. 246,7/WA 18. 747,33f: »actionem omnipotentis Dei«; C1 3. 253,2/WA 18. 753,33f: »ubi spiritu gratiae agit in illis, quos iustifxcauit«. In das semantische Feld von agere als mit notwendiger Wirkung im Dasein bringen und im Dasein halten gehört auch der Stamm voluntas, velle, vgl. C1 3. 108,30-37/WA 18. 615,31-616,2: »omnia quae facimus, omnia quae fiunt, etsi nobis uidentur mutabiliter et contingenter fieri, reuera tamen fiunt necessario et immutabiliter, si Dei uoluntas spectes. Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei, deinde sapiens, ut falli non possit. Non autem impedita uoluntate, opus ipsum impediri non potest, quin fiat, loco, tempore, modo, mensura, quibus ipse et praeuidet et uult.« (Hervorhebg. v. Verf.) sowie opus (Dei) und operari, vgl. CI 3. 124,6-9/WA 18. 632,36-633,1: »Qui uero nihil dubitat, totum in uoluntate Deipendere, is prorsus de se desperat, nihil eligit, sed expectat operantem Deum, is proximus est gratiae, ut saluus fiat.« (Hervorhebg. v. Verf.). Dem entspricht auf selten des Menschen das Wortfeld fieri, pati, passio,passive: C1 3. 191,15f/WA 18. 697,27f: »Hic [sc. im Widerfahrnis von Erneuerung und Wandlung des alten zum neuen Menschen] h o m o mere passiue [...] sese habet, nec facit quippiam, sed fit totus. De fieri enim loquitur Iohannes, fieri filios Dei dicit«; (vgl. oben C1 3. 107,10ff/WA 18. 614,22ff; C1 3. 103, 35ff/WA 18. 610,Iff) und rapi: C1 3. 127, 16f/WA 18. 636,16f: »At si uim lib. arb. earn diceremus, qua h o m o aptus est rapi spiritu et imbui gratia Dei.« (Hervorhebg. v. Verf.). 2 Vgl. StA 1. 208,20f/WA 1. 362,21f(Disp. Heidelbergae habita. 1518): »Th. 21. Theologus gloriae dicit, Malum bonum, et bonum malum, Theologus crucis dicit, idquodres est.« (Hervorhebg. v. Verf.).
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
89
erfahrung das Lob, »dass du als einziger vor allen die Sache selbst angegangen bist, das heißt, den wesentlichen Streitpunkt, und hast mich nicht mit jenen abwegigen Auseinandersetzungen über das Papsttum, Fegefeuer, Ablässe, und anderes ähnlich dummes Zeug mehr als Streitgegenständen ermüdet [...]. Einzig du und allein du hast den entscheidenden Punkt der Sache erkannt«. 3 Im Sinne dieses Wirklichkeitsbegriffes hat ein bloß in der menschlichen Sprache Gegebenes keine >Realitätes werde Lichts Gottes und nicht Moses Worte sind, und das heißt, dass sie Tatsachen [res] sind. Gott ruft nämlich dem, was nicht ist, dass es sei, und er spricht keine grammatischen, [d.h. die geschaffenen Dinge benennenden und so nachträglich sprachlich präsentierenden] Wörter, sondern er spricht wahrhaftige und gegebene Dinge [veras et subsistentes res] aus, so dass das, was bei uns als das ausgesprochene Wort erklingt, bei Gott die Sache selbst [res] ist. So sind Sonne, Mond, Himmel, Erde, Petrus, Paulus, Ich, Du usw., so sind wir Worte Gottes. Ja, vielmehr sind wir Silben oder Buchstaben im Vergleich zur ganzen Schöpfung.« 5 Beide Dimensionen der Wirklichkeit, als Wirkung und als Gewirktes, stehen in Luthers Denken aufs engste beieinander und gehören zusammen. Das deutsche Wort Werk in Luthers Gebrauch zeigt diese Verflochtenheit beider Bedeutungsebenen und entspricht aufs genaueste Luthers Verständ3 C1 3. 292,11-16/WA 18. 786,26-30 (DSA. 1525): »in te uehementer laudo et praedico, quod solus prae omnibus rem ipsam es agressus, hoc est, summam caussae, nec me fatigaris alienis illis caussis de Papatu, purgatorio, indulgentiis, ac similibus nugis potius quam caussis [...]. Vnus tu et solus cardinem rerum uidisti.« (Hervorhebg. v. Verf.). 4 Vgl. C1 3. 128,14-17/WA 18. 637,17-20 (DSA. 1525): »Cum ergo significationem et rem uocabuli tarn gloriosi [sc. üb. arb.] amiserimus, imo nunquam habuerimus [...], quid inane uocabulum tarn pertinaciter retinemus, in periculum et illusionem fidelis populi?« 5 WA 42. 17,15-23 (Genesis. 1535ff): »Monendum hie etiam illud est: Ilia verba >Fiat lux< Dei, non Mosi verba esse, hoc est, esse res. Deus enim vocat ea, quae non sunt, ut sint, et loquitur non grammatica vocabula, sed veras et subsistentes res, Ut quod aputfi. e. apud] nos vox sonat, id apud Deum res est. Sic Sol, Luna, Coelum, terra, Petrus, Paulus, Ego, tu etc. sumus vocabula Dei, Imo una syllaba vel litera comparatione totius creaturae. Nos etiam loquimur, sed tantum grammatice, hoc est, iam creatis rebus tribuimus appellationes. [...] Sic verba Dei res sunt, non nuda vocabula.« Vgl. WA 42. 35,37ff (Genesis. 1535ff); WA 43. 247,18ff (Genesis. 1535ff). Auch allegorische Sprache kann die Sache beim Namen nennen, vgl. WA 5. 63,28f (Operationes in Psalmos. 1519-21): »Vides autem et hunc versum esse totum allegoricum, non sine causa, siquidem significat quandam allegoriam, quae geritur re ipsa et vita.«
90
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
nis der Schöpfung als im Dasein gehaltenes und von Gottes Wirken voran getriebenes Werk. In einer Auslegung zu Psalm 104,4, »er macht seine Engel zu W i n d e n und seine Diener zu Feuerflammen«, kommentiert Luther: »Hie ist nu auch eine einickeit/der zwey vnterschiedlichen wesen/nemlich des engels und der flammen/Ich weis nicht wie sie zu nennen ist/Es ist nicht eine natürliche einickeit/wie ynn der Gottheit/Vater vnd son eine natur sind/Auch nicht eine personliche einickeit/wie Gott vnd mensch eine person ist ynn Christo/Las sie gleich heissen/ Wirckliche einickeit/darumb das der Engel und seine gestalt eynerley werck ausrichten.« 6 Wirken und Werk gehören zusammen, Gott als der Wirkende und sein Werk gehören zusammen. Freilich ist die Res-Haltigkeit des Daseins nicht unumstritten. Manches drängt sich dem Menschen auch mit dem Anspruch der Wirklichkeit auf und ficht ihn an, fuhrt ihn in die Irre. So siegt die Einsicht in die bleibende sündige Verfassung des Menschen allein in der Wirkgegenwart des Heiligen Geistes und bleibt im Widerstreit mit der eigenen Vernunft wie auch mit dem Urteil von Türken, Juden und Papisten. Obwohl der Mensch vom Geist ergriffen, die Sünde schon besiegt ist,7 leistet er dem Urteil Gottes Widerstand, dass er ein Sünder sei. So gilt in der Perspektive der Selbsterfahrung: »in der Wirklichkeit [re] wird das Gegenteil erfahren und es scheint, dass Gott mit unserem Geist zusammen besiegt wird, das Fleisch aber und die Welt den Sieg behalten.« 8 Die gewirkte Wirklichkeit ist hinsichtlich ihrer Wahrnehmbarkeit zumindest als ambivalent zu beurteilen, dem Sünder, auch dem gerechtfertigten, erscheint als verlässliche bzw. anfechtende Realität, was vor Gott kein Sein und keinen Bestand hat. Gänzlich ins Bodenlose lässt den Menschen die Frage nach der Gerechtigkeit des Gottes fallen, der die einen unverdient in Gnaden annimmt und andere verdammt, die vielleicht sogar weniger oder zumindest nicht mehr gesündigt haben als die Erwählten. Das Dasein als Ganzes und mit ihm Gott selbst können angesichts der Wirksamkeit eines unerforschlichen göttlichen Willens fraglich werden. Die sich darstellende Wirklichkeit ent-
6
C13.458,39-459,4/WA 26.441,23-28 (Vom Abendmahl Christi. 1528; Hervorhebg. v. Verf.). Vgl. C1 3. 459,16-24/WA 26. 441,40-442,7 (Vom Abendmahl Christi. 1528). 7 Vgl. StA 2. 473,27-474,2/WA 8. 91,24-40 (Latomus. 1521): »Ita peccatum per baptismum in nobis captum, iudicatum, prorsusque infirmatum, vt nihil possit, mandatur penitus abolendum [...]. Ita peccatum in nobis post baptismum vere peccatum est naturaliter, sed in substantia, nec in quantitate, nec qualitate, nec actione, in passione vero totum. Nam idem prorsus est motus irae et libidinis in pio et impio, idem ante gratiam et post gratiam, sicut eadem caro ante gratiam, et post gratiam, sed in gratia nihil potest, extra gratiam praeualet.« Zu Luthers Verwendung des Substanz-Prädikates vgl. die vorliegende Untersuchung, 148-157. 8 W A 40/11. 375,35ff (Psalm 51. 1533/34): »Sed victoria haec etiam in spiritu intelligenda est; re enim contrarium sentitur et videtur Deus cum spiritu nostro vinci, caro autem et mundus vincere.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
91
lässt keinen Sinn. Luther aber ist überzeugt, dass im »Licht der Herrlichkeit« des künftigen Lebens »die Sache selbst [res ipsa] und die göttliche Majestät durch sich selbst enthüllt werden.« 9 Im Licht der Herrlichkeit wird sich nämlich zeigen, »dass Gott, dessen Urteilsspruch jetzt von einer völlig unbegreiflichen Gerechtigkeit ist, dann erweisen wird, dass er von höchst gerechter und völlig offensichtlicher Gerechtigkeit ist.«10 Die Wirklichkeit ist folglich nicht festgestellt. Sie ist auch nicht nach dem Modell von Kern und Schale durch die kognitiven oder meditativen Leistungen eines Menschen autonom einholbar. 11 Sie wird vielmehr ereignet von Gott.
4.2 Metaphysik in Konsequenz der christologisch begründeten Heilsgewissheit Vor der Darstellung von Luthers Wirklichkeitsverständnis soll der mit Blick auf Luthers Kreuzestheologie mögliche christologische Einspruch gegen ein metaphysisches Nachfragen bedacht werden: »In Christo crucifixo est uera Theologia et cognitio Dei«!12 Wird mit diesem Fragen nicht ein Erkenntnisweg zu beschreiten gesucht, den Luther unter Heranziehung des dictum socraticum Quae supra nos, nihil ad nos zu gehen ausdrücklich abgewiesen hat?13 Es scheint mit Händen zu greifen zu sein, dass die wesentlichen Gesichtspunkte Lutherscher Geschichtsbetrachtung ohne die geschichtliche Ereignung des Heils, dessen alttestamentliche Vorgeschichte in der Verheißung des künftigen Erlösers und die christliche Verkündigung der erfüllten Verheißung gar nicht denkbar wären. Dies gilt vom Motiv des Kampfes zwischen Satan und Christus, zwischen wahrer und falscher Kirche. Die Erfahrung des erneuernden Handelns Gottes unter dem anfechtenden Abbruch des alten Seins, seiner heilvollen Wirkgegenwart sub contraria specie, hätte ohne den Glauben an das Verheißungswort und die Orientierung am angefochtenen Christus keinen Anhalt. Die erneuerte Wahrnehmung und Wertschätzung des geschöpflich-geschichtlichen Daseins wäre ohne die ' Ci 3. 290,39ff/WA 18. 785,22f (DSA. 1525): »quid putas futurum, ubi cessante lumine uerbi et fidei, res ipsa et maiestas diuina per sese reuelabitur?« 10 Cl 3. 291,15-17/WA 18. 785,35-37 (DSA. 1525): »At lumen gloriae aliud dictat, et Deum, cuius modo est iudicium incomprehensibilis iustitiae, tunc ostendet esse iustissimae et manifestissimae iustitiae.« 11
G e g e n BLANKE, 6.
12
StA 1. 208,17/WA 1. 362,18f (Disputatio Heidelbergae habita. 1518). LILJE, 87 und MULLER-BARDORFF, 6, erheben diese Sentenz aus der probatio zu Th. 20 zum hermeneutischen und materialen Prinzip der Geschichtsbetrachtung Luthers. 13 Vgl. Cl 3. 177,15-17/WA 18. 685,5-7 (DSA. 1525): »Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis uult, nihil ad nos. Hie enim uere ualet illud: Quae supra nos, nihil ad nos.«
92
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
Erneuerung der Sinne durch die Gegenwart des Geistes Christi für Luther undenkbar. Die eschatologische Unterscheidung der beiden Regimente Gottes, sein die Schöpfung erhaltendes Wirken durch die Kreaturen zur Linken und sein richtendes wie sein aufrichtendes, im Geist-Wort Glauben an die künftige Gemeinschaft mit Gott in Christus schaffendes Wirken zur Rechten, haben ihren Grund ausschließlich im verkündigten Heil. Und steht überdies nicht auch Luthers Geschichtsreflexion im Ganzen unter demselben hermeneutischen wie theologisch-praktischen Grundsatz, den er dem Einwand des Erasmus entgegenhält, er stelle mit der assertio des unfreien Willens ein nicht nur nutzloses, sondern auch moralisch destruktives, weil volkspädagogisch gefährliches Dogma auf: »Wir lehren nichts außer den gekreuzigten Jesus«? Nur will auch Luthers adversative Fortsetzung bedacht sein, »aber der gekreuzigte Christus bringt dies alles mit sich.«14 Es scheint überflüssig, die Zustimmung zu diesen Einwänden durch weitere Argumente zu begründen. Jedoch steht mit der Frage nach den metaphysischen Implikationen der Geschichtsreflexion Luthers weder die Erkenntnis eröffnende Zentralstellung der christologischen Heilsereignung für Luthers Deutung des Weltgeschehens noch deren theologisch-praktische Abzweckung auf Gewinn von rechter Gottesfurcht des Glaubens zur Debatte. Aus diesem Grunde ist bei Luther grundsätzlich keine metaphysische Konstruktion der Wirklichkeit zu erwarten, die auf dem Fundament und nach dem Plan einer durch den Gegenstand ihres Fragens material noch nicht bestimmten, sich selbst überlassenen Vernunft remoto Christo errichtet wäre. Der Gewissheit gewährende Grund ist als die Heilsereignung Gottes in Christus gegenwärtig und bedarf keiner spekulativen Überbietung. Auf dieser Einsicht fußt immerhin Luthers Polemik gegen die religiös frei schwebenden Theorien der spätmittelalterlichen Theologie über die wesenhaften Möglichkeiten Gottes de potentia absoluta und des Menschen expuris naturalibus in ihrem heilsrelevanten Verhalten zueinander. Auf die Geschichte scheint daher ähnlich wie auf die Schrift zuzutreffen: »Was kann an Erhabenerem in der Schrift verborgen bleiben, nachdem die Siegel gebrochen, der Stein von des Grabes Tür gewälzt und damit jenes höchste Geheimnis preisgegeben ist: Christus, der Sohn Gottes sei Mensch geworden, Gott sei dreifaltig und einer, Christus habe für uns gelitten und werde herrschen in Ewigkeit?« 15 Etwas Erhabeneres oder vielleicht auch Tiefsinnigeres steht nach der Eröffnung des höchsten Mysteriums von Luthers Theorie der Wirklichkeit nicht zu erwarten. Nichtsdestoweniger ist der christliche Glaube nach Luther gerade um der rechten Bestimmung der Situation des Sünders vor 14 »nos nihil nisi Ihesum crucifixum docemus, At Christus crucifixus haec omnia secum affert.« C1 3. 129,24ff7WA 18. 638,24ff (DSA. 1525, Hervorhebg. v. Verf.). 15 » Q u i d enim potest in scripturis augustius latere reliquum, postquam fractis signaculis et uoluto ab hostio sepulchri lapide, illud summum mysterium proditum est, Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum et unum, Christum pro nobis passum et regnaturum aeternaliter?« (C1 3. 101,23-28/WA 18. 606,24-28; DSA. 1525).
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
93
Gott willen denkender Glaube. Luther könnte aus gegenwärtiger Sicht weder als biblizistischer noch als dogmatischer Positivist beurteilt werden. Dies zeigt nicht zuletzt seine Streitschrift gegen Erasmus. Es reiche eben nicht zu behaupten, »Christus est crucifixus«.16 Weil der ganze Christus fur den ganzen Menschen gestorben ist, folgt daraus notwendig, dass dem Sünder kein höheres Vermögen geblieben ist, durch das er sich selbst zum Heilsempfang disponieren kann. 17 Christus bringt auch nicht nur ein isoliertes Dogma vom unfreien Willen samt der ihm entsprechenden, religiös beunruhigenden und die Vernunft vor den Kopf stoßenden Rede vom unergründlichen, prädestinierenden Willen Gottes mit sich. Vielmehr expliziert Luther seine Überlegungen zur Unfreiheit des menschlichen Willens im Rahmen eines vom christologischen Begriff der Heilsereignung notwendig geforderten Wirklichkeitsverständnisses, dem sich das Weltgeschehen unter Einschluss des Heilsgeschehens als Ereignungsgestalt der unhintergehbaren Allwirksamkeit Gottes erschließt. Das verfugende Setzen des göttlichen Willens legt allem Geschehen und so auch dem menschlichen Willen Notwendigkeit auf.18 Diese Folgerung ist soteriologisch wie ontologisch notwendiges Implikat des Glaubens an die Zuverlässigkeit göttlicher Heilsverheißung. »Dergekreuzigte Christus bringt dies alles mit sich«!" Die das irdische Geschick der Glaubenden bedrohenden Mächte fuhren kein entfesseltes Eigenleben, das die Heilszusage Gottes mittelbar revozieren könnte: »Wenn du nämlich zweifelst, oder verachtest zu wissen, dass Gott alles, nicht zufallig, sondern notwendig und unveränderlich vorher weiß und will, wie könntest du seinen Verheißungen glauben, ganz fest trauen und dich darauf stützen?«20 Denn Gott, der dreieinige Schöpfer, Erlöser und Heiliger, wie Luther den Geist nennt, 21 ist der eine Gott, der als Macht der Erneuerung in und an seiner Schöpfung wirkt. Er treibt die widersprüchlich 16
C1 3. 129,31f/WA 18. 639,6 (DSA. 1525).
17
Vgl. C1 3. 2 4 1 , 3 2 - 2 4 2 , 2 3 / W A 18. 744,3-29 (DSA. 1525).
18 Vgl. C1 3. 1 0 8 , 7 - 1 1 . 3 0 - 3 5 / W A 18. 615,12-15.31-35 (DSA. 1525): »Est itaque et hoc imprimis necessarium et salutare Christiano, nosse, quod Deus nihil praescit contingenter, sed quod omnia incommutabili et aeterna, infallibilique uoluntate et praeuidet et proponit et facit. H o c fulmine sternitur et conteritur penitus lib. arb. [...] Ex quo sequitur irrefragibiliter: omnia quae facimus, omnia quae fiunt, etsi nobis uidentur mutabiliter et contingenter fieri, reuera tamen fiunt necessario et immutabiliter, si Dei uoluntatem spectes. Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei, Deinde sapiens, ut falli n o n possit.« 19
CI 3.129,24ff/WA 18. 638,24f (DSA. 1525; Hervorhebg. v. Verf.).
20
»Si enim dubitas, aut contemnis nosse, quod Deus omnia, non contingenter, sed necessario et immutabiliter praesciat et uelit, q u o m o d o poteris eius promissionibus credere, certo fidere ac niti?« (CI 3. 110,30ff/WA 18. 619,Iff; DSA. 1525); vgl. CI 3. l l l , l l f f / W A 18. 619,19ff (DSA. 1525) sowie W A 42. 507,12-15 (Genesis. 1535ff): »Ac sane n o n exigua consolatio est, quod Deus imperia constituit, servat et tuetur, nec ilia, ut plerunque putamus, vel crescunt, vel cadunt temere. Gentes gubernationem hanc n o n vident, sed sua industria constitui et gubernari imperia somniant.« 21
Vgl. BSLK 653,32ff/WA 30/1. 187,21ff (Gr.Kat. 1529).
94
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
und kontingent erscheinende Fülle des Geschehens nach seinem Rat und Willen mit Notwendigkeit voran, so dass es keine konkurrierende Macht geben kann. W e d e r der Zufall noch ein Mensch noch Satan oder ein Engel könnten in irgendeiner Weise die voluntas efficax Dei hindern.
4.3 Vorchristliche Erfahrung der schöpferischen Allmacht Gottes
N a c h Luthers Einsicht steht die natürliche Vernunft, obgleich dieser ärgerlich, unausweichlich unter dem Eindruck von gottheitlicher Macht, die alles in allen und allem mit ihrer aktuosen Allmacht aus Notwendigkeit wirkt, deshalb auch wollend vorhersieht und wissend will.22 Auch der religiöse Heide weiß sich von der Übermacht gebender und fordernder Gottheit zur Verantwortung gezogen 23 und erfährt sich darin, anders als 22 Vgl. C1 3. 214,41-215,2/WA 18. 719,20-23 (DSA. 1525; Text s. die vorliegende Untersuchung, 48 Anm. 110). Vgl. auch C1 3. 203,39ff; 213,35ff/WA 18. 709,10ff; 718,15flF sowie die Argumente ex consensu gentium C1 3. 109,40ff/WA 18. 617,23ff (DSA. 1525). 23 Zum natürlichen Wissen um die Forderung des Gesetzes vgl. WA 39/1. 374,3ff (1. Antinomerdisp. 1537): »Decalogus [...] haeret adhuc in conscientia. Nam si Deus nunquam tulisset legem per Mosen, tarnen mens humana naturaliter habet hanc notitiam, Deum esse colendum, proximum diligendum.« WA 39/1. 540,2f (3. Antinomerdisp. 1538): »hae notitiae communes erant omnibus gentibus, sicuti experientia ipsa testatur.« Zur Ubermacht gebender Gottheit vgl. WA 19. 205,28-206,1 (Jona. 1526): »Alle weit weys von der gotheyt zu sagen und naturliche vernunfft kennet, das die gottheyt etwas grosses sey fur allen andern dingen. Das beweyset sich daraus, das die hie Gott anruffen die doch heyden waren. Denn wo sie nichts von Gott odder der gottheyt gewust hetten, wie wolten sie denn haben angeruffen und zu yhm geschriehen? Wie wol sie nu nicht recht gleuben an Gott, so haben sie doch solchen synn und meynung, Gott sey eyn solch wesen, der da helffen könne ym meer und ynn allen nötten. Solch liecht und verstand ist ynn aller menschen hertzen und lest sich nicht dempffen noch leschen.« WA 42. 631,36-42 (Genesis. 1535ff): »Hunc sensum naturali instinctu etiam gentes habent, quod sit aliquod supremum numen, quod colendum, invocandum, laudandum, ad quod in omnibus periculis confugiendum sit [...]. Haec enim notitia divinitus plantata est in omnium hominum animis, quod vocant Deum auxiliatorem, beneficum, placabilem, etiamsi in eo postea errent, quis nam ille Deus sit, et quomodo velit coli.« Zur Ubermacht des Schicksals vgl. C1 3. 109,41-110,8/WA 18. 617,24-618,5 (DSA. 1525): »cum talia [sc. omnia necessitate fieri] gentiles Poetae et ipsum uulgus usu communissimo terat in ore? Quoties unus Virgilius fatum memorat? [...] Nihil ille Poeta aliud facit, quam ut in Troia uastata, et Romano imperio suscitando, fatum plus ualere quam omnium hominum studia, significet, atque adeo necessitatem et rebus et hominibus imponere.« WA 19. 650,8-13.26-28 (Kriegsleute. 1526): Die Griechen und Römer »hielten dafür, sie werens, die da kriegten und siegten. Aber durch manchfeltige erfarunge, da offt gros, gerust volck von wenigen und ungerusten geschlagen ward, müsten sie lernen und bekennen auch frey, das nichts ferlichers sey ynn kriegen, denn sicher und trotzig sein [...]. Nu die heyden haben solchs erfaren und gelernet, wüsten aber keine ursach noch grund anzuzeigen, on das sie es dem glück schult gaben, dafür sie sich gleich wol müsten fürchten.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
95
der in magischer Lebens- und Weltunmittelbarkeit lebende Mensch, als geschichtlich existierendes Wesen.24 Die von Luther vorausgesetzte Kontinuität der Geschichte als Raum sich gleich bleibender menschlicher Möglichkeiten und göttlicher Wirkungen schließt das ihm bekannte Heidentum mit der Christenheit hinsichtlich ihrer Grunderfahrung des Daseins als von Gott verfugte und Rechenschaft fordernde Wirklichkeit zusammen. Insofern lässt sich vom Standpunkt weder Luthers noch der modernen Religionsphänomenologie her die These Liljes bestätigen, erst mit der christlichen Gotteserfahrung verbinde sich ein Verständnis der Alleinwirksamkeit Gottes, das auch ein »wirkliches Nachdenken über die Geschichte« freisetze.25 Luther geht vielmehr davon aus, dass Heiden und Christen, Gottlose und Fromme grundsätzlich in gleicher Weise durch das in der Lebenswirklichkeit begegnende Gesetz Gottes zur Rechenschaft gefordert sind. Der Gedanke des geschichtlichen Daseins als Sein aus und vor Gott darf deshalb nach Luthers Verständnis nicht als spezifisch christlich26 bzw. erst durch die christologische Heilsereignung bedingt interpretiert werden. Die Besonderheit des christlichen Verständnisses der Allwirksamkeit Gottes und der Geschichte ist natürlich nach Luther in der schon beschriebenen Weise durch die Ereignung des Heils Gottes in Jesus Christus bestimmt. Jedoch hebt die christliche Einsicht in die Wirklichkeit die fortdauernde Gleichartigkeit der fundamentalen Geschichtserfahrung von Christen und Heiden ebenso wenig auf wie die Gnade Christi die zeitlich bleibende Sünde des Gerechtfertigten beseitigt. Auch der gerechtfertigte Sünder steht weiterhin unter dem sei es zur Selbstbehauptung, sei es zur Verzweiflung leitenden, auf jeden Fall aber den Glauben prüfend-anfechtenden Zwang, sich angesichts des sich ihm im Weltumschluss fordernd entgegenstellenden Gesetzes selbst zu rechtfertigen. Diese Erfahrung hält den Christen in der Erfahrung von Gott, Selbst und Welt fest, die grundsätzlich jeder andere Mensch auch hat.27 Sie stellt zugleich auch die Ereignungsgestalt von Wirklichkeit dar, mit der der christliche Glaube nun seine besondere Erfahrung in Anfechtung und Trost macht. Entsprechend entfaltet sich Luthers Verständnis des alles in allem wirkenden Gottes aus der Erfah-
2 4 Vgl. RATSCHOW, Glaube, 147: »Es ist sachlich nicht richtig anzunehmen, daß man die Religionen und das Christentum so konfrontieren könnte, daß in den Religionen die Welt das Umschließende bleibe, aber nur im Christentum die Freisetzung des Menschen zur Geschichtlichkeit gegeben sei. Religion zeichnet sich vielmehr dadurch vor den vor ihr liegenden >primitiv< genannten Strukturen von Lebens- und Welt-Unmittelbarkeit aus, daß sie Bewußtsein als Geschichtlichkeit und damit Welt und Selbst als zu verantwortende Größen entdeckt.« (Gegen GOGARTEN, Mensch, 13, mit Verweis auf RATSCHOW, Magie). Vgl. z u m Problem BAUR, Plato. 25
V g l . LILJE, 4 1 .
Als christlich ist im Sinne Luthers auch das Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis zu bezeichnen, das mit dem von ihm als Glaube an die Verheißung des künftigen Christus interpretierten alttestamentlichen Gottesvertrauen gegeben ist. 26
27
Vgl. C1 3. 2 9 0 , 7 f f / W A 18. 7 8 4 , 3 6 f f ( D S A . 1525).
96
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
rung des im Weltumschluss angefochtenen Glaubens als spannungsvolles Widereinander zwischen deus revelatus und deus absconditus, Zorn und Gnade, Gesetz und Evangelium, Satan und Christus.
4.4 Wirkende Allmacht und machtvolle Allwirksamkeit Gottes
Die Allwirksamkeit Gottes ist nach Luther des näheren als machtvoll schaffende Gegenwart Gottes selbst in seiner Kreatur zu verstehen. Damit wird jedoch keine pantheistische Vorstellung im Sinne Spinozas deus sive natura verbunden. 28 Gott bleibt gegenüber seiner Schöpfung frei, und als der Freie treibt er sie in der Spannung von Gnade und Zorn, Erhaltung und Erneuerung machtvoll voran. Er sitzt nicht auf einem fernen Thron im Himmel, von dem aus er nur mittelbar seine Schöpfung regieren würde. Gottes »rechte Hand« ist vielmehr »die almechtige gewalt Gotts, welche zu gleich nirgent sein kan und doch an allen orten sein mus. Nirgent kan sie an einigem ort sein, spreche ich. Denn wo sie yrgent an etlichem ort were, müste sie daselbs begreifflich und beschlossen sein [...]. Die Göttliche gewalt aber mag und kan nicht also beschlossen und abgemessen sein, Denn sie ist unbegreifflich und unmeslich, ausser und über alles, das da ist und sein kan. Widderumb mus sie an allen orten wesentlich und gegenwertig sein, auch ynn dem geringsten bawmblat. Ursach ist die: Denn Gott ists, der alle ding schafft, wirckt und enthellt durch seine allmechtige gewalt und rechte hand, wie unser glaube bekennet. Denn er schickt keine amptleut odder Engel aus, wenn er etwas schaffet odder erhellt, sondern solchs alles ist seiner Göttlichen gewalt selbs eigen werck. Soll ers aber schaffen und erhalten, so mus er daselbst sein und seine creatur so wol ym aller ynnwendigsten als ym aller auswendigsten machen und erhalten. Drumb mus er ja ynn einer iglichen creatur ynn yhrem allerynnwendigsten, auswendigsten u m b und umb, durch und durch, unden und oben, forn und hinden selbs da sein, das nichts gegenwertigers noch ynnerlichers sein kan ynn allen creaturen denn Gott selbst mit seiner gewallt.«29 Erwin Metzke urteilt zutreffend: Luther »faßt Gott und unsere Welt nicht als zwei vorhandene Seinsgrößen, die in Beziehung zu setzen sind.«30 Entsprechend stellt er Gott auch nicht im Sinne des scholastischen Modells als distante Wirkursache vor, sondern sieht ihn als Schöpfer ganz in sein Werk eingehen. Selbst wenn das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf als kontinuierliches Ursache-Wirkungs-Verhältnis interpretiert würde, hätte man nicht Luthers Begriff von Wirklichkeit erreicht; denn die voluntas efficax setzt nicht ein relativ selbständiges Anderes, an dem sie wirkt und 28 29 30
Vgl. BAUR, Ubiquität. WA 23. 133,19-134,6 (Daß diese Worte Christi. 1527Dr). METZKE, 1 9 7 .
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
97
das auf diese Weise zu relativer Selbsttätigkeit gelangen würde, sondern sie setzt das Andere als das durch sich selbst Bestimmte in der Weise, dass es sein Dasein allein im beständigen Gesetzt-Werden und sich Empfangen aus dem ihm gegenwärtigen Grund hat. Gleichwohl kommt dem Geschöpf unter der actualitas göttlichen Schaffens ein relativer Selbstand insofern zu, als es als dieses bestimmte Geschöpf mit seinen spezifischen Möglichkeiten zur Kooperation mit dem göttlichen Willen geschaffen ist. Aber dieser sein geschöpflicher Daseinsvollzug ist wiederum nur möglich in Kraft des gegenwärtigen Wirkens Gottes selbst und ist daher notwendiger Vollzug seines Geschöpfseins, dem es sich nicht entziehen kann.31 Weder hört Gott in diesem Geschehen auf, er selbst zu sein, noch divinisiert er das Geschöpf. Vielmehr ist er in seiner schöpferischen Kondeszendenz für die Kreatur gar nicht anders da, als dass er ihre geschöpflich-geschichtliche Wirklichkeit hervorbringt, erhält und kooperatorisch in den Vollzug seines Schaffens hinein nimmt. Der Gedanke der Divinisierung setzt auch in seiner vorneuzeitlichen Gestalt die Subjekt-Objekt-Distanz bzw. die Vorstellung zweier aparter Substanzen voraus, deren eine durch die andere in ihrem defizienten Seinsmodus ergänzt wird. Der theologisch gereifte Luther denkt die Einheit von Gott und Mensch aber nicht im platonischen Schema von Differenz und Teilgabe. Er geht vielmehr von der raum-zeitlichen Simultaneität, dem Zusammensein,32 nicht: Identität!, von Schöpfer und Geschöpf aus. Das raum-zeitlich simultane Miteinander von Gott und Geschöpf ist weder innerhalb des scholastischen Causae-Modells noch fur das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Denken nachvollziehbar; denn beide Konzepte setzen ontologisch die Differenz von aparten Größen voraus, die erst in einem sachlogisch zweiten Akt in Vermittlung treten.33 Luther 31 Vgl. C1 3. 108,38-109,3/WA 18. 616,2-6 (DSA. 1525): »Si talis esset uoluntas Dei, quae peracto opere eodemque manente, cessaret, qualis est hominum uoluntas, ubi aedificata domo, quam uolunt, cessat uelle, ut in morte desinit, tum uere posset dici, aliquid contingenter et mutabiliter fieri. At hic contra fit, opus desinit et uoluntas permanet, tantum abest, ut ipsum opus, dum fit et permanet, contingenter esse aut permanere possit.« Vgl. auch die vorliegende Untersuchung, 185-190, insbesondere die Texte 187 Anm. 343. Jörg Baur bringt den Sachverhalt im Anschluss an Luther auf folgende Formulierung: »Die Schöpfung als creatio ist ein unhintergehbarer freier Akt Gottes, durch den vom Schöpfer anderes gesetzt wird. Diese Setzung von anderem, aller Kreaturen, vollzieht sich als Hervorruf dieses anderen so, dass sich der setzende Schöpfer in das Mitsein mit dem Gesetzten hineingibt, diesem als dessen erhaltender und es verändernder Grund gegenwärtig ist und sich zugleich der Kreatur als Woher und Woraufhin von deren Lebensbewegung vorgibt. Das Geschöpf ist also das durch das Mitsein des Grundes ins Offene gesetzte Andere Gottes, das nicht im eigenen Selbstsein gründet, sondern der je konkrete bewegliche >DurchlaufsortKryptiker< bei der synthetischen Einheit der Person als kommunikativem Vollzug von Gemeinschaft zwischen Gott und 33
98
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
formuliert dagegen, dass »Gottynn allen dingen selbs ist personlich, on welche gegenwertickeit auch Gott nicht hette mügen mensch und eine person aus Gottheit und menschheit werden. Denn er muste [...] zuvor ynn mutter leibe da sein, wie er an yhm selber ist ynn der Gottheit.«34
4.5 Differenz von Schöpfer und Geschöpf
Die Schwierigkeiten für ein denkendes Nachvollziehen von Luthers Wirklichkeitsverständnis werden dadurch erhöht, dass Luther nichtsdestoweniger jede Seinsanalogie von Schöpfer und Geschöpf zurückweist. Luther schließt mit der Verabschiedung des scholastischen Schemas von causa prima (Gott) und causae secundae (Geschaffenes) auch das Moment der analogen Mitteilung des Seins der Wirkursache an ihre Wirkung aus.35 ObMensch ansetzen, setzen Scholastik, Schweizer, Melanchthon und seine Schüler sowie weithin die neuzeitliche Theologie, soweit sie sich dem Chalcedonense stellt (Hegel und seine Schule), analytisch bei der Differenz von Gottheit und Menschheit ein und gelangen zu einer suppositalen Unionsvorstellung, die das wechselseitige Aufgeschlossensein von Gottheit und Menschheit als Vollzug der Person Jesu Christi nur unter der Bedingung der Unveränderlichkeit Gottes denken läßt. Vgl. dazu die Ausführungen in der vorliegenden Untersuchung, 120-127, zur suppositalen Union siehe die vorliegende Untersuchung, 123f. 34 W A 23. 143,2-6 (Daß diese Worte Christi. 1527); Hervorhebg. v. Verf. Auf dieser Linie Luthers sollten auch die Vertreter der späteren klassischen Tübinger Christologie argumentieren, wenn sie sowohl die allgemeine Weltgegenwart Gottes als ontologisch notwendige Bedingung fur das Im-Dasein-Gehaltensein der Schöpfung nennen wie auch die Allgegenwart der Person Christi in der kommunikativen Einheit von Gottheit und Menschheit zur Voraussetzung ihrer heilsamen actio bestimmen. Zur ab 1616 sich zum offenen Streit entwickelnden theologischen Auseinandersetzung zwischen dem Gießener Balthasar Mentzer und der Tübinger theologischen Fakultät (insbesondere zu nennen sind Lucas II. Oslander und Theodor Thumm) um die Frage, ob die, wie von den Tübingern vertreten, adessentia/praesentia Gottes bei seinen Geschöpfen ontologisch wie soteriologisch notwendig auch unabhängig und vorrangig zu seiner actio gedacht werden müsse, vgl. BAUR, Weg, 240-276. - Vgl. auch die vorliegende Untersuchung, 115-120, besonders 117f Anm. 96 und 99, 120 Anm. 107 (WA 23. 141,23). Auch für Luther gilt, was Jörg Baur zum Verständnis der Allgegenwart Gottes in seiner Schöpfung bei Johannes Brenz feststellt: »Allerdings, völlig geklärt, denkerisch gelungen ist dieser Versuch, eine abgestufte, quantitierende Teilhabe der Kreaturen an der sich schenkenden gegenwärtigen Gottheit auszusagen, nicht. Es bleibt dunkel, wie sich die angesagte wesenhafte Gegenwart [...] zu den Gaben verhalte, die ihrerseits ein Teil der Gottheit sind.« BAUR, Brenz, 4 1 . 35
Vgl. z . B . THOMAS VON A Q U I N , STh I Q 4 a2 a d l : »Per hoc quod quidquid perfectionis est in effectu, oportet inveniri in causa effectiva. [...] Manifestum est enim quod effectus praeexistit virtute in causa agente: praeexistire autem in virtute causae agentis, n o n est praeexistire imperfection modo, sed perfection. [...] C u m ergo Deus sit prima causa effectiva rerum, oportet omnium rerum perfectiones praeexistire in Deo secundum eminentiorem modum.« - a3 resp.: »Si igitur sit aliquod agens, quod non in genere
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
99
wohl das Sein der Kreatur nur als das beständige Sich-Geben Gottes Bestand hat, 36 wird jede Seinsanalogie zwischen ihm und seinem Geschöpf, insbesondere die Willensfreiheit, 37 die als Zugeständnis eines auch nur relativ selbständigen Entsprechungsvermögens des Geschöpfes zu seinem Schöpfer verstanden werden könnte, verneint. Luther interpretiert die urständliche Gottebenbildlichkeit Adams als göttliches Leben, das unter der Bedingung ungebrochenen und vertrauensvollen Sich-Empfangens aus Gott als geschaffenes Sein ebenso wenig vom Tode bedroht ist wie der ewige Gott selbst: »Die Ebenbildlichkeit Gottes verstehe ich so, dass Adam sie wesenhaft hatte, so dass er nicht allein Gott erkannte und glaubte, dass er gut sei, sondern dass er auch ein gänzlich göttliches Leben führte, das heißt, dass er ohne Furcht vor dem T o d und vor allen Gefahren war und sich an Gottes Gnade genügen ließ. So wie es an Eva zu sehen ist, die mit der Schlange ohne jede Furcht spricht, so wie wir mit einem Lamm oder einem Hund. Deshalb auch stellt Gott diese Strafe in Aussicht, wenn sie das Gebot übertreten sollten: >An dem Tag, an dem ihr von diesem Baum essen werdet, werdet ihr des Todes Sterbens als ob er sagen würde: Adam und Eva, ihr lebt nun sicher, weder spürt ihr den Tod noch seht ihr ihn. Dies ist meine Ebenbildlichkeit, durch die ihr lebt, wie Gott lebt. Wenn ihr aber gesündigt haben werdet, dann werdet ihr diese Ebepbildlichkeit verlieren und werdet sterben.« 38 Die Gleichartigkeit, die zwischen dem ewigen Lebendigsein Gottes und dem potenziell 39 nicht zum Vergehen im Tode verurteilten zeitlich-leibcontineatur, effectus eius adhuc magis accedent remote ad similitudinem formae agentis: non tarnen ita quod participent similitudinem formae agentis secundum eandem rationem speciei aut generis, sed secundum aliqualem analogiam, sicut ipsum esse est commune omnibus. Et hoc m o d o ilia quae sunt a Deo, assimilantur ei inquantum sunt entia, ut primo et universali principio totius esse«; ad4: »Deus est ens per essentiam, et alia per participationem.« 36 Vgl. B S L K 660,18ff/WA 30/1. 191,28ff (Gr.Kat. 1529); C1 3. 511,21ff7WA 26. 505,38ff (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528). Vgl. zum Gesichtspunkt des Gebens fur Luthers Schöpfungsverständnis BAUR, Schöpfung; BAYER, Schöpfung, 89-108; SEILS, Sache.
Vgl. WA 42. 45,24ff (Genesis. 1535ff). »Imaginem Dei sic intelligo: Q u o d Adam earn in sua substantia habuerit, quod non solum Deum cognovit et credidit eum esse bonum, sed quod etiam vitam vixerit plane divinam, hoc est, quod fuerit sine pavore mortis et omnium periculorum, contentus gratia Dei. Sicut in Heva apparet, quae cum serpente sine omni metu loquitur sicut nos cum agno aut cane. Ideo etiam istam poenam proponit Deus, si transgrediantur praeceptum: >Quacunque die comederis ex ligno hoc, morte morierisad Imaginem DeiSimilitudinem< tacet, ut idem esse significat.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
101
Menschseins. Sie weisen nicht auf einen Mangel irdischen Daseins, sondern sind ein von Gott gewolltes Werk und sind nicht behaftet von sündhafter Begierde.43 Das In-Wirken der Güte des Schöpfers in der Kreatur ist vor dem Fall damit gegeben, dass sich Adam an der Gnade des gütigen Gottes genügen lässt (contentus gratia Dei). Indem er Gott als den Gütigen erkennt und glaubt, erwartet und empfangt er sein Leben in Lobpreis und Dank ausschließlich aus Gott. So ist er durchlässig-rezeptiver Ort der wirkgegenwärtigen Güte des Schöpfers. Man wird insofern sagen können, dass der Glaube Adams seine Imago Dei ist (in sua substantia habuerit). Allerdings darf die Imago Dei weder spiritualisierend als reine Beziehungswirklichkeit interpretiert noch rein eschatologisch als Bestimmung zum ewigen Leben missverstanden werden; denn nicht nur die innere Wirklichkeit glaubenden Sich-Empfangens aus Gott und die Erwartung des Kommenden sind Werk des gütigen Schöpfers im Menschen, sondern auch die urständliche Vortrefflichkeit des leib-seelisch-geistigen Seins in seiner Verflochtenheit mit der übrigen Kreatur gehört zum Bestand des von Gott zu seinem Gleichnis geschaffenen Menschen: »Das Bild Gottes, zu dem Adam geschaffen war, war ein äußerst vortreffliches und alleredelstes Wesen, denn kein Aussatz der Sünde war in der Vernunft oder im Willen. Vielmehr waren die inneren und die äußeren Sinne allesamt völlig rein. Der Verstand war gänzlich rein, das Gedächtnis bestens, und der Wille ganz aufrichtig in schönster Sicherheit ohne alle Todesfurcht und ohne irgendeine Sorge. Zu dieser innerlichen Vollkommenheit kam auch jene allerherrlichste und überragende Kraft des Leibes und aller Glieder, die alle übrigen belebten Naturen übertraf. Denn ich halte gänzlich dafür, dass vor dem Sündenfall Adams Augen so scharf und hell waren, dass er auch Luchs und Adler übertraf. Löwen und Bären aber, die die größte Kraft haben, behandelte er selbst als der Stärkere nicht anders als wir mit kleinen Hunden umgehen. Süße und Gehalt der Früchte, die als Speise dienen, waren viel höher als heutzutage.«44 43
Vgl. WA 42. 42,22-32 (Genesis. 1535ff): »Bene autem dicunt Doctores: Si Adam non esset lapsus per peccatum, tum finito certo numero Sanctorum ab animali vita ad spiritualem vitam Deum translaturum fuisse. Nam Adam non erat sine cibo, potu et generatione victurus. Cessassent autem ista corporalia praefinito tempore post impletum numerum Sanctorum, et Adam cum posteritate sua esset translaturus ad aeternam et spiritualem vitam. Ista autem opera corporalis vitae: edere, bibere, procreare etc. fuissent quaedam servitus Deo grata, quam etiam Deo sine vitio concupiscentiae, quae nunc post peccatum est, praestitissemus sine omni peccato et sine metu mortis. Haec profecto iucunda et suavis fuisset vita, de qua cogitare quidem licet, assequi autem in hac vita earn non licet.« Vgl. WA 42. 79,20ff; 80,1-34 (Genesis. 1535ff). 44 »Imago Dei, ad quam Adam fuit conditus, fuit res longe praestantissima et nobilissima, cum scilicet nulla lepra peccati neque in ratione neque voluntate haesit. Sed et interiores et exteriores sensus omnes fuere mundissimi. Intellectus fuit purissimus, memoria optima, et voluntas sincerissima in pulcherrima securitate sine omni metu mortis et sine solicitudine ulla. Ad haec interiora accessit etiam illa corporis et omnium membrorum pulcherrima et excellentissima virtus, qua omnes reliquas naturas animatas vicit. Plane enim existimo ante peccatum Adae oculos ita fuisse acutos et claros, ut lincem et aqui-
102
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Diese Wirklichkeit vollkommenen geschöpflichen Daseins 45 im Vertrauen auf Gottes Geben in der unmittelbaren Erfahrung geschenkter Lebensfülle ist zwar mit dem Sündenfall für immer verloren gegangen. Aber sie weist darauf voraus, dass Luther auch nach dem Fall eine Ähnlichkeit zwischen Gottes Wirken im Menschen und in der übrigen Kreatur gegeben sieht. Die Texte sind transparent auf die Gegenwart: Die Sünde führt nicht nur zum Zerfall einer rein geistig-personalen Beziehungswirklichkeit, sondern auch die gegenständliche Schöpfungsgüte wird unter dem Zorn Gottes objektiv gemindert. Der Abbruch glaubenden Vertrauens in den Geber des Lebens zieht das Verhängnis des Todes und die vorlaufende Verschlechterung des geistigen und physischen Vermögens nach sich, und er führt in die anfechtenden Erfahrungen der Todesfurcht und der Feindschaft der Natur. Der Sünder flieht vor seinem Gott, dessen er sich alles Guten versehen sollte. Und auch die imago Dei Christi, die im geschenkten Glauben an die Stelle der verlorenen imago Dei Adams tritt und diese sogar überbietet, weil sie des ewigen Lebens und der Gemeinschaft in Gott und mit Gott unwiderruflich gewiss macht, aber auch alle anderen Kreaturen dem Menschen noch elementarer unterordnet als im Paradies, setzt nicht nur eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch in Christus. Vielmehr erneuert sie den Sünder schon jetzt anfänglich in diesem Leben. 46 Er erkennt lam superaret. Leones autem et ursos, quorum maximum robur est, ipse fortior tractavit non aliter, q u a m nos catulos tractamus. Fructuum quoque, quibus usus est cibo, longe maior fuit tum suavitas tum virtus quam nunc.« W A 42. 46,16-27 (Genesis. 1535ff). 45 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass Luther sich selbst des fiktiven Charakters seiner Schilderung der paradiesischen Vollkommenheiten bewusst ist. Seine phantasievollen Ausmalungen stehen in der hermeneutischen Klammer von Bemerkungen wie »haec imago per peccatum amissa est, non satis earn possimus intellegere.« (WA 42. 46,4f; Genesis. 1535ff); »post lapsum irrepsit mors tanquam lepra in omnes sensus, ita ut ne intellectu quidem imaginem istam possimus assequi.« (WA 42. 46,28f; Genesis. 1535ff); »ergo cum de imagine ilia loquimur, loquimur de re incognita, quam non solum non sumus experti, sed perpetuo contraria experimur, et nihil praeter nuda vocabula audimus.« (WA 42. 47,3 Iff; Genesis. 1535ff). Luther geht es insbesondere um die Herausstellung der verlorenen Qualität des von Gott geschaffenen Seins in seiner urständlichen Güte. 46 Vgl. W A 42. 48,11-37 (Genesis. 1535ff): » H o c autem nunc per Euangelium agitur, ut imago ilia reparetur. Manserunt quidem intellectus et voluntas, sed valde viciata utraque. Euangelium igitur hoc agit, ut ad illam et quidem meliorem imaginem reformemur, quia in vitam aeternam vel potius in spem vitae aeternae renascimur per fidem, ut vivamus in D e o et cum D e o , et unum cum ipso sumus, sicut Christus dicit. Neque vero ad vitam solum renascimur, sed etiam ad iusticiam, quia fides arripit meritum Christi et statuit nos per Christi mortem liberatos esse. Inde alia iusticia nostra oritur, nempe ilia vitae novitas, qua studemus obtemperare D e o edocti verbo et adiuti per Spiritum sanctum. Sed haec iusticia in hac vita incipitur tantum, neque potest in hac came esse perfecta. Placet autem D e o non tanquam perfecta iusticia aut tanquam precium pro peccatis, Sed quia proficiscitur ex corde, quod nititur fiducia misericordiae Dei per Christum. Deinde hoc quoque fit per Euangelium, ut conferatur nobis Spiritus sanctus, qui resistit in nobis incredulitati, invidiae et aliis vitiis, ut serio optemus ornare nomen Domini et verbum eius etc.
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
103
nicht nur den wahren Gott in Jesus Christus, sondern nimmt die Güte des Schöpfers in der von ihm geschaffenen und gehaltenen Kreatur wahr.47 Er blendet nicht die in ihrer Widersprüchlichkeit anfechtende Wirklichkeit geschichtlichen Daseins aus, sondern glaubt gegen den Augenschein den gütigen Schöpfer und Erlöser als die unter dieser Daseinsgestalt das Heil wirkende Macht des Lebens.48
4.6 Differente Modi der Wirkgegenwart Gottes in der Schöpfung
Der mit Anhalt am alttestamentlichen Reden von Gottes Wirken in der Weite der Völkerwelt49 wie in den innersten Regungen der Menschen gebildete, systematisch aber in Luthers denkender Entfaltung des worthaften Verständnis der Schöpfung und der Erhaltung seiner Kreatur aus dem und gegen das Nichts gründende Gedanke der kondeszendenten Inexistenz Gottes in seiner Kreatur bedarf vor allem der Entfaltung. Luthers Reden von der allgemeinen Wirkgegenwart Gottes in seiner Kreatur ist in seinem Schöpfungsverständnis begründet. Schon aufgrund der ontologischen Eigenart des In-Wirkens Gottes des Schöpfers in der Kreatur lässt es sich nicht als sekundäre Folgerung aus Luthers Verständnis der personalen Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus, aus der Allgegenwart der GottMenschheit Christi oder aus der kondeszendenten Wirkgegenwart des Heiligen Geistes im Glauben der Gerechtfertigten herleiten. Dagegen lässt sich umgekehrt zeigen, dass Luther die Neuheit des mit und in der Person Jesu Christi eröffneten Seins auf dem Hintergrund seines Schöpfungsverständnisses denkend entfaltet und von diesem in seiner Besonderheit abhebt. 50 Dass mit dieser These keine ontologisch oder soteriologisch gleitenden Übergänge zwischen Schöpfiings- und Erlösungswirklichkeit, Zorn und Gnade, Sünde und Glaube behauptet werden, wird die weitere Entfaltung des Sachverhalts zeigen. Richtig ist jedoch trotz der in aller Strenge festzuhaltenden Unterschiede, dass sich die reziproke Struktur des In-Seins der Kreatur in Gott und des In-Wirkens Gottes in der Kreatur wie in der ontologisch singulären und unauflöslichen personalen Gemeinschaft von Gott und Mensch in Christus, so auch in der sich unter den leiblich-materiellen Ad hunc modum incipit imago ista novae creaturae reparari per Euangelium in hac vita, sed non perficitur in hac vita. Cum autem perficietur in regno Patris, tunc erit voluntas vere libera et bona, mens vere erit illuminata et memoria constans, Tunc fiet etiam, ut omnes creaturae aliae magis nobis sint subiectae, quam in Paradiso Adae fuerunt.« 47
Vgl. die vorliegende Vgl. die vorliegende 49 BORNKAMM, Luther, servo arbitrio heraus. 50 Vgl. die vorliegende 48
Untersuchung, 318-349. Untersuchung, 163-211. 6Iff, stellt den alttestamentlichen Hintergrund auch von De Untersuchung, 121-127.
104
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Elementen des Abendmahls zusprechenden Gegenwart der gott-menschlichen Person Christi zeigt und so auch in der wechselseitigen Inexistenz von Heiligem Geist bzw. Christus und gerechtfertigtem Sünder. Mit der aktuos-formativen Allgegenwart Gottes in seiner Kreatur istjedenfalls ein ontologisch fundamentales Moment von Luthers Wirklichkeitsverständnis gefunden. Die spezifischen Differenzen zwischen der christologischen Persongemeinschaft von Gott und Mensch einerseits sowie der geistgewirkten Gemeinschaft des Glaubens von Sünder und Christus andererseits sind im weiteren Gang der Darstellung zu erörtern.51 An dieser Stelle soll zunächst auf ihren gemeinsamen Unterschied gegenüber der allgemeinen Gegenwart Gottes in den Kreaturen aufmerksam gemacht werden: Allein in der Person Christi und in der als Glaube durch das Wort im Geist wirksamen Inexistenz des Gerechtfertigten in Christus ist die reziproke Inexistenz von Gott und Mensch als wechselseitiger Vollzug von Gemeinschaft eröffnet. Dieser Differenz soll im Folgenden nachgegangen werden. Mit der Einsicht in die Differenz zu unterscheidender Modi verborgener Wirkgegenwart Gottes ist gegenüber dem von Lilje hervorgehobenen Ausgangspunkt Lutherscher Geschichtsreflexion zunächst so viel gewonnen, dass die Allein- bzw. Allwirksamkeit Gottes präzise als Gegenwart Gottes in seinen Geschöpfen auszuarbeiten ist. In seiner kondeszendenten Gegenwart bringt er das Dasein wie auch den Vollzug des kreatürlichen Seins selbst wirkend hervor, durchgreift und vollendet es. Gleichwohl ist auch mit dieser Einsicht keine Kurzformel für Luthers Wirklichkeitsverständnis gewonnen, aus der die verschiedenen Deutungskategorien seiner Geschichtsreflexion unmittelbar deduziert werden könnten. Die Wirkgegenwart Gottes in Satan und in Christus, um dieses signifikante Beispiel heranzuziehen, lässt sich ja allenfalls per aequivocationem unter demselben Begriff subsumieren. 52 Offensichtlich gibt also die Einsicht in Gottes wirksame Allgegenwart ebenso 51
Vgl. die vorliegende Untersuchung, 121-157.
S o eng auch Luther den Teufel an Gott heranrücken kann, wäre es doch ein Fehlschluss, den Ursprung des Bösen im Sinne der Böhmisch-Schellingschen Spekulation auch bei Luther in Gott selbst zu verlegen. Siehe C1 3. 203,33-206,20/WA 18. 709,5711,19 (DSA. 1525). Gegen ERICH SEEBERG, 177, der diese auch mir nicht einsichtige Lutherinterpretation vertritt, vgl. BORNKAMM, Böhme·, KRUMWIEDE, Glaube, 21; MALTER, 35: »Eine solche spekulative Interpretation, die dem Bösen, gedacht als Ichsetzung und Errichtung eines zweiten Prinzips neben dem ersten göttlichen Prinzip, eine Notwendigkeit in der Selbstkonstitution des Wissens zubilligte, läuft mit Sicherheit der subjektiven Intention Luthers ebenso wie dem objektiven Wortlaut seiner Werke entgegen. Schelling und Hegel sind (nicht nur in diesem Punkt) in keiner Weise die philosophischen Erben Luthers, auch wenn vor allem Hegel noch so sehr auf sein Luthertum pocht: im Verzicht Luthers auf eine spekulative Erhebung des Negativen zum Prinzip wird einem für das idealistische Philosophieren fundamentalen Aspekt eine eindeutige Absage erteilt.« Vgl. MALTER, 199f. Dagegen meint ASENDORF, Luther, lOOf, sichtlich beeindruckt von Erich Seebergs Lutherdeutung, zu Unrecht, Böhme als »Zwischenglied zwischen Luther und Hegel« beanspruchen zu können. (ASENDORF, Luther, 100). 52
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
105
wenig wie die Feststellung des durchgängigen Modus der Selbstverhüllung seiner aktuosen Präsenz den hermeneutischen Schlüssel zu Begründung und kategorialer Eigenart v o n Luthers materialer Geschichtsinterpretation an die Hand. Erwiesen ist ausschließlich, dass Selbstverhüllung und wirksame Allgegenwart Gottes im Welt- wie im Heilsgeschehen als ontologische Konstanten des reformatorischen Geschichts- und Wirklichkeitsverständnisses zu bedenken sind. Hermeneutisch bedeutsam wird die fundamentale Einsicht in die verhüllte Gegenwart des allwirksamen Gottes offensichtlich erst mit der Beantwortung der Frage nach dem M o d u s der aktuosen Gegenwart Gottes und der Eigenart ihres kreatürlichen Ortes. 4.6.1 Differenz zwischen Kreatur erhaltender und Sünde realisierender Wirkgegenwart Gottes Außer Frage steht fur Luther, dass Gott der Schöpfer allen seinen Kreaturen das Sein gibt, indem er sie aus dem Nichts schafft, gegen das Nichts erhält und sie gemäß ihrem W e s e n zu geschichtlich akthaftem Dasein bringt. 53 Ebenso steht für Luther fest, dass der Schöpfer wie im Paradies so auch seine gefallenen Kreaturen, den Sünder und Satan, erhält und in seiner lebenserhaltenden und vorantreibenden Gegenwart die in-wirkende Potenz des realisierenden Vollzugs ihres sündigen Wesens ist.54 Indes wäre es ein interpretatorischer Fehlgriff, wollte man die v o n Luther des näheren als voluntas efficax bestimmte potentia DeP5 in Nähe zu Schopenhauerschen Vorstellungen »als Trieb oder als dunkle Lebenskraft« 56 begreiflich machen. Zwar ist es richtig, dass sich nur in Kraft der erhaltenden und vorantrei53 Vgl. C1 3. 253,11-19/WA 18. 754,1-7 (DSA. 1525): »Homo, antequam creatur, ut sit homo, nihil facit aut conatur, quo fiat creatura, Deinde factus et creatus nihil facit aut conatur, quo perseueret creatura, Sed utrunque fit sola uoluntate omnipotentis uirtutis et bonitatis Dei nos sine nobis creantis et conseruantis, sed non operatur in nobis sine nobis, ut quos ad hoc creauit et seruauit, ut in nobis operaretur, et nos ei cooperaremur, siue hoc fiat extra regnum suum generali omnipotentia, siue intra regnum suum singulari uirtute spiritus sui«. 54 Vgl. C1 3. 204,9-17.21-25/WA 18. 709,18-24.28-31 (DSA. 1525): »Illud igitur, reliquum quod dicimus naturae in impio et Satana, ut creatura et opus Dei, non est minus subiectum omnipotentiae et actioni diuinae, quam omnes aliae creaturae et opera Dei. Quando ergo Deus omnia in omnibus mouet et agit, necessario mouet etiam et agit in Satana et impio. Agit autem in illis taliter, quales illi sunt et quales inuenit, hoc est, cum Uli sint auersi et mali, et rapiantur motu illo diuinae omnipotentiae, non nisi auersa et mala faciunt.« Freilich gilt: »Hic uides, Deum, cum in malis et per malos operatur, mala quidem fieri, Deum tarnen non posse male facere, licet mala per malos faciat, quia ipse bonus male facere non potest, malis tamen instrumentis utitur, quae raptum et motum potentiae suae non possunt euadere.« 55
CI 3. 108,33ff/WA 18. 615,33ff (DSA. 1525): »Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei, Deinde sapiens, ut falli non potest.« Der Nachsatz dürfte vor allem eine vitalistisch-dynamistische Interpretation im Sinne der Schopenhauerschen Willensmetaphysik ausschließen. 56
E R I C H SEEBERG, 7 9 .
106
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
benden Omnipräsenz des Schöpfers die Welt dem Auge des Frommen wie des Gottlosen als ein Geschehen darstellen kann, das in seiner unergründlichen Widerspüchlichkeit eher von der Ungerechtigkeit oder Nichtexistenz Gottes denn von seiner weisen Providenz und der Zuverlässigkeit seiner Verheißung zeugt.57 Aber Luther unterscheidet sofort zwischen einer geistlichen und einer natürlichen58 Wahrnehmung der Wirklichkeit: Der Gottlose schiebt die Verantwortung für die vordergründige Sinnlosigkeit des Weltgeschehens auf die Fügungen eines blind agierenden Schicksals ab, der Glaubende jedoch wird an der Signatur des Daseins des bald anfechtenden, bald zur Gottesfurcht mahnenden Zorns seiner Sünde inne.59 Luther argumentiert mit der wirksamen Allgegenwart des Schöpfers nicht unter Absehen von der Situation des Menschen coram Deo damnante et iustificante, an und in dem dieser wirkt. Die vom problematischen Status der sündigen incurvatio in seipsum abstrahierende Untersuchung der omnipotentia generalis würde nicht nur die wahre Ursache der im Blick auf die Faktizität des Weltgeschehens angeblich »ethisch indifferenten«60
57
Vgl. C1 3. 290,5ff/WA 18. 784,35ff (DSA. 1525). Die Unterscheidung von natürlicher und geistlicher Wahrnehmung in dieser Untersuchung schließt sich an Luthers Rede vom sensus communis seu ratio naturalis im Sinne des sündig-ichhaften Verstehens an. (Vgl. C1 3. 214,21f/WA 18. 719,4ff; DSA. 1525). 59 Vgl. W A 42. 155,19-156,1 (Genesis. 1535ff): »Quid enim morbos tantum commemoramus? Omnes creaturae contra nos, et tantum non [sc. beinahe] in perniciem nostram armatae sunt. Quot sunt, quos ignis et aqua perdunt? Quantum a ferocibus aut venenatis bestiis periculi est? Nec tantum corpora nostra sed alimenta etiam ad alendos nos nata infestant. Taceo, quod nos ipsi ruimus in mutuas caedes, ac si nullae aliae essent pestes, quae nobis insidiarentur. Itaque si hominum studia spectes, quid est haec vita quam quotidiana contentio, insidiae, rapina, caedes? Praeter ea incommoda, quae ab externis in nos derivantur? Haec omnia non existimo ante Diluvium vel numero tot, vel tarn gravia fuisse, ut nunc sunt. Sed quia creverunt peccata, etiam poenae illae auctae sunt. Quare calamitates Adae impositae mediocres fuere prae nostris. Q u o enim mundus magis vergit ad finem, eo magis obruitur poenis et calamitatibus. Accedit autem ad hoc etiam illud malum, quod, quo plus Mundus percutitur, eo magis indurat frontem, et stupescit quasi sua mala.[...] Haec coecitas omnes illas corporis calamitates excedit. An non mirum et miserum est haerere primum in corpore nostro vestigia irae Dei, quam peccatum meruit, deinde etiam conspici iram dei in terra et in omnibus creaturis, et tarnen otioso ac securo animo ista omnia a nobis negliguntur?« - W A 43. 64,4-16 (Genesis. 1535ff): »Sodomitae sentientes se coecitate percussos, neutiquam id accipiunt tanquam poenam inflictam a Domino, Magicum quiddam esse suspicantur, et a Satana fascinatos se iudicant. Ita enim semper evenit, impii obstinatissimi sunt, et se in sinu Dei foveri statuunt. Contra pii pavent, et metuunt iram dei. Non statuunt, flagellum immitti a Satana. Sed ab irato Deo, ideo ad folii volantis sonitum expavescunt, et omnia tuta timent. Hoc cogitare non possunt, quod impii cogitant, Diabolum istarum calamitatum autorem esse, sicut revera est. Non enim Deus pios affligit, sed permittit, ut Diabolus id faciat, sicut videmus in Iobo [...]. Debebamus igitur nos quoque ingruente peste et aliis calamitatibus dicere Satanae ea esse opera, Satana furere et irasci. Deum autem esse misericordem, et favere nobis, quia credimus in eius filium.« 58
60
So
REINHOLD SEEBERG,
181. Vgl. die vorliegende Untersuchung, 53-55.
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
107
Dynamik göttlichen Wirkens verkennen, sondern logisch konsequent Gott selbst die Verantwortung für das Böse anlasten müssen. 61 Eine ethisch indifferente oder auch religiös ambivalente Wirksamkeit Gottes kann es nach Luther aber nicht geben. Sie bringt das aus dem göttlichen Schaffen unableitbare und insofern unergründliche Wesen sündiger Selbstverkrümmung vielmehr unausweichlich zum Dasein und manifestiert sich darin als richtend, dass sie die Kreatur in ihrer ursprünglichen Selbstwahl festhält: »So geschieht es, dass der Ungläubige beständig und mit Notwendigkeit sündigt und irregeht, solange bis er durch den Geist Gottes korrigiert wird.«62 4.6.2 Differenz zwischen Zorn realisierender und Gnade mitteilender Wirkgegenwart Gottes Der geistgewirkte Glaube an das Wort, in welchem Gott das ewige Leben um Christi Person und Werk willen verheißt, hebt die Zornessignatur der Wirklichkeit nicht auf. Auch der Gerechtfertigte bleibt, auf sich selbst gesehen, Sünder. Die aktuose Allmacht Gottes treibt ihn weiterhin zur Realisierung seines wurzelhaften Sünderseins, so dass er wie der Gottlose der in Gen 2,17 angedrohten Strafe des Todes entgegengeht. Die Konektur der sündhaften Willensrichtung durch den Heiligen Geist vollzieht sich somit nicht in der Weise einer Restitution des ursprünglich geschaffenen Verhältnisses von Gott und Mensch, in welchem dieser sich unmittelbar aus dem Geben des Schöpfers in Dank, Lobpreis und Anbetung empfing. Ebenso wenig ist an eine geistgewirkte habituelle Neukonstitution des Menschen als Subjekt des Verheißungsglaubens zu denken. Vielmehr wird das Personzentrum des Menschen durch das neuschöpferisch wirkende Geist-Wort der Macht der Sünde entnommen, die es unter der Signatur des Zorns gefangen hielt. Zugleich wird es in die ubiquitäre Wirklichkeit der in der Person Christi unwiderruflich eröffneten Gemeinschaft von Gott und Mensch eingestellt.63 Zur weiteren Bestimmung der omnipotentia generalis Dei ist zu beachten: Obwohl der Sünder, durch den Glauben in Christus dem eschatolo61 Vgl. C1 3. 207,26ff; 214,21ff/WA 18. 712,19ff; 719,4ff (DSA. 1525) sowie die vorliegende Untersuchung, 104 Anm. 52. Die Verlagerung des Grundes des Bösen in Gott selbst ist logisch konsequent und unvermeidlich, wenn das Moment der Allwirksamkeit Gottes unter Absehen von der Wirklichkeit des Bösen als Sünde und zu verantwortender Schuld des Menschen betrachtet wird. Vgl. dazu auch die Kritik an Ellert Herms' Lutherinterpretation, die vorliegende Untersuchung, 222ff, 236-243. 62
»Ita fit, ut [sc. impius] perpetuo et necessario peccet et erret, donee spiritu Dei corrigatur.« C1 3. 204,40f/WA 18. 710,7ff (DSA. 1525). 63 Vgl. WA 56. 334,14-18 (Römer. 1515/16): »Modus loquendi Apostoli et modus metaphysicus seu moralis sunt contrarii. Quia Apostolus loquitur, ut significet (sonet) hominem potius aufferri peccato remanente, velut relicto, et hominem expurgari a peccato, potius quam econtra. Humanus autem sensus econtra peccatum aufferri homine manente et hominem potius purgari loquitur.«
108
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
gischen Geltungsbereich des göttlichen Zorns entnommen, auf das ewige Leben hoffen darf, sündigt er doch weiterhin nach seiner leiblich-personalen Existenz und muss deshalb der zeitlichen Strafe Gottes im Tod sowie der ihm bis dahin widerfahrenden Anfechtungen unter der Zornessignatur geschichtlichen Daseins gewärtig sein. Die zeitlich bleibende Bestimmtheit durch die Sünde ist Konsequenz der die ursprüngliche sündige Selbstwahl des Menschen ins Dasein treibenden schöpferischen Allwirksamkeit Gottes; die künftige Gemeinschaft mit Gott ist das Ziel der schon gegenwärtig den Sünder im Glauben an Christus erneuernden Wirksamkeit Gottes im Geist. Die Person des vom Schöpfer im Dasein gehaltenen gerechtfertigten Sünders steht in der Spannung zwischen Zorn realisierender und Gnade mitteilender Wirkgegenwart Gottes Damit scheint ein schlechthinniger Widerspruch in Gott angezeigt zu sein, der überdies die Existenz des Gerechtfertigten in ein schizophrenes Doppelverhältnis coram Deo und coram mundo zu zerreißen droht. In der Tat lässt sich die RealdialektikS4 von Zorn und Gnade nach Luther nicht in einer das christologische Versöhnungsgeschehen universalisierenden Vermittlung teleologisch zugunsten der Gnade aufheben. Der Zorn Gottes ist so real und objektiv wie seine Gnade. Nach Luther sind es allerdings allein die Gläubigen, die den in der Geschichte wirksamen Zorn Gottes über die Sünde als Zorn Gottes, und zwar ausschließlich durch die Wirkgegenwart des Geistes, wahrnehmen. 65 Nicht Zerspaltung der Persönlichkeit, sondern rechte Gottes- und Selbsterkenntnis ist die Konsequenz der zweifachen Wirkgegenwart Gottes im gerechtfertigten Sünder. Die Selbsterkenntnis als Sünder unter Zorn und anklagendem Gesetz Gottes provoziert als rechte Selbsterkenntnis nicht die immediate Inanspruchnahme habitual wesentlicher Gnade, sondern das sehnsüchtige Sich-Ausstrecken des demütigen Beters nach dem lösenden und aufrichtenden Trost des Evangeliums. So baut Gott selbst unter den Anfechtungen des Gesetzes und seinem treibenden Zorn den alten Menschen ab und richtet den neuen Menschen des bußfertigen Glaubens auf, der nichts mehr von sich selbst, sondern alles von Gott erwartet und seine leibhaft-personale Existenz als kooperatorisches Instrument der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen in Gebrauch nimmt. Dies zeigt zunächst, dass die den Sünder unter dem Zorn vorantreibende omnipotentia generalis Dei nicht unvermittelt neben der erneuernden, Glauben schaffenden Gegenwart des Geistes wirkt. Sie hält den Menschen vielmehr in der Identität seines Sünderseins kontinuierlich fest und treibt ihn zur Aktualisierung seines Wesens in denjenigen inneren und äußeren Akten, an welchen unter der Anklage des Gesetzes die Selbsterkenntnis
64
65
V g l . ELERT, Gesetz,
132-169.
Vgl. z.B. WA 43. 64,4-16 (Genesis. 1535ff). Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 106 Anm. 59.
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
109
des Menschen als wesenhafter Sünder aufbricht. Die omnipotentia generalis Dei kommt in soteriologischer Perspektive damit de facto ganz auf die Seite des Gesetzes zu stehen. Diese ihre grundsätzliche Ausrichtung wird auch im Gerechtfertigten nicht dadurch aufgehoben, dass er sein geschichtlich konkretes Personsein kooperierend in das göttliche Erhaltungs- und Erneuerungswirken in der Schöpfung hineingibt und der Verfugung durch die Macht der Sünde entreißt. Wie aber soll der Mensch ein Werkzeug des Geistes der Liebe und der Erneuerung werden, wenn die aktuose Allmacht beständig das Wesen der Sünde zur Erscheinung treibt? Luther sieht tatsächlich nicht die Möglichkeit für ein Wirken des Menschen gegeben, das im Blick auf seine Substanz rein von Sünde wäre. Auch das Werk des Gerechtfertigten ist rein allein wegen der verzeihenden Barmherzigkeit, mit der Gott ihn um des Glaubens an Christus willen ansieht. 66 Freilich sind vom Begriff der Sünde zunächst einmal moralische Assoziationen fernzuhalten; denn Sünde ist nach Luther nicht zuerst ein bestimmtes Tun, sondern das fundamentale Bestreben des Menschen, das von Gott geschenkte Leben als Selbstbesitz zu ergreifen und sich vor Gott als Schöpfer seiner selbst aufzubauen. 67 Diese Grundintention braucht sich nicht in einem moralisch verwerflichen Tun zu aktualisieren, sondern kann in ausgesprochen fromm erscheinenden und ethisch beeindruckenden Lebenskonzepten wie der monastischen Disziplin oder der römischen Virtus hervortreten. Grundsätzlich gilt zudem, dass nach Luthers Einsicht Gott die Welt trotz der Sünde auch durch das von sündigen Intentionen bestimmte Wirken der menschlichen Kreatur erhält; denn die durch Gottes Wort angeordneten Berufe wie Ehestand, Zeugung und Erziehung von Nachwuchs, Unterhaltserwerb und politische Verantwortung für das Gemeinwesen verlieren auch dann nicht ihren vom Schöpfer gesetzten Zweck, wenn der Mensch sie zum sündigen Selbstaufbau missbraucht. 68 Dies vorausgesetzt, gilt es Folgendes zu beachten. Erstens: Die omnipotentia generalis Dei bringt nicht aufgrund ihres eigenen 66
Vgl. z.B. StA 2. 445,17ff/WA 8. 69,4ff (Latomus. 1521); zum Verständnis der Sünde als bleibender Substanz auch des Gerechtfertigten vgl. die vorliegende Untersuchung, 148-157. 67 Vgl. z.B. WA 39/1. 48,24-30, Th. 69-71 (Promotionsthesen fur D.H. Weller und M.N. Medier De fide. 1535): »69. Quis autem ferat hanc blasphemiam, ut opera nostra nos creent, vel ut simus operum nostrorum creaturae. 70. Tunc liceret dicere contra Prophetam: Nos ipsi fecimus nos, et non Deus fecit nos. 71. Quam blasphemum igitur est dicere, Se ipsum esse sui ipsius Deum, creatorem seu generantem, tarn blasphemum est suis operibus iustificari.« Vgl. C1 3. 242,10ff7WA 18. 744,18ff (DSA. 1525); WA 43. 183,1 Iff" (Genesis. 1535ff). 68 Vgl. z.B. WA 42. 176,36-177,4 (Genesis. 1535ff): »Nemo igitur commemoratione hac ofifendi debet, quod Adam cognovit Heuam suam. Etsi enim propter peccatum originale divinum hoc opus generationis pro turpi habetur, quo offendi puras aures videmus, tarnen spirituales homines debent distinguere inter peccatum originale et creaturam. Opus generationis est creatura Dei bona et sancta, est enim ex Deo benedicente.« (Hervorhebung v. Verf.); 489,3-490,21 (zum Verhältnis von menschlicher Herrschaft und Sünde).
110
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Wesens, sondern aufgrund der Verdorbenheit der Kreatur, in der sie wirkt, die Sünde zum Dasein; denn nach ihrer wesenhaften Eigenart ist sie die schöpferisch-erhaltende, Leben spendende Gegenwart Gottes in seinen Kreaturen,69 durch welche er seine Schöpfung auch nach dem Fall Adams gegen das Nichts, aus dem er sie schuf, bewahrt. Zweitens: Der Mensch bleibt von seiner Sünde zu unterscheidende Kreatur Gottes. Seine leibhaftpersonale Existenz ist daher nicht mit seinem Sündersein identisch, sondern sie ist extra fidem et Christum dienendes Instrument und damit zugleich Aktualisierung seines sündig bestimmten Aktzentrums. Drittens: Die Wirkgegenwart des Geistes im Gerechtfertigten steht nicht im Gegensatz zur aktuosen Gegenwart des Schöpfers, sondern sie ringt mit der Sünde, die ihre Lebenskraft aus der Verkehrung der wirkenden Allmacht Gottes gewinnt. Viertens: Da die Sünde mit der Rechtfertigung nicht substanziell getilgt ist, sondern allein ihrer eschatologisch verdammenden Macht enteignet wird, kann es im zeitlichen Fortgang der Glaubensexistenz immer nur zu einem stets neuen, aktualen und partiellen Niederringen der sündigen Selbstbewegung durch das Wirken des Geistes kommen. Das bedeutet aber für das Wirkungsgefälle der omnipotentia generalis, dass sie nur insoweit und so lange in operativ-unmittelbarer Entsprechung zum Wirken des Geistes steht, wie dieser das leibhaft-personale Dasein des Menschen seiner sündigen Bestimmtheit entreißt. Freilich ist dieser Vorgang auf der Werkebene nicht mit der Sicherheit des Glaubensurteils verifizierbar; denn zum einen entziehen sich die letzten Motive einer Handlung ohnehin nicht nur der Beurteilung durch einen anderen Menschen, sondern auch der Selbstbeurteilung des Handelnden; zum anderen treibt die omnipotentia generalis die verbleibende sündige Substanz zur Aktualisierung, so dass auch das Tun des Gerechtfertigten nicht frei von Sünde ist, sondern der Vergebung bedarf. Mithin ist die aktuose Gegenwart des Schöpfersfür den Gerechtfertigten in doppelter Hinsicht bedeutsam: Sie hält ihn als Kreatur Gottes im zeitlichen Dasein, aber sieführt ihn auch mittelbar unter dem zukommenden Wirken des Geistes durch Wort und Glaube in die Erkenntnis der Sünde und zeigt ihm seine beständige Angewiesenheit auf den Leben und ewiges Heil schenkenden Schöpfer und Erlöser, indem sie ihn in seinem Sündersein unausweichlich festhält. Im Blick auf das rechtfertigende Handeln Gottes ist folglich zu resümieren, dass die omnipotentia generalis unter dem Werk der Erhaltung zugleich das opus alienum Dei des zunächst verborgenen, dann aber manifest verklagenden Gesetzes treibt; denn das Gesetz des Leben-Müssens ist für den Sünder mit der Notwendigkeit identisch, sich gemäß seinem Wesen als Sünder in der Zeit zu aktualisieren. Durch die Unausweichlichkeit des geschichtlichen Selbstvollzugs tritt somit das verborgene sündige Wesen in jenen inneren und äußeren Akten zutage, die unter der Anklage des sei es verkündigten, sei es natürlichen Gesetzes den Erfahrungsgrund der Schuldund Sündenerkenntnis bilden. 69
Vgl. W A 42. 38,7-12 (Text s. die vorliegende Untersuchung, 57 Anm. 154).
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
111
Allerdings kann die wirkende Allmacht Gottes nur im Bezug auf Wirklichkeit und Möglichkeit des rechtfertigenden Handelns Gottes in der Perspektive des opus alienum Dei betrachtet werden; denn folgt der destabilisierenden Erfahrung des anklagenden Gesetzes nicht der tröstende Neueinsatz Gottes in seinem opus proprium, im Evangelium, bleibt der verklagte Sünder bei sich selbst und wird seinem Wesen entsprechend weiter auf der Bahn des Gesetzes unter der Allmacht Gottes vorangetrieben. Er weiß allein um die materiale Forderung des Gesetzes, die ihm die Kluft zwischen seinem Sein und Sollen zur inneren Gewissheit macht. Solange das Gesetz aber nicht in der Vollmacht des Geistes verkündigt wird70 und also vom erneuernden Handeln Gottes her in die Funktion seines opus alienum eingesetzt ist,71 den Menschen mit der Erkenntnis der Sünde auch seiner schlechthinnigen Ohnmacht vor Gott zu überfuhren, streckt sich der Sünder nicht nach dem rettenden Gott des Evangeliums aus, sondern sucht sich weiterhin selbst zu redintegrieren über die Erfüllung der material bekannten Forderung des verkündigten oder unmittelbar im Gewissen sich meldenden Gesetzes. 4.6.3 Differenz in der Wirkrichtung der Sünde realisierenden Wirkgegenwart Gottes Auch wenn Luther die Predigt von Gesetz und Evangelium mit der Intention und in der Erwartung einschärft, dass Menschen zur Erkenntnis ihrer Sünde gelangen und der Gnade Gottes teilhaftig werden, hütet er sich doch, das Wirken der göttlichen Allmacht, das verborgen wirksame Gesetz, aus der Perspektive des Evangeliums soteriologisch und ontologisch zu finalisieren. Gottes Wirken zum Heil ist partikular; das verkündigte Wort führt nur wenige zur Erkenntnis ihrer Sünde und der Gnade Gottes. Das Faktum der aus menschlichen Voraussetzungen unableitbaren Erwählung ist anzuerkennen. Die in ihrem prädestinierenden Willen unerforschliche Majestät Gottes darf zwar auf keinen Fall zum Gegenstand theologischer Nachforschung erhoben werden. Der Glaube hält sich an den Gott, der sich im verkündigten Wort von Christus als gnädig erweist, und wahrt das Geheimnis des verborgenen Willens Gottes in anbetender Ehrfurcht. 72 70 Vgl. WA 42. 275,1-7 (Genesis. 1535ff): »Qui verbum purum habent, discant id amplecti et pro eo agere Domino gratias et querant Dominum, dum potest inveniri. Ablato enim Spiritu doctrinae etiam Spiritus precum auferetur [...]. Est autem Spiritus gratiae, qui arguit peccata et docet de remissione peccatorum, qui damnat Idolatriam et docet de vero Dei cultu, qui damnat avariciam, libidines, tyrannidem et docet castitatem, patientiam, beneficentiam.« Vgl. auch C1 3. 98,18ff/WA 18. 603,3Iff (DSA. 1525). 71 Vgl. W A 39/1. 370,9-12 (1. Antinomerdisp. 1537): »impossibile est, legem arguere peccatum et movere corda sine Spiritu sancto, qui est creator omnium et legem suo digito scripsit in tabulas lapideas, ut in Exodo legitur.« W A 39/1. 371,If (1. Antinomerdisp. 1537): »lex non arguit peccatum sine Spiritu sancto. Causa est Deus legislator.« 72 Vgl. C1 3. 178,6ff; 182,8ff/WA 18. 685,29ff; 689,18ff (DSA. 1525). Die herme-
112
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Gleichwohl kann er nicht an der anfechtenden Tatsache vorbeisehen, dass Gott Menschen verstockt und unausweichlich im Wesen ihrer Gottesfeindschaft festhält. Gottes aktuose Allmacht treibt sie voran, ohne sie durch das Wirken des Geistes zur Erkenntnis ihrer Sünde und seiner Gnade in Christus zu fuhren, so dass sie mit Notwendigkeit sündigen und zugrunde gehen müssen.73 Selbst wenn Luther auch das verstockende Wirken Gottes etwa an Pharao und Judas in die Perspektive der Bestärkung und Übung des Glaubens sowie der Verlässlichkeit der göttlichen Verheißungen stellt,74 kann die wirkende Allmacht Gottes im Blick auf das Geschick der Verstockten nicht unter dem Vorzeichen des opus alienum Dei interpretiert werden. Weithin stellt sich das Weltgeschehen in Luthers Argumentieren mit vergangenen Ereignungen des Zornes Gottes in der Geschichte in diesem Doppelgesicht dar: Der Heilige Geist stellt in der Schrift die Beispiele der Sintflut und des Untergangs Sodoms vor, »damit die Gemüter zur Furcht Gottes gereizt werden«.75 Auch die profanen Historien beschreiben »nichts anders denn Gottes werck, das ist gnad und zorn [...], welchen man so billich gleuben mus, als wenn sie jnn der Biblien stünden«. 76 Wir sollen sie deshalb lesen und uns einprägen, weil sie zeigen, »wie wünderlich er die Menschenkinder regieret, und wie gar böse der Teufel ist und seine Glieder, damit wir lernen Gott furchten und seinen rat und hülffe suchen, beide jnn grossen und kleinen sachen.«77 Die überlieferten Geschichten vom göttlichen Zorn aber weisen in der Regel aus, dass Gott nur wenige und oft auch nur durch den individuell erlittenen Tod hindurch errettet, während er die Mehrzahl im Unglauben festhält und unwiderruflich der Vernichtung preisgibt.78 Selbst für das edle Heidentum der Antike gibt es nach Luthers Uberzeugung keinen Sonderweg zur Erlösung in Christus. Gott hat sie »verlassen«.79 Auch aus
neutischen Rückgriffe auf seine Schrift Über den unfreien Willen in der Genesisvorlesung schärfen in Abwehr spekulativer Nachfragen nach der paescientia et praedestinatio Dei absconditi (vgl. W A 43. 459,21fF; 463,10ff) dagegen ausschließlich die Glaubensorientierung am deus revelatus ein. Von einer dem Absconditus geschuldeten Reverenz wird hier nichts gesagt; vgl. W A 43. 458,35ff; 462,34f; 463,3ff (Genesis. 1535ff). 73
Vgl. C1 3. 207,3ff; 216,20fF/WA 18. 712,Iff; 7 2 0 , 3 2 f f ( D S A . 1525).
74
Vgl. C1 3. 208,40-209,26/WA 18. 713,25-714,12 (DSA. 1525).
75
»ut excitentur animi ad timorem Dei«; W A 43. 48,21(Genesis. 1535ff).
76
W A 50. 385,15ff (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538).
77
W A 50. 385,31ff (Vorrede zur Historia Galeatii Capellae. 1538).
Vgl. W A 43. 46ff (Genesis. 1535ff): Sintflut und S o d o m ; W A 42. 490,39ff (Genesis. 1535ff): Bauernkrieg; StA 2. 444,12-445,5/WA 8. 68,1-32 (Latomus. 1521); W A 42. 276, I f f (Genesis. 1535A): Endgericht. 78
79 Vgl. C1 3. 139,23-31/WA 18. 651,10-17 (DSA. 1525): » Q u i s Christianorum uel uni Ciceroni, ut Graecos taceam, ingenio, eruditione, diligentia comparandus est? Q u i d igitur obstitisse dicemus, ut nullus illorum ad gratiam peruenire potuerit, qui certe üb. arb. summis exercuerunt uiribus? Nullum uero inter eos fuisse, qui s u m m o studio ad ueritatem contenderit, quis audeat dicere? Et tarnen asseri oportet, nullum peruenisse.
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
113
der Perspektive des Heilsglaubens lässt sich mithin nicht apriori feststellen, Gottes das Wesen der Sünde aktualisierende Allmacht stehe notwendig im Dienste seines opus alienum. Der Glaube ergreift und verkündigt zwar im Vertrauen auf Gottes in Christus offenbaren Heilswillen die gegenwärtige wie die vergangene Gestalt seiner wirkenden Allmacht als zur Buße mahnende Anrede an den Sünder. Aber er vermag sie weder soteriologisch noch ontologisch als solche begrifflich sicherzustellen, muss er doch in der aposteriorischen Betrachtung der Geschichte erkennen, dass Gottes Zorn auch die endgültige Verdammung wirkt. Luthers denkende Eröffnung der Allwirksamkeit Gottes ist in ihrer spezifischen Gestalt als Implikat und Konsequenz des Rechtfertigungsglaubens zu verstehen. Wie die christologische Heilsereignung das organisierende Zentrum seines Wirklichkeitsverständnisses darstellt, so hält Luther mit der Emphase, die er auf den Willen des Deus absconditus in maiestate legt, dessen Unbegreiflichkeit für Erfahrung und ontologisches Denken fest. Entsprechend kann der Versuch einer spekulativen Erhellung der Struktur der Wirklichkeit remoto Christo et loco iustificationis für Luther ausgeschlossen werden. Ebenso wenig begreift Luther das Wesen der Wirklichkeit als universale Entfaltung der Struktur der christologischen Heilsereignung. Das Weltgeschehen lässt sich nach seiner Einsicht nicht universal über eine weisheitliche Interpretation von Kreuz und Auferstehung als dialektischer Prozess der Selbstvermittlung des gnädigen Schöpfers mit seiner sündigen Kreatur verständlich machen. Allenfalls wird man sagen können, dass die Wirklichkeit durch die Erkenntnis der Sünde und den Glauben an das Wort von Christus für die Erfahrung des Menschen neu konstelliert wird: Nicht das blinde Treiben Schicksal bestimmender Mächte, sondern der Zorn Gottes über die Sünde hält das Weltgeschehen in seiner beklemmenden Widersprüchlichkeit und treibt es in dieser voran. Zwar lässt der Verheißungsglaube darauf vertrauen, dass Gott auch unter den nicht verrechenbaren Schickungen der zeitlichen Existenz zum Besten der Seinen wirkt. Aber Erfahrung und geschichtliche Uberlieferung erweisen, dass Gott Menschen unwissend im Widerspruch der Sünde bis zu ihrem Vergehen unter seinem Zorn festhält. Der prädestinierende Wille des in seiner Majestät verborgenen Gottes kann nicht denkend umgriffen werden, aber seine Wirklichkeit ist im Blick auf die Geschichte anzuerkennen. Insofern eröffnet der Glaube die Wirklichkeit im Ganzen als spannungsvolle Einheit zweifacher Wirkgegenwart Gottes. Die SpanAn etiam hie incredibile dices [sc. Erasme], Deum tot tantosque uiros, perpetuo mundi cursu, reliquisse et frustra niti permisisse?« (Hervorhebg. v. Verf.). Das Verb relinquere darf nicht mit sich selbst überlassen wiedergegeben werden, weil diese Übersetzung fälschlich einen relativen Selbstand des Geschöpflichen suggerieren könnte. Luther denkt vielmehr an den Entzug auch des gegen das Nichts erhaltenden Wortes Gottes des Schöpfers, wodurch die Kreatur dem Zerfall in das Nichts, aus dem er sie schuf, preisgegeben ist. Vgl. auch C1 3. 182,27f/WA 18. 689,33f (DSA. 1525): »cum uoluntas maiestatis ex proposito aliquos relinquat et reprobet, ut pereant.« Vgl. dazu die Kritik an Ellert Herms, die vorliegende Untersuchung, 222f, 236-243.
114
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
n u n g b e s t e h t m i t B l i c k a u f die M o d i der W i r k s a m k e i t G o t t e s darin, d a s s die s c h ö p f u n g s e r h a l t e n d e W i r k g e g e n w a r t G o t t e s a u f der e i n e n Seite z u g l e i c h die das S ü n d e r s e i n u n g e b r o c h e n realisierende t r e i b e n d e A l l m a c h t ist, a u f der a n d e r e n Seite aber z u g l e i c h die z u r S ü n d e n e r k e n n t n i s t r e i b e n d e K r a f t ist, s o f e r n der s ü n d i g e h o m o i n c u r v a t u s in s e i p s u m d u r c h die e r n e u e r n d e W i r k g e g e n w a r t d e s in die G e m e i n s c h a f t m i t C h r i s t u s z i e h e n d e n H e i l i g e n G e i s t e s g e ö f f n e t wird. D i e s e S p a n n u n g ist n a c h ihrer W i r k u n g als die Sim u l t a n e i t ä t v o n G n a d e u n d Z o r n , n a c h ihrer F o r m als sich i m G e i s t eröffnende Wortgegenwart und verborgene Weltgegenwart zu bestimmen. A b e r a u c h in der P e r s o n des G e r e c h t f e r t i g t e n b e s t e h t e i n e S p a n n u n g . Einerseits n i m m t der G e i s t d e n S ü n d e r a u s d e m M a c h t b e r e i c h der S ü n d e h e r a u s u n d stellt i h n in die W i r k l i c h k e i t der P e r s o n C h r i s t i ein; andererseits treibt ihn d i e w i r k e n d e A l l m a c h t des S c h ö p f e r s z u g l e i c h z u stetiger A k t u alisierung s e i n e s wurzelhaft: s ü n d i g e n S e i n s , bis der T o d s e i n e m s ü n d i g e n W e s e n ein E n d e setzt. S o ist der T o d die d e n Z o r n G o t t e s e r e i g n e n d e Strafe f ü r die S ü n d e . 8 0 D e r T o d ist zwar das E n d e aller S ü n d e n , aber er ist n i c h t d a s E n d e des gerechtfertigten u n d in C h r i s t u s l e b e n d e n S ü n d e r s . 8 1 D e s s e n L e i b zerfallt zwar wieder z u d e m S t a u b , a u s d e m G o t t i h n u r s p r ü n g l i c h s c h u f . 8 2 A b e r seine S e e l e r u h t - u n d lebt! - in C h r i s t u s , 8 3 bis G o t t i h n auferwecken wird z u m ewigen L e b e n . 8 4 D e r A u f e n t h a l t s o r t der S e e l e ist n i c h t 80 Vgl. WA 42. 244,6-21 (Genesis. 1535ff, zu Gen 5): »Nam et annos hoc in loco numerat et singulari consilio addit de singulis, quod mortui sint. [...] Sed facit hoc Moses certo consilio, ut notet inaestimabilem iram et inevitabilem poenam propter peccatum toti humano generi inflictam. [...] Hoc vult Moses ostendere, cum de toto ordine Patriarcharum, etsi sanctificati et renovati essent per fidem, dicit, quod sint mortui.« 81 Vgl. WA 39/1. 95,16 (Disp. de iustificatione. 1536): »Cum sumus in pulverem redacti, tum demum et peccata penitus extinguentur.« 82 WA 42. 161,16-18 (Genesis. 1535ff): »Adam ex gleba factus est in hominem viventem. Dissoluta igitur compagine ista dicit Dominus futurum, ut iterum in glebam seu pulverem revertatur.« 83 Vgl. WA 43. 360,34-361,3 (Genesis. 1535ff): »Sic anima post mortem intrat suum cubiculum et pacem, et dormiens non sentit suum somnum, et tarnen servat Deum vigilantem animam. [...] Proinde sicut mater defert infantem in cubiculum, ponit in cunas, non ut moriatur, sed ut dormiat et quiescat suaviter, ita ante Christum et multo magis post Christum ingressae sunt et ingrediuntur omnes animae credentium in sinum Christi.« Vgl. auch WA 43. 359,31-38 (Genesis. 1535ff): »Porro hoc loco quaestio agitari potest de statu animarum post hanc vitam. Corpus consumitur putredine et vermibus, sed quid de anima fiat ante diem illum iudicii, quaeritur. [...] Simplex autem responsio est, quam Christus praescribit, cum inquit, Mathaei 22: >Deus non est mortuorum Deus, sed viventium.< Inde certi sumus vivere animas, et dormire in pace, nec torqueri ullis cruciatibus.« 84 Vgl. WA 43. 363,6-13 (Genesis. 1535ff): »De piis certissimum est, quod vivant et ingrediantur in pacem, cuius rei nos quidem multo plura et illustriora exempla et testimonia habemus in novo testamento ex concionibus Christi et Apostolorum, quam patres, qui paucos quosdam locos habuerunt aperte significantes resurrectionem et vitam aeternam.« Luther lehrt den doppelten Ausgang der Geschichte, lässt aber offen, ob die Gottlosen nach ihrem Tod sofort verdammt werden: WA 43. 362,35-42 (Genesis.
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
115
irgendein himmlischer oder irdischer Ort, sondern das Wort, das größer ist als Himmel und Erde:85 Christus selbst.86 4.6.4 Die ontologische Differenz der Modi der Wirkgegenwart Gottes im Sünder Die Unterscheidung von erneuernder Geisttätigkeit und den Sünder unter der Signatur des Zorns voran treibender Allwirksamkeit des Schöpfers wird durch die abstrakte Feststellung des - doch wohl auch von Lilje - ontologisch verstandenen Ausgangspunktes von Luthers Geschichtsanschauung in der Aüeinwirksamkeit Gottes und der Behauptung des hermeneutischen Zugangs in der Selbstverhüllung des Gekreuzigten unkenntlich gemacht.87 Überdies lassen diese formalen Gesichtspunkte übersehen, dass die mit der Christusverheißung notwendig gewordene Unterscheidung von Heilsgegenwart und allgemeiner Weltgegenwart zugleich auf eine ontologische Differenz der Wirkgegenwart Gottes am Ort des Sünders weist: Adam konnte das Gebot des Schöpfers, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, im Stande der Unschuld erfüllen,88 weil er sich noch in ungebro-
1535ff): »Impii vero quando moriuntur, sive olim ante Christum adventum decesserint, sive hodie post exhibitum Christum, simpliciter vadunt ad damnationem. An vero statim incipiat damnatio post mortem, nescimus, quia scriptum est, sistendos esse omnes ad tribunal iudicis, et, Ioannis 5. prodibunt, qui bona fecerunt, in resurrectionem vitae, qui vero mala egerunt, in resurrectionem iudicii.« 85 Vgl. WA 43. 361,9-16 (Genesis. 1535ff): »respiciendum est ad verbum et omnipotentiam Dei. Si enim tribus digitis ponderat coelum et terram Deus, ut Esaiae 40. dicitur, certe verbum eius longe maius et amplius est. Verbum est spacium infinitae amplitudinis. Ideo receptacula animarum sunt verbum Dei sive promissiones, in quibus obdormimus. Leve quidem et exile apparet, quando per os hominis pronunciatur: Sed quando fide id apprehendimus, et in verbo obdormimus, venit anima in spacium infinitum.« (Hervorhebg. v. Verf.). 86
Vgl. WA 43. 358,9-14 (Genesis. 1535ff): »Nos habemus gratiam et donum, ac manifestam et multiplicem scientiam de morte et vita. Siquidem certi sumus salvatorem nostrum Christum Iesum sedere ad dexteram Dei patris, et expectare nos decedentes ex hac vita. Quandocunque igitur excedimus e vivis, ad Episcopum animarum nostrarum egredimur, qui recipit nos in manus suas. Is noster Abraham est, cuius complexu fruimur, is vivit, imo regnat perpetuo.« WA 43. 362,27-32 (Genesis. 1535fif): »Verborum Christi ad latronem haec sententia est: Hodie mecum eris in paradiso, id est, in meo sinu, ubi ego sum, similiter et tu eris, ibi coelum et paradisus idem sunt: nisi quod adhuc apud sanctos quies et pax est, non regnum. Christus est in coelo vel paradiso, ut gubernet, iudicet, regat Ecclesiam, mittat Angelos ad ministerium Ecclesiae, distribuat dona hominibus, exaltet humiles etc. Semper enim operatur, non quiescat.« Vgl. die vorliegende Untersuchung, 234 Anm. 542. Zu Luthers Verständnis von Sterben, Tod und Auferstehung vgl. ALTHAUS, 339-349; NOTGER SLENCZKA, Hoffnung. 87 Vgl. LILJE, 40ff, 68ff. 88 Vgl. WA 42. 83,33ff; 84,27ff (Genesis. 1535ff).
116
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
chenem Glauben aus der Güte Gottes empfing. 89 Er lebte in positiver Erfüllung des Doppelgebots der Liebe.90 Nach dem Fall aber treibt die omnipotentia generalis Dei den Sünder ausschließlich voran, sich selbst gemäß der über seinem Leben stehenden Forderung zu realisieren. Jedoch trifft das Gesetz den Menschen nicht mehr als positive Aufforderung zur Erfüllung des göttlichen Willens, sondern es wird zum negativen Spiegel der Erkenntnis seiner sündhaften Selbstbezogenheit. 91 Er will sich im Gegensatz zu Adam in seiner urständlichen Unschuld gar nicht aus dem Geben des Schöpfers empfangen, weil Gottes Gottsein mit seinem Selbstkonstitutionswillen notwendig konkurriert. Sein Streben ist ausschließlich selbstbezogen, so dass er Gott nicht mehr über alle Dinge lieben kann.92 Solange die Erkenntnis des Gesetzes aber nicht vom Geist gewirkt ist, nimmt der Sünder die materialen Forderungen des Gesetzes mit der Intention auf, sich selbst als das Geschöpf zu verwirklichen, das der ewigen Gemeinschaft mit Gott würdig ist. Diese incurvatio in seipsum wird durch die Wirkgegenwart Gottes nach seiner omnipotentia generalis nicht aufgebrochen. Der Mensch bleibt, weil ihm unter seinem sündigen Selbstkonstitutionswillen auch sein Sich-Empfangen aus der erhaltenden Wirkgegenwart Gottes aufgrund der herrschenden Macht der Sünde verborgen ist,93 trotz der intimsten Präsenz des Schöpfers bei sich selbst und in unüberbrückbarer Distanz zu Gott; 94 denn er begreift nicht die von außen begegnende Stimme des Gesetzes als Aufforderung zum glaubenden Sich-Empfangen aus dem Geben des Schöpfers und Erlösers, sondern als Imperativ, die Kluft zwischen Sein und Sollen, sich und Gott aus eigenen Kräften zu schließen.95 Der Gott des Evangeliums dagegen begibt sich in der Person Christi 89 Vgl. W A 42. 47,8-17 (Genesis. 1535ff); Text vgl. die vorliegende Untersuchung, 99 Anm. 38. 90 W A 42. 47,3ff (Genesis. 1535ff): »Fuit enim in A d a m ratio illuminata, vera noticia Dei et voluntas rectissima ad diligendum D e u m et proximum, sicut A d a m Heuam suam complexus est et statim agnovit ut suam carnem.« 91
Vgl. C1 3. 168,4ff/WA 18. 677,7ff mit C1 3. 2 0 5 , 3 f f / W A 18. 7 1 0 , l l f f ( D S A . 1525).
Vgl. StA 1. 166,22ff/WA 1. 225,Iff; Th.17-19 (Disp. contra scholast. theol. 1517): »17. N o n potest h o m o naturaliter velle deum esse deum. 18. I m m o vellet se esse deum, et deum non esse deum. 19. Diligere deum super omnia naturaliter, Est terminus fictus sicut chymera.« 92
93 Vgl. C1 3. 170,36-171,5/WA 18. 679,23-33 (DSA. 1525): »Scriptum uero talem proponit hominem, qui n o n m o d o sit ligatus, miser, captus, aeger, mortuus, Sed qui addit, operante Satana principe suo, hanc miseriam caecitatis miserjis suis, ut se liberum, beatum, solutum, potentem, sanum, uiuum, esse credat. [...] Proinde Satanae opus est, ut homines teneat, ne suam miseriam agnoscant, sed praesumant sese posse omnia quae dicuntur.« 94 Vgl. C1 3 . 1 7 0 , 4 0 - 1 7 1 , 5 / W A 18. 679,26-30 (DSA. 1525): »Seit enim Satan, quod, si h o m o suam miseriam nosset, nullum retinere in suo regno posset, quod agnitae miseriae et clamantis Deus non possit non statim misereri et auxiliari, ut qui prope esse contritis corde tanta laude praedicetur per o m n e m scripturam.« 95
Vgl. die Fortsetzung des Textes von Anm. 93: C1 3. 171,5-8/WA 18. 679,33-36
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
117
selbst a n die Stelle des Sünders, i n d e m er M e n s c h wird, u m a n seiner Statt d e n v o m G e s e t z g e f o r d e r t e n G e h o r s a m z u erfüllen u n d sich als der für d e n S ü n d e r u n b e d i n g t o f f e n e G o t t i m W o r t der V e r g e b u n g z u z u s p r e c h e n . E r fordert d e n M e n s c h e n n i c h t auf, sich g e m ä ß des i h m v o m G e s e t z G o t t e s g e s e t z t e n Zieles selbst z u realisieren, s o n d e r n begibt sich in der P e r s o n des Geistes w e s e n h a f t a n d e n O r t des e i n z e l n e n S ü n d e r s , 9 6 u m die in C h r i s t u s eröffnete G e m e i n s c h a f t z w i s c h e n G o t t u n d M e n s c h selbst z u realisieren, i n d e m er S ü n d e n e r k e n n t n i s u n d G l a u b e C h r i s t i wirkt. 9 7 N o c h präziser ist m i t L u t h e r zu f o r m u l i e r e n , dass der Geist d e n M e n s c h e n aus d e m M a c h t b e r e i c h der S ü n d e h i n e i n r e i ß t 9 8 in die Gnadenwirklichkeit der
ubiquitärerf
(DSA. 1525): »Mosi uero et legislatoris opus est contrarium, ut per legem homini miseriam suam patefaciat, ut sie contritum et confusum in sui cognitioni, ad gratiam praeparet et ad Christum mittat et sie saluus fiat.« 96 Vgl. W A 40/11. 421,33ff (Psalm 51. 1532Dr.): »Habitat ergo verus Spiritus in credentibus non tantum per dona, sed quoad substantiam suam.« Zum ontologischen und soteriologischen Vorrang der praesentia dei vor der actio dei vgl. die vorliegende Untersuchung, 96ff, inbesondere 98 Anm. 34, die folgende Anm. 99 sowie die Seiten 128-131. 97 Vgl. C1 3. 267,35-268,1/WA 18. 766,25-31 (DSA. 1525): »Is enim est fruetus, id opus, id officium legis, quod ignaris et caecis lux est, sed talis lux, quae ostendat morbum, peccatum, malum, mortem, infernum, iram Dei, Sed non iuuat, nec liberat ab istis, Ostendisse contenta est. Tum homo cognito morbo peccati, tristatur, affligatur, imo desperat. Lex non iuuat, multo minus ipse se iuuare potest. Alia uero luce opus est, quae ostendat remedium. Haec est uox Euangelij ostendens Christum liberatorem ab istis omnibus«; W A 42. 275,4f (Genesis. 1535ff): »Spiritus gratiae, qui arguit peccata et docet de remissione peccatorum«. 98 Vgl. C1 3. 2 8 6 , 2 8 - 4 0 / W A 18. 782,1-11 (DSA. 1525): »Deus ostendit non solum unum, sed omnia bona sua, tum ipsum etiam Christum filium, nec tarnen ullus homo sequitur, nisi intus pater aliud ostendat et aliter trahit [sc. als durch äußeren Anreiz zum Folgen], imo totus mundus persequitur filium, quem ostendit. [...] Impius [...] non uenit etiam audito uerbo, nisi intus trahat, doceatque pater, quod facit largiendo spiritum. Ibi alius tractus est, quam is, qui foris fit; ibi ostenditur Christus per illuminationem spiritus, qua rapitur homo ad Christum dulcissimo raptu, et patitur loquentem doctorem et trahentem Deum, potius quam ipse quaerat et currat.« 99 Vgl. W A 23. 145,5-12 (Daß diese Worte Christi. 1527Dr): »Christus ist zur rechten Gotts, welchs ist nicht anders denn das er auch als ein mensch über alle ding ist, alle ding unter sich hat und drüber regirt. Drumb mus er auch nahe da bey, drynnen und drumb sein, alles ynn henden haben etc. Denn nach der Gottheit ist yhm nichts ubergeben noch unter die fasse gethan, so ers zuvor alles gemacht und erhellt. Sitzen aber zur rechten ist so viel als regiern und macht haben über alles. Sol er macht haben und regiem, mus er freilich auch da sein gegenwertig und wesentlich durch die rechte hand Gotts, die allenthalben ist.« Vgl. WA 23. 133,19-31 (Daß diese Worte Christi. 1527Dr): »Die schrifft aber leret uns, das Gotts rechte hand nicht sey ein sonderlicher ort, da sein leib soll odder müge sein, als auff eym gülden stuel, Sondern sey die almechtige gewalt Gotts, welche zu gleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus. Nirgent kann sie an einigem ort sein, spreche ich. Denn wo sie yrgent an etlichem ort were, müste sie daselbs begreifflich und beschlossen sein, also das es die weil an keinem andern ort sein kan. Die Göttliche gewalt aber mag und kan nicht also beschlossen und abgemessen sein, Denn sie ist unbegreifflich und unmeslich, ausser und über alles, das da ist und sein kan. Widderumb mus sie an allen orten wesentlich und gegenwertig sein, auch ynn dem
118
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Person Christi, in welcher allein die Gemeinschaft von Gott und Mensch als vollkommener Vollzug von Kommunikation zwischen Schöpfer und Geschöpf realisiert ist.100 Der Geist vermittelt nicht zwischen dem auf Distanz haltenden Gott der Majestät und dem Sünder. Er restituiert auch nicht den Menschen als Subjekt des Glaubens, in dessen Kraft der Sünder sich nun wieder selbst in Entsprechung zum göttlichen Willen vollziehen könnte. Vielmehr schafft er die Gemeinschaft zwischen dem Sünder und dem in Christus nahen und für den Sünder offenen Gott, der sich selbst zum verborgenen Begründer und Realisator oder, wie Luther in kritischer Aufnahme der scholastischen Terminologie sagen kann, zum Formprinzip'01 seiner allein im Glauben an Christus gegenwärtigen, jetzt noch unter Kreuz, Anfechtungen und Leiden sich ausarbeitenden eschatologischen Identität macht. »Deshalb sagt [Paulus Gal 2,20]: >Also nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.< Dieser ist mein Seinsprinzip102 [forma], das meinen Glauben schmückt. [...] Christus also, sagt er, der mir so innewohnt und mit mir verschmolzen ist und in mir bleibt, der lebt dieses Leben, das ich führe, in mir; ja das Leben, das ich so lebe, ist Christus selbst. So sind Christus und ich in dieser Hinsicht schon eins. Christus aber, der in mir lebt, tut das Gesetz ab, verdammt die Sünde, tötet den Tod; denn in seiner Gegenwart können diese Feinde nur zunichte werden. Christus ist nämlich der ewige Friede, ewige Trost, Gerechtigkeit und Leben, und denen müssen weichen die Schrecken des Gesetzes, die Traurigkeit des Herzens, die geringsten bawmblat. Ursach ist die: Denn Gott ists, der alle ding schafft, wirckt und enthellt durch seine allmechtige gewalt und rechte hand, wie unser glaube bekennet.« Vgl. C1 3. 389,Iff; 395,28-400,14/WA 26. 318,Iff; 329,27-335,28 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528). Vgl. B A U R , Ubiquität, sowie die vorliegende Untersuchung, 98 Anm. 34. 100 Vgl. Anm. 99 sowie C1 3. 391,20-24/WA 26. 321,20-23 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528): »Ja, die Gottheit kann nicht leiden noch sterben, Soltu antworten: Das ist war, Aber dennoch, weil die Gottheit vnd menscheit ynn Christo eine Person ist/so gibt die schrifft/vmb solcher persönlicher einickeit willen/auch der Gottheit/alles was der menscheit widderferet/vnd widderumb.« C1 3. 393,7f.l8ff/WA 26. 324,22f.32ff: »Wir mengen die zwo vnterschiedliche natur/ynn ein einige person/vnd sagen/Gott ist mensch/vnd mensch ist Gott. [...] Drumb halten wir vnsern Herrn Christum also für Gott vnd mensch ynn einer person/non confundendo naturas/nec diuidendo personam«. 101 Vgl. W A 39/1. 177,3f (Disp. de homine. 1536): »Homo huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam«; W A 40/1. 229,26-30 (Galater. 1535Dr): »Summa: Sicut Sophistae dicunt charitatem formare et imbuere fidem, Sic nos dicimus Christum formare et imbuere fidem vel formam esse fidei. Ergo fide apprehensus et in corde habitans Christus est iustitia Christiana propter quam Deus nos reputat iustos et donat vitam aeternam.« 102 Zur Sachkritik am scholastischen Verständnis und zur Übersetzung von forma mit Seinsprinzip vgl. EBELING, Leben, 327: »Der Mensch kommt nach Luther theologisch nicht als ein compositum aus materia und forma in den Blick. Er ist vielmehr als ganzer pure Materie. Seine forma ist nicht ein ihm eigenes inneres Seinsprinzip, sondern liegt schlechterdings außerhalb seiner in der eschatologischen Zukunft.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
119
Sünde, Hölle und Tod. So hebt der in mir bleibende und lebende Christus alle Übel auf, die mich quälen und plagen, und verschlingt sie. Darum macht diese Einwohnung, dass ichfrei werde von den Schrecken des Gesetzes und der Sünde, dass ich aus meiner Haut heraus komme und in Christus und in sein Reich versetzt werde, das ist das Reich der Gnade, der Gerechtigkeit, des Friedens, der Freude, des Lebens, des Heils und des ewigen Ruhmes. Wenn ich in diesem Reich lebe, kann mir nichts Böses schaden. Derweilen bleibt äußerlich der alte Mensch, der dem Gesetz unterworfen ist. Aber was die Rechtfertigung angeht, müssen Christus und ich völlig verbunden sein, so dass er in mir lebt und ich in ihm. [...] Deshalb aber lebt er in mir, weil, was in mir ist an Gnade, Gerechtigkeit, Leben, Frieden, Heil, das ist Christi selbst, und dennoch ist jenes mein eigen durch die Verschmelzung und Einwohnung, die durch den Glauben geschieht, durch den wir gleichsam ein Leib im Geiste werden.«103 Ausschließlich die »singularis virtus spiritus sui«,104 das Wirken des Geistes Christi, schafft jene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die dem Gerechtfertigten die Gewissheit des ewigen Lebens unverbrüchlich verbürgt.105 Durch diese des ewigen Lebens vergewissernde Gemeinschaft des Sünders mit Christus ist auch das paradiesische Verhältnis von Gott und Mensch weit überboten; denn Gott stellte für Adam die Gabe des ewigen Lebens in Abhängigkeit von dessen Gehorsam gegenüber seinem Gebot.106 103 WA 40/1. 283,26-284,26 (Galater. 1535Dr): »Ideo inquit [sc. Paulus]: >Iam non Ego, sed Christus in me vivit«; Is est mea forma ornans fidem meam. [...] Christus ergo, inquit, sie inhaerens et conglutinatus mihi et manens in me hanc vitam quam ago, vivit in me, imo vita qua sie vivo, est Christus ipse. Itaque Christus et ego iam unum in hac parte sumus. Vivens autem in me Christus abolet legem, peccatum damnat, mortem mortificat, quia ad praesentiam ipsius illa non possunt non evanescere. Est enim Christus aeterna pax, consolatio, iustitia et vita; His autem cedere oportet terrorem legis, moerorem animi, peccatum, Infernum, mortem. Sic Christus in me manens et vivens tollit et absorbet omnia mala quae me cruciant et affligunt. Quare haec inhaerentia facit, ut liberer a terroribus legis et peccati, eximar e cute mea et transferar in Christum ac in illius regnum, quod est regnum gratiae, iustitiae, pacis, gaudii, vitae, salutis et gloriae aeternae-, in illo autem agens, nihil mali potest nocere mihi. Interim foris quidem manet vetus homo, subiectus legi; sed quantum attinet ad iustificationem, oportet Christum et me esse coniunetissimos, ut ipse in me vivat et ego in illo. [...] Quia vero in me vivat, ideo, quicqiud in me est gratiae, iustitiae, vitae, pacis, salutis, est ipsius Christi, et tarnen illud ipsum meum est per conglutinationem et inhaesionem quae est per fidem, per quam effieimur quasi unum corpus in spiritum.« (Hervorhebg. v. Verf.). 104
C1 3. 253,18f/WA 18. 754,7 (DSA. 1525). Vgl. C1 3. 288,16ff/WA 18. 783,17ff (DSA. 1525). 106 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 99 Anm. 38 sowie WA 42. 48,12-16 (Genesis. 1535ff): »Euangelium igitur hoc agit, ut ad illam et quidem meliorem imaginem reformemur, quia in vitam aeternam vel potius in spem vitae aeternae renaseimur per fidem, ut vivamus in Deo et cum Deo, et unum cum ipso sumus, sicut Christus dicit.« - WA 42. 84,36-85,5 (Genesis. 1535ff): »Est magna differentia inter spiritualem Angelorum conditionem et Adae innocentiam. Angeli, ut nunc sunt, non possunt cadere; Adam autem potuit cadere. Fuit enim in tali statu, in quo poterat fieri immortalis, (erat enim sine 105
120
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Selbst also die paradiesische Wirkweise der omnipotentia generalis überwindet bei noch so großer Nähe zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf nicht die soteriologisch relevante ontologische Differenz zwischen Gott und Mensch: Adam ist nicht Christus; Adam ist nicht das kommunikative Geschehen wechselseitiger Teilgabe von Gott und Mensch, sondern der Gott als seinem Gegenüber gehorsame Mensch, das von seinem Schöpfer abhängige Geschöpf. Einzig im Geschehen der Rechtfertigung können Gott und Mensch nicht mehr voneinander getrennt werden, weil der Mensch in Christus ist. »Denn wenn du in Sachen der Rechtfertigung die Person Christi und deine Person trennst, dann bist du unter dem Gesetz, bleibst in ihm und lebst in dir, was bedeutet, tot zu sein vor Gott und verurteilt zu werden vom Gesetz. [...] Aber man muss richtig vom Glauben lehren, dass du durch ihn mit Christus so zusammengeschweißt wirst, dass aus dir und ihm gleichsam eine Person wird, die man nicht trennen kann, sondern die ihm beständig anhangt und sagt: Ich bin wie Christus, und andererseits sagt Christus: Ich bin wie jener Sünder, weil er mir anhangt, und ich ihm. Verbunden nämlich sind wir durch den Glauben zu einem Fleisch und Bein, wie Eph 5 [30 steht] [...]: so, dass dieser Glaube Christus und mich enger verbindet als Mann und Frau verbunden sind.«107
peccato) et ex puerili gloria in immortalem vitam transferri, in qua non posset posthac peccare. Poterat etiam ab ista innocentia puerili ruere in maledictionem, peccatum et mortem, sicut accidit. Immortalis erat Adam, quia habebat conditas arbores, quarum fructus ad conservationem vitae valebant. Immortalitas haec non sie ei erat confirmata, ut impossibile esset eum cadere in mortalitatem.« 107 WA 40/1. 285,15-286,17 (Galater. 1535Dr): »Quare si in causa iustificationis discernis personam Christi et tuam, tum es in lege, manes in ea et vivis in te, quod est mortuum esse apud Deum et damnari a lege. [...] Verum recte docenda est fides, quod per earn sic conglutineris Christo, ut ex te et ipso fiat quasi una persona quae non possit segregari sed perpetuo adhaerescat ei et dicat: Ego sum ut Christus, et vicissim Christus dicat: Ego sum ut ille peccator, quia adhaeret mihi, et ego illi; Coniuncti enim sumus per fidem in unam carnem et os, Eph. 5 [...]: Ita, ut haec fides Christum et me aretius copulet, quam maritus est uxori copulatus.« Zur ontologischen Differenz zwischen Christus und der übrigen Kreatur vgl. auch W A 23. 141, 23-29 (Daß diese Worte Christi. 1527Dr): »Doch ynn Christo ist etwas anders, höhers und grössers fur allen andern Creaturn. Denn ynn yhm ist Gott nicht allein gegenwertig und wesenlich wie ynn allen andern, sondern wonet auch leibhafftig ynn yhm also, das eine person ist mensch und Gott. Und wie wol ich sagen kann von allen Creaturn: Da ist Gott odder Gott ist ynn dem, so kann ich doch nicht sagen: Das ist Gott selbs. Aber von Christo sagt der glaube nicht alleine, das Gott ynn yhm ist, sondern also: Christus ist Gott selbs.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
121
4.6.5 Die ontologische Differenz zwischen dem Personsein Christi und der Christen108 Die Gegenwart des rechtfertigenden Christus am Ort des glaubenden Sünders ist Vollzug beständiger und untrennbarer Wirkgegenwart der Person Christi bzw. des Heiligen Geistes in der Person des Christen. Die von Luther derart innig bestimmbare Wirkgegenwart Christi am Ort des Glaubenden wirft die Frage nach dem ontologischen Status der Neuheit des Menschseins in Christo auf. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Differenz und Analogie zwischen der Gemeinschaft von rechtfertigendem Gott und glaubendem Menschen in Christo einerseits und der Gemeinschaft von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi andererseits besteht. Im Rahmen dieser Fragestellung wird die bis zum jüngsten Tage bleibende spannungsvolle Einheit des Glaubenden zwischen altem und neuem, zwischen äußerem und innerem Menschen, zwischen seinem Sünder- und Gerechtsein vorausgesetzt. Die Untersuchung zielt allein auf den Vergleich der ontologischen Eigenart der heilvollen Gemeinschaft von Gott und Mensch in der Person Christi einerseits und im gerechtfertigten Sünder, sofern er die Neuheit seines Menschseins in Christus durch den Heiligen Geist im Glauben vollzieht. 4.6.5.1 Die Person Christi als Gottes Ereignung der Rechtfertigung des Sünders Auf die kürzeste Formel gebracht besteht zwischen der heilvollen Gemeinschaft von Gott und Mensch in der Person Christi und in der Person des Gerechtfertigten folgende Differenz: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch in Person, ist in Person die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur.109 Christus ist in sich der Vollzug der kommunikativen Gemeinschaft von Gott und Mensch. Diese in der wechselseitigen Gemeinschaft von göttlicher und menschlicher Natur konstituierte Person Christi ist das Heil der Sünder.110 108
Zur Eigenart des Seins der Person Christi bei Luther siehe: ALTHAUS; BAUR, Streit-, GERBER;
H I L G E N F E L D ; LIENHARD; ZUR M Ü H L E N , Jesus
Christus;
N I L S S O N ; R A T S C H O W , Jesus
Christus·,
SCHWARZ, Gott; VORLÄNDER; NOTGER SLENCZKA, Christus. In der Nachfolge dieses christologischen Denkens steht Johannes Brenz, vgl. BAUR, Brenz, 45fF; BRANDY. Vgl. auch OHST. Zur Anthropologie Luthers in ontologischer Perspektive siehe: EBELING, LST I I / 1 - 3 ; ALBRECHT PETERS, Mensch-,
JOEST; HERMS,
Mensch.
Vgl. die zugespitzte Formulierung W A 39/11. 9 7 , 9 - 1 4 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Si servaveritis autem vos hunc articulum simpliciter, quod in Christo sit divina et humana natura et illas duas naturas in una persona [...] et tarnen quod humanitas non sit divinitas, nec divinitas sit humanitas, quod neque illa distinctio, quicquam impediat, sed potius confirmet unitatem!« 109
1 , 0 Vgl. die vorstehenden Anm. 100, 105, sowie C1 3. 3 9 1 , 2 f f . 2 5 - 3 0 . 3 6 f f / W A 26. 319,37ff; 3 2 1 , 2 4 - 2 9 ; 322,20ff (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528): »Denn wenn ich das gleube/das allein die menschliche natur fur mich gelidden hat/so ist mir der Christus ein schlechter heiland/so bedarff er wol selbs eines heilands [...]. Die person (zeige Christum) leidet/stirbet/Nu ist die person warhafftiger Gott/drumb ists recht
122
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Der Gerechtfertigte hingegen hat allein im Außer-sich-Sein, in der Person des Christus, innigste Gemeinschaft mit Gott. Luther legt das Gewicht seiner Argumentation auf die Einheit der Person Christi: »Wir sagen nicht/das Gottheit sey menscheit/odder Gottliche natur sey menschliche natur/welches were die natur ynn ein wesen gemenget/Sondern wir mengen die zwo vnterschiedliche natur/ynn ein einige person/vnd sagen/Gott ist mensch/vnd mensch ist Gott.« 111 Die Vereinigung von Gott und Mensch beschreibt Luther so, dass die göttliche Person - das Wort - in wesenhafter Identität mit der göttlichen Natur die menschliche Natur, nicht eine menschliche Person angenommen habe.112 Reinhard Schwarz betont das gegenüber der ockhamistischen Sicht neue Verständnis Luthers von der Person Christi: Die Annahme der menschlichen Natur ist ein Geschehen, das das Sein der Person bleibend bestimmt: »Jene Person ist Gott und Mensch, ist ein und dieselbe Person, die vor Erschaffung der Welt da war, auch wenn der Mensch nicht aus Maria der Jungfrau geboren war vor der Welt, war dennoch der Sohn Gottes, der jetzt Mensch ist.«113 Gottes eigenes Sein rückt damit im Gegensatz zum tradierten philosophischen Dogma von der Unwandelbarkeit Gottes unter den Gesichtspunkt der Veränderung: »Dem Einwand Deus non potest crucifigi aut pati, hält Luther entgegen, dass Gottes personales Sein nicht nur in ewiger Unveränderlichkeit zu begreifen ist, sondern selber das fieri der Menschwerdung in sich begreift.«114 Der Reformator fasst diese Uberzeugung in folgendes Argument: »Von Ewigkeit her hat er nicht gelitten, aber nachdem er Mensch geworden ist, ist er leidensfahig. Von Ewigkeit her war er nicht Mensch, aber gleich mit der Empfängnis aus dem heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau, wird Gott und Mensch eine Person und gered/Gottes son leidet/Denn ob wol das eine stück (das ich so rede) als die Gottheit/ nicht leidet/so leidet dennoch die person/welche Gott ist/am andern stücke/als an der menscheit/Gleich als man spricht/Des königes son ist wund/so doch allein sein bein wund ist. [...] Denn in der warheit/ist Gottes son fur vns gecreutzigt/das ist/die person/ die Gott ist/Denn sie ist/Sie (sage ich) die person ist gecreutzigt nach der menscheit.« 111
C1 3. 3 9 3 , 5 - 8 / W A 26. 324,20-23 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528).
W A 39/11. 117,22-27.35-118,4 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Si diceretur: Persona divina suscepit humanam naturam, id est personam, tunc essent duae personae, quod non concedimus. N o n enim sunt duae substantiae etc. [...] Christus homo, id est persona divina, quae suscepit humanam naturam, persona enim non suscepit personam. [...) Humanitas enim in Christo significat naturam humanam assumptam, non subsistentem. Sed h o m o significat personam subsistentem.« W A 39/11. 103,6ff (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Christus [...] est verbum divinum et increatum, quod significat substantiam et personam, quia verbum divinum est divinitas.« 112
113 W A 39/11. 101,10-14 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »illa persona est Deus et h o m o , est una persona et eadem, quae est ante m u n d u m creatum, etiamsi non erat h o m o natus ex Maria virgine ante mundum, tarnen filius Dei erat, qui nunc est homo.« 114
SCHWARZ,
Mensch,
305.
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
123
kommen Gott und Mensch dieselben Prädikate zu. Hier ist die Einung der Person geschehen. D a gehets ineinander Menschheit und Gottheit. [...] Da heists Christus, der Sohn Gottes, der nicht leidensfähig ist, [wird] Gott und Mensch, wird gekreuzigt unter Pontius Pilatus.«115 Die Person Christi ist das Werden und der kommunikative Vollzug der Gemeinschaft von Gott und Mensch in der bleibenden Unterschiedenheit der beiden Naturen. Zugleich ist die Gemeinschaft von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi enger als die Verbindung von Leib und Seele im Menschen und im Unterschied zu dieser auch unauflöslich. 116 Die Annahme der menschlichen Natur durch die göttliche Person ist also nicht zu verstehen im Sinne des von den Ockhamisten vorgetragenen Verständnisses der hypostatischen Union als suppositaler Union: »Die hypostatische Union in der Form der suppositalen Union besteht darin, dass eine >Naturemporgehalten< (sustentari) und so durch ein anderes Einzelwesen zur Erscheinung gebracht wird, obgleich diese emporgehaltene Natur auch durch sich selbst als selbständiges Einzelwesen in Erscheinung treten könnte.« 117 In dieser Konstruktion konstituiert die menschliche Natur die christologische Person jedoch nicht mit: »Die Natur, die in suppositaler Weise in die Einheit eines Suppositum oder einer Person aufgenommen wird, wird dadurch nicht selber zur Person, sondern wird nur von der Person >emporgehaltenDeus est homo< besagt am Ende: die menschliche Natur bietet in ihrer suppositalen Dependenz eine nebensächliche, unwesentliche Bestimmung für die göttliche Person, die als suppositaler Träger die menschliche Natur zur Einzelerscheinung erhebt. Wiederum wird für die menschliche Natur innerhalb der suppositalen Union nur eine nebensächliche Bestimmung von seiten der göttlichen Natur mitbezeichnet, dass nämlich der göttlichen Person neben der angenommenen menschlichen Natur noch eine wesenseigene göttliche Natur zugehört.« 120 Das philosophische Dogma von der Unvereinbarkeit geschaffenen und ungeschaffenen Seins schließt die Teilhabe der menschlichen Natur am Personsein der aufnehmenden göttlichen Person aus. Sie steht in ausschließlicher Abhängigkeit von der sie zur Einzelerscheinung erhebenden göttlichen Person.121 Gottheit und Menschheit bleiben sich in diesem unter anderem von Gabriel Biel vertretenen Verständnis der hypostatischen Union wechselseitig fremd. 122 Prädikate wie creatura, passibilis etc. können von Christus nur secundum humanitatem ausgesagt werden. »Denn in der suppositalen Union haben die beiden unterschiedlichen Naturen keine Kommunikation ihrer Eigentümlichkeiten aufgrund eines identisch personierten Seins. [...] Es fehlt ein personaler Identifikationspunkt von Deus und homo.« 123 Im Resultat bedeutet dies, »dass die christologischen Sätze [...] nicht anders von Gott und Mensch, vom Schöpfer und vom Geschöpf reden als alle übrige theologische und philosophische Rede: Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch.« 124 Dagegen hält Luther, es sei gewiss, »dass alle Begriffe in Christus eine neue Bedeutung annehmen, während die bezeichnete Sache dieselbe bleibt.«125 Die wechselseitige kommunikative Gemeinschaft von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi begründet - bei gleichzeitiger Erhaltung ihrer ontologischen Eigenart je für sich - ein ontologisch singuläres Novum, dem ein neues Reden von Gottheit und Menschheit in Christus entspricht: »Denn hie mus man nicht reden nach dem die wesen vnterschieden vnd zweyerlei sind an yhn selbs [...] sondern nach dem wesen der einickeit/nach dem solche vnterschiedliche wesen/einerley wesen sind worden!ein iglichs auff seine weise/Denn es ist auch ynn der warheit also/das Mensch, 2 9 8 . Mensch, 327f. 121 Vgl. SCHWARZ, Mensch, 299f. 122 BAUR, Christologie, 193, charakterisiert das suppositale Verständnis der hypostatischen Union als »frigide Konstruktion«, die »unverträglich ist mit einem Glauben, der aus dem Evangelium, dem >Geschrei von der Barmherzigkeit Gottes« lebt«. 123 SCHWARZ, Mensch, 3 2 8 . 124 SCHWARZ, Mensch, 3 3 3 . 125 W A 39/11. 94,17f; Th. 20 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Certum est [...] omnia vocabula in Christo novam significationem accipere in eadem re significata.« 119
SCHWARZ,
120
SCHWARZ,
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
125
solche vnterschiedliche naturn so zu samen komen ynn eins/warhafftig ein new einig wesen kriegen aus solcher zu samen fugung/nach welchem sie recht vnd wol/einerley wesen heissen/ob wol ein iglichsfur sich sein sonderlich einig wesen hat.«126 Die Prädikate geschöpflichen Seins erhalten in Christus eine neue Bedeutung, weisen zugleich auf einen neuen Sachverhalt und bewahren dennoch ihre Identität als Aussagen über geschöpflich-menschliche Sachverhalte. Die Begriffe Mensch oder Geschöpf weisen in der christologischen Personeinheit auf denselben Sachverhalt wie außerhalb dieser Personeinheit: Christus ist wahrer Mensch, ist wirklich Geschöpf. Antimanichäisch gewendet argumentiert Luther: »Was were sonst derselb mensch, mit dem sich Gott personlich vereinigt, wenn er nicht rechte menschliche idiomata haben solt? Es müste ein gespenst sein, wie die Manicheer zuvor hatten gelert.«127 Gleichwohl, in Christus und ausschließlich in der Konkretheit dieser Person bezeichnet Mensch die göttliche Person, die die menschliche Natur völlig in sich aufgenommen hat.128 Das Wort Geschöpf, das im normalen Sprachgebrauch das vom Schöpfer in unendlichen Weisen getrennte Wesen meint,129 bezeichnet in der Person Christi das mit der Gottheit in unaussagbarer Weise verbundene geschaffene menschliche Sein.130 Alle der Gottheit oder der Menschheit Christi zukommenden Prädikate können und müssen aufgrund der communicatio idiomatum in der konkreten, singulären Einheit der Person Christi auch von der jeweils anderen Natur ausgesagt werden.131 Innerhalb und aufgrund der Einheit der Person, aber nur in diesem christologischen Sprachzusammenhang, kann Luther dann wie vom Deus incarnatus auch vom homo deificatus sprechen.132 Gleich126
C1 3. 461,9-17/WA 26. 443,25-32 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528; Hervorhebg. v. Verf.). 127 W A 50. 589,3 Iff (Von den Konziliis und Kirchen. 1539). 128 W A 39/11. 94,17f (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Ergo aliter significat in Christo homo, id est persona divina, quae suscepit humanam naturam.« 129 W A 39/11. 94,19f (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Nam creatura veteris linguae usu et in aliis rebus significat rem a divinitate separatam infinitis modis.« (Hervorhebg. v. Verf.). 130 W A 39/11. 94,2lf (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Novae linguae usu significat rem cum divinitate inseparabiliter in eandem personam ineffabilibus modis coniunctam.« (Hervorhebg. v. Verf.). 131 Vgl. W A 39/11. 98,15-20 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Ideo ut capere aliquomodo possimus, dedit Deus formulas loquendi, quod Christus sit Deus et h o m o in una persona, et non sunt duae personae, sed duae naturae unitae sunt in una persona sie, ut, quod ab humana natura fit, dicatur etiam fieri a divina, et e contra. Sic filius Dei est mortuus et sepultus in arenis ut omnes alii, et filius Mariae ascendit in coelos, sedet ad dextram patris etc.« W A 39/11. 98,7-10 (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540): »Non sunt duo filii [...] non duae personae [...] sed propter unitam coniunctionem et unitatem duarum naturarum fit communicatio idiomatum, ut, quid uni naturae tribuitur, tribuitur et alteri, quia fit una persona.« 132 Siehe StA 2. 516,11-20/WA 8. 126,23-32 (Latomus. 1521): »Nam qui de peccato et gratia, de lege et Euangelio, de Christo et homine volet Christianiter disserere, oportet ferme non aliter quam de deo et homine in Christo disserere. Vbi cautissime obser-
126
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
zeitig aber sind innerhalb der Einheit der Person Christi göttliche und menschliche Natur auch weiterhin zu unterscheiden:133 Wie beispielsweise die Menschheit Christi die Ursache der Leidensfähigkeit der ganzen Person nach ihren beiden Naturen ist,134 so ist die Gottheit Christi die Ursache ihrer erlösenden Kraft nach ihren beiden Naturen.135 Christus ist auch kein allmächtiger Mensch. Die solches behaupten, »mengen die tzwo natur und yhr werck ynn eynander unweyßlich«.136 Aber aufgrund der Einheit der Person Jesu Christi kann gesagt werden: »Dieser Mensch hat die Welt geschaffen« - »Dieser Gott hat gelitten«.137 Das neue Reden von Gott und Mensch entspricht ihrer unbegreifbaren und deshalb unaussprechlichen Verbundenheit in der Person Christi: »Ich zeige auff den menschen Christum/vnd spreche/Das ist Gottes son/odder dieser mensch ist Gottes son/ hie ist nicht von nöten/das die menscheit vergehe/odder werde zu nicht/ damit das wörtlin (das) auff Gott deute vnd nicht auf den menschen [...] sondern die menscheit mus bleiben/Dennoch ist mensch vnd Gott/viel uandum, vt vtramque naturam de tota persona enunciet, cum omnibus suis propriis, et tarnen caueat, ne quod simpliciter deo, aut simpliciter homini conuenit, ei tribuat. Aliud enim est, de deo incarnate, vel homine deificato hqui, et aliud de deo vel homine simpliciter. Ita aliud est peccatum extra gratiam aliud in gratia, vt possis imaginari gratiam seu donum dei esse impeccatificatum, et peccatum gratificatum, quam diu hie sumus, vt propter donum et gratiam peccatum iam non peccatum sit.« (Hervorhebg v. Verf.). - Zur Rede von der Vergöttlichung des gerechtfertigten Menschen in der finnischen Theosislehre sowie zu deren Kritik vgl. die vorliegende Untersuchung, 135-147. 133 Vgl. vorstehende Anm. 134 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 118 Anm. 100, sowie C1 3. 400, 11 ff/WA 26. 335,26ff (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528): »sie [sc. die Menschheit Christi] ist mit Gott eine person/das wo Gott ist/da ist auch der mensch/Was Gott thut/das heist auch der mensch gethan/Was der mensch leidet/das heist auch Gott gelidden.« C1 3. 406,2-7/WA 26. 341,7-12 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528): »Ausser den Creaturn ist nichts denn Gott/vnd diese menscheit ist darnach auch ausser den Creaturn/So mus sie sein/da Gott ist [...] Wesentlich aber kann sie nicht Gott sein/aber weil sie oben aus vber alle Craetur an den wesentlichen Gott reicht vnd klebt/vnd ist/da Gott ist/so mus sie zum wenigsten personlich Gott sein/vnd also auch an allem ort sein da Gott ist.« (Hervorhebg. v. Verf.). 135 WA 10/1.1. 199,14ff (Weihnachtspostille. 1522): »Darumb ists nit der menscheyt Christi tzutzuschreyben, das sie unß lebendig mach, ßondernn ynn dem wort ist das leben, wilchs ynn dem fleisch wonet und durchs fleysch unß lebend macht.« W A 40/1. 441,14-27 (Galater. 1535Dr): »quam necessarium sit credere et confidere articulum de Divinitate Christi. [...] Vincere enim peccatum mundi, mortem, maledictionem et iram Dei in semetipso non est ullius creaturae, sed divinae potentiae opus. Igitur necesse est Ilium qui in seipso isti vicit, vere et natura Deum esse. [...] Quia vero Scriptura tribuit Christo ista omnia, ideo ipse est Vita, Iustitia et Benedictio quae naturaliter et substantialiter Deus est.« W A 42. 170,31-34 (Genesis. 1535ff): »dici potest Naturam humanam in Christo non redimere nos, sed quia natura humana corporaliter per divinitatem apprehensa est et Christus, Deus et homo, est una persona, ideo redemptio valet. Ideo Filius hominis dicitur et est Salvator.« 136 W A 10/1.1. 150,lf (Weihnachtspostille. 1522). 137 W A 39/11. 93,8f (Disp. de divinitate et humanitate Christi. 1540).
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
127
vnterschiedlicher vnd weiter von einander vnd widdernander/denn brod vnd leib/fewr vnd holtz/odder ochs und esel/wer macht hie/das zwo so vnterschiedliche natur ein wesen werden!vnd eine die ander gesprochen wird? O n zweifei nicht die wesentliche einickeit der naturn (denn es sind zwo vnterschiedliche natur vnd wesen) sondern die personliche einickeit/Denn obs gleich nicht einerley wesen ist nach den naturn/so ists doch einerley wesen nach der person.« 138 4.6.5.2 Glaube als Vollzug exzentrischen Personseins in Christus Im Unterschied zu Jesus Christus kann der Glaubende hinsichtlich seiner Neuheit in Christus nicht als persona, als res per sese existens verstanden werden. Das schließt nicht aus, dass der Mensch - zumindest in seinem Weltverhältnis - auch personhafte Züge trägt. 139 Aber es kommt im Zusammenhang dieser Überlegung darauf an, was der Mensch in Christus ist. Da aber zeigt sich folgender Unterschied: Die Person Jesu Christi ist in sich das kommunikative Geschehen der Einheit von Gottheit und Menschheit, der personbildende göttliche Logos ist durch Einung mit der menschlichen Natur selbst unauflöslich durch diese bestimmt. Das Personzentrum des durch die Neuheit des Glaubens bestimmten Menschen bleibt diesem gegenüber jedoch extern. Vielmehr verhält es sich so, »daß sein Bleiben und Bestehen an etwas, was es nicht selbst ist, an Christi Leben hängt.« 140 Würde der Glaubende sich als in sich zentrierte Person definieren, stünde er vielmehr weiterhin unter dem verdammenden Urteilsspruch des Gesetzes. 141 C1 3. 458,6-17/WA 26. 440,34-441,8 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528; Hervorhebg. v. Verf.). 139 Vgl. JOEST, 237: »für die Betrachtung des Menschen [...] in seinem Verhältnis und Verhalten zu den Weltdingen [...] würde Luther dem substanzialen Personbegriff kaum bestritten haben, daß er gewisse den Menschen auszeichnende Züge zutreffend anspricht.« Zugleich gilt: »Das bliebe aber in Luthers Sicht ein subsidiärer Aspekt des Menschseins, der gerade nicht den Grundriß darbietet, der sich auch in die Region des den Menschen als Mensch eigentlich bestimmenden Gottesverhältnisses hinein durchhält.« (JOEST, 238 Anm. 12). Vgl. auch die vorliegende Untersuchung, 132 Anm. 158. 138
140 HERMANN, These, 182, zitiert nach JOEST, 269 Anm. 121, der selbst vom »enklitischen« oder auch »exzentrischen« Charakter des Personseins bei Martin Luther spricht.
(Vgl. JOEST, 233FF>. 141 Vgl. WA 40/1. 285,15-286,17 (Text s. die vorliegende Untersuchung, 120 Anm. 107). Siehe dazu JOEST, 261. Joest zufolge ist die exzentrische Situation des Menschen in seinem Gottesverhältnis fundamental. Auch für den homo ante peccatum sei im Sinne Luthers zu sagen: »Was zum Menschen gehört, ist dies, daß er nicht in immanenter Qualität, sondern nur aus dem Mit-Sein Gottes, und nicht in Werken, die aus solcher Qualität hervorgehend die seinen sind, sondern nur mitgenommen im Wirken Gottes geistlich leben kann. Was zum Menschen als Mensch gehört, ist also seine geistliche Nicht-Subjektivität. Sie wäre auch und gerade da gegeben und von ihm selbst anerkannt, wo er ganz und ungeteilt im Willen Gottes lebte. Was nicht zum Menschen als Mensch gehört, aber faktisch in der Sünde >zwischeneingekommen< ist und deren tiefstes Wesen ausmacht, ist dies, dass der Mensch sich im Gegenüber zu Gott Subjektivität zumißt, daß er also aus und in sich im Rechten sein will, seine wahre, nämlich exzentrische Situation
128
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
Dagegen ist Christus die Person aller Menschen.142 In Christus ist das Personzentrum des durch die Neuheit geschenkten Glaubens bestimmten Menschen exzentrisch situiert. Dieser hat im Glauben als exzentrische Beziehungswirklichkeit, was Christus in Person und wesenhaft ist als Vollzug der Vermittlung von Gottheit und Menschheit. In der nicht zu überbietenden Nähe des am Ort des Sünders gegenwärtigen Christus waltet dennoch die Unterschiedenheit der Person Christi und der Person des an sich Sünder bleibenden Menschen, wenn sie auch enger verbunden sind als Mann und Frau in der Ehe. 1 4 3 Sie sind gleichsam eine Person geworden, der Glaubende ist wie (ut) Christus, Christus wie (ut) der Sünder geworden. 144 Trotz innigster Verbundenheit und Verschmelzung aber wird aus dem im Menschen inwirkenden Christus und dem von Christus ergriffenen Menschen keine persona, keine res per sese exsistens: »Undt wie nun eine unzertrenliche person gemacht ist aus Christo, der gott undt Mensch ist, also wirdt nun aus Christo undt uns auch ein leib undt fleisch, das sein Fleisch in uns undt unser fleisch in ihm ist, das er auch wesentlich wohnhafftig in uns ist, sein fleisch und blutt etc. Aber das ist eine andere Vereinigung den eine personliche Vereinigung, sie ist nicht so hoch und gros als die Vereinigung [sc. Gott und Mensch in Christus/.«14S nicht anerkennt und gerade damit im Unrechten ist. Darum kann jetzt und für diesen Menschen, der wir faktisch sind, das Bekenntnis zu dem Leben aus dem Mit-Sein und Wirken Gottes nur Bekenntnis der Sünde, accusatio sui werden.« 142 Vgl. WA 40/1. 437,13f.20-27 (Galater. 1535Dr): »Deus non posuit peccata nostra in nos sed in Christum filium suum. [...] cum videret misericors Pater per legem nos opprimi et sub maledicto teneri nec ulla re nos posse ab eo liberari, quod miserit in mundum filium suum in quem omnia omnium peccata coniecit et dixit ad eum: [...] tu sis omnium hominum persona qui feceris omnium hominum peccata, tu ergo cogita, ut solvas et pro eis satisfacias.« (Hervorhebg. v. Verf.). WA 40/1. 439,13ff.23-27 (Galater. 1535Dr): »Sed quia in eadem illa persona quae est summus, maximus et solus peccator, est quoque aeterna et invicta iustitia, ideo congrediuntur ilia duo: summum, maximum et solum peccatum et summa, maxima et sola iustitia. [...] Is [sc. peccatum, Deus maximus ac potentissimus] incurrit in Christum et vult eum, ut alios omnes, devorare. Sed non videt eum esse personam invictae et aeternae iustitiae. Ideo necesse est in hoc duello vinci et occidi Peccatum et Iustitiam vincere et vivere. Sic in Christo vincitur, occiditur et sepelitur universum Peccatum et manet victrix et regnatrix Iustitia in aetemum.« WA 40/1. 440,26-30 (Galater. 1535Dr): »>In Semetipso< facit duellum istud mirabilius et illustrius; ostendit enim tantas res (scilicet, ut maledictio, peccatum, mors destruantur et in locum illorum benedictio, iustitia, vita subrogentur) deberegeri in unica illa persona Christi atque ita per earn mutari totam creaturam.« (Hervorhebg. v. Verf.). 143 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 120 Anm. 107. JOEST, 376, schreibt: »Christus wird in der Vereinigung mit ihm selbst, die im Glauben geschieht, der Träger der Person des Menschen und seines geistlichen Lebensaktes - imputative und effektive. Die Person des Menschen selbst wird darin nicht aufgehoben. Sie wird aber bestimmt als das durch und durch >enklitische< Selbst, das sein eigenes Verhalten (im Grundlebensakt coram Deo) nicht >vermagVivo iam n o n ego, sed vivit in me Christus< etc., Et hic: >Christus induistis.< (Hervorhebg. v. Verf.). 150 Vgl. W A 23. 151,1-11 (Daß diese Worte Christi. 1527): »Das die rechte Gotts an allen enden ist, aber dennoch zugleich auch nirgent u n d unbegreifflich ist, über u n d ausser allen creaturen. Es ist ein unterscheid unter seiner gegenwertickeit u n d deinem greiffen. Er ist frey u n d ungebunden allenthalben wo er ist, u n d mus nicht da stehen als ein bube an pranger odder hals eisen geschmidet. [...] Also auch Christus: o b er gleich allenthalben da ist, lesst er sich nicht so greiffen u n d tappen.« 151 W A 40/1. 545,33ff (Galater. 1535Dr): »Proponit autemperverbum, cum aliterproponi non possit quam per verbum neque aliter apprehendi quam perfidem.« (Hervorhebg. v. Verf.). C1 3. 511,25-37/WA 26. 505,42-506,12 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528): »Darumb hat darnach der son sich selbs auch vns gegeben/alle sein werck/leiden/weisheit vnd gerechtickeit geschenckt vnd vns dem Vater versunet/damit wir widder lebendig vnd gerech t/auch den Vater mit seinen gaben erkennen vnd haben möchten. Weil aber solche gnade niemand nütze were/wo sie so heymlich verborgen bliebe/vnd zu vns nicht komen kündte/so kompt der heilige geist vnd gibt sich auch vns gantz v n d gar/der leret vns solche wolthat Christi/vns erzeigt/erkennen/hilffi: sie empfahen vnd behalten/nützlich brauchen vnd austeilen/mehren vnd f o d d e r n / V n d thut dasselbige beide ynnerlich vnd eusserlich/Ynnerlich durch den glauben vnd ander geistlich gaben. Eusserlich aber durchs Euangelion/durch die tauffe/vnd sacrament des altars/durch welche er als durch drey mittel odder weise/zu vns kompt vnd das leiden Christi y n n vns vbet v n d zu nutz bringet der Seligkeit.« Das richtige Verständnis der Allgegenwart Gottes ist nicht n u r
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
131
da ist, u n d w e n n er dir da ist. D e n n aber ist er dir da, w e n n er sein wort d a z u thut u n d b i n d e t sich damit an u n d spricht: H i e soltu m i c h finden.«152 Wilfried Joest charakterisiert die Veränderung des M e n s c h e n durch das Geist-Wort Gottes als eine »Subjektsumkehrung i m geistlichen Bereich«. 153 D e r G l a u b e n d e existiert »durch u n d durch exzentrisch oder [...] enklitisch«, 154 d e n n er setzt sich in der N e u h e i t seiner Person n i c h t m e h r als Träger seiner Eigenschaften u n d A u t o r seines Verhaltens, n i c h t m e h r als Subjekt seines Seins an, s o n d e r n erkennt G o t t allein dieses Prädikat zu. 1 5 5 Entsprechend wird i m Bereich des dieser N e u h e i t e n t s p r e c h e n d e n R e d e n s v o m M e n s c h e n »die Aussage, was u n d w i e der M e n s c h >istNameNos in hoc gloriamus, quod in conspectu [...] tuo sancti sumus, quia cum sanctis sanctus es tu. Hoc est, ut novam et admirabilem afferamus glosam, cum peccatore sanctus eris. Nam sanctus ille, cum quo deus sanctus est, nullus est, nisi qui sibi negat, deo soli tribuit sanctitatem, retento per veracem confessionem sibi soli peccato.«< (Lutherzitat im Zitat: WA 5. 520,25-30; Operationes in psalmos. 1519-21). 156
Dieses Urteil wird bestätigt durch Luthers Verständnis der urständlichen Gottebenbildlichkeit Adams (siehe die vorliegende Untersuchung, 98ff). Gleichwohl ist die Differenz zwischen urständlicher Exzentrizität und Exzentrizität des Menschen in Christo hinsichtlich der Eigenart und Intensität der Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Geschöpf zu beachten, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wird. 157 WA 2. 530,8-11 (Galater. 1519): »In Christo omnia omnibus communia, omnia unum et unum omnia.[...] In Christo Iesu neque circumcisio aliquid valet neque praeputium, sed fides et nova creatura. Iccirco Christianus sive fidelis est homo sine nomine, sine specie, sine differentia, sine persona«. Vgl. dazu BAUR, Aktualität, 41.
132
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
sucht, sondern völlig präsent im jeweilen erforderlich werdenden Dienst des Nächsten steht. 1 5 8 Luther betont jedoch, ähnlich wie im Blick a u f die Einheit der Person Christi in der Unterschiedenheit v o n göttlicher und menschlicher Natur, die völlige Gemeinschaft v o n Christus und Christen in ihrer Unterschiedenheit. Sie sind, daraufliegt Luthers argumentatives Interesse, verbunden im Glauben, untrennbar, »gleichsam ein Leib im Geist«. 159 W e n n es u m seine Rechtfertigung vor Gott geht, soll sich der M e n s c h gerade nicht als apartes Subjekt gegenüber Christus betrachten, 1 6 0 sondern die völlige Vereinigung v o n Christus und Selbst vor Augen halten, die Paulus als wechselseitige Inexistenz v o n Christus und Glaubendem zur Sprache bringt. 161 Der durch das W o r t und den Geist Gottes gewirkte Glaube ist als Wirkgegenwart Gottes der Vollzug der heilsamen Gemeinschaft v o n Gott und M e n s c h in der Person des Christen. 1 6 2 Der innere M e n s c h wird ganz eins mit dem W o r t Gottes, »gleich wie das Eisen glutrot wird wie das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer.« »[A]llein das W o r t und der Glaube regieren die Seele«. 163 W e r den W o r t e n Gottes »mit einem rechten Glauben anhängt, des Seele wird mit ihm vereinigt so ganz und gar, dass alle Tugenden des W o r t e s 158 Vgl. WA 5. 39,1-6 (Operationes in psalmos. 1519-21): Der freie Mann, der Glaubende »dat fructum suum in tempore suo, quocies opus sit eius opera Deo et hominibus. Ideo neque fructus habet nomen neque tempus eius habet nomen neque ipse habet nomen neque rivi aquarum eius habent nomen: unus non uni nec uni tempore, loco, opere, sed omnibus ubique per omnia servit, estque vere vir omnium horum, omnium operum, omnium personarum et imagine sui patris omnia in omnibus et super omnia.« Im Blick auf diese den Christenmenschen sowohl hinsichtlich seines Glaubens wie auch seiner Werke exzentrisch, in Christus, im anderen und vom anderen her bestimmenden Sätze Luthers erscheint es begrifflich zunächst irreführend, wenn Joest - offensichtlich vom Interesse der Anschließbarkeit des reformatorischen Denkens an das technisch-rationale Selbst- und Weltverständnis der Moderne geleitet - in der Lutherschen Anthropologie doch eine »konzentrisch-aktive Struktur [...] zur Welt hin« meint zeigen zu können (JOEST, 312) und den Reformator im tätig-vernünftigen Weltbezug »dem Menschen eine legitime Subjektivität« (JOEST, 314) zubilligen sieht. Allerdings zieht er seine Überlegungen zu einer wie auch immer zu denkenden Ko-Subjektivität des Menschen bei Luther wieder deutlich zurück: »Man würde das freilich, um Luthers Denkweise genau zu fassen, besser ein /»-Wirken in Gottes Wirken als ein Mit-wirken mit ihm nennen.« (JOEST, 3 1 8 ) . Ein so bestimmtes cooperari hominis cum et in deo aber ist mit Vorstellung und Begriff neuzeitlicher Subjektivität unverträglich. Zu Luthers Verständnis des menschlichen Mitwirkens mit Gott vgl. SEILS, Gedanke-, J O E S T , 310-320; VORSTER, 380-392; D U C H R O W , 512ff; PLATHOW; EBELING, LSt II/3, 581621; LINK, Schöpfung 1, 65-75. Vgl. auch die vorliegende Untersuchung, 36 Anm. 58, 43ff Anm. 85, 96ff, 137f Anm. 191, 171ff, insbesondere 172 Anm. 291. 159 WA 40/1. 285,15ff (Galater. 1535Dr), Text siehe die vorliegende Untersuchung, 120 Anm. 107. 160 Vgl. WA 40/1. 285,15-286,17 (Galater. 1535Dr). 161 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 115, 120, 127ff. 162 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 130 Anm. 151, Text WA 40/1. 545, 33ff (Galater. 1535Dr). 163 WA 7. 24,34f.33 (Freiheit. 1520, umgestellt).
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
133
auch eigen werden der Seele und also durch den Glauben die Seele von dem Gotteswort heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird«.164 Aber auch diese Metaphern intensivster Vereinigung und Übereignung heben nicht den Tatbestand auf, dass das Personsein des Glaubenden exzentrisch in Christus konstituiert ist. Sein Personzentrum, »die Seele [, hat] kein ander Ding, weder im Himmel noch auf Erden, darinnen sie lebe, fromm, frei und Christ sei, denn das heilige Evangelium, das Wort Gottes, von Christo gepredigt. [...] So müssen wir nun gewiß sein, daß die Seele kann alles Dinges entbehren außer dem Worte Gottes.«165 Konzentrisch bei sich verharren statt im Glauben das Wort Gottes zu ergreifen würde bedeuten, im Verderben zu bleiben.166 Der Glaube hingegen, der das Wort Gottes ergreift, ergreift Christus selbst und ist exzentrischer Vollzug des menschlichen Personseins in Christus.167 Das Wort »vereiniget [...] die Seele mit Christo wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. [...] Christus und die Seele [werden] ein Leib«.168 Im Unterschied zur Annahme der menschlichen Natur durch den Sohn Gottes konstituiert die Vereinigung Christi mit der Seele nicht die Einheit einer Person, sondern die Einheit einer unüberbietbar nahen personalen Beziehung. Gott selbst wirkt durch die Predigt von Gesetz und Evangelium den Glauben - den von ihm geschenkten Brautring oder Mahlschatz - , der Christus und Seele vereinigt und sie wechselseitig ihres Geschicks und ihrer Güter teilhaftig werden läßt: »Was Christus hat, das ist eigen der Seele; was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; so hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich: die werden Christi eigen.«169 Christus teilt sich zwar dem Sünder als das Heil in Person mit, aber die Person Christi in der kommunikativen Einheit von Gott und Mensch selbst bleibt der Ort, an dem des gläubigen Sünders Sünde überwunden wird. Niemals wird der Mensch, und sei es auch durch eine Neukonstitution seines Personseins in Christus, selbst zum Subjekt der Uberwindung der Sünde: »Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Dieweil Christus ist Gott und Mensch, welcher noch nie gesündigt hat, und seine Frommheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so er denn der gläubigen Seele Sünde durch ihren Brautring, 164
W A 7. 24,23-27 (Freiheit. 1520).
165
W A 7. 22,3-10 (Freiheit. 1520; Hervorhebg v. Verf.).
166 Vgl. W A 7. 22,31-23,1 (Freiheit. 1520): Auf die der eigenen Nichtigkeit vor Gott überfuhrende Predigt des Gesetzes folgt: »Dass du aber aus dir und von dir, das ist aus deinem Verderben, kommen mögest, so setzt er dir vor seinen lieben Sohn Jesum Christum und läßt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: D u sollst in denselben mit festem Glauben dich ergeben und frisch auf ihn vertrauen.« 167 W A 7. 24,12-14 (Freiheit. 1520): »siehe da, glaube an Christum, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit; glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht«. 168
W A 7. 25,27-29 (Freiheit. 1520).
169
W A 7. 25,31-34 (Freiheit. 1520).
134
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
das ist der Glaube, sich selbst zu eigen macht und nicht anders tut, als hätte er sie getan, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. Also wird die Seele von allen ihren Sünden nur durch den Mahlschatz [sc. die Brautgabe], das ist des Glaubens halber, ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus.«170 Der Sünder wird durch das Geschenk des Glaubens also in doppelter Weise aus sich selbst herausgesetzt: Zum einen wird die Sünde des Sünders in Christus überwunden und zum anderen lebt sein Personzentrum, seine Seele, nun aus und in Christi Gerechtigkeit. In der Sprache der großen Galaterbriefvorlesung: Christus ist aller Menschen Person. Differenz und Analogie zwischen Einheit von Gott und Mensch in Christus und im neuen Menschen des Glaubens lassen sich damit so weit bestimmen: Christi Person ist die Gemeinschaft von göttlicher und menschlicher Natur. Der neue Mensch des Glaubens hingegen hat sein Personzentrum exzentrisch in Christus. Er gewinnt niemals Selbständigkeit in seinem >göttlichen< Sein in Christus. Nicht als Einheit der Person konstituiert sich die Gemeinschaft von Göttlichem und Menschlichen, sondern als die von Gott geschenkte innigste Beziehung zwischen Mensch und Christus durch Wort und Glaube im Heiligen Geist. Der Glaube freilich bezieht sich nicht auf einen abwesenden Christus, sondern auf die am Ort des glaubenden Sünders zuinnigst gegenwärtige Person des Heils. In der Beziehungswirklichkeit des Glaubens bleibt Christus kein apartes Subjekt, sondern macht sich die Sache des glaubenden Sünders zueigen und sich selbst in seiner Gerechtigkeit dem Glaubenden zueigen. Allerdings ist es auch allein das geistgewirkte Geschehen von Wort und Glaube, das diese Beziehung Wirklichkeit sein lässt; denn der ubiqitäre Christus ist auch vor der Konstituierung der Glaubensbeziehung real anwesend an der Stelle des menschlichen Subjektes,171 freilich in der Weise, dass der Mensch noch konzentrisch der in sich verschlossene Sünder, Christus aber noch nicht die für diesen konkreten Sünder kommunikativ eröffnete Wirkgegenwart des gnädigen Gottes ist. In Christus und im Glauben an das kontingent ergehende Wort, das Christus bringt, sind Gott und sündiger Mensch kommunikativ füreinander geöffnet. In der wechselseitigen Teilgabe und Aufnahme der Gaben des anderen (Sünde des Menschen - Gerechtigkeit Christi) vollzieht sich kommunikative Gemeinschaft im Glauben zwischen Gott und Mensch. Diese Gemeinschaft ist eröffnet und begründet in der kommunikativen Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi, die sich im Glauben erschließt als Ort der heilsamen Überwindung des Fluches des Gesetzes über alles Fleisch. Weil die Person Christi an ihrer Menschheit den Fluch des Gesetzes erlitten und kraft ihrer Gottheit überwunden hat,
170
W A 7. 2 5 , 3 4 - 2 6 , 4 (Freiheit. 1520).
Vgl. dazu BAUR, Streit, 148: »Damit wird [...] jeder supranaturalistischen und offenbarungspositivistischen Deutung des >Gott in Christus< widersprochen.« 171
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
135
ist der Gott-Mensch Jesus Christus die fur alle glaubenden Sünder offene Person des Heils geworden. 4.6.5.3 Exkurs: Vergöttlichung des Menschen? In der neueren finnischen Lutherforschung vertreten neben anderen Tuomo Mannermaa und sein Schüler Simo Peura172 die These, Luthers gelegentlich anklingende Rede von der Vergöttlichung des Menschen sei im Sinne einer ontologisch realen Teilhabe am Sein Gottes bzw. Christi und einer ontologisch realen Veränderung des Menschen zu verstehen.173 Sie hebt damit auf den im vorigen Abschnitt bereits dargestellten Sachverhalt der inwendigsten Gegenwart Christi am Ort des Menschen in der unio des Glaubens ab. Angestoßen wurde das Thema Luther und die Vergöttlichungslehre in der finnischen Lutherforschung durch das ökumenische Gespräch zwischen lutherischer und ostkirchlich-orthodoxer Theologie. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Fundament für das Gespräch zwischen der für die ostkirchliche Orthodoxie zentralen Vergöttlichungslehre und der, wie Tuomo Mannermaa urteilt,174 ihr formal entsprechenden lutherischen Rechtfertigungslehre habe sich gezeigt, »daß dieses gemeinsame Fundament aus lutherischer Sicht im Motiv des im Glauben gegenwärtigen Christus {in ipsa fide Christus adest) gegeben ist.«175 Dieser Gedanke drücke sowohl den zentralen Gehalt der Rechtfertigungslehre wie auch der Vergöttlichungslehre aus. Aus dieser Voraussetzung folgert Mannermaa, dass das Motiv des im Glauben anwesenden Christus nicht nur die Intention der Vergöttlichungslehre vertritt, sondern dass »die Rechtfertigungslehre selbst eine Art Vergöttlichungslehre sein [muss].«176 Kritisch wendet sich die Rede von der realen Teilhabe des Menschen an Christus in den Spuren der irenäischen und athanasianischen patristischen Tradition und im Anschluss an Luthers Identifizierung des anwesenden Christus mit der Rechtfertigungswirklich-
172
Vgl. MANNERMAA, Christus-, PEURA, Vergöttlichungsgedanke; PEURA, Mensch; GHISELLI/
KOPPERI/VINKE; VINKE. 173 Vgl. MANNERMAA, Luther, 15: »Das innere Wort Gottes nimmt das äussere Wort bzw. das Fleisch an. Weil das göttliche Sein das Wort ist, begegnet uns in dem fleischgewordenen Wort das Sein Gottes selbst. Wenn nun der Glaube Partizipation an Christus bedeutet, geschieht in diesem Glauben notwendigerweise eine Art Teilhabe an Gott bzw. Vergöttlichung des Menschen.« Unter Vergöttlichung versteht Simo Peura, »dass der Mensch jener Eigenschaften teilhaftig wird, die ansonsten nur der göttlichen Wirklichkeit zukommen würden. Eine dieser Eigenschaften, die Luther gemäß ausgesprochenermaßen Gott angehören, ist die Gerechtigkeit (iustitia). So enthält dann die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen die Intention der Vergöttlichung.« PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 172. 174
Vgl. MANNERMAA, Grundlagenforschung.
MANNERMAA, Grundlagenforschung, later. 1535Dr). 175
176
MANNERMAA, Grundlagenforschung,
18 (kursiv gesetztes Zitat: W A 40/1. 229,15; Ga19.
136
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
keit gegen ein einseitig forensisches Rechtfertigungsverständnis. 177 Sodann kritisiert Mannermaa diejenigen neueren Lutherrezeptionen, die im Gefolge A. Ritschis und W. Hermanns zum einen die Anwesenheit Gottes im Gläubigen ausschließlich im Sinn eines äußerlich bleibenden ethisch-personalen Verhältnisses beschreiben, 178 zum anderen die auf dem aktualistischen Wortverständnis der barthianischen dialektischen Theologie fußende Lutherdeutung, die - ebenfalls im Gefolge des Ritschlschen Kantianismus - die Erkenntnis Gottes an die Akte seiner Wirkung binde, das An sieb der wirkgegenwärtigen Ursache und deren ontologischen Charakter aber als unerkennbar behaupte. 179 Simo Peura akzentuiert im Anschluss an Luthers Sermo de duplici iustitia aus dem Jahr 1519180 zum einen den Gedanken der realen Anwesenheit Christi im Christen, 181 zum anderen wird der »reale, effektive Aspekt der Rechtfertigung« 182 als progressive »ontologische Wandlung des Menschen«, als »deificatio«,m betont. Die fremde Gerechtigkeit Christi bleibe dem Glaubenden nicht äußerlich, sondern werde ihm in der Weise innerlich (eingegossen), dass Christus selbst in der Person des Glaubenden real anwest. Diese Gerechtigkeit sei weder geschaffene noch eingegossene habituelle Qualität des Menschen, sondern sei nur dadurch des Menschen Gerechtigkeit, dass Christus sich ihm schenkt und in ihm anwest.184 Der Empfang der Gerechtigkeit Christi und ihrer die Sünde verschlingenden Mächtigkeit in der realen Christus-Gemeinschaft resultiert in die effektive Wandlung des Menschen. Aus der fremden Gerechtigkeit des anwesenden Christus folgt die eigene Gerechtigkeit im kooperativen Mitgehen mit der Gerechtigkeit Christi: In einem erst nach dem Tode zur Vollkommenheit gelangenden Prozess wird die Sünde verringert, indem der Mensch sich selbst zu hassen und des Nächsten Nutzen in Liebe wahrzunehmen lernt.185 Abgesehen von der Bestimmung dieses Vorganges als deificatio gibt Peura damit Luthers eigenen Gedankengang angemessen wieder. 177
Von M A N N E R M A A , Grundlagenforschung, 2 1 , gegen die melanchthonische Trennung von iustitia Dei und inhabitatio Dei in der Konkordienformel gerichtet, in der es heißt, »die Anwesenheit der Trinität sei anderer Art als die Glaubensgerechtigkeit. [...] Die Rechtfertigung wird einseitig forensisch verstanden, d.h. als Annehmen des Menschen u m Christi Werk willen. Die inhabitatio Dei ist nicht die Gerechtigkeit Gottes (iustitia Dei), >um welcher willen wir für Gott gerecht gesprochen wer dem, sondern bildet lediglich die Folge der Glaubensgerechtigkeit, d.h. der Sündenvergebung.« (Kursiv gesetztes Zitat BSLK 933,1 Iff). 178 Vgl. 179 Vgl.
MANNERMAA, MANNERMAA,
180
W A 2.
181
Vgl.
182
PEURA,
Grundlagenforschung, Grundlagenforschung,
145-152.
Vergöttlichungsgedanke, 1 7 4 . Vergöttlichungsgedanke, 1 7 2 . 183 PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 1 7 8 . 184 Vgl. P E U R A , Vergöttlichungsgedanke, 173f. 185 Vgl. P E U R A , Vergöttlichungsgedanke, 177f. PEURA,
22-24. 24-26.
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
137
Die Gefahr eines Synergismus sieht Peura deshalb nicht gegeben, weil die geschenkte Gerechtigkeit Christi und des Menschen Gerechtigkeit in Luthers Sinne eins sind und »der gesamte Rechtfertigungsprozeß auf der realen Anwesenheit Christi beruht.«186 In Luthers Sinn ist tatsächlich nicht von einem Synergismus zu sprechen. Hingegen wird in Peuras Interpretation der Christus praesens zur causa prima der iustitia propria ermäßigt: »Wo der Mensch hinsichtlich der iustitia prima [s. aliena] recht passiv ist [...], enthält die iustitia secunda [s. propria] einen aktiven Anteil des Menschen«. 187 Nun spricht Luther selbst ohne Frage von der kooperativen Einstimmung des Menschen im Tun des Gerechten in die fremde Gerechtigkeit Christi.188 Peura aber bestimmt die näheren Modalitäten der cooperatio nicht im Sinne Luthers. In Peuras Lutherinterpretation erscheint Christus als eine am Ort des Menschen ebenso gegenwärtige wie zugleich apart verweilende Wirkursächlichkeit eines zwar nicht vom Menschen selbst verursachten, gleichwohl aber in dessen Selbsttätigkeit übernommenen Prozesses der Vergottung. 189 So stellt er fest: »Luther gemäß ist die durch den Glauben in Christus geschenkte, eingegossene Gerechtigkeit der erste Grund, Anlaß und Ursprung sämtlicher eigener und aktualer Gerechtigkeit des Christen.« 190 In Luthers Sinne aber ist die von Christus geschenkte Gerechtigkeit nicht als prima causa am Ort des glaubenden Sünders gegenwärtig, sondern der in Christus als barmherzig sich eröffnet habende Gott selbst ist gegenwärtig und wirkt selbst durch die Person des Heiligen Geistes mit der Gabe des Glaubens die Austreibung der Sünde. 191 Dieses Moment des Innewirkens Vergöttlichungsgedanke, 1 7 8 . Vergöttlichungsgedanke, 1 7 7 (Hinzufugungen in [eckigen Klammern] v. Verf.). 188 Vgl. W A 2. 146,36f (Sermo de duplici iustitia. 1519): »Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur earn, sed quod cooperemur illi primae et alienae.« 189 Vgl. PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 181: »Der im Glauben geschenkte Christus bildet das Fundament der Vergöttlichung. [...] Im Annehmen Christi wird der Gläubige sowohl der göttlichen Natur in Christus als auch [...] der Eigenschaften Christi teilhaftig. [...] Der anwesende Christus und die Teilhaftigkeit an der göttlichen Natur bewirken eine ontologische Wandlung im Gläubigen: Es beginnt ein lebenslanger Prozeß, in welchem der anwesende Christus dem Gläubigen die Sünde ausrupft. Der Gläubige nimmt an dem Prozeß kooperativ teil, da ein wirklicher - wenn auch anfänglicher und unvollkommener - Wandel stattgefunden hat.« 1,0 P E U R A , Vergöttlichungsgedanke, 175 (Hervorhebg. v. Verf.). Luther selbst nennt die iustitia aliena keinesfalls prima causa der iustitia propria, sondern die iustitia Christi ist prima und als solche u.a. auch causa der iustitia propria. Der von Peura verzerrt wiedergegebene Text lautet im Original: »Et haec iusticia est prima, fundamentum, causa, origo omnis iusticiae propriae seu actualis.« (WA 2. 146,16f; Sermo de duplici iustitia. 1519). 191 Vgl. W A 40/11. 353,28-31 (Psalm 51. 1532): »Nam cum per misericordiam sumus liberi a culpa, tum etiam dono Spiritus sancti opus est, qui expurget in nobis reliquum peccati aut saltem nos adiuvet, ne succumbamus peccato et concupiscentiis carnis, sicut Paulus dicit.« (»Denn wenn wir durch die Barmherzigkeit frei von Schuld sind, dann ist auch die Gabe des heiligen Geistes notwendig, der in uns, was übrig ist von der Sünde, ausfege oder uns wenigstens helfe, dass wir der Sünde und den Begierden des Fleisches 186
PEURA,
187
PEURA,
138
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
des Heiligen Geistes, das zwar psychologisch gesehen ganz in das Wirken des Menschen eingeht, 192 ontologisch aber ganz auf die Seite Gottes gehört, 193 wird in der Rede von der Vergöttlichung des Menschen in einicht unterliegen, wie Paulus davon spricht.« Vgl. Rom 8,13); ohne explizit pneumatologische Argumentation in der Unterscheidung von gratia und donum/iustitia, die der Unterscheidung der zweifachen Gerechtigkeit im Sermon von 1519 entspricht, in StA 2. 491,22-32/WA 8. 105,39-106,10 (Latomus. 1521): »Nam Euangelium etiam duo praedicat et docet, Iustitiam et gratiam dei. Per iustitiam sanat corruptionem naturae, Iustitiam vero quae sit donum dei, fides scilicet Christi. [...] Et haec iustitia peccato contraria in scripturis ferme pro intima radice accipitur, cuius fructus sunt bona opera. Huic fidei et iustitiae comes est gratia seu misericordia, fauor dei, contra iram, quae peccati comes est, vt omnis qui credit in Christum, habeat deum propitium. Nam nec nos in bono isto iustitiae satis laeti essemus, nec magnifaceremus eius hoc donum, si solum esset, et non gratiam dei nos conciliaret.« C1 3. 253,2-5.19-29/WA 18. 753,33ff; 754,8-16 (DSA. 1525): »Deinde, ubi spiritu gratiae agit in illis, quos iustificauit, hoc est, in regno suo, similiter eos agit et mouet, et illi, ut sunt noua creatura, sequuntur et cooperantur, uel potius, ut Paulus ait, aguntur. [...] Homo antequam renouetur in nouam creaturam regni spiritus, nihil facit, nihil conatur, quo paretur ad eam renouationem et regnum, Deinde recreatus, nihil facit, nihil conatur, quo perseueret in eo regno, Sed utrunque facit solus spiritus in nobis, nos sine nobis recreans et conseruans recreatos. [...] Sed non operatur sine nobis, ut quos in hoc ipsum recreauit et conseruat, ut operaretur in nobis et nos ei cooperaremur. Sic per nos praedicat, miseretur pauperibus, consolatur afflictos.« (Hervorhebg. v. Verf.). In DSA schreibt Luther das gesamte Rechtfertigungsgeschehen am Menschen der Wirksamkeit des Heiligen Geistes zu. Den Begriff der cooperatio in regno spiritus reserviert er allein fur den Dienst am Nächsten in Verkündigung, Diakonie und Seelsorge. Der Mensch wird gemäß seiner kreatürlichen Eigenart als denkendes, wollendes, fühlendes, handelndes und sich von anderen unterscheiden könnendes Ich in seiner passiven Eignung vom Heiligen Geist in Anspruch genommen und mit der Gnade erfüllt: »At si uim lib. arbi earn diceremus, qua homo aptus est rapi spiritu et imbui gratia Dei, ut qui sit creatus ad uitam uel mortem aeternam, recte diceretur. hanc enim uim, hoc est, aptitudinem, seu ut Sophistae loquuntur dipositiuam qualitatem et passiuam aptitudinem, et nos confitemur, quam non arboribus, neque bestiis inditam esse, quis est, qui nesciat? neque enim pro anseribus (ut dicitur) coelum creauit.« (C1 3. 127,16-23/WA 18. 636,16-22; DSA. 1525). 192 Deshalb kann Luther auch ohne Probleme davon reden, dass der Glaubende in Christo die nach der Begnadigung im Menschen verbleibende, aber nicht mehr verdammende Restsünde »nostro marte« - »auf eigene Faust« - austreiben müsse. Vgl. StA 2. 470,23/WA 8. 89,9 (Latomus. 1521). Vgl. auch C1 3. 190,6-11/WA 18. 696,22-26 (DSA. 1525): »Obsecro te, an non nostra dicuntur quam rectissime, quae non fecimus quidem nos, recepimus uero ab alijs? Cur igitur opera non dicerentur nostra, quae donauit nobis Deus per spiritum? An Christum non dicemus nostrum, quia non fecimus eum, sed tantum accepimus?« 193 Das Wirken des Geistes geht genau wie das Wirken des Schöpfers ganz in die menschlich eigentümliche Lebensbewegung ein, ohne mit ihr identisch oder ein Drittes zu werden. Vgl. C1 3. 125,20-29.42-126,4/WA 18. 634,20-27.36-635,2 (DSA. 1525): »Si enim non nos, sed Deus operatur salutem in nobis, nihil ante opus eius operamur salutare, uelimus, nolimus. >Necessario< uero dico, non >coacteMehrwertes< geworden, auch wenn dieser Gewinn vom Impuls des in ihm real anwesenden Christus abhängt: Dann würde die These von der Vergöttlichung a limine der Rechtfertigungslehre Luthers widersprechen; denn nicht der Gläubige ist Subjekt der ethischen >Anwendung< des commercium admirabile, sondern der heilige Geist wendet das Dasein des Glaubenden zur Heiligung nolens ad poenam ducitur, sed sponte et libenti uoluntate facit. Verum hanc libentiam seu uoluntatem faciendi non potest suis uiribus omittere, cohercere aut mutare, sed pergit uolendo et lubendo. [...] Rursus ex altera parte, si Deus in nobis operatur, mutata et blande assibilata per spiritum Dei uoluntas iterum mera lubentia et pronitate ac sponte sua uult et facit, non coacte, ut nullis contrariis mutari in aliud possit, ne portis quidem inferi uinci aut cogi, sed pergit uolendo et lubendo et amando bonum«. 194 PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 178. Vgl. dazu Luthers pneumatologische Fassung der erst eschatologisch zur Vollendung kommenden Restitution und Überbietung der mit dem Sündenfall verlorenen Imago Dei in WA 42. 48,11-37 (Text siehe die vorliegende Untersuchung, 102f Anm. 46 ). 195 PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 183. Vgl. auch den Titel seiner Dissertation Mehr als ein Mensch. 196 Vgl. die seltsam zergliedernde Formulierung PEURA, Vergöttlichungsgedanke, 1 8 1 : »Der anwesende Christus und die Teilhaftigkeit an der göttlichen Natur bewirken eine ontologische Wandlung im Gläubigen.« (Hervorhebg. v. Verf.).
140
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
und vollzieht die Bewegung der Heiligung in Glaube und guten Werken. - Oder Gott selbst, der Gott-Mensch Christus in Person, ist das Personzentrum des Sünders in statu iustificationis, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde. Dann aber ist die Rede vom exzentrischen Personsein des Menschen in Christus nach Joest sachgemäßer als der Begriff Vergottung in Peuras Verständnis, weil er dem Menschen nicht auflädt, was Sache des rechtfertigenden Gottes bleibt. So stellt sich die Frage, welchen Sprachgewinn die Rede von der Vergottung des Menschen im Blick auf das gegenwärtige Verständnis von Luthers Theologie noch haben könnte.197 Gewiss ist aus der Perspektive des Lutherschen Wirklichkeitsverständnisses einer personalistisch-ethizistischen Verengung wie auch einer einseitig forensischen Ausdünnung der Rechtfertigung entgegenzutreten, zumal wenn die Beziehung auf Christus nur als Relation zu einem Abwesenden interpretiert wird. Es ist dagegen vollkommen zutreffend, dass das Sein im Glauben die reale Anwesenheit Christi am Ort des Menschen impliziert und auch die effektive Gerechtigkeit, die Heiligung des Menschen, befördert. Aber auch in der inwendigsten Wirkgegenwart Christi im Glaubenden und auch in der unauflöslichen Verschmelzung von Braut und Bräutigam im commercium admirabile bleibt Christus das externe Personzentrum des Glaubenden,198 der im Blick auf sich selbst, auf seine Substanz, nichts als Sünder ist.199 Dem Duktus des 197 Im Blick auf das historische Lutherverständnis stellt auch SAARINEN, 118f, fest: »Es bleibt aber zu fragen, ob das Postulat einer Grunddifferenz zwischen Substanzdenken und Wirkungsdenken überhaupt für ein historisch angemessenes Verständnis der Luthertexte hilfreich ist.« 198 Vgl. StA 2. 499,6-13/WA 8. 111,27-35 (Latomus. 1521): »Certos autem nos esse oportet, ideo deus in gratia sua nobis prouidit hominem, in quo confideremus, et non in opera nostra. Nam quamuis per donum fidei nos iustificarit, et per gratiam suam nobis factus sit propitius, tamen ne vageremur in nobis ipsis, et in his donis suis, voluit vt in Christum niteremur, vt nec iustitia ilia coepta nobis satis sit, nisi in Christi iustitia haeret et ex ipsa fluat, ne quis insipiens, semel accepto dono, iam satur et securus sibi videatur, sed in ilium nos rapi de die in diem magis voluit, non in acceptis consistere, sed in Christum plane transformari.« (Hervorhebg. v. Verf.). 199 Vgl. den folgenden Abschnitt, zu Luthers Verständnis der Sünde als bleibender Substanz des Menschen. - StA 2. 475,20-476,3/WA 8. 92,39-42 (Latomus. 1521): »Reuera enim si a piis remoueris misericordiam, peccatores sunt et verum peccatum habent, sed quia credunt et sub misericordiae regno degunt, et damnatum est assidue mortificatur in eis peccatum, ideo non imputatur eis.« - StA 2. 493,25-494,6/WA 8. 107,13-28 (Latomus. 1521): »Veniamus tandem ad institutum. Iustus et fidelis absque dubio habet Gratiam et donum. Gratiam quae eum totum gratificet vt persona prorsus accepta sit, et nullus irae locus in eo sit amplius. D o n u m vero, quod eum sanet, a peccato et tota corruptione sua animi et corporis. Impiissimum ergo est dicere, baptisatum esse adhuc in peccatis, aut non esse omnia peccata plenissime remissa. Quid enim ibi peccati, vbi deus fauet, et nullum nosse vult peccatum, totusque totum acceptat et sanctificat? Sed hoc non est referendum ad nostram puritatem, vt vides, sed ad solam gratiam fauentis dei. Remissa sunt omnia per gratiam, sed nondum omnia sanata per donum. D o n u m etiam infusum est. fermentum mixtum est, laborat, vt peccatum purget, quod iam personae indultum est, et hospitem malum extrudat, cui licentia facta est eiiciendi. Interim dum haec aguntur,
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
141
Lutherschen Denkens entspräche deshalb eher, in Bezug auf Gott davon zu reden, dass er mehr als ein Gott wird, als von einem ontologischen Mehr des Menschen in Kraft seiner vorgeblichen Vergottung zu sprechen; denn indem Gott in Christus menschliche Natur annimmt und sich in Christus das Dasein der Sünder so angelegentlich werden lässt, dass er sich um ihres Heiles willens selbst in ihr Dasein investiert, wird Gott in Christus tatsächlich ein anderer: der Gott, der sich in unlösbarer kommunikativer Gemeinschaft mit dem Menschen befindet, die persona omnium peccatorum. 2 0 0 Schon die äußerst schmale Textbasis für die Rede von der Vergottung in Luthers Werk 201 sollte zur Vorsicht vor einer generalisierenden Beschreipeccatum dicitur et est vere natura sua, sed iam peccatum sine ira, sine lege, peccatum mortuum, peccatum innoxium, modo in gratia et dono eius perseueres. Nihil differtpeccatum a seipso, secundum naturam suam, ante gratiam et post gratiam, differt vero a sui tractatu.« (Hervorhebg. v. Verf.). 200 Vgl. JOEST, 265: »Daß der Mensch Gott wird, soll [...] eigentlich besagen, daß Gott der Träger und Täter des Seins und Tuns des Menschen wird. Daß er an der göttlichen Natur Anteil erhält, meint umgekehrt: daß er im Leben des Glaubens seiner eigenen Natur enteignet und der Wesens- und Wirkkraft Gottes übereignet wird. Nicht Göttliches wird zum Prädikat des Menschen, sondern der geistliche Mensch selbst wird gewissermaßen zum Prädikat, besser gesagt zum Tun Gottes, und insofern >vergottetdeificatio< bzw. > Vergöttlichung< sei bei Luther zu finden, ist das Gegenteil richtig: Er findet sich nicht!« Was sich findet, sind nach BEUTEL, Wirklichkeit, 73, die folgenden Begriffe:>deificatordeificodeißcusvergottendurchgottenVergottens«< sowie 2. »die deutliche Ausrichtung auf das Sein des Menschen coram mundo, das in der Liebe zum Nächsten den Glauben des Menschen anschaulich macht.« (BEUTEL, Wirklichkeit, 74). Auch das allein zwischen 1515 und 1525 bei Luther achtmal belegte Wort >deiformis< bzw. >gottförmig< (WA 1. 436,37. 1516; WA 2. 248,2. 1519; WA 5. 195,42; 196,6. 1519/21; WA 7. 597,17. 1521; WA 9. 159,12. 1518;
142
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
b u n g der Rechtfertigung unter diesem Begriff m a h n e n . D i e andere Bilder u n d B e g r i f f e f ü r d i e u n i o c u m C h r i s t o b e v o r z u g e n d e S p r a c h e L u t h e r s ist i n s o f e r n d e r S a c h e a n g e m e s s e n e r , als d i e R e d e v o n d e r V e r g o t t u n g o f f e n sichtlich z u M i s s v e r s t ä n d n i s s e n Anlass gibt.202 U m so bedenklicher s t i m m t die durch die Finnen betriebene U m k e h r u n g des sprachlichen B e f u n d e s mit der B e h a u p t u n g , dass der mit der Vergottung angesprochene Sachverhalt der u n i o c u m C h r i s t o v o n Luther zwar a u c h in a n d e r e n Begriffen u n d B i l d e r n v o r g e t r a g e n w e r d e , d e r B e g r i f f d e r d e i f i c a t i o a b e r l e t z t l i c h d i e ang e m e s s e n e S p r a c h g e s t a l t b i e t e . 2 0 3 V i e l m e h r ist B e u t e l z u z u s t i m m e n , d e r d i e V i e l z a h l s p r a c h l i c h e r F o r m e n b e i L u t h e r als n i c h t n u r l e g i t i m e n , s o n d e r n als d e r S a c h e a n g e m e s s e n e n , u n v e r z i c h t b a r e n A u s d r u c k d e r S p r a c h e e r n s t z u n e h m e n rät. S e i n e m U r t e i l z u f o l g e n ä m l i c h h ä l t » L u t h e r d i e N e i g u n g , die u n i o c u m C h r i s t o a u f d e n Begriff bringen zu wollen, für u n a n g e m e s W A 10 1/1. 100,14. 1522; W A 56. 369,5. 1515/16) erbringe keinen substanziellen N a c h -
weis fur die finnische These. (Vgl. BEUTEL, Wirklichkeit, 75F). 202 Vgl. auch Luthers Inbegriff des Sünderseins als velle deum esse, die vorliegende Untersuchung, 293-299, sowie die prägnante Formulierung Luthers aus dem Jahr 1530 in W A B 5. 415,41-46: »Tu esto fortis in Domino, et Philippum meo nomine Exhortare semper, ne fiat Deus, Sed pugnet contra illam innatam et a Diabolo in paradiso implantatam nobis ambitionem diuinitatis, Ea enim non expedit nobis [...]. Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa; Es wird doch nicht anders«. Vgl. JÜNGEL, Freiheit, 26f: »Gerechtfertigt werden heißt: zu seinem eigenen Besten von Gott definitiv unterschieden werden. Eine definitive Unterscheidung von Gott ist für den wie Gott sein wollenden Menschen aber erst dann gegeben, wenn er nicht mehr wie Gott zu werden begehren muss. Das aber ist erst dann der Fall, wenn Gott ihm bereits näher ist, als er sich selbst jemals nahe zu sein vermag.« - Dieser Sachverhalt aber ist, wie gezeigt wurde, in der unio cum Christo gegeben und bedarf zu seiner Klarstellung keiner terminologischen Anleihen im Umfeld der ostkirchlich-orthodoxen Lehre von der Theosis.
Wie weit entfernt die ostkirchliche Theosis-Lehre von Luthers Denken steht, zeigt ausgerechnet eine Arbeit, die die von den finnischen Lutherinterpreten vorgetragenen Thesen zu Luthers Vergöttlichungslehre zu untermauern und den ökumenischen Dialog zwischen Luthertum und ostkirchlicher Orthodoxie über die Lehre von der Theosis zu bestärken sucht: In seiner Besprechung von FLOGAUS, Theosis bei Palamas und Luther, resümiert THIEDE, 51f: »Palamas kommt bei seinen Ausführungen zur Theosis ganz von der mystischen Erfahrung der Gottesschau im athonischen Hesychasmus her; für Luther ist die vergöttlichende Gegenwart Christi Gegenstand des - durchaus erfahrungsbezogenen - Glaubens, in keiner Weise aber des Schauens. Insbesondere steht das reformatorische Gnaden Verständnis in hartem Kontrast zu dem des Palamas: >Wegen der absoluten Einheit, Einfachheit, Unveränderlichkeit und Ewigkeit des göttlichen Wesens ist die Inkarnation des Wortes weder Grund noch bestimmendes Moment dieser Gnade noch die Ermöglichung der Teilhabe an ihr für den Menschen. Hier spätestens stoßen alle wohlmeinenden Parallelisierungen der Gnadenlehre des Palamas und derjenigen M. Luthers auf eine klare Grenze.«< (Zitat im Zitat: FLOGAUS). Zu Palamas vgl. auch WENDEBOURG, Geist. 2 0 3 BEUTEL, Wirklichkeit, 77ff, nennt u.a. folgende Metaphern Luthers fur die unio cum Christo: das Anziehen Christi durch den Glauben (vgl. R o m 13,14; Gal 3,27), Christus als Arznei des Sünders (vgl. Mk 2,17), das Bild vom Bräutigam und der Braut (vgl. Jes 62,5; Jer 7,34; J o h 3,29); ein-Kuchen-Sein; Sein im Mutterleib Gottes; Gotteskindschaft aus Glauben.
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
143
sen. [...] Wie alle Gott betreffenden Dinge gilt ihm auch die unio cum Christo als eine >ineffabilis restanquam formae Deivor allem< konzediert er inkonsequent, dass der Mensch qua Subjekt eben doch nicht der göttlichen Natur teilhaftig wird, was allein aus der Identität von substantia dei und natura divina zu folgern wäre. Dass er aber sagen zu können meint, die formae dei seien dem Glaubenden gleichwohl real mitgeteilt, läuft logisch auf eine unangemessene Trennung von Gottes bzw. Christi Substanz und Eigenschaften hinaus. Zutreffend kann allein der Schluss sein, dass auch die formae dei dem Glaubenden nicht real als der menschlichen Person zukommende Eigenschaften mitgeteilt werden. Vielmehr ist Christus, der wahre Mensch und wahre Gott, in der Einheit seiner Person real am Ort des Menschen anwesend. Seine Gegenwart aber ist sein Wirken, so dass er das formierende Prinzip des Sünders in der Neuheit des Glaubens ist.213 Nicht Vergottung, sondern kondeszendente Gegenwart des erbarmenden Gottes in seinem Geschöpf in vom GeistWort wechselseitig eröffneter kommunikativer Hingabe zwischen Christus 211
Vgl. W A 2. 147,35-148,3; 148,12-19 (Sermo de duplici iustitia. 1519): »videtis Christum affectum ergo vos fuisse. quo modo? qui scilicet cum in forma Dei esset, n o n rapinam arbitratus est esse se equalem deo, sed exinanivit seipsum, formam servi accipiens &c. Forma Dei hic non dicitur substantia dei, quia hac Christus nunquam se exinanivit, sicut nec forma servi dici potest substantia humana: sed forma dei est sapientia, virtus, iusticia, bonitas, deinde libertas, ita quod Christus h o m o fiiit liber, potens, sapiens, nulli subiectus nec vicio nec peccato.[...] Christus autem n o n ita arbitratus est, n o n ita sapuit, sed illam formam [sc. Dei] retulit in deum patrem ac exinanivit, nolens illis uti titulis contra nos, nolens dissimilis nobis esse, quin magis nobis factus est sicut unus ex nobis et formam servi accepit (id est, omnibus malis sese subiecit) et cum esset liber [...] omnium se servum fecit, n o n aliter agens, quam si sua essent omnia ista mala, que nostra erant. Itaque super sese accepit peccata nostra et penas nostra, et egit ut vinceret ea, tanquam sibiipsi, cum tarnen nobis ea vinceret.« 212
213
PEURA, Vergöttlichungsgedanke,
180.
Vgl. zum Formprinzip Christus W A 40/1. 2 2 9 , 2 6 - 3 0 (Galater. 1535Dr), Text siehe die vorliegende Untersuchung, 118 Anm. 101; vgl. 119 Anm. 103.
146
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
und dem Sünder ist das Geschehen, das Luther in der Rechtfertigung des Sünders durch Christus vor Augen hat. Peura beansprucht zwar, nur aufgrund der Einheit von iustitia aliena und iustitia propria, von im Glauben anwesendem Christus und Teilhabe an der göttlichen Natur in ihren Eigenschaften, von der Vergöttlichung des Menschen reden zu können. Er kommt sachlich aber nicht über die Feststellung eines erneuerten christusförmigen Wandels des glaubenden Menschen hinaus. Eine dem Menschen zuschreibbare ontologische Veränderung qua Vergottung kann er nicht ausweisen. Eine solche könnte er nur behaupten, wenn er eine reale Mitteilung der göttlichen Natur an den Glaubenden in Christus voraussetzen oder eine vom Christus praesens ablösbare Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an den Menschen ausweisen könnte. Beides wäre freilich absurd; denn der fröhliche Wechsel und Tausch zwischen Glaubendem und Christus führt ebenso wenig zur Verdopplung ihrer Eigenschaften beim erlösenden Bräutigam und der sündigen Braut wie die communicatio naturarum in Christo eine Verdopplung der in der Person Christi geeinten Naturen verursacht. Peura hat schon recht: Der ganze Christus teilt sich dem Glaubenden mit. Das schließt aber gerade aus, dass er sich nur nach seiner göttlichen Natur mitteilt und in einer von Peura nicht ausreichend oder auch irreführend vorgestellten Weise den Menschen vergottet. Christus teilt sich vielmehr in der kommunikativen Einheit von göttlicher und menschlicher Natur seiner Person mit. Indem Christus sich aber selbst mitteilt, ist das Heil, nämlich die kommunikative Gemeinschaft von Gott und Mensch, in Christus selbst am Ort der menschlichen Person eröffnet. Gibt er sich als ganzer der menschlichen Person, so bleibt er ihr auch als ganzer innigst zugegen und teilt nicht nur etwas von sich mit, sei es etwas von der gegenüber seiner Person isolierten göttlichen Natur oder etwas von seinen göttlichen Eigenschaften. Innigste personale Beziehung zwischen Christus und Glaubenden sowie innigste Präsenz Christi am Ort des Menschen sind das eine Geschehen der unio, in dem Christus ganz des glaubenden Sünders wird und des Menschen Sünden ganz Christi werden, in dem aber der Mensch ganz Mensch bleibt und der in der Person Christi mit dem Menschen Jesus geeinte Gott ganz Gott bleibt, freilich der nun in Christus für den Sünder heilsam erschlossene Gott. Dagegen lädt die Rede von der Vergottung dem Menschen auf, was Sache Gottes in Christo ist und bleibt: Die reale Anwesenheit Christi im Glauben führt zu keiner ontologischen Wandlung des Menschen, die ihn zum Kooperator oder Ko-Subjekt seiner Rechtfertigung erheben würde. Der Christus praesens in homine ist nicht nur das Fundament oder die erste Ursache für die eigene Gerechtigkeit, die der Glaubende dann kooperativ mit dem ihm inwirkenden Gott anfänglich verwirklichen würde, sondern er ist die wirkende Gegenwart des Heils und der Gerechtigkeit in Person. In ihm ist alle Sünde vergeben; er ist die Gunst Gottes in Person, die vor dem Zorn Gottes schützt. Und durch die Kraft seiner Gegenwart, in der Gabe des Glaubens durch den Heiligen Geist, wird die Sünde ausgetrieben, das gute
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
147
Werk der Nächstenliebe getan, Gott die Ehre gegeben. Diesem Geschehen der Rechtfertigung an ihm und in ihm gegenüber bleibt der Mensch fundamental passiv. Gleichzeitig ist es ihm so zuinnerst, dass es als das Sein eines anderen in ihm sein eigenes Sein wird. Sein exzentrisches Personsein in Christus ist psychologisch gesehen jedenfalls nicht ein Prozess der Entwerdung oder der Auflösung der menschlichen Person, sondern der sie selbst in Christus transzendierende kommunikative Vollzug ihres Glaubens an den Gott, der dem Menschen näher ist, als dieser sich jemals selbst sein kann. So aber wird das Sein Christi im Glaubenden niemals ablösbar von der Person Christi in ihm. Als glaubender Sünder verbleibt er kommunikativ in der Angewiesenheit auf den sich schenkenden und ihn annehmenden Gott des Heils. Letztlich zeigt sich im Blick auf Luther kein Widerspruch von relationaler und realer Verbindung zwischen Gott und Mensch. In der Relation von Wort und rechtfertigendem Glauben ist die reale Gegenwart Gottes am Ort des Menschen in Vollzug; 214 denn der Glaube ist die heilsame Wirkgegenwart Gottes in ihm.215 Peura vermag die reale Gegenwart Gottes im Menschen offensichtlich nicht als Relation zu denken und kommt deshalb zu einem Verständnis von Rechtfertigung, das ihn wider besseres Wissen und Wollen in die Nähe von habitualen, substanzontologischen Vorstellungen im Mitwirken des Menschen innerhalb des Rechtfertigungsgeschehens fuhrt. Sachverhalt wie Sprachgestalt der Lutherschen Rede von der unio cum Christo sprechen gegen eine legitime und sinnvolle Inanspruchannahme des Begriffs der Vergöttlichung des Menschen im Bereich der Lutherschen Rechtfertigungstheologie. Die im Glauben vollzogene Exzentrizität menschlichen Personseins in Christo spricht als Beziehungswirklichkeit gegen die Verwendung substanzontologische Vorstellungen aufrufender Begriffe wie Vergottung, Deificatio oder Theosis im Gespräch um Luthers Denken. Wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist, schließt selbst und gerade Luthers Verwendung des S«fota«z-Prädikates das Verständnis substanzieller Vergottung des Gerechtfertigten aus.
214 Zum gleichen Resultat kommt auch BEUTEL, Wirklichkeit, 92f. Er verweist überdies auf einen sprachlich interessanten Befund, der es ausschließt, kategorial zwischen Gottes Sein und Gottes Wirken, zwischen seiner realen Gegenwart und seinem relational verstandenen Wirken am Menschen zu unterscheiden: »[A]ls Äquivalent für >Realität< legt sich im Deutschen vor allem das Wort >Wirklichkeit< nahe. Diese zuerst im 18. Jahrhundert belegte, jedoch in mystischer Sprachbildung wurzelnde Prägung faßt beide Aspekte untrennbar in sich zusammen: die Wirklichkeit Gottes als Ausdruck der Koinzidenz von Gottes Eigenschaften und Gottes Sein und mithin als Inbegriff dessen, was Gott in uns wirkt.« (BEUTEL, Wirklichkeit, 92). 215 Siehe jedoch zur Vorordnung der Gnade (Christus) vor die Gabe (Glaube) StA 2. 499,6-13/WA 8. 111,27-35 (Latomus. 1521), Text siehe die vorliegende Untersuchung, 140 Anm. 198.
148
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
4.5.6.4 Luthers Verwendung des Substanz-Prädikates im Kontext der Rechtfertigung des Sünders In der aristotelisch geprägten theologischen Fachsprache des Spätmittelalters bezeichnet substantia zuerst und vor allem - im Sinne der ersten Substanz - die Selbständigkeit eines Einzelwesens und damit verbunden ihr Trägersein von akzidenziell verstandenen Eigenschaften und Vermögen. 216 Darüber hinaus bezeichnet Aristoteles das »Allgemeine, das von den Einzel-S[ubstanz]en als Art [...] oder Gattung [...] ausgesagt wird,«217 als zweite Substanz. In dieser Bezeichnung fur das Wesenswas (Quidditas) ist die zweite Substanz gleichbedeutend mit dem Wesen (essentia) des substanziellen Seienden. 218 Boethius definierte: »persona est rationalis naturae individua substantia.«219 Die menschliche Person ist Substanz-Seiendes, das aus anderem Substanz-Seienden, durch seinen Vernunftbesitz unterschieden, hervorgehoben ist. Das heißt nicht, dass die Substanz des Menschen ausschließlich mit der differentia spezifica seiner Vernünftigkeit identisch ist. Gemäß des Aristotelischen Hylemorphismus ist diese vielmehr Moment der Substanz, die ein Kompositum von Form und Materie ist.220 In der Folge dieses Denkens wird der Mensch als Einheit von Seele (forma) und Körper (materia) verstanden. Für Thomas von Aquin ist die erkenntnisfähige Seele (anima intellectiva) die substanzielle Form des Körpers, durch die »der Mensch ein Seiendes in Wirklichkeit, durch die er ein Körper, durch die er lebendig, durch die er ein Lebewesen und durch die er ein Mensch ist.«221 Auch wenn der Mensch wie alle Geschöpfe umklammert ist von der kreatorischen Allwirksamkeit Gottes und im Gnadenstand noch einmal in Abhängigkeit von den sakramentalen göttlichen Einwirkungen steht, ist er sich als solcher doch selbst übergeben. Er ist konzentrisch in sich gesammeltes Sein, ihm eignet, wie Joest formuliert, Inseität.222 Er bewegt sich gemäß seiner Entelechie auf das ihm innewohnende Ziel, Gott, zu und entfaltet sich gemäß dieser Ausrichtung im Lebensprozess. Unter dem aristotelischen Begriff der Seele als »erste [r] Entelechie des natürlichen
216 »Die S[ubstanz], die von Aristoteles negativ als das Seiende, das nicht in einem andern ist, bestimmt wurde, bezeichnet die Scholastik als ens per se (oder: in se) subsistens, das durch sich (oder in sich) Bestand habende Seiende.« D E VRIES, 90; vgl. JOEST, 2 3 8 F F ; EBELING, LuSt I I / L , 9Iff. 217
D E VRIES, 8 9 .
218
V g l . DE VRIES, 8 9 .
219
BOETHIUS,
220
1343.
Vgl. EBELING, LuSt II/l, 92. 221 »Una enim et eadem forma est per essentiam, per quam homo est ens actu, et per quam est corpus, et per quam est vivum, et per quam est animal, et per quam est homo.« ( T H O M A S V O N A Q U I N , STh I q 7 6 . a 7 . resp ad 1 ) . 222 In Abhebung vom göttlichen Sein definiert J O E S T , 2 3 6 : »Ein absolut konzentrisches Wesen würde aus sich selbst existieren, ihm wäre nicht nur In-seität, sondern A-seität zueigen. Dieser absolute Selbstand bleibt natürlich auch in dem am Substanzgedanken orientierten Persondenken der Scholastik Gott allein vorbehalten.«
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
149
Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt«,223 wird so die Einheit von Gottesschau und Leben entfaltet: Die Praxis ist das Leben, in dem sich das einwohnende Prinzip in einer Vielzahl von Handlungen realisiert, die Theorie ist das mit der Seele des Menschen gegebene Vermögen, Gott selbst zu erkennen. Als nous ist sie unvergänglich und dem Gott, der Noesis Noeseos, analog strukturiert. In der Schau Gottes wird die menschliche Seele der zeitlosen Gegenwart dessen inne, was in ihr selbst das Göttliche ist. Der Mensch findet in seiner Selbstbewegung und Selbsttätigkeit seine Substanz, seine Gottebenbildlichkeit, die ihn wesenhaft und im desiderium naturale in DeurrP!4 immer schon wirksam auf Gott ausgerichtet sein und sich im Lebensvollzug selbst realisieren lässt. Im Kontext dieses Menschenbildes muss Luthers Verständnis der Sünde als Substanz terminologisch wie sachlich abwegig erscheinen. In der Tat scheint die Rede von der Substanzialität der Sünde »von Luther in pole-
223
ARISTOTELES, De Animal Über die Seele I I . 412a 28f, 24. Vgl. PICHT, 191. Eine Kurzdefinition gibt THOMAS VON AQUIN in: In Eth. Nie. I, 2 , 2 1 : »Naturale desiderium nihil est aliud quam inclinatio inhaerens rebus ex ordinatione primi moventis, quae n o n potest frustrari.« Zitiert nach ENGELHARDT, 1 2 6 . In der Einleitung zur Summa Theologiae 1/IIae bestimmt THOMAS VON AQUIN als Ziel dieses von Gott eingestifteten, untrüglichen Verlangens: »ultimusfinis humanae vitaeponitur esse beatitudo«. In STh 1/IIae q2 a8 resp fuhrt er aus, dass die beatitudo hominis nicht in irgendetwas Geschaffenem ihren Grund finden könne, sondern allein in Gott; denn das auf die Glückseligkeit ausgerichtete menschliche Streben zielt auf das allgemeine höchste Gute, das allein in Gott gegeben ist: »RESPONDEO dicendum quod impossib l e est beatitudinem hominis esse in alioqui b o n o creato. Beatitudo enim est b o n u m perfectum, quod totaliter quietat appetitum: alioquin n o n esset ultimus finis, si adhuc restaret aliquid appetendum. Obiectum autem voluntatis, quae est appetitus humanus, est universale b o n u m ; sicut obiectum intellectus est universale verum. Ex q u o patet quod nihil potest quietare voluntatem hominis, nisi bonum universale. Quod non invenitur in aliquo creato, sed solum in Deo: quia omnis creatura habet bonitatem partieipatam. Unde solus Deus voluntatem hominis implere potest; secundum quod dicitur in Ps 102,5: Qui replet in bonis desiderium tuum. In solo igitur Deo beatitudo hominis consistit.« 224
Vgl. THOMAS VON AQUIN, STh 1/IIae q3 a8 resp (Utrum beatitudo hominis sit in visione divinae essentiae): »RESPONDEO dicendum quod ultima et perfecta beatitudo non potest esse nisi in visione divinae essentiae. Ad cuius evidentiam, duo consideranda sunt. Primo quidem, quod homo non estperfecte beatus, quandiu restat sibi aliquid desiderandum et quaerendum. Secundum est, quod uniuseuiusque potentiae perfectio attenditur secundum rationem sui obiecti. Obiectum autem intellectus est quod quid est, id est essentia rei, ut dicitur in [sc. Aristotelis] III De anima. Unde intantum procedit perfectio intellectus, inquantum cognoscit essentiam alieuius rei. [...] Si igitur intellectus humanus, cognoscens essentiam alieuius effectus creati, n o n cognoscat de D e o nisi an est; n o n d u m perfectio eius attingit simpliciter ad causam primam, sed remanet ei adhuc naturale desiderium inquirendi causam. Unde n o n d u m est perfecte beatus. Ad perfectam igitur beatitudinem requiritur quod intellectus pertingat ad ipsam essentiam primae causae. Et sie perfectionem suam habebit per unionem ad D e u m sicut ad obiectum, in quo solo beatitudo hominis consistit.« (Hervorhebg. v. Verf.). - Vgl. auch ausfuhrlicher THOMAS VON A Q U I N , Summa contra gentiles III, 25-63. V g l . PHILIPP, 1 3 3 1 ; ENGELHARDT, 1 2 6 f .
150
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
mischer Absicht geprägt, um den strittigen Punkt genau zu bestimmen.« 225 Entsprechend ihrem Substanzbegriff müssen Luthers altgläubige Gegner, so auch Latomus, annehmen, Luther behaupte als die individua substantia des animal rationale Mensch, als dessen sich seit seiner Erschaffung durchhaltende Wesensbestimmung, die Sünde. Die altgläubige Position kann im Rahmen ihres substanzontologischen Denkens unter Sünde nur einen durch den Sündenfall verursachten und durch die sakramental mitgeteilte Gnade heilbaren Defekt der Grundausrichtung des Menschen erkennen. Die Bestimmung der Sünde als Substanz des Menschen wirft für Luthers Gegner dagegen Probleme auf sowohl in Bezug auf die angenommene Ursprungsgüte des Menschen wie auch auf die Restituierbarkeit der vollen Ursprungsgüte durch Tauf- und Bußsakrament. Denn mit dem Sündenfall müsste sich, sofern Luthers Rede von der Substanzialität der Sünde angemessen wäre, eine innerhalb der Anthropologie nicht erwartete Transsubstantiation des menschlichen Wesens vollzogen haben. Latomus vertritt das den Menschen konzentrisch situierende habitualsubstanziale Gnadenverständnis 226 und versteht die Buße als Selbsttätigkeit
Mensch, 8 8 . Der Mensch wird auch dann als Gott gegenüber selbständiger Träger eines heilsrelevanten Eigenschaftsbestandes verstanden, wenn die zur Erlangung des Heils notwendige Fähigkeit zur Erfüllung der göttlichen Gebote unter die Voraussetzung ihrer gnadenhaften Mitteilung gestellt wird. Vgl. z.B. folgende Positionen des scholastischen Realismus (Thomas von Aquin), des frühen (Wilhelm von Ockham) und des späten Nominalismus (Gabriel Biel): T H O M A S V O N A Q U I N , Sil· 1/IIae ql09, a4, resp.: (Utrum h o m o sine gratia per sua naturalia legis praecepta implere possit) »Respondeo dicendum quod implere mandata legis contingit dupliciter. U n o modo, quantum ad substantiam operum: prout scilicet homo operator iusta etfortia, et alia virtutis opera. Et hoc modo homo in statu naturae integrae potuit omnia mandata legis implere: alioquin non potuisset in statu illo non peccare, cum nihil aliud sit peccare quam transgredi divina mandata. Sed in statu naturae corruptae non potest homo implere omnia mandata divina sine gratia sanante. Alioqui modo possunt impleri mandata legis n o n solum quantum ad substantiam operis, sed etiam quantum ad m o d u m agendi, ut scilicet ex caritate fiant. Et sie neque in statu naturae integrae, neque in statu naturae corruptae, potest h o m o implere absque gratia legis mandata. [...] - Indigent insuper in utroque statu auxilio Dei moventis ad mandata implenda.« 225
EBELING,
226
W I L H E L M V O N O C K H A M , Quodlibeta IV, q7: »Praeterea nihil est meritorium, nisi quod est in nostra potestate, sed illa Caritas non est in nostra potestate, ergo actus non est meritorius principaliter propter illam gratiam, sed propter voluntatem libere causantem, ergo posset Deus talem actum a voluntate elicitum aeeipere sine ilia gratia.« (Zitiert nach O B E R M A N , Notes, 65 Anm. 31). GABRIEL BIEL, Sermones I , 8 7 E : »Ex puris naturalibus seclusa gratia gratum faciente: stante generali influentia Dei potest homo sese ad gratiam disponere. Potest enim h o m o ex puris naturalibus stante adiutorio dei generali seu gratia dei generali facere quod in se est.« (Zitiert nach O B E R M A N , Spätscholastik, 133). Die vorstehenden scholastischen Texte sind vom systematischen Problemgehalt her nicht unmittelbar vergleichbar, kommen aber überein in der substanz-ontologischen Struktur der Anthropologie trotz sich steigernder Erwartungen an das natürliche Ver-
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
151
des Glaubenden, die sich ausschließlich auf die akzidenziell interpretierte Restsünde, den >fomes peccati< bzw. die >concupiscentia< und deren Aktualisierungen bezieht. 227 Luther hat sich nun einerseits mit Latomus' Fehlschluss auseinander zu setzen, dass das substanziale Sündenverständnis des Reformators dazu nötige, die Gnade als Akzidens zu verstehen - im polemischen Bilde des Latomus gesprochen: als Rasur der aus der bleibenden Wurzelsünde nachwachsenden Haare. 2 2 8 Gleichzeitig aber widerspricht er dem Latomianischen Sündenverständnis, demzufolge die Sünde durch die Taufgnade als beseitigt gilt und in dessen Rahmen der Begriff im Dasein des Getauften nur noch uneigentlich als nachbleibende Folge der getilgten Sünde im Sinne von Gebrechen verwendet werden kann. 2 2 9 Dagegen wendet Luther von seinem substanzialen Sündenverständnis her ein: » S o steht es nicht u m die Gabe Gottes: Sie schafft daran, die Wurzel zu töten, und sie mögen des Menschen. Die vom Verfasser kursiv gestellten Passagen repräsentieren den genannten Sachverhalt. Zu dieser Interpretation vgl. BAUR, Fragen, 216f: » O b die Grundgestalt des Ansich-Seins als dinglich Vorhandenes oder als unaufhebbares Selbstsein, wie es sich am menschlichen Geist bekundet, gedacht wird, ob die Vernunft andenkend ausschauend oder ausgreifend setzend, das bringt keinen fundamentalen Unterschied. Allemal bleibt die Herrschaft des Identitäts-Modells, unter dessen Zwang das Einzel-Seiende, Endliche »seine eigene Vollständigkeit erstreben muss«, unter dessen Herrschaft das Göttliche als Inbegriff immer schon vollzogenen Bei-sich-selbst-Seins, als bruch- und fugenlose Wirklichkeit in sich selbst verschlossen wird.« (Baur zitiert LAKEBRINK, 167, und weist dessen Ablehnung der Vergleichbarkeit von Thomismus und subjektiver Reflexionsphilosophie zurück.). 2 2 7 Vgl. LATOMUS, Bl. ei.v: »neque is in q u o est concupiscentia aut motus eius peccat, nisi adhibeat consensum in rem illicitam, vt Augustino placet in commentarius in epistolam ad Galatas vbi dicit. Aliud est peccatum habere, aliud peccare.« LATOMUS, di.v: »Item Augustinus ostendit concupiscentiam in baptisatis peccatum non esse. [...] Dicunt etiam inquit baptisma non dare o m n e m indulgentiam peccatorum, nec auferre crimina, sed rädere, vt omnium peccatorum radices in mala carne teneantur. Q u i s hoc aduersus pelagianos nisi infidelis affirmet? Dicimus enim baptisma dare omnium indulgentiam peccatorum, et auferre crimina, non rädere, nec vt omnium peccatorum radices in mala carne teneantur, quasi rasorum in capite capillorum, vnde crescant iterum resecanda peccata. [...] Sed haec [sc. concupiscentia] etiam si vocatur peccatum non vtique quia peccatum est, sed quia peccato facta est, sie vocatur.« (Latomus zitiert Augustin, Contra duas epistulas Pelagianorum 1,13,26-14,28). 228
Vgl. den Text in der vorstehenden Anm.
Vgl. StA 2. 4 8 4 , 1 2 - 1 6 / W A 8. 100,1-6 (Latomus. 1521): »Summa ergo Latomianae euasionis est haec. Ea quae hie a Paulo dicuntur, nihil aliud facere, quam esse infirmitatem baptismo reliquam, quae peccatum vocetur. Nihilominus, spiritum cum illam rexerit, sie b o n u m operari, vt illud non sit peccatum damnabile censendum, nec hominem ideo peccare in b o n o opere, aut seruire peccato.« Vgl. EBELING, Mensch, 89 Anm. 49: »Die entscheidende Differenz Luthers zur Scholastik betrifft die Sünde nach der Taufe, ob sie wesenhaft Sünde und nur in Hinblick auf Gottes Barmherzigkeit beseitigt sei oder o b sie nach quantitativem Gesichtspunkt als eine dem Menschen anhaftende Qualität gemindert und deshalb nicht mehr eigentlich als Sünde, sondern als bloße Unvollkommenheit zu gelten habe.« 229
152
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
reinigt nicht die einzelnen Akte, sondern die Person, dass jene lässlichen Sünden aufhören oder doch weniger sich entwickeln. Vergeblich widerstehst du den lässlichen Sünden, wenn du nicht jenen Zunder der Sünde auslöschest, aus dem jene sich entwickeln. Die Sünde gelüstet es immer, aber du widerstehst ihrer Begierde, wenn du nicht nur ihren Regungen widerstehst, sondern sie selbst unterjochst, und das geschieht durch die Gabe des Glaubens, der diesen alten Menschen der Sünde tötet, kreuzigt und mit mancherlei Leiden übt, wie der Apostel sagt.«230 Luther stellt die Kontinuität der Güte des Geschöpflichen keineswegs in Frage.231 Gleichwohl lässt sich sein Verständnis der Substanzialität der Sünde nicht als rhetorisch-polemische Überspitzung abtun. In seiner Auseinandersetzung mit Latomus weist er zunächst klärend daraufhin, dass er zu seiner Definition von Sünde nicht den von den übrigen Kategorien232 isolierten und so dann von seinen Gegnern verwandten Substanz-Begriff des Aristoteles aufnimmt. Um dieses Missverständnis zu vermeiden, erklärt er, dass er seine Bestimmung von Sünde als Substanz im Sinne der rhetorischen Kategorie Quintilians verstanden wissen will.233 Der Redner bestimmt aber nicht nur, was eine Sache nach ihrem Wesen sei, sondern wird am Leitfaden der Kategorien auch erklären, »wie groß, wie beschaffen, wem zugehörig, was sie leidet, wo sie ist, zu welcher Zeit sie ist, ihr Gehabe und Verhalten.«234 Dieser der Rhetorik entnommene Substanzbegriff zielt auf die res, die Sachhaltigkeit einer Rede im Unterschied zur Gehaltlosigkeit bloßen Geschwätzes.235 Im Gefalle dieses Verständnisses fragt Lu230
»Non sic donum dei, quod radices mortificare laborat, et non actus sed ipsam personam purgat, vt venalia illa cessent aut certe minus pullulent, frustra venialibus resistis, nisi peccatum illud fomitis extinguas, vnde ilia pullulant. Peccatum semper concupiscit, sed concupiscentiae eius resistis, si non tantum motibus eius resistis, sed ipsum quoque iugulas, quod fit per donum fidei mortificantis, crucifigentis, et passionibus variis exercentis veterem istum peccati hominem, vt Apostolus vocat.« StA 2. 496,28-497,7/WA 8. 110,1-8 (Latomus. 1521). 231
Vgl. dazu die vorliegende Untersuchung, 96-103, 318-347. Aristoteles nennt außer der substantia (quid est) quantum, quale, ubi, quando, facere, pati, habere, situm esse, ad aliquid. (Topika 1.9, Angaben nach StA 2, 469 Anm. 516). Vgl. Luther, Latomus. 1521, StA 2. 469,19-21/WA 8. 88,20-22: »per praedicamenta dispones locos orationis, primum, quid sit, secundum substantiam suam, deinde, quanta, qualis, quorum, quid agat, quid patiatur, vbi sit, quo tempore sit, quid habeat, quo modo gerat sese.« 233 Dass Luther Substanz »ausdrucklich nicht nach Aristoteles« definiert (BORNKAMM, Mitte, 175), trifft nicht zu, sondern Luther hält dessen Substanzbegriff fest, schützt ihn aber gegen seine Isolierung innerhalb der scholastischen Theologie und zieht die weiteren Kategorien des Aristoteles mit Quintilian zur Bestimmung des Wesens einer Sache - von Quintilian nun Substanz genannt, hinzu; vgl. StA 2. 469,14-17/WA 8. 88,15-18 (Latomus. 1521): »Substantiam hie accipio non more Aristotelis sed Quintiliani, quo modo, de quauis re mundi possis primum disputare, quid sit, deinde quanta, deinde qualis, et sie de aliis. quod et Aristoteles obseruat vbicunque disserit.« 234 StA 2. 469,19-21/WA 8. 88,20-22; Text vgl. vorstehende Anm. 232. 232
235
S o FRICK, Einführung,
174f, u n d S t A 2. 4 6 9 A n m . 515.
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
153
ther nicht nach dem räum-, zeit- und beziehungslosen Wesen der Sünde. Vielmehr steht ihre Wirklichkeit als über den Menschen herrschende oder als Christus unterworfene Macht zur Debatte. Die Substanz des Menschen wird folglich nicht isoliert im Blick auf einen homo qua ens per se subsistens bestimmt, sondern unter Ansehung der Qualität der ihn von außen leitenden Macht und dem diesem Beziehungsgefüge entsprechenden Vertrauen des Menschen.236 »Die Substanz ist also weit eher eine Qualität oder etwas Äußerliches als das Wesen der Sache selbst.«237 Die Relation von Herr und Knecht im Verhältnis von Sünder und Sündenmacht erlaubt es aber auch, den Sünder qua Geschöpf von seinem Sündersein zu unterscheiden und aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Entsprechend kann Luther das Ereignis der Rechtfertigung als Hineingerissenwerden des Menschen in Christus weg vom Ort der Sünde beschreiben.238 Für die Sünde und den Sünder bedeutet dies: Vor der Taufe und der Eingießung des Heiligen Geistes herrschte die Sünde über den Menschen wie ein Tyrann. Ihr Wesen bestand darin, dass sie den Sünder schuldig machte vor Gott und das Gewissen beunruhigte. Sie war mächtig nach Quantität, Qualität und Aktivität, herrschte räumlich und zeitlich, hatte immer und überall die Übermacht. Bezüglich ihrer Passivität aber war sie ein Nichts, denn sie litt nicht die Anklage des Gesetzes, ließ sich auch nicht anrühren. Sie hatte ihren Sitz im Herzen aufgeschlagen und ihr Antlitz nach unten, zur Hölle, gekehrt. »Ferner, was die Kategorie der Beziehung angeht, da war In den sachlich parallelen Ausführungen seiner Auslegung des 51. Psalms verwendet Luther auch den Begriff res, um die Substanzialität der Sünde zu prädizieren: »Nam peccatum [...] actu manet, reatu autem transit, hoc est, Res ipsa, quae vere peccatum est et remissa est at a Deo toleratur, ea manet in carne reliqua nec dum plane mortua est.« (WA 40/11. 351,29-31; Psalm 51. 1538Dr); »Ergo Christianus non est formaliter iustus, non est iustus secundum substantiam aut qualitatem (docendi causa hisce vocabulis utor), sed est iustus secundum praedicamentum ad aliquid, nempe respectu divinae gratiae tantum et remissionis peccatorum gratuitae.« (WA 40/11. 353,36-354,17; Psalm 51. 1538Dr; Hervorhebg. v. Verf.) 236
Vgl. N I L S S O N : »So ist die substantia fur Luther nicht eine philosophische Größe, sondern ein Ausdruck für das Wesen des Menschen in seiner Totalrelation zu Gott, eine Zusammenfassung des WW»-tlichen in der Situation des Menschen coram Deo. Hierdurch wird ausgesagt, was seine Ganzheitsausrichtung ist, ob er in eine göttliche oder teuflische Machtsphäre hineingezogen ist und in ihr engagiert ist.« 237 WA 3. 419,36f (Dictata super Psalterium 1513-16): »Et sic substantia proprie magis est qualitas vel extrinsecum quam ipsa essentia rei.« Vgl. auch WA 3. 419,38f (Dictata super Psalterium 1513-16): »qualiter unusquisque est et agit, secundum hoc habet substantiam.« Vgl. JOEST, 114ff, 233ff; ferner H E R M A N N , These 17, 51; BORNKAMM, 175f; EBELING, Wirklichkeitsverständnis, 412f. 238 Zutreffend WALD, 519: »In seiner Römerbriefvorlesung setzt sich Luther prinzipiell über alle philosophischen Bedenken hinweg und kehrt das Verhältnis von Substanz und Akzidenz in der Rechtfertigungslehre um: Nicht die Eigenschaften wechseln hier, während die Substanz (des Menschen) sich durchhält, sondern es wechselt allein die Substanz (während die Sünde bleibt).« Vgl. dazu den Bezugstext aus Luthers Römerbriefvorlesung 1515/16. WA 56. 334,14-18 in der vorliegenden Untersuchung, 107 Anm. 63.
154
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
es denkbar schlecht bestellt, denn sie war der Gnade entgegengesetzt und dem Zorn und Eifer Gottes unterworfen. So herrschte sie, und wir unsererseits dienten ihr.«239 Mit der Taufe und der Gabe des Geistes aber hat sich ein neues Machtverhältnis etabliert: Luther vergleicht die Restsünde im Gerechtfertigten mit den im Lande Kanaan verbliebenen Kräften der von Israel schon geschlagenen einheimischen Völker: Sie sind zwar beherrscht, haben nicht mehr die Macht über das Land und die Menschen, aber sie sind in ihrer Substanz um nichts weniger Feinde.240 Entsprechend ist die substanziale Sünde nach Taufe und Eingießung des Heiligen Geistes »zwar noch nicht völlig nichts [...], aber sie ist untergetreten und unterworfen, so dass sie nicht mehr vermag, was sie vermochte.« 241 Luther kann überschwänglich sagen, nach der Taufe sei die Sünde zwar noch wirklich ihrer Natur nach in uns, aber nur in der Substanz, nicht dagegen nach den ihrer Mächtigkeit zugerechneten Kategorien der Quantität, Qualität und Aktivität, völlig dagegen nach der der Passivität:242 Sie erleidet nun die Anklage des Gesetzes, wird im Menschen »durch die Taufe gefangen, gerichtet und völlig geschwächt, dass sie nichts vermag, und dazu wird geboten, dass sie gänzlich zu vernichten sei.«243 Die entscheidende Differenz zum scholastischen Vorverständnis eines Latomus besteht aus Lutherscher Sicht darin, dass der Mensch nicht als selbständiger Träger seines Seins in Frage kommt, vielmehr als von Macht bestimmter exzentrisch situiert244 ist. Deshalb ist die Substanzialität der Sünde nicht notwendig identisch mit der Substanzialität des als Sünder qualifizierten Menschen. 245 Dieser ist als Geschöpf bleibend von seiner Sünde so zu unterschieden, dass er aus dem Kraftfeld der Sünde in Christus hinein gestellt werden kann. Sein personbildendes Prinzip, seine Substanz, ist nun Christus 246 bzw. der Heilige Geist.247 Dieses - mit Tillich zu 239
Vgl. StA 2. 470,1 l f / W A 8. 88,34f (Latomus. 1521). Vgl. StA 2, 470,12-25/WA 8. 88,37-89,10 (Latomus. 1521). 241 StA 2. 470,1-4/WA 8. 88,25-28 (Latomus. 1521): »Hoc vero peccatum substantiale [...] post baptismum et infusam virtutem dei, sie se habet, vt nondum penitus nihil sit, contritum tarnen est et subiectum, vt iam non possit quod potuit.« 242 Vgl. StA 2. 473,38ff/WA 8. 91,35ff (Latomus. 1521): »Ita peccatum in nobis post baptismum vere peccatum est naturaliter, sed in substantia, nec in quantitate, nec qualitate, nec actione, in passione vero totum.« 243 StA 2. 473,27f/WA 8. 91,24f (Latomus. 1521): »Ita peccatum per baptismum in nobis captum, iudicatum, prorsusque infirmatum, vt nihil possit, mandatur penitus abolendum.« 244 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 127-135. 245 Zum Gebrauch des Terminus im Bereich des Geschöpflichen vgl. W A 42. 17,1623 (Genesis. 1535ff): »Deus enim vocat ea, quae non sunt, ut sint, et loquitur n o n grammatica vocabula, sed veras et subsistentes res, Ut quod apud nos vox sonat, id apud Deum res est. [...] Sic verba Dei res sunt, non nuda vocabula.« 246 Vgl. die vorliegende Untersuchung, 113ff, 121-127. 247 »Habitat ergo verus Spiritus in credentibus non tantum per dona, sed quoad substantiam suam.« (WA 40/11. 421,33ff; Psalm 51. 1532Dr). 240
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
155
sprechen - neue Sein ist keine fur andere oder für die Person des Gerechtfertigten selbst gegenständlich oder moralisch greifbare Wirklichkeit, keine identifizierbare und definierbare Substanz, sondern es ist die Wirklichkeit ihres inneren Bestimmtseins durch den Glauben an das eschatologische Hoffnungsgut der mit der Auferstehung 248 offenbar werdenden Befreiung von Sünde und Tod. 249 Denn die Neubestimmung des Menschen durch sein Sein in Christus ist keine Ersetzung seiner sündigen durch eine gläubige Substanz, sondern Neubestimmung der durch die Sünde bestimmten substantia humana und teilgebende Zuerkennung eines neuen exzentrischen Personzentrums in Christus. Aber auch das Stehen im Kraftfeld der Gnade löscht nicht die Wirklichkeit des Sünderseins des Menschen aus. Er ist und bleibt im Blick auf sich selbst, ohne Christus, ein Sünder. 250 Die noch in ihm verbleibende, aber nicht mehr über ihn herrschende Sünde ist trotz seines in Christus exzentrisch situierten Personzentrums substanziell Sünde, Verderbnis der Natur, 251 weil sie immer noch ihrem Wesen gemäß gegen Gottes Gesetz252 streitet.253 Die Person des Gerechtfertigten ist trotz der Herrschaft des Reiches Gottes in ihr weiterhin Schauplatz des Kampfes zwischen Christus und Satan, Evangelium und Gesetz, Gnade und Zorn, Glaube und Sünde. Wenn Luther urteilt, dass auch die Person des Gerechtfertigten in sua substantia254 Sünder bleibt, heißt das folglich für ihn, dass die Sünde trotz ihrer eschatologischen Entmächtigung immer noch als gegenwärtige Macht am Ort des gerechtfertigten Sünders wirkt. Das bleibende Sündersein ist deshalb nicht die sich durchhaltende Substanz des 248 »Est autem fides sperandum substantia rerum.« (WA 57/111 H. 226,8f; 1517/18). »[Si hae res sperandae] sine substantia esse putantur, fides eis substantiam tribuit, magis autem non eis tribuit substantiam, sed est ipsa eorum essentia. Ut puta, ressurectio nondum facta est necdum est in substantia, sed spes earn facit subsistere in anima mea. Hoc est quod dixit .substantia«.« (WA 57/111 Η. 228,4-8; 1517/18). 249 Vgl. StA 2. 474,5-12/WA 8. 92,3-10 (Latomus. 1521): »Christus quidem semel absoluit et liberauit omnes a peccato et morte, dum nobis legem spiritus vitae meruit. Ille ergo spiritus vitae quid fecit? nondum a morte, nondum a peccato liberauit, liberabit autem tandem, quia adhuc moriendum est, adhuc in peccatis laborandum. Sed a lege peccati et mortis liberauit, hoc est, a regno et tyrannide peccati et mortis, vt peccatum quidem assit, sed amissa tyrannide nihil possit, et mors quidem instet, sed amisso stimulo, nihil nocere neque terrere possit.« (Hervorhebg. v. Verf.). 250 Vgl. WA 40/1. 279,13f (Galater. 1535Hs): »Si conscientia libera, est iusta persona, non in sua substantia, in se, sed in Christo. Ideo quia credit in Christum.« (Hervorhebg. v. Verf.). 251 »peccatum seu corruptionem naturae«, »vniuersam illam corruptionem naturae [...] in omnibus membris, malam et ad malam pronam ab adolescentia nostra.« (StA 2. 489,17.22f/WA 8. 104,23.27ff; Latomus. 1521). 252 Vgl. StA 2. 463,26/WA 8. 83,28f (Latomus. 1521): »Peccatum vero aliud nihil est, quam id quod non est secundum legem dei.« 253 »Nam idem prorsus est motus irae et libidinis in pio et impio, idem ante gratiam et post gratiam, sicut eadem caro ante gratiam, et post gratiam, sed in gratia nihil potest, extra gratiam praeualet.« (StA 2. 473,40-474,2/WA 8. 91,37-40; Latomus. 1521). 254 Vgl. die vorstehenden Anm. 250 und 253.
156
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
Menschseins, sondern sein bleibendes Bestimmtsein durch die Macht der Sünde. Dieses Bestimmtsein resultiert nach Luther in eben jene scholastische Anthropologie, die den Menschen gemäß des Axioms facienti quod in se est, Deus non denegatgratiam konzentrisch als Träger seines geschöpflichen Seins und auch als Täter seines gnadenhaften Seins vor Gott ansetzt. Die konzentrische Anthropologie des scholastischen Aristotelismus, insbesondere sein Festhalten an der Uberzeugung von einer sich selbst stabilisieren könnenden oder gnadenhaft in diesem Vermögen restituierbaren menschlichen Substanz, ist für Luther mithin selbst Ausdruck der Sünde. Dagegen ist der Mensch, woran er glaubt und wodurch er bestimmt ist. In dieser Sicht des kreatürlich-humanen Seins ist der Mensch von anderer Macht und anderen Mächten durchgriffen. Er kann sich in seinem Sein zu keiner Zeit seines Lebens fixieren, wird sich nicht selbst durchschaubar; er hat sich nicht selbst, sondern ist als Geschöpf von Gott ins Werden gestellt. Insofern ist das Dasein des Geschöpfes ein beständiges Geschaffenwerden. Dieses Verständnis von Wirklichkeit bringen die folgenden, Schöpfung, Erlösung und Vollendung inklusiv ansprechenden Thesen aus Luthers Disputatio de homine in nuce zur Sprache: »35. Der Mensch dieses Lebens ist reines Material Gottes für das Leben seiner künftigen Form. 36. So wie auch die gesamte Schöpfung, die nun der Nichtigkeit unterworfen ist, für Gott Material ist für die herrliche zukünftige Form. 37. Und wie Himmel und Erde im Anfang waren für die nach sechs Tagen vollständige Form, das heißt, Material für ihn, 38. so ist der Mensch in diesem Leben für seine künftige Form, wenn wiederhergestellt und vervollkommnet sein wird das Ebenbild Gottes. 39. Unterdessen ist der Mensch in Sünden, und von Tag zu Tag wird er entweder gerechtfertigt oder mehr verunreinigt.«255 Der Mensch ist nicht ein zwar von Gott abhängiger, ihm gleichwohl relativ selbständig gegenüberstehender Träger seiner Identität. Er hat sein Seinsprinzip nicht, wie es der scholastische Aristotelismus voraussetzte, als immanente oder extern wieder mitgeteilte Struktur bei sich, so dass er sich gemäß seiner Entelechie selbsttätig verwirklichen könnte. Er ist und bleibt vielmehr reines Material, reiner Stoff in den Händen des Schöpfers, von dem ihm seine Form zukommt. 256 Seine geschichtliche Existenz ist die ihm nicht durch-
255 W A 39/1. 177,3-12 (Disp. de homine. 1536): »35. Quare h o m o huius vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam. 36. Sicut et tota creatura, nunc subiecta vanitati, materia Deo est ad gloriosam futuram suam formam. 37. Et qualis fuit terra et coelum in principio ad formam post sex dies completam, id est, materia sui, 38. Talis est h o m o in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata et perfecta fuerit imago Dei. 39. Interea in peccatis est homo, et in dies vel iustificatur vel polluitur magis.« - Die gegenüber der Rechtfertigung des Sünders für Luther alternative Möglichkeit einer zunehmenden Verunreinigung der Person blendet Herms in seiner Lutherinterpretation aus. Vgl. in exemplarischer Kürze H E R M S , Mensch, sowie die vorliegende Untersuchung, 212-243. 256
Zum Begriff Seinsprinzip vgl. chung, 118 Anm. 102.
EBELING,
Leben,
327
(vgl. die vorliegende Untersu-
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
157
sichtige, sondern nur in der eschatologischen Hoffnung des Heilsglaubens gegebene Wirklichkeit des zugleich destruierenden wie schöpferisch erneuernden Wirkens Gottes an ihm. Die Thesen weisen zugleich auf die Partikularität der Heilszueignung. Wie der sündige Mensch so ist auch die gesamte den Sündenfolgen unterworfene Kreatur Stoff ihrer künftigen Gestalt in den Händen des Schöpfers. Allein für die Gerechtfertigten gilt, dass ihr von Sünde bestimmtes zeitliches Dasein Material, passive Möglichkeit für Gottes schöpferisches Handeln auf die herrliche Gestalt des künftigen Seins hin ist. Der nicht gerechtfertigte Sünder steht auch in einem Werden. Jedoch führt dieses Werden den Sünder in zunehmender Verunreinigung dem endgültig verurteilenden Gericht Gottes zu. 4.6.6 Erneuerung der Kreaturen im Zusammenspiel von erhaltender und erlösender Wirkgegenwart Gottes Die bisherigen Ausführungen zeigen die Wirklichkeit im Verständnis Luthers als zweifache, konfliktgespannte Ereignung der Wirkgegenwart Gottes: Unterstreicht die Verborgenheit der aktuosen Allmacht Gottes sowohl die ontologische Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf wie auch den soteriologisch relevanten Abstand zwischen dem Gesetz gebenden Gott und den zur Erfüllung des Gesetzes geforderten Menschen, so die Verborgenheit der Heilsereignung die unüberbietbare Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, Christus und Sünder. Mit der Aufhebung des Gesetzes in Christus reguliert Gott das Verhältnis zwischen sich und dem Sünder nicht nur nach Art einer neuen Beziehung zwischen apart bleibenden Subjekten. Vielmehr verwirklicht er selbst das Heil des Menschen in der christologischen Persongemeinschaft von Gott und Mensch und stellt den Sünder in die Wirklichkeit des Heils durch die Kondeszendenz seines Buße und Glauben, Abbau des alten und Aufbau des neuen Menschen wirkenden Geistes ein. Neben den ontologisch wie soteriologisch gewichtigen Gesichtspunkt von Distanz und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch tritt ein weiterer Unterschied. Stellt die omnipotentia generalis Dei den Menschen gerade wegen ihrer die Schöpfung erhaltenden Dynamik in seinem Wesen fest, so setzt die singularis virtus spiritus sui eine das Wesen des Geschöpflichen qualitativ verändernde und erneuernde Bewegung frei.257 Allerdings ersetzt die das sündige Wesen erneuernde Wirksamkeit des Geistes Christi nicht die Tätigkeit der aktuosen Schöpfermacht Gottes. Vielmehr nimmt sie das schöpferisch-erhaltende Wirken Gottes an seiner sündigen Kreatur auf. Sie vergegenwärtig das Ende des Zorns in der Zuerkennung der Gerechtigkeit Christi an der Stelle des Menschen als Glaube an Christus 257 Vgl. C1 3. 385,3ff/WA 26. 312,23ff (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528); C1 3. 117,7f/WA 18. 626,26f (DSA. 1525); WA 42. 452,14-21 (Genesis. 1535ff): Text s. die vorliegende Untersuchung, 33 Anm. 48.
158
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
und vermittelt sein konkret geschöpfliches Sosein als Sünder beständig mit seiner in Christus verborgenen, zukünftig aber in ihrer Vollkommenheit offenbar werdenden Identität als des zum Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen. 258 Die in der Spannung von Anfechtung und Trost, erlittenem Abbau des alten und geschenktem Aufbau des neuen Menschen iterierende Geschichte individueller Glaubensexistenz ist die Gestalt, unter der Gott verborgen das neue Sein wirkt. Weil die Zuerkennung der Gerechtigkeit Christi nicht nur die eschatologisch verdammende Macht der Sünde aufgehoben hat, sondern im Geschenk der Gegenwart geistgewirkten Glaubens auch die aktual bestimmende Wirksamkeit der bleibenden Sünde je und je bricht, wird sogar die schöpferische Allmacht Gottes anfänglich wieder erkennbar als liebende Gegenwart Gottes bei seiner Kreatur, die er schafft und erhält, um ihr das ewige Leben zu geben.259 Aber auch in Bezug auf die Wiedererkenntnis der Schöpfung ist festzuhalten, dass nicht erst der Geist der Heiligung die wesenhafte Güte des Geschaffenen wirkt. Der vom Geist gewirkte Glaube vermittelt allein die beginnende Wiederwahrnehmung der elementaren Güte des geschöpflichen Seins, die, im Urständ vollkommen geschaut, den Menschen unmittelbar zu anbetendem Lobpreis Gottes provozierte. Er revoziert nicht das ursprüngliche Werk des dreieinigen Schöpfers, 260 wenn er die sündige Kreatur erneuert, sondern er nimmt sie aus dem Machtbereich der Sünde in Christus hinein und streitet wider die verbleibende Sünde, um die von Gott geschaffene und erhaltene Kreatur wieder in das Verhältnis glaubenden Sich-Empfangens aus dem Schöpfer einzustellen. So gibt nicht der heiligende Geist, sondern Gott der Schöpfer auch dem Gerechtfertigten das »täglich Brot«, d.h. »alles, was zur Leibsnahrung und -notdurft gehört als Essen, Trinken, Kleider, Schuch, Haus, Hof, Acker, Viehe, Geld, Gut, frumm Gemahl, frumme Kinder, frumm Gesinde, frumme und treue Oberherrn, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.«261 Zwar kennt Luther keine exklusiven Appropriationen der opera ad extra zu den trinitarischen Personen, 262 aber im Blick auf die ontologische Differenz des In-Wirkens Gottes in seiner Kreatur sind die Werke Gottes des Schöpfers, Erlösers und Heiligers streng zu unterscheiden. Überdies steht die Rede von dem einen Werk des trinitarischen Schöpfers, Erlösers und Heiligers ebenso wie die Prädizierung des in Christus unter Kreuz und Leiden verborgenen, 258
Vgl. die vorliegende Untersuchung, 100 Anm. 42, 102f Anm. 46 sowie 118 Anm.
101. 259 Vgl. BSLK 660,32ff/WA 30/1. 191,36ff (Gr.Kat. 1529); W A 42. 452,14ff (Genesis. 1535ff); WA 43. 140,1-141,24; 276,18ff (Genesis. 1535ff). 260 Vgl. W A 42. 10,16ff; ll,19ff; 37,25-38,12 (Genesis. 1535ff); WA 43. 276,29ff (Genesis. 1535ff). 261 BSLK 514,1-10/WA 30/1. 374,1-5 (Kl.Kat. 1529). 262 »Was Gott gegen die Creatur thut, das thun alle drey Personen on unterscheid.« (WA 54. 65,23ff; Von den letzten Worten Davids. 1543).
Wirklichkeit als Miteinander differenter Modi der Wirkgegenwart Gottes
159
gleichwohl im Wort-Geist-Geschehen der Verkündigung offenbaren Heilswillens Gottes in geschichtlich bleibender Spannung zur Erfahrung der Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen. Luthers denkende Eröffnung des Glaubens an die Einheit des Willens Gottes mit dem Menschen in seinem Schöpfungs- und Erlösungswerk kontrastiert mit der ebenso im Denken festgehaltenen Erkenntnis der unter dem Zorn Gottes beharrenden Macht der Sünde. Sicher gilt, dass der geistgewirkte Glaube an Christus auch die die Restsünde aktualisierende Allwirksamkeit des Schöpfers als Bedingung rechter Selbst- und Gotteserkenntnis in den Zusammenhang des den alten Menschen unter Anfechtungen abbauenden, die Kreatur erneuernden Wirkens Gottes transzendiert. 263 Unter der Gegenwart des erneuernden Geistes ist auch die die bleibende Sünde aktualisierende omnipotentia generalis Dei mittelbar an der Rechtfertigung beteiligt; denn sie schafft diejenigen inneren und äußeren Sachverhalte, an denen sich unter dem Ergriffensein durch das anklagende Gesetz die Erkenntnis der Sünde und der Angewiesenheit auf das erlösende Wirken Gottes immer wieder entzünden kann. Hingegen kann der Gerechtfertigte angesichts der Partikularität des Glaubens nicht den spekulativen Schluss ziehen, dass Kreuz, Anfechtung und Sünde in jedem Fall als negatives Durchgangsmoment der die Kreatur in ihrer Selbstverschlossenheit aufbrechenden und in die Transzendenz des Glaubens aufhebenden Dialektik der göttlichen Schöpfungsbewegung zu verstehen sind.
4.7. Resümee
Die nähere Untersuchung der verborgen wirkenden omnipotentia generalis Dei zeigt, dass der Begriff mindestens drei zwar voneinander nicht zu trennende, wohl aber zu unterscheidende Weisen der Wirkgegenwart Gottes des Schöpfers bezeichnet. An erster Stelle ist die das Universum kreatürlichen Seins zeitlich im Dasein erhaltende und mit Leben erfüllende Wirksamkeit Gottes zu nennen. Diese im Urständ das ewige Leben unmittelbar vorbereitende und von der Güte des Schöpfers zeugende, wiewohl ihn verbergende Gestalt zeitlichen Seins tritt nach dem Fall sofort unter die Signatur des Zorns. Nicht nur der Schöpfer selbst, sondern nun auch die Güte des Daseins treten unter dem Zorn Gottes über die Sünde in die Verborgenheit. Wiewohl Gott seine Kreatur auch nach dem Fall im Dasein hält, wirkt der 263
»Darumb hat got auch den tod auff unß alle gelegt/vnd das Creutz Christi mit vntzelichen leydenn vnnd notten/seinen aller liebsten kindernn vnd Christenn geben/ ia auch zu weilen ynn sund fallen lessit/auff das er ia viel zu sehen hette ynn die tieffe/vielen helffen/viel wircken/sich einen rechten schepffer erzeigen/vnnd da mit sich bekandt/lieblich vnd loblich machen mocht«. (C1 2. 137,21-26/WA 7. 548,12-16; Magnificat. 1520/21).
160
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
Sünder unter dem Treiben der Allmacht Gottes nun mit Notwendigkeit Sünde und zieht den Zorn Gottes unausweichlich auf sich. Zweitens: Weil Gott aber unmittelbar nach dem Fall die Christusverheißung aufrichtet und den Glauben an sein Wort durch den Geist wirkt, erscheint die unter der Signatur von Sünde und Zorn Gottes wirkende Allmacht des Schöpfers sofort in der neuen Perspektive des die Sündenerkenntnis vorbereitenden opus alienum Dei, das den geschichtlichen Erfahrungszusammenhang hervorbringt, an dem es zur Einsicht in Sünde und Schuld unter dem anklagenden Gesetz kommt. Drittens: Die Wirklichkeit beharrenden Unglaubens zeigt, dass die omnipotentia generalis Dei auch Gottes Wirken im endgültig richtenden Zorn umschließt. Während der Glaubende die die Sünde aktualisierende und die Anfechtung durch den Zorn Gottes wirkende Allmacht des Schöpfers als das sub contraria specie verborgene Wirken des gnädigen Gottes wahrnimmt, bleibt dem Gottlosen auch der über ihm wirkende Zorn Gottes verborgen. Das Doppelgesicht der erhaltend-vorantreibenden Dynamik allgemeiner göttlicher Wirksamkeit nach dem Fall wird auch nicht dadurch gemildert, dass Gottes verstockendes und den Glaubenden anfechtendes Wirken in die Perspektive des Erweises seiner Macht zugunsten der Glaubensstärkung der Gemeinde gerückt wird. Der unbegreifliche Wille des in seiner Majestät verborgenen Gottes wirkt den doppelten Ausgang der Geschichte und lässt sich nicht spekulativ aufheben in ein die Geschichte teleologisch strukturierendes Wirkungsgesetz. Er ficht an und verliert seinen peinigenden Stachel für die Vernunft nur, wenn der Mensch gänzlich an sich selbst verzweifelt und von der tröstenden, gewiss machenden Erfahrung der heilsamen Erschlossenheit Gottes für den Sünder im Deus praedicatus eingeholt wird.264 Aber der anfechtende Stachel kehrt wieder, solange der Glaubende in diesem Leben steht und so wahr er der Sünder bleibt, der Gott zur Rechenschaft für seine misslingenden Selbstbegründungsversuche zu ziehen sucht, statt sich im Glauben gänzlich aus dem gründenden Sich-selbst-Gewähren des dreieinigen Schöpfers, Erlösers und Heiligers zu empfangen. Die soteriologisch wie ontologisch signifikante Differenz zwischen der omnipotentia generalis Dei und der singularis virtus spiritus sui verbietet es, beide Gestalten der wirksamen Weltgegenwart Gottes unerläutert unter dem Begriff der All(ein)wirksamkeit oder der Allmacht Gottes zusammenzufassen. Zwar spricht Luther auch inklusiv von Gott nach seinem alles vorherwissenden, alles vorherbestimmenden und alles setzend-wirkenden Willen. 265 Diese Form der Rede von Gott hebt aber die soteriologisch notwendige Unterscheidung seiner Wirkweisen und ihre ontologisch beschreibbare Differenz nicht auf. Gott ist zugleich der verborgene Schöpfer 264
Vgl. C1 3. 110,27ff; 214,21ff; 288,16ff7WA 18. 618,21ff; 719,3ff; 783,17ff (DSA.
1525). 265
Vgl. z.B. C1 3. 108,30ff; 110,27ff/WA 18. 615,31ff; 618,21ff (DSA.1525); WA 42. 57,35ff (Genesis. 1535ff).
Wirklichkeit als Miteinander differenter M o d i der Wirkgegenwart Gottes
161
und der im Wort sich zueignende Erlöser, der durch Gesetz und Evangelium Redende, der Zorn und Gnade Ereignende, der in Sünde Festhaltende und den Glauben Wirkende, der Verdammende und der ewiges Leben Schenkende. Diese Modi seiner Wirkgegenwart lassen sich nicht als Erscheinungsweisen eines sich dialektisch entfaltenden, identischen Willens interpretieren. Das Wirken der intelligiblen Kreatur im Ganzen stellt nicht den dialektischen Entfaltungsprozess des einen göttlichen Willens mit der Menschheit dar - es sei denn, man wolle den Ausschluss der Heiden vom ewigen Heil sowie die endgültige Verstockung und Verdammung einzelner Menschen im Sinne Hegels als »List der Vernunft«266 interpretieren. Vom Geschick des einzelnen kann jedoch weder die natürliche Vernunft noch der Glaube abstrahieren. Dieser wird angefochten, jene nimmt Ärgernis an dem Gott, der gerecht sein soll, obwohl er »so wenige rettet, so viele verdammt«. 267 Nur im festen Glauben an die Zuverlässigkeit der Verheißung in Christus werden die Einheit, Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes,26* die erst mit der eschatologischen Selbstoffenbarung der göttlichen Majestät fur das menschliche Verstehen begreifbar werden,269 für Luther schon jetzt prädizierbar - trotz des aus Gottes Wirken mit Notwendigkeit hervorgehenden, widersprüchlichen und die Vernunft beleidigenden Weltgeschehens.270 Unterdessen jedoch arbeitet sich der Glaube an den einen, wahren und gerechten Gott bis zur künftigen Selbstoffenbarung Gottes an der die Zuverlässigkeit der Verheißung zu widerrufen scheinenden, anfechtenden Wirklichkeit des deus absconditus ab.
266 Dass auch HEGEL, Philosophie der Geschichte, 63, das Problem der Nichtidentität bzw. der nicht gelingenden Vermittlung zumindest wahrnimmt, allerdings überspielt, zeigen die Unterscheidungen von Idee und Erscheinung sowie von Nichtigem und Affirmativem innerhalb des als Erscheinung bestimmten geschichtlichen Geschehens: »Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Bethätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem besonderen und bestimmten und aus dessen Negation, dass das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft und wovon ein Theil zu Grunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begiebt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List der Vernunft zu nennen, dass sie die Leidenschaften fur sich wirken läßt, wobei das, was durch sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Theil nichtig, ein Theil affirmativ ist. Das Particulate ist meistens zu gering gegen das Allgemeine: die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseyns und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.« (Hervorhebg. v. Verf.). 267 »qui tarn paucos saluat, tarn multos damnat«; C1 3. 124,27f/WA 18. 633,16; vgl. C1 3. 214,21ff; 289,4-291,19/WA 18. 719,3ff; 784,1-785,38 (DSA. 1525). 268 Vgl. C1 3. 289,17ff/WA 18. 784,1 Iff (DSA. 1525): »At cum sit Deus uerus et unus, deinde incomprehensibilis et inaccessabilis humana ratione, par est, imo necessarium est, ut et iustitia sua sit incomprehensibilis.« 269 Vgl. C1 3. 290,37-291,19/WA 18. 785,20-38 (DSA. 1525). 270
Vgl. C1 3. 290,7ff/WA 18. 784,36ff (DSA. 1525).
162
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
Gerade weil der Glaubende die Wirklichkeit Gottes in allem wahrnimmt, wird die Unterscheidung von allgemeiner Wirkgegenwart Gottes im Weltgeschehen und besonderer Wirkgegenwart in seinem erneuernden Geist für ihn notwendig; denn sonst würde sich das Gewissen des Gerechtfertigten unausweichlich vom Andrängen der vielgestaltig versuchlichen Macht der Sünde unter dem Gesetz gefangen nehmen lassen. Die singularis virtus spiritus sui aber unterscheidet den Sünder an der Stelle seines Gewissens durch die Gabe des Glaubens von seiner der Macht der Sünde und dem Zorn Gottes verfallenen äußeren Existenz in der Weise, dass er sich nicht mehr unmittelbar über das sündige Wesen definiert, das die omnipotentia generalis Dei zur Aktualisierung treibt, sondern über Christus und seinen Geist, unter dessen Wirkgegenwart das verborgene Wirken Gottes sich je und je wieder eröffnet als Sündenerkenntnis und Anfechtung schaffendes opus alienum Dei. Nach seiner omnipotentia generalis hält Gott die Kreatur allein gemäß ihrem sündigen Wesen im Dasein und reißt angesichts der aus ihrer Lebensbewegung selbst hervorgehenden Forderung nach vollkommener Realisierung ihres Personseins die unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch, Sein und Sollen auf. Nach seiner singularis virtus spiritus sui aber begründet Gott das Wesen des Menschen neu. Er macht sich in Christus selbst zum Personzentrum der gefallenen Kreatur, so dass der Sünder nun im Wort- und Geist-gewirkten Glauben in innigster Gemeinschaft mit Christus existiert. Bemerkenswerter Weise stellt sich also in Gottes ab extra durch das Wort von Christus eröffnetem In-Wirken in seiner Kreatur das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Gott und Mensch völlig entgegengesetzt zum In-Wirken der omnipotentia generalis Dei dar: Die Allmacht des Schöpfers reißt gerade durch ihre unmittelbare, aber durch den Zorn verborgene Gegenwart beim Sünder die Distanz zwischen Gott und dem Menschen auf; denn unter der treibenden Allmacht muss der Sünder sein Leben notwendig verfehlen, steht aber zugleich unter der von ihm nicht erfüllbaren, sei es nun anonymen, sei es sozial vermittelten oder als Gesetz Gottes verkündigten Forderung, sein Leben in die Ganzheit zu sammeln. 271 Gottes allgemeine Wirkgegenwart stellt sich damit als unausweichliche Forderung des Gesetzes dar. Es weist den Menschen vor seinem Gewissen als in sich unvollkommen aus und präsentiert ihm die Vollständigkeit seines Personseins als gegenüber seinem Sosein externe Realität. Der Sünder ergreift die externe Forderung des Gesetzes nach seinem Seinsollen jedoch als Imperativ zur selbsttätigen Verwirklichung eines ihm immanenten Seinkönnens, während der geistliche Sinn des Gesetzes gerade darin besteht, den Sünder als Geschöpf in den ihm gegenüber externen Grund seines Personseins im Wirken des Schöpfers einzuweisen. 271 Zur Unausweichlichkeit der ethischen Forderung und des Sich-selbst-Aufgegebenseins auch in der Situation ethischer Indifferenz und Verborgenheit göttlicher Forderung siehe BAUR, Recbtfertigungskhre.
Die Geschichte als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang
163
Das erneuernde Wirken Gottes durch das Wort setzt dagegen bei der unter dem Treiben der Allmacht aufgebrochenen Distanz zwischen Gott und dem Sünder ein. Das Wort Gottes kommt von außen auf den Sünder zu und stellt ihn im geistgewirkten Glauben in Jesus Christus als den begründenden Grund seines Personseins ein. Dieser Glaube rechtfertigt, weil er Gott darin die Ehre gibt, dass er ihn den die Person in Christus neu begründenden und durch seinen Geist auf ihre eschatologisch offenbar werdende Vollkommenheit hin verborgen formierenden Schöpfer sein lässt. Das von außen kommende In-Wirken des Geistes in der Kreatur schafft also gerade dadurch die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, dass es den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf im glaubenden Sich-Empfangen aus dem Wirken Gottes wieder zur Erfahrung bringt. Die Externität vollkommenen Personseins wird im Gewissen nicht mehr als unerfüllbare Forderung an ein in Wahrheit nicht gegebenes Selbstverwirklichungsvermögen erfahren, sondern als Exzentrizität des sich in Jesus Christus heilsam eröffnenden personbildenden Grundes, der sich durch das Evangelium als unverfügbares Wirken des Geistes selbst an der Stelle des Sünders vergegenwärtigt und gegenwärtig hält. So begründet das Evangelium mit dem Glauben keine neue Gestalt geschlossener, weil auf ihr eigenes Wirken verwiesener Subjektivität, sondern das Sein in Christus als kommunikative Gemeinschaft von sich gebendem Gott und sich empfangendem Menschen.272
5 Die Geschichte als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang von Luthers Wirklichkeitsverständnis 5.1 Erfahrung als von Gott verfugte Konstellation der Wirklichkeit Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis arbeitet sich aus in der Erfahrung kontingent geschichtlicher Bewegtheit des Glaubens zwischen bedrängenden Anfechtungsmächten und sich gnädig verheißendem Gott, zwischen Heiliger Schrift und Weltwahrnehmung. Im vorigen Kapitel wurden die differenten Modi der Weltgegenwart Gottes analytisch als Konstituenten begegnender Wirklichkeit erhoben, die komplexe Simultaneität und differente Interaktivität der unterschiedenen Weisen verborgen wirkender Weltgegenwart Gottes wurde aufgezeigt. In der Erfahrung begegnet dem Menschen die komplex strukturierte Wirklichkeit jedoch immer als ein synthetisches Ganzes, als eine bestimmte Konstellation des Wirklichen, in die er selbst charakteristisch eingebunden ist. Was als objektiv ausweisbare Wirklichkeit begegnet und wie diese Wirklichkeit subjektiv wahrgenommen wird, hängt ontologisch-konstitutiv von den Wirkwei272
Vgl. BAUR, Identität.
164
Wirklichkeit als Werk u n d Weltgegenwart Gottes
sen der göttlichen Weltgegenwart ab. Der Mensch ist sowohl in seinem objektiv beschreibbaren Geschick wie auch in der Deutung seiner Erfahrung von Gott verfugt. Je nach seiner Grundstellung im Ganzen des Daseins kann er ein persönliches Missgeschick, eine Naturkatastrophe, einen Krieg als zufälliges Schicksal deuten, kann er die gleichen Tatbestände aber auch als gottverfugte Strafe oder als einweisend-anklagendes Gesetz erleben. Seine Deutung der Wirklichkeit steht in Abhängigkeit von der fundamentalen Ausrichtung seines Herzens, von seinen Affekten, in denen er seinerseits von göttlicher Wirkgegenwart verfugt ist: O b der Mensch sich in selbstzentrierter Vermessenheit oder Verzagtheit als stabiles oder instabiles Subjekt der Geschichte versteht oder ob er sich in Gottesfurcht und Gottvertrauen als dem göttlichen Wirken kooperierendes Geschöpf erfährt, entscheidet über seine Wirklichkeitserfahrung. 273 Aus der Stellung des Menschen lassen sich idealtypisch drei differente Erfahrungsmodi der Wirklichkeit ausweisen: 1. die den Sünder im Unglauben konzentrisch in sich stabilisierende Welt, 2. die den Sünder in der Anfechtung in Widerspruch und Entzug destabilisierende Welt, 3. die den angefochtenen und sich als Sünder erkennenden Sünder im geschenkten Glauben exzentrisch in Gott eingründende Anrede des dreieinigen Gottes, die zu einer erneuerten Erfahrung seiner selbst und der Welt als von Gott erhaltener und vorangetriebener Schöpfung fuhrt. Die Konstellation des als Wirklichkeit sich zur Erfahrung Bringenden ist freilich weder in sich selbst noch für einen Menschen noch von Gott her festgestellt. Die Wirklichkeit schwingt vielmehr, abhängig von den Ereignungsweisen der differenten Modi der Weltgegenwart Gottes, zwischen verschiedenen Konstellationen sowohl in ihrer Wahrnehmung seitens des Menschen (anfechtend oder tröstend, zum Hochmut oder zur Verzweiflung führend) wie auch in ihrer Zueignung seitens Gottes (Zorn, Gnade, erhaltende Güte). In diesem Spannungsfeld wird die Wirklichkeit selbst als geschichtliche Bewegung sie verfügender Macht und Mächte vom Glaubenden wahrgenommen. Derselbe Mensch erfährt sich einmal als in sich stabiles Subjekt seines Daseins und seiner Geschichte, wird dann in den destabilisierenden Transitus der Anfechtung geworfen, und wird sich ein anderes Mal, so Gott ihn nicht in der sündigen Grundbewegung festhält, wieder gegeben als getröstetes und in Christus exzentrisch geborgenes Geschöpf inmitten anderer Geschöpfe. 273 Vgl. die Überlegungen von SCHWARZ, Wahrheit, 182ff, zur Bedeutung der kontingenten Affektbestimmtheit des Menschen für Luthers Geschichtsauslegung; vgl. die vorliegenden Untersuchung, 73-77. Zum Begriff affectus vgl. C1 3. 227,1 lff.20-24/WA 18. 730,28ff; 731,2-5 (DSA. 1525): »Vides ergo Diatriben cum suis in hac causa [sc. Gottes partikulares Annehmen und Verwerfen von Sündern] non iudicare secundum aequitatem, sed secundum affectum comodi sui. [...] C u m igitur Ratio Deum laudet indignos saluantem, arguat uero immeritos damnantem, conuincitur, non laudare Deum, ut Deum, sed ut suo comodo seruientem, hoc est, seipsam et quae sua sunt in Deo quaerit et laudat, non Deum aut quae Dei sunt.«
Die Geschichte als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang
165
Die Bewegtheit des Menschen ist eine Variable innerhalb der Gesamtbewegung des Wirklichen. Sie kommt nicht im Menschen zur Ruhe, sondern dieser ist selbst wiederum als bewegendes, geschichts- und weltgestaltendes Element im Ensemble des Wirklichen verfugt. Damit ist die Eingebundenheit des Menschen Element der anderen Variablen der Gesamtbewegung gottverfugter und satanisch bedrohter Wirklichkeit, die sich dem glaubenden Subjekt als Geschichte und Schöpfung, als von Gott geschaffene, erhaltene und durch sein Wort richtend wie rettend bewegte Welt darbietet. Die dritte und für die Erfahrung von Selbst und Geschichte entscheidende Instanz im Ensemble des Wirklichen ist Gott selbst. Man kann nicht ohne weiteres sagen, dass auch Gott eine Variable der Gesamtbewegung des Wirklichen ist. Denn grundsätzlich ist er die alle Geschichte, auch das Wirken des Teufels, verfugende Macht. Er ist für den einen Inbegriff vergötzter Welt, für den anderen Garant seiner werktätigen Selbstverwirklichung; er ist für den Erwählten der gnädige und für den Verworfenen der zornige Gott. Es ist Gott selbst, der die Anfechtung der Glaubensgewissheit wirkt, indem er sich heute zornig stellt, morgen sich tröstlich als der in Christus barmherzig nahe Gott mitteilt. Aber weil Gott nicht an sich greifbar ist, sondern das gottgewirkte Trauen und Glauben des Herzens [...] beide Gott und Abgott macht,274 deshalb ist auch die Formulierung sachgemäß, dass Gott, und zwar in seinem Sein für ein bestimmtes Subjekt, eine Variable der von Gott hervorgebrachten Gesamtbewegung des Wirklichen ist.
5.2 Verschlossenheit und Transzendenz der Welt als Erfahrung von verklagendem Gesetz und tröstendem Evangelium Weltgeschehen und Heilsgeschehen sind in der Lutherschen Gestalt von Erfahrung und Auslegung der Geschichte in komplexer Weise sowohl gegeneinander stehend wie ineinander verschränkt. Die unvorgreifliche und unwiederbringliche Einmaligkeit des Ereignisstromes der Geschichte 275 steht bereits in von Gott bestimmter Richtung auf jeweiliges Ereigniswerden von Heil oder Unheil für einzelne Personen oder Menschengruppen. Der Trost des Evangeliums tritt nicht unvermittelt in eine gottferne Welt ein, sondern gilt Menschen, die wegen des Schwindens bisher bergender Welt in tiefe Verzweiflung stürzen, Menschen, denen ihre Geschichte zu Erfah274
Vgl. BSLK 560,16f/WA 30/1. 133,4 (Gr.Kat. 1529). Vgl. WA 40/111. 525,15f (Enarr. Psalmi 90. 1534/35.1541Dr): »[D]e omni tempore nihil habemus, quam quod N U N C est, Reliqua non sunt, quia aut abierunt aut nondum venerum.« C1 3. 245,7-13/WA 18. 747,2-7 (DSA. 1525): »Imo maxime operandum est, quia incerta nobis sunt omnia futura. [...] Nobis inquam sunt incerta cognitione, sed necessaria euentu. Necessitas nobis timorem Dei incutit, ne praesumamus et securi simus. Incertitudo uero fiduciam parit, ne desperemus.« Vgl. auch die vorliegende Untersuchung, 207ff Anm. 406, Abs. 2. 275
166
Wirklichkeit als Werk und Weltgegenwart Gottes
rang und Vollzugsgestalt des ihnen geltenden Zorns Gottes wird. 276 Das singuläre Weltgeschehen bildet das Material, an dem es zur kontingenten Erkenntnis von Sünde unter dem anklagenden Gesetz kommt. Das sich in der Stimme des Gewissens und im Wort der Verkündigung meldende Gesetz unterbricht nicht als fremdes oder konkurrierendes Element den vermeintlich profanen Lauf der Dinge. Vielmehr fuhrt es die immer schon gegebene Welterfahrung eines ambivalenten Ineinanders von ungeschuldetem Empfangen und unabgeltbarem Gefordertsein in die Gewissenseinsicht über, dass die Wirklichkeit als ganze den Menschen unausweichlich als Sünder vor Gott verklagt: Die Geschichte selbst ist Vollzugsgestalt des den Sünder erhaltenden und vorantreibenden wie zugleich verklagenden 276 »Das heyst aber ynn der gnaden reich bleyben, wenn ich nicht verzweyffel an Gotts gnaden und an der vegebunge der sunden, es sey die sunde wie gros sie wolle, sondern fest bleybe ynn synn und gewissen, es sey noch gnade und vergebunge da, wenn gleich Gotts und aller creatur zorn mich fressen wollte und meyn eygen gewissen dazu selbst saget, die gnade were aus und Gott wollte nicht vergeben.« (WA 19. 200,6-11; Jona. 1526); »denn Gott, teuffei, tod, sünd, helle und alle Creatur seien ein ding und alle sein ewiger unablessiger feind worden.« (WA 31/1. 147,6ff; Confitemini. 1530); »postquam conscientia per legem convicta fuit, territisint Adam et Heua adsonitumfolii. [...] Tarn horribilis poena sequitur peccatum, ut a sonitu folii metuat conscientia, Imo ut pulcheirimam creaturam, ipsum lumen diei, sustinere nonpossit, quo tarnen natura recreamur. [...] Ο quam gravis casus, labi ex summa securitate, fiducia et delectatione Dei in tarn horribilem pavorem, ut homo a conspectu Dei plus quam a Diaboli conspectu et praesentia refugiat! [...] Deum, conditorem suum, fugiunt, eum iudicant sibi graviorem et formidabiliorem esse Satana, Satana autem meliorem Deo, a Satana enim non fügiunt. Ergo pavorhicverefuga et odium Dei est. [...] Postquam enim Adam territus est conscientia sui peccati, fugit conspectum Dei et sentit non solum Paradisum, sed totum mundum angustiorem esse, quam in quo possit tuto latere.« (WA 42. 127,15f; 128,2ff; 128,13-19; 129,10ff; Genesis. 1535ff); »Itaque ad hunc Adae vocem: >Quid fecisti< credo Cain ita animo perturbatum et confusum esse, ut quasi attonitus esset, et, quid vel faceret vel diceret, nesciret. Sic enim cogitavit: Si pater Adam seit de caede a me facta, quid dubito, quin idem sciat Deus, Angeli, coelum et terra? Quo igitur fugiam? quo me vertam infoelix? Ac accidit idem adhuc hodie homicidis: ita agitantur post patratam caedem furiis, ut vere attoniti sint, ac putent coelum et terram aliam induissefaciem, et, quo fugiant, nesciant. Sicut Poetae etiam de Oreste furiis agitato loquuntur. [...] Fit autem idem in aliis quoque atroeibus peccatis ac experiuntur similes sensus, quos apprehendit tristitia spiritus, his enim omnes creaturae videntur immutatae. Quando etiam cum notis hominibus loquuntur eosque vicissim audiunt, ipse sonus oris videtur alius esse, videntur immutati vultus, nigrescunt et horrent omnia, quocunque vertunt oculos. Nisi itaque divinitus erigantur, necesse est, ut ipsi abrumpant vitam suam prae desperatione, prae angustia et impatientia doloris.« (WA 42. 211,32-212,8; Genesis. 1535ff); »Hae voces et hi sensus legis non sunt inanes soni aut syllabae, sed hie unum L occupat et adimpkt totum orbem terrarum, atque tarn magnum est, ut vix mundus illud possit capere.« (WA 39/1. 455,21; 2. Antinomerdisp. 1538). Vgl. auch den frühen Text aus den Dictata super Psalterium 1513-16: »Omne peccatum ad desperationem valde inducit et difficiliter sperare sinit et credere. Sic etiam hoc psalmo dicit: Miserere mihi domine quoniam tribulor, scilicet inquietudine conscientiae et metu omnium penarum. Quia tota creatura videtur ei inimica.« (WA 3. 168,11-15); s.a. WA 1. 557, 37-558,12 (Resolutiones. 1518; Text siehe die vorliegende Untersuchung, 207 Anm. 406), WA 19.226,9-227,14 (Jona. 1526); Hervorhebg. v. Verf.
Die Geschichte als Entdeckungs- und Bewährungszusammenhang
167
Gesetzes Gottes. Diese gesetzhafte Struktur zeitlich-welthaften Daseins ist zwar allgemein gegeben, sie wird aber nur als konkret-bestimmte Geschichte in ihrer Einmaligkeit zur Erfahrung. Und deshalb wird auch der Trost des Evangeliums, der des Seins in Christus vergewissert, als Rettung aus oder Erhaltung in einem bestimmten Ereigniszusammenhang erfahren. Die Verkündigung von Gesetz und Evangelium wie auch das Geschehen von Rechtfertigung nehmen trotz der allgemeinen Struktur des Vorgangs und der sich gleich bleibenden Inhaltlichkeit des Heils an der individuellen Gestalt des geschichtlichen Zusammenhanges teil, in dem sie Ereignis werden. Aus diesem Grunde sind Gesetz und Evangelium nach Luther nicht zuerst als festgefugte Bestände heiliger Worte zu verstehen. Vielmehr sind sie Macht-Worte Gottes, die neue Wirklichkeit setzen:277 Das Gesetz informiert den Menschen nicht nur über seine Sünde, sondern macht ihrer als Wahrheit seines ganzen Lebens existenzerschütternd gewiss, indem es das Gewissen unentrinnbar verklagt und der Schuld überfuhrt; das Evangelium benennt Christus nicht nur als Ort der Rettung des Sünders, sondern
277
Vgl. C1 3. 368,29-31/WA 26. 283,4f (Vom Abendmahl Christi. 1528, mit Bezug auf die Einsetzungsworte): »So ist sein wort freylich nicht ein nachwort, sondern ein machtwort, das da schaffet, was es lautet.« WA 7. 835,1-5 (Rede zu Worms. 1521; in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Rom um Ablass und Rechtfertigung): »mihi plane omnium iucundissima facies ista in rebus est videre, ob verbum dei studia et dissensiones fieri. Is enim est verbi dei cursus, casus et eventus, sicut dicit: >Non veni pacem mittere, sed gladium: veni enim separare hominem adversus patrem suumMiserere mei, Deus< et sie coniungentem res sua natura dissimillimas, Deum et se peccatorem, iustum et iniustum. Ingentem autem ilium montem irae divinae, qui ita disiungit Deum et Davidem, transcendit fiducia misericordiae et se cum Deo coniungit.« Ebenso WA 42. 443,1-10 (Genesis. 1535ff): »Nam fuit [Abraham] annorum LXXV. Sara autem decennio minor, et quidem sterilis erat. Haec, quaeso te, quomodo conveniunt cum hac promissione: >Faciam te in Gentem magnam