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German Pages 325 [378] Year 2023
Islam für Dummies
Schummelseite DIE FÜNF SÄULEN DES GOTTESDIENSTES Die fünf Säulen umfassen den Gottesdienst und grundlegende rituelle Pflichten: die grundlegenden Handlungen, die von einem Muslim verrichtet werden müssen. Schahada: Das Aussprechen des grundlegenden Glaubensbekenntnisses macht eine Person zum Muslim: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt, und ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.« Varianten der Schahada werden bei vielen Gelegenheiten verwendet. Salat: Salat ist ein formelles, ritualisiertes Gebet, das fünfmal am Tag in Richtung Mekka verrichtet wird. Es besteht aus einer Folge von Rezitationen und Körperhaltungen, einschließlich Niederwerfung, bei denen die Stirn den Boden berührt (sudschud/sujud). Zakat: Zakat ist eine obligatorische Sozialsteuer, die jeder Muslim von einem bestimmten Mindestvermögen an entrichten muss. Die Steuer beträgt 2,5 Prozent der liquiden Vermögensgegenstände und Einkommen erzeugenden Eigentums. Mit Zakat werden unter anderem Wohlfahrtsorganisationen unterstützt und der Islam gefördert. Saum: Das Fasten vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang im neunten Monat, dem Ramadan; in dieser Zeit dürfen Muslime nicht essen, trinken oder Geschlechtsverkehr haben. Diese Zeit soll den Muslim spirituell erneuern. Hadsch: Wenigstens einmal im Leben soll ein Muslim, sofern er körperlich und finanziell dazu in der Lage ist, die Wallfahrt nach Mekka machen. Während der fünf Haupttage des Hadsch ahmen die Wallfahrer das Ritual nach, das erstmals von Abraham ausgeführt wurde, einschließlich der Umwandlung des Schreins (Kaaba) in Mekka, des Stehens in der Ebene von Arafat und der Opfergabe.
DIE FÜNF SÄULEN DES GLAUBENS Die fünf Säulen des Glaubens stellen eine weitere wichtige Fünfergruppe im Islam dar. Sie werden manchmal auch als die fünf Säulen des Islam bezeichnet. Glaube an Gott (Allah) als den einzigen Gott. Glaube an die Engel Gottes, darunter Gabriel. Glaube an die Bücher von Gott und an die Gesandten und Propheten, denen sie geoffenbart wurden. Gott sandte seine Propheten und Gesandten, um die Menschen vor dem zu warnen, was passiert, wenn sie den Weg Gottes nicht einhalten. Mohammed ist der letzte Prophet einer Reihe, die mit Adam begann und unter anderen Abraham, Noah, Moses und Jesus einschließt. Glaube an den Tag des Gerichts, Auferstehung der Toten, Paradies und Hölle. Glaube, dass alles gemäß dem Willen Gottes passiert. Der Einzelne bleibt jedoch für seine moralischen und unmoralischen Handlungen verantwortlich.
STRÖMUNGEN IM ISLAM Muslime gehören zu einer oder mehreren institutionalisierten Gruppierungen im Islam: Sunniten: Etwa 90 Prozent aller Muslime sind Sunniten. Sunna bedeutet »Überlieferung«; für Sunniten sind die Überlieferungen von Mohammed und der ersten beiden Generationen der Gemeinschaft der Muslime maßgebend, die Mohammed folgten. Hauptsächlich im 20. Jahrhundert entstanden Reformbewegungen im Islam, die den politischen Islam vertreten. Einige beschränken sich auf ein Land, andere üben einen breiteren Einfluss aus. Die meisten sind sunnitische Bewegungen, wie die Wahhabiten, die Muslimbruderschaft und die Jamaat-i Islami. Siehe Kapitel 16. Schiiten: Die schiitischen Muslime machen etwa 10 Prozent aller Muslime aus. Die Schiiten bilden die »Partei Alis«; sie glauben, Mohammeds Cousin und Schwiegersohn Ali sei sein designierter Nachfolger. Es gibt drei wichtige Untergruppen der Schiiten: Zwölfer (Ithna-Ascharis), Siebener (Ismailiten) und Fünfer (Zaiditen). Siehe Kapitel 12. Sufis: Sufis sind die sogenannten islamischen Mystiker. Über die üblichen Anforderungen der Religion hinaus suchen sie durch Meditation und spirituelles Wachstum persönliche Gotterfahrungen. Es gibt mehrere Sufi-Orden (siehe Kapitel 13). Die meisten Sufis sind Sunniten und können auch konservativ sein. Viele konservative Sunniten betrachten den Sufismus als eine Abweichung. Bahai's und Ahmadis: Diese Gruppen sind Ableger des schiitischen beziehungsweise des sunnitischen Islam aus dem 19. Jahrhundert. Die Bahai's betrachten sich als die jüngste große Weltreligion, erkennen aber an, dass sie historisch – ähnlich wie das Christentum aus dem Judentum – aus dem schiitischen Islam hervorgegangen sind. Die Ahmadis betrachten sich als Muslime. Die meisten anderen Muslime sehen jedoch beide Gruppen nicht als rechtmäßige Formen des Islam an. Siehe Kapitel 14. Drusen, Aleviten und Alawiten: Diese Gruppen sind kleine Sekten mit unorthodoxen Glaubenssätzen und Praktiken, die sich vom Islam abgespalten haben. Drusen und Aleviten betrachten sich zum Teil nicht als Muslime und werden von anderen Muslimen nicht als Muslime anerkannt. Die Alawiten üben auch nichtislamische Praktiken aus. Siehe Kapitel 14.
Islam für Dummies Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 3. Auflage 2023 © 2023 Wiley-VCH GmbH, Boschstraße 12, 69469 Weinheim, Germany Original English language edition Islam For Dummies © 2019 by Wiley Publishing, Inc. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This translation published by arrangement with John Wiley and Sons, Inc. Copyright der englischsprachigen Originalausgabe Islam For Dummies © 2019 by Wiley Publishing, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechtes auf Reproduktion im Ganzen oder in Teilen und in jeglicher Form. Diese Übersetzung wird mit Genehmigung von John Wiley and Sons, Inc. publiziert. Wiley, the Wiley logo, Für Dummies, the Dummies Man logo, and related trademarks and trade dress are trademarks or registered trademarks of John Wiley & Sons, Inc. and/or its affiliates, in the United States and other countries. Used by permission. Wiley, die Bezeichnung »Für Dummies«, das Dummies-Mann-Logo und darauf bezogene Gestaltungen sind Marken oder eingetragene Marken von John Wiley & Sons, Inc., USA, Deutschland und in anderen Ländern. Das vorliegende Werk wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren und Verlag für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie eventuelle Druckfehler keine Haftung. Coverfoto: © Mazur Travel – stock.adobe.com Korrektur: Frauke Wilkens, München Print ISBN: 978-3-527-72023-1 ePub ISBN: 978-3-527-84035-9
Über den Autor Professor Malcolm Clark hatte über 30 Jahre einen Lehrstuhl für Religionswissenschaften an der Butler University in Indianapolis, Indiana, inne und leitete zeitweilig die Fakultät für Philosophie und Religion. In seinen Vorlesungen und Seminaren behandelte er die Bibel, den Islam, den Koran, die Weltreligionen, amerikanische Religionen, Frauen und Religion, moderne religiöse Strömungen, Ägyptologie und andere Themen. Bevor er Professor an der Butler University wurde, lehrte er sechs Jahre lang am Princeton Theological Seminary. Professor Clark hat an der Harvard University amerikanische Geschichte studiert und in Yale seinen Master of Divinity und Ph.D. (Magister in Theologie und Doktortitel) erworben. Seine Dissertation hatte die hebräische Bibel und die Antike des Nahen Ostens zum Thema. Als Doktorand studierte er ein Jahr an der Hebrew University in Jerusalem. Professor Clark ist Pastor der Christian Church (Disciples of Christ; deutsch Nachfolger Christi).
Widmung Ich widme dieses Buch meinen Kollegen und früheren Studenten an der Butler University, darunter den Studenten, die bei mir den Islam studiert haben, vor allem auch muslimischen Studenten, die mir halfen, den Islam besser kennen und schätzen zu lernen.
Inhaltsverzeichnis Cover Titelblatt Impressum Über den Autor Widmung
Einführung Über dieses Buch Konventionen in diesem Buch Törichte Annahmen über den Leser Wie dieses Buch aufgebaut ist Symbole, die in diesem Buch verwendet werden Wie es weitergeht
Teil I: Die Grundlagen des Islam Kapitel 1: Eine Annäherung an den Islam Die Ursprünge des Islam Die Glaubenssätze des Islam Die Strömungen des Islam Die muslimische Weltbevölkerung Die Hauptländer des Islam
Kapitel 2: Islamische Geschichte Die vier rechtgeleiteten Kalifen Das Goldene Zeitalter Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert Die drei großen späteren Reiche
Kapitel 3: Hingabe an Gott Die Doktrin von der Einheit Gottes: Tawhid Klärung der Terminologie: Allah gleich Gott Gottes Überlegenheit bezeugen Die Attribute Gottes Gott lieben und kennen (Sufismus) Die 99 Namen Gottes aufrufen
Kapitel 4: Was Muslime glauben
Die fünf wesentlichen Glaubensgrundsätze des Islam Nichtmuslimen den Glauben erklären Auslegung des Glaubens: Schwierige Glaubensfragen klären Einige theologische Probleme Die Ablehnung formeller Glaubensbekenntnisse
Kapitel 5: Im Angesicht Gottes: Himmel und Hölle Andere Wesen neben Gott und den Menschen In den Himmel oder die Hölle kommen: Vom Leben zum Tod und zur Auferstehung Bilder von Himmel und Hölle
Teil II: Mohammed: Der Mann, das Buch und das Gesetz Kapitel 6: Der Prophet: Mohammed Die Bühne vorbereiten: Arabien vor Mohammed Die Geschichte Mohammeds Mohammed als theologische Persönlichkeit Die persönliche Beziehung zu Mohammed Die Suche nach dem historischen Mohammed
Kapitel 7: Das Buch: Der Koran Eine Einführung in den Koran Den Koran hören Den Koran mit Respekt behandeln Sammlung und Zusammenstellung des Koran Der Stil des Koran Interpretation des Koran Der Koran im Alltag Die Eröffnung des Koran: Die Fatiha
Kapitel 8: Tradition und Gesetz im Islam Mohammed imitieren Gottes Gesetz verstehen
Teil III: Der muslimische Alltag Kapitel 9: Die fünf Säulen des Gottesdienstes: Die Grundlagen des Islam Reinigung: Vorbereitung auf den Gottesdienst Die Schahada (erste Säule): Glaubensbekenntnis Salat (zweite Säule): Gebet Zakat (dritte Säule): Hilfe für die Bedürftigen Saum (vierte Säule): Besinnung und Fasten Hadsch (fünfte Säule): Die Wallfahrt nach Mekka
Kapitel 10: Andere religiöse Rituale und Bräuche Jährlich wiederkehrende Rituale Wendepunkte im Leben Alltagsbräuche Rituale der Frauen
Kapitel 11: Muslimische Ethik: Das richtige Leben führen Ausgangspunkte der islamischen Ethik Die Anwendung der Ethik auf praktische Fragen Sexualethik Ethische Vorschriften für Ehe und Familie
Teil IV: Strömungen im Islam Kapitel 12: Schiiten Die Verbreitung der Schiiten Den Glauben in der Familie halten Die beiden Ereignisse, die zur Gründung der Schia führten Die Reihe der zwölf Imame Gottesdienst in der Zwölferschia Das Denken der Schiiten Interaktion: Schiiten, Sufis und Sunniten
Kapitel 13: Sufis Die Suche nach Gott Glaube der Sufis Bedeutende Sufis Die Sufi-Gemeinschaft Das Verhalten eines Sufi Den Glauben in Versen ausdrücken: Sufi-Literatur Gründung der Sufi-Bruderschaften Die Ablehnung des Sufismus
Kapitel 14: Weniger bekannte Sekten im muslimischen Spektrum Ibaditen Zaiditen (oder Fünferschiiten) Ismailitische Gruppen (oder Siebenerschiiten) An den Grenzen des Islam und darüber hinaus
Teil V: Abrahamitische Religionen und der Islam Kapitel 15: Die Suche nach gemeinsamen Wurzeln: Abrahamitische Religionen Mitglieder einer Familie
Die Bibel im Koran lesen Muslimische Auffassung von anderen Religionen Auf dem Weg zu einem religiösen Dialog
Kapitel 16: Gemeinsame Positionen suchen Die Sorgen der Muslime Hauptprobleme Was die Muslime tun sollten Was der Westen tun sollte
Teil VI: Der Top-Ten-Teil Kapitel 17: Zehn muslimische Beiträge zur Zivilisation Überlieferung griechischer Schriften Algebra und Mathematik Arabische Ziffern Astronomie Technik und Ingenieurswesen Medizin Pharmakologie Physik, insbesondere Optik Architektur
Kapitel 18: Zehn bemerkenswerte Muslime aus Vergangenheit und Gegenwart Eine lange Reise: Ibn Battuta Ein Enzyklopädist: al-Tabari Ein Mann des Schwertes: Saladin Ein großer König: Akbar Ein tiefer Denker: Ibn Ruschd Ein Geschichtsphilosoph: Ibn Khaldun Ein Held der Revolution: Ali Schariati Ein Architekt großer Moscheen: Sinan Der Nobelpreisträger: Naguib Machfus Der Gesangsstar: Umm Kulthum
Teil VII: Anhänge Anhang A: Die Jahre zählen: Der muslimische Kalender Anhang B: Glossar Anhang C: Weitere Quellen Bücher
Der Koran DVDs und Videos Computersoftware Islam im Web Und schließlich …
Abbildungsverzeichnis Stichwortverzeichnis End User License Agreement
Tabellenverzeichnis Kapitel 1 Tabelle 1.1: Die Anhängerzahl ausgewählter Weltreligionen (2014) Tabelle 1.2: Die neun Länder mit den meisten muslimischen Bürgern
Kapitel 6 Tabelle 6.1: Das Wort Gottes in Islam und Christentum
Kapitel 9 Tabelle 9.1: Die Teile des Gebetsrufes (adhan)
Anhang A Tabelle A.1: Muslimische Feiertage zwischen 2015 und 2019
Illustrationsverzeichnis Kapitel 2 Abbildung 2.1: Die Reiche der Omayyaden und Abbasiden in ihrer größten Ausdehnung Abbildung 2.2: Die Reiche der Osmanen, Safawiden und Moguln
Kapitel 6 Abbildung 6.1: Arabien zu Zeiten Mohammeds
Kapitel 9 Abbildung 9.1: Zwei unterschiedliche architektonische Stilrichtungen beim Bau von...
Kapitel 14 Abbildung 14.1: Stammbaum der verschiedenen islamischen Sekten
Kapitel 15 Abbildung 15.1: Stammbaum der abrahamitischen Religionen
Einführung Willkommen bei Islam für Dummies. Konnten Sie Mohammed, Mekka und Medina noch nie auseinanderhalten? Das ist jetzt vorbei. Sie erfahren, was Muslime glauben und tun, woher der Islam kommt und welche Rolle er in der modernen Welt spielt.
Über dieses Buch Die Ereignisse vom 11. September 2001 versetzten Menschen auf der ganzen Welt in Schock und Trauer. Da diese Terrorakte im Namen des Islam begangen wurden, war diese Weltreligion plötzlich mit Fragen, Fehlvorstellungen und vielleicht Ängsten konfrontiert, die nach Antworten, Aufklärung und Besänftigung suchten. Dieses Buch soll Ihnen helfen, die heutigen Konflikte aus einer auch historisch richtigen Perspektive zu sehen, angefangen von der bis heute nicht verheilten Wunde, die dem Islam vor etwa tausend Jahren von den christlichen Kreuzzügen geschlagen wurde, bis hin zu den fünf Säulen des Islam. Der Islam gewinnt auch in Deutschland an Bedeutung. Wenn Sie unter oder mit Muslimen leben oder arbeiten oder wenn in Ihrer Nachbarschaft eine neue Moschee steht, kann Ihnen dieses Buch helfen, die Muslime zu verstehen, unbefangener mit ihnen umzugehen und die Anziehungskraft ihres Glaubens kennenzulernen, ohne eine Moschee zu betreten oder gen Mekka zu beten. Ich bin kein Muslim. Mit diesem Buch will ich den Islam weder verteidigen noch angreifen. Ich reite weder auf Konfliktursachen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen herum, noch gebe ich vor, solche Differenzen seien grundlos. Dieses Buch ist auch kein Lehrbuch. Es gibt zwar Verweise auf andere Werke, aber keine Fußnoten, um Argumente im Text zu untermauern. Es sind mehrere kurze Einführungen in den Islam erhältlich, doch wegen ihrer Kürze müssen sie sich auf wenige Themen beschränken. Islam für Dummies ist länger als eine typische Kurzeinführung von 100 bis 150 Seiten und deshalb umfassender.
Konventionen in diesem Buch In diesem Buch gelten die folgenden Konventionen und Termini: Das Wort Muslim bezeichnet jemanden, der den Islam praktiziert; islam heißt im Arabischen Hingabe an Gott. Das Wort Islam bezeichnet zum einen die Religion der Muslime und zum anderen alle Gegenden der Welt, in denen diese Religion praktiziert wird. Islamist nenne ich jemanden, der vorrangig die politische Herrschaft des Islam unterstützt.
Das heilige Buch des Islam, der Koran, besteht aus 114 Kapiteln, den sogenannten Suren. Der Ursprung des Wortes Sure ist unter den Gelehrten umstritten. Eine Sure besteht aus durchnummerierten Versen. Ein Verweis auf eine Textstelle des Koran besteht aus der Nummer der Sure und den entsprechenden Versen. So verweist die Bezeichnung Sure 93:6–10 auf die Verse sechs bis zehn der 93. Sure des Koran. Eine wesentliche Aussage des Koran sichert zu, er sei das Wort Gottes in der arabischen Sprache. Eine Übersetzung des Koran in andere Sprachen gilt grundsätzlich als Umschreibung oder Interpretation des Koran, die sich vom arabischen Original unterscheidet. Muslimische Konvertiten mussten schon immer einige Suren des Koran auf Arabisch lernen. Deshalb kann man in einem Buch über den Islam und den Koran arabische Termini nicht vermeiden. Die Wörter in diesem Buch (oft in Klammern stehend) sind Transliterationen wesentlicher arabischer Termini. Eine Transliteration ist keine Übersetzung; während diese die Bedeutung eines Wortes in einer anderen Sprache angibt, repräsentiert jene die Schreibweise oder Aussprache eines Wortes einer Sprache (in diesem Fall Arabisch) in einer anderen Sprache (in diesem Fall Deutsch). Das Arabische verwendet andere Buchstaben als das Deutsche. Für manche arabischen Buchstaben gibt es keine deutsche Entsprechung. So enthält das Arabische mehrere »t«-Buchstaben, die beim Schreiben durch verschiedene Markierungen über oder unter dem Buchstaben (diakritische Zeichen) unterschieden werden. Doch hier schreibe ich einfach »t«. Außerdem enthält das Arabische wie andere semitische Sprachen zwei Konsonanten, die in westlichen Sprachen nicht vorkommen: hamza und ’ayin (ein gutturaler Kehllaut). Die Aussprache beider Laute ist für Westler schwierig. Schriftlich werden sie oft durch die Apostrophe ‘ und ’ dargestellt. In diesem Buch werden diese unterschiedlichen Apostrophe einheitlich durch ' bezeichnet. Manche arabischen Wörter werden im Deutschen unterschiedlich dargestellt. Wenn Sie in Texten über den Islam zwei ähnliche Wörter mit leicht unterschiedlicher Schreibweise sehen, repräsentieren diese wahrscheinlich dasselbe arabische Wort. So sind 'id und Eid zwei unterschiedliche Transliterationen desselben arabischen Wortes, das Festivitäten bezeichnet. Ich verwende jeweils die gebräuchlichste, vertrauteste Form, selbst wenn sie technisch nicht korrekt ist. So bezeichne ich die heilige Stadt des Islam mit dem vertrauten Namen Mekka, auch wenn Makka den arabischen Namen dieser Stadt genauer repräsentieren würde. Vollständige arabische Namen können sehr lang sein; deshalb benutze ich üblicherweise eine abgekürzte Version. So bezeichne ich den Gründer der Hanafiten-Rechtsschule als Abu Hanifa, obwohl er eigentlich Abu Hanifa alNu'man ibn Thabit ibn Zuta heißt.
Törichte Annahmen über den Leser Beim Schreiben dieses Buches habe ich mir vorgestellt, wer Sie sein könnten, was Sie erlebt haben könnten und was Sie von diesem Buch erwarten könnten: Sie müssen nichts über den Islam oder andere Religionen wissen, wenn Sie zu diesem Buch greifen. Doch wenn Sie eine Religion studieren, möchten Sie deren Schlüsselbegriffe und Termini oft mit denen anderer Religionen vergleichen. Deswegen finden Sie hier auch Termini aus Judentum, Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus. Sie können diese Verweise auf andere Religionen allerdings überspringen. Die meisten Bücher über den Islam enthalten mehr Vergleiche mit dem Christentum und dem Judentum als mit fernöstlichen und südostasiatischen Religionen. Warum? Christentum, Judentum und Islam sind verwandte Religionen, die derselben abrahamitischen »Familie« entstammen (siehe Teil V). Natürlich können Sie eine einzelne Religion umso besser verstehen, je mehr andere Religionen und Kulturen Sie kennen. Sie müssen kein Muslim sein, um den Islam zu verstehen. Gläubige und Nichtgläubige oder Atheisten können gemeinsam zu besseren Einsichten in den Islam kommen. Ich bin nicht allwissend. Meine Beschreibungen eines bestimmten Glaubens oder einer Praxis im Islam sind sicher nicht die einzig möglichen.
Nicht alle Muslime werden mit allen Punkten in diesem Buch übereinstimmen. In diesem Buch versuche ich nicht, den Islam neu zu interpretieren, sondern stelle den Konsens des Denkens vieler Gelehrter und Theologen dar.
Wie dieses Buch aufgebaut ist Wer ein Buch über eine Religion schreibt, die über 1.400 Jahre alt ist, über 1,8 Milliarden Anhänger hat und auf dem ganzen Globus vertreten ist, muss aus einer Fülle von Informationen auswählen. Deshalb werden Sie in diesem Buch vielleicht nicht alle Antworten auf Ihre Fragen über den Islam finden. Doch ich habe in jedem der sieben Teile des Buches versucht, zusammenhängende Themen zu behandeln. Falls Sie im Inhaltsverzeichnis nicht finden, was Sie suchen, sollten Sie es mit dem Stichwortverzeichnis am Ende des Buches versuchen.
Teil I: Die Grundlagen des Islam
Was die Muslime glauben; eine kurze Geschichte des Islam; allgemeine Informationen über die islamische Weltbevölkerung und die wichtigsten islamischen Länder.
Teil II: Mohammed: Der Mann, das Buch und das Gesetz Der Begründer des Islam: Mohammed; der Koran; die rechtlichen und moralischen Lehren des Islam.
Teil III: Der muslimische Alltag Der muslimische Gottesdienst; Rituale um Geburt, Heirat und Tod; einige islamische Bräuche.
Teil IV: Strömungen im Islam Unterströmungen im Islam; Schiiten, Sunniten, Sufis, Drusen und andere.
Teil V: Abrahamitische Religionen und der Islam Die Geschichte der drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam); ihr heutiges Verhältnis; Modernisierung und Globalisierung des Islam in den vergangenen hundert Jahren; Kontakt des Islam mit anderen nichtabrahamitischen Religionen.
Teil VI: Der Top-Ten-Teil Hervorragende Beiträge des Islam zur Zivilisation; wichtige Muslime.
Teil VII: Anhänge Umrechnung des islamischen Kalenders in den westlichen und umgekehrt; ein Glossar islamischer Begriffe; zusätzliche Quellen über den Islam.
Symbole, die in diesem Buch verwendet werden Wichtige Informationen werden in diesem Buch durch die folgenden Symbole gekennzeichnet:
Ein Zitat aus dem Koran und einem anderen islamischen Text.
Wichtige oder nützliche Informationen über den Islam.
Informationen, die Sie benötigen, um andere Aspekte des Islam zu verstehen.
Informationen, die kontrovers sind oder leicht missverstanden werden.
Informationen, die mehr Details liefern, als Sie wahrscheinlich wissen wollen, aber trotzdem das Verständnis des Islam fördern. Falls Sie mit den Grundlagen zufrieden sind, überspringen Sie diese Abschnitte.
Wie es weitergeht Dieses Buch ist so konzipiert, dass Sie direkt zu den Themen springen können, die Sie am Islam am meisten interessieren. Es ist kein Roman, den Sie von Anfang bis Ende lesen müssen. Ich schlage vor, mit Kapitel 1 zu beginnen, um einen schnellen Überblick über den Ursprung des Islam und seine Glaubenssätze zu bekommen. Danach können Sie andere Interessen verfolgen: Der Glaube im Islam: Kapitel 3, 4, 5, 7, 8 und 11. Rituale und Verehrung im Islam: Teil III. Geschichte des Islam: Kapitel 2 und 5. Islam in der modernen Welt: Kapitel 16 und 18. Die Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen: Kapitel 15 und 16. Oder stellen Sie Ihren eigenen Leseplan auf!
Teil I
Die Grundlagen des Islam
IN DIESEM TEIL … Auch wenn Sie dieses Buch an beliebiger Stelle aufschlagen können, empfehle ich Ihnen, zunächst diesen Überblick über den Ursprung des Islam zu lesen. Sie lernen die Hauptzweige des Islam kennen und erfahren, in welchen Ländern die meisten Muslime leben. Kapitel 2 gibt Ihnen einen Überblick über die Geschichte des Islam. Einige Verweise in anderen Kapiteln des Buches sind leichter zu verstehen, wenn Sie den historischen Hintergrund kennen. Hauptsächlich geht es in diesem Teil jedoch darum, was Muslime glauben und wie sie sich Gott vorstellen. Sie lernen die wichtigsten Attribute Gottes im Islam (seine Einzigartigkeit sowie seine anderen Eigenschaften), seine Namen und die Handlungen kennen, mit denen der Glaube an Gott zum Ausdruck gebracht wird. Außerdem werden theologische Schlüsselfragen im frühen Islam behandelt, wie etwa die Beziehungen zwischen Glauben und Leben und Theologie und Philosophie. Am Ende dieses Teils werden die islamischen Glaubensvorstellungen über den Tod, das Jüngste Gericht und die Vorstellungen von Himmel und Hölle behandelt.
Kapitel 1
Eine Annäherung an den Islam IN DIESEM KAPITEL Einen Überblick über Ursprung, Glauben und Praktiken des Islam gewinnen Die Verteilung der muslimischen Weltbevölkerung kennenlernen
In diesem Kapitel erhalten Sie einen ersten Überblick über den Islam, der dann im Rest des Buches vertieft wird: wie der Glaube begann, was Muslime glauben, wie sich die Glaubensvorstellungen verschiedener Richtungen unterscheiden und wie viele Muslime wo auf dem Globus leben. In diesem Kapitel werden die Themen nur angerissen; in späteren Kapiteln werden sie jeweils eingehender behandelt.
Die Ursprünge des Islam Etwa 610 n. Chr. erschien in Mekka, einer Stadt im heutigen Saudi-Arabien, der Engel Gabriel einem Mann namens Mohammed. Gabriel teilte Mohammed mit, Gott habe Mohammed als seinen Propheten auserkoren. Die Offenbarungen, die Mohammed bis zu seinem Tod im Jahre 632 empfing, bilden den Koran, das heilige Buch des Islam. Mohammed glaubte, er werde die ursprüngliche Religion der Menschheit wiederherstellen und vollenden, und sah sich in einer Linie mit den biblischen Propheten stehen, die ebenfalls von Gott gesendet worden waren, um die Menschen zur Unterwerfung unter Gott aufzurufen. Mohammeds Zeitgenossen in Mekka waren Polytheisten, beteten demnach viele Götter an und lehnten Mohammeds Aufforderung ab, nur einen einzigen Gott anzubeten. 622 emigrierte Mohammed mit einer kleinen Gruppe gläubiger Anhänger aus Mekka nach Norden in die Stadt Yathrib, die von den Muslimen in Medina (al-Madina) umbenannt wurde. Dieses Jahr wurde später zum ersten Jahr des muslimischen Kalenders erklärt (siehe Anhang A). In Medina gründete Mohammed das erste muslimische Staatswesen. 630 führte Mohammed eine Armee der größer werdenden muslimischen Gemeinde gegen Mekka, das sich kampflos unterwarf. Als Mohammed zwei Jahre später starb, hatte der größte Teil Arabiens den Islam übernommen und war Teil der islamischen Gemeinschaft geworden. Auf Mohammed folgten mehrere Herrscher (Kalifen), die den Islam als neue
Macht auf der weltpolitischen Bühne etablierten. In weniger als hundert Jahren überrannten muslimische Armeen die meisten Länder von der Nordwestgrenze Indiens im Osten bis nach Spanien im Westen und vereinigten sie zu einem einzigen großen Reich, einem sogenannten Kalifat. Danach ging die ursprüngliche Einheit des Islam allmählich verloren und konnte nie wiederhergestellt werden. Das Kalifat zerfiel 1258 unter dem Ansturm der Mongolen. In den folgenden Jahrhunderten breitete sich der Islam weiter aus. Neue muslimische Königreiche kamen und gingen. Am Ende des 17. Jahrhunderts war die militärische Kraft des Islam erschöpft. In der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen die meisten muslimischen Länder direkt oder indirekt unter die Kontrolle europäischer Nationen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen die muslimischen Nationen ihre Unabhängigkeit zurück. Trotz des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs nahm die Anzahl der Muslime auf der Welt im 20. Jahrhundert schnell zu, und der Islam entwickelte sich zum ersten Mal in der Geschichte zu einer wahrhaft globalen Religion.
Die Glaubenssätze des Islam Muslime haben mit Christen und Juden viele grundlegende Glaubenssätze gemeinsam, während sich ihre Religion von östlichen Religionen wie dem Hinduismus, Buddhismus oder Taoismus grundsätzlich unterscheidet: Gott erschuf die Welt und alles, was sich in ihr befindet. In Seinem geoffenbarten Wort legte Gott die Prinzipien für das Leben nieder, darunter auch die Sorge für die Armen. Niemand darf andere Götter, Geld, Macht oder sich selbst verehren. Am Ende der Zeit wird Gott alle Menschen richten. Wer die Gebote Gottes befolgt hat, kommt in den Himmel. Gott verlangt von allen Menschen, sich Seinem Willen zu unterwerfen, den Er in Seinem geoffenbarten Gesetz kundgetan hat. Dies kommt auch in dem Wort Islam zum Ausdruck: Es bedeutet wörtlich Hingabe oder Unterwerfung. Das Wort Islam hat dieselben Wurzeln wie das Wort für Frieden. Der Islam wird oft als die Religion der Hingabe an Gott aufgefasst. Die grundlegenden islamischen Glaubenssätze werden durch die fünf Säulen des Glaubens zusammengefasst (siehe Kapitel 4). Islam ist der Name der Religion. Ein Muslim ist ein Anhänger der islamischen Religion. Das Wort Muslim bedeutet »einer, der sich Gott hingibt«. Ein Muslim ist kein Mohammedaner, und Muslime sind nicht Angehörige einer
»mohammedanischen Religion«, weil Mohammed nur ein Mensch war. Muslime verehren Gott, nicht Mohammed. Die grundlegende religiöse Praxis eines Muslim wird durch die fünf Säulen der Gottesverehrung zusammengefasst (siehe Kapitel 9): Muslime müssen sich dazu bekennen, dass es keinen Gott außer Allah gibt und dass Mohammed sein Gesandter ist (Glaubensbekenntnis). Fünfmal am Tag müssen sie ihre Tätigkeit unterbrechen, um zu Gott zu beten (Gebet). Einmal im Jahr, im Monat Ramadan, müssen sie vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang fasten (Fasten). Einmal im Jahr müssen sie einen bestimmten Teil ihres Vermögens für einen gemeinnützigen Zweck spenden (Sozialabgabe). Und einmal im Leben muss jeder dazu fähige Muslim nach Mekka pilgern (Wallfahrt).
Die Strömungen des Islam Der Islam hat zwei Hauptströmungen: die Sunniten und die Schiiten. Sunniten machen etwa 90 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung aus. Mit Sunna werden die Traditionen und Bräuche bezeichnet, die von Mohammed und den frühen Muslimen befolgt wurden. Nach Mohammeds Tod glaubten einige Muslime, die Nachfolge habe seinem Vetter und Schwiegersohn Ali zugestanden (und nicht den ersten drei Kalifen nach Mohammed). Der Terminus Schia bezeichnet die »Partei« Alis, deren Anhänger der Ansicht waren, die religiöse und politische Führung der Muslime müsse immer in der Familie Mohammeds (also zunächst bei Ali und seiner Frau Fatima) bleiben. Streitigkeiten über die Erbfolge spalteten die Schiiten in verschiedene Gruppen: die sogenannten Zwölfer (ithna-aschariyya), die Ismailiten und die Zaiditen (siehe Kapitel 12).
Die Sufis bilden eine andere große Gruppe der Muslime. Der Sufismus ist die islamische Mystik und keine Sekte wie die Sunniten oder Schiiten. Ein Sufi ist normalerweise auch ein sunnitischer (oder seltener ein schiitischer) Muslim. Die vielen Sufi-Orden (siehe Kapitel 13) sind den vielen Mönchsorden der katholischen Kirche vergleichbar, obwohl Sufis meist verheiratet sind.
Die muslimische Weltbevölkerung Die Zugehörigkeit zu Religionen zu bestimmen, ist nicht leicht, doch die vorhandenen Studien liefern plausible Schätzungen (siehe Tabelle 1.1). Demografen
(Bevölkerungswissenschaftler) beurteilen nicht, ob die Menschen ihre Religion aktiv praktizieren oder fast nie einen Tempel oder eine Synagoge, Moschee oder Kirche betreten. Wenn eine Studie weltweit 360 Millionen Buddhisten ausweist, bedeutet dass nur, dass sich 360 Millionen Menschen als Buddhisten bezeichnen. Religion
Anhänger
Prozentsatz
Christentum 1,9 Milliarden 31–33 Prozent Islam
1,8 Milliarden 27–29 Prozent
Hinduismus 881 Millionen 14 Prozent Buddhismus 360 Millionen 6 Prozent Judentum
14 Millionen
unter 0,5 Prozent
Tabelle 1.1: Die Anhängerzahl ausgewählter Weltreligionen (2014)
Sowohl das Christentum als auch der Islam wachsen noch, hauptsächlich im vergangenen Jahrhundert in Afrika. Einige muslimische Länder haben die höchsten Fruchtbarkeitsraten der Welt. Dies erklärt einen großen Teil des Wachstums des Islam. Ein Vergleich der Zahlen von 1900 und 2000 liefert einige interessante Erkenntnisse: 1900 repräsentierten die 555 Millionen Christen 32 Prozent der Weltbevölkerung, etwa so viel wie heute. Dagegen machten die 200 Millionen Muslime nur 12,3 Prozent der Weltbevölkerung aus, während der Islam heute einen Anteil von über 27 Prozent hat. Weil dieser Prozentsatz zunimmt, wird der Islam als die am schnellsten wachsende Weltreligion bezeichnet.
Die Hauptländer des Islam Nicht alle Araber sind Muslime, und nicht alle Muslime sind Araber (die ursprünglichen Bewohner des Nahen Ostens, die später den Hauptteil der Bevölkerung vieler Länder im Nahen Osten und Nordafrika, vom Irak bis Marokko, stellten). Tatsächlich stellen die Araber nur etwa 20 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung. Dagegen leben in Südasien (Pakistan, Bangladesch und Indien) etwa 300 Millionen Muslime. Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land. Im Nahen Osten leben etwa 200 Millionen Muslime, doch die beiden größten muslimischen Länder im Nahen Osten – Türkei und Iran – sind keine arabischen Länder. Natürlich ist Arabisch die Sprache des Islam; und die arabische Kultur hat einen unauslöschlichen Eindruck auf den Islam hinterlassen, auch wenn die meisten Muslime nicht Arabisch sprechen. Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass jeder Araber ein Muslim ist. In den USA leben mehr Araber, die sich zum Christentum bekennen als zum Islam. Im Libanon
stellen die arabischen Christen eine große Minderheit der Bevölkerung. Im Irak ist ihr Anteil zwar kleiner, aber nicht unbedeutend. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts stellten die arabischen Christen auch in Palästina eine einflussreiche Minderheit der Bevölkerung, obwohl seitdem viele in die Vereinigten Staaten und in andere Länder ausgewandert sind. Dennoch sind über 90 Prozent der Araber Muslime.
Araber und Muslime Viele Nichtmuslime setzen Araber einfach mit Muslimen gleich. Zwar sind die meisten, aber nicht alle Araber Muslime. Christliche Araber zählen im Libanon zu den drei Hauptglaubensgemeinschaften. Andere muslimische Länder wie der Irak haben kleine, aber alte christliche Bevölkerungsgruppen, deren Geschichte bis in die Zeit zurückreicht, in der der Hauptteil der Bevölkerung christlich war. Auf der arabischen Halbinsel gab es, abgesehen von Grenzregionen wie dem Jemen, nie bedeutende christliche Bevölkerungsanteile. Vor ihrem Übertritt zum Islam waren die meisten Araber dort Polytheisten.
Die Muslime konzentrieren sich in einem zusammenhängenden Band von Ländern, das sich von Nordafrika über den Mittleren Osten, Südasien bis Malaysia und Indonesien in Südostasien erstreckt. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung in diesen Ländern (außer Indien, wo die Muslime eine Minderheit von etwa 17 Prozent bilden) schwankt zwischen etwa 80 bis zu mehr als 99 Prozent. Im Iran, Irak, Jemen, Aserbaidschan, Bahrain und Libanon stellen die Schiiten die stärksten muslimischen Gruppen. Fast 1.000 Jahre lang wurde der größte Teil Südasiens (die heutigen Länder Pakistan, Bangladesch und Indien, aber nicht Sri Lanka) von Muslimen beherrscht. Die muslimische Bevölkerung dieser drei Länder (siehe Tabelle 1.2) bildet zusammen die bei Weitem größte Zusammenballung von Muslimen auf der Welt. Land
Muslimische Bevölkerung
Indonesien
209,12 Millionen
Indien
176,19 Millionen
Pakistan
167,41 Millionen
Bangladesch 133,54 Millionen Nigeria
77,3 Millionen
Ägypten
76,99 Millionen
Iran
73,57 Millionen
Türkei
71,33 Millionen
Algerien
34,73 Millionen
Tabelle 1.2: Die neun Länder mit den meisten muslimischen Bürgern
Im Laufe der Zeit wurde der größte Teil der Bevölkerung der heutigen Länder Pakistan
und Bangladesch durch Emigration und Konversion muslimisch, während der größte Teil der Bevölkerung Indiens hinduistisch blieb. Als Indien 1948 unabhängig wurde, wurde die ehemalige britische Kolonie Indien in Indien und Pakistan aufgespalten. Dies hatte große Bevölkerungsbewegungen zur Folge: Die meisten Hindus wanderten aus muslimisch dominierten Gebieten nach Indien ab, während umgekehrt ein großer Teil der Muslime aus hinduistisch dominierten Gebieten nach Pakistan umzog. (Später spaltete sich das ehemalige Ostpakistan nach einem Bürgerkrieg als unabhängiger Staat, Bangladesch, ab.) Seit 1948 sind die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan gespannt und führten öfter an den Rand eines offenen Krieges. In Indien brachen immer wieder lokale Konflikte zwischen Muslimen und Hindus aus. Sie wurden sowohl durch religiöse als auch politische Faktoren ausgelöst. Politisch streiten sich Pakistan und Indien um Kaschmir, das zwar bei Indien verblieben ist, in dem aber hauptsächlich Muslime leben. Auch in China gibt es Muslime. Doch außerhalb Chinas kennt niemand die genaue Zahl, da die chinesische Regierung die Zahlen der Anhänger aller Religionen tendenziell nach unten verfälscht und nicht mit Bevölkerungswissenschaftlern kooperiert, die genauere Daten erheben möchten. Im Internet finden Sie Weltkarten, wenn Sie bei Suchmaschinen die Stichwörter »Islam+Weltkarte« eingeben.
Kapitel 2
Islamische Geschichte IN DIESEM KAPITEL Die Nachfolge Mohammeds: die vier rechtgeleiteten Kalifen Herrscher über ein Reich: die Omayyaden und die Abbasiden Eine Umwandlung des Staates: drei nachmittelalterliche islamische Reiche
Der Islam will als Religion nicht nur spirituell suchenden Individuen Glaubensinhalte und Verhaltensregeln bieten, sondern versucht, alle Aspekte der Gesellschaft zu regeln. Man kann den Islam nur verstehen, wenn man seine politische und kulturelle Gestalt studiert. Wenn Muslime heute einen islamischen Staat gründen wollen, studieren sie vorher oft islamische Staaten der Vergangenheit, um Modelle und Anregungen für das eigene Unterfangen zu bekommen. Die Vergangenheit ist für Muslime nicht nur alte Geschichte. Weil der Islam in der frühen Zeit von 632 (Mohammeds Tod) bis zum Fall von Bagdad 1258 als Zivilisation und politisches und religiöses System Gestalt annahm, können diese Entwicklungen Hinweise für die Beurteilung der Gegenwart liefern. Diese frühe Geschichte lässt sich zwanglos in drei Epochen unterteilen. Die erste umfasst die vier Nachfolger Mohammeds. Unter ihrer Herrschaft breitete sich der Islam schnell über Arabien nach Syrien, Irak, Ägypten und Teile des Iran (632–661) aus. Die zweite umfasst die erste Dynastie. (Bei einer Dynastie bleibt die Herrschaft in einer Familie.) Die Omayyaden (661–750) herrschten von ihrer Hauptstadt Damaskus über eine vereinte islamische Gemeinschaft, die sich von den Grenzen Indiens im Osten bis nach Spanien und Marokko im Westen erstreckte. Imperien sind vergänglich, und die Herrschaft der Omayyaden hatte viele Feinde geschaffen. Durch einen gewaltsamen Umsturz kam die Familie der Abbasiden anstelle der Omayyaden an die Macht. Die Dynastie der Abbasiden herrschte von 750 bis 1258. Die neue Hauptstadt Bagdad war nicht nur das politische, sondern auch das kulturelle Zentrum des Islam. Der Islam existiert seit 1.400 Jahren, umfasst über ein Fünftel der Weltbevölkerung und hat einen größeren geografischen Raum beherrscht als jedes andere Weltreich. In einem Kapitel können unmöglich die gesamte islamische Geschichte oder alle Räume behandelt werden, in denen der Islam die Oberhand gewann. Um eine klare Linie beizubehalten,
werden viele Aspekte der Geschichte des Islam in diesem Kapitel nicht behandelt. Es gibt also keine langen Listen der Herrscher, Dynastien mit seltsamen Namen, Daten und geografischen Begriffe. Insbesondere beschreibe ich in diesem Kapitel nicht umfangreiche Themen der Ausbreitung und Geschichte des Islam. Näheres über diese Themen finden Sie in Geschichtsbüchern des Islam wie etwa Kleine Geschichte des Islam von Karen Armstrong (Berliner Taschenbuch Verlag 2001).
Das Reich des Islam (dar al-Islam) Der Islam versteht es als seine Mission, die Herrschaft Gottes über die ganze Welt auszudehnen. Praktisch bedeutet dies: Die ganze Welt sollte unter islamischer Herrschaft stehen. Die Muslime teilten im Mittelalter die Welt in islamische und nichtislamische Reiche auf: Der dar al-Islam (Reich des Islam) ist der Teil der Welt, der unter islamischer Herrschaft steht. Gottes Absicht, so der Islam, besteht darin, den dar al-Islam auf die ganze Welt auszudehnen, sodass alle Menschen gemäß Gottes Plan und Gesetzen leben. Der dar al-harb (Reich des Krieges) ist der Teil der Welt, der nicht unter islamischer Herrschaft steht. Gott fordert die Muslime auf, alle Völker zum Islam zu bekehren (wenn auch nicht durch gewaltsame Konversion). Manchmal wurde eine dritte Kategorie erwähnt, der dar al-sulh (Reich des Waffenstillstands), der Teil der Welt, der mit dem dar al-Islam vertraglich festgelegte Beziehungen unterhält, aber gegenwärtig nicht unter islamischer Herrschaft steht. Islamische Gelehrte stritten sich damals darüber, welche geografischen Gebiete zum dar al-Islam gehören und unter welchen Umständen ein Gebiet seinen Status als Teil des dar al-Islam verliert. Sie stritten sich auch darüber, ob ein islamischer Staat mit angrenzenden nichtislamischen Staaten Krieg führen sollte, um sie gewaltsam in den dar al-Islam zu zwingen. Ein anderer Streitpunkt betraf die Frage, ob eine Person in einem nichtislamischen Staat ein Leben als Muslim führen kann. Einige vertraten den Standpunkt, dass Menschen, die aufgrund von Grenzverschiebungen plötzlich in einem nichtislamischen Staat leben, in einen islamischen Staat immigrieren sollten (so wie viele Juden glauben, dass Juden, die außerhalb von Israel leben, die religiöse Pflicht haben, nach Israel zu immigrieren). In Anbetracht etwa der umfangreichen Immigration von Muslimen in westliche Länder sind diese Fragen heute weniger relevant. Das Wort dar (wie in dar al-Islam) ist schwer zu übersetzen. Die ursprüngliche Bedeutung des arabischen Wortes ist »umgeben, umringen, umzingeln«. Vor Mohammed bezeichnete dar das kreisförmige Lager einer Gruppe von Nomaden. Es kann auch den Wohnkomplex einer Großfamilie bezeichnen, der von einer Mauer umgeben ist, um diesen von dem eigentlichen Haus zu unterscheiden. Dar lässt sich am besten als abgegrenztes Gebiet verstehen, das unter einer einheitlichen Herrschaft steht. Der dar al-Islam ist demnach ein Gebiet, in dem die ganze muslimische Gemeinde sicher unter Gottes Gesetz lebt.
Der Islam verbreitete sich vom 13. bis zum 16. Jahrhundert nach Indonesien, das heute der Bevölkerungszahl nach größte muslimische Land. Von Anfang an etablierten sich an der afrikanischen Ostküste islamische Gemeinden. Später breitete sich der Islam auch auf Westafrika aus, bis er schließlich die vorherrschende Religion in der nördlichen Hälfte des Afrika südlich der Sahara wurde. Zur Zeit der Omayyaden breitete sich der Islam über Nordafrika bis nach Spanien aus.
Auch dieser geografische Raum, der das moderne Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko umfasst, hat seine spezifische Geschichte. Der Islam entwickelte sich in Zentralasien und den kaukasischen Bergregionen – vom Schwarzen Meer bis zu einem Teil Ostchinas – zur vorherrschenden Religion. Ein großer Teil dieser Region gehörte zur früheren Sowjetunion und umfasst heute mehrere neue unabhängige muslimische Staaten. Die Entwicklungen im mittelöstlichen Kernland des Islam zwischen dem Ende der Abbasiden-Dynastie und dem Aufkommen des Osmanen- und des Safawiden-Reiches werden nicht ausführlich behandelt. In dieser Zeit kamen und gingen viele Dynastien. Nur wenige konnten über längere Zeit hinweg ihre Herrschaft über mehr als einen begrenzten regionalen Raum behaupten.
Die vier rechtgeleiteten Kalifen Bei seinem Tod hinterließ Mohammed die Basis einer neuen Religion und eines neuen politischen Systems. Doch erst die Zukunft sollte zeigen, welche Form die islamische Religion und ein islamischer Staat annehmen sollten. Obwohl Religion und Staat für Muslime eng verbunden sind, konzentriere ich mich in diesem Kapitel auf die Entwicklung des Islam als politisches und kulturelles System. Die junge muslimische Gemeinde in Medina sah sich für die vor ihr liegenden Jahrzehnte mit den folgenden wichtigen politischen Problemen konfrontiert: Würde die islamische Gemeinschaft, die zum ersten Mal in der Geschichte die meisten Araber vereinigte, Bestand haben, oder würde sie sich nach dem Tod Mohammeds auflösen? Falls sie überleben würde, wer würde dann Oberhaupt der Gemeinschaft sein? Sollte das Oberhaupt sowohl politische als auch religiöse Autorität haben oder nur der politische Führer des Islam sein? Auf welchem Prinzip sollte diese Gemeinschaft basieren? Sollte sie eine breite Basis haben, die alle umfasst, die sich nicht ausdrücklich vom Islam ausschließen, oder sollte es eine engere, puritanische Gemeinschaft sein? Sollte die islamische Gemeinschaft ein arabischer Staat sein oder sollte der Staat gleichberechtigt auch Nichtaraber umfassen? Wie sollte der Islam konsolidiert und institutionalisiert werden?
Das Wort Kalif bedeutet Nachfolger oder Stellvertreter. So war Adam der Kalif Gottes – der Stellvertreter Gottes auf Erden. Kalif als Bezeichnung eines islamischen Herrschers ist eine Abkürzung des Ausdrucks »Kalif (Nachfolger) des Gesandten
Gottes«. Auch heute gibt es noch, meist islamistische, Strömungen wie die Hizb atTakhrir-Bewegung, die das Kalifat wiedererrichten wollen oder der sogenannte Islamische Staat.
Die Wahl eines Nachfolgers: Abu Bakr (632–634) Wenn die politische Gemeinschaft, die Mohammed gegründet hatte, nach seinem Tod nicht wieder zerfallen sollte, war schnelles und entschiedenes Handeln erforderlich. Doch wer sollte die Gemeinschaft führen? Vier Gruppen hätten Ansprüche anmelden können: Die Einwohner von Medina, die Mohammed unterstützt hatten (»Helfer«): Obwohl Mohammed bis zu seinem Tod in Medina lebte, hätten die Einwohner von Medina vorhersehen können, dass die Elite Mekkas die Führerrolle unter den Arabern beanspruchen werde. Die einflussreichsten Führer der Kuraischiten: Diese Gruppe war erst kurz vor und nach der Eroberung von Mekka 630 zum Islam konvertiert. Trotzdem glaubten sie, dass aufgrund ihrer Abstammung und Tradition ein Führer der Kuraischiten einen Staat leiten sollte, der von einem ihrer Stammesangehörigen gegründet worden war. Ali, der Sohn von Mohammeds Onkel und Vormund, Abu Talib: Mohammed hatte Ali in sein Haus aufgenommen, und Ali hatte Mohammeds einziges überlebendes Kind, seine Tochter Fatima, geheiratet. Die Kinder von Ali und Fatima waren direkte Erben von Mohammed. Die Anhänger Alis glaubten, die Führerschaft solle in der Familie Mohammeds bleiben und die Kombination aus religiöser und politischer Führung im Stile Mohammeds fortsetzen. Doch in Arabien ging die Stammesführung nicht automatisch vom Vater auf den Sohn über. Stattdessen wählten die Anführer eines Stammes oder Klans aus ihren Reihen denjenigen aus, den sie für den geeignetsten Führer hielten. Scheich, die Bezeichnung des Stammesführers, bedeutet wörtlich »alter Mann« und drückt aus, dass für die Position eines Anführers Alter und Erfahrung erforderlich waren. Da Ali mit 34 bei Mohammeds Tod noch relativ jung war, wäre er als Kandidat wohl nicht in Betracht gekommen. Alis Anhänger sahen dies anders. Sie verwiesen auf eine Überlieferung, nach der Mohammed bei seiner Rückkehr von seiner letzten Pilgerreise nach Mekka Ali zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Aber diese Überlieferung ist mehrdeutig formuliert, und andere Muslime interpretierten Mohammeds Worte nicht als Vermächtnis seiner Nachfolge an Ali. (In Kapitel 12 finden Sie Näheres über die Schiiten, die Partei Alis.) Die Gefährten: Dies war die letzte Gruppe, die den Nachfolger hätte stellen können. Sie umfasste die frühesten Konvertiten zum Islam aus Mekka, noch vor der Emigration nach Medina 622. Die meisten Gefährten stammten aus weniger bedeutenden Klans der Kuraischiten und zählten deshalb nicht zu den Leuten, welche die Elite der Kuraischiten normalerweise zu ihren Führern zählen würde. Bei diesen Optionen erwies sich Abu Bakr sowohl als engster Gefährte des Propheten,
sein Schwiegervater wie auch als Mitglied der Kuraischiten als naheliegender Kompromiss. Abu Bakr war bereits älter, als er als einer der Ersten zum Islam konvertierte. Er hatte Mohammed auf seiner Flucht (Emigration) aus Mekka nach Medina begleitet. Wegen seiner untadeligen Reputation trug er den Beinamen »der Aufrichtige«. Aischa, Mohammeds Lieblingsfrau (nach dem Tod von Khadidscha), war Abu Bakrs Tochter. Mohammed hatte ihn auserwählt, das letzte Gebet während seiner tödlichen Krankheit zu leiten. Tatsächlich wurde Abu Bakr von einer kleinen inneren Gruppe der Kuraischiten in Abwesenheit sowohl von Ali als auch den eingeborenen Führern von Medina zum Nachfolger bestimmt. Mohammed hatte mehr arabische Stämme zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen als jemals jemand zuvor. Dennoch war es nicht selbstverständlich, dass der Staat, den er geschaffen hatte, seinen Tod überdauern würde. Warum? Dem arabischen Brauch folgend, würden Führer, die Mohammed die Treue geschworen hatten, bei seinem Tod von ihrem Eid entbunden sein. Wenn sich ein Stamm von dem jungen Staat lossagte, bedeutete dies nicht automatisch, dass er den Islam ablehnte. Doch bei einigen Stämmen war das Bekenntnis zum Islam eher eine Frage der politischen Taktik als eine religiöse Überzeugung. Diese Gruppen hätten den Tod Mohammeds als Gelegenheit begreifen können, dem Islam abzuschwören. Als Abu Bakr Kalif wurde, erhoben sich tatsächlich einige Stämme. Die Zeit ging als die Apostasie (al-Ridda; Abfallbewegung) in die Geschichte des Islam ein. Einige dieser Revolten wurden von Personen angeführt, die sich als Propheten mit eigenen Offenbarungen proklamierten. Abu Bakr konnte diese Revolten mit der Hilfe des künftigen zweiten Kalifen Umar erfolgreich niederwerfen. Außerdem gewann er einige Stämme in Arabien, die den Islam noch nicht akzeptiert hatten, und traf Vorbereitungen für Militärexpeditionen außerhalb von Arabien. Der Islam hatte die erste Krise nach dem Tod Mohammeds überstanden.
Die Expansion außerhalb Arabiens: Umar (634–644) Auf seinem Sterbelager bestimmte Abu Bakr den 43 Jahre alten Umar (auch: Omar), bereits die zweitwichtigste Person in dem jungen Staat, zu seinem Nachfolger. Umar war ursprünglich ein erklärter Gegner des Islam gewesen. 616 wollte er Mohammed töten, kehrte aber vorher in das Haus seiner Schwester und deren Mannes ein, wobei er zu seinem Ärger ihren Übertritt zum Islam entdeckte. Als er sie jedoch aus dem Koran rezitieren hörte, konvertierte auch er sofort. Er war für sein aufbrausendes Temperament bekannt, wurde aber trotzdem einer der treuesten Anhänger Mohammeds. Trotz des erheblichen Reichtums, der aufgrund der militärischen Eroberungen nach Mekka und Medina floss, führt Umar ein einfaches Leben. Sunnitische Muslime betrachten Umar oft rückblickend als idealen Herrscher. Folgende Begebenheiten zählen zu den Höhepunkten seiner sehr erfolgreichen Herrschaft als Kalif:
Umar nahm den Titel Amir al-Mu'minim (Herrscher der Gläubigen) an, der von seinen Nachfolgern übernommen wurde. Unter seiner Führung erfolgte die erste größere Erweiterung des Islam außerhalb von Arabien. Dabei fielen die heutigen Gebiete von Palästina, Syrien, Irak, Ägypten und Iran unter islamische Herrschaft. Im Westen und Norden erstreckte sich das Byzantinische (Oströmische) Reich. Im Osten und Nordosten herrschten die Sassaniden (Iraner), die Erben des antiken Persien. Mit Unterstützung durch fähige Feldherren wie Amr Ibn al-As und Khalid Ibn al-Walid brachte Umar mit seiner Armee der byzantinischen Armee am Fluss Yarmuk im Süden Syriens 636 eine bedeutende Niederlage bei. 637 besiegte er die Hauptarmee der Sassaniden-Armee im Südirak und besetzte ihre Hauptstadt, Ctesiphon. Während Byzanz (das Oströmische Reich) noch für einige Jahrhunderte eine bedeutende Macht blieb, markierte der Sieg über die Sassaniden 637 das Ende des iranischen Reiches als regionale Großmacht. Die arabischen Armeen drangen weiter nördlich in den Nordirak ein und erreichten in der Mitte der 650er-Jahre den Ostiran. 642 hatten die muslimischen Armeen den Oströmern die Kontrolle über Ägypten abgerungen. Er schuf die Basis für die Verwaltung des erheblich erweiterten islamischen Staates, indem er einige vorislamische administrative Strukturen der Länder nutze, die er von den Römern erobert hatte. Viele wichtige Positionen der mittleren Ebene der Regierung wurden mit Nichtmuslimen besetzt, die über die erforderlichen Kompetenzen verfügten, die den arabischen Eroberern fehlten. Umar siedelte Soldaten der arabischen Armeen in Lagern bei Kufa und Basra im Irak (und später in ähnlichen Siedlungen an anderen Orten) an, wo sie von der einheimischen Bevölkerung getrennt waren. Diese Lager entwickelten sich zu Hauptzentren der weiteren Verbreitung des Islam in der betreffenden Region. Der Sold der Soldaten wurde aus der Kriegsbeute bezahlt. Die Führer der in den eroberten Gebieten angesiedelten Araber entwickelten sich oft zu den neuen örtlichen Eliten. Doch viele der vorislamischen Eliten durften ihr Land und ihre Positionen behalten. Viele dieser Leute waren mit der Herrschaft der Römer oder Sassaniden unzufrieden gewesen. Durch seine Politik konnte Umar ihre Unterstützung für den neuen islamischen Staat gewinnen. Einige Mitglieder der lokalen, alteingesessenen Führungsschicht konvertierten zum Islam – zweifellos auch, um ihre Stellung in der neuen islamischen Ordnung zu verbessern. Er legte das Datum der Emigration aus Mekka nach Medina (622) als den Anfang des muslimischen Kalenders fest. Umar verfolgte Christen und Juden gegenüber eine Politik der Toleranz und wurde damit den Aussagen über nichtmuslimische »Leute des Buches« (Leute mit einer schriftlichen Offenbarung) im Koran gerecht. Umar zwang Christen und Juden nicht, zum Islam überzutreten.
In den nächsten 200 Jahren blieben die Muslime im Nahen Osten in der Minderheit. Etwa 637 übergab der christliche Patriarch von Jerusalem die Stadt freiwillig an die heranrückende muslimische Armee. Laut muslimischer Überlieferung lehnte es Umar nach Betreten der Stadt ab, in der Kirche zu beten, die den Ort der Kreuzigung Jesu markierte, damit seine Anhänger die Kirche nicht in eine Moschee umwandelten. Das Dokument, der sogenannte Vertrag des Umar, legte die Bedingungen fest, unter denen es Christen und Juden erlaubt war, in dem islamischen Staat zu leben. Diese geschützten Minderheiten (dhimmi) durften ihre Religion weiter ausüben, durften aber nicht missionieren oder neue Stätten der Anbetung errichten. Die dhimmi trugen später spezielle Kleidung und zahlten eine eigene Steuer dafür, dass sie nicht in der Armee dienen mussten. Heutige Forscher streiten darüber, ob muslimische Berichte wie dieser über die Eroberung Jerusalems und den Vertrag des Umar korrekt wiedergeben, was passierte, oder ob sie diese aus der Sicht von hundert oder mehr Jahren später beschreiben, als Muslime begannen, ihre frühe Geschichte zu erzählen. In den letzten 20 Jahren haben sich zahlreiche Forscher bemüht, die frühe islamische Geschichte historisch genauer darzustellen – doch vieles bleibt zu tun. Auf jeden Fall wurden diese Geschichte und der Text des Vertrags des Umar maßgebend für spätere Muslime, um festzulegen, wie Muslime Christen und Juden in neu eroberten Ländern behandeln sollten. Er bestimmt auch heute noch, wie Muslime ihre Beziehungen zu Christen und Juden und sogar anderen Nichtmuslimen sehen. Ein verärgerter Sklave verübte 644 ein Attentat auf Umar. Auf seinem Sterbebett rief Umar Ali, Uthman und andere prominente Führer zu einem Rat (schura) zusammen und trug ihnen auf, den nächsten Kalifen zu wählen. Sie wählten Uthman. Heute verweisen Befürworter einer islamischen Demokratie auf die Institution der schura als einen frühen islamischen Vorgänger. Die Schiiten glaubten, dass Ali die Position des Kalifen ungerechterweise ein zweites Mal verweigert worden war. Es ist glaubhaft, dass er der Ernennung Uthmans nur zögernd zustimmte.
Den Koran zusammentragen: Uthman (644–656) Der fromme und reiche Kaufmann Uthman war als Herrscher umstrittener und weniger fähig als seine Vorgänger. Er war einer der frühen Islamkonvertiten, hatte eine Tochter Mohammeds geheiratet und gehörte zu dem mächtigen Omayyaden-Klan der Kuraischiten. Bei der Besetzung von Regierungspositionen bevorzugte er Mitglieder seines Klans. Die meisten waren erst spät zum Islam übergetreten, und diese Postenverteilung rief Unmut hervor. Die Leute von Medina nahmen den wachsenden Einfluss von Mekka auf die Staatsangelegenheiten übel, und viele Muslime waren von dem zunehmenden Reichtum und der Macht abgestoßen, die von der Elite angehäuft wurde.
Auch im islamischen Zentrum Kufa im Irak und in Ägypten bildeten sich Gruppen, die mit Uthmans Politik nicht einverstanden waren. Schließlich wurde Uthman von ägyptischen Rebellen bei einem Attentat umgebracht, als er gerade den Koran las. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Ali an diesem Attentat beteiligt war, äußerten einige von Alis Feinden, darunter Uthmans Familie (der Omayyaden-Klan) sowie Aischa (Mohammeds Witwe) und ihre Anhänger, den Verdacht, er sei es gewesen oder habe zumindest nicht genug getan, um Uthman zu schützen. Unter der Herrschaft Uthmans wurde die geografische Expansion des Staates fortgesetzt, insbesondere nach Libyen und Tunesien. Gemäß der muslimischen Überlieferung bestand Uthmans größte Leistung darin, die bis dahin nur als Loseblattsammlung vorhandene Fassung des Koran vervielfältigen und versenden zu lassen. So wurde eine verbindliche Version der Schrift in der Geschichte des Islam viel schneller festgelegt als die heiligen Schriften des Christentums oder Judentums.
Rebellion gegen Ali (656–661) Ein Rat (schura) wählte Ali als vierten Kalifen, aber er konnte seine Herrschaft nie richtig festigen, weil viele glaubten, er sei am Mord an Uthman beteiligt gewesen. Ali wird in den islamischen Quellen als aufrichtig beschrieben und sprach die weniger mächtigen Mitglieder der Gemeinschaft an. Er verlegte seine Hauptstadt nach Kufa im Irak. Seitdem lag das politische Zentrum des Islam nie wieder in Arabien. Uthmans Tod markierte den Anfang der ersten Rebellion (fitna), welche die Einheit der Muslimgemeinde bedrohte. In der Zeit der ersten beiden islamischen Dynastien, der Omayyaden und der Abbasiden, gab es noch drei weitere Rebellionen. Ali wurde auch von Mohammeds Witwe Aischa und ihren Anhängern bekämpft. Er schlug sie 656 in der »Kamelschlacht«. Uthman hatte seinen Neffen Mu'awiya zum Statthalter von Syrien gemacht. Als Ali als neuer Kalif einen anderen zum syrischen Statthalter ernannte, weigerte sich Mu'awiya, den Posten aufzugeben, und die Armeen von Ali und Mu'awiya trafen sich 658 in der Schlacht von Siffin. Alis Kräfte hatten die Oberhand, als die gegnerische Kavallerie Seiten des Koran auf die Spitzen ihrer Speere aufspießte und schrie: »Wir wollen Gott entscheiden lassen.« Ali nahm den vorgeschlagenen Schiedsspruch an. Dadurch schwächte Ali seine Position und verlor die Unterstützung seiner leidenschaftlicheren Anhänger, die die Waffen gegen ihn erhoben. Diese Gruppe wurde als Kharidschiten (»Sezessionisten«) bezeichnet, weil sie sich von Alis Lager abgespalten hatte. Die Kharidschiten waren eine extremistische, puritanische Gruppe im frühen Islam, die der Auffassung waren, nur die strengsten Gläubigen sollten als Muslime betrachtet werden und der Kalif solle
auf der Basis seines muslimischen Glaubens und nicht aufgrund seiner familiären oder politischen Beziehungen gewählt werden. Außerdem war das dreiköpfige Beratungsgremium gegen Ali eingenommen und entschied sich gegen ihn. Ali konnte seine Macht in einem Teil des Irak erhalten, bis er 661 von einem Eiferer der Kharidschiten umgebracht wurde. Die Kharidschiten wollten auch Mu'awiya ermorden, doch das Attentat schlug fehl. In gewisser Weise können die Kharidschiten als Vorläufer der extremistischen islamistischen Gruppen der Gegenwart betrachtet werden.
Die Ausdehnung des Staates Kurz vor oder während der Zeit Mohammeds rechnete niemand in den zentralen Regionen des Nahen Ostens mit einer ernsten Bedrohung aus Arabien. Doch die muslimischen Armeen zerstörten rasch das Reich der Sassaniden (Iraner) und drängten die Grenzen des Byzantinischen Reiches (das Oströmische Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel) zurück. Anfang des 8. Jahrhunderts reichte das muslimische Kalifat von der Atlantikküste Nordafrikas bis zu Teilen des heutigen Pakistan. Muslime werten diesen Erfolg als Zeichen der Gunst Gottes und der Attraktivität sowie der einfachen Dogmatik des islamischen Glaubens, denn diese Siege über die Byzantiner erfolgten nicht zwangsläufig. Mehrere entscheidende Feldzüge hätten leicht zum Nachteil der Muslime ausgehen und den Lauf der Geschichte ändern können. Was also könnte neben der Gunst Gottes der Grund für diesen erstaunlichen Erfolg gewesen sein? Folgende Faktoren können eine Rolle gespielt haben: Die Oströmer und die Sassaniden (Iraner) waren durch ein Jahrhundert des Krieges gegeneinander erschöpft. Zu Lebzeiten Mohammeds hatten die Sassaniden Jerusalem erobert und dann wieder an die Byzantiner verloren. Die alteingesessenen Bevölkerungen waren oft mit der Herrschaft der Byzantiner und Sassaniden unglücklich. Obwohl sie christlich waren, wurden die Bevölkerungen von Syrien, Irak und Ägypten von den Byzantinern verfolgt, die einer anderen Richtung des Christentums anhingen. Die Bevölkerungen Syriens und des Irak waren Araber und hatten mit den eindringenden muslimisch-arabischen Armeen mehr gemein als mit ihren iranischen oder byzantinischen Herren. Die Kalifen verfolgten eine Politik der Versöhnung mit der Bevölkerung, statt sie auszubeuten, und gewannen so ihre Unterstützung. Die Vereinigung des gesamten Nahen Ostens zu einer einzigen politischen und ökonomischen Einheit belebte eine Wirtschaft, die durch den permanenten Krieg zwischen den Sassaniden und Oströmern daniederlag. Auch wenn diese Vereinigung mehrerer Stämme möglicherweise gar nicht beabsichtigt war, war sie erfolgreich.
Mehrere außergewöhnlich fähige Kalifen und Generäle waren wichtige Faktoren für die muslimischen Siege. Die Motivation spielt in jeder Armee eine kritische Rolle. Sie entscheidet oft über Sieg und Niederlage und kann selbst scheinbar ungünstige Situationen kippen. Die islamische Überlieferung berichtet, dass der religiöse Eifer für die muslimischen Siege über Mekka zu Mohammeds Lebzeiten entscheidend war. Der religiöse Eifer war sicher auch zu anderen Zeiten der muslimischen Geschichte ein wichtiger militärischer Faktor. Gelehrte sind der Auffassung, dass der religiöse Eifer auch ein wichtiger Faktor war, um so viele Araber zur Teilnahme an den ersten Eroberungen zu motivieren. Laut Überlieferung kommt ein Muslim, der im Kampf für den Islam stirbt, in den Himmel, ohne sich der Tortur des »Tags des Gerichts« unterwerfen zu müssen. Natürlich ist die Bedeutung des religiösen Faktors schwer nachzuweisen; denn die Psyche der frühen muslimischen Kämpfer bleibt für immer unzugänglich. Doch selbst bei einem noch so starken religiösen Faktor bleibt zu fragen, ob nicht auch die Aussicht auf eine riesige Kriegsbeute die arabischen Kämpfer motivierte; denn das Leben in Arabien war hart.
Das Goldene Zeitalter Ein Goldenes Zeitalter war für die Menschen nicht immer golden. Menschen schauen in die Vergangenheit und erwarten oder hoffen, eine Zeit zu finden, in der das Leben noch nicht so komplex und problembehaftet war. Verschiedene Kulturen sehen die Geschichte als Folge von Zeitaltern, in denen das Leben immer schlechter geworden ist. So auch der Islam. Ursprünglich war der islamische Glauben rein und unverdorben, verfiel aber in der Folgezeit, bis ein »Erneuerer« des Glaubens erscheinen würde. Spätere Generationen von Muslimen blicken oft sehnsüchtig auf die frühen Tage des Islam und speziell auf drei Epochen zurück: die Herrschaft Mohammeds in Medina, die Zeit der ersten vier Kalifen und die Zeit nach den beiden ersten islamischen Dynastien, den Omayyaden und den Abbasiden. Diese Zeit wird auch deshalb so verklärt, weil alles für die Muslime zu arbeiten schien. Dies wurde als Beweis gedeutet, dass Gott auf ihrer Seite stand. Es war auch eine Zeit, in der die meisten Muslime unter der Herrschaft eines einzigen Kalifen lebten und damit auch politisch die Idee der Einheit aller muslimischen Völker verkörperte. Tatsächlich wurden unter den ersten beiden Dynastien große Erfolge erzielt: militärische Eroberungen, Bildung eines großen Staates, Institutionalisierung der islamischen Religion sowie außerordentliche intellektuelle und künstlerische Leistungen. Natürlich sind die Erinnerungen an das Zeitalter der Abbasiden- und die Errungenschaften der Omayyaden-Dynastie wahrscheinlich goldener als die Wirklichkeit. Diese beiden Dynastien (siehe Abbildung 2.1) sind unser nächstes Thema.
Abbildung 2.1: Die Reiche der Omayyaden und Abbasiden in ihrer größten Ausdehnung
Herrschaft der Omayyaden (661–750) Nach Alis Tod festigte Mu'awiya rasch seine Herrschaft. Es gelang ihm, die Herrschaft auf seinen Sohn übergehen zu lassen. Damit begründete er ein dynastisches Prinzip, nach dem die Nachfolge auf ein anderes Mitglieder der herrschenden Familie übergeht. Diese Dynastie wird als die Omayyaden-Dynastie bezeichnet. Der Name ist von dem Kuraischiten-Klan abgeleitet, zu dem Mu'awiya und sein Onkel Uthman gehörten. Doch die Frage des geregelten Übergangs der Macht beim Tod des herrschenden Kalifen führt immer wieder zum Streit.
Omayyaden-Kalifen Trotz der fragwürdigen Art, wie Mu'awiya an die Macht kam, erwies er sich als fähiger Herrscher. Er regiert in dem persönlichen Stil eines arabischen Scheichs, der sich gleichermaßen auf seine Überzeugungskraft wie auf Gewalt stützt. Als ehemaliger Statthalter Syriens stützte Mu'awiya seine Macht auf die Araber Syriens und Palästinas. Er führte jährlich Feldzüge gegen die byzantinischen Kräfte im Norden durch, um die religiöse Forderung zu erfüllen, den dar al-Islam auszudehnen. Da Mu'awiya bereits als Statthalter von Syrien seinen Sitz in Damaskus hatte, machte er Damaskus zur Hauptstadt. Mekka und Medina waren einfach zu weit vom Kernland des erheblich erweiterten islamischen Staates entfernt, um als politische Hauptstädte geeignet zu sein. Neue Konvertiten – Araber und Nichtaraber – wurden sozial und wirtschaftlich als »Klienten«
(mawali) der führenden arabischen Familien in die Gesellschaft eingegliedert, die sich in den eroberten Ländern niedergelassen hatten. Einige von Mu'awiyas Nachfolgern lebten ein frommes Leben: Umar II. (717–720) war, wie sein Namensvetter, ein vorbildlicher Herrscher; desgleichen waren Abdal-Malik (685–705) und Walid I. (705–715) als Herrscher erfolgreich. Doch viele der 14 Omayyaden-Kalifen bevorzugten einen ausgesprochen unislamischen Lebensstil.
Ein Schlüsselereignis für schiitische Muslime Es gab ein Ereignis während der Herrschaft der Omayyaden, das weitreichende Konsequenzen für die islamische Religion hatte: der Tod von Alis Sohn Hussein in Kerbela 680. (Alis älterer Sohn Hassan hatte auf seinen Anspruch auf das Kalifat verzichtet.) Nach Mu'awiyas Tod griff Hussein die Mission seines Vaters auf und rebellierte gegen Mu'awiyas Sohn Jazid I. Natürlich wurde Hussein von denjenigen unterstützt, die glaubten, Mohammed habe Ali und dessen Nachkommen zu seinen Nachfolgern bestimmt. Außerdem wurde er von unzufriedenen Teilen der Bevölkerung des Irak unterstützt, die der Ansicht waren, die Omayyaden-Herrschaft favorisierte Syrien zu stark. Auf ihrem Weg nach Kufa fing Jazids Armee Hussein und seine kleine Gruppe von Anhängern ab. Hussein wurde getötet und geköpft. Der General sandte Husseins Kopf an den Kalifen in Damaskus. Die Ermordung des Enkels des Propheten, der als Kind auf dessen Schoß gesessen hatte, schockierte die muslimische Welt. Für die Schiiten wurde Husseins Martyrium in Kerbela zu dem entscheidenden Ereignis ihrer Heilsgeschichte. Kerbela selbst wurde zu einer heiligen Stätte (siehe Kapitel 12). Dies war nur der Anfang der Periode, die als die zweite Rebellion (fitna; 680–692) bezeichnet wird. Danach brachen im Irak und in Arabien mehrere Rebellionen aus, darunter auch in der heiligen Stadt Mekka. Erst unter der Herrschaft von AbdalMalik gewannen die Omayyaden die Kontrolle in den meisten Gebieten zurück.
Errungenschaften der Omayyaden Zu den Errungenschaften der Omayyaden zählen: Die Wiederaufnahme der Expansion des Imperiums. Bis 715 hatten die muslimischen Armeen den Rest Nordafrikas und den größten Teil Spaniens erobert. Im Osten drangen die islamischen Armeen bis ins Industal (im heutigen Pakistan) und in Gebiete Zentralasiens (dem heutigen Afghanistan, Usbekistan und Turkmenistan) vor. Das Omayyaden-Kalifat war zum größten Imperium geworden, das die Welt je gesehen hatte.
Aufstellung einer stehenden Armee, durch die die Macht der ursprünglichen aus Arabien eindringenden Kräfte ersetzt und begrenzt wurden. Arabisierung (die Verwendung des Arabischen für Regierungsdokumente und im Münzwesen) und später Islamisierung (weniger Abhängigkeit von Nichtmuslimen bei der Besetzung der wachsenden Verwaltung) der Regierung. Errichtung von Bauwerken einschließlich Palästen und Moscheen sowie die Entwicklung einer Architektur für Moscheen. Der Felsendom in Jerusalem (etwa 691 oder 692) war der erste große Erfolg der monumentalen islamischen Architektur. Entwicklung der islamischen religiösen Gelehrsamkeit einschließlich der Sammlung der Überlieferungen und des Studiums des Koran.
Herrschaft der Abbasiden (750–1258) Die Ereignisse beim Fall der Omayyaden-Dynastie und der Errichtung der AbbasidenHerrschaft bilden die dritte Rebellion (fitna). Mawali-Elemente (nichtarabische Elemente) der Bevölkerung schauten neidisch auf die Privilegien, welche die Nachkommen der Elite der früheren arabischen Invasoren genossen. Schiiten lehnten eine Dynastie ab, die den Herrschaftsanspruch Alis und seiner Nachkommen missachtet hatte. Die entstehende Klasse der Religionsgelehrten verurteilte das Verhalten der Omayyaden als zu weltlich. Doch einige moderne Gelehrte halten dies für eine üble Nachrede und sind der Auffassung, dass die Omayyaden genauso fromm (oder unfromm) wie die Abbasiden waren. Das Machtzentrum verschob sich weg von der Machtbasis der Omayyaden in Syrien (Damaskus) nach Osten (Bagdad, Irak). Zwischen verschiedenen Gruppen der Araber brachen interne Konflikte aus. Modern ausgedrückt führten die Feinde der Omayyaden eine erfolgreiche PublicRelations-Kampagne aus, um sie zu diskreditieren. Mit einigen Wirrungen wurde die Macht und Einheit des Kalifats wiederhergestellt und hatte im ersten Drittel der Abbasiden-Herrschaft Bestand. Danach änderte sich die Stellung des Kalifen: Er wurde zunehmend zu einer religiösen oder pseudoreligiösen Galionsfigur, während die Macht von einer anderen Person ausgeübt wurde, einem militärischen Befehlshaber, der Titel wie Sultan oder Prinz der Gläubigen (amir almu'minin) trug. Die zentrale Macht zerfiel. Zwar erkannten verschiedene Regionen die Oberherrschaft des Kalifen immer noch theoretisch an, wurden aber praktisch zunehmend unabhängig und ihre Gouverneure oder Generäle gründeten eigene lokale Dynastien. Doch trotz des politischen Niedergangs blühte die Abbasiden-Kultur auf künstlerischem,
religiösem und intellektuellem Gebiet auf.
Wie die Abbasiden an die Macht kamen Im Nordosten Persiens brachen bewaffnete Aufstände gegen die Omayyaden aus. Die Drahtzieher im Hintergrund hielten die Möglichkeit offen, die Herrschaft an die Familie des Propheten zurückzugeben. Dadurch bekam die Bewegung einen apokalyptischen und messianischen Beiklang. Der Aufstand wurde von Nachkommen von al-Abbas geleitet (deshalb der Name Abbasiden-Dynastie), einem Onkel Mohammeds mütterlicherseits. Abu Muslim (»Vater der Muslime«), eine quasi mythische Gestalt, deren Herkunft nicht genau zurückverfolgbar ist, führte die aufständischen Armeen 750 zum Sieg. Nach dem Sieg wurde Abu al-Abbas zum Kalifen ausgerufen, zur Überraschung der Schiiten, die einen Nachkommen Alis als Kalifen erwartet hatten. Die Abbasiden-Familie konsolidierte ihre Macht und drängte die schiitischen Partisanen, die den Aufstand unterstützt hatten, an den Rand. Der Kalif fand einen Vorwand, um Abu Muslim hinzurichten, dessen militärisches Können das Übergewicht der Abbasiden bedrohte. Die Abbasiden gründeten im Irak die neue Stadt Bagdad und machten sie zu ihrer Hauptstadt. Die Dynastie blühte in ihren Anfangsjahren auf und erreichte mit der Herrschaft Harun al-Raschids (786–809) einen Höhepunkt.
Was die Abbasiden erreichten Politisch, ökonomisch und militärisch erzielten die Abbasiden im ersten Drittel ihrer Herrschaft große Erfolge. Die Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und Literatur hielten selbst nach Beginn des politischen Niedergangs an: Islamisierung der Bevölkerung. Am Ende der Omayyaden-Herrschaft waren schätzungsweise 10 Prozent der Bevölkerung Muslime; im 10. Jahrhundert stellten die Muslime in den Städten die Mehrheit der Bevölkerung. Die Bevölkerungen in ländlichen Gebieten waren bis 1300 überwiegend muslimisch. Ökonomische Entwicklung einschließlich der Verstädterung, der Ausweitung des Handels (angeregt durch das Verschwinden der Grenzen zwischen ehemals unabhängigen Staaten, die von dem Kalifat erobert worden waren) und der Entwicklung der Landwirtschaft durch Bewässerungsprojekte und neue landwirtschaftliche Verfahren wie den Fruchtwechsel. Reorganisation der Regierungsbürokratie mit einer Gliederung in verschiedene Abteilungen und einer Reform des Steuersystems. Entwicklung der religiösen Gelehrsamkeit einschließlich der Entwicklung der Theologie, der Systematisierung der Koraninterpretation, die Zusammenstellung der sechs klassischen Sammlungen der Überlieferungen und der Errichtung verschiedener Rechtsschulen (siehe Kapitel 8). Drei Kalifen bemühten sich im 9. Jahrhundert vergeblich, rationalistische Glaubensvorstellungen der Mu'taziliten durchzusetzen. Dadurch wurde die relative Unabhängigkeit der religiösen Institutionen von
politischen Interessen der Herrschenden gewährleistet. Das islamische Recht, das von islamischen Richtern (qadi) ausgeübt wurde, spielte eine zentrale Rolle bei der Ausformung eines sozialen und moralischen Ethos. Die Religionsgelehrten (ulama) und nicht der Kalif wurden zum religiösen Zentrum des Islam. Entwicklung der Sufi-Mystik (siehe Kapitel 13). Übersetzung klassischer griechischer Texte über Medizin, Philosophie, Mathematik und Wissenschaft ins Arabische; neue bedeutende Beiträge zu diesen Gebieten und anderen Disziplinen, wobei iranische Muslime oft auf Übersetzungen aus dem Griechischen und dem Sanskrit aus der Sassaniden-Ära zurückgriffen (siehe Kapitel 18). Entwicklung der Literatur, in der die Perser, die aus einheimischen und arabischen Quellen schöpften, eine große Rolle spielten.
Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert Dieser Abschnitt ist ein Überblick über einige politisch relevante Dynastien und Personen aus der Endzeit der Abbasiden-Dynastie bis zum Entstehen der neuen beständigen zentralen Reiche am Anfang des 15. Jahrhunderts. In der Mitte des 10. Jahrhunderts lag die politische und militärische Macht nicht mehr bei dem Kalifen, sondern bei führenden Familien, die eigene Dynastien gegründet hatten und vom Kalifen anerkannt und legitimiert worden waren, der theoretisch ihr Oberhaupt blieb. Die erste Familie war die schiitenfreundliche Buyiden-Dynastie (Mitte des 10. bis Mitte des 11. Jahrhunderts). Je weiter ein Gebiet von der Hauptstadt Bagdad entfernt war, desto unabhängiger wurde es, obwohl es immer noch nominell die Oberherrschaft des Kalifen anerkannte. Im 10. Jahrhundert kontrollierten die Hamaniden den Norden Mesopotamiens. Die Samaniden kontrollierten den Ostiran, Afghanistan und Transoxanien (das Gebiet nördlich von Afghanistan und des Flusses Oxus, der von Südosten nach Nordwesten in den Aralsee fließt). Die Macht in dieser östlichen Region ging Anfang des 11. Jahrhunderts an die Ghaznawiden über. Mahmud (ein Ghaznawiden-Herrscher) stärkte die islamische Präsenz in Nordwesten Indiens. Während dieser Zeit wurden die arabischen Wurzeln des Islam durch eine Wiederbelebung der persischen Kultur angereichert. In der östlichen Hälfte des Reiches wurde Persisch gesprochen. Von dort drang diese arabisch-persische Form der islamischen Kultur nach Indien vor, als der Islam sich über Südasien ausbreitete. Im 11. und 12. Jahrhundert drangen Turkvölker, von denen manche bereits zum Islam konvertiert waren, aus Zentralasien in das Abbasiden-Reich ein. 1055 erkannte der Kalif Seldschuk Turk als den Sultan an, den vom Kalifen ernannten politischen Herrscher. 1071 erzielten die Seldschuken einen bedeutenden Sieg gegen die Byzantiner. Auf dem Gipfel ihrer Macht regierten die Seldschuken das Gebiet von der Zentraltürkei bis zum Ostiran, auch wenn der Sultan, wie in jener Zeit üblich, die lokalen Herrscher manchmal nur locker kontrollierte. Nun wurde die persisch-arabische Kultur durch türkische Einflüsse
angereichert. In Abwesenheit eines starken Kalifen wurde der sunnitische Islam lokal durch Religionsgelehrte (ulama) und Sufi-Mystiker befördert, die beide dem Volk eine religiöse Führung anboten. Unter dem Großwesir Nizam al-Mulk (1018–1092) wurde ein System islamischer Schulen (madrasa) etabliert. Um 1200 tauchte aus Zentralasien und nördlichen Regionen eine neue Bedrohung auf: die mongolischen Nomadenarmeen des Dschingis Khan (etwa 1162–1227). Obwohl das Reich unter den Nachkommen des Khans in vier Hauptteile aufgespalten worden war, setzen die Mongolen ihre Eroberungszüge nach Osten (China), Westen (Russland und Osteuropa) und Süden (islamische Länder) fort. Die Mongolen waren Heiden, die eine Spur schrecklicher Zerstörungen hinterließen. Ihre Zerstörung von Bagdad 1258 markierte das Ende des politischen Systems, das mit Abu Bakr und Umar begann. Die Zeit eines einzigen islamischen Staates war vorbei. Die Mongolen dieser Zeit haben nichts mit dem späteren islamischen Mogul-Reich in Indien zu tun. Die Mogul-Herrscher waren Nachkommen der Mongolen (daher der Name). Heute ist Mogul ein Synonym für einen Großindustriellen; diese Gleichsetzung leitet sich aus der Macht der Mogul-Herrscher ab. Die Moguln werden in dem Abschnitt »Das Mogul-Reich: Der Islam in Südasien« weiter hinten in diesem Kapitel näher behandelt. Doch im Laufe der Zeit konvertierten die meisten Mongolen (außer im Fernen Osten) zum Islam, sodass sich der Islam weiter auf das Gebiet der Krim (nördlich des Schwarzen Meers) und Teile von Russland ausdehnte (etwa dem heutigen Tatarstan, mehrere Hundert Kilometer östlich von Moskau). In den ehemaligen Abbasiden-Ländern kamen und gingen in schneller Folge neue regionale Dynastien. Der bekannteste Führer jener Zeit ist Timur (1336–1405, auch Timur Lenk, Tamerlan), ein Krieger, der seine Abstammung von Dschingis Khan behauptete. Wie die früheren Mongolen war Timur ein Eroberer, der Angst und Zerstörung verbreitete. Dennoch gründete er einen neuen Staat mit der Hauptstadt Samarkand (in Transoxanien, nördlich von Afghanistan), der von der Zentraltürkei bis zum Nordwesten Indiens reichte. Sein Sohn Shah Rukh gründete die Timuriden-Dynastie mit der Hauptstadt Herat (in Ostafghanistan), die für ihre außergewöhnliche Architektur und Literatur bekannt wurde. Damit war die Bühne für den Aufstieg der Osmanen, Safawiden und der Mogul-Reiche bereitet (siehe den Kasten »Die Kreuzzüge verstehen«, in dem die Entwicklungen in Syrien und Ägypten während der Zeit beschrieben werden, die ich hier behandelt habe). Die voranstehende Skizze deutet die Entwicklungen während dieser Zeit nur an und lässt viele andere Personen und Dynastien unerwähnt, die in diesem Abschnitt der islamischen Geschichte eine wichtige Rolle spielten.
Die Kreuzzüge verstehen
Die christlichen Kreuzzüge dauerten von 1098 bis 1291. 1099 eroberten die Armeen der Kreuzfahrer Jerusalem und massakrierten die gesamte muslimische und jüdische Bevölkerung. Die Kreuzfahrer gründeten in Palästina und Syrien mehrere kurzlebige, unabhängige, kleine christliche Staaten. 1187 brachte Saladin (Salah al-Din al-Ayyubi, 1138–1193) den Kreuzfahrern bei Hattin in Palästina die entscheidende Niederlage bei und eroberte Jerusalem zurück, ließ aber christliche Einwohner am Leben. Seine Ritterlichkeit den besiegten Christen gegenüber wurde sogar in Europa gerühmt. Mehrere weitere Kreuzzüge waren wenig erfolgreich. Vom Standpunkt der Muslime aus waren die Kreuzzüge einfach ein weiterer Fall eines barbarischen Eindringens in islamische Länder, das die damaligen islamischen Staaten nicht ernsthaft bedrohte. Die Reconquista, die Rückeroberung Spaniens von den Mauren, Muslimen aus dem Nordwesten Afrikas, war ein weiterer Kreuzzug. Muslimische Kräfte hatten bis 715 den größten Teil Spaniens erobert. Sie waren von Marokko gekommen, nachdem sie bis 711 ganz Nordafrika erobert hatten. 750 zerstörten die Abbasiden die Omayyaden-Dynastie in Damaskus. Ein Mitglied der Omayyaden entkam nach Spanien und gründete dort einen unabhängigen Omayyaden-Staat. Sein Nachfolger nahm später den Titel eines Kalifen an. Im 10. Jahrhundert war Córdoba, die Hauptstadt des Omayyaden-Reiches in Spanien, die bei Weitem größte und fortgeschrittenste Stadt in Europa und machte Bagdad als kulturelles Zentrum Konkurrenz. Die Moschee von Córdoba (la Mezquita) zählt auch heute noch zu den großartigsten Gebäuden der Welt. Im 11. Jahrhundert begann die christliche Rückeroberung vom Nordwesten Spaniens aus. Allmählich drangen die Christen nach Süden vor. Sie wurden zeitweilig durch muslimische Invasionen aus Nordafrika gestoppt (die Almoraviden, 1056–1147, und die Almohaden, 1130–1269). Im 12. und 13. Jahrhundert fand in Städten wie Toledo ein intensiver Austausch zwischen muslimischen, jüdischen und christlichen Gelehrten statt. Dadurch wurden vergessene Klassiker der antiken griechischen Philosophie und Wissenschaft (darunter Aristoteles!) sowie neuere muslimische Beiträge im christlichen Europa bekannt. Die wichtigste Person des mittelalterlichen Judentums, Maimonides (Moses ben Maimon, genannt Ramban, etwa 1135 bis 1204) wurde in Córdoba geboren. Wegen der Verfolgung der Nichtmuslime durch die Almohaden verließ seine Familie Spanien, als Maimonides etwa 13 Jahre alt war. Schließlich ließ er sich in Kairo nieder, wo er Arzt von Saladins Wesir war (dem zweithöchsten Regierungsamt nach dem Herrscher selbst). Er war Oberhaupt der ansässigen jüdischen Gemeinde und schrieb wichtige Werke über Philosophie und Recht des Judentums. Die christliche Rückeroberung Spaniens endete 1492 mit dem Fall von Granada und der Vertreibung der Muslime (und Juden) aus Spanien.
Die drei großen späteren Reiche Die drei nachmittelalterlichen Reiche, die nach dem Fall der Abbasiden entstanden, werden oft als die Schießpulverreiche bezeichnet, weil ihre Armeen das Schießpulver wirksam einsetzten. Das Osmanische, das Safawiden- und das Mogul-Reich (siehe Abbildung 2.2) wurden in Anlehnung an militärische Befehlsstrukturen sehr straff zentral regiert. Ihre Legitimation basierte auf der islamischen Ideologie, militärischer Macht und der Förderung der Künste.
Abbildung 2.2: Die Reiche der Osmanen, Safawiden und Moguln
Das Osmanische Reich: Die Türken Das Osmanische Reich übte unter den drei islamischen Schießpulverreichen den größten Einfluss auf den Islam und den Westen aus. Im 13. Jahrhundert drangen muslimische Turkmenen nach Anatolien (in der heutigen Türkei) vor. In der westanatolischen Stadt Bursa gründete das Oberhaupt eines turkmenischen Klans einen kleinen, aber schnell wachsenden Staat: Anfang des 13. Jahrhunderts war der Hauptteil der anatolischen Bevölkerung christlich, doch Ende des 15. Jahrhunderts waren 90 Prozent der Bevölkerung Muslime. Ursachen waren die Immigration weiterer Turkmenen sowie die Bekehrung der einheimischen Bevölkerung durch Sufi-Missionare. Der Sohn und Nachfolger des ersten Staatsoberhauptes, Osman, war Namensgeber des Osmanischen Reiches. Das Osmanische Reich setzte sich die Ausweitung des dar al-Islam (Reich des Islam) in das christliche Europa zum Ziel. Deshalb fielen die Osmanen im 14. Jahrhundert in Europa ein und besiegten 1389 die Serben. Seit dieser Zeit versetzte die Bedrohung durch die »grausamen Türken« viele Menschen in Europa in Angst und Schrecken. Antiislamische Propagandaschriften, die den Islam als das Werk des Teufels und Muhammad als den Antichristen bezeichneten, wurden ab jenem Zeitraum in Westeuropa verfasst. Im 15. Jahrhundert eroberten die Osmanen den Rest Anatoliens und des Balkans einschließlich 1453 Konstantinopel. Der Fall der Stadt markierte das Ende des Oströmischen Reiches (Reste existierten in Trapezunt bis 1461 fort). Im 16. Jahrhundert eroberten die Osmanen Nordafrika, Westarabien (mit den heiligen Städten Mekka und Medina), Syrien, Palästina und den Irak.
Das Osmanische Reich beherrschte wichtige Kreuzungen der großen Handelsstraßen von Europa in den Osten (China, Asien, Südasien und den Pazifik) und von Norden nach Süden. Deshalb spielte die Entdeckung der Neuen Welt (Amerika) und die Erschließung neuer Seerouten nach Osten rund um die Spitze Afrikas eine wichtige Rolle für den späteren Niedergang der Osmanen. Die Osmanen nahmen die Produktion von Luxusgütern für den Königshof und den Export selbst in die Hand. Zu den Produkten zählten Teppiche, Textilien (mit Bursa als Zentrum) und insbesondere Keramik sowie die Herstellung von Kacheln (mit Iznik in der Westtürkei als Zentrum). Tulpen waren im 18. Jahrhundert ein charakteristisches Motiv. Die Kultur der Osmanen florierte auch auf anderen Gebieten. Gelehrte aus den Moscheeschulen in der Hauptstadt Istanbul (dem früheren Konstantinopel) leisteten bedeutende Beiträge zur Mathematik, Astronomie, Medizin, Geografie und Geschichte. Techniken der Miniaturmalerei aus Persien fanden eine neue Anwendung: die Illustration historischer Überlieferungen einschließlich der Darstellung diverser Feldzüge. Auch in der Architektur gab es größere Errungenschaften: der Topkapi-Palast in Istanbul, eher ein Ensemble mehrerer Pavillons und anderer privater und öffentlicher Räume statt einer Festung, sowie die großen Moscheen und Mausoleen (siehe Kapitel 18). Der osmanische Staat kontrollierte die Religion genauso stark wie andere Bereiche der Gesellschaft. Der Staat behandelte Nichtmuslime tolerant. Sie wurden durch das Oberhaupt ihrer religiösen Gemeinschaft repräsentiert. Juden, die in Europa verfolgt wurden, fanden im Osmanischen Reich Zuflucht und wirtschaftlichen Erfolg. Muslimische Religionsvertreter waren in die öffentliche Bürokratie integriert. Der Scheich al-Islam, der von der Regierung ernannt wurde, setzte seinerseits die Richter (qadi) sowie die Lehrer in den Schulen (madrasa) ein. Die öffentlichen Pflichten eines Richters umfassten die Eintreibung von Steuern, die Marktaufsicht und die Inspektion des Militärs. Das religiöse Recht war hanafitisch (siehe Kapitel 8). Der Staat bekannte sich strikt zur Sunna. Zwei Sufi-Gruppen (muslimische Mystiker) waren besonders bekannt: die Bektaschi und die Mevlevis (siehe Kapitel 13). Der Kalif betrachtete sich als militärischen Verteidiger des Islam, als Bewahrer der Scharia (islamisches Gesetz) und als Erbe sowohl von Rom (wegen der Eroberung des byzantinischen Staates) als auch der frühen islamischen Kalifen. Um dieses Erbe zu erfüllen, drangen die Osmanen weiter nach Westen vor und wurden zweimal nur kurz vor Wien gestoppt (1529 und 1683). Der Großteil der Bevölkerung des Balkans blieb christlich, obwohl viele Menschen im heutigen Bosnien, Albanien, Montenegro, Bulgarien und Mazedonien zum Islam übertraten. Auch wenn sie nicht arabischer (oder kuraischitischer) Abstammung waren, behaupteten die Osmanen, der letzte Abbasiden-Kalif habe das Amt 1517 an den Osmanen-Herrscher übergeben. Ein wenig später erreichte das Osmanische Reich mit der Herrschaft von Suleiman I., genannt der Große, (1520–1566) seinen Höhepunkt. Die Osmanen hatten die Christen erfolgreich an drei Fronten angegriffen: Sie hatten den expandierenden
russischen Staat im Norden des Schwarzen Meers gestoppt; sie hatten das österreichischungarische Reich in Osteuropa gebremst; und sie hatten Spanien im Westen die Kontrolle über das Mittelmeer abgerungen. Im Osten kämpfte der osmanische Staat mit den iranischen Safawiden um die Vorherrschaft. Obwohl das Osmanische Reich erst 1922 nach dem Ersten Weltkrieg unterging, begann sein Abstieg bereits im 17. Jahrhundert. Die zentrale Kontrolle wurde schwächer, als die militärischen und ökonomischen Herausforderungen durch Europa akuter wurden. Das Kalifat wurde 1924 abgeschafft, ein halbes Jahr nach dem Untergang des osmanischen Staates und der Gründung der modernen Türkei. Alle Bemühungen, es zu erneuern, sind bisher gescheitert.
Das Safawiden-Reich: Die Iraner Das Safawiden-Reich ist das beste Beispiel für einen schiitischen islamischen Staat. Der Zwölferschia ist die vorherrschende Form des Schiitentums (siehe Kapitel 12). Sie entwickelt sich im Iran. Der Safawiden-Staat umfasste ein größeres Gebiet als der moderne Iran. Seine kulturellen und künstlerischen Beiträge waren mit denen des Abbasiden-, Mogul- und Osmanen-Reiches vergleichbar. Wo nahm es seinen Anfang? Turkmenen drangen in die nördlichen und nordöstlichen Regionen des Abbasiden-Reiches ein, als die zentrale Macht zusammenbrach. In Abwesenheit eines starken Zentralstaates nach der Eroberung durch die Mongolen 1258 wurden verschiedene Sufi-Orden (siehe Kapitel 13) ein wichtiger Faktor des sozialen Zusammenhalts auf regionaler Ebene. Scheich Safi al-Din (1252–1334) wurde in einem dieser Orden so berühmt, dass dieser nach seinem Namen benannt wurde – von ihm leitet sich der Name Safawiden ab. Dieser Orden breitete sich von seinem Ursprung in Aserbaidschan sowohl nach Osten (in den Iran) als auch nach Westen (in die Osttürkei) aus. Von 1502 bis zu seinem Tod 1524 führte Schah Isma'il, ein Nachkomme von Safi al-Din, seine Anhänger bei der Eroberung des Iran an und gründete so den Safawiden-Staat. Schah Isma'il behauptete, Nachkomme sowohl von Mohammed und den schiitischen Imamen (Nachkommen Mohammeds, die von den Schiiten als Führer anerkannt werden) als auch von dem letzten Sassaniden-König zu sein (Schah ist ein altes sassanidisches Wort für König). Er behauptete auch, den letzten (12.) schiitischen imam zu repräsentieren, der nach schiitischem Glauben 874 in den Untergrund gegangen war (siehe Kapitel 12). Diese Behauptungen verliehen ihm sowohl politische als auch religiöse Autorität. Zu jener Zeit bestand der größte Teil der Bevölkerung des Iran aus sunnitischen Muslimen. Doch einmal an der Macht, begann Schah Isma'il damit, einen Staat zu schaffen, der auf dem Zwölferschiismus basierte (siehe Kapitel 12). Er unterdrückte andere schiitische Gruppen, Sufi-Gruppen und die Sunniten. Er rekrutierte aus den Bevölkerungen der kaukasischen Bergregion (zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer) tscherkessische Sklaven als Soldaten, statt sich auf die Gruppen zu
verlassen, die ihn an die Macht gebracht hatten. Die Bevölkerung musste jetzt den Zwölferschiismus praktizieren. Um ihr eine religiöse Führerschaft präsentieren zu können, holte Schah Isma'il zwölferschiitische Rechtsgelehrte (ulama) aus dem Libanon, aus Syrien, aus dem Irak, aus Bahrain und aus Kaschmir. Dies erklärt den Einfluss, den auch heute noch die iranisch-schiitischen Mullas – religiöse Führer der Zwölferschiiten – auf die schiitischen Bevölkerungen in diesen Regionen haben. Die religiösen Institutionen unterlagen staatlicher Kontrolle. Isma'il führte die schiitische Praxis ein, die ersten drei Kalifen – Abu Bakr, Umar und Uthman (sowie Aischa, welche die Schiiten traditionell ablehnten, weil sie gegen die Herrschaft Alis als Kalif war) – beim Aufruf zum Gebet zu verfluchen. Er baute die Schreine der Zwölferimame wieder auf. Schiitische Rituale wie die Pilgerreise nach Kerbela und das jährliche Gedenken an das Martyrium Husseins, waren (und sind) die wichtigsten religiösen Pflichten. (In Kapitel 12 finden Sie mehr über die religiöse Praktiken und die Theologie der Schiiten.) Militärische Eroberungen, eine effiziente Verwaltung und eine dirigistische Wirtschaft brachten den Iran der Safawiden in den ersten hundert Jahren zur Blüte. In der Hauptstadt Isfahan lebte etwa eine Million Menschen. Es gab 152 Moscheen und 273 öffentliche Bäder. Die Herrschaft von Schah Abbas I. (1587–1629) markierte den Höhepunkt der safawidischen Entwicklung, darunter auch eine Synthese der persischen und türkischen Traditionen, welche die große Zeit der persischen Miniaturmalerei hervorbrachte. Die Illustrationen des persischen Nationalepos, des Schahnama (Geschichte der Könige), waren besonders berühmt. Die Regierung weitete die Teppichproduktion erheblich aus, um ihr Exporteinkommen zu vergrößern. Schah Abbas brachte Hunderte von chinesischen Töpfern in seine neue Hauptstadt Isfahan im Zentraliran, um persische Töpfer zu unterrichten, Porzellanvasen für den Export herzustellen. Die Produktion farbiger Kacheln, immer schon eine Hauptkunstform des Islam, erreichte unter den Safawiden ihre vielleicht höchste Ausdrucksform. Zusammen mit der typischen Architektur, die von älteren Traditionen des Islam im Iran übernommen worden waren, gaben diese Kacheln den großen Moscheen ihr charakteristisches Aussehen. Nach dem Tod von Schah Abbas setzt der Verfall ein. Die Religionsgelehrten (der bekannte iranische Terminus für sie ist Mulla vom arabischen »mawla«, der Herr) wurden zunehmend unabhängig und lehnten sich gegen die religiösen Behauptungen des Schahs auf. Sie glaubten, nicht der Schah, sondern sie seien die Wächter des Glaubens und die Repräsentanten des Verborgenen Imams. Als die Zentralmacht verfiel, gewannen die regionalen (Stammes-)Zentren an Macht, und das Reich zerfiel lange vor dem Tod seines letzten Herrschers im Jahre 1702. Nach anderen unbedeutenden Dynastien etablierten sich 1779 die Kadscharen als Nachfolgedynastie. 1925 folgten ihnen die Pahlewis, 1979 die islamische Republik des Iran.
Das Mogul-Reich: Der Islam in Südasien Warum zählen wir das Mogul-Reich zu den drei Beispielen für die späteren islamischen Staaten? Denken Sie an die Bevölkerungszahlen: In Südasien (Indien, Pakistan und Bangladesch) leben viel mehr Muslime als in der arabischen Welt. Der Islam breitete sich von Indien nach Südostasien und Indonesien aus, dem Land mit der heute größten muslimischen Bevölkerung. Außerdem hat der Islam in Indien ein anderes Gesicht als in den Ländern des Mittleren Ostens. Der Islam drang bereits 711–713 in die westlichen Teile Südasiens ein. Später erfolgten größere Invasionen, insbesondere aus Afghanistan. 1201 wurden die ersten unabhängigen muslimischen Staaten in Indien in der Gegend von Delhi gegründet. Im Laufe der nächsten 300 Jahre gelangte der größte Teil Südasiens unter die Kontrolle muslimischer Staaten. Der größte und langlebigste Staat war das Mogul-Reich, das 1526 von Barbur gegründet wurde. Es erreichte seinen Höhepunkt unter Akbar I. (1556–1605). Barbur behauptete, ein Nachkomme sowohl Dschingis Khans als auch des großen Eroberers Timur zu sein. Die Mogul-Herrscher richteten ein umfangreiches Verwaltungssystem mit Amtsinhabern ein, die voll unter der Kontrolle des Zentralstaates standen. Die Regierungskontrolle reichte bis auf die Dorfebene hinunter, dennoch besetzten Hindus noch viele Ämter. Die Regierung kontrollierte das religiöse Leben ähnlich intensiv. Sie setzte den Hauptrichter (qadi), lokale Richter, Marktaufseher, Vorbeter und Stiftungsverwalter für Wohlfahrtseinrichtungen ein. Die Muslime, die sich im Nordwesten Indiens, dem Industal und Bengalen konzentrierten, machten nie mehr als 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung aus. Dadurch unterschied sich die religiöse und kulturelle Entwicklung des Mogul-Reiches von der anderer großer islamischer Reiche, in denen der größte Teil der Bevölkerung zum Islam übertrat. Der vorherrschende Mix aus der iranischen und den indisch-hinduistischen Kulturen wurde durch arabische, mongolische und türkische Elemente ergänzt. Der Reichtum, der durch die Eroberung sowie eine effiziente Verwaltung erworben worden war, ermöglichte das Aufblühen der Mogul-Kultur. Mogul-Indien leistete wichtige Beiträge zur Musik, Literatur, Malerei und Architektur. Auf der Basis der persischen Tradition der Manuskriptmalerei wurden Stil und Repertoire der Themen unter der königlichen Schirmherrschaft erheblich erweitert. Einige Tiermalereien waren erstaunlich lebensecht. Die größte Errungenschaft war die Illustration der hinduistischen und islamischen Epen. Das Hamzanama ist eine legendäre Erzählung der Abenteuer von Mohammeds Onkel Hamza auf seiner Reise durch die Welt, um den Islam zu verbreiten. Das Hamzanama bestand ursprünglich
aus 1.400 Malereien, die jeweils circa 60 Zentimeter hoch waren. Davon blieben 200 erhalten. Gleichermaßen beeindruckend waren die architektonischen Errungenschaften in Form von Palästen, Moscheen und den großen Gräbern der Mogul-Herrscher und ihrer Frauen (siehe Kapitel 18). In der Religion verfolgte Akbar I. eine Politik der Offenheit gegenüber allen Religionen. Die besondere Steuer für Nichtmuslime wurde abgeschafft, und es wurde ein Sonnenkalender verwendet. Die Regierung finanzierte nicht nur Moscheen, sondern auch Hindutempel. Vom Verzehr von Rindfleisch wurde aus Rücksicht auf die Empfindungen der Hindus abgeraten. Dieser Synkretismus (Mischung von Elementen verschiedener Religionen) wurde nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf lokaler Ebene praktiziert: In speziellen Formen des Sufismus existierten Götterbilder des Hinduismus und von muslimischen Heiligen friedlich nebeneinander. Die Sufi-Orden jener Zeit spielten eine wesentliche Rolle bei der Gewinnung der Menschen für den Islam. Orden wie die Chistiden und die Shurawarden betonten die Baraka, den von Sufi-Heiligen ausgehenden Segen. Die Schriften des andalusischen Mystikers und Philosophen Ibn Arabi (1165–1240) übten einen größeren Einfluss auf den Mogul-Sufismus als im muslimischen Westen aus. Urdu, ein Dialekt, der auf dem nordindischen Hindi basiert und zusätzlich persische Wörter in sein Vokabular aufgenommen hat, wurde zur vorherrschenden Sprache für religiöse und andere Literatur im muslimischen Südasien. Später gewannen Sufi-Reformorden wie die Qadiriyya und Naqschbandiyya (siehe Kapitel 13) an Bedeutung. Sie hielten an der Scharia (Gesetz) fest und lehnten sowohl die hinduistischen Einflüsse als auch die Verehrung von Sufi-Heiligen ab. Diese Bewegung zu einer strikteren und traditionalistischeren Form des Islam wurde unter dem Herrscher Aurangzeb (1618–1703) durch die Wiedereinführung des Mondkalenders, der eigenen Steuer für Nichtmuslime und die Zerstörung vieler Hindutempel unterstützt. Die Briten, die 1600 erstmals nach Indien kamen und in der Folgezeit die Herrschaft über Indien übernahmen, setzten den letzten Mogul-Herrscher erst 1858 ab, obwohl der allmähliche Verfall der Mogul-Macht bereits um 1700 begonnen hatte.
Kapitel 3
Hingabe an Gott IN DIESEM KAPITEL Bekenntnis zu Gott Gott als »Allah« bezeichnen Die Attribute und Namen Gottes Gott kennen
Einige grundlegende Glaubenssätze über Gott werden von allen Muslimen geteilt. Diese Glaubenssätze oder Zusicherungen basieren auf den Aussagen des Koran und der Überlieferungen (der Hadithe). Deshalb stammen die Zitate über Gott in diesem Kapitel aus islamischen Schriften. Doch selbst bei grundlegenden Aussagen, die von den meisten Muslimen akzeptiert werden, sind inhaltliche Details und praktische Konsequenzen theologisch umstritten. (In Kapitel 4 werden einige fortgeschrittenere theologische Debatten näher beschrieben.) Judentum, Christentum und Islam haben ein recht ähnliches Gottesverständnis. Die meisten islamischen Aussagen über Gott decken sich mit denen traditioneller Christen und Juden. Dagegen verehren etwa Anhänger des Hinduismus zwar verschiedene Götter, sprechen ihnen aber die ultimative Wirklichkeit ab. Für Muslime, Juden und Christen ist Gott die einzige letzte Wirklichkeit. Gott hängt von nichts ab, aber alles andere hängt von Gott ab. Sure 28:88 sagt: »Alle Dinge vergehen, außer Seinem [Gotts] Angesicht.« Weil Gott die einzige notwendige (statt nur zufällige) Wirklichkeit ist, ist nur Gott ewig. Alles andere existiert in dem Maße und nur so lange, wie Gott seine Existenz will. Deshalb hängt die Existenz alles anderen von Gott ab. In Erkenntnis und Akzeptanz dieser Abhängigkeit von Gott sollte sich jede Person Gott unterwerfen. Laut muslimischer Überlieferung unterwarf sich ursprünglich die gesamte Menschheit Gott. Doch Menschen vergessen. Deshalb sendet Gott Propheten, um die Menschen daran zu erinnern, zu Gott zurückzukehren und sich Ihm hinzugeben. Das Wort Muslim bedeutet »einer, der sich [Gott] hingibt«.
Die Doktrin von der Einheit Gottes: Tawhid
Tawhid (Einheit) ist der islamische Begriff, der das muslimische Gottesverständnis am besten zusammenfasst. Sure 112, eine der frühesten und kürzesten Suren, hat den Titel »Aufrichtigkeit«. Weil die Einheit so wichtig ist, wird gesagt, diese Sure mache ein Drittel des Glaubens aus. Nur die Fatiha, Sure 1, ist ähnlich wichtig. Die meisten Muslime kennen diese Sure (ähnlich wie viele Christen den Psalm 23) auswendig: Sprich: »Er ist Gott, der Eine Gott, der Beständige, er zeugte nicht und wurde nicht gezeugt, und keiner ist Ihm ebenbürtig.« Diese Passage richtete sich direkt an die Bewohner von Mekka, die glaubten, Allah sei einer unter vielen Göttern und er habe drei Töchter. Zu glauben, Gott habe Frau oder Kinder, heißt die Sünde der schirk (Beigesellung) zu begehen, die schlimmstmögliche Sünde im Islam. Diese Sünde begeht auch, wer glaubt, es gebe andere Götter, die zudem die Macht mit Gott teilten. Sure 4:116 sagt: »Siehe, Gott vergibt es nicht, dass Ihm etwas beigesellt wird. Doch was geringer ist als dies, vergibt er, wem er will.« Doch für Muslime bedeuten die Einheit Gottes und der Sünde der Beigesellung (schirk) mehr als einfache Ablehnung eines wörtlich genommenen Polytheismus. In seinem hochgelobten Buch über den Koran weist Michael Sells auf vier Bedeutungen von Gottes Einheit hin. Zur Klärung habe ich diesen Punkten einen fünften hinzugefügt: Ablehnung des Polytheismus (Glaube an mehrere Götter) und die Ablehnung der Beigesellung anderer Wesen zu Gott. Heidentum und Hinduismus machen sich aus der Sicht der Muslime der Beigesellung schuldig, weil sie mehrere Götter akzeptieren. Ablehnung einer absoluten Loyalität zu allem anderen außer Gott, einschließlich Geld, Macht oder Besitz. Natürlich hängen die meisten Menschen im Westen nicht der Vielgötterei im buchstäblichen Sinne an, aber viele stellen Geld, Besitz, Land, Partner, Familie oder Ehre über Gott und vergöttern damit diese Dinge. Interne Einheit Gottes: Nicht nur neben, sondern auch innerhalb von Gott gibt es keine Vielheit. Sure 112 richtete sich ursprünglich nicht gegen die christliche Vorstellung der Trinität – ein Gott in drei Wesenheiten. Doch die Muslime weiteten Sure 112 problemlos auf eine Ablehnung der christliche Vorstellung der Trinität aus, das eine innere Vielheit im Wesen Gottes annimmt – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Ablehnung einer dauerhaften Wirklichkeit des Selbst: Für die Sufis (sogenannte islamische Mystiker) bedeutet Sure 112, nur Gott sei wirklich. Deshalb bestehe das
Ziel der spirituellen Entwicklung darin, das Gefühl für sein Selbst zu verlieren. Die menschliche Ich-Zentriertheit behaupte die Existenz von etwas anderem als Gott. Behauptung der Einzigartigkeit Gottes: Nichts und niemand ist Gott ähnlich. Etwas kann zwar in gewisser Hinsicht Gott vergleichbar sein (so ist menschliche Gnade Gottes Gnade verwandt), aber dieser Vergleich bedeute nicht, so sagte der große muslimische Theologe Abu Hamid al-Ghazali (1058–1111), dass menschliche Gnade dasselbe wie Gottes Gnade sei, auch wenn sie göttliche Gnade reflektiere.
Die Satanischen Verse 1988 veröffentlichte der preisgekrönte, in Indien geborene, britische Autor Salman Rushdie einen Roman, Die Satanischen Verse, der eine weltweite Kontroverse auslöste. Viele Muslime betrachteten Rushdies Roman als Blasphemie. Ayatollah Khomeini, der damalige Herrscher des Iran, sprach über Rushdie das Todesurteil aus. Muslime auf der ganzen Welt forderten die Unterdrückung des Werkes und demonstrierten dagegen. Der Titel von Rushdies Roman bezieht sich auf eine Geschichte, die sowohl in einer der ältesten Biografien Mohammeds als auch im Korankommentar al-Tabaris steht, dem bedeutenden frühen muslimischen Historiker. Auch wenn viele muslimische Gelehrte diese Geschichte für eine Fälschung halten, erfolgte sie jedenfalls bereits früh. Westliche Islamgelehrte wie W. M. Watt behaupten, dass eine Geschichte, die dem herrschenden Glauben so stark widerspricht, wahrscheinlich eher wahr als erfunden ist. Mohammed stieß auch deswegen auf Widerstand, weil er den Polytheismus und damit die religiösen Glaubenssätze der Vorfahren seiner Zeitgenossen angriff. Eine von al-Tabaris Überlieferungen sagt, dass Mohammed um eine Offenbarung bat, die diese Situation für seine Mitbürger aus Mekka akzeptabler machen würde. An diesem Punkt rezitierte er angeblich aus der Sure 53:19–20: »Was meint ihr nun von AlLat und Al-Uzza und Manat der dritten daneben?« (Al-Lat bedeutet »die Göttin«. Al-Uzza bedeutet »die Mächtige«. Sie wurde mit Venus (dem Morgenstern) gleichgesetzt und war unter den Kuraischiten von Mekka sehr beliebt. Manat bedeutet Schicksal oder Bestimmung, ein Schlüsselbegriff der vorislamischen arabischen Religion.) Diese Göttinnen wurden als die Töchter Allahs bezeichnet, also als »weibliche göttliche Wesenheiten«. In der vorislamischen Zeit wurden sie in Schreinen in der Gegend von Mekka verehrt. Nach al-Tabaris – wohlgemerkt umstrittener – Version soll Mohammed hinzugefügt haben: »Diese sind hochverehrte weibliche Wesen (oder wörtlich: große Vögel), deren Fürsprache wünschenswert ist«, was den drei »Göttinnen« eine untergeordnete Rolle einzuräumen schien. Warum eigentlich nicht? Schließlich akzeptierte der Islam die Existenz verschiedener Wesen zwischen den Menschen und Gott, etwa Engel und Dschinn (siehe Kapitel 5). Warum sollte man also nicht auch solche »Töchter« den Bewohnern Mekkas gegenüber akzeptieren? Doch dies hätte eine Rückkehr zum Polytheismus bedeutet. Deshalb informierte Gabriel Mohammed danach, er sei von Satan in die Irre geführt worden. Mohammed rezitierte stattdessen den neuen Vers 53:23, der sagt, die drei »Göttinnen« seien bloße Namen und existierten in Wirklichkeit nicht. Die verworfenen Verse werden als die Satanischen Verse bezeichnet. Diese Geschichte, ob sie nun tatsächlich auf Mohammed zurückgeht oder nicht, spiegelt die Auseinandersetzungen um die Probleme der »Einheit« und der »Beigesellung« wider.
Die Schahada: Die erste Säule des Islam Das Glaubensbekenntnis (schahada, wörtlich Zeugnis) des Islam ist die erste und wichtigste der fünf Säulen des Islam (siehe Kapitel 9). Die erste Hälfte dieses Bekenntnisses, das erste Zeugnis, ist der zentrale
islamische Ausdruck von Gottes Einheit (tawhid). Es sagt: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist der Gesandte Gottes.« Die komplette schahada kommt an keiner Stelle des Koran vor. Doch ihre beiden Teile (vor und nach dem Komma) werden mehrere Male separat genannt. So sagt Sure 3:18: »Bezeugt hat Allah – und auch die Engel und die Wissenden – , dass es keinen Gott gibt außer Ihm, dem Wahrer der Gerechtigkeit. Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Erhabenen, dem Weisen.«
Al-Hallaj, der berühmte Sufi-Mystiker, der im 10. Jahrhundert als Häretiker (Pantheist) hingerichtet wurde, sagte, Satan sei der konsequenteste Monotheist gewesen. Laut Koran befahl Gott bei der Erschaffung Adams allen Engeln, sich vor Adam zu verneigen. Nur Satan weigert sich. Damit habe Satan, so Al-Hallaj, Gottes Gebot befolgt, niemanden außer Gott Selbst zu verehren. Satan beachtete dieses Gebot sogar, als dies seine Verdammung bedeutete.
Klärung der Terminologie: Allah gleich Gott Das Wort Allah kommt über 2.500-mal im Koran vor. Allah ist wahrscheinlich eine Zusammenziehung der beiden Worte: der (al) und Gott (ilah). Muslime betrachten Allah als den ursprünglichen Gott der Kaaba, des heiligen Schreins in Mekka (siehe Kapitel 9), aber in vorislamischer Zeit verehrten die Einwohner von Mekka diverse Gottheiten, darunter Hubal, den Mondgott, und al-Uzza. Dennoch war Allah schon lange vor Mohammed die wichtigste arabische Gottheit; so hieß Mohammeds Vater Abd Allah, »Diener Allahs«. Heute ist Allah im Islam und im Koran einfach der Name Gottes. Allah ist im Arabischen ein Synonym für Gott. Als frühe Christen die Bibel aus dem Griechischen und Hebräischen ins Arabische übersetzten, verwendeten sie Allah anstelle von Gott, so wie es arabische Christen noch immer tun. Muslime behaupten, Allah sei derselbe Gott wie der Gott der Hebräer und Christen, und bestätigen damit, dass der Islam mit dem Judentum und Christentum verbunden ist. Muslime glauben, dass alle drei Religionen denselben Gott anbeten und auf denselben Schriften basieren. Sie glauben aber auch, dass jede spätere Religion ihre Vorgängerin perfektioniert und vervollständigt. Christen und Juden betrachten den Islam natürlich als eine gesonderte Religion, die nach dem Judentum und dem Christentum entstanden ist. Ebenso natürlich betrachten sie Mohammed als Gründer des Islam, so wie sie Moses und Jesus als Gründer des Judentums und des Christentums sehen. Muslime wissen natürlich auch, dass die gegenwärtige Form des Islam auf die prophetische Mission Mohammeds im 7. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht. Gleichzeitig glauben sie jedoch, dass der Islam die ursprüngliche Religion der Menschheit ist, zu deren Wiederherstellung Mohammed gesandt wurde. Im Koran ist Adam die erste Person, die Allah/Gott angebetet hat.
Abraham ist aber der eigentliche Gründer der muslimischen Religion, der erste Muslim überhaupt. In Sure 6:74–79 erzählt der Koran die Geschichte von Abraham.
Gottes Überlegenheit bezeugen Woher weiß man, dass es nur einen Gott gibt? Woher wusste es Mohammed? Woher wussten es die Einwohner von Mekka? Der Koran bezeichnet einen Gottesbeweis als Zeichen (aya). Der Koran ist ein Zeichen Gottes. Die einzelnen Verse des Koran werden Zeichen genannt, im allgemeinen Sprachgebrauch aber als Verse bezeichnet. Die Erschaffung der Welt ist ein Zeichen Gottes. Sure 13:2 sagt: »Allah ist es, der die Himmel ohne sichtbare Säulen aufgerichtet hat. Dann setzte Er Sich majestätisch auf den Thron. Und Er machte sich Sonne und Mond dienstbar . … Er lenkt alle Dinge. Er macht die Zeichen klar, damit ihr fest an die Begegnung mit euerem Herren glaubt.« Die Natur liefert Zeichen, die Gott bezeugen. Sure 36:33–34 sagt: »Und ein Zeichen ist ihnen die tote Erde. Wir beleben sie und bringen daraus Korn hervor, von dem sie essen; und Wir machen auf ihr Gärten mit Palmen und Weinreben und lassen Quellen daraus entspringen.« Regen, der auf totes Land fiel und es ergrünen ließ, musste Mohammeds Zeitgenossen in ihrer Wüstenumgebung als eine Wohltat Gottes erscheinen. Gottes Sorge um die Menschheit ist ein Zeichen Gottes. Der wichtigste Ausdruck dieser göttlichen Sorge ist die Tatsache, dass Gott Propheten sandte, um die Menschen zu warnen, damit sie der ewigen Verdammung entgehen konnten. So sagt Sure 30:47: »Und wahrlich, schon vor dir [Mohammed] schickten Wir Gesandte zu ihrem Volk. Sie kamen zu ihnen mit deutlichen Beweisen. Und Wir bestraften die Sünder; doch war es Unsere Pflicht, den Gläubigen zu helfen.« Gott sorgt auch tagtäglich für die Menschen: die Nacht für die Ruhe, die Meere für den Transport, die Nahrung für die Ernährung, Wasser zum Trinken und Linderung des Leidens (siehe Sure 27:60–63). Vernunft und Logik beweisen Gottes Existenz und einige grundlegende Eigenschaften Gottes – wollen jedenfalls einige Theologen und Philosophen glauben machen. Die »logischen« Beweise für die Existenz Gottes, die von mittelalterlichen muslimischen Theologen angeboten werden, ähneln den Beweisen, die auch von zeitgenössischen jüdischen Philosophen wie Maimonides und christlichen Theologen wie Thomas von Aquin vorgebracht wurden. Al-Ghazali, der berühmteste mittelalterliche muslimische Theologe, präsentierte den berühmten »Designbeweis«: Danach sei die Ordnung im Universum so komplex und in sich verwoben, dass sie nur von einem Schöpfer stammen könne, der selbst etwas anderes als das Universum sein müsse.
Die Attribute Gottes Der Thronvers (Sure 2:255) zählt zu den berühmtesten Versen des Koran. Er gehört zu einer größeren Gruppe von Koranpassagen, den Passagen der Zuflucht. Der Thronvers wird häufig (als Schutz gegen das Böse) auf Amulette und Grabsteine graviert. Er lautet: Allah! Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem Beständigen! Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf. Sein ist, was in den Himmeln und was auf Erden ist. Wer ist es, der da Fürsprache bei Ihm einlegte ohne Seine Erlaubnis? Er weiß, was zwischen ihren Händen ist und was hinter ihnen liegt. Doch sie begreifen nichts von Seinem Wissen, außer was Er will. Weit reicht Sein Thron über die Himmel und die Erde, und es fällt Ihm nicht schwer, beide zu bewahren. Und Er ist der Hohe, der Erhabene. Selbst wenn man aus Offenbarung (dem Koran) oder Vernunft weiß, dass Gott existiert, wollen die Menschen mehr über Gott wissen. Der Thronvers zeigt, dass der Islam mit dem Judentum und Christentum den Glauben teilt, man könne gewisse Aussagen über Gott machen. Muslimische Theologen bezeichnen diese Bestimmungen von Gottes Wesen als die »Attribute Gottes«. Durch Studium der Koranpassagen, die von Gott handeln und insbesondere Seine Titel und Namen nennen, stellten muslimische Theologen wie alGhazali Listen der wesentlichen Attribute Gottes zusammen. Zu diesen Attributen zählen: Wissen: Gott weiß alles. Macht: Gott kann alles. Wille: Alles passiert nach Gottes Willen. Leben: Gott lebt ewig. Rede: Der Koran ist die ewige Rede Gottes. Hören: Gott hört alles. Sehen: Gott sieht alles. Andere Attribute werden aus diesen sieben abgeleitet. So schließt Gottes Macht Sein Schöpfertum ein. Aus Gottes Wissen und Willen wird die Prädestination (Vorherbestimmung) abgeleitet. Aus Gottes Hören und Sehen wird das Attribut der Gerechtigkeit Gottes als Richter abgeleitet.
Gott lieben und kennen (Sufismus) Laut Abu Hamid al-Ghazali kann nur Gott jemals Gott kennen. Zu wissen, dass man das Wesen Gottes nicht erkennt, ist das Höchste, was man über Gott überhaupt wissen kann.
Muslime wissen, dass sie letztlich – von den letzten Dingen – nichts wissen. Doch der Islam versucht diese Vorstellung, Gott nie kennen zu können, mit Aussagen über die Nähe Gottes auszugleichen, um wenigstens die Möglichkeit eines begrenzten Wissens über Gott zu schaffen. Zwei Verse aus dem Koran drücken diese Immanenz Gottes vielleicht am besten aus: »Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und Wir sind ihm näher als (seine) Halsschlagader« (Sure 50:16). »Siehst du denn nicht, dass Allah alles weiß, was in den Himmeln und was auf Erden ist? Keine drei führen ein geheimes Gespräch, ohne dass Er ihr vierter, und keine fünf, ohne dass Er ihr sechster wäre; ob weniger oder mehr, Er ist bei ihnen, wo immer sie sind« (Sure 58:7). Obwohl Muslime versuchen können, Gott auf verschiedene Arten zu begegnen, ist die wichtigste laut der Sufis doch die Liebe zu Gott. Ahmad al-Ghazali (gestorben 1126), der weniger bekannte Bruder des berühmten Theologen, schrieb, die menschliche Seele werde durch die Liebe zusammengehalten und Gott sei letztlich das Objekt aller Liebe. Viele Dichter, darunter auch Dschalal al-Din Rumi (1207–1273) und Farid al-Din Attar (1119– 1220), entwickelten das Thema der Liebe Gottes zu den Menschen und der Liebe der Menschen zu Gott. Soweit Gelehrte wissen, wurde die Liebe zu Gott im Islam erstmals von der Mystikerin Rabia al-Adawiyya (713–801) ausgedrückt. Auch wenn es ältere Informationsquellen über Rabia gibt, ist eine der bedeutendsten Farid al-Din Attars Bericht in seinen »Erinnerungen an die Heiligen«. Attars Bericht enthält den vielleicht meistzitierten Ausspruch über die Bedeutung der menschlichen Liebe zu Gott: Oh Gott, wenn ich Dich aus Angst vor der Hölle anbete, verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich Dich in Hoffnung auf das Paradies anbete, schließ mich aus dem Paradies aus; aber wenn ich Dich um Deinetwillen anbete, verweigere mir nicht Deine ewige Schönheit. Bei einer anderen Gelegenheit rannte Rabia einen Weg entlang. Sie hatte Wasser in einer Hand und Feuer in der anderen. Jemand fragte sie, warum? Sie antwortete, das Wasser solle das Feuer der Hölle löschen und das Feuer solle das Paradies verbrennen. Aus welchem Grund? Niemand solle Gott aus Angst vor Bestrafung in der Hölle oder aus Hoffnung auf Belohnung im Himmel, sondern nur um Seinetwillen lieben.
Die 99 Namen Gottes aufrufen Eine Überlieferung (Hadith) sagt: »Allahs Apostel sagte, Allah hat 99 Namen, und wer sie kennt, kommt ins Paradies.« Die meisten Namen stehen im Koran oder sind von den Beschreibungen Gottes im Koran abgeleitet. Listen der 99 Namen beginnen oft mit den 13 Namen aus der Sure 59:22–24, die folgendermaßen beginnt: Er ist Allah, außer Dem es keinen Gott gibt. Er kennt das Verborgene und das Offenbare. Er ist der Erbarmer, der Barmherzige. Tatsächlich soll Gott 100 Namen haben, aber der 100. Name sei verborgen: Allah ist der 100. Name. Wenn man die verschiedenen Listen kombiniert, ergeben sich übrigens mehr als 99 Namen. Einige Überlieferungen sprechen von 1.000 Namen, um auszudrücken, dass die Namen Gottes genau so unendlich wie seine Eigenschaften sind. Al-Tirmidhi (824–892) ist der Autor einer der sechs sogenannten authentischen Sammlungen von Aussprüchen des Propheten Mohammed. Eine seiner Hadithe (Nr. 117) enthält eine gebräuchliche Liste der 99 Namen, darunter der König, der Heilige, die Quelle des Friedens, der Bewahrer der Sicherheit, der Beschützer, der Mächtige, der Überwinder, der majestätisch Große, der Schöpfer, der Macher, der Formbringer, der Vergebende, der Dominante, der Segnende, der Versorger, der Entscheider, der Wissende, der Zurückhaltende, der Freigiebige, der Demütigende und der Preisende. Ibn Arabi (1165–1240), der von einigen als der größte Sufi-Theologe und von anderen als Häretiker (Ketzer) betrachtet wird, lehrte, die göttlichen Namen seien im Wesen Gottes enthaltene kreative Möglichkeiten. Gott manifestiert diese Möglichkeiten in Seiner Schöpfung des Kosmos und der Menschheit. Liebe ist die Kraft, die Gott veranlasst, das Universum zu schaffen. Ein Lieblings-Hadith von Ibn Arabi und anderen Sufis sagt: »Ich war ein verborgener Schatz und wünschte bekannt zu sein. Deshalb schuf Ich die Kreaturen, die Mich erkennen konnten.« Vielleicht weil Licht zu den ungreifbarsten Phänomenen zählt, setzten der Islam in Allgemeinen und die Sufis im Besonderen Gott mit Licht gleich. »Das Licht«, einer der 99 Namen, wird in Sure 24:35 verwendet, einem anderen koranischen Schlüsselvers. Dort heißt es: Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis Seines Lichts ist eine Nische, in der sich eine Lampe befindet. Die Lampe ist in einem Glase. Und das Glas
gleicht einem flimmernden Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Olivenbaum, weder vom Osten noch vom Westen, dessen Öl fast schon leuchtet, auch wenn es kein Feuer berührt. Licht über Licht! Allah leitet zu Seinem Licht, wen Er will. Und Allah prägt Gleichnisse für die Menschen. Und Allah kennt alle Dinge.
Die Einteilung der Namen in Kategorien Die Namen Gottes werden auf verschiedene Weise unterteilt oder zusammengefasst. Eine gebräuchliche Gruppierung der Namen unterteilt sie nach Gnade oder Schönheit (dschamal) und nach Kraft oder Majestät (dschalal). Im Westen stellt man sich Allah oft als rachesüchtigen Gott vor, weil Gottes Gerechtigkeit verlangt, die Bösen zu bestrafen. Natürlich enthält auch die Bibel ähnliche grimmige oder schlimmere Passage über Gottes Rachsucht. Doch wie die Bibel betont auch der Koran Gottes Gnade stärker als Seinen Zorn. Die 99 Namen Gottes umfassen bei Weitem mehr Namen der Gnade als Namen der Majestät oder des Zorns. Ein berühmter Hadith qudsi (ein Hadith, in dem Gott spricht) sagt: »Als Gott zur Schöpfung schritt, legt Er Sich fest, indem Er in Seinem im Himmel hinterlegten Buch schrieb: ›Meine Gnade ist größer als Mein Zorn.‹«
Die Namen erinnern Sure 17:110 ist ein weiterer Vers, in dem die Anrufung der Namen Gottes empfohlen wird: Sprich: »Ruft Allah an oder ruft den Erbarmer an, wie ihr Ihn auch nennen mögt: Sein sind die schönsten Namen. Und bete nicht zu laut und auch nicht zu leise, sondern halte den Weg dazwischen ein.« Meditation und Rezitation der Namen Gottes sind eine zentrale Praxis des muslimischen Gottesdienstes. Der Koran betont das »Gottgedenken« (dhikr Allah). Die Praxis des dhikr ist im Sufismus am stärksten entwickelt (siehe Kapitel 13). Zur Gottgedenken gehört die nach innen gewandte Meditation über Gott. Doch zuerst und vor allem anderen bezieht sich das Gebot des Koran auf die laute Rezitation der Namen Gottes. Laut Überlieferung sagte Mohammed: »Lasst eure Zunge feucht bleiben von der Erinnerung an Gott«, um den gesprochenen Aspekt dieser Erinnerung zu betonen. Muslime verwenden oft eine Perlenkette (Rosenkranz oder tasbih), wenn sie die Namen Gottes rezitieren. Der Rosenkranz besteht aus drei Gruppen von Perlen, die wie ein Halsband zusammengeknüpft sind. Drei größere Perlen trennen die Gruppen. Die Perlen dienen normalerweise dazu, »Allahu akbar« (Gott allein ist groß), »Al-hamdu li'llah« (Gott sei gepriesen), »Subhanallah« (Lob sei Gott) jeweils 33 Mal zu sprechen. Der Rosenkranz wird im Koran nicht erwähnt; einige konservative Muslime wie die
Wahhabiten in Saudi-Arabien lehnen ihn als »Innovation« (bida) ab. Rosenkränze gibt es auch im Buddhismus. Im Katholizismus unterstützen sie diverse Formen des Gebets.
Kapitel 4
Was Muslime glauben IN DIESEM KAPITEL Die grundlegenden islamischen Glaubenssätze Die zentralen Themen der islamischen Theologie Das Verhältnis von Theologie und Philosophie
Auf westliche Leser könnten die theologischen Streitfragen, die in diesem Kapitel angesprochen werden, archaisch und irrelevant wirken. Einige Stellen erinnern vielleicht an den Streit mittelalterlicher Scholastiker, wie viele Engel auf der Spitze einer Nadel Platz fänden. Doch für heutige Muslime sind diese Fragen immer noch relevant. Einige Radikale verdammen jeden, der von ihrer Auffassung des Islam abweicht und sich nicht zu ihrer bekennt, als Ungläubigen (kafir). Diese Auffassungen und Exkommunikation (takfir) ist allerdings eher ein Phänomen der Moderne. Die griechische Philosophie hingegen war bereits im frühen Islam ein heiß diskutiertes Thema. Heute werden ähnliche Argumente über westliche Vorstellungen und westliche Erziehungsansätze ausgetauscht: »Ist Demokratie mit dem Islam vereinbar?« oder »Gibt es universelle Menschenrechte, die unabhängig von der Offenbarung festgelegt werden können?«.
Die fünf wesentlichen Glaubensgrundsätze des Islam Ein bekannter Hadith (Überlieferung) schildert eine Situation, in welcher der Engel Gabriel weiß gekleidet als Mann neben Mohammed und seinen Gefährten saß. Er fragte Mohammed: »Was ist der Islam?« Mohammed nannte die fünf grundlegenden rituellen Pflichten des Islam als Antwort. Dann fragt der Mann: »Was ist Glauben (iman)?« Mohammed nannte eine Liste der fünf grundlegenden Glaubenssätze als Antwort. Der Mann lobte Mohammeds Antwort und stellt dann eine dritte Frage: »Was ist Tugend (ihsan)?« Mohammed antwortete: »Verehre Gott so, als würdest du Ihn sehen; denn auch wenn du Ihn nicht siehst, so sieht Er dich doch allemal.« Der Mann in Weiß ging weg. Die drei Fragen Gabriels entsprechen der traditionellen islamischen Dreiteilung der
Religion in Gottesdienst (ibada, wörtlich Dienst), Glauben an Gott (iman oder Glauben) und Ethik (ihsan, wörtlich Tugend) einschließlich rechter Lebensführung. Als Antwort auf die erste Frage nannte Mohammed die fünf Säulen des Gottesdienstes (siehe Kapitel 9), auch als die fünf Säulen der Religion und die fünf Säulen des Islam bezeichnet. Diese fünf Säulen sind: das Glaubensbekenntnis, dass es außer Allah keinen Gott gibt und Mohammed Sein Gesandter ist; die fünf täglichen Gebete; das Fasten zwischen Sonnenaufgang und -untergang im Monat Ramadan; die Sozialabgabe; und eine Pilgerreise nach Mekka wenigstens einmal im Leben. Dass diese Frage zuerst gestellt wurde, zeigt, dass diese rituellen Pflichten im Leben eines Muslim Priorität haben. Gewöhnliche Muslime akzeptieren die grundlegenden Glaubenssätze ihrer Religion, ohne viel darüber nachzudenken. Ihre bewusste Anstrengung konzentriert sich auf die aktive Hingabe an Gott (Anbetung und Dienst) und weniger auf die Erfassung der Aussagen über Gott (Glaubenssätze).
Das Glaubensbekenntnis »Es gibt keinen Gott außer Allah« – die erste Hälfte des grundlegenden Glaubensbekenntnisses (schahada) bringt den Kern des Islam eindeutig zum Ausdruck. Der theologische Begriff für diesen Gedanken ist Einheit. Tawhid (Einheit) bedeutet numerische Einheit: Gott ist einer, weil außer Gott keine anderen Götter existieren. Gott ist auch insofern einer, als Er Sich nicht in verschiedenen Wesen manifestiert. Der Islam verwirft alle Ideen, die der christlichen Vorstellung eines Gottes in drei Personen (Vater, Sohn und Heiliger Geist) ähneln oder der hinduistischen Vorstellung der Manifestation des Gottes Vishnu in zehn verschiedenen Inkarnationen entsprechen. Christen, die Jesus als sehr wichtigen Propheten Gottes akzeptieren, aber seine Einheit mit Gott ablehnen, werden als Unitarier bezeichnet. Das arabische Wort für Unitarier (muwahiddun) ist ein anderer islamischer Begriff für Muslime. Gott ist einer, weil Er keine Verwandten hat – keine Frau, keine Eltern und keine Kinder, wie dies in polytheistischen Religionen oft der Fall ist. Die größte Sünde im Islam ist die »Beigesellung« (schirk), ein Begriff, der im Koran häufig im Zusammenhang mit den Bewohnern Mekkas genannt wird, die weiterhin andere Götter anbeteten. Die Schuld der »Beigesellung« zieht in der nächsten Welt die ewige Verdammnis in der Hölle nach sich (obwohl Gott – so Er will – natürlich auch den schlimmsten Sündern vergeben kann). Jemanden des schirk zu beschuldigen, ist für einen Muslim die schlimmstmögliche Anklage und für Ungläubige ein Schimpfwort. Wer sich des schirk schuldig macht, ist ein Ungläubiger, ein kafir. Einige radikale islamische Websites und einige sogenannte Rechtsgutachten (fatawa) islamistischer Terroristen bezeichnen heute alle Nichtmuslime als kuffar, obwohl der Koran Juden und Christen eine besondere Position einräumt und sie nicht des schirk beschuldigt. Ähnlich wie ihre Gesinnungsgenossen seit der frühesten muslimischen Geschichte bezeichnen radikale Muslime heute andere Muslime, die nicht ihre spezielle
Glaubensauffassung teilen oder sich nicht ihrer Sache anschließen, als kafir. Heute ist das Wort kafir praktisch ein Synonym für Atheist. Ein kafir als Atheist ist jemand, der durch seine Handlungen aktiv den Willen Gottes bekämpft, statt nur die Vorstellung von Gott als philosophische Position abzulehnen. Ist es nicht ein Widerspruch, sowohl Atheisten (jemand, der nicht an Gott glaubt) als auch Polytheisten (jemand, der an viele Götter glaubt) unter einem Begriff zu fassen? Nicht für einen Muslim. Für einen Muslim verleugnet jemand, der an andere Götter glaubt, den einen wahren Gott genauso wie jemand, der an gar keine Götter glaubt. Gott ist einer, weil Er einzigartig ist. Gott ist die »Nummer eins«, und neben Ihm existiert keine »Nummer zwei«. Nichts kann mit Gott verglichen werden, weil nichts wie Gott ist. Nichts kann von Gott weggenommen, nichts kann Ihm hinzugefügt werden, um Ihn perfekter, weiser, mächtiger, wissender oder glücklicher zu machen. Er ist die perfekte und einzige Wesenheit, die seit ewigen Zeiten selbstgenügsam existiert und für ewige Zeiten existieren wird. Der Glaube an Gott setzt natürlich voraus, der Existenz Gottes intellektuell zuzustimmen. Doch die Aussage »Ja, Gott existiert« bedeutet mehr. Falls Gott ist, was Koran und Islam über Ihn aussagen, wenn Sie sagen, dass Sie glauben, dann aber nicht in Einklang mit diesem Glauben handeln, zeigen Sie für bestimmte Rechtsschulen damit, dass Sie nicht wirklich glauben. Falls aus Ihrem Glauben keine Handlungen folgen, dann glauben Sie nach diesen Rechtsmeinungen nicht wirklich. Beachten Sie: In der Dreiteilung der islamischen Religion in Glauben, Gottesdienst sowie Tugend oder Ethik wird der Glaube an Gott an erster Stelle genannt (in Kapitel 3 finden Sie Näheres über den Glauben an Gott).
Der Glaube an Gottes Engel Mehrere Hollywoodfilme haben Engel zum Thema, die aus dem einen oder anderen Grund auf die Erde kommen, und Bücher über Engel sind in der esoterischen Abteilung der Buchläden prominent vertreten. Beides ist ein Zeichen der Faszination, die Engel in der gegenwärtigen Kultur ausüben. Die traditionellen islamischen Glaubenssätze über Engel ähneln der Darstellung von Engeln in der Bibel und späteren christlichen und jüdischen Überlieferungen. In den östlichen Religionen gibt es zwar im Allgemeinen keine Engel, dafür aber diverse Götter, die ähnliche Funktionen wie die Engel im Monotheismus ausüben. In der christlichen Kunst werden Engel oft in menschlicher Form mit Flügeln dargestellt, eine Darstellung, die auch dem Bild der Engel im Koran entspricht, der sie an mehr als 80 Stellen erwähnt. Auch wenn sie im Grunde noch menschlich sind, sehen einige Engel aus der Überlieferung recht furchterregend aus. Engel gehören zu einer Gattung von Wesen, die zwischen den Menschen und Gott stehen. Gott erschuf die Engel aus Licht. Normalerweise können sie keine Sünden begehen und üben als Agenten Gottes diverse
Funktionen aus. Im Islam haben Engel drei besonders wichtige Aufgaben: Erstens haben sie die himmlische Funktion, Gott zu preisen, Seine Botschaften zu überbringen und Seinen Thron zu stützen. Zweitens können Engel als Instrument Gottes in menschliche Angelegenheiten eingreifen. Engel spielten an Schlüsselpunkten von Mohammeds Leben eine wichtige Rolle. Jede Person hat zwei Schutzengel. Drittens spielen mehrere spezielle Engel eine bedeutende Rolle bei den Ereignissen, die mit dem Tod einer Person beginnen und mit der Auferstehung enden. Satan oder Iblis ist im Islam ein gefallener Engel, der aus der Gegenwart Gottes verbannt wurde, als er sich Gottes Befehl widersetzte, sich vor Adam zu verneigen. Bis zum Tag des Gerichts erlaubt Gott Satan, die Menschheit zu versuchen und Zwietracht auf Erden zu säen. Auch wenn Satan im Koran häufig genannt wird, ist er im Islam nicht die mächtige Anti-Gott-Gestalt der christlichen und jüdischen Überlieferungen. Der Glaube an Engel schließt den Glauben an die andere Hauptkategorie nicht materieller Wesenheiten ein: die Geister (dschinn). Geister sind untergeordnete Wesen, die einen gewissen – positiven oder negativen – Einfluss auf menschliche Angelegenheiten ausüben können. (In Kapitel 5 erfahren Sie Näheres über die Engel, Satan und die Dschinn.)
Der Glaube an Gottes Bücher und an Gottes Gesandte Einige machen daraus eine Säule des Glaubens, andere zwei. Diese beiden Glaubensartikel können separat behandelt werden, da sie nicht denselben Gegenstand betrachten. Sie sind jedoch logisch miteinander verbunden. Denn die Gesandten sind diejenigen, welche die Schrift bringen. An das eine zu glauben, schließt also den Glauben an das andere ein.
Der Glaube an die geoffenbarten Bücher Gottes Zuerst und vor allem glaubt ein Muslim an den Koran, aber die »Bücher Gottes« umfassen auch das mosaische Gesetz, die Psalmen König Davids und die Evangelien Jesu. Die offenbarten Bücher sind alle Manifestationen des himmlischen Buches – der »Mutter des Buches«. Auch wenn die Frage nach dem Wesen des Koran in der frühen islamischen Theologie heiß diskutiert wurde, gilt der Koran seit 1.000 Jahren übereinstimmend als buchstäbliches, ewiges, gesprochenes Wort Gottes. So wie Gott immer existiert hat, hat auch Sein Wort, der Koran, immer existiert. Ein Muslim, der den Text des Koran rezitiert, aktualisiert Gottes ewiges Wort. Die Rezitation ähnelt den heiligen Mantras im Hinduismus und Buddhismus, mit denen die Macht einer Gottheit aktualisiert werden soll. Anders ausgedrückt: So wie Gott im Christentum am stärksten in Jesus manifest geworden ist (der im Johannes-Evangelium als »das Wort« bezeichnet wird), ist Gott im Islam am stärksten in Seinem Wort, dem Koran, manifest geworden.
Die Offenbarungen, die Moses, David oder Jesus empfangen haben, stammen aus demselben himmlischen Buch wie der Koran. Der Islam sagt, diese früheren Offenbarungen seien unvollständig. Muslime glauben auch, Juden und Christen hätten die ihnen geoffenbarten Bücher absichtlich oder unabsichtlich verfälscht. Deshalb wurde Mohammed mit einer unverfälschten und vollständigen Version gesandt. Muslime glauben, dieser Koran habe sich seit dem Tod Mohammeds nicht verändert. Deshalb seien künftige Offenbarungen aus dem göttlichen Buch nicht erforderlich, weil das gesamte Wort Gottes bereits im Koran enthalten sei. Viele Geschichten und Personen aus der Bibel kommen auch im Koran vor, allerdings oft mit erheblichen Änderungen, aber vieles hat im Koran kein Gegenstück und umgekehrt. Man könnte meinen, dass Muslime deshalb auch die Thora (das mosaische Gesetz in den ersten fünf Büchern der Bibel), die Psalmen und die Evangelien lesen würden – wenigstens um die Informationen im Koran zu ergänzen und vielleicht einige Passagen im Koran besser zu verstehen. Doch wenn man über eine perfekte und endgültige Ausgabe eines Buches verfügt, wird man in der Regel ältere, verfälschte Versionen dieses Buches nicht lesen. (In Kapitel 7 finden Sie weitere Informationen über den Koran.)
Der Glaube an Gesandte, die Gottes Bücher offenbaren Der führende Gesandte ist Mohammed. Dies wird mit der zweiten Hälfte der schahada ausgesagt: »Mohammed ist der Gesandte Gottes.« Ein Gesandter ist jemand, der eine Offenbarung aus dem himmlischen Buch auf die Erde bringt. Gott hat der Menschheit nur eine begrenzte Zahl von Gesandten geschickt, um Sein Wort zu offenbaren. Mohammed ist auch ein Prophet. Gott hat viele Propheten geschickt, um die Menschen an ihr sündiges Leben und das Gericht zu erinnern, das ihnen bevorstehe, wenn sie nicht zur alleinigen Anbetung Gottes zurückkehrten. Weil Mohammed die perfekte und komplette Form von Gottes Wort (dem Koran) offenbarte, wird Gott keine weiteren Propheten und Gesandten mehr schicken. Jetzt ist der Koran selbst Warnung und Aufruf, zum Dienst an Gott zurückzukehren. Der Koran nennt 28 Propheten, von denen die meisten auch in der Bibel vorkommen. Der Koran weiß über einige dieser Propheten sehr viel, über andere dagegen kaum mehr als den Namen zu berichten. Er erwähnt einige nur einmal; andere wie Abraham, Noah, Moses und Jesus kommen sehr oft vor. Der Koran ist kürzer als die Bibel, und er erzählt über die biblischen Propheten weniger als die Bibel. Die meisten dieser Propheten verkünden dieselbe Botschaft: die Ermahnung, im Umgang mit anderen Gerechtigkeit walten zu lassen, den Aufruf, nur Gott allein
anzubeten, und die Drohung mit dem Tag des Gerichts, falls die Warnung nicht beachtet wird. Einige Personen, die im Koran als Propheten bezeichnet werden, kommen zwar in der Bibel vor, werden dort aber nicht als Propheten bezeichnet: Adam, Noah, Job, Lot und König Salomon. Neben Abraham und Mohammed zählt Jesus zu den am meisten verehrten islamischen Propheten. Der Koran bestätigt seine jungfräuliche Geburt und seine Beziehung zu seiner Mutter Maria, die ebenfalls hohes Ansehen genießt. Sie wird im Koran sogar häufiger als in den Evangelien erwähnt. Der größte Teil der Geschichte Jesu als Prediger wird im Koran nicht erzählt. In zwei Punkten versteht der Koran Jesus grundsätzlich anders als das Christentum. Jesus ist wie alle Propheten, Mohammed eingeschlossen, nur ein Mensch. Er ist weder der Sohn Gottes noch irgendwie göttlich. Der Islam streitet auch ab, Jesus sei am Kreuz gestorben und wiederauferstanden. Jesus sei sehr wichtig, aber nicht der Retter der Menschheit. (In Kapitel 6 finden Sie mehr über Mohammed, in Kapitel 15 mehr über die biblischen Propheten und Jesus.)
Der Glaube an den letzten Tag und die Wiederauferstehung aus dem Grab Offensichtlich hatten Mohammeds Zeitgenossen in Mekka keine Vorstellung von einem Leben nach dem Tode entwickelt. Das »Schicksal«, eine Macht größer als die Götter, bestimmte alles. Wenn man glaubt, dieses Leben sei alles, was es gebe, ist die Versuchung groß, es bis zur Neige auszukosten. Wenn man glaubt, dieses Leben sei nur ein kurzes Vorspiel zur Ewigkeit, dann versucht man, durch dieses Leben eher ein hoffentlich glückliches ewiges Leben nach der Auferstehung zu garantieren. Mohammed warnte seine Zeitgenossen, dass irgendwann nach dem Tod der Tag der Auferstehung kommen werde. Die Taten jedes Menschen würden in einem Buch aufgeschrieben. Bei seinem Tod werden ihm diese Aufzeichnungen entweder in die linke (ein schlechtes Zeichen!) oder in die rechte Hand gelegt. Der Mensch kommt dann entweder in die Hölle oder in den Himmel. Der Koran stellt viele »Schnappschüsse«, aber kein detailliertes oder umfassendes Bild der Hölle dar. Sowohl Hölle als auch Himmel haben sieben Ebenen. Überlieferungen malen die Qualen in der Hölle detailreich aus. Im Allgemeinen entspricht die Härte der Bestrafung der Größe der Sünde. Das Bild der Höllenqualen ähnelt dem in anderen Religionen. »Feuer« (al-nar) ist die grundlegende Eigenschaft und auch Eigenname der Hölle. Der Himmel wird als wohlbewässerter Garten dargestellt, in dem die Geretteten ein heiteres Leben führen. Diese Bilder von Himmel und Hölle haben einen besonderen Zweck: Sie sollen die Lebenden veranlassen, so zu leben, dass sie die Hölle vermeiden und sich vor dem Jüngsten Gericht ein Leben im Himmel verdienen. Die islamische Tradition (anders als die Überlieferung des Propheten) zeichnet ein
detailliertes Bild dessen, was zwischen dem Tod und dem Eintritt in Himmel oder Hölle geschieht. Verschiedene Ereignisse künden das kommende Ende der Zeit an, an dem alle wieder zum Leben erweckt werden und sich dem Gericht stellen müssen, das über ihren endgültigen Status befindet. (In Kapitel 5 finden Sie Näheres über das Ende der Zeit, das Jüngste Gericht sowie Himmel und Hölle.) Jede Religion steht vor dem Problem der Beziehung zwischen Willensfreiheit und Vorherbestimmung. Die meisten Menschen wissen, dass ihre Handlungen in dieser Welt in gewissem Maße ihr Schicksal in dieser Welt beeinflussen. Wer nicht fleißig lernt, erhält keine guten Noten. Wer bei der Arbeit zu viele Fehler macht, wird nicht befördert. Willensfreiheit bedeutet, dass sich jeder entscheiden kann, ob er studiert, fleißig ist und sorgfältig arbeitet. Religionen erweitern diese Vorstellung der Willensfreiheit auf das Schicksal einer Person in der Ewigkeit. Hinduismus und Buddhismus arbeiten mit der Idee des Karmas – was man sät, das wird man ernten. Sie glauben auch an Reinkarnation oder Wiedergeburt. Was uns in diesem Leben widerfährt, ist die unvermeidliche Konsequenz aus unseren Handlungen, die wir in vergangenen Leben gewählt haben. Wenn Sie in diesem Leben leiden, handelt es sich nicht um eine Bestrafung, sondern einfach um die Folge von Entscheidungen, die Sie in vergangenen Leben getroffen haben. Die drei großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) glauben nicht an Reinkarnation. Ein Mensch hat nur ein Leben, und die Entscheidungen in diesem Leben bestimmen sein Schicksal in der Ewigkeit. Wer sagt, dass diese Entscheidungen frei getroffen werden können, bekennt sich damit zur Willensfreiheit. Doch die monotheistischen Religionen behaupten im Allgemeinen auch, dass letztlich Gott für alles verantwortlich sei, was geschieht. Gegenteiliges zu behaupten, würde die Macht Gottes einschränken. Wie kann man sagen, die Menschen seien für ihre Handlungen verantwortlich, und zugleich versichern, Gott kontrolliere alles? Doch wenn die göttliche Vorherbestimmung zu stark betont wird, kann ich einfach den unergründlichen Willen Gottes für mein schlechtes (oder gutes) Schicksal verantwortlich machen. Falls Gott alles (Gutes und Böses) bestimmt, kann ich tun, was immer mir gefällt, weil Gott ja doch das Endergebnis vorherbestimmt hat. Und wenn meine sündigen Handlungen auf einer Entscheidung Gottes beruhen, die schon vor meiner Geburt getroffen wurde, ist Gott dann nicht ungerecht, mich für etwas in die Hölle zu verbannen, was zu tun Er mir vorherbestimmt hat? Dies ist in aller Kürze eines der schwierigsten theologischen Probleme der monotheistischen Religionen. Im Koran finden sich übrigens gleich viele Hinweise auf die Willensfreiheit wie auf Vorherbestimmung. Bei der Verteidigung der Position, dass letztlich Gott für alles verantwortlich sei, gingen einige Muslime so weit, normale Beziehungen von Ursache und Wirkung zu leugnen. Der wichtigste muslimische Theologe des 9. Jahrhunderts, al-Ashari, sagte: Obwohl Gott weiß, veranlasst und bestimmt, was die Menschen tun werden, übernehmen die Menschen
die Verantwortung für ihre Handlungen, indem sie sich für das entscheiden, was zu wählen ihnen vorherbestimmt war. Ich weiß, dass al-Asharis »Lösung« für viele Nichtmuslime eher wie ein semantischer Trick als wie eine echte Lösung des Problems erscheinen könnte. Doch bevor Sie den Islam zu sehr für sein Scheitern kritisieren, den freien Willen mit dem göttlichen Determinismus in Einklang zu bringen, sollten Sie nicht vergessen, dass noch niemand dieses Problem gelöst hat. Wahrscheinlich haben Sie schon einmal den Ausdruck »so Gott will« gehört. Muslime fügen häufig insha'allah an Sätze an, in denen sie zukünftige Aktionen ausdrücken: »Wir treffen uns hier morgen um zwei, insha'allah (so Gott will).« Dies bedeutet: Der Sprecher trifft zwar Entscheidungen, doch die wirkliche Entscheidung, ob dieses Treffen morgen um zwei stattfinden wird, liegt bei Gott. Die Säulen des Glaubens sind Ausgangspunkt dessen, was ein Muslim zu glauben hat. Zuerst akzeptiert ein Muslim die Aussagen des Koran und Mohammeds. Wenn ein Muslim in seinem Glauben reift, vertiefen sich seine Glaubenssätze. Er versteht die Wahrheit dieser Aussagen auf einer tiefer gehenden Ebene. Sie mögen diesen Glaubenssätzen zustimmen oder nicht. Auf jeden Fall sind sie leicht verständlich. Der Islam hat anderen Religionen gegenüber einen Vorteil: Er bietet eine kurze Liste leicht verständlicher Glaubenssätze an. Konvertiten können sie leicht begreifen. Sie sind verständlich! Sie sind machbar! Vergleichen Sie diesen Glauben etwa mit der Vorstellung von der Dreifaltigkeit – ein Gott in dreifacher Gestalt: Vater, Sohn und Heiliger Geist –, an die Christen glauben, oder mit der »Kein-Selbst-Idee« des Mahayana-Buddhismus, wonach der Glaube der meisten Menschen, ein Selbst oder eine Seele zu haben, genau das ist, was ihre Erlösung verhindert. Von Muslimen wird nicht erwartet, scholastische Theologie zu studieren. Zwar betreiben islamische Gelehrte Theologie (kalam), aber dies ist kein zentrales Anliegen des Islam. Wie Gläubige anderer Religionen möchten auch viele Muslime einfach die Position des geoffenbarten Textes vertreten, statt ihn zu interpretieren. Sobald man jedoch einen heiligen Text nicht nur zitieren, sondern verstehen will, ist man schon dabei, ihn zu interpretieren, und damit Theologe.
Nichtmuslimen den Glauben erklären Die Säulen des Glaubens repräsentieren einen Konsens über die grundlegenden islamischen Glaubenssätze. Zwei Episoden aus der Biografie Mohammeds (siehe Kapitel 6) zeigen, wie der Islam sich Nichtmuslimen gegenüber präsentiert. In beiden Fällen werden Dinge des Glaubens (aqida) mit Dingen des Gottesdienstes (ibada) und der Ethik (ihsan) vermischt. Gelehrte streiten sich über die historische Genauigkeit der Ereignisse.
Doch unabhängig von ihrer historischen Genauigkeit geben sie eine islamischen Sicht wieder, wie der Glauben gegenüber Ungläubigen oder Konvertiten präsentiert werden sollte. Diese Erzählungen ergänzen die systematischeren Listen der Glaubenssätze und der Anbetung in dem Hadith von Gabriel. Das erste Ereignis fand etwa 616 statt. Mohammed schickte 80 seiner Anhänger nach Äthiopien, damit sie der Verfolgung in Mekka entkämen. Als die Stadtväter von Mekka zwei Diplomaten nach Äthiopien entsandten, um den König zu bitten, die Muslime zurück nach Mekka zu schicken, rief der König die Führer der Muslime vor sich und seine Bischöfe und bat sie, ihnen etwas über die neue Religion zu erzählen, die sie veranlasst hatte, die Götter ihrer Väter aufzugeben. Die Antwort des Sprechers, Jafar Ibn Abu Talib, vermittelt uns ein Bild von frühen muslimischen Predigten. Jafar schilderte zunächst das arabische Heidentum im 5. Jahrhundert. Dann sprach er über Mohammeds Sendung durch Gott, die Forderung, die Anbetung vieler Götter aufzugeben, im Umgang mit anderen Gerechtigkeit zu üben und die fünf Säulen des Glaubens zu beachten (siehe Kapitel 9). Jafar sagte, er und einige andere hätten diese Botschaft angenommen. Daraufhin seien sie von den Ungläubigen in Mekka angegriffen worden. Weil diese versuchten, sie von ihrem islamischen Glauben abzubringen, seien sie auf der Suche nach Zuflucht nach Äthiopien gekommen und legten nun ihr Schicksal in die Hände des Königs. Der König bat sie, eine Passage aus ihrer Heiligen Schrift vorzulesen. Sie wählten eine Passage über Maria, der Mutter Jesu, aus Sure 19. Der König und seine Bischöfe waren von diesen Worten so bewegt, dass sie weinten. Dann wollten die beiden Sendboten aus Mekka eine Falle stellen: Sie forderten den König auf, die Muslime zu fragen, was sie über Jesus dächten. Jafar antwortete, Jesus sei der Sklave, der Gesandte, der Geist und das Wort Gottes und Gott habe den ungeborenen Jesus in den Leib der gesegneten Jungfrau Maria gepflanzt. Der König war beeindruckt und mit Jafars Zeugnis zufrieden. Er beschloss, die Muslime in seinem Land zu schützen. Jafars Rede betonte: die Einheit Gottes die Ablehnung der Anbetung anderer Götter Fürsorge für die Armen und Schwachen (Waisen und Frauen) Beachtung des Betens, des Fastens und der Wohlfahrt (siehe Kapitel 9) Ehrlichkeit im Wort und im Umgang mit anderen Gastfreundschaft (eine wichtige Tugend der arabischen Kultur) Vermeidung von Blutvergießen Verehrung von Jesus und Maria, womit der Islam mit der neutestamentarischen Überlieferung verknüpft wird
Das zweite Beispiel für missionarische islamische Predigten stammt aus dem Jahr vor Mohammeds Tod, einem Jahr, in dem die meisten restlichen Stämme Arabiens den Islam und die Führerschaft Mohammeds anerkannten, darunter die Banu al-Harith, ein christlicher Stamm aus dem Jemen (im Südwesten Arabiens). Da sie sich bereits zu Allah als Gott und Mohammed als Seinem Gesandten bekannt hatten, sandte Mohammed Amr Ibn Hazm zu ihnen, um sie im Glauben zu unterrichten. Mohammed wies Ibn Hazm an, den Banu al-Harith zu sagen, sie sollten: böse Handlungen vermeiden ihren Angehörigen den Koran beibringen die Freuden des Paradieses und die Qualen der Hölle kennenlernen die Pflichten des täglichen Gebets, der Reinigung, der Pilgerreise und der Bezahlung von Almosen und Steuern erfüllen nicht mit anderen Muslimen streiten, sondern ihre Streitfragen zur Klärung vor Gott Mohammed vorlegen Juden und Christen die Freiheit lassen, ihre Religionen auszuüben
Auslegung des Glaubens: Schwierige Glaubensfragen klären Der Islam leistete einen großen Beitrag zur Weltzivilisation: Er bewahrte, übermittelte und erweiterte das philosophische (sowie das wissenschaftliche und medizinische) Erbe der Griechen, das im Westen großenteils vergessen worden war. Durch ihre Übersetzungen der antiken griechischen philosophischen Werke lernten muslimische Gelehrte sowohl die Natur des philosophischen Disputs als auch die Schlussfolgerungen der griechischen Philosophen kennen. Einige Fragen und Schlussfolgerungen der griechischen Philosophen (etwa: Wurde die Welt geschaffen oder existiert sie ewig? Gibt es eine fleischliche Auferstehung des Körpers?) standen scheinbar in Konflikt mit dem Koran. Das Problem der Beziehung zwischen Offenbarung und menschlicher Vernunft plagt viele, insbesondere aber die drei großen monotheistischen Religionen, etwa wenn die Ergebnisse moderner Wissenschaften Aussagen der Bibel widersprechen. Ein Beispiel ist die Erzählung von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen (Genesis 1), die der herrschenden wissenschaftlichen Lehre widerspricht, nach der sich die Erde im Laufe von circa vier bis sechs Milliarden Jahren entwickelt hat. Ein anderes Beispiel ist die Evolutionstheorie. Laut Genesis hat Gott die Menschheit erschaffen, laut Darwin hat sie sich im Laufe der Zeit aus niedrigeren Arten entwickelt. Die Verteidiger der wörtlichen Überlieferung der Bibel nennen sich heute (in den USA) »Wissenschaftliche Kreationisten«.
Muslimische Philosophen-Theologen könnten solche Konflikte auf drei verschiedene Arten lösen: Versuchen, mit der Vernunft die Schlussfolgerungen der griechischen Philosophen als bloße Sprachspiele dort zu entlarven, wo sie dem Koran widersprechen. Philosophie als solche ablehnen. Man soll also akzeptieren, was die Schrift sagt, ohne dies zu hinterfragen. Die Positionen der griechischen Philosophie akzeptieren und einen Weg finden, um diese Positionen mit dem Koran zu vereinbaren. Eine Möglichkeit, offensichtliche Konflikte zwischen Vernunft und Offenbarung – der Philosophie und dem Koran – zu lösen, bestand darin, einige Aussagen im Koran nicht wörtlich zu nehmen, sondern als Metaphern oder poetische Sprache aufzufassen. Eine andere Möglichkeit, scheinbare Widersprüche zu vereinbaren, bestand darin, diese Aussagen zwar wörtlich zu nehmen, ihnen aber im Zusammenhang mit Gott eine andere als die normale Bedeutung zuzuschreiben. So sagt der Koran, Gott habe ein Gesicht und Hände. Frühe muslimische Theologen stritten sich über die Bedeutung dieser Aussage. Einige betrachteten sie als Metapher, die Gottes personales, aktives Wesen ausdrücken sollte. Andere behaupteten, die Aussage sei wörtlich gemeint und müsse als wahr akzeptiert werden. Die Position, etwas »ohne zu wissen, wie« zu akzeptieren, wurde zur vorherrschenden islamischen Position. Alle Parteien dieser Debatte akzeptierten die Autorität des Koran, doch sie interpretierten Koranpassagen unterschiedlich, um ihre Positionen zu stützen. Die Debatten zogen sich über 300 Jahre hin, bis sich schließlich Mitte des 10. Jahrhunderts ein Konsens bildete. Er wurde als Sunnismus bezeichnet. Diese Konsensposition ist besonders mit dem großen islamischen Theologen al-Ashari (873–935) verbunden.
Anwendung und Grenzen der islamischen Philosophie Für diejenigen, die Antworten der Philosophie zur Lösung theologischer Probleme verwarfen, stellte sich immer noch die Frage, ob sich muslimische Gelehrte mit anderen Gebieten der Philosophie (Mathematik, Logik, Naturwissenschaften oder Ethik) befassen sollten. Al-Ghazali (1058–1111) verteidigte die Pflicht, die Philosophie in diesen anderen Forschungszweigen zu nutzen. Der Koran preist Gelehrte und rät zum Erwerb von Wissen. Al-Ghazali war ein sehr wichtiger islamischer Rechtsgelehrter, Theologe, Ethiker und Sufi (islamischer Mystiker – siehe Kapitel 13). Er ist möglicherweise der wichtigste Denker des mittelalterlichen Islam, in seiner Bedeutung mit Maimonides im Judentum, Nagarjuna im Buddhismus oder Thomas von Aquin im Christentum vergleichbar.
Einige theologische Probleme Die Säulen des Glaubens fassen die grundlegenden islamischen theologischen Positionen zusammen. Das reicht den meisten Muslimen aus. Doch im Islam stellten sich andere theologische Probleme, von denen einige heute noch diskutiert werden. Manche davon mögen auch Ihnen noch wichtig erscheinen. Bei anderen fragen Sie sich vielleicht, worum es überhaupt geht, weil das Thema für Sie unbedeutend ist. Theologie ist im Islam zwar wichtig, spielt aber längst nicht so eine zentrale Rolle wie im Christentum oder wie die Philosophie in einigen Formen des Hinduismus. Der Islam steht dem Judentum insofern näher als dem Christentum, als er andere Dinge (wie etwa das Gesetz) stärker betont als die Theologie.
Einen wahren Muslim definieren In der Vergangenheit haben einige Protestanten Katholiken nicht als wahre Christen betrachtet und umgekehrt. Viele orthodoxe Juden betrachten das Reformjudentum nicht als wahre Form des Judentums und erkennen Konversionen zum Judentum nicht als gültig an. Auch der Islam diskutiert seit seinen ersten Tagen die Frage, wer ein wahrer Muslim sei. Eine Gruppe aus dem 7. Jahrhundert, die Kharidschiten (siehe Kapitel 2), befürwortete eine puritanische Strenge, die jeden aus der islamischen Gemeinde ausschließen sollte, der seine Religion nicht lückenlos und mit vollem Ernst ausübte – etwa indem er seine täglichen Gebete nicht regelmäßig ausführte. Es zeigte sich jedoch, dass die Muslime während des größten Teils der Geschichte und an den meisten Orten jeden als Muslim akzeptierten, der Muslim zu sein behauptete. So hatte es der Koran ja auch vorgeschrieben. Selbst heute ist die Sorge um die Einheit der islamischen Gemeinschaft (umma) meist wichtiger, als einheitliche Glaubensausübung durchzusetzen. Die Entscheidung, wer ein wahrer Muslim sei, wird Gott am Tag des Gerichts überlassen. Es gibt Ausnahmen von dieser allgemeinen Haltung der Toleranz und Akzeptanz aller, die sich als Muslime bezeichnen. Einige radikale islamistische Gruppen nehmen eine Position ähnlich der der alten Kharidschiten ein. Mitglieder einer extremistischen Islamistengruppe verübten 1981 ein Attentat auf Anwar al Sadat, den Präsidenten von Ägypten, nachdem sie ihm den wahren Glauben aberkannt hatten. Als die Taliban in Afghanistan an die Macht kamen, zwangen sie ihre Interpretation des Islam allen Einwohnern auf. Sie erklärten Hamid Karzai, den damaligen Präsidenten Afghanistans, zu einem nicht wahren Muslim, der deshalb von jedem wahren Muslim getötet werden solle. Ähnliche extremistische Ansichten vertreten Anhänger al-Qaedas, des sogenannten Islamischen Staates, Boko Harams und weiteren terroristischen Organisationen.
Glauben und Werke verbinden Das Verhältnis von Glauben und Werken war ein anderes wichtiges Thema. Islamische Texte verlangen eine Bestätigung des Glaubens durch Zunge, Herz (dem Sitz des Verstehens) und Glieder (das heißt Taten). Praktisch muss ein Muslim seinen Glauben auf alle drei Arten bestätigen.
Grade des Glaubens Ein verwandtes Thema ist die Frage, ob der Glaube etwas Absolutes sei. Einige sagen, entweder glaube man oder nicht. Die Mehrheit weist diese Auffassung zurück und sagt, der Glaube eines Muslim könne wachsen und sich vertiefen oder abnehmen und flacher werden.
Die Anthropomorphisierung Gottes Dieses Thema, das in frühen islamischen theologischen Debatten sehr wichtig war, wurde im Abschnitt »Auslegung des Glaubens: Schwierige Glaubensfragen klären« weiter vorn in diesem Kapitel erwähnt. Wenn Gott mit menschlichen Begriffen beschrieben wird (dies wird als Anthropomorphismus bezeichnet), sind diese Beschreibungen dann wörtlich zu verstehen? Die Mehrheit plädiert für »Ja«, fügt aber hinzu, eine solche Sprache müsse bei der Anwendung auf Gott nicht unbedingt dasselbe meinen wie bei der Anwendung auf Menschen.
Geschaffener oder ewiger Koran Das am heftigsten umstrittene theologische Problem des Islam war im 9. Jahrhundert die Frage, ob es den Koran immer gab oder ob ihn Gott irgendwann geschaffen habe. Der Streit ähnelt einer entscheidenden Frage im frühen Christentum (3. Jahrhundert), ob Christus immer existierte oder ob er Gottes erste Schöpfung war. Die Mu'taziliten favorisierten die Erschaffenheit des Koran. Warum war dieses Problem wichtig? Folgt man den Mu'taziliten, würde ein ewiger (schon immer existierender) Koran dem grundlegenden islamischen Dogma von der Einheit Gottes widersprechen, wonach nur Gott ewig ist. Die damaligen islamischen Herrscher (die Kalifen) versuchten, den Mu'taziliten gewaltsam den Glauben aufzuzwingen, der Koran sei erschaffen worden, hatten aber keinen Erfolg. Seit damals akzeptieren die meisten Muslime, dass der Koran immer existiert habe. Heute unterscheiden die Theologen zwischen dem ewigen prototypischen Koran und dem Koran, der in Raum und Zeit manifestiert wurde.
Wissen, was gut und böse ist Gebietet Gott den Menschen, nicht zu töten, weil das Töten wesenhaft böse ist, oder ist das Töten nur böse, weil Gott es verbietet? Falls Gott geböte zu töten, wäre das Töten dann gut? Diese Fragen werden unterschiedlich beantwortet. Einige sagen, sogar
unabhängig von Offenbarung und Schrift existiere ein objektiver Standard für gut und böse, der zumindest partiell durch Vernunft und Intuition erschlossen werden könne. Andere vertreten den entgegengesetzten Standpunkt und schließen, Aktionen seien nur deswegen gut oder böse, weil Gott ihnen diese Attribute beilege.
Die Ablehnung formeller Glaubensbekenntnisse Im Gegensatz zu Muslimen und den Anhängern der meisten anderen Religionen betonen Christen oft den korrekten Glauben. Von Anfang an haben Christen immer wieder Glaubensbekenntnisse geschrieben (»Ich glaube …«). Frühe Bekenntnisse (»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erden …«) wie das Apostolische Glaubensbekenntnis oder das Nicäanische Glaubensbekenntnis sind heute im Christentum weit verbreitet. Traditionsgemäß musste man, um Christ zu sein, den Aussagen dieser Glaubensbekenntnisse zustimmen. Christen haben sich wegen Glaubensdifferenzen immer wieder bekriegt (etwa in Nordirland). Selbst protestantische christliche Gruppen, die Glaubensbekenntnisse eigentlich ablehnen, sprechen im Gottesdienst »Bekenntnisse des Glaubens« oder formulieren in der einen oder anderen Form die wesentlichen oder sogar erforderlichen Glaubenssätze ihrer Gemeinschaft. In anderen Religionen sind am ehesten Listen wie die fünf Säulen des Gottesdienstes und die Säulen des Glaubens des Islam oder die Vier Edlen Wahrheiten und die Drei Formeln der Zuflucht des Buddhismus mit Glaubensbekenntnissen vergleichbar. Der Islam ist keine bekennende Religion. Sein Glaubensbekenntnis ist die Schahada. Aber im Islam werden keine Kommissionen muslimischer Theologen einberufen, um umfangreiche offizielle Glaubensbekenntnisse zu formulieren und abzusegnen, nachdem al-Aschari damit gescheitert ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Islam keine Glaubensbekenntnisse kennt. Die Zusammenfassung des Hadith über Gabriel ist im Grunde ein kurzes Glaubensbekenntnis. Der Fiqh Akbar I ist ein anderes kurzes, frühes »Glaubensbekenntnis«, das Abu Hanifa (700–767) zugeschrieben wird. Später wurden viel längere Glaubensbekenntnisse formuliert, die bis zu hundert oder mehr Glaubensaussagen enthielten und jeweils die theologische Position eines Gelehrten oder einer Schule widerspiegelten. Die folgenden Aussagen stammen aus mehreren Glaubensbekenntnissen aus den ersten 400 Jahren des Islam. Wer mehr darüber wissen will, sollte das Buch Geschichte der islamischen Theologie von Tilman Nagel (C. H. Beck Verlag, 1994) lesen. »Wir [Muslime] betrachten niemanden aufgrund einer Sünde als Ungläubigen, und wir sprechen ihm seinen Glauben nicht ab.«
»Er [Gott] hat zusammen mit Seinen Attributen schon immer vor der Schöpfung existiert. Mit der Schöpfung wurde kein Attribut zusätzlich zu den Attributen geschaffen, die bereits existierten. Wie Er mit Seinen Attributen in der vergangenen Ewigkeit war, wird Er in der künftigen Ewigkeit bleiben.« »Alles passiert gemäß Seinem [Gottes] Beschluss und Willen, und Sein Wille wird erfüllt. Der einzige Wille des Menschen ist der Wille, den Er ihnen eingibt. Was Er für sie beschließt, passiert, und was Er nicht will, passiert nicht.« »Die Handlungen des Menschen werden von Gott erschaffen, aber vom Menschen verdient.« »Sie [Muslime] bekennen sich dazu, dass Glauben sowohl aus Worten als auch aus Taten besteht.« »Menschen, die die Religion verändern oder mit ihr nach Belieben umgehen, fahren in das Feuer der Hölle, so sagt der Hadith.« »Der Koran ist das Wort Gottes, weder etwas Gemachtes, das deshalb untergehen muss, noch das Attribut von etwas Gemachtem, das deshalb enden muss.«
Kapitel 5
Im Angesicht Gottes: Himmel und Hölle IN DIESEM KAPITEL Die anderen Wesen: Engel und Dschinn Im Himmel oder in der Hölle enden Auferstehung und Jüngstes Gericht
Stellen Sie sich vor, Sie würden eine lange Reise an einen Ort antreten, den Sie noch nie zuvor besucht haben. Auf keiner Website gibt es Bilder Ihres Ziels. Die Visaanforderungen sind unklar, und möglicherweise dürfen Sie das Land gar nicht betreten. Sie wissen nicht einmal, mit welchen Impfungen Sie sich gegen mögliche Krankheiten schützen können. Zwar sind bereits andere Leute dorthin gereist, aber niemand ist zurückgekommen, und was sie an Nachrichten gesendet haben, wirkt mysteriös. Der Tod ähnelt einer solchen Reise. Fragen über den Tod, das Ziel des Lebens nach dem Tod und der Weg zu diesem Ziel spielen in den meisten Religionen eine große Rolle. In diesem Kapitel geht es um die muslimischen Auffassungen über den Tod – was beim Tod und nach dem Tod passiert. Im islamischen Glauben führt Sie der Tod in eine andere Welt; daher werfen wir auch einen Blick auf die muslimische Auffassung dieser anderen Welt. Weil Engel bei den Ereignissen am Ende des Lebens und danach eine wichtige Rolle spielen, werde ich zunächst die Engel und andere nicht weltliche Wesen beschreiben. Ich stelle die Topografie (Örtlichkeit) der anderen Welt und die Reiseroute vom Leben in das Nachtodleben systematisch dar. Der Koran und andere islamische Quellen sind längst nicht so methodisch aufgebaut, wie dieses Kapitel nahelegen mag. Der Koran enthält viele eindringliche Bilder von den Themen in diesem Kapitel, aber weder in systematischer noch in sequenzieller Form. Deshalb sind meine Listen der Engel oder der Schritte vom Leben zum Tod nicht die einzig möglichen; andere Texte ordnen diese Daten anders an. Dennoch hoffe ich, dass Sie einen Eindruck von der islamischen Sicht dieses Themas bekommen.
Andere Wesen neben Gott und den Menschen Neben den Menschen und Gott spricht der Koran von zwei anderen Gruppen lebender Wesen: die Engel und die Dschinn. Zwei Überlieferungen (Hadithe) vergleichen Menschen, Tiere und Dschinn. Die erste Überlieferung sagt: »Menschen wurden aus Lehm, Engel aus Licht und Dschinn aus Feuer erschaffen« (siehe auch Sure 38:76). Die zweite Überlieferung sagt: »Gott erschuf Engel mit Intellekt, aber ohne Gefühl, die Tiere mit Gefühl, aber ohne Intellekt, und Menschen sowohl mit Intellekt als auch mit Gefühl.«
Gabriel und die anderen Engel Obwohl im Detail verschieden, unterscheidet sich die islamische Sicht der Engel kaum von den jüdischen und christlichen Auffassungen, außer dass es im Islam keine Erzengel gibt. Engel kommen hauptsächlich in den monotheistischen Religionen vor, in denen sie als Vermittler zwischen Gott und Menschen fungieren. Das Wort Engel ist von dem griechischen Wort angelos abgeleitet, das wiederum von einem hebräischen Wort abstammt. Es bedeutet wörtlich Gesandter oder Bote. Einige Geister und unbedeutende Götter in östlichen Religionen haben ähnliche Funktionen wie die Engel in westlichen Religionen. Doch diese Religionen kennen keine klar definierte, den Engeln vergleichbare Kategorie. Der Glaube an Engel gehört zu den fünf Säulen des Islam (siehe Kapitel 4). Der Koran enthält mehr als 80 Verweise auf Engel. Dies zeigt, dass Mohammeds Zeitgenossen mit Engeln bereits vertraut waren. Auch wenn Engel in dieser Welt aktiv werden, gehören sie zu einer anderen, formlosen Welt. Gott erschuf die Engel aus Licht, der am wenigstens materiellen Substanz. Engel haben ein Geschlecht, pflanzen sich aber nicht fort. Sie haben keinen freien Willen und können deshalb nicht sündigen. Laut Sure 35:1 haben Engel zwei, drei oder vier Flügel. Da sie frei von Sünde sind und einer höheren Welt angehören, sind Engel den Menschen in einem Aspekt überlegen. Wenn islamische Schriften einen Engel erwähnen, setzen sie gleichwohl hinter seinen Namen dieselbe Segnungsformel wie hinter den Namen des Propheten – »und Friede sei mit ihm«. Doch wenn man die Sache aus einer anderen Perspektive betrachtet, haben Menschen ein größeres Potenzial als Engel. Menschen wurden im Gegensatz zu Engeln nach dem Bilde Gottes geschaffen. Deshalb befahl Gott den Engeln, nachdem Er Adam geschaffen hatte, sich vor Adam niederzuwerfen. In Mohammeds Nachtreise und Aufstieg in den Himmel diente ihm der Engel Gabriel als Führer. Doch an einem gewissen Punkt kann Gabriel nicht höher in die Himmel steigen, und Mohammed muss den restlichen Weg bis in die Gegenwart Gottes allein zurücklegen.
Engel erledigen Aufgaben Warum benötigen Religionen wie der Islam eigentlich Engel? Welchen Zweck erfüllen sie? In gewisser Hinsicht ersetzen Engel – die keine Götter sind – die niedrigeren Götter
anderer Religionen. Die folgende Liste nennt einige Aufgaben, die laut Islam den Engeln obliegen: Engel sind Gottes Gesandte, die zwischen Ihm und der irdischen Welt vermitteln. Engel preisen Gott ohne Unterlass Tag und Nacht (Sure 21:20); Gleiches tun die geflügelten Wesen (die nicht zu den Engeln zählen), die in der jüdischen Bibel als Cherubim und Seraphim bezeichnet werden. Engel tragen den Thron, auf dem Gott im höchsten Himmel sitzt. Engel schützen die Wälle des Himmels und der Hölle sowie deren Pforten. Jede Person hat zwei Schutzengel. Engel verzeichnen die Taten jeder Person in einem Buch, das am Tag der Auferstehung von Gott verwendet wird, um die Person zu richten. Sure 82:10–12 sagt: »Aber über euch wachen Wächter, Edle, (eure Taten) niederschreibende, welche wissen, was ihr tut.« Wie in der christlichen und der hebräischen Bibel spielen Engel an bestimmten Punkten der Geschichte eine prominente Rolle. So führte Gabriel in der entscheidenden Schlacht von Badr (624, siehe Kapitel 6) die Engel aufseiten der Muslime in den Kampf und sicherte den muslimischen Sieg. Die Engel sind anwesend, wann immer Muslime beten (salat), und werden von den Betern am Ende der Zeremonie anerkannt. Im schiitischen Islam (siehe Kapitel 12) steht die Abfolge der schiitischen imame (Nachfolger Mohammeds im schiitischen Zweig des Islam) unter der Führung der Engel. Die Wiederkunft des zwölften imam soll durch einen am Himmel erscheinenden Engel angekündigt werden. Engel spielen bei Tod und Auferstehung eine entscheidende Rolle.
Die Namen der Engel In diesem Abschnitt lernen Sie einige wichtigere Engel kennen, auch wenn die Liste nicht komplett ist. Gemäß späteren Überlieferungen übertrug Gott einigen Engeln die Verantwortung für bestimmte menschliche Eigenschaften, die in der Liste genannt werden. Gabriel (Dschibril) ist zweifellos der wichtigste Engel – sowohl im Koran als auch in der Bibel. Im Koran wird Gabriel nur zweimal erwähnt (Suren 2:97 und 66:4). Doch die muslimische Überlieferung identifiziert Gabriel als den namentlich nicht genannten Engel, der bei Mohammeds Berufung erschien (Sure 53:4–14) und der ihn später bei seiner nächtlichen Reise in den Himmel (miradsch) und dem Herabstieg nach Jerusalem geführt hat (Sure 17:1–2). In der traditionellen Biografie Mohammeds von Ibn Ishaq erscheint Gabriel an mehreren entscheidenden Punkten in Mohammeds
Leben. Zusammen mit dem Engel Michael ist er einer der beiden Fremden, die den schwarzen Fleck (die Möglichkeit einer künftigen Sünde) vom Herzen des kleinen Mohammed entfernen. Er führt die Engel aufseiten der Muslime in die Schlachten von Badr (624) und Hunayn (630; beide Ereignisse werden in Kapitel 6 beschrieben). Gabriel erschien Mohammed später und lehrt ihn die Rituale der Reinigung und des Gebets (siehe Kapitel 9). Gabriel erscheint nicht nur Mohammed, sondern auch den anderen Propheten, die Mohammed vorangingen. Der Engel Michael (Mika'il) wird seltener erwähnt. Er kommt in Sure 2:97 zusammen mit Gabriel vor und erscheint auch bei dem Ereignis der Reinigung des Herzens und der Schlacht von Badr zusammen mit Gabriel. Izrail – der Engel des Todes (Sure 32:11) – ist ein dritter Engel. Seine Hauptfunktion besteht darin, die Seele der Person innerhalb von 40 Tagen nach ihrem Tod von ihrem Körper zu trennen. Israfil, der vierte Engel, wird im Koran nicht genannt. Seine wichtigste Funktion besteht darin, die Trompete zu blasen, die den Tag der Auferstehung und des Gerichts ankündigt. Die Engel Munkar und Nakir spielen bei den letzten Ereignissen eine besonders wichtige Rolle. Sie fragen Menschen im Grab nach ihrem Glauben. Sie werden im Koran nicht erwähnt und haben in den nachbiblischen christlichen oder jüdischen Überlieferungen keine Entsprechungen.
Aladins Wunderlampe und die Dschinn In den 1960er-Jahren gab es eine TV-Soap mit dem Titel Bezaubernde Jeannie, die sehr entfernt auf der Idee des Geistes in Aladdins Wunderlampe basierte. Ein beliebter DisneyZeichentrickfilm (Aladdin) von 1992 hatte mehrere Fortsetzungen und eine Fernsehserie für Kinder zur Folge. Jeder kennt Aladdins Wunderlampe. Wenn sie gerieben wird, erscheint ein Geist, der Ihnen drei Wünsche erfüllt. Viele Kulturen kennen Überlieferungen von Wesen, die normalerweise für Menschen unsichtbar sind, ihnen aber Gutes oder Böses zufügen können: Elfen, Feen, Trolle, Kobolde und so weiter. Der Islam hat seine aus Feuer erschaffenen Dschinn. Sie sind intelligente, für Menschen nicht wahrnehmbare Wesen. In vorislamischen Überlieferungen waren sie Wüsten- und Quellgeister. In der muslimischen Überlieferung spielen sie in der Folklore eine weitaus größere Rolle als in der Theologie. Dschinn können errettet oder verdammt werden, das heißt, sie können gut oder böse sein. Eine Schar der Dschinn hörte einst eine Predigt Mohammeds (Sure 72:1–5). Sie glaubten, was sie hörten, und akzeptierten den Islam an einem Ort in Mekka, der als die Moschee der Dschinn bezeichnet wird. Dschinn halfen König Salomon, den Tempel in Jerusalem zu bauen (Sure 34:12–14).
Dschinn sind männlich oder weiblich. Im vorislamischen Arabien inspirierten Dschinn Propheten, Wahrsager und Dichter, die zu Zeiten Mohammeds eine enorme Macht hatten und großes Prestige genossen. Man glaubte, ein Dichter spreche nicht seine eigenen, sondern die Worte des Dschinn, der ihn inspirierte, sodass die Dschinn den griechischen Musen vergleichbar waren. Einige Menschen dachten, Mohammed müsse von einem Dschinn inspiriert worden sein, als er begann, den Koran zu rezitieren – eine Auffassung, die Mohammed entschieden zurückwies.
Der Teufel hat mich dazu verleitet Der Eigenname des Teufels im Islam lautet Iblis. Möglicherweise ist er von demselben griechischen Wort (diabolos) wie das deutsche Wort Teufel abgeleitet. Die Bezeichnung Schaytan (Satan) wird ebenfalls verwendet. Als Gott Adam erschaffen hatte, befahl Er den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen. Nur Iblis weigerte sich (Sure 15:30–33). Damit machte er sich der Sünden des Stolzes und des Ungehorsams schuldig (Sure 7:12); schließlich wusste er, dass man nur Gott anbeten dürfe. Gott verdammte Iblis, verzögerte die Bestrafung aber bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Der Koran erwähnt Satan häufiger (mehr als 70-mal) als Iblis (achtmal). Auch wenn Iblis und Satan ursprünglich möglicherweise unterschieden wurden, bezeichnen beide Namen im Islam dasselbe Wesen. Gott erlaubt Satan und seinen Helfern, Zwietracht und Hass unter den Menschen zu säen und sie zum Bösen zu verleiten. Adam war im Garten Eden das erste Opfer. Vor dem Rezitieren der Basmala-Formel, mit der alle Suren außer einer beginnen – »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!« –, wiederholen Muslime die Formel: »Ich nehme Zuflucht zu Allah vor Satan, dem Verfluchten« (Sure 16:98). Iblis/Satan ist im Islam nicht so mächtig und daher nicht so bedeutend wie der Teufel/Satan im Christentum. Manchmal scheint Satan im Christentum eine Supermacht zu sein, die Gott fast ebenbürtig ist, obwohl Gott und Jesus ihn am Ende aller Tage letztlich besiegen werden. Dagegen ist Iblis/Satan im Islam zwar eine lästige Kraft, doch nichts und niemand, auch Satan nicht, kommt Gott auch nur annähernd gleich. Die Vorstellung von einem Satan stammt aus der hebräischen Bibel, in der er selten erwähnt wird und noch nicht die Hauptverkörperung des Bösen darstellt, zu der er zu Lebzeiten Jesu im Judentum wurde. Das Christentum hat diese jüdische Vorstellung von einem Satan übernommen.
In den Himmel oder die Hölle kommen: Vom Leben zum Tod und zur Auferstehung Die Reihenfolge der Ereignisse beim Tod, der Auferstehung und dem Jüngsten Gericht
wurde bereits in frühen islamischen Schriften genau beschrieben. In diesem Abschnitt fasse ich die typische Abfolge der Ereignisse zusammen. Es gibt allerdings auch abweichende Auffassungen über die Reihenfolge und die Details. Im Islam wird der Prozess in zwei Phasen unterteilt: Die erste Phase umfasst den Tod selbst und die Zeit im Grab. Die zweite Phase umfasst das Blasen der Trompete, die allgemeine Auferstehung aller Menschen aus den Gräbern sowie das Jüngste Gericht.
Tod und Grab Die drei monotheistischen Religionen haben den Glauben an ein Ende der Geschichte und der Zeit gemeinsam, an dem alle Menschen auferstehen, die je gelebt haben, dem Gericht unterworfen werden und dann entweder in den Himmel oder die Hölle kommen. Doch die meisten Menschen sterben lange vor dem Tag des Gerichts. Was passiert mit ihnen in der Zwischenzeit? Sind sie einfach tot? Führen sie eine Art Zwischenexistenz im Grab? Haben sie Kontakt zu den Lebenden? Wo die Heiligen Schriften wenig zu sagen haben, geben Überlieferungen spekulative Antworten auf diese Fragen. 1. Die Seele wird im Grab mit dem Körper wiedervereinigt. 2. Im entscheidenden Abschnitt dieser Phase befragen die Engel Munkar und Nakir den Verstorbenen. Der Verstorbene, der inzwischen von seiner Familie begraben wurde, wird aufgefordert, sich aufzusetzen. »Wer ist dein Herr?«, fragen die beiden Engel. Dann: »Wer ist dein Prophet?« und »Welches ist dein heiliges Buch?«. 3. Die Person bleibt bis zum Tag der Auferstehung bewusstlos in dem Grab. Diese Zeitspanne wird als al-barzakh (Sure 23:100) – Barriere oder Schranke – bezeichnet und ähnelt dem Schlaf oder auch Vorstellungen des Fegefeuers. Manche Überlieferungen beschreiben Menschen, die bereits im Himmel oder der Hölle angekommen sind. Einer chronologischen Abfolge, wie bereits beschrieben, wird hierin widersprochen.
Auferstehung und das Jüngste Gericht Das Leben und selbst die Zeit im Grab sind nur ein kurzer Prolog für eine Ewigkeit in Himmel oder Hölle. Am Tag des Gerichts wird Gott über jede Person Gericht halten und sie nach ihren Taten im Leben beurteilen. 1. Die Zeichen des Endes aller Zeiten erscheinen. Zeichen künden das kommende Ende an. Diese Zeichen umfassen die Umkehr der natürlichen Abläufe (Sure 81:1–14): Die Sonne geht im Westen statt im Osten auf, und die moralische Ordnung zerfällt. Nach Zeiten der Aufruhr mit Konflikten zwischen den Kräften des Guten und des Bösen triumphieren Gottes Vertreter über das Böse, und die Welt endet.
Wie bei anderen Religionen sind menschliche Vorstellungskraft und Überlieferungen sehr kreativ, um Lücken in den Informationen über die Ereignisse der »letzten Tage« oder das »Ende der Zeit« zu füllen. Häufig tritt eine spezielle Gestalt, der Antichrist (al-Dadschal, im Koran als »das Tier« bezeichnet – Sure 27:82) auf den Plan. Während seiner Herrschaft bringt er Menschen vom Islam ab. Jesus kehrt zurück, um den Antichrist zu besiegen. Nach einer relativ kurzen Herrschaft gemäß Gottes Willen (wie er sich im Islam ausdrückt) enden Zeit und Geschichte. 2. Die Auferstehung (qiyama, wörtlich Stehen) beginnt. Der Engel Israfil bläst die Trompete, um den Tag der Auferstehung (Sure 69:13–18) anzukünden. Die Welt endet. »Alles auf Erden ist vergänglich; Bestehen aber bleibt das Angesicht deines Herrn«, sagt Sure 55:26–27. Israfil ist der erste Engel, der wiedererscheint, und Mohammed und andere Propheten sind die ersten, die auferstehen (Seele und Körper vereint). Dann folgt die Auferstehung aller anderen. 3. Das Gericht findet statt. Jetzt bekommen diejenigen, die in den Himmel kommen sollen, das Buch mit ihren Taten in die rechte Hand und diejenigen, die in die Hölle kommen sollen, das Buch mit ihren Taten in die linke Hand. Die Taten werden in Waagschalen gelegt. Das Ergebnis bestimmt das Schicksal der Person. Gute Taten wiegen schwerer als böse. 4. Alle gehen über die Brücke, die über das Feuer der Hölle zum Eingang des Himmels führt. Für die Gläubigen ist die Brücke flach und breit, und der Übergang ist leicht. Für Sünder wird die Brücke scharf wie ein Schwert und schmal wie ein Haar. Sie fallen in die Hölle. Mohammed nimmt seine gläubigen Anhänger am anderen Ende der Brücke in Empfang. Doch auch die in die Hölle Gestürzten können durch Gottes Gnade letztlich in den Himmel kommen.
Ungelöste Probleme Eine Frage zieht die nächste nach sich. Der Umriss der Ereignisse am Tag des Gerichts lässt viele wichtige Fragen offen. Was etwa passiert mit Kindern, die so jung sterben, dass sie noch keinen klaren Glauben formulieren konnten? Vermittlung: Vermittlung bezieht sich darauf, dass jemand mit einem außergewöhnlichen Verdienst Gott bittet, die Bestrafung eines Gläubigen zu verringern, die diesem für seine Sünden drohen. Im strengen Sinne fordert die Gerechtigkeit Gottes, dass jeder bekomme, was er verdiene. In diesem Fall wäre Vermittlung natürlich sinnlos. Einige frühe Muslime verneinten daher die Möglichkeit von Vermittlung. Doch von den meisten wird Vermittlung als Manifestation von
Gottes Gnade für möglich gehalten. Mohammed ist der Hauptvermittler. Laut Überlieferung soll Mohammed nach dem Jüngsten Gericht seine Anhänger (Muslime) an der Pforte des Himmels in Empfang nehmen. Kinder: Was passiert mit Kindern, die jung sterben, bevor sie den Glauben verstehen und praktizieren können? Im islamischen Volksglauben bildete sich die Überzeugung heraus, alle Menschen würden mit einem natürlichen Glauben geboren. Bei Kindern reiche dieser natürliche Glauben aus, um sie in den Himmel zu bringen. Auf ewig in der Hölle schmoren: Logik und Gerechtigkeit scheinen nahezulegen, dass jemand für alle Ewigkeit an dem Ort bleiben werde, an den er am Tag des Gerichts geschickt wird. Doch im Islam triumphiert die Gnade über das Gericht. Dem allgemeinen Glauben zufolge kommen alle trotz schwerer Sünden irgendwann in den Himmel (ausgenommen vielleicht jene, die Gott verleugneten).
Bilder von Himmel und Hölle Zur Befriedigung der Neugier haben Religionen oft Schilderungen von Himmel und Hölle hervorgebracht. Detaillierte Beschreibungen der Hölle und ihrer Qualen finden sich im 2. Jahrhundert in der (christlichen) Apokalypse des Petrus, in Dantes Inferno und Paradies (14. Jahrhundert) und in Swedenborgs Himmel und Hölle (18. Jahrhundert), um nur einige Beispiele zu nennen. In buddhistischen Schriften finden sich gleichermaßen grafische Beschreibungen.
Die Hölle und ihre Qualen Seltsamerweise ist der menschliche Geist oft kreativer, sich die schlimmsten Dinge, wie etwa die Strafen der Hölle, auszumalen, als Bilder der größtmöglichen Freuden zu schaffen, die von den Seelen im Himmel genossen werden. Während der Koran das Wesen der Hölle lediglich als »das Feuer« (al-nar) bezeichnet, werden die Überlieferungen konkreter und ergötzen sich an detaillierten Beschreibungen der Strafen, welche die Seelen auf den verschiedenen Ebenen der Hölle erwarten. Über Sünder, die in die Hölle kommen sollen, sagt Sure 15:43–44: »Und siehe, die Hölle ist ihnen allen verheißen. Sie hat sieben Tore, und jedes Tor ist für einen Teil von ihnen.« Danach hat die Hölle des Islam sieben Grade, Ebenen oder Kreise. Mit jeder Ebene werden die Strafen schlimmer; denn je schwerwiegender seine Sünden waren, desto tiefer kommt der Sünder in die Hölle. Gläubige Muslime befinden sich auf der obersten Ebene, ungläubige Heiden auf den beiden Ebenen darunter, und Hypokriten (Heuchler, die vorgaben, Mohammed zu unterstützen, insgeheim aber gegen ihn arbeiteten) befinden sich auf der untersten Ebene (siehe Sure 4:145). Die Muslime auf der obersten Ebene werden letztlich durch die Gnade Gottes erlöst, aber die Hypokriten werden niemals göttliche Gnade empfangen. Die Pforten der Hölle werden von Engeln bewacht.
Das Feuer ist der häufigste Name für die Hölle im Koran und ihr wesentliches Merkmal. Es werden auch noch andere Bezeichnungen verwendet. Dschahannam ist nach »das Feuer« am gebräuchlichsten. Gehenna ist ursprünglich ein Tal bei Jerusalem, dessen Name in der jüdischen Überlieferung für die Hölle verwendet wurde. Aus der tiefsten Ebene der Hölle wächst der Zaqqum-Baum (Sure 37:62–68; 44:43); seine Früchte gleichen Satansköpfen. Sünder müssen seine Früchte essen, die dann wie geschmolzenes Erz in ihren Bäuchen brodeln (Sure 44:45).
Der Himmel und seine Freuden Genug der Düsternis. Diese Beschreibungen haben nicht den Zweck, sich an den Qualen der Leidenden zu weiden, sondern die Lebenden zu veranlassen, ihr Leben so zu ändern, dass sie in den Himmel kommen. Denken Sie daran, dass Gottes Gnade größer als Sein Zorn ist. In Sure 6:160 sagt der Koran, dass gute Taten zehnmal mehr als böse Taten wiegen. Gott möchte, dass alle in den Himmel kommen, doch letztlich hängt alles von der Person selbst ab. Der Garten (al-dschanna) ist im Koran der gebräuchlichste Name für den Himmel. Dies überrascht bei einer Religion nicht, die in einer rauen Wüstenregion entstanden ist, in der Regen und Vegetation seltene und kostbare Dinge sind. Kunstvolle Gärten zählen zu den Berühmtheiten der islamischen Architektur. Sie sollen den Garten des Paradieses widerspiegeln. Das Wort Garten bezieht sich auch auf den Garten Eden, in dem das erste menschliche Paar lebte. Im Koran wird auch der Name Paradies (firdaws) verwendet, ein persisches Wort, mit dem ursprünglich ein Garten oder Park bezeichnet wurde. Lange vor dem Islam verwendete die griechische Übersetzung der Bibel dieses persische Wort für den Garten Eden. Von dort ging das Wort Paradies in andere westliche Sprachen ein. Wegen Sure 23:17 glauben Muslime an einen Himmel mit sieben Ebenen oder Sphären – die sieben Himmel, durch die Mohammed auf seiner nächtlichen Reise aufgestiegen ist. Spätere Überlieferungen sprechen von einem besonderen Aufbau der Gärten und schildern ihre Bewohner. So wie aus dem Grund der Hölle ein Baum herauswächst, wächst auch im Himmel unter dem Thron Gottes ein anderer kosmischer Baum. Wasser und Fruchtbäume gibt es dort im Überfluss. Sure 47:15 erwähnt vier Ströme von Wein, Milch, Honig und Wasser, die durch die Himmel fließen. Im Gegensatz zu den Qualen der Hölle genießen die Bewohner der Himmel ein heiteres Dasein ohne Mangel und Sorgen. Köstliche Nahrung und Getränke sind im Überfluss vorhanden – darunter auch Wein, der nicht betrunken macht. Die Menschen sind in Seide gekleidet und ruhen auf Sofas, während sie von männlichen Dienern und jungen, jungfräulichen Mädchen bedient werden. Das Klima ist freundlich, Schatten ist reichlich vorhanden. Die Bewohner sind für immer jung und gesund. Doch ihre größte Freude besteht darin, das Antlitz Gottes zu schauen
(Sure 75:22–23).
Frauen und Huris in Himmel und Hölle Im August 2001 gab es eine kleinere Mediensensation. Ein Anwerber von Selbstmordattentätern der Hamas (einer radikalen palästinensischen Gruppe) sagte in einem Interview in einer Nachrichtensendung des amerikanischen Fernsehsenders CBS, er würde jungen Rekruten erzählen, Gott habe Märtyrern wie ihnen 70 Jungfrauen im Paradies versprochen. Die Sendung löste eine beträchtliche Kontroverse aus. Einige behaupteten, der Anwerber sei falsch zitiert worden. Andere sagten, dieser Einwand sei irrelevant und der Inhalt sei bis auf die Tatsache korrekt, dass nicht nur Märtyrer, sondern alle Männer im Paradies 70 oder 72 Jungfrauen (Huris) bekämen. Dieses Ereignis warf in der Öffentlichkeit wieder einmal die Frage nach der Stellung der Frau im Islam auf. Viele im Westen kannten das Bild von den hübschen Jungfrauen, die im Paradies die sexuellen Begierden der Männer befriedigen, und westliche Feministen verwiesen darauf, dass ähnliche Verheißungen für Frauen im Paradies fehlten. Die folgende Liste enthält einige relevante Informationen, die Ihnen helfen sollen, sich ein Urteil über dieses Thema zu bilden. In mehreren Passagen sagt der Koran unzweideutig, dass Männer und Frauen beim Jüngsten Gericht gleich behandelt, anhand ihrer Taten beurteilt und in den Himmel oder die Hölle geschickt werden. Frauen rechtschaffener Männer wie Lot und Noah werden wegen ihres Unglaubens in die Hölle verdammt. Die Frau eines Ungläubigen – die Frau des Pharao – kommt in den Himmel, weil sie Moses rettete. Nichts im Koran oder in späteren Überlieferungen unterstützt die Anschuldigung, Frauen hätten laut Koran keine Seele. Der Koran bezieht sich in vier Passagen ausdrücklich auf die Huris (hur al-'ayn) – Sure 52:20; 56:22; 55:72; und 44:54 in der wahrscheinlich chronologischen Reihenfolge. Das Wort hur bezieht sich auf das Weiße im Auge, und wurde im Arabischen ursprünglich auf Gazellen angewendet – deren große schwarze Augen durch eine weiße Iris abgesetzt sind. Huris sind also Frauen mit großen, durchdringenden schwarzen Augen und daraus abgeleitet mit einer hellen (weißen) Haut. Im Koran sind Huris Jungfrauen mit vollen Brüsten, die noch nie von einem Mann oder einem Dschinn berührt worden sind. Sie wohnen in Pavillons und verhalten sich zurückhaltend. Diese Beschreibungen des Paradieses aus der mekkanischen Zeit schienen sich hauptsächlich an Männer zu richten, um deutlich zu machen, dass das Paradies ein erstrebenswerterer Ort sei als alle Visionen, die man von einem Leben auf Erden haben könnte. Der Koran und spätere Überlieferungen haben viel weniger darüber zu sagen, was Frauen im Paradies erwartet.
Spätere Überlieferungen erweitern die Beschreibung der Huris erheblich. Sie sind ewige Jungfrauen mit durchscheinendem Fleisch; auf einer ihrer Brüste steht der Name ihres menschlichen Ehemanns, auf der anderen der Name Gottes. Sie sind mit Edelsteinen geschmückt, und ihr Gesicht ist wie der aufgehende Mond. Sie leben in Pavillons mit 70 Betten und werden von 70.000 ehrbaren Mädchen bedient. Sie werden nicht schwanger und haben keine Periode. Männer haben (je nach Text) ihre menschlichen Ehefrauen und eine Huri oder sogar 72 Huris als Gefährtin. Gleichzeitig erfahren wir, dass die menschlichen Ehefrauen den Huris weit überlegen sind, weil sie Gläubige sind, die die rituellen Pflichten des Islam beachtet haben. Ich bezweifle, dass muslimische Theologen die Idee gutheißen würden, junge Männer mit der Verheißung sexueller Freuden anzulocken, um sie zu Selbstmordbombern auszubilden. Märtyrerschaft muss in Unterwerfung unter Gott erfolgen und darf nicht der Hoffnung auf Belohnung entspringen. Im Islam gibt es keine klare Vorstellung eines Limbo – eines Ortes, an dem diejenigen landen, die weder den Himmel noch die Hölle verdienen, doch es existiert das barzakh, das als ein solches interpretiert werden kann.
Teil II
Mohammed: Der Mann, das Buch und das Gesetz
IN DIESEM TEIL … In diesem Teil erzähle ich die Geschichte Mohammeds nach und beschreibe seine Rolle im Alltag der Muslime. Weil Mohammeds einziges Wunder in der Übermittlung der heiligen Schrift des Islam – dem Koran – bestand, lernen Sie Ursprung, Aufbau, Stil, Inhalt und Interpretation des Koran kennen. Sie erfahren auch, dass die mündliche Vergegenwärtigung des Koran im muslimischen Glauben eine sehr wichtige Rolle spielt. Wie das Judentum betont der Islam, wie wichtig es sei, nach Gottes offenbartem Gesetz zu leben. Der Koran sowie die Überlieferungen der Taten und Aussagen Mohammeds sind die Hauptquellen für dieses Gesetz. Im letzten Kapitel dieses Teils wird beschrieben, wie Muslime das Wissen über Gottes Willen aus dem Koran und anderen Quellen ableiten.
Kapitel 6
Der Prophet: Mohammed IN DIESEM KAPITEL Die Geschichte von Mohammeds Leben Die Rolle Mohammeds aus einer theologischen Perspektive Die persönliche Beziehung zu Mohammed im Alltag der Muslime Der Wert der Quellen für das Leben Mohammeds
Einige Religionen haben einen einzigen Gründer. Siddhartha Gautama Buddha, Konfuzius, Jesus beziehungsweise Paulus und Mohammed sind die Gründer des Buddhismus, des Konfuzianismus, des Christentums beziehungsweise des Islam. Andere Religionen wie der Hinduismus haben keine zentrale Person, die als ihr Gründer betrachtet wird, oder es gibt mehrere Personen, die gemeinsam als Gründer gelten (Abraham und Moses im Judentum). Selbst der Taoismus Chinas hat einen Gründer, Lao Tse, obwohl viele Gelehrte zweifeln, ob Lao Tse (der Name bedeutet »alter Mann«) eine historische Gestalt oder wirklich der Gründer des Taoismus ist. Religionen mit einem einzigen Gründer legen besonderen Wert auf die Geschichte ihrer Gründer. Die Geschichte des Gründers ist die »heilige Geschichte« der Religion. Gläubige kennen die traditionelle Geschichte des Gründers. Außenseiter, welche die Religion verstehen wollen, müssen auch die Geschichte des Gründers und seine Bedeutung für die Religion kennen, und lesen normalerweise seine Biografie, um zu verstehen, warum die Anhänger der Religion glauben und die Dinge tun, welche die Religion ihnen auferlegt. Für Gläubige ist der Gründer größte Autorität. In vielen Religionen hat der Gründer die direkteste Verbindung zu Gott oder dem Göttlichen und dem Weg zur Erlösung und ist das maßgebende Vorbild. Er sagt den Gläubigen nicht nur, was sie glauben sollen, sondern lebt ihnen auch vor, was er lehrt. Die Geschichte des Gründers kann kurz nach seinem Tod, aber auch erst sehr viel später erzählt werden. Sie kann sein ganzes Leben oder nur gewisse Ausschnitte davon umfassen. Die Geschichte des Gründers ist nicht dasselbe wie eine moderne Biografie. Die Geschichte, welche die meisten Gläubigen kennen, kann im Wesentlichen mit der Version der Gelehrten übereinstimmen, aber auch erheblich von den wissenschaftlichen Rekonstruktionen abweichen. Die meisten Muslime kümmern sich, wie Angehörige anderer Religionen auch, mehr um
die traditionelle Geschichte ihres Gründers als um wissenschaftliche Rekonstruktionen. In diesem Kapitel beschreibe ich vor meiner Zusammenfassung von Mohammeds Leben zunächst die Welt, in die er hineingeboren wurde. Nachdem ich die traditionelle Geschichte zusammengefasst habe, beschreibe ich die historischen Quellen für das Leben Mohammeds und die Bewertung dieser Quellen durch moderne Gelehrte. Muslime setzen hinter den Namen Mohammeds immer die Formel »Friede und Segen sei mit ihm«. Diese Praxis wird in diesem Buch nicht befolgt.
Die Bühne vorbereiten: Arabien vor Mohammed Auch wenn nur 20 Prozent der Muslime Araber sind, ist der Islam kulturell und historisch eng mit den Arabern verbunden. Das wichtigste Merkmal, das alle Araber verbindet, ist ihre gemeinsame Sprache, das Arabische. Arabisch ist eine semitische Sprache. Sie gehört also zu derselben Sprachenfamilie wie das Hebräische. Arabien ist das Ursprungsland der Araber. Lange vor Mohammed hatten sich die Araber über Arabien hinaus in den Irak, nach Palästina und nach Syrien ausgebreitet. In dem Jahrhundert nach Mohammeds Tod drangen Araber im Zuge der muslimischen Eroberungen in weitere Gebiete ein – insbesondere in Nordafrika. Arabien ist die Halbinsel, die heute hauptsächlich zu Saudi-Arabien gehört (siehe Abbildung 6.1). Diese große Halbinsel wird im Westen durch das Rote Meer und Ägypten, im Norden durch Syrien, Palästina und Jordanien und im Osten durch den modernen Irak und den Persischen Golf begrenzt. Arabien gehört zum sogenannten Mittleren Osten. (Je nach Kontext und Geschichtsepoche kann dieses Gebiet, das sich von Ägypten bis zum Iran erstreckt und Arabien einschließt, auch als Naher Osten bezeichnet werden.) Das Leben in Arabien war hart. Ein großer Teil der Halbinsel war (und ist) Wüste, die nur eine kleine Bevölkerung ernährte. Vor Entdeckung des Öls im 20. Jahrhundert verfügte Arabien kaum über Bodenschätze. Vor dem Aufkommen des Islam war Arabien nie in einem einzigen Staat vereinigt gewesen. Ein zentralisierter Staat mit einer entwickelten, komplexen Zivilisation existierte nur im Jemen, wo der erste jemenitische Staat etwa 1.000 Jahre v. Chr. gegründet worden war. Die großen Reiche in diesem Teil der Welt waren zu Zeiten Mohammeds das Byzantinische oder Oströmische Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel (das moderne Istanbul) und das persische Reich (SassanidenReich), das den Iran und eine großen Teil des Irak umfasste. Diese beiden großen Reiche lagen fast ständig im Krieg miteinander. Beide beeinflussten Arabien direkt und indirekt, versuchten aber nicht, die ganze Halbinsel zu erobern und direkt zu beherrschen.
Abbildung 6.1: Arabien zu Zeiten Mohammeds
Zwei bedeutende Städte Eine der beiden Städte, die in Mohammeds Leben eine Schlüsselrolle spielten, Mekka, liegt im Inland an der westlichen Küste Arabiens in einem Gebiet, das immer noch als der Hidschaz bezeichnet wird. Mekkas Wurzeln reichen bis 400 n. Chr. zurück. Es zählte zu den wichtigsten heiligen Stätten Arabiens, weil es einen heiligen Pilgerschrein, die Kaaba (siehe Kapitel 9), beherbergt. Mekka war zu Zeiten Mohammeds eine blühende Stadt. Seine Wirtschaft basierte auf dem Handel. Die Handelsrouten durch Mekka verbanden den Jemen mit Damaskus in Syrien. Jedes Jahr brachen zwei Handelskarawanen auf – eine nach Süden, die andere nach Norden. Wie beim Handel quer durch die Wüste Sahara in Afrika wurden die Handelsrouten durch Arabien durch Kamele ermöglicht, die lange ohne Wasser auskommen und beträchtliche Lasten tragen können. Verträge, ein Handelsmarkt in Mekka und Waffenstillstand während der vier Monate des Marktes und die Wallfahrt (zur Kaaba) förderten den Handel. Mehrere Gelehrte halten dieses Bild einer blühenden kommerziellen Stadt, die im internationalen Handel eine größere Rolle spielte,
allerdings für übertrieben. Dagegen war Medina sicherlich eine wohlhabende agrarwirtschaftliche Gemeinde mit fruchtbaren Feldern und einer sicheren Wasserversorgung – Faktoren, die in Mekka fehlten. Medina liegt etwa 425 Kilometer nördlich von Mekka an der Straße nach Palästina und Syrien. Sein ursprünglicher Name war Yathrib. Später wurde der Ort als Medina bezeichnet (was Stadt bedeutet), abgekürzt von »Stadt des Propheten« (madinat al-nabi). Ihre Hauptfeldfrucht sind Datteln. Die Siedlung bestand aus mehreren unabhängigen gehöftartigen Komplexen, die befestigt waren, um in Kriegszeiten Zuflucht bieten zu können. In der Ansiedlung spielten mehrere jüdische Klans eine wichtige Rolle; zu Zeiten Mohammeds wurde sie von zwei arabischen Stämmen dominiert.
Außerhalb der Städte: Die Beduinen Außerhalb der Handelsstädte und Bauerndörfer lebten Wüstenhirten (Beduinen), die keinen festen, dauerhaften Wohnort hatten. Das Wort »Araber« bezeichnete ursprünglich nur die Beduinen. Auch wenn es manchmal Konflikte zwischen den Beduinen und den Dorfbewohnern gab, hingen doch beide voneinander ab. Im Allgemeinen zählten unter den Beduinen Werte wie Solidarität, Stammestreue, Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Gastfreundschaft und Mut im Krieg und in der Liebe; doch in Handelsstädten wie Mekka galten die traditionellen Werte der Beduinen weniger, wenn es darum ging, Reichtum zu erlangen. Die zentrale soziale Einheit der arabischen Gesellschaft sowohl in den Siedlungen als auch bei den Nomaden war der Klan, der aus mehreren Großfamilien bestand. Mitglieder eines Klans beriefen sich auf gemeinsame, mehrere Generationen in die Vergangenheit reichende Vorfahren. Die Älteren der führenden Familien wählten das Klanoberhaupt – den Scheich –, der durch gemeinsamen Beschluss und Beratung locker regierte. Oberhalb der Klans gab es Stammesverbände. Wüstenklans überfielen sich auf Beutezügen (razzias) gegenseitig oder raubten Dörfer und Karawanen aus. Sie wollten dabei ihre Gegner nicht töten, sondern Sklaven, Frauen, Kamele, Pferde und andere Beute gewinnen. Natürlich war es auch wichtig, die eigene Ehre und die Ehre der Frauen des eigenen Klans zu verteidigen.
Religiöse Praktiken der Araber Der Islam sagt, Gott habe Mohammed durch Engel Gabriel 610 zum Propheten berufen. Diese Berufung markiert den Beginn des Islam, der die Zeit vor Mohammed als alDschahiliyya – die Zeit der Unwissenheit – bezeichnet. Die meisten Araber waren Polytheisten. Der Kaaba-Schrein in Mekka (siehe Kapitel 9) enthielt Statuen von 360 Göttern einschließlich eines Hauptgottes, Hubal. Allah war ein ferner Gott, der nur in Krisenzeiten angerufen wurde. Im Alltag waren drei Göttinnen wichtiger, die von den vorislamischen Arabern normalerweise als Allahs Töchter betrachtet wurden: al-Lat,
Manat und al-Uzza; siehe Kapitel 3). Diverse Geister bewohnten Höhlen, Steine, Flüsse und Bäume. Dschinn (siehe Kapitel 5) gab es überall. Die polytheistischen Araber erwarteten kein Leben nach dem Tode; stattdessen herrschte das »Schicksal«, das wichtiger als die Götter war und letztlich alles auslöschte. Laut islamischer Überlieferung suchten Einzelne vor der Zeit Mohammeds eine religiöse Alternative zum Polytheismus und entwickelten die Vorstellung von einem einzigen Gott. Muslime sagten, sie versuchten den ursprünglichen Monotheismus Abrahams wiederherzustellen. Die islamische Überlieferung bezeichnet solche Monotheisten als hanif. Vor seiner Berufung soll Mohammed ein hanif gewesen sein. Wie bei Mekka, der vorislamischen Dichtung und dem Leben Mohammeds im Allgemeinen stammen die Zeugnisse dafür aus dem Koran und den islamischen Überlieferungen. Natürlich fragen nichtmuslimische Historiker wie bei allen historischen Zeugnissen, wie genau sie sind. Auch Judentum und Christentum wurden praktiziert. In Medina, im Jemen und an anderen weit verteilten Orten lebten einige jüdische Klans. Die Christen siedelten hauptsächlich an der geografischen Peripherie (jenseits des Roten Meers in Äthiopien lebten monophysitische Christen; in den nördlichen Grenzregionen überwogen nestorianische Christen). Karawanenhändler aus Mekka begegneten diesen Christen. Keine diese christlichen Gruppen vertrat jedoch die orthodoxe trinitarische Auffassung (Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist). Die offizielle Religion des Sassaniden-Staates (der Perser) war der Zoroastrismus. Er war zusammen mit mehreren aus ihm hervorgegangenen Sekten im heutigen Iran und Teilen des östlichen Irak weit verbreitet. Der Zoroastrismus ist eine Form des ethischen Dualismus, in dem ein unerschaffener Gott des Guten ständig in Konflikt mit einem Gott des Bösen steht. Eine kleine Gruppe von Zoroastrinern, die sogenannten Parsen, hat sich bis heute in einigen Ländern erhalten.
Die Geschichte Mohammeds Vor diesem religiösen und historischen Hintergrund fasse ich nun das Leben Mohammeds zusammen. Ich werde hier nicht versuchen, den »historischen Mohammed« zu rekonstruieren, sondern Ihnen helfen, Mohammed wie die Muslime zu sehen und seine Bedeutung für die Muslime zu verstehen.
Kindheit und Jugend Mohammed gehörte zu dem vorherrschenden Stamm in Mekka, den Kuraischiten. Die heute ausgestorbenen Kuraischiten leiteten ihre Herkunft über mehrere Generationen von ihrem Gründer Fihr ab. Vor Fihr geht ihr Stammbaum auf Ismael, den Sohn Abrahams, und dann auf Adam, den ersten Menschen zurück. Einige Generationen nach Fihr siedelten sich die Kuraischiten in Mekka an. Mohammeds Klan wurde nach seinem Urgroßvater Haschim benannt. Die Haschimiten zählten zu den weniger wichtigen Klans von Mekka. Doch weil das Klanoberhaupt Hüter der Kaaba war, standen die Haschimiten
gleichwohl in hohem Ansehen. Mohammed wurde etwa 570 n. Chr. im »Jahr des Elefanten« geboren. Laut Überlieferung stand vor Mohammeds Geburt eine Armee, die von dem abessinischen Statthalter des Jemen angeführt wurde, kurz davor, Mekka zu erobern. Der Jemen wurde damals von Abessinien beherrscht. Als sich die Armee der Stadt näherte, soll sich der Leitelefant der Armee geweigert haben, weiter voranzugehen, und sich als Zeichen der Verehrung in Richtung Mekka niedergebeugt haben. Darüber hinaus waren die Jemeniten offenbar von einer von Insekten übertragenen Seuche dezimiert worden (Sure 105). Muslime glauben, Gott habe Mekka gerettet, weil dort Mohammeds Geburt bevorstand. Weil Mohammeds Vater Abd Allah vor seiner Geburt auf einer Handelsreise starb, wurde Mohammed von seiner Mutter Amina und seinem Großvater Abd al-Mutalib, dem Klanoberhaupt, erzogen. Einem Brauch der sesshaften Araber Mekkas folgend, übergab Amina den Säugling einer Amme, einer Beduinenfrau namens Halima, zur Betreuung. Die Anwohner Mekkas glaubten, die Beduinen erhielten die reinen, arabischen Werte und ein Kind würde von einem frühen Kontakt mit Leuten profitieren, die diesen Werten entsprechend lebten. Eines Tages sollen zwei Männer zu Mohammed gekommen sein und aus seinem Herzen einen schwarzen Fleck entfernt haben. Laut Überlieferung waren diese beiden Männer die Engel Gabriel und Michael. Der schwarze Fleck repräsentiert in dieser wundersamen Erzählung die menschliche Neigung zu sündigen. So soll versinnbildlicht werden, dass Mohammed gegen die Sünde gefeit ist. Allerdings existieren im Koran Passagen, in denen Mohammed für sein Verhalten von Gott gerügt wird, was ihm die Unfehlbarkeit abspricht (Sure 80). Weiterhin wird erwähnt, dass Mohammed lediglich ein Mensch wie jeder andere ist (Q 18:110). Danach brachte Halima Mohammed zu seiner Mutter zurück. Als Mohammed sechs Jahre alt war, starb seine Mutter Amina; zwei Jahre später starb auch sein Großvater. Sein Onkel Abu Talib, der den Großvater als Klanoberhaupt beerbt hatte, wurde Mohammeds Vormund und Beschützer. Mohammeds Erfahrung als Waise – er hatte Vater, Mutter und Großvater verloren – kommt in den frühen koranischen Offenbarungen in der Sorge für die Armen und Schwachen zum Ausdruck, wie etwa in Sure 93:6–10: Fand Er dich nicht als Waise und nahm dich auf? Und fand Er dich nicht verwirrt und leitete dich? Und fand Er dich nicht arm und machte dich reich? Daher, was die Waise anlangt, benachteilige sie nicht! Und was den Bittsteller anlangt, weise ihn nicht ab! Als er einmal seinen Onkel auf einer Handelsreise begleitete, machte die Karawane in
Basra im Irak halt. Bahira, ein dort ansässiger christlicher Mönch, sah ein Licht über der Karawane. Er interpretierte dies als Zeichen dafür, der lang erwartete Prophet sei unter den Reisenden. Als der junge Mohammed endlich zu ihm gebracht wurde, untersuchte Bahira ihn, ob er »das Zeichen der Prophetie« auf seinem Rücken zwischen den Schultern habe, und erkannte in ihm den Propheten, der in den heiligen Büchern in Bahiras Besitz verheißen wurde. Für Muslime präsentiert dies Mohammed als Erfüllung christlicher Erwartungen. Weil sein Vater vor seiner Geburt gestorben war, erhielt Mohammed kein Erbe. Khadidscha, eine wohlhabende, etwa 15 Jahre ältere Witwe, heuerte Mohammed als Oberaufseher über ihr Handelsunternehmen an. Der junge Mann beeindruckte sie so sehr, dass sie ihm etwa 595 einen Heiratsantrag machte. Bis zu ihrem Tod war Khadidscha Mohammeds einzige Frau. Sie gebar ihm vier Töchter und einen oder mehrere schon bei der Geburt gestorbene Söhne. Von den Kindern überlebte nur Fatima Mutter und Vater.
Die Zusammenrufung der Einwohner von Mekka Nach muslimischer Auffassung hat ein Prophet wie Mohammed zwei Funktionen: Er soll den Menschen Gottes Wort verkünden und er soll sie ermahnen, allein Gott zu dienen und Gerechtigkeit zu üben, und sie an die Bestrafung erinnern, die ihnen andernfalls am Tag des Gerichts droht. Laut Überlieferung zog sich Mohammed, mit dem lokalen Polytheismus unzufrieden, von Zeit zu Zeit zur religiösen Meditation in die Einsamkeit einer Höhle des Berges Hira außerhalb von Mekka zurück. Dort erschien Mohammed 610, als er 40 Jahre alt war, an einem ungeraden Tag der letzten zehn Tage des Monats Ramadan (die Nacht des Schicksals – laylat al-qadr) der Engel Gabriel und erklärte ihn zum »Gesandten Gottes«. Gabriel wies Mohammed an, zu rezitieren. Anfänglich antwortete Mohammed: »Ich kann nicht rezitieren«, oder »Was soll ich rezitieren?«. Gabriel rüttelte Mohammed, sodass der sich schließlich beugte und sich zum Sprachrohr Gottes machen ließ. Nach dieser Erfahrung hatte Mohammed Angst. War er verrückt, oder war er wie Dichter und Wahrsager von einem Dschinn besessen (siehe Kapitel 5)? Einige Leute hielten Mohammed für übergeschnappt, als er später mit seiner Botschaft an die Öffentlichkeit ging. Doch er bestand darauf, weder Dichter noch Wahrsager zu sein. Seine Frau Khadidscha tröstete ihn und schlug vor, zusammen ihren Cousin Waraqa Ibn Nawfal zu konsultieren, der Christ geworden war. Waraqa bestätigte anhand der Schrift, dass Mohammed der erwartete Prophet sei, der den Arabern, die noch nie eine eigene Schrift empfangen hatten, das Wort Gottes bringen werde. Welche Verse aus dem Koran wurden Mohammed als erste überliefert? Es waren die Anfangsverse (1–5) von Sure 96: Rezitiere! Im Namen deines Herren, Der erschuf –
Erschuf den Menschen aus einem Blutklumpen. Lies! Denn dein Herr ist gütig. Der durch die (Schreib-)Feder gelehrt hat – Den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste. Mohammed machte sich Sorgen, als einige Jahre ohne weitere Offenbarungen vergingen. In Sure 93:3–4 versicherte Gott Mohammed: »Dein Herr hat dich nicht verlassen und Er verabscheut dich nicht! Und wahrlich, das Jenseits ist besser für dich als das Diesseits.« Bis zu seinem Ableben empfing Mohammed dann immer wieder Offenbarungen, deren Zusammenstellung den Koran bildet. Laut muslimischer Überlieferung war Mohammed Analphabet und konnte deshalb den Koran nicht selbst schreiben. Anfangs beschränkte Mohammed seine Mission auf seine engsten Bekannten. Nachdem Khadidscha akzeptiert hatte, dass Gott Mohammed zu Seinem Propheten berufen hatte, wurden auch sein Sklave Zayd, sein Cousin Ali (der Sohn seines Onkels und Beschützers Abu-Talib) sowie einige Freunde (wie Abu Bakr) ebenfalls Muslime und erkannten Mohammed als Gottes Propheten an. Einige Jahre lang übte die kleine Gruppe der Muslime ihren neuen Glauben in aller Stille aus, einschließlich der täglichen Morgengebete. Dann wies Gott Mohammed an, die Botschaft des Islam öffentlich zu verkünden. Abu Bakr, Mohammeds Nachfolger (Kalif), war sein erster wichtiger Konvertit außerhalb des Haschim-Klans. Die meisten anderen Konvertiten waren junge Leute sowie einige Erwachsene aus weniger einflussreichen Klans. Die meisten Einwohner Mekkas akzeptierten die Botschaft Mohammeds jedoch nicht. Da sie nicht an ein Leben nach dem Tode glaubten, hatten sie keinen Grund, die Drohung der ewigen Verdammung zu fürchten, die Mohammed verkündete. Mohammed verwies demgegenüber auf die Zeichen Gottes in der Schöpfung.
Darstellungen von Mohammed Aus der westlichen, sowohl der »großen« als auch der volkstümlichen Kunst haben Christen und Juden oft Bilder vom Aussehen Jesu. Dasselbe gilt für Buddhisten und Konfuzianer. Es gibt jedoch fast keine antiken Quellen, auf denen diese Bilder basieren. Dagegen stellen sunnitische muslimische Künstler Mohammed kaum auf Bildern noch in Statuen dar. Eine Ausnahme bilden einige persische Miniaturmalereien, auf denen Mohammeds Gesicht dargestellt ist. Detaillierte Beschreibungen von Mohammeds Erscheinung gleichen das Fehlen von Bildern aus. Die folgende zusammenfassende Beschreibung basiert auf mehreren Hadithen über Mohammed. Sie wurde von al-Tirmidhi (824–892) in seinem Shama'il zusammengetragen. Mohammed war etwas größer als der Durchschnitt. Er hatte breite Schultern, und sein dichtes Haar reichte bis an seine Ohrläppchen. Er war stark gebaut und hatte einen großen Kopf. Sein Gesicht war oval und seine Hautfarbe war weder hell noch dunkel. Sein Gesicht leuchtete heller als der volle Mond. Er hatte lange Augenlider und auf dem Nasenrücken befand sich eine dicke Ader, die anschwoll, wenn er verärgert war. Er hatte dunkle, schwarze Augen und einen dichten Bart. Seine Zähne waren strahlend weiß. Das Siegel der Prophetenschaft (das der Mönch Bahira erkannt hatte) befand sich zwischen seinen Schultern. Mohammed lehnte sich beim Gehen nach vorn. Im Gegensatz zu zahlreichen Filmen über Jesus wurde nur ein Spielfilm über Mohammed gedreht,
Mohammed – Der Gesandte Gottes (1977). Wie dreht man einen Film über jemanden, ohne ihn auf der Leinwand darzustellen? In einigen Szenen befindet sich Mohammed gerade außerhalb des Blickwinkels der Kamera. In anderen steht er unsichtbar hinter der Linse der Kamera. Außerdem kann man viel über eine Person aussagen, indem man sich auf wichtige Figuren konzentriert.
Der Widerstand der Einheimischen Als Mohammed immer mehr Söhne und Töchter der Mekkaner zum Islam bekehrte, wuchs der Widerstand der herrschenden Klasse. In einer Gesellschaft, in der Familie und Klan alles bedeuteten, verursachte Mohammeds Mission Risse innerhalb von Familien. Mohammed betonte nun stärker die alleinige Verehrung des einzigen Gottes (Sure 112; siehe Kapitel 3 über die Episode der Satanischen Verse). Zwar wurde Mohammed noch von seinem Onkel Abu-Talib beschützt, aber viele Konvertiten fanden keine derartige Unterstützung, und ihr Festhalten am Islam brachte sie (wie den schwarzen Sklaven Bilal) in Gefahr. Etwa 615 sandte Mohammed über 80 muslimische Männer und ihre Familien nach Äthiopien, dessen christlicher Herrscher ihnen Zuflucht gewährte (siehe Kapitel 4). Kurz danach konvertierten Mohammeds Onkel Hamza, einer seiner stärksten Gegner, und Umar (der künftige zweite Kalif). Besorgt über diese Konversionen erzwangen die Hauptklans der Kuraischiten etwa von 616 bis 618 einen Boykott des Haschim-Klans. 619 nahm Mohammeds Situation eine entscheidende Wende zum Schlimmeren, als sowohl seine Frau Khadidscha als auch sein Onkel und Beschützer Abu Talib starben. Abu Lahab, ein anderer Onkel und das neue Klanoberhaupt, stellte sich gegen Mohammed (siehe Sure 111). Mohammeds nächtliche Reise nach Jerusalem (isra) und seine Himmelsreise (miradsch) fanden etwa 620 statt (siehe Kapitel 9 und 13). Sure 17:1 bezieht sich auf dieses Ereignis. Der Engel Gabriel kam in der Nacht und setzte Mohammed auf ein geflügeltes Wesen namens Buraq, der ihn nach Jerusalem trug. Mohammed band Buraq an der Wand des antiken jüdischen Tempelbergs fest und stieg dann von der Stelle, an der einst Abraham fast seinen Sohn geopfert und der jüdische Tempel gestanden hatte, durch die Himmel auf. Nachdem Gabriel Mohammed die Qualen der Hölle gezeigt hatte, führte er ihn durch die sieben Himmel, die jeweils von einem Engel bewacht wurden. In jedem Himmel traf Mohammed andere Propheten wie Adam, Moses und Jesus. Schließlich konnte Gabriel unter dem Thron Gottes nicht weitergehen, und Mohammed setzte seinen Weg allein bis in die Gegenwart Gottes fort. Nach seiner Rückkehr zur Erde brachte Buraq ihn in derselben Nacht zurück in sein Bett in Mekka. 620 traf Mohammed sechs Männer, die von der Stadt Yathrib (dem späteren Medina) nach Mekka gepilgert waren. Der Konflikt zwischen den beiden arabischen Stämmen der Stadt (Yathrib) bedrohte das wirtschaftliche Wohlergehen dieser Wüstensiedlung. Sie suchten einen Schlichter, um den Frieden in ihrer Gemeinschaft zu erhalten, und hatten von
Mohammeds Vertrauenswürdigkeit gehört. Tatsächlich hatte Mohammeds Ruf der Ehrlichkeit ihm den Beinamen al-Amin – der Vertrauenswürdige – eingetragen. Von den jüdischen Klans von Yathrib hatten sie auch gehört, bald werde ein Prophet erscheinen, und sie dachten, Mohammed könne dieser Prophet sein. Dann traf sich 622 eine andere Gruppe von Männern und Frauen aus Yathrib außerhalb von Mekka heimlich mit Mohammed. Sie schlossen ein regelrechtes Bündnis, in dem sie Mohammed als Schlichter der Stadt akzeptierten und ihn mit seinen Anhängern willkommen hießen. Mohammed drängte nun die Muslime, nach Medina auszuwandern, ohne ihnen das ausdrücklich zu befehlen. Die meisten von Mohammeds Anhängern, über 70 an der Zahl, machten sich in kleinen Gruppen nach Yathrib auf, bis nur noch Ali, Mohammed und Abu Bakr von denjenigen übrig waren, die emigrieren wollten. Mohammeds Gegner sahen die Zeit gekommen, sich seiner zu entledigen. Jeder Klan wählte einen jungen Mann aus. Die Ausgewählten sollten Mohammed töten. So würden sich die Haschimiten mit einer Geldentschädigung zufriedengeben müssen, weil sie nicht an allen Stämmen würden Blutrache nehmen können. In der letzten Nacht schlief Ali in Mohammeds Bett. Die jungen Männer hatten beschlossen, Mohammed zu töten, wenn er am nächsten Morgen aus dem Haus kommen würde, und waren überrascht, Ali anstelle von Mohammed zu sehen. Mehrere Gruppen verfolgten Mohammed und Abu Bakr. Die beiden Männer versteckten sich in einer Höhle. Gott ließ über Nacht eine Spinne ein Netz weben, das den Eingang bedeckte. Als die Verfolger vor der Höhle hielten, nahmen sie das Spinnennetz als Zeichen, dass niemand in der Höhle sein könne. Am 24. September 622 kamen Mohammed und Abu Bakr in Medina an. (In Kapitel 9 wird die Ankunft in Medina näher beschrieben.) Ali kam drei Tage später. Die Emigration von Mekka nach Medina 622 wird als Hidschra bezeichnet. Dieses Datum markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung (siehe Anhang A). Sie sollten den Namen Hidschra nicht mit einem anderen, ebenso wichtigen Namen, der Hadsch, verwechseln, der die einmal im Leben zu leistende Wallfahrt nach Mekka bezeichnet (siehe Kapitel 9).
Die Gründung der Gemeinde in Medina Bevor die Muslime sich in Medina niederließen, war der Islam eine kleine religiöse Sekte inmitten in einer größeren, feindseligen Gemeinschaft. In Medina bildeten die Muslime bald die Mehrheit. Mit dieser neuen Lage änderten sich die Themen der koranischen Offenbarungen. Die Offenbarungen wurden länger und hatten weniger poetischen Glanz als die früheren Suren. Oft ging es um praktische Angelegenheiten, die geregelt werden mussten, als der Islam sich zu einer neuen Gemeinschaft entwickelte. Vorher galt die größte Loyalität der Familie und dem Klan – und darüber hinaus dem Stamm. Diese Loyalitäten blieben wichtig, jedoch die Hauptloyalität der Muslime verlagerte sich auf die islamische Gemeinschaft (umma). Institutionen wie Ehe, Vererbung und Handel wurden
reformiert. Anfangs waren die wichtigeren Klanoberhäupter mächtiger als Mohammed. Die Gemeinschaft hatte Mohammed als Schlichter akzeptiert, aber nicht alle akzeptierten den Islam als Religion. Heiden durften in der Stadt bleiben, solange sie nicht mit den Kuraischiten Mekkas konspirierten. Die Muslime in der Stadt bildeten zwei Hauptgruppen: Die eine Gruppe, die Immigranten (muhadschirun), umfasste die Anhänger Mohammeds, die ihn auf der Hidschra von Mekka nach Medina begleitet hatten oder später (aber vor der Eroberung Mekkas 630) aus Mekka emigriert waren. Die andere Gruppe, die Helfer (ansar), umfasste die Einwohner Medinas, die Mohammed schützen wollten und die Muslime wurden. Außerdem nennt der Koran eine dritte Gruppe: Hypokriten, die nach außen vorgaben, Mohammed zu unterstützen, ihn aber insgeheim bekämpften. Es war nicht einfach, die Interessen dieser verschiedenen Gruppen in Einklang zu bringen. Nur eine Person mit großem Charisma und politischen Fähigkeiten, also Mohammed, konnte dies leisten. Die Beziehung zwischen den Parteien wurden in einem Dokument, der Gemeindeordnung von Medina, festgehalten (siehe den Kasten »Die Bedingungen der Gemeindeordnung von Medina«). Dieser Pakt legte gegenseitige Rechte und Verpflichtungen zwischen den verschiedenen Stämmen fest, die durch Annahme dieser Vereinbarungen die politische Gemeinschaft gründeten. Muslime betrachten die Gemeindeordnung von Medina als das grundlegende politische Dokument des Islam. Befürworter der islamischen Demokratie sehen es als Präzedenzfall. Doch weil die Gemeindeordnung von Medina nicht göttlich offenbart wurde, legitimiert sie nicht automatisch und exklusiv die Regierungsform späterer muslimischer Staaten.
Die Bedingungen der Gemeindeordnung von Medina Die mehrere Seiten lange Gemeindeordnung von Medina regelt die wichtigsten Angelegenheiten der neuen Gemeinschaft. Sie stellt kein voll entwickeltes politisches System dar. Einige der Bestimmungen legen fest: Juden dürfen ihre Religion weiterhin ausüben. Jede Gruppe ist für ihre internen Angelegenheiten zuständig. Alle sind für die Verteidigung der Gemeinschaft von Medina gegen äußere Bedrohungen gemeinsam verantwortlich. Ein Muslim darf keinen anderen Muslim töten oder einem Nichtmuslim helfen, einen Muslim zu töten. Interne Konflikte sollen Mohammed als Prophet Gottes zur Schlichtung vorgetragen werden. Muslime tragen Verantwortung für die ärmeren Mitglieder der Gemeinschaft. Medina ist ein Zufluchtsort für Muslime, die von außerhalb der Stadt kommen.
Eine Chronologie von 622 bis 630 Zwischen der Flucht von Mekka nach Medina im Jahre 622 bis zur triumphalen Rückkehr Mohammeds nach Mekka im Jahre 630 vergingen acht Jahre, die in der folgenden Chronologie beschrieben werden. Weitere zwei Jahre vergingen, bis Mohammeds 632 starb. Die folgende Übersicht beschreibt die wichtigsten Stationen während dieser zehn Jahre. 623: Nachdem Mohammeds neues Heim in Medina fertiggestellt war, ließ er die restlichen Mitglieder seiner Familie nachkommen, einschließlich der Frau, die er nach dem Tod von Khadidscha geheiratet hatte. Zu dieser Zeit heiratete er Aischa, die sehr junge Tochter von Abu Bakr. Aischa wurde nach Khadidschas Tod Mohammeds Lieblingsfrau. Mohammed ging einige weitere Ehen ein. Die meisten dieser Ehen sollten Frauen unterstützen, deren Ehemänner im Kampf für den Islam gefallen waren. 624 (Januar): Die in Medina offenbarten Suren des Koran enthalten zunehmend Bezüge zu den biblischen Überlieferungen. Ursprünglich beteten Muslime in Richtung Jerusalem. 623 hatte Mohammed einen freigelassenen, schwarzen äthiopischen Sklaven, Bilal, beauftragt, jeden Morgen vom Dach des höchsten Hauses aus zum Gebet aufzurufen. Während Mohammed das Freitagsgebet der Gemeinschaft leitete, empfing er eine Offenbarung (Sure 2:39) und ordnete an, künftig in Richtung Mekka zu beten, wie es auch heute noch für Muslime üblich ist. Die Muslime hatten ursprünglich am 10. des Muharram, dem ersten Monat, gefastet. Jetzt legte der Koran auch den Monat Ramadan als Fastenmonat fest (Sure 2:185; siehe Kapitel 9). 624 (März): Die Schlacht von Badr. Die Muslime von Medina sandten gemäß der üblichen Gepflogenheiten der arabischen Gesellschaft Räuberbanden aus, welche die Winterkarawanen Mekkas überfielen und beraubten. Eine Offenbarung Gottes (Sure 2:217) erlaubte es den Muslimen sogar, diese Raubzüge während des heiligen Monats Radschab auszuführen, in dem nach arabischem Brauch das Kämpfen verboten war. Nach mehreren kleineren Raubzügen führte Mohammed eine Gruppe von über 300 Männern gegen eine Karawane der Kuraischiten, die aus Syrien zurückkehrte. Die Karawane konnte entkommen, bevor eine Schutztruppe aus Mekka eintraf und die Muslime angriff. Obwohl die Muslime im Verhältnis drei zu eins unterlegen waren, errangen sie einen überraschenden Sieg. Laut Überlieferung führte der Engel Gabriel Engel auf der Seite Mohammeds gegen die Mekkaner in die Schlacht. Trotz dieser, an der Zahl der Kämpfer und der Todesopfer gemessen, relativ kleineren Schlacht, in der 45 bis 70 Mekkaner getötet wurden, demonstrierte dieser Sieg von Badr für die Muslime, dass Gott auf ihrer Seite sei (Sure 8:9). 625: Die Schlacht von Uhud. Mekka war immer noch entschlossen, Mohammed endgültig auszuschalten. Nahe Medina griffen 3.000 Mekkaner – mit Infanterie und Kavallerie für die damalige Zeit und an diesem Ort eine große Streitmacht – die Kräfte
Mohammeds an, die etwa 1.000 Mann stark waren. In der Schlacht wurden 70 Muslime getötet, aber die Mekkaner versäumten es, ihren Sieg auszubauen. Danach vertrieb Mohammed zwei bedeutende jüdische Klans aus Medina, weil er sie der Konspiration gegen die Muslime verdächtigte. 627: Die Grabenschlacht. Dieses Mal stellten die Mekkaner eine Armee von 10.000 Mann auf. Ein persischer Konvertit namens Salman al-Farsi riet Mohammed, einen Verteidigungsgraben um die drei freiliegenden Seiten der Stadt zu ziehen, den Elefanten, Kamele und Pferde scheuten. Da die mekkanischen Kräfte weder an lange Belagerungen gewöhnt noch dafür ausgerüstet waren, zogen sie sich nach einigen Wochen zurück. Dies markierte den letzten großen Versuch der Mekkaner, Mohammed auszuschalten. 628–629: Der Vertrag von Hudaybiyya. Mohammed führte 1.600 unbewaffnete Männer von Medina an, die versuchten, eine Wallfahrt zur Kaaba in Mekka zu machen. Obwohl die Kaaba ein heidnischer Schrein geworden war, glaubten die Muslime, dass der Hadsch von Gott eingesetzt ist, weil er erstmals von Abraham und seinem Sohn Ismael ausgeführt worden war. Die Muslime wollten den Schrein lediglich von heidnischen Elementen reinigen. Obwohl sie die Stadt nicht betreten durften, unterzeichneten Mekka und Mohammed den Vertrag von Hudaybiyya, der sich als vorweggenommene Kapitulation von Mekka erweisen sollte, so wie in Sure 48:27 vorhergesagt. Der Vertrag legte eine zehnjährige Waffenruhe fest und bestimmte, dass die Kuraischiten ihre Stadt im nächsten Jahr zeitweilig verlassen sollten, um den muslimischen Pilgern Zutritt zu gewähren. Diese kleinere Wallfahrt (umra) fand 629 statt. Der Vertrag schuf für Muslime einen wichtigen Präzedenzfall für Verträge mit Nichtmuslimen. 628–630: Mekka unterwirft sich. In dieser Zeit hatte sich die muslimische Gemeinde in Medina verdoppelt, da viele Klans und Stämme den Islam akzeptiert hatten. Verbündete der herrschenden Klans wurden beschuldigt, den Vertrag von Hudaybiyya gebrochen zu haben, sodass Mohammed im Januar 630 mit einer 10.000 Mann starken Armee in Mekka einmarschierte. Die Stadt unterwarf sich kampflos. Mohammed entfernte die Götzenbilder aus der Kaaba, ging aber mit den Einwohnern gnädig um und ließ nur einige Verbrecher hinrichten. Die Menschen wurden nicht gezwungen, zum Islam überzutreten, wenngleich die meisten im Laufe der Zeit konvertierten. 631: Das Jahr der Deputationen. Ende 630 wurde die erste muslimische Armee in Erwartung einer byzantinischen Offensive nach Südpalästina in Marsch gesetzt. Mit den dort ansässigen christlichen Arabern wurden Verträge geschlossen, die weitere Präzedenzfälle für Verträge zwischen Muslimen und Nichtmuslimen darstellten. Die meisten restlichen Stämme Arabiens sandten Botschafter zu Mohammed, um den
Islam und die Führerschaft Mohammeds zu akzeptieren. 632: Die Abschiedswallfahrt und der Tod Mohammeds. Mohammed führte Pilger auf der großen Pilgerfahrt (Hadsch) nach Mekka an. (Kapitel 9 beschreibt den Hadsch.) Auf der Ebene von Arafat außerhalb von Mekka hielt er seine später sogenannte Abschiedspredigt, in der er sagte: »Euer Islam ist vollendet.« Zu diesem Zeitpunkt empfing Mohammed Sure 5:4–5, den letzten offenbarten Teil des Koran. Nicht lange nach seiner Rückkehr nach Mekka wurde er krank. Am 8. Juni 632 starb er in den Armen von Aischa. Natürlich löste Mohammeds Tod Bestürzung aus. Umar (der spätere zweite Kalif) wollte zunächst den Tod Mohammeds nicht wahrhaben. Da sprach Abu Bakr (Mohammeds Nachfolger) die Versammelten an und sagte: »Wenn jemand Mohammed verehrte, Mohammed ist tot. Wenn jemand Gott verehrt, Gott lebt und ist unsterblich.«
Mohammed als theologische Persönlichkeit Die traditionelle Biografie Mohammeds ist mehrere Hundert Seiten lang. Nicht jeder Muslim kennt jedes Detail, aber die meisten sind mit den Ereignissen vertraut, die in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels beschrieben werden. Diese Biografie handelt von Mohammeds Beitrag zu den Ursprüngen des Islam. Doch zu beschreiben, was Mohammed tat, beantwortet nicht alle Fragen. Wir wollen Mohammed als theologische Persönlichkeit von seiner historischen Persönlichkeit unterscheiden.
Gesandter, Prophet und Siegel des Propheten Anhand des Koran unterscheidet man drei wichtige Funktionen Mohammeds. Mohammed als Prophet (nabi): Der Tradition zufolge hat Gott Tausende Propheten geschickt. Alle sind gekommen, um die Menschen vor den Konsequenzen ihrer Sünden zu warnen und sie zu mahnen, Gott allein zu verehren. Etwa 28 Propheten werden im Koran erwähnt, die meisten aus der Bibel. Fünf Propheten werden besonders hervorgehoben: Mohammed (der »Gepriesene«), Abraham (der »Freund Gottes«), Moses, Jesus und Noah. Mohammed als Gesandter (rasul): Nach der zweiten Hälfte der schahada, dem grundlegenden muslimischen Glaubensbekenntnis (siehe Kapitel 4), wurde Mohammed von Gott gesandt. Gesandte kommen nicht nur, um die Menschen zu mahnen, sondern auch, um eine neue oder korrigierte Offenbarung von Gott zu bringen. So brachte Moses das Gesetz, David die Psalmen und Jesus die Frohe Botschaft. Alle Gesandten sind Propheten, aber die meisten Propheten sind keine Gesandten. Mohammed als Siegel der Propheten: Dieser bildhafte Ausdruck besagt, dass
Mohammed der letzte Prophet gewesen sei. Warum der letzte? Weil er die vollständige Offenbarung Gottes gebracht hat, sodass keine weiteren Gesandten benötigt werden. Im frühen Sunni-Islam übernimmt der Kalif (Nachfolger [des Propheten Gottes]) Mohammeds Rolle als politischer Führer der Muslimgemeinde, hat aber nicht Mohammeds religiöse Autorität als Prophet und Gesandter.
Mohammed im Vergleich zu Jesus und Moses Welche Rolle spielt Mohammed im Islam im Vergleich zu Jesus im Christentum oder Moses im Judentum? Zusammenfassend lässt sich aus muslimischer Sicht sagen: Mohammed und Jesus haben recht unterschiedliche, Mohammed und Moses dagegen recht ähnliche Rollen gespielt. Natürlich erkennt der Islam alle drei als Propheten an.
Mohammed und Jesus Für Christen ist Jesus Gottes Sohn, das Fleisch gewordene (verkörperte) Wort Gottes. Für Muslime ist Mohammed nur ein Mensch. Der Koran gilt im Islam als das ewige Wort Gottes. Mohammed bezeugt dieses Wort, so wie die Bibel für Juden und das Evangelium für Christen das Wort Gottes bezeugt. Daher spielt der Koran aus theologischer Sicht im Islam eine ähnliche Rolle wie Jesus im Christentum, während Mohammed im Islam die Rolle der Bibel im Christentum spielt (siehe Tabelle 6.1). Jesus ist für Christen ein göttlicher Erlöser. Für Muslime ist Mohammed kein Erlöser, da der Islam die Erbsünde und damit ein Erlösungsbedürfnis leugnet. Gegenstand
Islam
Christentum
Wort Gottes
Koran
Jesus
Zeuge für das Wort Mohammed Bibel
Tabelle 6.1: Das Wort Gottes in Islam und Christentum
Mohammed und Moses Der Koran hebt die Parallelen zwischen Mohammed und Moses hervor. In gewissem Sinne ist Mohammed ein neuer Moses. Mohammed und Moses haben folgende Aspekte gemeinsam: ethischer Prophet, der die Moral betont Prophet mit Vorbildfunktion, dem es nachzueifern gilt Gesetzgeber geistiger Führer Richter/Schlichter politisches Oberhaupt der Gemeinschaft militärischer Führer des Volkes Gottes
Vermittler zwischen Volk und Gott Mystiker (jemand, der eine einzigartige, persönliche Begegnung oder Vision Gottes hat und ein Vorbild für spätere Mystiker liefert)
Mohammed, das schöne Beispiel Sure 33:21 sagt: »In dem Gesandten Allahs habt ihr wirklich ein schönes Beispiel für jeden, der auf Allah und den Jüngsten Tag hofft und oft Allahs gedenkt.« Einige Christen fragen, was Jesus tun würde, und versuchen sein Verhalten nachzuahmen. Aber diese Nachahmung der Christen ist nichts im Vergleich zu der Nachahmung Mohammeds durch Muslime. Muslime gehorchen, weil sie Mohammed als den Auserwählten (Mustafa, einer der gebräuchlichsten Beinamen Mohammeds) akzeptieren. Zu gehorchen bedeutet, das Verhalten des Propheten zu imitieren, seine Worte zu beherzigen und das von ihm Erlaubte zu akzeptieren. Alle Handlungen Mohammeds gelten als nachahmenswert: was er aß, wie er sich die Zähne reinigte, wie er seinen Bart schnitt und wie er seine Kinder und Katzen liebte. Die Nachahmung des Propheten hat kulturübergreifend einige erstaunlich einheitliche Verhaltensweisen im muslimischen Leben hervorgebracht und erklärt, warum sich ein Muslim in der muslimischen Kultur eines fremden Landes oft schnell zu Hause fühlt.
Mohammed, der Wundertäter Im Gegensatz zu Gestalten wie Elias oder Jesus in der Bibel schreibt der Koran Mohammed keine Wunder zu. Die Einwohner Mekkas forderten Mohammed auf, Wunder zu vollbringen, um seine Behauptungen zu unterstützen. Er lehnte es ab und sagte, der Koran sei sein einziges Wunder und selbst dieser sei eigentlich Gottes Wunder, weil Mohammed die ihm geoffenbarten Worte nur wiederholte. Dennoch scheint der Volksglaube immer Wunder zu fordern. In der Standardbiografie Mohammeds aus dem 8. Jahrhundert werden bereits einige Wunder erwähnt. Spätere Dichter preisen in ihren Gedichten zahlreiche Wunder Mohammeds. Mehrere dieser Wunder wurden durch Verse aus dem Koran gestützt, obwohl die entsprechenden Passagen normalerweise anders ausgelegt werden. Zu diesen Wundern gehören: das Öffnen von Mohammeds Brust als Kleinkind, die Aufspaltung des Mondes in zwei Teile (»Genaht ist die Stunde und gespalten wird der Mond.« Sure 54:1), und die nächtliche Reise nach Jerusalem und die Himmelsreise (Sure 17:1 und 53:2–18). Daneben werden Mohammed viele andere Wunder zugeschrieben. Die folgende Wundergeschichte möchte ich hier gern wiedergeben: Ursprünglich lehnte sich Mohammed beim Predigen gegen den Stamm einer Palme. Als eine Kanzel gebaut wurde, von der er predigen konnte, wurde der Palmenbaum nicht mehr benötigt, und dieser seufzte voller Trauer, dass er nicht mehr von der Hand des Propheten berührt
werden würde. Mohammed hatte Mitleid und ließ die Palme vor sich bringen, um ihren Kummer zu lindern. Dieses Wunder wird unter anderem von Abu Nuaim (948– 1038), einem Sufi und Hadith-Gelehrten, berichtet.
Mohammed, der Mensch ohne Sünde Die frühe muslimische Theologie zählt die Merkmale eines Propheten auf: Er sollte wahrhaftig, intelligent und ehrlich sein und das Wort Gottes verkünden. Dies bedeutet aber nicht, dass ein Prophet völlig sündenfrei sein müsse (siehe David). Einige Passagen im Koran könnten nahelegen, Mohammed sei nicht ohne Sünde gewesen: »Und fand er dich nicht verwirrt und leitete dich?«, sagt Gott zu Mohammed (Sure 93:7). Warum sollte Mohammed um Vergebung beten, wenn er ohne Sünde war? Und wurde er in Sure 80:1– 11 nicht heftig von Gott gescholten? Frühe muslimische Theologen diskutierten diese Frage. Einige räumten die Möglichkeit ein, Mohammed könne kleinere, lässliche Sünden begangen haben. Und doch sei er frei von großen, absichtlichen Sünden gewesen. Dennoch herrscht bei Muslimen die Auffassung vor, Mohammed sei ohne Sünde gewesen, zwar nur ein Mensch, aber ein perfekter Mensch.
Mohammed, der Vermittler Laut Sure 2:255 ist Mohammed am Tag des Gerichts (siehe Kapitel 5) der Hauptfürsprecher der sündigen Menschen. Muslime rufen Mohammed auch in ihren Gebeten an. Einige Sufi-Orden verwenden Vermittlungsformeln als Litanei in ihren dhikr(Gottgedenken-)Zeremonien. Mohammed als Vermittler ist auch Thema der Dichtung. Mohammed als Vermittler ist eng mit der Verwendung der tasliya verbunden – dem Segenswunsch für Mohammed: »Möge Gottes Segen und Friede mit ihm sein.« Die Formel existiert in vielen Varianten einschließlich der, die nach jeder Erwähnung des Namens Mohammeds gesprochen oder geschrieben wird. Sure 33:56 sagt: »Siehe, Allah und Seine Engel segnen den Propheten. O ihr, die ihr glaubt! Sprecht den Segenswunsch für ihn und begrüßt ihn mit dem Friedensgruß.«
Die persönliche Beziehung zu Mohammed Nachdem wir Mohammed als theologische und als historische Persönlichkeit betrachtet haben, bleibt ein wichtiges Thema: Die meisten Muslime sind weder Historiker noch Theologen. Für normale Muslime spielt Mohammed eine wichtige Rolle in ihrem religiösen Alltag. Mohammed ist für sie nicht nur eine Persönlichkeit der Vergangenheit, sondern lebendige Gegenwart. In diesem Abschnitt beschreibe ich, wie Muslime im Volksglauben, im Gebet und in der Verehrung mit Mohammed umgehen.
Der Name Mohammeds Auch für Araber enthält der Name die Essenz des Benannten. Natürlich legen Muslime
dem Namen Mohammeds Bedeutung bei. Mohammed (von al-hamd, das Lob) bedeutet »Der Lobeswürdige«. In der Kalligrafie (Schönschreibkunst) wird Mohammed in kunstvollen Schriftzügen geschrieben. Andere gebräuchliche Namen Mohammeds sind Ahmad (eine Kurzform von Mohammed), al-Amin (der Vertrauenswürdige), al-Habib (der Geliebte) und al-Mustafa (der Auserwählte). In Analogie zu den Listen mit den 99 Namen Gottes (siehe Kapitel 3) wurden unterschiedliche Listen mit 99 noblen Namen (asma alsharifa) Mohammeds erstellt.
Mohammed in der Dichtung Ein umfangreiches dichterisches Werk befasst sich mit Mohammed, zu dessen Lebzeiten Hassan Ibn Thabit eine Art offizieller Dichter war. Seine Werke dienten als Vorbild für spätere Dichter. Ein weiterer Dichter, Kab Ibn Zuhair, schrieb ursprünglich Gedichte, die Mohammed satirisch darstellten. Etwa 630 oder 631 verfasste er aber ein Gedicht im traditionellen Qasida-Stil, das mit einem Ausdruck der Hoffnung auf die Vergebung Mohammeds endete. Mohammed war von der Schönheit des Gedichts so bewegt, dass er seinen Mantel über Kabs Schultern warf, um so die Annahme seiner Bitte anzuzeigen. Kabs Gedicht, die sogenannte Burda (Mantel-Ode), wurde berühmt und regte weitere »Mantel-Oden« an, die noch immer, wie diejenige von al-Busiri, bei bestimmten Anlässen rezitiert werden.
Mohammeds Geburtstag feiern Die Feier von Mohammeds Geburtstag (maulid) wird zwar von strengen Bewegungen wie den Wahhabiten Saudi-Arabiens als eine unzulässige Neuerung und wegen der Gefahr der Vergötterung des Propheten verboten, ist aber in vielen muslimischen Ländern ein religiöser Hauptfeiertag und spielt im Volksglauben eine große Rolle. (Näheres finden Sie in Kapitel 10.)
Die Reliquien Mohammeds So wie Buddhisten einen Zahn Buddhas und Christen das Gewand Jesu und Splitter der Kreuzes verehren, spielen Reliquien Mohammeds im islamischen Volksglauben eine wichtige Rolle. Die unter anderem im Topkapi-Palast in Istanbul ausgestellten Reliquien umfassen Briefe, Schwerter, Haare von Mohammeds Bart, seinen Mantel, seine Sandalen und Abdrücke, die sein Fuß auf dem Boden hinterlassen hat.
Mohammed als Licht der Welt und Pol des Universums Nach mystischer Vorstellung schien bei Mohammeds Geburt ein Licht, das die Welt erleuchtete. Diese Überlieferung stützt sich auf Sure 33:46, die von Mohammed als leuchtendem Licht spricht. Sure 24:35, der »Lichtvers«, beschreibt Gott als das Licht des Kosmos und spricht metaphorisch von einer Lampe in einer Nische, die das Licht Gottes reflektiert. Natürlich verstehen mystisch veranlagte Muslime Mohammed als diese Lampe.
Mehr Gedichte zu Ehren Mohammeds Die berühmteste Burda ist die von Mohammed al-Busiri (1213–1298). Kopien des Gedichts wurden an Wände geschrieben, während Auszüge als Zaubersprüche verwendet wurden, um Glück herbeizuwünschen. Al-Busiris Burda entwickelte selbst die Kraft der Segnung (baraka). Spätere Dichter schrieben Gedichte, in denen sie den Text der Burda reproduzierten, zitierten und dann ihre eigenen Zeilen hinzufügten. Außerdem wurden (vor allem in Südasien) auch andere arabische und nicht arabische literarische Formen verwendet, um den Propheten zu preisen: die Qasida (traditionelle, dreiteilige vorislamische Form der Dichtung), die Ghazal (Beschreibung der Geliebten) und das Mathnawi (langes Gedicht aus Reimpaaren). Andere Genres konzentrieren sich per Definition auf Mohammed: das Nat (Gedicht zur Preisung Mohammeds, das seine Fähigkeiten aufzählt) und das Maulud (Gedicht, das den Geburtstag Mohammeds feiert und das bei vielen Gelegenheiten rezitiert oder gesungen wird). Hier ein Exzerpt des meistzitierten Teils der Burda von al-Busiri: Mohammed, Führer zweier Welten, und der Menschen und der Dschinn, und der beiden Gruppen, Araber und Nichtaraber. Unser Prophet, der Gutes befiehlt und Böses verbietet, Niemand ist besser geeignet, »Nein« oder »Ja« zu sagen. Geliebt von Gott wird er, auf dessen Vermittlung wir hoffen.
Die Suche nach dem historischen Mohammed Oft ist die Einstellung zu Mohammed ein Konfliktpunkt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Die Darstellung von Mohammeds Leben in diesem Kapitel (im Abschnitt »Die Geschichte Mohammeds«) ist hauptsächlich eine abgekürzte Version der traditionellen Erzählung, die von den meisten Muslimen geglaubt wird und in den letzten 1.200 Jahren von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Dieser Abschnitt erklärt die Quellen der traditionellen Erzählung und weist Sie auch auf einige moderne muslimische Biografien Mohammeds hin. Außerdem beschreibe ich, wie die Mehrzahl der nichtmuslimischen westlichen Gelehrten das Leben Mohammeds studiert.
Traditionelle Biografien Ibn Ishaqs (704–768) Sirat Rasul Allah ist die traditionelle Biografie Mohammeds. Ibn Ishaqs Biografie wird uns in einer Version überliefert, die von Ibn Hisham im ersten Teil des 9. Jahrhunderts herausgegeben wurde. Es gibt eine deutsche Übersetzung von Gernot Rotter (Das Leben des Propheten, Spohr Verlag, 2014). Ibn Ishaq stellte seine Biografie über Mohammed aus Überlieferungen zusammen, die auf Gefährten des Propheten zurückzuführen sind. Die andere frühe Hauptquelle für Mohammeds Leben ist ein Teil von al-Tabaris Weltgeschichte, ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert. Außerdem konzentrieren
sich viele Hadith-Sammlungen auf Mohammed. Der Koran erwähnt Mohammed nur viermal namentlich. Aus dem Koran allein können Sie also nur wenig über sein Leben erfahren. Natürlich wurde die Geschichte Mohammeds zu verschiedenen Zeiten und Orten immer wieder erzählt. Im 19. und 20. Jahrhundert erschienen einige weniger traditionelle Biografien, welche die traditionelle Geschichte beibehielten, dem Stil nach aber an westlich geprägte Leser angepasst waren. Diese modernen Biografien spielten Wunder herunter oder deuteten sie um. Einige betonten auch Mohammeds Rolle als Sozialreformer, der ein Modell für die heutige Gesellschaft geschaffen habe. Bekanntere moderne muslimische Biografen sind: Syed Ameer Ali (1873, mehrere Überarbeitungen), Mohammed Husain Haykal (1935), Taha Hussan (1933– 1944), Mohammed Hamidullah (1959) und Martin Lings. Lings, dessen wundervoll einfühlsame Biografie, Muhammad, sein Leben nach den frühesten Quellen, ist 2000 im Spohr Verlag erschienen.
Nichtmuslimische Biografien Ernsthaft über Mohammed arbeitende westliche Gelehrte verfolgten im 20. Jahrhundert einen recht konservativen Ansatz. Sie akzeptierten die Grundlinie der traditionellen Biografie und ergänzten sie um historische, wirtschaftliche, soziologische und anthropologische Aspekte. Da sie keine Muslime waren, betrachteten sie Mohammed, auch wenn sie seine herausragende Stellung und religionshistorische Bedeutung anerkannten, mit kritischer Distanz. Diese Historiker akzeptierten nicht alles, was die Überlieferungen über Mohammed oder die damaligen Ereignisse berichteten. Muslime reagieren empfindlich auf alles, was Zweifel an Mohammed weckt. Fragen, die von Studenten der Geschichtswissenschaften als Handwerkszeug gelernt und in Seminararbeiten erwartet werden, um die Biografien historischer Persönlichkeiten zu analysieren, können, wenn es um Mohammed geht, als absichtliche Beleidigungen aufgefasst werden. Natürlich glauben Nichtmuslime per Definition nicht alles, was Muslime über Mohammed verbreiten, wie umgekehrt Nichtchristen nicht alle traditionellen christlichen Glaubenssätze über Jesus akzeptieren.
Kapitel 7
Das Buch: Der Koran IN DIESEM KAPITEL Der Koran als Schrift und als Gottes Buch Den Koran hören Den Stil des Koran begreifen, auch wenn man nicht Arabisch spricht Den Koran auslegen Die erste Sure des Koran verstehen
Man kann Christentum oder Judentum nicht verstehen, ohne sich ernsthaft mit der Bibel auseinanderzusetzen. Man kann den Konfuzianismus oder den Taoismus nicht verstehen, ohne die Analekten (Sprüche des Konfuzius) beziehungsweise das Tao-te-ching (Das Buch des Weges und der Macht) zu lesen. Ähnlich kann man den Islam nicht verstehen, ohne den Koran gründlich zu studieren. Doch Nichtmuslime stehen hier vor einem Paradoxon. Muslime betrachten den Koran sowohl im Ausdruck als auch im Inhalt als Werk der Perfektion. Nichtmuslime, die den Koran nur in Übersetzungen kennen, stimmen oft mit dem Dichterfürsten Goethe überein, der in den Notizen zum West-östlichen Divan den Koran als ein Buch bezeichnete, »das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt«. Welche Auffassung ist richtig? Lesen und urteilen Sie selbst. Die Heiligen Schriften der drei großen monotheistischen Religionen (Islam, Judentum und Christentum) haben eines gemeinsam: Der Kern jeder Schrift (in ihrer gegenwärtigen Form) ist in einem einzigen Buch enthalten, das als Offenbarung Gottes oder – nach christlicher Auffassung – wenigstens als »göttlich inspiriert« gilt. Alle drei Religionen behaupten, ihr Buch sei oder enthielte direkt oder indirekt das Wort Gottes. Im Islam ist dieses Buch der Koran. Muslime glauben, Gott habe Mohammed den Koran im Laufe von 22 Jahren offenbart. Dagegen wird von den Analekten (Sprüche des Konfuzius) und dem Tao-te-ching nicht behauptet, sie seien von einem Gott offenbart worden oder das Wort eines Gottes.
Eine Einführung in den Koran Viele Menschen kennen die Namen der Schriften des Buddhismus oder des Hinduismus nicht. Die meisten Menschen wissen jedoch, dass der Koran die Heilige Schrift des Islam
ist. Einige bezeichnen den Koran sogar als »die Bibel des Islam«. Interessanterweise stammt das Wort Bibel von einem griechischen Wort für Buch und Koran bedeutet im Arabischen »Lesung« oder »Rezitation«.
Was ist eine Heilige Schrift? Die Heilige Schrift einer Religion kann aus einem Buch oder als vielen Büchern bestehen. Wer die Weltreligionen vergleichend studiert, stellt fest, dass ihre Heiligen Schriften viele, wenn auch nicht alle der folgenden Merkmale gemeinsam haben. Der Text ist göttlichen Ursprungs oder ein Produkt der Inspiration. Der Text wird als heilig, mächtig und unantastbar betrachtet. Der Text gilt als selbstbestätigend. Der Text gilt für eine Gemeinschaft als verbindlich und enthält Vorschriften für den Gottesdienst, den Glauben und das Verhalten. Der Text ist abgeschlossen – nichts darf hinzugefügt oder entfernt werden. Der Text beantwortet die Frage nach dem Sinn des Lebens. Der Text ist eine ausreichende Basis für die Lebensführung. Die Religion verfügt über Prozeduren für das Studium und die Anwendung des Textes. Eine Gruppe von Leuten (Ulama oder Religionsgelehrte, Rabbis oder Priester) tragen die Hauptverantwortung dafür, den Text zu überliefern und auszulegen.
Die Grundlagen des Koran Um Bücher über den Islam besser zu verstehen, sollten Sie beim Lesen eine Ausgabe des Koran zur Hand haben. Der Umfang des Koran beträgt etwa vier Fünftel des Neuen Testaments. Für eine Nachtlektüre ist er wahrscheinlich etwas lang, aber in einer Woche können Sie ihn bequem durchlesen. Der Koran besteht aus 114 Kapiteln, den Suren. Jede Sure besteht aus nummerierten Versen. Sure 2, die längste Sure, hat 286 Verse. Mehrere Suren (103, 108, 110) haben nur drei Verse. Die Passagen des Koran werden durch die Nummer der Sure und die Versnummer(n) angegeben: 24:35 oder 24:35– 37. Versnummern werden auch als aya-Nummern bezeichnet. Aya bedeutet Zeichen. Der Islam betrachtet die Verse als Zeichen, weil Muslime den Koran als Gottes bedeutendstes Zeichen ansehen. Dank dieser Angabe können auch mit dem Koran nicht Vertraute einzelne Passagen schnell finden. Muslime beziehen sich traditionell mit einem Namen auf bestimmte Suren. So heißt die Sure 1 »Die Öffnende« (al-
Fatiha) oder die Sure 2 »Die Kuh« (al-Baqara). Gelegentlich gibt der Name der Sure ihren Hauptinhalt an, so etwa bei Sure 12, die Josef-Sure. Häufiger ist der Titel jedoch ein seltenes Wort im Text der Sure oder ein Wort aus ihren ersten Zeilen. Suren lassen sich wie Symphonien anhand eines Namens leichter merken als anhand einer Nummer. Für den Islam ist der Koran die grundlegende Offenbarung Gottes in der Welt. Der Koran ist Gottes im buchstäblichen Sinne gesprochenes Wort (kalam Allah). Dies reicht beträchtlich weiter als die Auffassung einiger Christen, Gott habe die Bibel Wort für Wort diktiert. Der Koran ist das Wort Gottes, gesprochen in der ersten Person Einzahl (ich), der ersten Person Mehrzahl (wir) und sogar der dritten Person Einzahl (Er). Dagegen wird der größte Teil der Bibel nicht als direkte Rede Gottes dargestellt. Muslime glauben, es gebe einen Prototyp des Koran, die sogenannte Mutter des Buches (Sure 13:39), der schon immer im Himmel existiert habe (siehe Kapitel 4). Im Gegensatz zur Bibel ist der Koran eine perfekte Kopie dieses Buches. Die meisten Menschen betrachten die Bibel heute als Buch. Der Islam bezeichnet denn auch Christen, Juden und später auch Zoroastrier (siehe Kapitel 5) als »Leute des Buches«. Mohammed bringt einem Volk ein arabisches Buch, das keine eigene Heilige Schrift hatte. Im Christentum und Judentum entwickelte sich die Offenbarung als Buch über eine Zeitspanne hinweg. Im Islam ist die Offenbarung als göttliches Buch von Anfang an präsent.
Den Koran hören Weil der Koran ein Buch ist, könnte man annehmen, dieses Buch zu lesen, böte den besten Zugang zu seinem Inhalt. Beim Autofahren höre ich gerne ein Hörbuch. Für mich ist diese Art des Medienkonsums bequem, aber nicht die Hauptmethode, ein Buch zu »lesen«, weil die meisten Autoren Romane nicht zum Hören (für die Ohren), sondern zum Lesen (für die Augen) schreiben. Vor der Reformation im 16. Jahrhundert lernten die meisten Christen den Inhalt der Bibel durch Lesungen im Gottesdienst sowie durch Kunstwerke (Gemälde, Glasfenster und Statuen) kennen. Die hinduistischen Schriften der Veden wurden hauptsächlich vorgetragen und weniger gelesen. Das Wort Koran bedeutet »das Lesen« oder »die Rezitation«. Das entsprechende Verb kommt im Koran wenigstens 80-mal vor. Es bedeutet rezitieren, proklamieren oder laut vorlesen. Beim ersten Kontakt des Engels Gabriel mit Mohammed, der »Berufung« Mohammeds (Sure 96:1–5), fordert Gabriel Mohammed auf zu »rezitieren«. Er fordert Mohammed nicht auf, zu lesen oder zu schreiben. Das Wort »sagen« kommt in über 300 Passagen vor. Im Koran können verschiedene Formen des Wortes Koran drei Dinge bezeichnen:
das ganze heilige Buch (das ist der normale Gebrauch des Wortes) eine individuelle Offenbarung im Koran eine Rezitation von Teilen oder des kompletten Koran Mohammed musste seine neu empfangenen Offenbarungen an seine Anhänger weitergeben. Da die Offenbarungen auch niedergeschrieben wurden, könnte man annehmen, dass er Schreiber beauftragen würde, den niedergeschriebenen Text zu kopieren und diese Kopien an Muslime an anderen Orten zu senden. Stattdessen schickte Mohammed »Rezitatoren« aus, um die neue Offenbarung mündlich zu verbreiten, so wie er sie selbst ursprünglich an seine Begleiter weitergegeben hatte. Beim Rezitieren des Koran aktualisiert ein Muslim das Wort Gottes. Im gesprochenen Wort ist Gott anwesend, allerdings nicht physisch wie Christus für viele Christen in dem geweihten Brot und Wein anwesend ist. Ein Neugeborenes hört die Sprache des Koran erstmals, wenn ihm sein Vater die Schahada (das Zeugnis, dass Allah der einzige Gott und Mohammed Sein Gesandter ist) ins Ohr flüstert. Danach hört das Kind den Koran häufiger. Das Lesenlernen hat unter anderem einen wichtigen Zweck: Das Kind soll Passagen des Koran rezitieren lernen, die beim Beten (salat) benötigt werden, denn beim salat rezitieren Muslime ohne schriftliche Vorlagen Passagen aus dem Koran in Arabisch. Juden und viele Christen haben ein offizielles Gebetbuch für den Gottesdienst. Auch wenn Muslime Bücher mit Gebetssammlungen kaufen können, gibt es im Islam kein offizielles Gebetbuch. Im Islam ist das Gebetbuch der Koran. Einer der Hadithe sagt: »In jedem salat findet eine Rezitation (des Koran) statt.« In islamischen Ländern hört ein Kind den Koran überall. Im Radio und Fernsehen wird aus dem Koran vorgelesen. Ein Muslim kann sich mit anderen freitags vor oder nach dem Mittagsgebet versammeln, um den Koran zu rezitieren. Dabei hat jeder ein Exemplar des Koran vor sich, dennoch liest er ihn laut vor. Im Bus zur Arbeit oder im Taxi spielt der Fahrer wahrscheinlich genauso oft eine Kassette mit Koranrezitationen wie mit den neuesten Schlagern ab. Alltagsgespräche sind mit Floskeln aus dem Koran durchsetzt, so etwa inscha'allah (»so Gott will«). Muslime rezitieren bei besonderen Gelegenheiten bestimmte Suren oder Verse, darunter: Die Fatiha (siehe den Abschnitt »Die Eröffnung des Koran: Die Fatiha« weiter hinten in diesem Kapitel) wird bei vielen Gelegenheiten rezitiert, etwa am Ende einer Hochzeitszeremonie und an Gräbern. Die Suren 113 und 114 als Schutz vor dem Bösen. Die Sure 26 am 15. des Monats Schaban, der Nacht, wenn Gott die Schicksale für das
kommende Jahr festlegt. Die Basmala, die vor jeder Aktion als Akt der Weihe rezitiert wird: »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!« Damit wird auch jede Sure außer Sure 9 eröffnet. Sure 112, Sure 2:255 (der Thronvers) und Sure 24:35 (der Lichtvers) bei vielen anderen Gelegenheiten.
Die Dominanz des gesprochenen arabischen Koran ist eine der wichtigsten gemeinsamen Eigenschaften aller muslimischen Kulturen, unabhängig von ihren Muttersprachen. Wer den Koran nur liest, ohne ihn zu rezitieren, gleicht jemandem, der ein Lied nicht hört, sondern nur seine Noten liest.
Den Koran mit Respekt behandeln Obwohl der gesprochene Koran so wichtig wie der geschriebene ist, sollten Sie nicht meinen, der geschriebene Koran werde ignoriert. Im Gegenteil: Der Koran, ob geschrieben oder gesprochen, wird mit größtem Respekt behandelt. Muslime behandeln den Koran wie folgt: Sie bewahren ihn an einem sauberen, in Ehren gehaltenen Ort auf, im Bücherschrank im obersten Regal. Sie schlagen ihn in ein Tuch ein oder legen ihn in einen Kasten. Sie legen keine anderen Dinge auf den Koran. Sie reinigen sich, bevor sie den Koran berühren oder rezitieren. Sie bekräftigen ihre Absicht (niyya), den Koran zu rezitieren, bevor sie mit der Rezitation beginnen. Sie wenden sich beim Rezitieren in Richtung Mekka. Bevor sie den Koran rezitieren (und bevor sie bei anderen Gelegenheiten die Basmala rezitieren), bitten sie Gott um Schutz vor dem Satan (siehe Sure 16:98 und 7:200– 201), indem sie rezitieren: »Ich nehme Zuflucht zu Gott vor Satan, dem Verfluchten (oder Gesteinigten).« Sie beenden die Rezitation mit dem Spruch: »Gott der Erhabene sprach die Wahrheit.« Sie bitten in einem freiwilligen Gebet (dua) – einem Anruf oder einer Bitte – um die Annahme der Rezitation.
Sammlung und Zusammenstellung des
Koran Mohammed empfing während seines Lebens viele Offenbarungen. Wie wurde aus diesen Offenbarungen der Koran? Nach welchen Prinzipien wurden die Suren zusammengestellt? Gibt es eine einzige, grundlegende Überlieferung des Korantextes oder abweichende Überlieferungen?
Die Niederschrift des Koran Der geschriebene Text, aus dem alle heutigen Koranversionen abgeleitet wurden, bestand ursprünglich nur aus Konsonanten ohne Vokalzeichen. Das damalige arabische Alphabet hatte nur 15 Zeichen für 28 Konsonanten. Später wurden Markierungen hinzugefügt, um die Buchstaben zu unterscheiden, die im Arabischen ähnlich oder gleich dargestellt wurden. Weil es keine geschriebenen Vokale gab und die Konsonanten verwechselt werden konnten, konnte man eine frühe schriftliche Version des Koran nur nutzen – als Gedächtnisstütze –, wenn man den rezitierten Koran bereits kannte. Als ägyptische Gelehrte 1924 die Standardversion des Koran editierten, griffen sie zunächst auf die mündliche Überlieferung zurück. Als später Vokalzeichen zum Text des Koran hinzugefügt wurden, wurden sie in einer anderen Tintenfarbe geschrieben, damit der Leser erkennen konnte, dass die Vokalzeichen nicht zum eigentlichen Koran gehörten. Der frühe Text, auf dem alle heutigen Koranversionen basieren, war nicht durchnummeriert. Daher ist die Verseinteilung in einigen Fällen nicht eindeutig. Heutige Koranversionen verwenden die Verseinteilung des ägyptischen Textes von 1924. Damit ist die Verseinteilung des deutschen Orientalisten Gustav Flügel aus dem 19. Jahrhundert überholt, die in einigen Fällen um bis zu sieben Verse von der ägyptischen Ausgabe abweicht. Wenn Sie ein Zitat aus einer Übersetzung des Koran lesen und die betreffende Passage nicht finden können, sollten Sie auch die sieben voranstehenden und nachfolgenden Verse lesen.
Die Aussprache des Koran Der frühe, nur Konsonanten enthaltende Text war als Vorlage nicht eindeutig. Stellen Sie sich vor, Sie schrieben nur die Konsonanten des Wortes »lesen«: »lsn«. Dann könnte man daraus »lesen«, »leasen«, »lösen« oder »losen« herauslesen. Selbst heute werden arabische (und hebräische) Zeitungen ohne Vokale gedruckt. Normalerweise ging die korrekte Lesart des Koran aus dem Kontext hervor. Doch in einigen Fällen gab es verschiedene gleichwertige Lesarten. Es entstanden verschiedene mündliche Überlieferungen, die den Text unterschiedlich auslegten oder – anders ausgedrückt – andere Vokale und Akzente setzten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine reichhaltigere arabische Schrift, die Vokale und Akzente mit Markierungen über und unter den Konsonanten anzeigte.
Dafür ein einfaches Beispiel: Sure 1:4 sagt »Herrscher am Tage des Gerichts«. Der nur aus Konsonanten bestehende Text für »Herrscher« ist »mlk«. Wenn man dieses Work als »malik« mit einem langen »a« ausspricht, hat es tatsächlich die Bedeutung »Herrscher«. Wenn es dagegen mit einem kurzen »a« ausgesprochen wird, hat es die Bedeutung »König«.
Die Gliederung des Koran Wie wurden die Suren zum Koran zusammengefügt? Auf Sure 1 folgen zunächst die längeren Suren. Im Allgemeinen sind die Suren nach abnehmender Länge angeordnet. Doch es gibt viele Ausnahmen von dieser Regel. Hier zwei Beispiele: Gemessen an der Länge (Zeilenzahl) müsste Sure 15 die Nummer 40 und Sure 40 die Nummer 22 haben. Die Länge kann also nicht das einzige Ordnungskriterium sein. Vielmehr treten die Suren als Paare auf, die sich gegenseitig ergänzen. Neunundzwanzig Suren werden mit sogenannten »geheimnisvollen Buchstaben« eingeleitet – bis zu vier Buchstaben des arabischen Alphabets, die nach der Basmala, aber vor dem Körper der Sure stehen. Muslime akzeptieren sie als Teil der ursprünglichen Offenbarung. In einigen Fällen werden Suren mit demselben geheimnisvollen Buchstaben zu Gruppen zusammengefasst. So stehen am Anfang der Suren 10–15 die Buchstaben »A« (das heißt Alif), »L« und »R«. Diese Gruppierung kann einer der Gründe dafür sein, warum einige Suren nicht an der Stelle stehen, an der sie aufgrund ihrer Länge stehen müssten. Was bedeuten die Buchstaben? Es gibt viele Thesen, aber keinen Konsens über ihre Bedeutung; deshalb heißen sie ja die geheimnisvollen Buchstaben.
Die Zusammenstellung des Koran: Die muslimische Auffassung Der traditionellen Biografie folgend, wurde Mohammed 610 zum Propheten berufen. Dabei (siehe Kapitel 6) übermittelte der Engel Gabriel Mohammed die erste Offenbarung, nämlich die ersten sechs Verse von Sure 96. Der Koran sagt: »Wir haben ihn hinabgesandt in einer gesegneten Nacht« (Sure 44:3). Bis zu seinem Lebensende empfing Mohammed immer wieder einzelne Offenbarungen. Nur bei einigen kurzen Suren entsprach eine einzelne Offenbarung einer ganzen Sure. Ansonsten wurden einzelne Offenbarungen zu Suren zusammengefasst. Einige Muslime glauben, dass Mohammed, wann immer er eine neue Offenbarung empfing, er auch die Stelle angab, an der sie in eine bestimmte Sure eingefügt werden solle, und wie die korrekte Reihenfolge der Suren laute. Obwohl der Koran zu Mohammeds Lebzeiten nur als ein einziges Loseblattkompendium existierte, hatte Mohammed bereits seine endgültige Struktur festgelegt.
Wie wurden die einzelnen Offenbarungen, die Mohammed während seines Lebens empfing, nach allgemeiner muslimischer Auffassung zu einer einzigen, verbindlichen Version des Koran zusammengefügt? In den ersten beiden Jahren nach Mohammeds Tod 632 drängte Umar (der künftige zweite Kalif) Abu Bakr (den ersten Kalifen), den Koran herauszugeben, weil er fürchtete, die Rezitatoren, die den Koran im Gedächtnis bewahrten, könnten alle in der Schlacht fallen. Abu Bakr ließ Mohammeds Sekretär Zayd Ibn Thabit kommen. Zayd trug die erhaltenen schriftlichen Versionen der einzelnen Offenbarungen zusammen – einige waren in Stein gemeißelt, andere auf Palmblätter geschrieben und wieder andere in Knochen geritzt. Er sammelte auch Teile des Koran, die nur »in den Herzen der Menschen« erhalten worden waren, und schrieb sie nieder. Zayd übergab Abu Bakr das Ergebnis seiner Arbeit. Abu Bakr gab es bei seinem Tod an Umar weiter. Als Umar starb, reichte er es an seine Tochter Hafsa (eine Witwe Mohammeds) weiter. Uthman, der dritte Kalif, war besorgt, dass verschiedene Gruppen in der Armee über unterschiedliche Versionen des Koran verfügten. Uthman ließ sich die Seiten des Koran aus Hafsas Besitz bringen und befahl Zayd Ibn Thabit als Leiter eines Komitees die Blätter zu einem Buch zusammenzufügen und alle Widersprüche in den Lesarten zu beseitigen. Uthman sandte Kopien dieses Koran in die vier größten muslimischen Städte. Alle anderen schriftlichen Teilaufzeichnungen wurden auf seinen Befehl hin verbrannt. Von diesen ersten Kopien sind zwei erhalten geblieben, in Istanbul und in Taschkent. Was können wir aus der traditionellen Auffassung lernen? Die Koranversion Uthmans ist die Basis aller Koranversionen, die heute von Muslimen gebraucht werden. Unabhängig davon, ob man diesen Ursprung des heute verwendeten Koran historisch für korrekt hält oder nicht, wird dieser Text normalerweise als der Uthman-Text oder die Uthman-Version bezeichnet. Die Geschichte zeigt, dass sogar nach Abu Bakr zu Uthmans Lebzeiten verschiedene Versionen des Koran in Umlauf waren. Bei Mohammeds Tod gab es den Koran nicht als ein einzelnes Manuskript. Der Text des Koran wurde viel schneller als die biblischen Texte in eine endgültige schriftliche Form gebracht. Die Sammlung, Redaktion und Kopie des Koran lag in derselben Hand. Wie vollständig ist der gegenwärtige Text des Koran? Während einige schiitische Muslime glauben, der empfangene koranische Text ließe einige Passagen über Ali und seine Nachkommen aus, stimmen die meisten Muslime – Sunniten wie Schiiten – darin überein, dass der gegenwärtige Text des Koran alle Offenbarungen enthält, die
Mohammed zu seinen Lebezeiten empfangen hat.
Die Zusammenstellung des Koran: Die Auffassung nichtmuslimischer Gelehrter Die meisten westlichen, nichtmuslimischen Gelehrten akzeptieren grundsätzlich die Darstellung der Festschreibung des Korantextes unter Uthman. Doch im Gegensatz zu der muslimischen Auffassung verweisen einige Gelehrte darauf, dass mehrere Hundert Jahre lang auch noch andere Versionen in Umlauf waren. Sie stützen diese Aussage auf die folgenden Belege: Koranische Kommentatoren und Rechtsgelehrte zitierten auch nach Uthman mehrere Jahrhunderte lang gelegentlich nichtuthmanische Versionen des Koran. Die muslimische Überlieferung erwähnt wenigstens vier andere frühe Versionen des Koran. Laut muslimischer Überlieferung ließ Uthman diese Versionen zerstören, aber Texte aus der Zeit um 800 beklagen die Verwendung der Version von Ibn Masud. Daraus ist zu schließen, dass zumindest seine Version noch in Umlauf war. Die frühesten erhalten gebliebenen Texte von Teilen des Koran werden auf das Ende des 7. und das frühe 8. Jahrhundert datiert. Der Felsendom in Jerusalem wurde 691– 692 mit Versen aus dem Koran beschriftet. 1972 wurden mehrere alte Manuskripte mit Teilen des Koran im Jemen entdeckt. Diese Manuskripte stammen wahrscheinlich aus dem frühen 8. Jahrhundert. Vielleicht sind sie sogar noch etwas älter. An einigen Stellen enthalten sie Passagen, die von den entsprechenden Texten in der UthmanVersion leicht abweichen. Die jemenitischen Texte enthalten auch abweichende Schreibweisen einiger Wörter; und einige Fragmente, die das Ende einer Sure und den Anfang einer anderen enthalten, lassen vermuten, dass die Reihenfolge der Suren in einigen Fällen von der in der Uthman-Version abweicht. Muslime reagieren auf derartige Auffassungen oft mit Missachtung. Viele Muslime fühlen sich beleidigt, wenn Gelehrte diese Argumente vortragen, und betrachten diese Auffassungen als weiteres Beispiel für westliche Angriffe auf den Islam. Muslime glauben, der Koran sei eine genaue Kopie des himmlischen Buches.
Der Stil des Koran Nach der Entstehung der heutigen Form des Koran wollen wir uns seinem Stil zuwenden. Für Nichtmuslime erweist er sich oft unzugänglich. Man könnte sich fragen, warum Muslime seine Schönheit so hochpreisen, während er auf manche westliche Leser eher langweilig und eintönig wirkt. Welchen Einfluss hat er auf das Denken und Fühlen der Muslime? Die Wirkung des Koran auf Muslime hängt von der Präsentation wie von dem Inhalt seiner Botschaft ab.
Der Koran als bildhafte Rede Als Buch ist der Koran weder sachlich noch chronologisch geordnet, da er zum stückweisen Vortrag in der Moschee bestimmt ist. Die Suren des Koran sind mit einer Sammlung der Predigten eines bekannten Priesters oder Rabbis oder der Reden eines bedeutenden Politikers vergleichbar. Diese Predigten und Reden wirken zum Teil durch Wiederholung. Denken Sie an einen Verkaufsleiter, der sein Verkaufsteam motivieren, oder einen Trainer, der seine Mannschaft vor einem Spiel anfeuern will. Ein Lektor könnte versuchen, diese Reden zu ordnen; doch dies wäre eine aufgesetzte Struktur, die in den ursprünglichen Reden nicht enthalten ist. Der Koran besteht aus dem gesprochenen Wort, das Reaktionen hervorrufen sollte. Der Koran stellt den Kontakt zu seiner Hörerschaft durch Worte, Bilder und Inhalte her. Er wendet sich an das Vorstellungsvermögen, die Gefühle und das Denken. Durch die Offenbarung des Koran versucht Mohammed, eine Verbindung zu seinen Hörern herzustellen, um sie zum Handeln anzuregen und ihre Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Sprecher (Gott) zu lenken. Gesten und Intonation mussten bei Mohammeds Vortrag eine entscheidende Rolle gespielt und Änderungen von Modus und Thema unterstrichen haben. Diese Gesten und gesprochenen Hinweise sind in dem geschriebenen Text nicht erhalten. Die meisten Menschen sind an strukturierte Reden gewöhnt. Sie erwarten entweder eine chronologische Folge oder eine thematische Gliederung, in der A zu B und dieses zu C führt. Die nicht lineare Natur des Koran macht es Nichtmuslimen, die nicht mit dem Koran groß geworden sind, oft schwer, dem Buch zu folgen. Der Koran ähnelt einer Collage verschiedener Bilder oder einem Kaleidoskop, in dem verschiedene Elemente wiederholt in unterschiedlicher Anordnung und unter anderer Perspektive auftauchen. Der Koran erzählt selten an einer Stelle die »ganze Geschichte«. Moses wird in vielen Passagen erwähnt, doch bei jeder Passage muss der Leser bereits einiges über die Geschichte von Moses wissen, um den Sinn der jeweiligen Passage zu verstehen.
Die Datierung der Suren Kann man die Suren datieren, auch wenn sie nicht chronologisch angeordnet sind? Viele muslimische Überlieferungen sprechen von der historischen »Gelegenheit der Offenbarung« einzelner Passagen im Koran. Leider widersprechen sich diese Überlieferungen manchmal; und im Allgemeinen halten westliche Gelehrte nicht viel von ihnen, wenn es um die Datierung geht. Dennoch stimmen sowohl muslimische als auch nichtmuslimische Gelehrte darin überein, dass man anhand des Inhalts und Stils festlegen kann, welche Suren in die mekkanische Zeitspanne (610–622) und welche in die medinensische Epoche (622–632) von Mohammeds Leben fallen (siehe Kapitel 6). Einzelne Suren können Offenbarungen aus unterschiedlichen Zeitspannen enthalten. Deshalb können einige mekkanische Suren Abschnitte enthalten, die aus der späteren medinensischen Epoche stammen, und umgekehrt. Mit welchen inhaltlichen und stilistischen Kriterien können mekkanische und medinensische Suren unterschieden werden? Die kürzeren, poetischeren und lyrischeren Suren gehören hauptsächlich zur
mekkanischen Zeitspanne. Die längeren, prosaischeren und detaillierten Suren gehören zur medinensischen Epoche. In der ersten Zeit war Mohammed vor allem ein Prediger, der im Wesentlichen zu nicht überzeugten Hörern sprach. In Medina war Mohammed Staatsmann und Gesetzgeber, der sich an eine Gemeinschaft wandte, die vornehmlich aus Muslimen bestand, und der sich mit praktischen Angelegenheiten dieser neuen Gemeinschaft auseinandersetzen musste. Eine Liste der Suren in chronologischer Reihenfolge finden Sie in dem Büchlein Der Koran – Eine Einführung von Hartmut Bobzin (C.H. Beck Verlag, 2004).
Die Sprache des Koran Die Sprache des Koran ist nicht das normale Arabisch aus Mohammeds Zeit. Einige vermuten, die koranische Sprache sei von einer literarischen Hochsprache abgeleitet, die damals in Arabien gesprochen und verstanden wurde. So wie Luther mit seiner Bibelübersetzung die deutsche Sprache entscheidend beeinflusste, hatte das Arabisch des Koran einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Arabischen. Die Sprache des Koran ist keine normale Prosa oder Poesie. Wenn man bedenkt, dass einige Zeitgenossen von Mohammed ihn als Dichter, Wahrsager, Verrückten oder Zauberer bezeichneten, scheint es, als ob sie Schwierigkeiten gehabt hätten, die Sprache des Koran einzuordnen. Die koranische Sprache ist eine Art gereimte und rhythmische Prosa. In vielen Übersetzungen des Koran kann man, auch ohne den Text zu lesen, erkennen, dass er wie Poesie angelegt ist. Auch wenn die Zeilen kein festgelegtes Versmaß oder eine bestimmte Anzahl von Silben haben, folgen sie einem Muster, das eher einem Gedicht als Prosa entspricht. Die Sprache des Koran arbeitet in hohem Maße mit Assonanz (vokalischem Gleichklang); das heißt, alle Zeilen einer Einheit enden mit demselben Klang. Auch wenn Sie den Inhalt nicht verstehen, sollten Sie sich einige Surenrezitationen anhören, um einen Eindruck von dem Effekt zu bekommen, den der Klang des Koran auf Muslime hat. Noch besser wäre es, der Rezitation zuzuhören und parallel dazu eine gedruckte Transkription des Arabischen zu lesen. Approaching the Qu'ran: The Early Revelations (White Cloud Press, 2nd Edition, 2007) von Michael Sells enthält Transkriptionen einiger kurzer Suren sowie herunterladbare Rezitationen, die Ihnen dies ermöglichen. Eine Gesamtrezitation des Koran durch den bekannten Rezitator Scheich Mohammad Ayoub ist auf 16 CDs erhältlich.
Die Unnachahmlichkeit des Koran (idschaz) Laut Tradition war Mohammed ungebildet und konnte weder lesen noch schreiben. Deshalb ist der Koran ein Wunder, das Mohammed selbst nicht hätte produzieren können. An mehreren Stellen im Koran fordert Mohammed diejenigen, die seine Inspiration anzweifeln, auf, zehn (Sure 11:13) oder auch nur eine (Sure 10:38) dem Koran vergleichbare Suren zu produzieren. Niemand konnte dies. Daraus entwickelte sich die
idschaz (Unnachahmlichkeit) des Koran. Später versuchten muslimische Gelehrte wie die Theologen al-Baqillani und alDschurdschani im 11. Jahrhundert, den idschaz des Koran zu definieren. Sie betonten die Auswahl und Stellung der Wörter (nazm). Wenn man Wörter ändert oder umstellt, ändert sich die Bedeutung. Die Analyse des idschaz führte zu einem besseren Verständnis der rhetorischen Wirkung des Koran – warum er das Denken und Fühlen der Muslime über Jahrhunderte hinweg derartig beeinflusste. Heutige – muslimische und nichtmuslimische – Gelehrte haben begonnen, den Koran mit modernen Techniken der Textanalyse zu untersuchen, um ihn besser zu verstehen und übersetzen zu können. Einige muslimische Autoren des 20. Jahrhunderts wiesen nicht nur auf die künstlerischen Qualitäten des Koran hin, sondern auch auf seine wahr gewordenen Prophezeiungen, seine weise, heute noch anwendbare Gesetzgebung und seine Vorwegnahme des modernen Wissens über den Menschen und das Universum.
Wiederkehrende Themen im Koran Man kann nicht nur die Struktur der Wörter und Sätze im Koran, sondern auch die thematischen Elemente in den verschiedenen Suren analysieren. In seinem Buch Discovering the Qu'ran, A Contemporary Approach to a Veiled Text (Georgetown University Press International, 2nd Edition, 2004) unterscheidet Neil Robinson sechs Register oder Modi der Rede, aus denen die einzelnen Suren bestehen: Passagen, die sich gegen die heidnischen Gegner in Mekka und danach gegen die »Hypokriten« in Medina richten Zeichen, welche die Macht Gottes bezeugen, etwa die Toten auferstehen zu lassen für Mohammed bestimmte Nachrichten, einschließlich seiner Berufung Zeichen, die das Ende der Welt und das Jüngste Gericht ankündigen Material, das die Wahrheit der Botschaft und die Echtheit ihres Überbringers bezeugt Erzählungen wie Berichte über frühere Propheten, die ihre Völker vor drohender Zerstörung warnten, wenn sie nicht ihr Leben änderten Robinson zufolge werden Textblöcke dieser sechs Redemodi zu vollständigen Suren zusammengefasst. Was beim ersten Lesen wie eine Reihe unzusammenhängender Einheiten erscheint, kann jetzt als eine kohärente Einheit betrachtet werden. Robinson war von dem versteckten »Design« des Koran so beeindruckt, dass er darüber zum Muslim wurde. Natürlich ist Robinsons Liste der sechs Redemodi nicht die einzige Methode, um die wiederkehrenden Elemente zu analysieren; andere Passagen enthalten andere Texte wie Eide, rechtliche Aussagen oder Parabeln. Viele haben versucht, den Inhalt des Koran thematisch zu gliedern. A. A. Islahi, ein
zeitgenössischer südostasiatischer Korangelehrter, unterteilte den Koran in sieben Abschnitte, die jeweils ein anderes Hauptthema behandeln: Gesetz abrahamitische Religion (Judentum, Christentum und Islam, die alle ihre Abstammung vom biblischen Abraham behaupten – siehe Kapitel 15) Kampf zwischen Wahrheit und Täuschung Mohammeds Status als Gesandter die Einheit Gottes (die monotheistische Auffassung, dass Gott einer ist, ohne Kinder, Eltern oder Gatte/Gattin) das Letzte Gericht Warnungen an Ungläubige Solche Anordnungen des Koran nach Inhalten können nichtmuslimischen Lesern helfen, aber sie entsprechen nicht der Struktur des Koran.
Das Problem der wechselnden Perspektiven im Koran Man kann einen schneebedeckten Berg aus verschiedenen Perspektiven betrachten, etwa von Osten und dann von Süden. Wenn man diese Perspektiven kombiniert, erhält man ein vollständigeres Bild des Berges. Im Arabischen werden Änderungen von Person, Numerus und Tempus als iltifat bezeichnet. Damit lassen sich besondere rhetorische Effekte erzielen. »Wir« vermittelt ein majestätisches, transzendentes Bild Gottes, während »Ich« ein persönlicheres Bild Gottes vermittelt. Arabisch hat zwei Haupttempi. Eines drückt eine abgeschlossene und das andere eine nicht abgeschlossene Handlung aus, statt wie etwa im Deutschen Perfekt und Imperfekt und mehrere Futurformen zu unterscheiden. Häufig ändert sich das Tempus mitten in einer Passage. Außerdem wechselt das grammatikalische Subjekt innerhalb derselben Texteinheit von »Ich« zu »Wir« oder sogar »Er« und zu Substantiven wie »der Herr«. Für Muslime zählen diese Wechsel zu den Reichtümern des Koran.
Interpretation des Koran Kommentare der Heiligen Schrift haben im Islam eine lange Tradition. Sie werden als tafsir bezeichnet. Der Name leitet sich von einem Verb ab, das »erklären« bedeutet. Die Interpretationen begannen damit, dass Mohammed Fragen seiner Anhänger beantwortete. So hörte Aischa (seine junge Frau) ihn sagen: »Wer zur Rechenschaft gezogen wird, wird bestraft werden.« Aischa widersprach Mohammed, indem sie Sure 84:8 zitierte: »Sein Konto wird leicht auszugleichen sein«, was eine weniger harte Bestrafung bestimmter Sünder impliziert.
Koraninterpretationen Ein traditioneller Kommentar beginnt mit Sure 1:1 und arbeitet sich dann Vers für Vers durch den Koran. Der Autor zitiert den vollständigen Vers, zerlegt ihn in Phrasen und kommentiert dann jede Phrase. Dadurch wird zwar die Bedeutung einzelner Worte und Phrasen erhellt, der volle Text wird jedoch oft nicht übergreifend interpretiert. Der Autor erklärt unklare Worte und grammatikalische Konstrukte, nennt die Gelegenheit der Offenbarung, falls eine relevante Überlieferung existiert, schließt relevante Kommentare über die Passage von Mohammed, seinen Gefährten oder ihren Nachfolgern ein und verwendet andere Passagen aus dem Koran, um den thematisierten Vers zu erklären. Er kann auf rechtliche oder rituelle Auswirkungen der Passage hinweisen oder die mit ihr verbundenen philosophischen und theologischen Fragen diskutieren. Der Gelehrte kann auch rhetorische Beobachtungen anmerken. Er wird nicht versuchen, die Passage in ihren historischen Kontext einzuordnen oder ihn auf seine Gegenwart zu beziehen. Al-Tabaris Kommentar aus dem 10. Jahrhundert umfasst 39 Bände und ist einer der wichtigsten Kommentare. Al-Tabari unterscheidet Verse, die jeder verstehen kann, von Versen, die nur Gott verstehen kann, und von Versen, die der Leser nur verstehen kann, weil sie von Mohammed erklärt wurden.
Exoterische und esoterische Interpretation Bis jetzt habe ich in diesem Abschnitt die exoterische (zahir) Interpretation beschrieben, die sich mit der buchstäblichen »Oberflächenbedeutung« des Textes befasst. In der Vergangenheit haben viele Muslime angedeutet, der Text enthalte zusätzliche Ebenen mit einer verborgenen oder esoterischen (tawil) Bedeutung. Diese Form der Auslegung befasst sich mit der Annahme einer tieferen Bedeutungsebene. Die meisten der stärker auf den Text fixierten Sunni-Gelehrten lehnt tawil ab, andere sagen, der Koran zeige oft selbst an, wann eine tiefere Bedeutung der Schlüssel zum Verständnis sei. Sufi-Interpreten (Mystiker) spielen die Rolle der wörtlichen Bedeutung herunter und bevorzugen eine allegorische Interpretation, welche die spirituelle Bedeutung der Textes erhellen sollte. Schiitische Interpreten betonten eine innere Bedeutung (batin), deren Schlüssel in den Händen Alis und seiner Blutsverwandten gelegen habe. Für Sufis und Schiiten ist die innere Bedeutung also wichtiger als die äußere Bedeutung des Textes.
Die derogierten Verse Der Gedanke der Derogation (naskh) sagt, Gott habe einige Verse des Koran offenbart, die er später widerrufen (derogiert) habe. Diese These erwies sich beim Umgang mit zwei Situationen als besonders nützlich: Fälle, in denen verschiedene Verse aus dem Koran einander scheinbar widersprechen Fälle, in denen das islamische Gesetz, das auf Überlieferung und Brauch beruht, mit Aussagen im Koran in Widerspruch steht
Der Gedanke der Derogation basiert vor allem auf drei Passagen des Koran, den Suren 2:106; 22:52; 16:106, in denen die Rede davon ist, dass ein Vers von Gott zurückgenommen oder durch einen anderen ersetzt wurde. Sure 22:52 wird normalerweise als Bezug auf die Episode der Satanischen Verse verstanden (siehe Kapitel 3), in welcher der Vers über die drei Göttinnen Mohammed nicht von Gott, sondern von Satan offenbart wurde (Sure 53:19). Gott hob diese Offenbarung später wieder auf. Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert stellten Gelehrte höchst unterschiedliche Listen der derogierten und der derogierenden Verse zusammen. Die älteste erhaltene Abhandlung enthält 42 derogierte Verse. Doch diese Zahl wurde immer größer, bis in einem Buch aus dem 11. Jahrhundert 238 derogierte Passagen genannt wurde. Die gebräuchlichste Form der Derogation besteht darin, dass Gott eine Regel widerruft, aber der Vers selbst im Koran bleibt. Anhand von vier Versen über das Weintrinken lässt sich illustrieren, wie Derogation angewendet wird. Sure 16:67 erwähnt Wein zusammen mit anderen Früchten als Gabe Gottes. Laut Sure 2:219 hat der Genuss von Wein sowohl gute als auch schlechte Folgen, aber die schlechten wiegen stärker als die guten. Sure 4:43 warnt Gläubige davor, betrunken zum Gebet zu kommen. Sure 5:90 sagt, dass Wein und Glücksspiel Werke des Satans sind. Alle vier Verse sind miteinander vereinbar. Der letzte betont lediglich, dass der Mensch oft nicht Maß halten kann. Letztlich bleibt zu erwähnen, dass das hier verwendete Wort khamr nicht unbedingt »Wein«, sondern generell »Rauschmittel« bedeuten kann.
Der Koran im Alltag Viele muslimische Kinder lernen anhand des Koran lesen. Wenn sie heranwachsen, hören sie in Radio und Fernsehen koranische Rezitationen. Überall sehen sie künstlerische Darstellungen von Versen des Koran. Der folgende Abschnitt beschreibt diesen Aspekt des Koran im Alltagsleben von Muslimen.
Ausbildung mithilfe des Koran Vor der Einführung moderner, staatlich betriebener Erziehungssysteme, die auf dem europäischen Modell basierten, begann die schulische Erziehung etwa im Alter von sieben Jahren mit der Unterweisung im Lesen des Koran. Heute gibt es oft lokale Koranschulen neben den staatlichen Einrichtungen des Erziehungssystems. In den staatlichen Schulen islamischer Länder gehören Religionsunterricht und Arabisch zum Lehrplan, denn für die meisten muslimischen Kinder ist Arabisch nicht die Muttersprache. In einem westafrikanischen Dorf etwa versammeln sich die Schüler um einen Lehrer. Sie haben Schreibtafeln, Schreibgerät und Koranausgaben. Der Lehrer beginnt mit den ersten beiden Versen des Koran und lehrt Namen und Aussprache jedes neuen Buchstabens, sobald er im Text auftaucht, bis die Kinder alle 28 Buchstaben gelernt haben. Dann
kombinieren die Schüler die Buchstaben mit den verschiedenen Vokalen, wobei zusätzlich zu Sure 1 Passagen aus den Suren 105–111 verwendet werden. Anschließend kombinieren die Schüler Silben zu Wörtern, damit sie die ersten beiden Verse von Sure 1 wiederholen können. Bis dahin ging es nur um das Lesen und Rezitieren des Koran. Nun lernen die Kinder schreiben. Zunächst ziehen sie den Umriss einzelner Buchstaben nach, dem Beispiel des Lehrers folgend. Der Lehrer greift bei Bedarf korrigierend ein. Wenn die Schüler lesen, schreiben und rezitieren gelernt haben, haben sie etwa ein Viertel des Koran durchgearbeitet. Die wenigen Schüler, die bis zum Ende durchhalten (vier Jahre oder länger), können den Koran vollständig rezitieren und schreiben. Dieser Erfolg wird durch eine Abschlusszeremonie und Geschenke an die Schüler und Lehrer gefeiert. Wer den gesamten Koran auswendig kennt, kann den Ehrentitel eines Hafiz tragen: einer, der den Koran in seinem Herzen bewahrt.
Die Reproduktion des Koran: Kalligrafie Die Reproduktion des geschriebenen Koran ist genauso wichtig wie seine mündliche Rezitation. Die Kalligrafie zählt neben der Architektur zu den größten Kunstformen der islamischen Kultur und ist wie die professionelle Rezitation eine hoch angesehene Fähigkeit, die zu lernen Jahre der Übung erfordert. Nur in China hat die Kalligrafie eine ähnliche Perfektion wie in der muslimischen Welt erreicht. Auch wenn im Laufe der Zeit viele Schriften entwickelt wurden, dominieren von Anfang an zwei kalligrafische Stile: Kufisch verwendet eine kastenförmigere, eckigere, schwere, horizontale Schrift. Naskhi verwendet eine gedehntere, rundere, kursive, horizontale und vertikale Schrift. Geschriebene Verse aus dem Koran werden häufig verwendet: Sie schmücken die Wände von Moscheen und anderen religiösen Bauwerken. Das Tuch, das die Kaaba, den Schrein des Islam in Mekka, bedeckt, hat am oberen Rand ein Band mit koranischen Versen. Kurze Verse mit passendem Inhalt werden am Eingang von Schulen, Krankenhäusern und anderen Gebäuden angebracht. Bestimmte Suren und Verse werden auf Amuletten verwendet. Sie sollen Glück bringen.
Rezitation des Koran Die Koranrezitation ist in muslimischen Ländern eine hoch angesehene Kunst, die Segen (baraka) sowohl für den Rezitator als auch die Zuhörer bringt. Theoretisch kann jeder Muslim, der Zeit und Mühe zu investieren bereit ist, den Koran auswendig lernen. Doch den Koran schön zu rezitieren, ist eine Kunstform. In vielen
muslimischen Ländern sind Wettbewerbe in der Koranrezitation größere Ereignisse. Wie beim Sport oder bei Schulwettbewerben gibt es Ausscheidungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. In Indonesien sind diese Wettbewerbe besonders gut organisiert. Einige werden professionelle Koranrezitatoren, die bei öffentlichen und privaten Anlässen auftreten. Sie stellen Audioaufnahmen her, und ihre Rezitationen werden in Radio und Fernsehen ausgestrahlt. Ägyptische Koranrezitatoren sind besonders angesehen und Vorbild für andere.
Tadschwid: Methoden der Rezitation Sure 73:4 sagt, der Koran sei bedächtig und deutlich zu rezitieren. Im Laufe der Jahrhunderte wurden besondere Methoden der Koranrezitation entwickelt. Tadschwid (»etwas schön machen«) ist der arabische Begriff für die Regeln oder die Wissenschaft der Rezitation. Tadschwid bezeichnet jedoch nicht nur die Koranrezitation im Allgemeinen, sondern auch speziellere, verfeinerte Formen der Rezitation. Es werden zwei grundlegende Formen der Rezitation unterschieden: Murattal ist die konservativere, weniger melodische Form der Rezitation, die in Gottesdiensten verwendet wird. Sie ist langsam und bemüht sich um höchstmögliche Klarheit (tartil) bei der Aussprache des Textes. Deshalb ähnelt Murattal der Form, die im Studium verwendet wird, hat aber einen stärkeren Gesangseinschlag. Mujawwad ist der melodischere, ornamentale Stil der Rezitation. Der Rezitator bringt seine Fähigkeiten und seinen besonderen Stil zum Ausdruck. Die Mujawwad-Rezitation wird im Gottesdienst nicht verwendet, denn sie kann fast wie Gesang klingen und man sollte den Koran nicht mit einer vorgegebenen Melodie »singen«. Tadschwid regelt nicht nur die Rezitation, sondern auch die Anforderungen, die an den Rezitator gestellt werden: wie und wann er seinen Mund reinigen soll, wo er rezitieren darf und wo nicht und mit welcher Einstellung er die Rezitation in Angriff nehmen soll.
Die Eröffnung des Koran: Die Fatiha Um Ihnen einen Eindruck von einem Korankommentar zu vermitteln, beschließe ich dieses Kapitel mit einer kurzen Beschreibung der Fatiha (Sure 1, »Die Öffnende«). Die Fatiha gilt als Äquivalent des gesamten Koran und ist die bei Weitem am häufigsten rezitierte Sure. Sie wird 17-mal am Tag als Teil der täglichen Gebete rezitiert. Darüber hinaus rezitieren Muslime die Fatiha bei vielen andere Gelegenheiten, etwa beim Abschluss von Verträgen, als Fürbitte für einen Verstorbenen an seinem Grab und als Bitte um Heilung einer kranken Person. »Möge Gott für dich offen sein«, wird auch als abgekürzte Gebetsformel verwendet. Die Fatiha besteht aus drei Teilen: Anrufung, Bekräftigung und Bitte. Im Arabischen hat sie ein klares Klangmuster. Die Verse enden auf »im« oder »in«. Jede nicht eingerückte Zeile entspricht einem Vers. Sure 15:87 bezieht sich auf die »sieben oft zitierten Verse« des Koran, worunter die Fatiha zu verstehen ist:
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen! Lob sei Gott, dem Weltenherren, Dem Erbarmer, dem Barmherzigen Dem Herrscher am Tage des Gerichts! Dir dienen wir und zu Dir rufen wir um Hilfe. Leite uns den rechten Pfad, Den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden. Die Fatiha ist die einzige Sure, in der die Basmala, die Phrase, die mit »im Namen Gottes« beginnt, als integraler Teil der Sure und nicht als ihr Vorspann gilt. So wie die Fatiha als Äquivalent des gesamten Koran angesehen wird, wird die Basmala als Äquivalent der gesamten Fatiha betrachtet. Die Eigenschaften, die hier mit »dem Erbarmer, dem Barmherzigen« übersetzt werden, stammen beide von dem arabischen Wort für Schoß ab. Sie sollen ausdrücken, dass Gott sich um die Menschheit kümmert wie eine Mutter um ihre Kinder. Das erste Merkmal wird nur für Gott, das zweite sowohl für Gott als auch für Menschen verwendet, die versuchen sollten, Gottes Charakterzügen nachzueifern. Der zweite Vers ist die Quelle der gebräuchlichen Interjektion (Einschub, Zwischenruf) al-hamdulillah (»Lob sei Gott«). Der Satzbau verwendet Substantive, keine Verben. Damit soll gesagt werden, dass der Vers keinen Befehl (»lobet Gott« oder »möge Gott gelobt werden«), sondern eine Tatsache (»Lob sei Gott«) zum Ausdruck bringt. Im zweiten Teil des Verses umfasst Welten (im Plural) alles, was nicht Gott ist, und impliziert damit, dass Gott als Herr des Universums der Schöpfer von allem ist, was ist. So wie Gott am Anfang allein steht, steht er auch in Vers 4 am Ende der Welt am Tag des Gerichts allein. Der Anbetende wird in Vers 5 zitiert, und Gott wird persönlich angesprochen (»Du« im Gegensatz zu den substantivischen Gottesreferenzen in den Versen 1–4). Der Anbeter ist zugleich Dienender. »Wir« bettet den Gläubigen in eine Gemeinschaft der Gläubigen ein. Man unterwirft sich unter Gott (vergessen Sie nicht, dass »Muslim« bedeutet: »einer, der sich unter Gott unterwirft«), und im Gegenzug hilft Gott dem sich Unterwerfenden in Zeiten der Not.
Der »rechte Pfad« (Vers 6) ist eine Metapher für die islamische Religion. Ein rechter Pfad ist eine gepflasterte Straße im Gegensatz zu einem kleinen, wilden Pfad. Gepflasterte Straßen sind in der Wüste selten. »Leite uns den rechten Pfad« bereitet den Leser auf Sure 2 vor, wo der Koran in Vers 2 als »Rechtleitung für die Gottesfürchtigen« bezeichnet wird. In Vers 7 schließt die Sure mit einem Vergleich des Schicksals der Gläubigen mit dem der Ungläubigen ab. »Derer, denen Du gnädig bist« bedeutet die, die Gott wegen ihres Glaubens und ihrer Unterwerfung gesegnet hat. In diesem Vers wird nicht gesagt, Gott sei über die Ungläubigen verärgert. Er sagt, der Ärger komme über sie, weil sie »Irrende« seien, das heißt den Pfad verlassen hätten. Man sollte das Lesen der Fatiha mit einem »Amen« abschließen.
Kapitel 8
Tradition und Gesetz im Islam IN DIESEM KAPITEL Die Hadithe: Überlieferungen von Mohammed Die Scharia: Gesetze im Islam
Alle Religionen betonen sowohl Glaubenssätze als auch Handlungen, gewichten sie aber unterschiedlich. Während das Christentum den Glauben (an Jesus und den Gewinn des ewigen Lebens) betont, liegt das Schwergewicht im Islam auf den Handlungen. (Unterwirf dich unter Gott, indem du das Leben gemäß Gottes offenbarten Anleitungen lebst, dann wirst du am Tag des Gerichts ins Paradies kommen). Die Bedeutung der Scharia (Gesetz) im Islam ist am ehesten mit der Betonung des Gesetzes im Judentum vergleichbar. Beide Religionen haben eine umfangreiche Literatur darüber hervorgebracht, wie man aus ihren Heiligen Schriften (der Bibel beziehungsweise dem Koran) Rechtsvorschriften für Angelegenheiten ableiten könne, die in den Heiligen Schriften nicht direkt angesprochen sind. Der Hinduismus betont ebenfalls die Bedeutung des Gesetzes. Der Kodex Manu ist das älteste und wichtigste hinduistische Gesetzbuch. Dieser Kodex und andere ähnliche Texte gehören zum »Weg der Tat« (Karma Marga), im Gegensatz zum »Weg der Anbetung« und dem »Weg des Wissens« – den anderen beiden Hauptwegen zur Erlösung oder Befreiung im Hinduismus. Im Gegensatz zum Judentum, in dem der Inhalt des Gesetzes und die Methode der Rechtsgelehrsamkeit dem im Islam ähneln, unterscheidet sich das hinduistisches Gesetz inhaltlich grundsätzlich vom islamischen Gesetz. Auch im Konfuzianismus gibt es Normen für das menschliche Verhalten, aber seine Gesetze (oder vielleicht besser: Ratschläge) stammen nicht aus einer Offenbarung, sondern sind das Ergebnis menschlicher Überlegungen und Erfahrungen. Im Islam hat die Bestimmung der richtigen Handlungen Priorität. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie der Islam bestimmt, was Gottes Gesetz (scharia) ist. Weil Mohammed der Gesandte des Koran und das beste Zeugnis für den Pfad war, den Gott der Menschheit bestimmt hat, sind die Überlieferungen von Mohammed dem Koran zufolge die Hauptquelle, um Gottes Willen zu bestimmen. Vor der Untersuchung des islamischen Gesetzes soll deshalb die gebräuchliche Praxis beschrieben werden, Mohammeds Verhalten zu imitieren (sunna), wie es sich durch Studium der Überlieferungen (Hadithe) ermitteln lässt.
Mohammed imitieren Das Kürzel »WWJD« (»What would Jesus do?«, »Was würde Jesus tun?«) kennzeichnet eine populäre Strömung im amerikanischen evangelikalen Christentum, die versucht, Jesus als Verhaltensmodell nachzuahmen. Die Frage WWJD bedeutet jedoch nicht, ein Christ solle Jesus in jeder Hinsicht als Beispiel für den Alltag nachahmen. Christen sollen nicht versuchen, dasselbe wie Jesus zu essen oder auf derselben Körperseite wie Jesus zu schlafen.
Die beiden Teile eines Hadith Hadith ist ein arabisches Wort, das Ereignis oder Bericht bedeutet. Der Terminus Hadith bezeichnet jede mündliche Überlieferung über das Reden und Handeln einer anderen Person. Als der Islam jung war und sich rasch verbreitete, teilten die Gefährten Mohammeds den Konvertiten ihr Wissen über seine Reden und Taten mit. Nach Mekka pilgernde Muslime (siehe Kapitel 9) aus sehr fernen muslimischen Gemeinden wie Marokko oder Indonesien tauschten Hadithe miteinander aus. Auch heute noch tauschen sich Gelehrte auf Pilgerreisen aus, aber die Zeit der Sammlung der Hadithe ist längst vorbei. Hadithe bestehen aus zwei Teilen: Isnad, Teil I: Der erste Teil ist die Kette der Leute, die den Bericht weitergegeben haben (isnad). Falls mir jemand etwas über jemand anderen mitteilt, möchte ich die Quelle seiner Informationen erfahren, weil die Informationen nicht besser als ihre Quelle sind. Matn, Teil II: Der zweite Teil ist der Inhalt (matn) des Berichts selbst. Man kann den isnad als die Einführung und den matn als den Körper eines Hadith betrachten.
Ein typischer isnad lautet: »Bukhari von Muslim Ibn Ibrahim von Hisham von Yahya Ibn Ikrima von Ibn Abbas«. Dann folgt zum Beispiel eine Geschichte über Mohammed, der Männer verurteilt, die sich wie Frauen verhalten und umgekehrt (matn).
Den Inhalt eines Hadith erschließen Ein Hadith enthält einen oder mehrere von drei Hauptarten von Text: Handlungen Mohammeds, auch in Form von Dulden Aussagen Mohammeds
Aussagen und Taten von Menschen aus Mohammeds unmittelbarem Umfeld, wie zum Beispiel seinen Gefährten oder Frauen (Aischa) außerkoranische Worte Gottes (hadith qudsi)
Die Überlieferung verstehen: Sunna oder Hadith? Die Termini Sunna und Hadith werden normalerweise beide als »Überlieferung« übersetzt, haben aber unterschiedliche Bedeutungen: Sunna ist einmal Mohammeds vorbildliche Lebensweise; das, was Mohammed tat, duldete und sagte. Die Sunna in diesem Sinne ist keine Form der Literatur oder des Schreibens, sondern eine Sammlung einzelner Berichte (Hadithe) über Mohammed. Sunna ist auch der Name für den Mehrheitsislam der Sunniten (im Gegensatz zur Schia der Schiiten). Ein Hadith ist ein einzelner Bericht über das, was Mohammed tat oder sagte. Ein Hadith ist eine literarische Form. Doch woher weiß man, was er tat und sagte? Die Sunna Mohammeds setzt sich aus den Hadithen zusammen, die über Mohammed überliefert wurden. Die Sammlungen der Hadithe sind die schriftliche Überlieferungen der Sunna Mohammeds. Sunna wird hier logisch als Sammelbegriff für die Hadithe verwendet. Das Wort Sunna bedeutet ursprünglich »Brauch oder vorbildliches Verhalten«. Vor Mohammed pflegte jeder Stamm oder Klan eigene Gebräuche. Im Laufe der Zeit ersetzte die Sunna der muslimischen umma (Gemeinschaft) die Sunna der Stämme. Weil Mohammeds Zeitgenossen ihn aus erster Hand kannten, enthält die Sunna auch die Bräuche der ersten und zweiten Generation. Doch je mehr sich die Muslime zeitlich von Mohammed entfernten, desto stärker wurde der Begriff der Sunna auf die Überlieferung der Hadithe über Mohammed (statt über die ganze Gemeinschaft) eingeschränkt. Sure 33:21 spiegelt diese Sicht Mohammeds wider: »In dem Gesandten Allahs habt ihr wirklich ein schönes Beispiel …« Das Gegenteil von Sunna ist Innovation (bida). Für einige ist Innovation in der Religion gleichbedeutend mit Häresie (Ketzerei). Doch im Islam kann Innovation gut oder schlecht sein. Gute Innovationen erlauben es Muslimen, ein authentischeres islamisches Leben zu führen. Schlechte Innovationen umfassen die Aufgabe von Glaubenssätzen und Verhaltensweisen, die in der Überlieferung und dem Koran vorgeschrieben sind. Ob eine Innovation gut oder schlecht ist, hängt also mehr von der Sichtweise der Gelehrten als von der Innovation selbst ab. So waren sich die Rechtsgelehrten einig, dass die Feier von Mohammeds Geburtstag (maulid) eine Innovation war, was bedeutet, dass sie weder im Koran noch in den Überlieferungen erwähnt wird. Für den konservativen Rechtsgelehrten Ibn Taymiyya (14. Jahrhundert) war die maulid-Feier eine schlechte Innovation, während sie dem ebenso wichtigen Theologen al-Ghazali (11. Jahrhundert) als gute Innovation galt. (In Kapitel 10 erfahren Sie mehr über den maulid.)
Der Inhalt der Hadithe kann auch auf folgende Art unterschieden werden: Informationen über das Leben Mohammeds oder früherer Gestalten (etwa des biblischen Joseph), die nicht im Koran stehen rechtliche Texte, in denen Mohammed den Koran interpretiert und anwendet oder auf andere Weise spezielle Richtlinien für Ritus oder Gesetz festlegt
predigtähnliche Texte, die zu einem Leben nach islamischen Werten motivieren sollen
Die Sammlung der Hadithe Die traditionelle Biografie (sirat) Mohammeds (siehe Kapitel 6) bestand aus einer Sammlung der ersten beiden Arten von Hadithen. Muslime, die das Leben Mohammeds bis ins kleinste Detail nachahmen wollen, stützen sich auf diese Berichte. Frühe Hadith-Sammlungen waren nach den Personen geordnet, welche die Hadithe überliefert haben. Später wurden thematische Gliederungen verwendet. Als verbindliche Quelle für den Islam stehen diese Sammlungen nur dem Koran nach. Um Glaubenssätze und Handlungsweisen zu rechtfertigen, zitieren Muslime spezielle Hadithe ähnlich oft wie den Koran. Beispielsweise bezieht sich Bukhari 24:13 auf einen Hadith aus Buch 24, Kapitel 13 von al-Bukharis Sammlung von Hadithen. Neben Bukharis Sammlung werden Sie wahrscheinlich auch Verweise auf die Hadith-Sammlungen von Muslim, Abu Daud, al-Nasai, al-Tirmidhi und Ibn Maja (alles berühmte Hadith-Gelehrte aus dem 8. und 9. Jahrhundert) finden. Schiiten verfügen über eigene Sammlungen. (Die Schiiten werden in Kapitel 12 näher behandelt.) Typische Sammlungen enthalten Tausende von Hadithen. Sie können Audioaufnahmen mit den Hauptsammlungen kaufen oder im Internet einschlägige muslimische Websites besuchen (siehe Anhang C).
Die Geschichte der Hadithe Unter der Herrschaft von Kalif Umar II. (717–720) befassten sich Muslime damit, Hadithe für künftige Generationen zu bewahren. Umar beauftragte den Historiker al-Zuhri, die Hadithe zu sammeln und niederzuschreiben. Später wurden die Bemühungen noch verstärkt, alle Überlieferungen Mohammeds zu sammeln. Hadith-Gelehrte reisten umher, um zusätzliche Überlieferungen zusammenzutragen. Es wurden ausgefeilte Regeln für die korrekte Übermittlung von Hadithen entwickelt.
Ein Überblick über die 40 Überlieferungen Die Hadith-Hauptsammlungen enthalten Tausende von Hadithen. Um die Hadithe auch normalen Muslimen zugänglich zu machen, wurden einfachere Texte benötigt. Deshalb stellten einige Gelehrte kleine Sammlungen der ihrer Meinung nach wichtigsten Hadithe zusammen. Die möglicherweise beliebteste und auch heute noch am weitesten verbreitete Sammlung für die Unterweisung junger Muslime sind die 40 Überlieferungen von al-Nawawi (1233–1277). Die fünf folgenden Hadithe stehen beispielhaft für diese Sammlung. Wie üblich werden diese Hadithe Mohammed zugeschrieben:
»Was ich dir verboten habe, das vermeide; was ich dir geboten habe, das erfülle, so gut du kannst.« »Werde nicht wütend.« »Wo keine Verletzung entstanden ist, gibt es keine Vergeltung.« »Wer immer einem meiner Freunde feindlich entgegentritt, den überziehe ich mit Krieg.« »Gott hat um meinetwillen über die Fehler und Vergesslichkeit meiner Gemeinschaft hinweggesehen.« In deutscher Sprache sind die »Vierzig Hadithe« an-Nawawis von Marco Schöller mit umfangreichem Kommentar und Übersetzung verfasst im Verlag der Weltreligionen 2007 erschienen.
Die Hadithe bewerten Im Laufe der Zeit tauchten immer mehr Überlieferungen auf, die Mohammed zugeschrieben wurden. Muslimische Gelehrte erkannten, dass nicht alle Hadithe verlässlich waren. In einigen Fällen hatten sich ehrenwerte Leute einfach geirrt, als sie Worte weitergaben, die ihrer Meinung nach auf Mohammed zurückgingen. Einige Leute empfanden Hadithe nach, die sie Mohammed zuschrieben, um eine spezielle Position in den damaligen (8. und 9. Jahrhundert) theologischen oder politischen Auseinandersetzungen zu unterstützen. Hadith-Gelehrte entwickelten Kriterien für die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hadith gültig ist (das heißt, dass er auf Mohammed zurückgeht). Diese Gelehrten ordneten Hadithe in drei Kategorien abnehmender Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit ein: Begründet (sahih): mit größtmöglicher Sicherheit wahr Gut (hasan): sehr wahrscheinlich wahr Schwach (daif): kann nicht als wahr betrachtet werden, solange er nicht durch andere Überlieferungen bestätigt wird Wie bestimmten Hadith-Gelehrte die Gültigkeit einer Überlieferung? Sie untersuchten hauptsächlich den isnad (die Kette der Leute, die den Bericht weitergaben) und bewerteten unter anderem folgende Punkte: Welchen Charakter hatte ein Übermittler: War er moralisch einwandfrei? Waren andere Überlieferungen dieser Person zuverlässig? War ein spezielles Glied in der Kette logisch möglich? Haben sich zwei zeitlich nahe Personen in der Kette überhaupt als Erwachsene getroffen, sodass Informationen weitergegeben werden konnten? Gibt es Belege dafür, dass sie jemals zur selben Zeit am selben Ort waren?
Gab es mehrere Übermittlungsketten? Falls ja, war dies überzeugender als eine Überlieferung über eine einzige Übermittlungskette. Kommt die Überlieferung in den beiden, später als kanonisch deklarierten, Hauptsammlungen von Bukhari und von Muslim vor?
Einige westliche Gelehrte betrachten viele Hadithe als Erfindungen ohne historischen Wert. Diese Gelehrten verweisen auf Anachronismen im Text (Anspielungen auf Auseinandersetzungen im Islam oder auf Orte und Menschen aus Zeiten nach Mohammeds Tod). Sie behaupteten, gültige und ungültige Hadithe seien nicht unterscheidbar und die detaillierten isnads seien erst später zu den älteren Hadithen hinzugefügt worden. Deshalb könne eine kritische Analyse der isnads auch nicht die historische Korrektheit der Überlieferungen bestätigen. Andere entwickelten detaillierte Analysetools (isnad cum matn), mit deren Hilfe sie Wahrscheinlichkeiten bestimmen wollten.
Die Verwendung von Hadithen in neuerer Zeit Einige muslimische Reformer aus dem 19. und 20. Jahrhundert haben Hadithe verwendet, um den Islam zu modernisieren oder umgekehrt seine ursprüngliche Form zu restaurieren. Diese Reformer können einen Hadith verwenden, um eine heute übliche Praxis zu rechtfertigen, etwa indem sie zeigen, dass Mohammed Frauen ermutigt hatte, Moscheen zu besuchen. Dieses Zitat richtet sich gegen Leute, die Frauen nur ausnahmsweise in Moscheen sehen wollen. Ein Beispiel: Eine zeitgenössische feministische islamische Wissenschaftlerin, Riffat Hassan, hat sechs Hadithe untersucht, die im Islam verwendet wurden, um die Auffassung zu stützen, Frauen seien minderwertiger als Männer. Alle sechs erwähnen, dass die Frau aus der Rippe eines Mannes erschaffen worden sei. Einige gehen noch weiter, indem sie behaupten, die Frau sei aus der gekrümmten Spitze der Rippe (ihrem schwächsten Teil) erschaffen worden. Drei Hadithe stammen aus der Bukhari-Sammlung, drei aus der Muslim-Sammlung, den beiden wichtigsten Sammlungen, was vermuten lässt, es handele sich um »begründete« Hadithe. Bei näherer Betrachtung, so Hassan, gehen alle sechs Hadithe in ihren Isnads auf einen Gefährten Mohammeds namens Abu Huraira zurück. Der bedeutende Rechtsgelehrte Abu Hanifa aus dem 8. Jahrhundert betrachtete Abu Huraira nicht als zuverlässigen Übermittler von Hadithen, zumal sich Aischa schon darüber lustig gemacht hatte, dass er vieles aus seiner Froschperspektive missverstanden habe. Deshalb, so schließt Hassan, sind diese sechs Überlieferungen »schwach« und dürfen nicht verwendet werden, um Frauen – im Widerspruch zum Koran – eine untergeordnete Rolle zuzuschreiben. Das Argument impliziert, dass die Worte nicht wirklich auf Mohammed zurückgehen, sondern ein Vorurteil Frauen gegenüber widerspiegeln, das sich erst nach Mohammeds Zeit in der muslimische Zivilisation
eingenistet hat.
Die Ursprünge des islamischen Gesetzes Als der Islam jung war und sich schnell verbreitete, mussten die ersten Kalifen den Staat organisieren. Es gab noch keine Rechtsgelehrten und noch keine Rechtstheorie, nach der Gesetze im Einklang mit dem Islam formuliert werden konnten. Natürlich hielten sich die vier rechtgeleiteten Kalifen (siehe den gleichnamigen Abschnitt in Kapitel 2) bei ihren Entscheidungen an Mohammed und den Koran. Doch viele rechtliche Entscheidungen wurden spontan getroffen. Bald konnte der Kalif nicht mehr alle Rechtsfragen und Streitereien selbst klären. Deshalb delegierten die frühen Omayyaden-Kalifen einige rechtliche Verantwortlichkeiten an einen islamischen Richter (qadi), der normalerweise unter den islamischen Gelehrten (ulama) ausgewählt wurde. Bei den Fällen, die vor einen qadi kamen, ging es hauptsächlich um Erbschaftsangelegenheiten, Status- und Eigentumsfragen sowie Verträge. Im Laufe der Zeit übernahmen die Richter verschiedene nichtrichterliche Funktionen als Treuhänder (waqfs), Testamentsvollstrecker, Notar, Vormund von Minderjährigen und Überwacher der öffentlichen Moral. Neben dem qadi gab es das andere religiöse Amt des muhtasib (Marktwächter). Während der qadi Streitereien schlichtete, die ihm vorgetragen wurden, wurde der muhtasib von sich aus tätig. Er prüfte Gewichte und Münzen, begutachtete die Qualität und den Preis von Waren und hielt nach Fällen von Zinsnahme Ausschau, die nach islamischem Gesetz verboten waren. Sie sorgten auch dafür, dass Menschen den Gottesdienst besuchten, kümmerten sich um die Erhaltung von Moscheen und Stadtmauern und überwachten die Straßenreinigung. Im 20. Jahrhundert war das Amt des muhtasib im Allgemeinen verschwunden. Mitte des 8. Jahrhunderts wurde die aufkommende Gelehrtenschicht der ulama immer wichtiger. Diese Schicht erhielt sich selbst und hing nicht von Ernennungen durch die Regierung ab. Die ulama wurden zu Experten des islamischen Gesetzes. Sie entwickelten neue Rechtsnormen und arbeiteten die Rechtstheorie aus. Gelehrte, die neue Rechtsnormen formulierten, wurden als mudschtahids bezeichnet (»die, die sich anstrengen«; das Wort stammt von demselben arabischen Wort wie dschihad ab).
Gottes Gesetz verstehen In Sure 5:48 sagt Gott: »Jedem von euch gaben Wir ein Gesetz (Scharia) und einen Weg.« In einem nichtreligiösen Kontext bedeutet scharia den Weg zur Tränke. In der Religion bedeutet dagegen Scharia den Weg zum Leben dank der von Gott offenbarten Gesetze, die diesen Weg definieren. Scharia bedeutet Gottes Blaupause für das Leben und die Ordnung einer Gesellschaft. Muslimische Gemeinschaften erheben die scharia zu ihrem Ordnungsprinzip. Ihre Mitglieder, die Muslime, sollen danach leben. Seit den Anfängen des Islam haben Muslime dies versucht. Um Gottes Plan zu erfahren, soll ein Muslim zunächst den Koran konsultieren. Doch nur etwa 500 bis 600 von insgesamt 6.219 Versen im Koran enthalten Rechtsnormen, und die Mehrzahl dieser Verse betreffen Ritus und Gottesdienst. Rechtsnormen im Koran befassen sich oft mit Bereichen, in denen der Islam zur Zeit der Entstehung des Koran von den Bräuchen der
Araber abwich: Die Bräuche umfassen Regeln für die Erbschaft oder den Schutz weiblicher Kinder. Doch viele Bereiche werden durch den Koran rechtlich kaum geregelt.
Stufen der Konsolidierung des islamischen Gesetzes Bei der frühen Entwicklung des islamischen Gesetzes unterscheidet man fünf Stufen: 1. Zuerst konzentrierte sich die Rechtswissenschaft auf die Städte Kufa (Irak) und Medina. Das Gesetz wurde durch lokale Gebräuche mitbestimmt. 2. Mitte des 8. Jahrhunderts richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf das schriftlich niedergelegte islamische Recht. Ein ausführlicher Bezug auf Mohammeds Worte und Handlungen war vor der Existenz der HadithSammlungen noch nicht möglich gewesen. 3. Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts entstanden die vier Rechtsschulen. Parallel dazu bildete sich ein neues Verständnis der Quellen (Wurzeln) des Rechts heraus. 4. Im 10. Jahrhundert und später schrieben Rechtsgelehrte Bücher, die sich detailliert mit allen theoretischen Aspekten des Rechts auseinandersetzten. 5. Auch nach dem »Schließen der Tür des idschtihad« Ende des 10. Jahrhunderts konnten Muftis Rechtsgutachten (fatawa) zu Angelegenheiten erstellen, die von der früheren Jurisprudenz nicht abgedeckt wurden. Muftis waren hochgebildete Rechtsgelehrte. Eine Fatwa (Rechtsgutachten) konnte von Individuen als private Richtlinie oder von dem Richter als Hilfe zur Urteilsfindung angefordert werden. Mohammed Ibn Idris al-Schafii (767–820) gilt als Schlüsselfigur der islamischen Jurisprudenz und als verantwortlich für die Formulierung der vier Wurzeln des Rechts.
Die vier Wurzeln des Gesetzes (usul al-fiqh) Fiqh (Rechtswissenschaft) ist etwas anderes als scharia. Fiqh ist die menschliche Tätigkeit, die eruiert, was Gottes Gesetz sei. Fiqh ist das islamische Gesetz sowohl in seinen theoretischen Aspekten als auch in seiner praktischen Anwendung. Im Islam entwickelten sich verschiedene Schulen der Rechtsauslegung, die ihre eigenen führenden Fiqh-Gelehrten, Schulen und Regeln für verschiedene Fragen haben. Der Islam bezeichnet diese Schulen als madhahib (madhhab bedeutet wörtlich Weg). (Näheres hierzu finden Sie im Abschnitt »Die Rechtsschulen (madhahib)« weiter hinten in diesem Kapitel.) Jede Rechtsschule (madhhab) unterhält Ausbildungsstätten (madaris). Die vier Wurzeln des islamischen Rechts von al-Schafii (siehe auch den Kasten »Stufen der Konsolidierung des islamischen Gesetzes«) sind: Der Koran: An mehreren Stellen sagt der Koran: »Gehorcht Mir und gehorcht Meinem Propheten.« Mit »gehorcht Mir (Gott)« sind alle Verfügungen in Gottes Wort, also im Koran, gemeint.
Die Überlieferung (sunna) Mohammeds: Malik (siehe den Abschnitt »Die malikitische Schule« weiter hinten in diesem Kapitel) nahm an, dass der lokale Brauch von Medina der Überlieferung Mohammeds entsprach, weil er dort gelebt hatte. Aber mit der Entstehung der Hadith-Sammlungen plädierte al-Schafii dafür, dass ein verbindlicher geschriebener Text (Koran oder Hadithe) existieren müsse, bevor eine Überlieferung Mohammeds der Rechtsprechung dienen könne. Konsens (idschma): In einer häufig zitierten Überlieferung sagt Gott zu Mohammed, Seine Gemeinschaft werde nie übereinstimmend im Irrtum befangen bleiben. AlSchafii verstand den Konsens als Konsens der gesamten Muslimgemeinde. Aber wie kann man den Konsens aller Muslime feststellen? Weil dies unmöglich ist, verstanden spätere Gelehrte idschma als Konsens der qualifizierten Gelehrten einer speziellen Generation und Schule. Nachdem für ein Problem ein Konsens erreicht worden ist, ist dieser Konsens neben dem Koran und der sunna wie ein dritter geschriebener Text. Analogie (qiyas): Al-Schafii glaubte, Gott habe mit der scharia eine Anleitung für das gesamte menschliche Leben verkündet. Deshalb müsse es möglich sein, die Rechtsgrundlagen im Koran und in der sunna per Analogieschluss auf andere, ähnliche Fälle zu übertragen. Als Beispiel nennt al-Schafii die koranischen Verfügungen, mit dem Gesicht in Richtung der Kaaba in Mekka zu beten. Die meisten Muslime können beim Beten die Kaaba natürlich nicht sehen, sodass sie die richtige Richtung mit ihrer Vernunft herausfinden müssen. Ähnlich können Rechtsgelehrte mit der Vernunft die Fälle erweitern, die vom Koran und der sunna abgedeckt werden.
Analogie gilt nicht für religiöse Rituale. Kein rationales Prinzip erklärt, warum Gott die Muslime angewiesen hat, fünfmal statt zehnmal am Tag zu beten. Muslime vermeiden auch, per Analogieschluss die Strafen für Verstöße gegen nichtkoranisches Recht festzulegen. Neben den vier akzeptierten Wurzeln des Rechts vertreten einige Schulen zusätzliche Prinzipien. Auch wenn das islamische Recht auf einen Außenseiter anfänglich starr und inflexibel wirken mag, kann es aufgrund der vier Wurzeln und der ergänzenden Prinzipien in der Praxis recht flexibel angewendet werden. Istihsan (richterliche Präferenz, wörtlich »das Gute suchen«) wird von Hanafiten verwendet. Richterliche Präferenz bedeutet, dass es dem Richter (oder Rechtsgelehrten) überlassen bleibt, bei zwei möglichen Urteilen das Urteil zu wählen (zu präferieren), das das Allgemeinwohl fördert. Istislah (wörtlich »das Richtige suchen«) ist ein Prinzip, das von den Malikiten unterstützt wird. Es ähnelt istihsan insofern, als ein Urteil, falls es nicht dem Koran und dem Hadith widerspricht, die öffentliche und private Wohlfahrt fördern sollte. Dieses Prinzip schaut mehr auf den Geist des Gesetzes im Koran und
in den Hadithen als auf den Buchstaben des Gesetzes. Istishab ist ein Prinzip, nach dem angenommen wird, dass eine Situation, die in der Vergangenheit existierte, in der Gegenwart fortdauert, falls es keine gegensätzlichen Indizien gibt. Die meisten Schulen wenden dieses Prinzip auf geeignete Fragen an. Wenn etwa eine Person verschwindet und nie wieder auftaucht, gilt sie laut Erbschaftsgesetz als lebendig, bis ihre normale Lebensspanne abgelaufen ist. Ibaha (»Zulässigkeit«). Alle Handlungen, die nicht dem Koran und der sunna widersprechen, gelten als zulässig. So erlauben es die Hanbaliten einer Frau, eine Klausel in einen Ehevertrag einzufügen, die es dem Ehemann verbietet, andere Frauen zu heiraten. Urf ist eine Ausnahme, die auf der Basis eines lokalen Brauches von einigen Gelehrten der hanafitischen und der malikitischen Schule gemacht wird. So kommt ein rechtsgültiger Vertrag nur durch die mündliche Zustimmung beider Parteien zustande. Doch der Richter kann auch eine schriftliche Zustimmung zu einem Vertrag akzeptieren, falls dies lokal gebräuchlich ist. Darura (Notwendigkeit) ist ein spezielles Prinzip, das per Analogieschluss aus Sure 2:239 abgeleitet wurde und mit Abu Hanifa in Verbindung gebracht wird, aber nicht auf die hanafitische Schule beschränkt ist. Muss beispielsweise ein Soldat in einer Schlacht vom Pferd steigen, um sein Gebetsritual auszuführen? Der Koran sagt Nein. In einer Schlacht zur Verteidigung des Glaubens kann es notwendig sein, auf dem Pferd und kampfbereit zu bleiben; deshalb darf der Soldat auch im Sattel beten. Ein modernes Beispiel: Während das islamische Gesetz theoretisch in allen Situationen gelten sollte, kann es erforderlich sein, dass sich moderne muslimische Nationen bei ihren Beziehungen zu anderen souveränen Staaten an internationales Recht halten.
Die Rechtsschulen (madhahib) Jeder Muslim wählt für seine rechtlichen Angelegenheiten eine der Rechtsschulen und kann sie auch wechseln. Madhhab bedeutet wörtlich »Weg«; es wird manchmal auch als Sekte oder Ritus übersetzt. Schulen sind keine Religionen. Unabhängig von der Strömung des Islam, zu der ein Muslim gehört (siehe Teil IV des Buches), folgt jeder Muslim grundsätzlich einer der Schulen. Erst in der Neuzeit und mit Rücksicht auf die muslimische Diaspora bahnt sich eine andere Praxis an. Die meisten Schiiten folgen der dschafaritischen Schule, die mit dem sechsten schiitischen imam verbunden ist. (Näheres über die Schiiten finden Sie in Kapitel 12.) In
diesem Abschnitt beschreibe ich die vier heute existierenden Sunna-Schulen.
Die hanafitische Schule Abu Hanifa (700–767) war der Enkel eines freigelassenen Sklaven aus Afghanistan. Er wurde in Kufa geboren und starb in Bagdad, arbeitete also im Irak. Er machte weite Reisen und lehnte es ab, in dem politischen Streit zwischen den Omayyaden und Abbasiden um die Kontrolle des islamischen Staates (siehe Kapitel 2) Stellung zu beziehen. Er war einer der ersten, der allgemeine Prinzipien formulierte, um Gelehrte bei der Rechtsprechung anzuleiten. Er betonte die Analogie (qiyas) und arbeitete mit hypothetischen Fällen, um bestimmte Punkte zu verdeutlichen. Die hanafitische Schule ist die mildeste der vier Sunna-Schulen, was auch an ihrem Prinzip der »richterlichen Präferenz« (istihsan) liegt, mit dem harte Urteile abgemildert werden können. Die hanafitische Schule war die offizielle Schule sowohl des Abbasiden- als auch des Osmanischen Reiches (siehe Kapitel 2). Sie ist heute die am weitesten verbreitete Rechtsschule. Sie herrscht in den meisten Regionen vor, die von diesen beiden Reichen regiert wurden, ausgenommen der Iran und Saudi-Arabien. Der Iran folgt als schiitisches Land der dschafaritischen Schule. In Saudi-Arabien herrscht die hanbalitische Schule vor (siehe den Abschnitt »Die hanbalitische Schule« weiter hinten in diesem Kapitel). Afghanistan, ein großer Teil Zentralasiens und der größte Teil Südasiens folgt ebenfalls der hanafitischen Schule, wobei die heute herrschenden Taliban in Afghanistan ausschließlich ihrem eigenen archaischen Rechtsverständnis folgen. Hingegen ist Nordafrika malikitisch. Sie können sich am besten merken, welche Rechtsschule in welchem Land vorherrscht, wenn Sie sich die Länder vergegenwärtigen, in denen die hanafitische Schule nicht vorherrscht.
Die malikitische Schule Malik Ibn Anas (716–795) verbrachte den größten Teil seines Lebens in Medina. Sein Buch al-Muwatta ist das erste Buch des islamischen Rechts. Es kombinierte eine Sammlung von Urteilen mit Überlieferungen Mohammeds. Malik integrierte die rechtlichen Bräuche von Medina und arbeitete mit istislah (Beachtung des Allgemeinwohls) und Analogie. Als Kalif Harun al-Raschid Malik bat, nach Bagdad zu kommen, um seine Söhne zu unterrichten, antwortete Malik: »Wissen reist nicht, sondern man reist zum Wissen.« Die malikitische Schule herrscht in Westafrika und Nordwestafrika vor. Im Süden Ägyptens, im Sudan, in Bahrain und im Kuwait spielt sie eine größere Rolle.
Die schafiitische Schule Al-Schafiis Systematisierung der vier Wurzeln des islamischen Rechts wird im Abschnitt »Die vier Wurzeln des Gesetzes (usul al-fiqh)« weiter vorn in diesem Kapitel beschrieben. Er lehnte die richterliche Präferenz der Hanafiten und die Anwendung der medinensischen (außer durch schriftliche Hadithe bestätigte) Bräuche der Malikiten ab. Die schafiitische Schule herrscht in den folgenden Regionen oder Ländern vor: Unterägypten, Südarabien, Ostafrika, Malaysia, Indonesien, Teile von Zentralasien, Teile der kaukasischen Bergregionen, wie etwa Dagestan.
Die hanbalitische Schule Ibn Hanbal (780–855), der Gründer der konservativsten der vier Sunna-Schulen, ist dafür bekannt, den Bemühungen von al-Mamun widerstanden zu haben, mutazilitische Glaubenssätze (siehe Kapitel 4) durchzusetzen. Er überlebte Gefängnisaufenthalt und Folter und wurde zum Helden der Traditionalisten. Der hanbalitische Konservatismus zeigt sich auch darin, dass er ausnahmslos den Koran über die sunna stellt. Diese Schule sagt, die prophetische Überlieferung dürfe unter keinen Umständen je dafür verwendet werden, einen Vers im Koran zu »derogieren« (siehe Kapitel 7). Ibn Hanbal ging weiter als al-Schafii: Er begrenzte sowohl Schlüsse auf Basis allein der Vernunft als auch Analogie; aber seine Anwendung der ibaha (Zulässigkeit) machte die hanbalitische Position in einigen Fällen flexibler als andere Schulen. Ibn Taymiyya (1263–1328) war ein wichtiger hanbalitischer Rechtsgelehrter in Damaskus, dessen Arbeit großen Einfluss auf die konservativen Wahhabiten in Arabien und die islamischen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts ausübte. Auch wenn die Hanbaliten einflussreich bleiben, herrscht das hanbalitische Recht heute nur in Saudi-Arabien und Qatar vor.
Eine Entscheidung treffen Ein richterliches Urteil zu fällen oder eine rechtliche Entscheidung zu treffen, ist komplexer, als nur über die Legalität oder Illegalität einer Handlung zu befinden. Stattdessen gibt es Zwischenkategorien. Das islamische Recht befasst sich auch mit der Frage der Bestrafung illegaler Handlungen und verfügt über Methoden zur Vermeidung übertrieben harter Urteile.
Die fünf Handlungskategorien Im islamischen Recht werden alle Handlungen in fünf Kategorien eingeordnet: Obligatorische Handlungen (fard oder wadschib) werden in zwei Kategorien unterteilt: Handlungen (wie das Gebet), die jeder Muslim ausführen muss, und Handlungen (wie der Kampf zur militärischen Verteidigung des Islam), die einige
Menschen für die ganze Gemeinschaft ausführen. Empfohlene Handlungen (mustahabb oder mandub) sind verdienstvoll, aber nicht notwendig. Beispiel ist das Fasten außerhalb des Monats Ramadan. Neutrale Handlungen (muba) haben keine moralischen oder rechtlichen Konsequenzen. Es handelt sich quantitativ um den größten Bereich menschlicher Tätigkeit. Abgeratene Handlungen (makruh) sollten vermieden werden. Sie werden jedoch nicht bestraft. So gilt die Ehescheidung laut Mohammed als »die hassenswerteste von allen erlaubten Handlungen«. Verbotene Handlungen (haram) sind das Gegenteil der obligatorischen Handlungen. So ist es absolut verboten zu foltern.
Die Abschätzung von Strafen Der Islam hat wegen einiger strenger koranischer Strafen (hudud) einen schlechten Ruf: Todesstrafe für Mord, Amputation einer Hand für Diebstahl oder Auspeitschen für andere Vergehen. Diese Verbrechen und die vom Koran geforderten Bestrafungen werden im Arabischen als hudud (wörtlich: Grenzen, Einzahl hadd) bezeichnet. Die Tradition rät, eine hadd-Bestrafung als Höchstzulässiges, nicht als das stets Gebotene zu betrachten. Die Verhängung dieser Strafen unterliegt vielen Einschränkungen. So verhängt der Koran in Sure 24:2 für Ehebruch eine Strafe von 100 Peitschenhieben, doch er erfordert im Fall eines Ehebruchs auch vier Zeugen für den Akt der sexuellen Penetration. Beim Abschneiden der Hand als Strafe für Diebstahl gibt es laut Sure 5:48 eine Reue-Klausel. Der Richter muss auch den Wert des gestohlenen Gutes in Betracht ziehen und prüfen, ob mildernde Umstände existierten. Wenn ein Muslim ohne eigenes Verschulden hungert und deshalb stiehlt, hat es die Gemeinschaft versäumt, seinen Hunger zu lindern, und ist damit mitschuldig. In diesem Fall wird die Strafe nicht verhängt. Zwar haben einige muslimische Länder die hudud-Strafen wieder eingeführt und gelegentlich auch ausgeführt, doch dies ist wahrscheinlich eher die muslimische oder totalitäre Version einer Politik, die durch drastische Abschreckung Verbrechen verschärft bekämpfen will, als Ausdruck echter Frömmigkeit und eines Bekenntnisses zum islamischen Recht.
Das Schließen der Tür der idschtihad Ende des 10. Jahrhundert kamen Rechtsgelehrte zu der Auffassung, dass alle wesentlichen Rechtsfragen geklärt seien. Die »Tür der Interpretation« (idschtihad) sei geschlossen und Muslime sollten sich ab jetzt an Entscheidungen aus der Vergangenheit halten (taqlid), die in den Büchern der verschiedenen Rechtsschulen gesammelt worden waren. Die Herrscher legten fest, welche Rechtsschule für ihr Land verbindlich sein soll,
während Einzelpersonen die Rechtsschule wählten, der sie sich unterwerfen wollen. Bei Rechtsfällen, die durch das ältere Recht nicht abgedeckt waren, holten Richter, Herrscher oder Einzelpersonen die Meinung eines mufti (Rechtsberater) ein. Entscheidungen, die nach dem »Schließen der Tür« getroffen wurden, gehörten nicht zum Konsens einer Schule und durften nicht als Basis für neue Entscheidungen verwendet werden. Ibn Taymiyya und einige andere Hanbaliten lehnten die Vorstellung vom Schließen der Tür stets ab. Heute geht man allgemein davon aus, dass die »Tür« nie geschlossen war, und die Rechtsschulen haben bei den modernen islamischen Erweckungsbewegungen ihre Bedeutung verloren. Ihre Devise ist: »Zurück zu den Quellen.« Ein Beispiel für eine fatwa: Das Osmanen-Reich hatte einen Großmufti, der ein hoher Regierungsbeamter war. Einst wurde der Großmufti gefragt, ob ein Dorf, das keine Moschee habe, gezwungen werden solle, eine zu bauen. Seine Antwort, die fatwa, lautete »Ja«, und die fatwa zitierte sowohl frühere Regierungserlasse als auch die Bedeutung des Gebetsrufs im Islam. Eine Fatwa zu bekommen, ist heute leichter als früher. Im Internet gibt es zahlreiche einschlägige Websites wie etwa www.cyberfatwa.de, auf denen man Fragen stellen kann. Natürlich weiß man nicht, ob die Antwort (die fatwa) von einem qualifizierten muslimischen Rechtsgelehrten stammt, sodass die Gültigkeit der fatwa mehr als fraglich ist. Aber an fatwa ist ohnehin niemand gebunden.
Das Recht verstehen Im sunnitischen Islam gilt die Rechtsprechung aller vier Rechtsschulen als gültig, selbst wenn sie einander widersprechen. Weil die Schulen bestimmte Probleme unterschiedlich regeln, kann durch Wahl der geeigneten Regeln aus den vier Schulen eine beträchtliche Flexibilität erreicht werden. Die Idee des Patchwork (talfiq) geht weiter als die der Auswahl. Bei einem speziellen Problem kann eine Person oder eine Regierung durch Kombination von Regelungen einer Schule mit Teilen einer Regelung einer anderen Schule eine neue Rechtsnorm schaffen, die zu keiner früheren Norm passt. So schreibt das hanafitische Recht vor, eine Frau, deren Mann verschwunden sei, müsse bis zum Ende seiner erwarteten Lebensspanne warten, bevor sie wieder heiraten dürfe. In der malikitischen Schule beträgt die Wartezeit nur vier Jahre. Durch Übernahme des Teils der malikitischen Norm über die Wartezeit in einem Land, in dem das hanafitische Recht gilt, vermeidet das Land die Verhängung einer Wartezeit, die über die Lebenserwartung einer Frau hinausreicht, deren Mann verschwunden ist.
Eine weitere Technik, die von hanafitischen und schafiitischen Rechtsgelehrten angewendet wird, ist der hiyyal (Trick) – im Wesentlichen ein formalistisches Vorgehen, mit dem die offensichtliche Bedeutung einer Passage des Koran umgangen werden soll. So war das Zinsverbot für Händler, die langfristig Güter kauften und verkauften, früher ein Problem. Heute ist dieses Problem noch gravierender, weil Muslime in einer kapitalistischen Weltwirtschaft agieren müssen. Muslimische Juristen können jedoch Verträge wie mudaraba und murabaha aufsetzen, die den wirtschaftlichen Zweck des Zinses auch ohne formale Zinszahlungen erfüllen, sei es durch zweistufige Kaufverträge (anstelle eines Kaufes auf Kredit), sei es durch Bildung einer Personalgesellschaft unter Einschluss von Kreditgeber und Kreditnehmer.
Fiqh- und Fatwa-Bücher Rechtsgelehrte haben zwei grundlegende Arten von Büchern geschrieben: Theoretische Werke: Risala von Al-Schafii ist ein frühes Beispiel; Mustasfa von al-Ghazali ist das klassische Werk. Diese Werke behandeln Themen wie die fünf Kategorien, die vier Wurzeln des Rechts und andere Quellen sowie die Regeln für die Ableitung neuer Normen aus den Quellen. Regelwerke: Werke dieses Typs enthalten sowohl praktische Zusammenfassungen von Regeln für verschiedene Bereiche als auch einen theoretischen Abschnitt, der zeigt, dass das Werk sowohl mit den Prozeduren seiner Schule als auch mit dem Koran und der sunna übereinstimmt. Die praktische Zusammenfassung enthält zwei grundlegende Abschnitte: Der erste behandelt die Pflichten Gott gegenüber (im Wesentlichen Gottesdienst und Ritual); der zweite behandelt die Pflichten anderen Menschen und sich selbst gegenüber. Dieser zweite Abschnitt enthält üblicherweise Familienrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Bodenrecht, Strafrecht sowie Verfahrensrecht.
Die Reformation des Rechts Viele Probleme des Islam in den letzten beiden Jahrhunderten drehten sich um das Recht. Mit der Kolonialherrschaft kam auch westliches Recht in die meisten muslimischen Länder. Sowohl ein systematischer Rechtskodex als auch die Gesetzgebung durch eine Legislative wurden eingeführt. Für die meisten Rechtsbereiche wurde ein an westliche Vorbilder angelehnter Rechtskodex verbindlich, während das muslimische Recht hauptsächlich in Bereichen wie dem Familienrecht erhalten blieb. Nach westlicher Auffassung basiert die Rechtsprechung auf dem Willen des Volkes. Nach traditioneller islamischer Auffassung besteht kein Bedarf an einer Gesetzgebung, weil Gottes Gesetz eine unveränderliche Vorlage liefert. Gottes Gesetz bedarf nicht menschlicher Zustimmung, sondern menschlicher Auffindung. Nachdem die muslimischen Länder ihre Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft erreicht hatten, übernahmen sie das Modell des westlichen Nationalstaates. Es wurden verschiedene Lösungen vorgeschlagen, um das muslimische Recht mit dem Recht
moderner Staaten zu vereinen: Auswahl (takhayyur) und Patching (talfiq) werden von Muslimen verwendet, die glauben, dass das ausschließliche Festhalten an einer einzigen Rechtsschule heute nicht mehr angemessen ist. Einige befürworten die verstärkte Nutzung der »Subsidiaritätsprinzipien« des Rechts wie etwa des istislah (Streben nach allgemeiner Wohlfahrt), um muslimisches Recht in modernen Situationen einzusetzen. Traditionelle Rechtsgelehrte sagen, das Problem sei durch die Aufgabe des muslimischen Rechts entstanden, das vom 11. bis zum 14. Jahrhundert existierte. Falls die Muslime zu der Situation zurückkehrten, die vor dem Eindringen des Westens existierte, würden die Probleme gelöst werden. Einige muslimische Reformer betrachten die Klasse der Gelehrten selbst als Problem. Der Islam solle nicht zu dem klassischen rechtlichen Konsens zurückkehren, wie er zu der Zeit existierte, als die Tür der Interpretation (idschtihad) geschlossen wurde. Stattdessen solle er weiter zurück zu den ersten drei Generationen des Islam gehen und bereit sein, zeitgemäße juristische Normen auf der Basis des Koran und der Hadithe zu entwickeln. Einige moderne Reformer befürworten die Unterscheidung zwischen den unveränderlichen grundlegenden Prinzipien (maqasid) des Koran und der Hadithe einerseits und der speziellen Anwendung dieser Prinzipien zur Zeit Mohammeds andererseits. Zeitgenössische Probleme erfordern Lösungen mittels dieser grundlegenden Prinzipien. So darf ein Mann laut Sure 4:3 bis zu vier Frauen nehmen, aber nur wenn er sie gleich behandelt. Laut Sure 4:129 kann aber ein Mann nicht mehrere Frauen gleich behandeln. Modernisten wie Mohammed Abduh (1849–1905), der Gründer der islamischen Reform in Ägypten, interpretieren diese beiden Aussagen zusammen als ein heutiges Verbot der Polygamie. Hier noch einmal der Syllogismus: Ein Mann darf mehrere Frauen haben, wenn er sie gleich behandelt. Aber kein Mann kann mehrere Frauen gleich behandeln. Also darf kein Mann mehr als eine Frau haben. Seit 1970 haben viele muslimische Länder dem islamischen Recht eine zentralere Rolle eingeräumt. In einigen Ländern beschränkt sich dies auf die Erklärung, dass das Recht des Staates auf der scharia basiere. Andere schlagen einen Rat islamischer Juristen vor, der alle Gesetze des Staates auf Widersprüche zum islamischen Recht prüfen solle. Noch andere wollen weitergehen und systematischer versuchen, das islamische Recht zum grundlegenden Recht des Staates zu machen. Die muslimische Welt steht heute auch noch vor anderen juristischen Problemen: Wie steht das islamische Recht zu dem modernen Völkerrecht, das die internationalen
Beziehungen aller Länder gemeinsam regelt? Wie verhalten sich die allgemeinen Menschenrechte (wonach alle Menschen unabhängig von Religion, Rasse, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit dieselben Grundrechte haben) zur Scharia?
Teil III
Der muslimische Alltag
IN DIESEM TEIL … Rituale spielen in der Religion und der Umsetzung von Glaubenssätzen eine entscheidende Rolle. Hier werden die fünf Säulen ausführlich behandelt, welche die Grundlage der rituellen und gottesdienstlichen Pflichten eines Muslim bilden: das Glaubensbekenntnis, das fünfmalige tägliche Gebet, die Sozialabgabe, das Fasten und die Pilgerfahrt, der spirituelle Höhepunkt im Leben eines Muslim. Im Islam werden auch noch andere Anlässe rituell begleitet: Mohammeds Geburtstag und die Zeremonien um Geburt, Namensgebung (Taufe), Hochzeit und Tod. In diesem Teil werden auch diese Anlässe sowie einige weltliche Bräuche und Pflichten (Nahrung, Kleidung) der Muslime behandelt. Am Schluss geht es um die muslimische Ethik im Allgemeinen sowie einige Fragen dieser Ethik im Besonderen: Sexualethik, Heirat und Familie, Medizin und soziale Gerechtigkeit.
Kapitel 9
Die fünf Säulen des Gottesdienstes: Die Grundlagen des Islam IN DIESEM KAPITEL Die Schahada – das muslimische Glaubensbekenntnis Das Salat – das islamische Gebet Moscheen – islamische Orte des Gottesdienstes Zakat – Wohlfahrt im Islam Saum im Ramadan – ein Monat des Fastens Der Hadsch – die Wallfahrt
Bei jeder Religion denken sowohl Anhänger dieses Glaubens als auch Außenseiter sofort an bestimmte grundlegende Dinge, wie etwa das Rad des Dharma im Buddhismus oder die Zehn Gebote im Judentum und Christentum. Auch im Islam gibt es etwas derart Grundlegendes: die fünf Säulen des Gottesdienstes (arkan al-ibada). Wie das Gerüst eines modernen Wolkenkratzers bildeten Säulen in alten antiken Gebäuden das grundlegende Stützelement der Struktur. Ähnlich stützen die fünf Säulen des Gottesdienstes im Islam den Glauben. Im Gegensatz zu den fünf Säulen des Glaubens (siehe Kapitel 3), welche die fünf grundlegenden muslimischen Glaubenssätze festlegen, geben die fünf Säulen des Gottesdienstes die fünf grundlegenden Handlungen des Gottesdienstes an. In diesem Kapitel werden diese fünf Säulen, ihre Namen und die mit ihnen verbundenen Handlungen erklärt. Außerdem wird ein Thema behandelt, das manchmal als die sechste Säule bezeichnet wird: der dschihad (das Bemühen, die Anstrengung) – was oft fälschlicherweise als heiliger Krieg übersetzt wird. Die fünf Säulen des Gottesdienstes werden im Koran nicht zusammen an einer Stelle genannt. Die Details der Befolgung der Säulen wurden erst nach dem Tod Mohammeds vollständig fixiert (siehe Kapitel 5), obwohl die Säulen, wie man annimmt, implizit Teil der Handlungen Mohammeds und seiner Gefährten waren. Außerdem sollten Sie nicht überrascht sein, wenn die Säulen an anderer Stelle in einer etwas anderen Reihenfolge genannt werden. Es gibt noch zwei weitere Bezeichnungen für die Säulen des Gottesdienstes: die fünf Säulen der Religion
(arkan al-din) und die fünf Säulen des Islam. Wichtig ist nur, dass mit den (fünf) Säulen des Gottesdienstes, der Religion und des Islam dasselbe gemeint ist. Die fünf Säulen können als das Minimum aufgefasst werden, das ein gläubiger, praktizierender Muslim erfüllen muss. Wer gerade zum Islam übergetreten ist oder daran denkt zu konvertieren, muss sich fragen: Wie beginne ich, als Muslim zu leben? Woran muss ich glauben? Was muss ich tun? Wo fange ich an? Die fünf Säulen des Gottesdienstes bieten ein simples Gerüst für den Anfang und das künftige Leben als Muslim. Die Säulen entsprechen den Hauptpunkten einer Checkliste, um Sie auf den geraden Weg (al-sirat al-mustaqim, einer der koranischen Begriffe für das Leben als Muslim) zu bringen. Jede Säule ist unkompliziert, und jeder Muslim kann selbst feststellen, ob oder wie weit er jede Anforderung erfüllt hat. Natürlich sind die Säulen nur ein Anfang. Jede Säule öffnet eine Tür zu einem tieferen Verständnis und zu größerer Spiritualität, wenn man in den Glauben hineinwächst. Dazu muss erwähnt werden, dass nicht jede »Sekte« des Islam alle fünf Säulen akzeptiert oder befolgt.
Reinigung: Vorbereitung auf den Gottesdienst Die meisten Religionen unterscheiden das Heilige und das Profane (das Säkulare). Das Heilige ist das, was zu Gott gehört oder was der Religion das Höchste oder Letzte ist. Das Profane hat mit dem normalen Leben und seinen Angelegenheiten zu tun. Häufig sind Gläubige der Auffassung, sie sollten beim Kontakt mit dem Heiligen (also in monotheistischen Religionen: mit Gott) in einem Zustand körperlicher und spiritueller Reinheit sein. Weil rituelle Handlungen den Gläubigen näher zu Gott bringen, muss man in einem Zustand der Reinheit sein, bevor man gottesdienstliche Handlungen wie ein Gebet (salat) oder die Wallfahrt nach Mekka (hadsch) ausführt. Handlungen, durch die man rituell unrein wird, sind nicht notwendigerweise minderwertig oder unmoralisch. Die Reinigung ist damit vergleichbar, dass Leute früher (und oft auch noch heute) feierliche Kleidung anlegten, wenn sie in die Kirche gingen. Jeans und kurze Hosen waren nicht per se ungeeignet, galten aber bei einem Gottesdienst als unpassend. Der Hinduismus und das Judentum legen ebenfalls sehr viel Wert auf die rituelle Reinheit. Ihre Auffassungen, was eine Person oder Sache unrein macht und wie die Unreinheit beseitigt werden kann, stimmen in vielen Punkten überein. Obwohl sie nicht zu den fünf Säulen des Gottesdienstes gehören, enthalten muslimische Sammlungen der Überlieferungen (Hadithe) über den Gottesdienst und das Ritual einen separaten Abschnitt über die Reinigung. Eine Überlieferung sagt: »Reinheit ist der halbe Glauben.«
Die Entfernung der Unreinheit Wenn sich eine Person im Zustand ritueller Unreinheit befindet, muss sie, bevor sie einen arabischen Koran berührt, betet oder die Wallfahrt beginnt, entweder eine kleinere rituelle Reinigung (wudu) ausführen oder, bei größeren rituellen Unreinheiten, ein rituelles Bad (ghusl) nehmen. Vor den meisten täglichen Gebeten ist nur wudu erforderlich. Wudu ist ein separates Ritual mit einer vorgeschriebenen Folge von Handlungen und Worten. Muslime verwenden fließendes oder gegossenes Wasser, um gewisse Körperteile wie Gesicht, die Unterarme, den Mund und die Ohren zu waschen. Moscheen verfügen zu diesem Zweck entweder über einen Brunnen oder eine andere Wasserquelle (zum Beispiel Wasserhähne und Bassins). In Religionen auf der ganzen Welt ist Wasser das wichtigste Reinigungsmittel. Kein Wasser? Kein Problem! Die Absicht zählt. Arabien hat sehr viel Sand und wenig Wasser. Um an einem Ort zu beten, an dem es kein Wasser gibt, können Muslime auch ihre Hände mit Sand einreiben und dann die Handbewegungen und Gebete der Reinigung ausführen.
Quellen der Unreinheit Wahrscheinlich haben Sie bereits vermutet, dass islamische Gelehrte viel Mühe darauf verwendet haben, detailliert festzulegen, was kleinere und größere Unreinheiten ausmacht, so wie sie detailliert die rituellen Reinigungen (wudu und ghusl) ausgearbeitet haben. Ursachen für die größere rituelle Unreinheit sind unter anderem: Ejakulation, Menstruation, Geburt und Kontakt mit einer Leiche. Ursachen für die kleinere rituelle Unreinheit sind unter anderem: Berührung der eigenen Genitalien, Verlust des Bewusstseins, Urinieren und Tiefschlaf. Im Allgemeinen wird eine Person durch chronische Krankheiten wie Inkontinenz rituell nicht unrein. Die meisten Dinge, die im Islam als Ursachen der Unreinheit gelten, tun dies auch in anderen Religionen und erfordern eine Reinigung. Üblicherweise gelten in vielen Religionen Körperausscheidungen jeder Art, alles, was mit dem Tod zu tun hat, und alles, was mit dem Geschlechtsverkehr verbunden ist, als verunreinigend. Blutverlust gilt ebenfalls als verunreinigend, weil Blut eine Körperausscheidung ist. Dass Schlaf im Islam als verunreinigend gilt, ist hauptsächlich eine Vorsichtsmaßnahme – denn im Schlaf könnte man sich selbst verunreinigt haben. Deshalb wird nach einem tiefen Schlaf eine Reinigung empfohlen. Kontakte mit bestimmten Tieren – Schweinen und Hunden – sind ebenfalls verunreinigend. Vorstellungen der Reinheit und Unreinheit spielen auch in anderen Bereichen des Islam eine Rolle. Eine der Bezeichnungen für die Beschneidung des neugeborenen Kindes ist Reinigung (tahara). Die rechte Hand und der rechte Fuß gelten als rein, die linke Hand als verunreinigend. Deshalb sollte man, wenn man eine Moschee (einen heiligen Bereich) betritt, mit dem rechten Bein zuerst eintreten. Man isst mit der rechten Hand, reinigt sich
aber mit der linken Hand. Anthropologen wie Maria Douglas haben viel dazu beigetragen, die Funktion der Reinheit und Unreinheit in Religionen zu verstehen.
Die Schahada (erste Säule): Glaubensbekenntnis Viele Religionen fassen die Essenz ihres Glauben in einer kurzen, einfachen Aussage zusammen. Zugleich enthalten solche Aussagen oder Zeugnisse viel tiefere Bedeutungen, die an anderen Stellen ausgeführt werden können. Dies gilt auch für das Glaubensbekenntnis (schahada) im Islam. Dieses Bekenntnis – »Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt, und ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.« – fasst zusammen, was es bedeutet, ein Muslim zu sein. (In Kapitel 3 wird dieses Ideal der Einheit Gottes beschrieben; und in Kapitel 5 wird Mohammeds Berufung als Gesandter Gottes behandelt.) Im Gegensatz zu vielen anderen Religionen stimmen Juden und Christen zu: »Es gibt keinen Gott außer Gott.« Das grundlegende Bekenntnis des Judentums, die Shema (5. Buch Mose 6:44–45), und der Anfang des Glaubensbekenntnisses im Christentum drücken denselben Gedanken aus. Im Buddhismus haben die Drei Zufluchten (»Ich nehme Zuflucht zu Buddha, ich nehme Zuflucht zur Lehre, ich nehme Zuflucht zur Gemeinschaft der buddhistischen Mönche«) eine ähnliche Funktion wie die Schahada im Islam. Wenn jemand vor zwei Zeugen dieses Bekenntnis mit der Absicht ausspricht, Muslim zu werden, wird er tatsächlich ein Muslim. Muslime sagen, dass die betreffende Person zum Islam »zurückkehrt«. Sie glauben, dass alle Menschen ursprünglich Muslime waren, da sie sich zur Zeit der Schöpfung Adams Gott unterworfen hatten. Mit leichten Variationen wird die Schahada auch bei vielen anderen Gelegenheiten aufgesagt. So flüstert der Vater seinem neugeborenen Kind die Schahada ins Ohr. Idealerweise sind die Worte der Schahada die letzten Worte, die sterbende muslimische Ohren hören. Die Leichenträger bei einer Beerdigungsprozession können die Schahada singen. Sie bildet die Basis des Gebetsrufs, und jeder Beter wiederholt sie am Ende jedes der fünf täglichen Gebete – siehe den Abschnitt »Salat (zweite Säule): Gebet« weiter hinten in diesem Kapitel.
Versuche, die Schahada aufzusagen Als der Engel Gabriel Mohammed zum Propheten berief und ihm zugleich den frühesten Teil des Koran offenbarte (siehe Kapitel 5 und 6), wies Gabriel Mohammed an, zu rezitieren und nicht einfach zu lesen. Das gesprochene Wort des Koran beim Gottesdienst weckt die Gefühle und rührt die Seele eines Muslim in derselben Weise an, wie eine vertraute alte Hymne einen Christen bewegen kann, selbst wenn er sich nicht
an alle Worte erinnert. Wenn Sie die Bedeutung des gesprochenen Wortes im Islam wirklich verstehen wollen, sollten Sie versuchen, die Schahada in Arabisch auswendig zu lernen und laut aufzusagen: aschhadu al-la ilaha illaLlah, wa aschhadu anna Muhammad ar-rasul Allah. Keine Bange! Die Wiederholung der Schahada macht Sie nicht zu einem Muslim, solange dies nicht Ihre Absicht ist. Bei allen rituellen Handlungen im Islam muss man zuerst bewusst die Absicht (niyya) ausdrücken, die Handlung auszuführen, bevor diese gültig wird.
Die Schahada bekräftigt, dass Muslim zu sein, keine private Angelegenheit zwischen dem Gläubigen und Gott ist, sondern dass ein Muslim verpflichtet ist, seine Hingabe an Gott zu bezeugen und Zeugnis vor anderen abzulegen. Anders ausgedrückt: Zum Islam gehört eine Verpflichtung zu dem, was Christen als Missionierung bezeichnen (im Islam: dawa, das heißt Einladung). Natürlich ist das Rezitieren der Schahada nur eine Möglichkeit, den Glauben zu bezeugen. Ein Muslim kann sein Leben opfern und als Märtyrer für den Islam sterben. Ein solcher Märtyrer wird als schahid bezeichnet, was Zeuge bedeutet und von derselben arabischen Wurzel wie Schahada abstammt.
Über den Dschihad Dschihad wird im Westen üblicherweise als »heiliger Krieg« übersetzt und wird manchmal als eine sechste Säule der religiösen Pflichten betrachtet (ilbadat bedeutet Dienst oder Gottesdienst). Im Islam gibt es verschiedene, oft einander widersprechende Erklärungen von dschihad. Unabhängig davon, ob der dschihad zu den Säulen gezählt wird oder nicht, stimmen alle überein, dass eine Pflicht zum dschihad besteht. Alle stimmen darin überein, dass das Wort »Streben« oder »Anstrengung« bedeutet und an einigen Stellen im Koran ohne militärische Nebenbedeutung verwendet wird. Doch an anderen Stellen umfasst dschihad auch den Krieg, wobei der Krieg im Namen Gottes in der islamischen Überlieferung im Mittelpunkt dieses Begriffs steht. Mehr über den dschihad finden Sie in Kapitel 16, in dem einige Missverständnisse über den Islam behandelt werden.
Salat (zweite Säule): Gebet Das rituelle Gebet (salat) im Islam besteht aus einer teilweise vorgeschriebenen Folge von Worten mit begleitenden Körperhaltungen. Es ist die wichtigste Handlung des Gottesdienstes im Islam. Das tägliche salat spielt im Islam eine so zentrale Rolle, dass man in einigen Sprachen eine Person nicht fragt, ob sie religiös sei oder an Gott glaube, sondern ob sie salat mache, wenn man wissen will, ob sie Muslim ist. Andere gottesdienstliche Rituale sind auch wichtig, werden aber in viel größeren Zeitabständen ausgeführt – einmal im Jahr oder sogar nur einmal im Leben. Doch wenn ein Muslim fünfmal am Tag betet, wird er laufend daran erinnert, Gott über alles andere zu stellen. Salat unterscheidet sich als festgelegtes Gebetsritual vom dua, einem freiwilligen Gebet, dessen Inhalt und Form nicht vorgeschrieben ist. Mit dem salat drückt ein Muslim nicht
nur seinen Glauben aus. Das Gebet ist für ihn auch ein Mittel, mit dem sein Glaube als Muslim geformt und vertieft wird. Es hat hier dieselbe Funktion wie in den meisten anderen Religionen auch.
Wann beten Muslime? Woher wissen Muslime, wann sie ihre fünf täglichen Gebete verrichten sollen? Die genaue Uhrzeit hängt von dem Ort und der Jahreszeit ab. In muslimischen Ländern wird der Zeitpunkt durch den Gebetsruf angezeigt. Er hallt über die Dächer und prägt sich nichtmuslimischen Touristen nachhaltig ein. In nichtmuslimischen Ländern liefern gedruckte Gebetspläne, muslimisch programmierte Wecker und Armbanduhren sowie Computerprogramme und muslimische Websites die genauen Gebetszeiten für jeden Ort und jedes Datum. Die fünf täglichen Gebete sind: Morgengebet unmittelbar vor Sonnenaufgang (zwei Gebetszyklen) Mittagsgebet (vier Gebetszyklen) Nachmittagsgebet (vier Gebetszyklen) Abendgebet nach Sonnenuntergang (drei Gebetszyklen) Nachtgebet etwa 90 Minuten nach Sonnenuntergang bis kurz vor dem Morgengebet (vier Gebetszyklen) Unter gewissen Umständen können Mittags- und Nachmittagsgebet sowie Abend- und Nachtgebet verkürzt und kombiniert werden. Ausgelassene Gebete sollen nachgeholt werden. Änderungen sind in bestimmten Situationen erlaubt (bei Krankheit, in öffentlichen Verkehrsmitteln). Während der Menstruation führen Frauen das Gebet nicht aus, weil sie aufgrund der Blutung, wie Männer nach einem Samenerguss, als unrein gelten (siehe den Abschnitt »Reinigung: Vorbereitung auf den Gottesdienst« weiter vorn in diesem Kapitel). Neben den vorgeschriebenen fünf täglichen Gebeten können Muslime natürlich zusätzlich beten. Außerdem gibt es besondere Anlässe für Gebete: die beiden Hauptfesttage am Ende des Monats Ramadan und während der Wallfahrt (hadsch), Begräbnisse und andere Gelegenheiten. Halten sich alle Muslime an die fünf täglichen Gebete? Natürlich nicht, ebenso wenig wie alle Christen einmal in der Woche in die Kirche gehen. Doch mit dem Aufschwung der Religiosität in der muslimischen Welt während der letzten 30 Jahre ist auch der Anteil der Muslime gewachsen, die die fünf täglichen Gebete (und die anderen fünf Säulen des Gottesdienstes) streng beachten. Falls die Umstände jemanden daran hindern, ein Gebet auszuführen, versteht Gott, akzeptiert die Absicht und erlaubt es, das Gebet nachzuholen. Die traditionelle Biografie Mohammeds erklärt, warum Muslime fünfmal am Tag
beten. Bei Mohammeds nächtlicher Reise nach Jerusalem und seiner Himmelsreise (siehe Kapitel 5) teilte Gott ihm mit, Muslime sollten 50-mal am Tag beten. Auf seinem Rückweg traf Mohammed Moses, der ihn fragte, wie viele Gebete Gott vorgeschrieben hatte. Moses sagte, die Leute könnten nicht 50-mal beten, und forderte Mohammed auf, zurückzugehen und Gott um eine Verringerung dieser Zahl zu bitten. Dies passierte mehrere Male, bis die Zahl auf fünf Gebete reduziert worden war. Dann war Mohammed zu verlegen, um Gott um eine weitere Reduktion zu bitten. Gott sagte Mohammed, dass Muslime, die fünfmal am Tag beten, die Belohnung für 50 Gebete bekommen würden.
Wo beten Muslime? Muslime können ihre Gebete fast überall verrichten. Wenn der Zeitpunkt zum Gebet gekommen ist, wenden sich die Leute mit dem Gesicht nach Mekka, dem religiösen Zentrum der muslimischen Welt im heutigen Saudi-Arabien. Die Richtung nach Mekka heißt qibla. Moscheen werden so gebaut, dass eine Wand, die qibla-Wand, nach Mekka gerichtet ist. Im Innern der Moschee zeigt ein Bereich der qibla-Wand – oft eine halbkreisförmige Nische – die Richtung nach Mekka und damit die Richtung an, in die man beim Beten blicken soll. Diese Nische ist der mihrab, die Gebetsnische. Vor dem Gebet werden die Schuhe ausgezogen. Wer nicht in einer Moschee betet, rollt zum Beten einen Gebetsteppich aus. Normalerweise zeigt dieser Gebetsteppich die Große Moschee von Mekka, die »unverletzliche« (haram) Moschee des Islam. Wer keinen Gebetsteppich hat, kann auch auf einer ausgebreiteten Zeitung beten. Auch wenn Muslime allein beten können, beten sie lieber zusammen mit anderen Muslimen. Muslime stellen sich geordnet in Reihen auf. Eine Person steht davor und übernimmt die Rolle des imam (des Vorbeters). In Übereinstimmung mit der allgemeinen Betonung der männlichen Führerrolle im öffentlichen Bereich – eine Überlieferung, gegen die einige muslimische Frauen mit dem Argument protestieren, sie sei nicht durch den Koran begründet – darf eine Frau nur Vorbeter für andere Frauen, nicht aber für Männer sein.
Der Gebetsruf (adhan) Der Zeitpunkt zum Gebet wird durch zwei Gebetsrufe (adhan und iqama) angekündigt. Wenn Sie schon einmal ein muslimisches Land besucht oder eine Dokumentation über den Islam im Fernsehen gesehen haben, haben Sie den Gebetsruf gehört, auch wenn Sie ihn möglicherweise nicht als solchen erkannt haben. Früher stieg der Muezzin (die Person, die den Gebetsruf verkündet) 15 Minuten vor dem Gebet das Minarett hinauf, um von dort den Gebetsruf zu verkünden. Ein Minarett ist ein Turm, der bei Moscheen eine ähnliche Funktion wie der Kirchturm bei christlichen Kirchen hat. Auch wenn es weiterhin Muezzins gibt, wird der Gebetsruf heute oft vom Tonband
abgespielt und über Lautsprecher verbreitet, die auf einem Minarett oder auf mehrstöckigen Gebäuden installiert sind. In der Moschee wird der Ruf in kürzerer Form (iqama) wiederholt. Er endet mit den Worten: »Soeben beginnt der Gottesdienst.« Weil der Gebetsruf zu den am häufigsten rezitierten islamischen Texten gehört, zeige ich in Tabelle 9.1 den gesprochenen arabischen Text und seine Übersetzung. Die Tabelle enthält die Teile des Gebetsrufs, die mehrere Male wiederholt werden. In den Ruf vor dem Morgengebet fügen die Sunniten »Das Gebet ist besser als der Schlaf« vor dem zweiten Ausruf »Gott ist größer« ein. Die Zwölferschiiten fügen am Ende des Gebetsrufs einen Hinweis auf Ali hinzu. (Mehr über Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten finden Sie in Kapitel 12.) Übersetzung
Gesprochener arabischer Ausruf
Gott ist größer [als alles andere]. (viermal rezitiert – dies heißt takbir) Allahu akbar Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt. (zweimal)
Aschhadu alla ilaha illa Llah
Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist. (zweimal)
Aschhadu anna Muhammad ar-rasulu-Llah
Kommt zum Gebet. (zweimal)
Hayya ala-s-salat
Kommt zum Heil. (zweimal)
Hayya ala-l-falah
Gott ist größer. (zweimal)
Allahu akbar
Es gibt keinen Gott außer Allah. (zweimal)
La ilaha illa-Llah
Tabelle 9.1: Die Teile des Gebetsrufes (adhan)
Minarette Die ältesten Moscheen hatten weder ein Minarett noch eine Gebetsnische (mihrab). Doch bis zum Ende des ersten muslimischen Jahrhunderts war das Minarett zu einem normalen Bestandteil von Moscheen geworden. Minarette weisen regional unterschiedliche Stile auf. Die Omayyaden in Syrien bevorzugten einen quadratischen Grundriss, während die osmanischen Türken lieber runde, spiralförmige Türme bauten. (Näheres über die Omayyaden und Osmanen finden Sie in Kapitel 2.) Wenn Sie diese Stilrichtungen kennen, können Sie anhand eines Fotos des Minaretts recht gut abschätzen, in welchem Teil der muslimischen Welt die dazugehörige Moschee steht. Ein berühmtes Minarett in Ägypten wurde so gebaut, dass der Muezzin auf einem Esel hinaufreiten konnte – ein frühes Gegenstück eines Aufzugs.
Der erste Gebetszyklus (Verbeugung) Das Gebetsritual besteht je nach Tageszeit aus zwei bis vier Verbeugungszyklen (rakas) – einer Folge vorgeschriebener Bewegungen und begleitender Worte. Bei seinen fünf täglichen Gebeten führt ein Betender mindestens 17 Verbeugungen aus. Wenn ein Gebet (salat) in einer Versammlung von einem Vorbeter (imam) geleitet wird, spricht der einzelne Betende seine Gebete lautlos oder sehr leise vor sich hin. Jeder Betende hat vorher seine Absicht erklärt (gedacht oder leise vor sich hin gesprochen), das Gebet zu
verrichten. Obwohl es kleinere Variationen der Körperhaltung und der gesprochenen Worte gibt, umfasst jeder Verbeugungszyklus (raka) die folgenden Schritte: 1. Mit leicht geöffneten Füßen hebt der Betende die Hände mit den Handflächen nach außen und vorn in Kopfhöhe und spricht laut den takbir. Er faltet die Arme vor der Brust und rezitiert dabei die erste Sure (Fatiha) und eine andere Passage seiner Wahl aus dem Koran. Diese erste Position endet mit einem weiteren takbir. 2. Der Betende verbeugt sich mit den Händen auf den Knien und sagt dabei dreimal: »Lob sei Dir, mein Herr, dem Allmächtigen.« 3. Wieder in aufrechter Position sagt er: »Gott hört die, die Ihn lobpreisen. Oh unser Herr, Lob sei mit Dir.« Danach folgt ein weiterer takbir. 4. Der Betende wirft sich nieder, berührt mit der Stirn und beiden Handflächen den Boden und sagt: »Lob sei Dir, mein Herr, dem Höchsten« (dreimal). Danach folgt ein weiterer takbir. Nach Jahren der Gebetspraxis kann eine Person eine sichtbare Hornhaut auf der Stirn entwickeln, die als Zeichen seiner Frömmigkeit gilt. 5. Der Betende setzt sich auf das linke Bein. Das rechte Bein ist vom Knie bis zum Fuß nach hinten gerichtet. Die Zehen berühren den Boden, die Ferse weist nach oben (hört sich komplizierter an, als es ist). Jetzt bittet man in einem kurzen Gebet um Vergebung, dann folgt ein weiter takbir. 6. Um die Verbeugung (raka) zu vollenden, führt der Betende eine zweite Niederwerfung aus (mit Gebet wie unter Punkt 4) und steht wieder auf. Zu versuchen, das Gebetsritual zu beschreiben, ohne es vorzuführen, hört sich trocken an. Es wirkt so umständlich wie der Versuch, eine Begrüßung mit Handschlag zu beschreiben. Wann streckt man die Hand aus? Wartet man, bis die andere Person ihre Hand zuerst ausstreckt? Wie ergreift man ihre Hand? Welche Worte werden dazu gesprochen? Dennoch schütteln Sie Hände, ohne an diese Details zu denken. Ebenso führen Muslime ihr Gebetsritual aus. Sie können eine Verbeugung in wenigen Minuten ausführen, ohne über die Details nachzudenken. Während das Ritual in der schriftlichen Beschreibung etwas starr wirken mag, ist es in der Praxis flexibler. Kinder können anwesend sein und herumlaufen. Einige Leute kommen erst nach Beginn der ersten Verbeugung und reihen sich schweigend ein. Die versäumte Verbeugung wird am Ende des Rituals nachgeholt.
Takbir: Die Anrufung Gottes Wahrscheinlich haben Sie bemerkt, dass die schahada Teil des Gebetsrufs ist. Takbir, das heißt »Allahu
akbar«, ist ein weiterer, wiederholter Teil des Gebetsrufs. Muslime verwenden diesen Ausrufe in verschiedenen Situationen. Wenn sich Muslime versammeln, kann ein Sprecher die Versammelten zum Ausruf des takbir auffordern, ähnlich wie ein Cheerleader eine Menge aufstachelt. Bei anderen Gelegenheiten dient takbir als Ausdruck des Erstaunens und der Billigung, ähnlich wie manche Christen »Gott sei Dank« in ihre Rede einstreuen.
Um das Gebet richtig zu verstehen, muss man es sehen. Viele Moscheen haben einen Tag der offenen Tür (am 3. Oktober), an denen Nichtmuslime den Gottesdienst besuchen dürfen. Fragen Sie, ob und wann Sie kommen können. Wahrscheinlich können Sie sich in den hinteren Teil der Moschee oder als Frau zu den Frauen setzen und den Gottesdienst beobachten, ohne dass Ihre Mitwirkung erwartet wird. Doch weil vieles unhörbar gesagt wird, benötigen Sie wohl weitere Hilfe, um alles zu verstehen. Videos oder CD-Programme (zu Quellen siehe Anhang C) für Konvertiten zum Islam könnten Ihnen helfen, das Gebetsritual im Detail zu verstehen.
Zusätzliche Verbeugungen und freiwillige Gebete Jedes der fünf täglichen Gebete umfasst zwei bis vier Verbeugungen. Vor der zweiten und den späteren Verbeugungen steht der Betende auf, rezitiert ein takbir und beginnt dann den nächsten Zyklus. Am Ende der zweiten und letzten Verbeugung bittet der Betende Gott mit einer förmlichen Grußformel (der tahiyya) unter anderem um Segen für Mohammed. Am Ende aller Zyklen eines Gebetsrituals setzt sich der Betende aufrecht und rezitiert das Glaubensbekenntnis (taschahhud), gefolgt von einer Bitte um Segen für Mohammed und Abraham. Nach einem letzten Gebet um Frieden wendet er den Kopf einmal nach rechts und dann nach links und spricht dabei: »Friede und Gottes Gnade sei mit dir« (al-salamu alaykum wa rahmatullah). Laut Volksglauben spricht er nicht nur die Leute auf beiden Seiten, sondern auch die Engel an, die beim Beten über ihn wachen. Damit ist das erforderliche formelle Gebetsritual beendet. Häufig spricht der Betende mehrere weitere persönliche Einzelgebete (dua). Dann steht er auf und sagt zu seinen Nachbarn ein al-salamu alaykum. Dann kann er zusätzliche freiwillige Verbeugungen ausführen. Hier ein Beispiel für ein freiwilliges Gebet am Ende des Gebetsrituals: »Es gibt keinen Gott außer Allah, dem Einen. Er hat keine Partner. ER ist der Herr und Ihm gebührt Lob. Er hat Allmacht über alles. O Gott! Niemand kann verweigern, was Du gibst, und niemand kann geben, was Du verweigerst. Die Größe der Großen wird vor Dir vergehen.« Natürlich werden freiwillige Gebete auch bei vielen anderen Gelegenheiten verrichtet. Verständlicherweise sind Gebete beliebt, die auf Mohammed zurückgehen, wie etwa dieses Nachtgebet:
»Alles Lob gehört Gott, Der meinem Körper Ruhe gegeben hat, Der mir meine Seele wiedergegeben hat und Der mir erlaubt hat, mich an Ihn zu erinnern.«
Dschuma: Die Versammlung zum Freitagsgebet der Gemeinde In kleinen muslimischen Städten versammeln sich alle Gemeindemitglieder freitags in einer großen Moschee, die als Stätte für das Freitagsgebet (dschuma) ausgewählt wurden, statt die Moscheen in ihrer Nachbarschaft zu besuchen, die sie an den anderen Tagen der Woche benutzen. Natürlich gibt es in Großstädten mehrere Freitagsmoscheen. Nach dem Betreten der Moschee führen die Gläubigen normalerweise zwei Verbeugungen »der Begrüßung« (rakas) aus. Vor dem Gebetsritual hält der imam oder eine andere qualifizierte Person von der Kanzel (minbar) rechts neben der Gebetsnische eine Predigt (khutba). Manche Kanzeln sind sehr kunstvoll gearbeitet. In bescheideneren Moscheen steht der imam hinter einem einfachen Pult. Die Predigt greift auf eine besondere Passage aus dem Koran zurück und erklärt einen Punkt des Glaubens oder der Lebensführung. In muslimischen Staaten umfasst die Predigt traditionellerweise eine Bitte für die Herrschenden. Alle muslimischen Läden, Büros und Arbeitsstätten schließen während des Freitagsgottesdienstes, öffnen aber wieder, sobald der Gottesdienst vorbei ist. Der Freitag ist also nicht notwendigerweise ein Feiertag. Der folgende Text aus dem Koran (Sure 62:9–10) ist die Grundlage des gemeinschaftlichen Gottesdienstes am Freitag: »O ihr, die ihr glaubt! Wenn am Freitag zum Gebet gerufen wird, dann eilt zum (gemeinsamen) Gedenken an Allah und lasst den Handel ruhen. Das ist besser für euch, wenn ihr es nur wüsstet. Und wenn das (Freitags-)Gebet beendet ist, dann zerstreut euch und bemüht euch wieder um Allahs Gaben. Und gedenkt Allahs häufig, damit ihr erfolgreich werdet.« In einem muslimischen Land bietet der Freitagsgottesdienst eine gute Gelegenheit, die Menschen für oder gegen die Regierung zu mobilisieren. Aus diesem Grund überwachen Regierungen Moscheen, was bis zu vorgeschriebenen Predigttexten gehen kann.
Die Moschee (masdschid) Architektur und Kalligrafie sind die beiden wichtigsten Kunstformen im Islam. Die großen architektonischen Errungenschaften umfassen Paläste (beispielsweise die Alhambra in Spanien), den Felsendom in Jerusalem und Begräbnisschreine (etwa das Tadsch Mahal). Doch die größte Mühe wurde für den Bau von Moscheen aufgewendet. Masdschid, das arabische Wort für Moschee, bedeutet »Ort der Niederwerfung«. Es betont
das rituelle Gebet als die zentrale Aktivität des Gottesdienstes. Jeder offene Bereich, der rituell nicht unrein ist, kann als Gebetsstätte benutzt werden und wird als masdschid bezeichnet. .
Der Grundriss einer klassischen Moschee ist von Mohammeds erstem Haus in Medina abgeleitet. Auf der Ostseite eines großen Hofes lagen die Räume von Mohammeds Frauen. Auf der Südseite trugen zwei Säulenreihen ein Dach, das Schutz vor der heißen arabischen Sonne bot. Das flache Dach, die Säulen, der Hof und der überdachte, nach Mekka ausgerichtete Bereich waren die Vorlage für den Grundriss der frühen Moscheen. Erst später, nach der Eroberung Persiens und Syriens, verbreitete sich die Kuppelstruktur in der islamische Architektur und wurde für Moscheen verwendet. Eine größere Moschee verfügt über die folgenden architektonischen Bestandteile (auch wenn nicht alle Elemente in allen Moscheen zu finden sind): Qibla-Wand mit der Gebetsnische (mihrab) in Richtung Mekka Kanzel (minbar) rechts neben dem mihrab Minarett Brunnen oder eine andere Möglichkeit der Reinigung Gebetshalle, mit Teppichen ausgelegt Leuchter über der zentralen Gebetsfläche architektonisch abgegrenzter Raum für Frauen
Die erste islamische Moschee Die Biografie Mohammeds erzählt folgende Geschichte: Als er zum ersten Mal nach Medina kam, wollten verschiedene prominente Familien ihn bei sich aufnehmen. Doch Mohammed überließ die Entscheidung Gott. Er bestieg sein Kamel und ließ das Tier hintraben, wohin es wollte. Schließlich kam das Kamel zu einem Grundstück, das zwei Waisen gehörte und eine freie Fläche zum Trocknen von Datteln bot. Das Kamel kniete nieder, doch Mohammed stieg nicht ab. Das Kamel entfernte sich ein wenig, kehrte dann aber an die gleiche Stelle zurück und blieb erschöpft am Boden liegen. Mohammed stieg ab und bat um das Grundstück. Der Vormund der Waisen wurde ausbezahlt. Mohammed und andere begannen, sein Haus zu bauen, das auch als erste Moschee diente. Heute ist dies in die große Moschee von Medina einbezogen, die 600.000 Betenden Platz bietet.
Eine Moschee enthält keine Bänke oder Stühle (außer einigen im Hintergrund für Behinderte). Andere Einrichtungen können mit einer Moschee verbunden oder in die Moschee integriert sein: Schulen für Kinder, madrasas (Schulen) für fortgeschrittene Islamstudien, Unterkünfte für Reisende, Armenküchen, Friedhöfe, Bibliotheken, Andenkenläden etc. Moscheen sind recht unterschiedlich. In einigen Teilen Afrikas kann der Freitagsgottesdienst auf einer großen offenen Fläche außerhalb der Moschee abgehalten
werden. In einigen westlichen Ländern, in denen der Islam relativ neu ist, können Moscheen aus umgewandelten Kirchen oder Lagerhallen bestehen, die von außen keine Moschee vermuten lassen. Die verschiedenen Regionen der muslimischen Welt unterschieden sich nicht nur durch den Baustil ihrer Minarette (siehe den Kasten »Minarette« weiter vorn in diesem Kapitel), sondern auch durch die Architektur ihrer Moscheen. Dies geht bis in die Fassaden, die aus Backstein, Stein, Ziegeln, Kacheln oder einem anderen Material bestehen können. Abbildung 9.1 zeigt die Blaue Moschee in Istanbul (oben) und die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem (unten). Moscheen enthalten grundsätzlich keine Bilder von Menschen oder Göttern. Es gibt keine Glasfenster oder Wandmalereien mit Szenen aus dem Koran und keine Statuen von Engeln, Mohammed oder anderen wichtigen Gestalten des Islam. Dennoch sind viele Moscheen mit eleganten Mustern aus Kacheln, Stuck und Backstein geschmückt. Das wichtigste Motiv sind Verse aus dem Koran. Sie sind oft künstlerisch so verfremdet und abstrakt dargestellt, dass selbst Kenner des Arabischen Schwierigkeiten haben, sie zu lesen. Streifen mit Kalligrafie können sich mit Bändern abstrakter geometrischer Muster oder von Blumen, Blättern und Zweigen (sogenannten Arabesken) abwechseln.
Abbildung 9.1: Zwei unterschiedliche architektonische Stilrichtungen beim Bau von Moscheen: oben die Blaue Moschee in Istanbul, unten die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem
Zakat (dritte Säule): Hilfe für die Bedürftigen Jede Religion fordert ihre Anhänger auf, für Arme und Bedürftige, für Gemeinschaftsdienste und Schulen zu spenden. Im Islam sind diese Spenden in Form des zakat institutionalisiert, einer Sozialabgabe, die jeder Muslim jährlich entrichten muss. Auch wenn die Details kompliziert sein können, beträgt der Steuersatz 2,5 Prozent aller mobilen Vermögensgegenstände und des produktiven Eigentums. Die Besteuerung von Viehbeständen und Ernteerträgen ist ebenfalls festgelegt. Zakat wird nicht auf Wohnstätten und den grundlegenden persönlichen Besitz erhoben. Wenn das zu versteuernde Eigentum ein bestimmtes Minimum (das nisab) unterschreitet, müssen keine Steuern gezahlt werden. Das Minimum (nisab) wird unter anderem durch den Gegenwert von drei Unzen Gold definiert (circa 5.000 Euro, Stand 2022). Muslimische Websites und Veröffentlichungen helfen Gläubigen, die Höhe ihrer Steuer herauszufinden. Lokale Moscheen und verschiedene islamische Organisationen können bei der Annahme und Verteilung der Steuern helfen. Mit der zakat werden Arme und Kranke unterstützt, der islamische Glauben gefördert, Reisende unterstützt, Schuldner entlastet und der Islam verteidigt. Viele Passagen aus Koran und Hadith preisen die Wohltätigkeit. Sure 2:267 sagt: »O die ihr glaubt! Spendet von dem Guten, das ihr erwarbt, und von dem, was Wir für euch aus der Erde hervorkommen lassen. Und sucht darunter nichts Schlechtes zum Spenden aus.« Mohammed hat gesagt: »Wer sich für die Witwen und die Armen anstrengt, ist wie jemand, der auf dem Weg Allahs kämpft, oder wie der, der nachts wach bleibt (um zu beten) und tagsüber fastet.« (Bukhari 69.1). Ein anderer Hadith berichtet von einer Prostituierten, deren Sünden von Gott vergeben wurden, weil sie ihre Schuhe auszog und an ihren Schal band, um für einen Hund, der dem Verdursten nahe war, Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen (Bukhari 6.6). Darüber hinaus werden Almosen (sadaqa) als Akte der Wohltätigkeit und Frömmigkeit empfohlen. Diese Spenden erfüllen aber nicht die zakat-Pflicht. Per Schenkung oder testamentarischer Verfügung gründen wohlhabende Muslime oft auch wohltätige Stiftungen (waqf) und statten sie mit den erforderlichen Mitteln aus. Ähnlich wie viele philanthropische Stiftungen in der westlichen Welt widmen sich
diese Organisationen oft besonderen Zwecken, etwa der Unterstützung von islamischen Schulen, Moscheen und Krankenhäusern, der Unterbringung von Reisenden und der Armenhilfe.
Saum (vierte Säule): Besinnung und Fasten Im Mainstream-Islam wird extremes Asketentum oder Selbstverleugnung missbilligt. Gott schuf die Welt und den menschlichen Körper nicht zur Verneinung. Das Heil erwirbt man nicht durch Verleugnung körperlicher Bedürfnisse wie Sex und Nahrung. Doch die Welt soll mit Maßen genossen werden. Ursprünglich wurde am zehnten Tag des Monats Muharram, dem ersten Monat des muslimischen Jahres, gefastet. Dieser Tag zählt auch heute zu den Tagen des freiwilligen Fastens. Nach der Gründung der Gemeinschaft in Medina, vor Mohammeds Tod, wurde ihm Ramadan als Monat des Fastens offenbart. Ramadan (wörtlich die große Hitze oder der »Versengende«) ist der neunte Monat des muslimischen Kalenders. Der Ramadan beginnt wie alle Monate mit dem Sonnenuntergang nach dem Neumond (hilal) am Ende des vorangegangenen Monats, Schaban. Der Beginn eines neuen Monats zum Zeitpunkt des Neumonds ist der Grund, dass die Sichel des Neumonds unwillkürlich das Symbol für den Islam geworden ist und oft das Dach von Moscheen ziert. Die Flaggen muslimischer Länder zeigen häufig ebenfalls eine Mondsichel. Den Monatsanfang genau zu bestimmen, ist nur für den Pilgermonat sowie den Ramadan und den folgenden Monat, Schawal, wichtig, weil das Fasten mit dem Monat beginnt und endet. Muslime waren im Mittelalter astronomisch viel weiter fortgeschritten als der Westen und konnten das Datum des Neumonds berechnen. Dennoch wird immer noch der Brauch der Sichtung des Neumonds durch einen vertrauenswürdigen Zeugen gepflegt, um den Anfang und das Ende des Monats zu bestimmen. Muslime grüßen sich am Anfang des Monats gerne mit Ramadan Mubarak (ein gesegneter Ramadan). Der Gruß wird mit Ramadan Karim (ein edler Ramadan) erwidert.
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Im Monat Ramadan fasten Muslime von 20 Minuten vor Sonnenaufgang (dem Zeitpunkt, an dem im Morgenlicht ein weißer Faden von einem schwarzen unterschieden werden kann) bis kurz nach Sonnenuntergang. Fasten bedeutet: nicht essen
nicht trinken kein Geschlechtsverkehr nicht rauchen oder andere Genussmittel konsumieren Islamische Rechtsgelehrte haben sehr ausführlich beschrieben, welche Handlungen beim Fasten erlaubt oder verboten sind. Schwangere und stillende Frauen, Gebrechliche, chronisch geistig Behinderte oder Geisteskranke müssen nicht fasten. Reisende dürfen auf das Fasten verzichten, müssen aber die fehlenden Tage im Laufe des Jahres nachholen. Auch menstruierende Frauen und akut Erkrankte können oder sollten das Fasten aufschieben, müssen aber die fehlenden Tage nachholen. Kinder fangen mit 14 Jahren allmählich an zu fasten. Die Zeitspanne wird verlängert, bis sie den ganzen Monat fasten können. Wer das Fasten wissentlich bricht, sollte nach dem Ramadan einen Tag zusätzlich fasten. Das Fasten wird mehr oder weniger strikt befolgt. In einigen muslimischen Ländern versuchen der Staat oder Freiwillige, alle Muslime (nicht jedoch Touristen) zu zwingen, das Fasten in der Öffentlichkeit zu befolgen. In den eigenen vier Wänden werden die Regeln unterschiedlich streng befolgt.
Ein Tag im Ramadan Die Verhaltensregeln für den Ramadan sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Doch normalerweise brechen Muslime das Fasten sobald wie möglich bei Sonnenuntergang. (Sie erinnern sich: Der Tag beginnt bei Sonnenuntergang.) Später am Abend nehmen Muslime die Hauptmahlzeit zu sich. Vielleicht folgt noch ein leichtes Mahl morgens vor Sonnenaufgang, bevor das Fasten am nächsten Morgen erneut beginnt. Man sollte am Abend nicht mehr als üblich essen, um die fehlende Nahrung des Tages auszugleichen. Der Abend ist eine Zeit der Entspannung, der Besuche, des Gebets und der Koranrezitation. Gedruckte Koranversionen unterteilen den Text in 30 Abschnitte, um das Lesen des gesamten Koran im Ramadan zu erleichtern. Abends hallen Koranrezitationen durch die Luft. Wer besonders fromm ist, kann nach dem fünften vorgeschriebenen Gebet ein freiwilliges Gebetsritual mit bis zu 20 Verbeugungen ausführen. Einige Gläubige gehen abends in die Moschee oder verweilen dort Tag und Nacht, insbesondere während der letzten zehn Tage des Monats. An einem ungeraden Tag dieser letzten zehn Tage – am häufigsten wird der 27. Tag des Ramadan genannt – war die lailat alqadr (Nacht des Schicksals), in der Mohammed die erste koranische Offenbarung übermittelt wurde. Die Rezitation des Koran während des Ramadan erinnert an die Herabsendung des Koran. Sure 2:183–185 sagt: »O ihr, die ihr glaubt! Euch ist das Fasten vorgeschrieben, wie es den Menschen vor euch vorgeschrieben war; vielleicht werdet ihr gottesfürchtig – (Es geht um) abgezählte Tage … Es ist der Monat Ramadan, in welchem der Koran als
Rechtleitung für die Menschen … herabgesandt wurde.« Muslime beginnen jeden Fastentag mit dem Fassen ihrer Absicht (niyya), das Fasten einzuhalten. Am Tag führen sie ihre normalen Aktivitäten aus. Das Fasten ist keine Ferienzeit und keine religiöse Einkehr. Doch natürlich verlangsamt sich der Lebensrhythmus. Weil der muslimische Kalender ein Mondkalender ist, findet der Ramadan im Laufe der Jahre nacheinander in jeder Jahreszeit statt. In der Kälte des Winters ist die tägliche Fastenzeit kürzer und weniger anstrengend als in der Hitze des Sommers, wenn das Fasten über 18 Stunden dauern kann. Falls Sie in ein muslimisches Land reisen wollen, sollten Sie den Monat Ramadan möglichst vermeiden oder wenigstens damit rechnen, dass das Alltagsleben dann etwas langsamer verläuft als zu anderen Zeiten.
Die Bedeutung des saum im Ramadan Menschen im Westen sehen oft nur die äußere Form der muslimischen Pflichten. Dabei kann man vier Bedeutungsebenen des saum und des Monats Ramadan unterscheiden: Die buchstäbliche Ebene: Nicht essen, trinken und rauchen; keinen Geschlechtsverkehr haben. Die moralische Ebene: Beim Fasten vermeiden die Gläubigen andere Sünden wie Lügen, üble Nachrede, Aggressivität und Ärger, welche die Wirksamkeit des täglichen Fastens zunichte und einen zusätzlichen Fastentag erforderlich machen können. Durch Fasten kann man die Entbehrungen kennenlernen, unter denen die Armen das ganze Jahr leiden, und offener für ihre Not werden. Die spirituelle Ebene: Während des Fastens halten sich Muslime von weltlichen Ablenkungen weitgehend fern und richten ihre Aufmerksamkeit stärker auf Gott als die einzige und ultimative Wirklichkeit. Muslime spüren im Ramadan eine größere Nähe zu Gott als zu anderen Zeiten des Jahres. Die gesellschaftliche Ebene: Das tägliche gemeinschaftliche Fastenbrechen im Kreise der Familie oder mit Freunden wirkt wie Kitt für die Solidarität unter Muslimen während des ganzen folgenden Jahres. Den Ramadan zu beachten, ist eine Quelle des Segens und eine Zeit der Prüfung. Laut Tradition werden während des Ramadan die Tore des Himmels geöffnet, die Pforten der Hölle geschlossen und Satan wird in Ketten gelegt. Das Fasten im Ramadan ist deswegen besser als zu anderen Zeiten. Der große muslimische Theologe al-Ghazali sagte, Fasten im Ramadan sei ein Viertel des Glaubens.
Id al-fitr (Fest des Fastenbrechens) Am Abend des 28. oder 29. Tages des Ramadan warten Muslime gespannt auf die
Sichtung des Neumonds, die das Ende des Ramadan und den Beginn eines der beiden wichtigsten Feste des Islam markiert: id al-fitr. (Das andere wichtige Fest ist das Opferfest.) Die Feier dauert drei Tage. Am ersten Tag besuchen Muslime einen Gottesdienst in der Moschee. Die Muslime leisten eine zusätzliche Spende (zakat al-fitr) direkt an die Armen. Besondere lokale Bräuche umfassen Friedhofsbesuche, Besuche bei Freunden, kleinere Geschenke sowie Nahrungsmittelspenden. Beim id al-fitr grüßen sich muslimische Freunde mit Id Mubarak (gesegnetes id). Die Erwiderung lautet Id Karim (edles Fest id).
Hadsch (fünfte Säule): Die Wallfahrt nach Mekka Selbst Leute, die nichts über den Islam wissen, verwenden Mekka als Synonym für ein Ziel. Die Wallfahrt dauert vom achten bis zum zwölften des Dhul-hidscha, dem zwölften und letzten Monat des muslimischen Jahres. Viele Pilger reisen bereits Wochen vorher an, um mehr Zeit in den heiligen Städten zu verbringen. Sichere Reisebedingungen und der moderne Luftverkehr ermöglichen es jährlich mehr als zwei Millionen Menschen, den Hadsch zu begehen. Die Versorgung der Pilger – Unterkunft, Verpflegung, Führer, Transport, selbst Waschgelegenheiten und Toiletten – stellt für die saudische Regierung eine logistische Herausforderung dar. Jeder Muslim ist dazu verpflichtet, einmal in seinem Leben die Wallfahrt zu unternehmen, falls er dazu gesundheitlich und finanziell in der Lage ist. Muslime verschulden sich nicht und opfern auch nicht das materielle Wohlergehen ihrer Familien, um die Wallfahrt zu unternehmen. Der vollzogene Hadsch erhöht das Prestige des Wallfahrers, der danach den Ehrentitel eines hadschi (als Frau: hadscha) tragen darf. Die Wallfahrt spielte im Islam von Anfang an eine große Rolle, was durch Sure 22:27, 29 bezeugt wird: »Und rufe die Menschen zur Pilgerfahrt. Lass sie zu Dir kommen zu Fuß und auf allen möglichen flinken Reittieren, aus den fernsten Gegenden… . Dann sollen sie den Zustand der Enthaltsamkeit beendigen, ihre Gelübde erfüllen und das altehrwürdige Haus umschreiten (die Kaaba).« Auch wenn Sie kein Muslim sind, können Sie die muslimischen Praktiken wie das Gebetsritual (salat) und den saum im Ramadan ausüben. Doch Sie werden nie nach Mekka und Medina fahren können, um den Hadsch persönlich zu erleben. Das Gebiet, das diese beiden Städte umgibt, gilt als unverletzlich (haram) – nicht
»heilig« – der Zutritt ist Nichtmuslimen verboten. Glücklicherweise ist nichts geheim, was den Hadsch angeht. Über Videos können Sie ihn indirekt erleben. Ein weitverbreitetes Video ist ein Bericht über den Hadsch von ABC Nightline, der von Michael Wolfe und einem ABC-Team muslimischer Fotografen erzählt und fotografiert wurde. Auch im deutschen Fernsehen werden Reportagen aus Mekka gezeigt, die vom Sender al-Dschazira in Qatar angeboten werden.
Das Zentrum der Erde Warum sind Mekka und der Hadsch für den Islam so wichtig? Mekka war bereits in vorislamischen Zeiten ein wichtiger arabischer Wallfahrtsort. Wichtige Elemente des Hadsch-Rituals gehen auf die Zeiten vor Mohammed zurück. Wegen des Krieges zwischen der jungen Muslimgemeinde in Medina und der Stadt Mekka konnten die Muslime die Wallfahrt zunächst nicht antreten. Als die Muslime 630 Mekka eroberten, wurde zunächst das antike Heiligtum von Mekka, die Kaaba, von heidnischen Statuen »gereinigt«. Kurz vor seinem Tod im Jahre 632 machte Mohammed seine Abschiedswallfahrt nach Mekka. Diese Wallfahrt diente als Vorbild für die spätere Ausführung der Wallfahrt. Die Kaaba (wörtlich Würfel) ist ein einfacher Quader (etwa 12 Meter breit, 13 Meter lang und 17 Meter hoch). Er ist mit einem schwarzen Tuch bedeckt, das am oberen Rand mit einem goldbestickten Band mit Koranversen geschmückt ist, das während der Pilgerzeit entfernt wird. Diese Bedeckung wird jedes Jahr erneuert. An der südöstlichen Ecke der Kaaba ist in etwa 1,5 Meter Höhe in einem silbernen Rahmen ein schwarzer Meteorit, der sogenannte Schwarze Stein (al-hadschar alaswad) (etwa 30 × 42 Zentimeter) eingelassen. Links neben dem Schwarzen Stein, in der Mitte der Ostwand, befindet sich die Eingangstür, die in die leere Kaaba führt. Die Kaaba ist der Ort, zu dem man sein Gesicht beim Beten wendet. In der Kaaba kann man in jede Richtung beten. Die Große Moschee (al-masdschid al-haram) schließt die Kaaba ein, die in ihrem offenen, zentralen Hof steht. Die große Moschee von Mekka ist dreistöckig und fasst heute 680.000 Betende.
Rechtzeitig zum Hadsch aufbrechen Vor dem Zweiten Weltkrieg unternahmen jährlich nur 10.000 Gläubige die Wallfahrt. Die Reise dauerte nicht nur lange, sondern war auch wegen der Angriffe von Banditen und der Wegezölle für Pilgerkarawanen auf dem Weg nach Mekka gefährlich. Viele, die damals die Pilgerfahrt antraten, machten unterwegs längere Pausen. Gelehrte aus fernen Ländern blieben Monate oder Jahre in Mekka und Medina und tauschten sich mit anderen Gelehrten aus. Oft dauerte die Hinreise des Hadsch zwei Jahre und die Rückreise ein bis zwei Jahre. Schätzungen gehen dahin, dass etwa 10 Prozent der heute lebenden Muslime einmal in ihrem Leben die
Wallfahrt antreten werden; dieser Anteil könnte in Zukunft noch größer werden. Allerdings erteilt die saudische Regierung jährlich Hadsch-Visa nur für 1 Promille der muslimischen Bevölkerung eines Landes. Und dennoch bleibt der Hadsch für die Pilger eine wichtige Gelegenheit, Muslime aus allen Ländern der Welt kennenzulernen.
Abraham und sein Sohn Ismael bauten, der Heilsgeschichte nach, die ersten Teile der heutigen Moschee. Mit dem Hadsch wiederholen Muslime nicht nur die letzte Wallfahrt Mohammeds, sondern erinnern an Ereignisse aus der Zeit Abrahams und seiner Frau Haggar, Mutter von Ismael, dem Urvater der Araber. Ein Hadith (Überlieferung) sagt, dass der Schwarze Stein vom Himmel gefallen sei und dass Adam ihn in die erste Kaaba legte. Später nahm der Engel Gabriel den Stein aus dem Verborgenen und gab ihn Abraham, um ihn in die wiedererbaute Kaaba einzufügen. Eine andere Überlieferung berichtet, der Stein sei ursprünglich weiß gewesen, hätte sich aber später wegen der Sünden der Menschheit schwarz gefärbt. Die Kaaba, die auch als Haus Gottes bezeichnet wird, gilt als Nachbildung des Hauses Gottes im siebten Himmel, in dem sich Gottes Thron befindet. Die Gläubigen, welche die Kaaba umwandeln, ahmen die Bewegungen der Engel nach, die ständig den Thron Gottes umkreisen. Ibn Ishaq berichtet in seiner Biografie Mohammeds aus dem 8. Jahrhundert, dass die Kaaba im Jahre 605 – fünf Jahre vor Mohammeds Berufung zum Propheten – nach ihrer Zerstörung durch einen Regenguss wieder aufgebaut wurde. Die Klans stritten sich fast bis zum Bürgerkrieg um die Ehre, den Schwarzen Stein wieder an seiner alten Stelle in das Bauwerk einzufügen. Mohammed war für seine Fairness bekannt und wurde deshalb gebeten, den Streit zu schlichten. Er legte den Stein auf einen Umhang und forderte die Klanchefs auf, je eine Ecke des Umhangs zu ergreifen und so zusammen den Stein an der Wand der Kaaba anzuheben. Dann setzte Mohammed den Stein an seinen angestammten Platz in der Ecke der Wand.
Die Große Moschee Selbst im Koran wird die Bezeichnung masdschid für jeden Ort verwendet, an dem Gott angebetet wird. Die Bezeichnung ist nicht auf muslimische Stätten begrenzt und muss kein Gebäude beschreiben. Die Große Moschee wurde von Umar, dem zweiten Kalifen, gebaut und seitdem mehrfach erweitert. Die Grundform des heutigen Gebäudes geht auf einen Neubau der Osmanen im 16. Jahrhundert unter Führung des berühmten Architekten Sinan zurück. Dieser Bau wurde erst in den 1970er-Jahren unter König Faysal erweitert, wobei so viel wie möglich von den osmanischen Elementen erhalten blieb. Die heutige Moschee ist 20-mal größer als der Petersdom in Rom.
Die Tage der Wallfahrt Muslime, die auf Hadsch gehen, buchen in ihrem Heimatland in einem muslimischen Reisebüro eine Gruppenreise. Bei Ankunft in Saudi-Arabien wird jeder Gruppe ein Führer zugewiesen, der den Pilgern hilft, die verschiedenen Aktivitäten des Hadsch auszuführen.
Für Muslime, die kaum Arabisch sprechen und noch nicht auf Hadsch waren, ist es nämlich nicht gerade einfach.
Der Weihezustand: ihram Der Hadsch eines Pilgers beginnt, wenn er seine Alltagsroutine verlässt und in den Weihezustand (ihram) tritt. Die meisten Pilger reisen über den Flughafen von Djidda ein und treten spätestens dort in den ihram ein, falls sie dies noch nicht auf ihrem Heimatflughafen oder auf dem Flug getan haben. Zunächst führen sie die große Reinigung (ghusl) durch, bei welcher der ganze Körper gewaschen wird. Dann bestätigt der Pilger seine Absicht, den Hadsch auszuführen. Männer legen zwei einfache weiße, ungesäumte Tücher an. Ein Tuch bedeckt den Körper von der Taille abwärts; das andere wird über die Schultern geworfen. Für Frauen ist keine besondere Bekleidung vorgeschrieben. Sie bedecken ihr Haar, tragen aber weder Schleier noch Schmuck oder Parfum. Weil genähte Kleidungsstücke verboten sind, tragen die Pilger genietete Leder- oder Plastiksandalen und einen breiten Gürtel, in dem sie ihr Geld, ihre Papiere und ihre Medikamente verwahren. Das Äußere verrät nicht mehr, wer reich und mächtig oder arm ist: Alle stehen als Gleiche vor Gott. Im Weihezustand dürfen Muslime sich nicht die Haare und Nägel schneiden und keinen Geschlechtsverkehr haben. Nach der Absichtserklärung spricht der Pilger das talbiya-Gebet, das er bis zur Ankunft in Arafat häufig wiederholt: labbayk Allahumma labbayk (»Hier bin ich, mein Gott, hier bin ich«). Laut Überlieferung geht dieses Gebet auf Abraham zurück, als er das Wallfahrtsritual begründete.
Umwandlung der Kaaba: tawaf und umra Nach der Reinigung und Ankunft in Mekka umwandeln die Pilger die Kaaba siebenmal gegen den Uhrzeigersinn. Diese Umwandlung (tawaf) ist Ausdruck der Einheit Gottes (tawhid). Alle versuchen, den Schwarzen Stein zu berühren, aber die meisten müssen sich mit einer Geste in Richtung des Steins begnügen. Damit niemand glaubt, Muslime würden den Stein anbeten, überliefert ein Hadith eine Aussage des Kalifen Umar: »Ich weiß, dass du nur ein Stein bist, der nicht die Macht hat, Gutes oder Böses zu bewirken. Hätte ich nicht den Propheten dich küssen gesehen, würde ich dich nicht küssen.« Nach dem tawaf verrichten die Pilger an einer Stelle zwischen dem Schwarzen Stein und der Tür der Kaaba ein persönliches Gebet. An der »Stelle Abrahams« einige Schritte nach Nordosten verrichten die Pilger ein Gebetsritual mit zwei Verbeugungen (raka). Hier stand Abraham, als er die Kaaba errichtete. Danach trinken die Pilger aus dem Brunnen Zamzam. Als Haggar verzweifelt nach Wasser suchte, um den kleinen Ismael vor dem Verdursten zu bewahren, stampfte der Junge auf den Boden. Mit einem gurgelnden Geräusch (das sich ähnlich wie zam anhörte) tat sich an dieser Stelle eine Quelle auf. Die Pilger nehmen Flaschen mit diesem Wasser mit nach Hause. Schließlich führen die Pilger den siebenmaligen Lauf (say) zwischen den beiden kleinen Hügeln Safa und Marwa aus, um an Haggars Suche nach Wasser zu erinnern. Seit dem
Umbau der Moschee in den 1970er-Jahren wird dieser etwa 300 Meter lange überdachte Weg von der nordöstlichen Mauer der Moschee eingeschlossen. Wenn die bis jetzt beschriebenen Aktivitäten außerhalb der Hadsch-Saison ausgeführt werden, handelt es sich um eine Besuchswallfahrt (umra), die als Akt der Frömmigkeit, aber nicht als Erfüllung der Hadsch-Pflicht gilt. Falls ein Pilger nicht auf Hadsch ist, beendet er hier seinen Weihezustand, indem er sich ein Locke abschneiden lässt.
Das Verweilen in Arafat: wuquf Vor dem Abend machen sich die Pilger zum Ort Mina auf, der etwa 8 Kilometer östlich von Mekka liegt, wo sie die Nacht verbringen. Manche ziehen weiter und übernachten in der Ebene von Arafat, 15 Kilometer südwestlich von Mekka. Am nächsten Tag, am neunten Tag des Monats, verbringen sie zumindest einen Teil der Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang in der Ebene von Arafat, wo sie sich um den »Berg des Erbarmens« versammeln, von dem Mohammed die Predigt auf seiner Abschiedswallfahrt hielt. Wassersprenger, die auf hohen Masten installiert sind, reduzieren heute die Temperatur in der Ebene von Arafat. Das Ritual des »Stehens« in der Ebene von Arafat soll einen Vorgeschmack auf den Tag des Gerichts liefern. Dieser Tag ist der Höhepunkt der Wallfahrt und für ihre Gültigkeit unerlässlich.
Das Opferfest: id al-adha Nach Sonnenuntergang des neunten Tages des Monats setzen sich die Pilger im Laufschritt oder in Omnibussen in Richtung Mina und Mekka in Bewegung und übernachten im Tal von Muzdalifa. Dort sammeln die Pilger 49 Kieselsteine (nicht kleiner als eine Kichererbse und nicht größer als eine Haselnuss) und machen sich auf den Weg nach Mina. In Mina »steinigen« sie die größte von drei Säulen. Diese versinnbildlicht das Böse beziehungsweise den Satan, von denen sich der Pilger durch seinen Steinwurf distanziert. Zu diesem oder auch einem anderen Zeitpunkt am zehnten des Monats findet in Mina das »große Fest« (id al-Adha) statt. Am zehnten des Monats führen Muslime auf der ganzen Welt dasselbe Opfer durch. Der traditionelle Gruß ist derselbe wie im Ramadan: Id Mubarak. In Erinnerung an den Widder, den Abraham Gott als Ersatz für seinen Sohn opferte, wird eine Ziege, ein Schaf, ein Kamel oder eine Kuh geopfert. Das Familienoberhaupt führt das Opfer in vorgeschriebener Weise aus. Das Fleisch wird mit den Nachbarn und den Armen geteilt. Die Verteilung des überschüssigen Fleisches durch die Opfer in Mina ist für die saudische Regierung eine größere logistische Herausforderung. Das Fleisch der meisten Opfertiere wird eingefroren und in arme Weltgegenden ausgeflogen. So wie Abraham bereit war, das ihm Kostbarste zu opfern, sollte jeder Muslim bereit sein,
alles für Gott zu opfern. Wer auf Hadsch stirbt, gilt als Märtyrer, der direkt ins Paradies eingeht. Der Weihezustand wird symbolisch durch das Scheren des Kopfes (nur bei Männern) oder durch das Abschneiden einer Haarlocke beendet. Die Pilger können ihre Wallfahrtsbekleidung ablegen und ihre normalen Aktivitäten (außer Geschlechtsverkehr) wiederaufnehmen. Sie kehren nach Mekka zurück, um die Kaaba ein zweites Mal zu umwandeln (tawaf al-ifada).
Statistik und Logistik der Hadsch 2002 machten 2.371.468 Pilger (45 Prozent davon Frauen) Hadsch, 1965 waren es nur 294.000 Pilger. Sie landeten mit 6.226 Flügen auf dem Flughafen von Djidda; dort bestiegen die Pilger 15.000 Busse. Die Kosten für das Hadsch-Visum einschließlich Reiseführer, Zeltunterkunft, Beförderung vor Ort und Zamzam-Wasser betrugen pro Pilger 275 US-Dollar. In Mina standen 43.200 Zelte, die durchschnittlich jeweils 40 Pilger beherbergten. Die Zelte verfügten über Strom, Toiletten und Kühlung. 2.100 Reiseführer, 26.500 Ordnungskräfte, 14.000 Müllmänner und 3.300 Friseure (für das Haareschneiden am Ende des Weihezustands) dienten den Pilgern. Über eine Million Ziegen und Schafe wurden (zum Preis von 131,57 US-Dollar pro Tier) geopfert.
Das Ende der Wallfahrt Die letzten drei Tage des Hadsch, der elfte, zwölfte und dreizehnte Tag des Dhul-hidschja, sind die Tage des Trocknenden Fleisches. Die Verbleibenden werfen täglich sieben Kieselsteine auf die drei Säulen in Mina. Eine zweistöckige Rampe schafft Platz für die vielen Pilger. Die Pilger können die Wallfahrt am zwölften Tag beenden. Während dieser Tage erhält die Kaaba eine neue Bedeckung. Vor der Abreise aus Mekka umwandeln Pilger normalerweise die Kaaba ein drittes Mal (tawaf al-wada, die »Abschiedsumkreisung«) und sprechen ein Abschiedsgebet: »O Herr, lass dies nicht meinen letzten Besuch Deines Hauses gewesen sein, und gewähre mir die Möglichkeit, immer wieder hierher zurückzukehren.«
Wohin geht es im nächsten Jahr? Viele Leute begeben sich mehrfach auf Hadsch oder die Besuchswallfahrt (umra). Doch gibt es auch andere nicht verpflichtende Wallfahrten: Jerusalem: Jerusalem ist im Christentum, Islam und Judentum ein wichtiger Wallfahrtsort und immer wieder Zankapfel dieser großen monotheistischen Religionen. Es ist die drittheiligste Stadt im Islam. Der arabische Name Jerusalems lautet al-Quds (die Heilige). Die al-aqsa Moschee (die fernste Moschee) ist die drittheiligste Moschee im Islam. Die Moschee und der Schrein von Umar (der Felsendom) befinden sich in dem heiligen Bereich (haram al-scharif, das edle Heiligtum), der aus der Plattform besteht, die von König Herodes im 1. Jahrhundert v. Chr. konstruiert wurde, als er den jüdischen Tempel restaurierte. Jerusalem gilt Muslimen nicht nur als heilig, weil es mit Jesus, David, Salomon, Abraham und den jüdischen Propheten verbunden ist, sondern auch, weil es als
Ziel von Mohammeds Nachtreise (al-isra) identifiziert wurde. Pilger und Touristen können im Felsendom seinen angeblichen Fußabdruck sehen, als er in die Himmel aufstieg (al-miradsch; siehe Sure 17:1). Heiligengräber: Auch wenn Wahhabiten und ähnliche Gruppen sie als unorthodox ablehnen, spielen Wallfahrten zu den Gräbern muslimischer Heiliger für viele Muslime eine wichtige Rolle. Einige dieser Schreine haben nur lokale Bedeutung, andere ziehen Pilger aus dem ganzen Land oder einer Region an. Wallfahrten zu Gräbern umfassen mehrere Tage ritueller Feiern, die normalerweise am Geburtstag des Heiligen oder an seinem Todestag (seiner Wiedergeburt im Himmel) stattfinden (siehe Kapitel 10). Spezielle Wallfahrtsorte der Schiiten: Schiitische Muslime erfüllen den Hadsch als eine der fünf Säulen des Gottesdienstes. Doch für viele Schiiten kann ein Besuch der Schreine und Gräber ihrer imame ebenso wichtig oder wichtiger sein. Die wichtigsten schiitischen Wallfahrtsorte sind Karbala, wo Hussein, der Enkel des Propheten, 680 als Märtyrer starb, und der Schrein von Ali in Nadschaf. Beide Stätten befinden sich im Irak (siehe Kapitel 12). Selbsterfahrung: Auch wenn Sufis Hadsch (wie alle fünf Säulen des Gottesdienstes) vollziehen, ist für einige die innere Wallfahrt, die Annäherung des Sufis an Gott, spirituell wichtiger als die äußere.
Der Abstecher nach Medina (al-ziyara) Nach dem Hadsch möchten die meisten Pilger das Grab des Propheten in Medina besuchen (al-ziyara). Die Überlieferung nennt zu besuchende Stätten und zu rezitierende Gebete. Strenggläubige Muslime, wie etwa die Wahhabiten, welche die Ausübung des Islam in Saudi-Arabien kontrollieren, sind gegen alles, was zur Verehrung eines Menschen führen könnte. Dazu zählen auch Besuche der Gräber bedeutender historischer Persönlichkeiten und sogar das Verweilen vor dem Grabe Mohammeds. Trotz einschlägiger Verbote können die Wahhabiten Besuche des Grabes Mohammeds nicht verhindern. Wie Mekka ist diese zweitheiligste Moschee (masdschid an-Nabi oder almasdschid al-Scharif) des Islam von einem nur Muslimen zugänglichen Bereich (haram) umgeben, der jedoch kleiner als die Stadt Medina ist, sodass sich – im Gegensatz zu Mekka – auch Nichtmuslime dort aufhalten können. In Übereinstimmung mit der Überlieferung, dass Propheten am Ort ihres Todes begraben werden sollen, wurde Mohammed im Raum seiner Lieblingsfrau, Aischa, begraben, in deren Armen er starb. Mohammeds erste drei Nachfolger, Abu Bakr, Umar und Uthman, sind ebenfalls dort, also innerhalb der Moschee, begraben. Dies ist eine Ausnahme, da der Islam Grabmoscheen nicht zulässt.
Kapitel 10
Andere religiöse Rituale und Bräuche IN DIESEM KAPITEL Die Feier von Mohammeds Geburtstag und andere jährliche Feiertage Die Hauptwendepunkte des Lebens Die Beachtung religiöser Etikette und der Bräuche Eigene rituelle Räume für Frauen im Islam
Religionsgelehrte unterscheiden oft zwischen »großen Traditionen« und »kleinen Traditionen«. Eine »große Tradition« umfasst die Lehren der heiligen Bücher der Religion sowie die Interpretationen und Praktiken der offiziellen religiösen Körperschaften. In der Vergangenheit galt als »große Tradition« einer Religion normalerweise das, was die offiziellen religiösen Führer – ob nun Gelehrte, Priester, Mönche oder Rabbis – dazu erklärten. Folglich war die »große Tradition« auch die Religion, wie sie von Männern gesehen wurde, weil die meisten Führungspositionen mit Männern besetzt waren. Dagegen ist die »kleine Tradition« die Religion, wie sie von den normalen Menschen gelebt wird. Diese »Volksreligion« umfasst auch verbreitete Glaubenssätze und Praktiken, die möglicherweise von den Schriften nicht autorisiert sind und mit der offiziellen »großen Tradition« der Religion in Widerspruch stehen. Die »kleine Tradition« umfasst oft auch viele religiöse Praktiken von Frauen und gibt ihnen Möglichkeiten des religiösen Ausdrucks (und der Ausübung einer religiösen Führerschaft), die ihnen von der »großen Tradition« der Religion möglicherweise verwehrt worden sind. Denken Sie beim Lesen dieses Kapitels an die folgenden Punkte: Ob und wie die beschriebenen Praktiken ausgeübt werden, hängt stark von der muslimischen Kultur, dem Land und dem Zeitalter ab. Die Praktiken unterscheiden sich auch nach Bildung, sozialer Schicht, städtischem oder ländlichem Umfeld, individueller Frömmigkeit und Alter. Was Menschen tatsächlich tun, ist schwieriger zu beschreiben als das, was sie der offiziellen religiösen Lehre nach tun »sollten«. Während die offizielle Religion ihre Glaubenssätze und Praktiken klar vorschreibt, sind diese Informationen aus der Volksreligion der »kleinen Tradition« nicht so einfach zu
bekommen. Viele muslimische Theologen und Rechtsgelehrte lehnen einige Praktiken im Volksislam ab, weil sie glauben, dass solche Praktiken vom Koran und von der Praxis (Überlieferung) der erste Generation der Muslime nicht gebilligt werden. Im Islam hat es immer wieder Strömungen gegeben, welche die Praktiken der Volksreligion reinigen wollten. Einige dieser Praktiken stammen aus anderen Religionen oder aus vorislamischer Zeit.
Informationen über den Volksislam finden Wie erfährt man etwas über den Volksislam (im Gegensatz zu den gut dokumentierten offiziellen Lehren)? Es ist nicht leicht. Die Volksreligion ist Teil der Volkskultur und kann mit denselben Methoden studiert werden. Die Gelehrten untersuchen mündliche Überlieferungen, Zufallsberichte (die eigentlich über anderes berichten), Devotionalien und Dichtung. Die Anthropologie ist eine andere Hauptquelle für Informationen über Religion. Anthropologen besuchen Städte und Dörfer, in denen sie mehrere Jahre leben und »Fallstudien« durchführen. Sie beobachten, was tatsächlich passiert, und führen Tiefeninterviews durch. Ähnlich wie Naturwissenschaftler versuchen sie, Rohdaten zu sammeln und mithilfe eines theoretischen Gerüstes zu interpretieren. Sie achten darauf, wie die Menschen vor Ort die Ereignisse erklären, suchen jedoch auch nach anderen Erklärungen. In vergangenen Jahrhunderten haben Leute, die in muslimischen Ländern gelebt oder sie bereist haben, ihre Beobachtungen niedergeschrieben, auch wenn sie nicht als Anthropologen ausgebildet waren. Ihre Werke sind wertvolle Informationsquellen. Häufig zitiert wird das Buch In Mekka und Medina von Johann Ludwig Burckhardt aus den Jahren 1814/1815 (Edition Ost, Berlin 1994). Der Autor lebte wie ein Einheimischer in dem Land. Ebenso hielt es der englischstämmige Philologe E.W. Lane, der im 19. Jahrhundert ein Buch über den Volksislam der Ägypter zur damaligen Zeit mit dem Titel An account of the manners and customs of the modern Egyptians (1836) verfasste. Diese Berichte sind allerdings aufgrund ihrer orientalistischen und kolonialistischen Tendenzen mit Vorsicht zu genießen. Viele Stellen liefern Informationen über die offizielle Religion. Leider ist es sehr viel schwieriger, einen Überblick über den Volksislam insgesamt zu bekommen. Ein Anthropologe leistet in einem Dorf oder in mehreren Dörfern intensive Feldarbeit. Liegen genügend Studien vor, kann daraus ein Überblick über den Volksislam abgeleitet werden. Doch für einen Gesamtüberblick ist noch sehr viel mehr Feldarbeit erforderlich. Eine nützliche Quelle sind die Islamabschnitte der Artikel über Volksreligion, Übergangsriten und das islamische religiöse Jahr in The Encyclopedia of Religion (MacMillan Publishing, 1987). Ein weiterer nützlicher Überblick, auf den ich mich stütze, ist Kapitel 14 von An Introduction to Islam (MacMillan Publishing Company, 1994) von Frederick Denny. In diesem Kapitel verwende ich mehrfach Beispiele aus Marokko, weil dort die umfangreichsten anthropologischen Studien durchgeführt wurden.
Jährlich wiederkehrende Rituale Die fünf Säulen des Gottesdienstes (siehe Kapitel 9) sind für die offizielle Religion wichtiger als andere religiöse Rituale wie die Feier von Mohammeds Geburtstag oder Übergangsrituale. Hier beschreibe ich andere jährlich wiederkehrende Rituale, insbesondere die Feier des Geburtstags Mohammeds und anderer wichtiger Gestalten aus der Geschichte des Islam. Auch wenn diese Rituale nicht bindend sind (und von konservativen Muslimen abgelehnt werden), sind einige dieser Rituale für viele Muslime genauso wichtig wie die fünf Säulen.
Mohammeds Geburtstag Die Geburtstage der Gründer der meisten prämodernen Religionen sind unbekannt. Dennoch spielt die Feier des Geburtstags des Gründers im Konfuzianismus, Christentum und Islam (aber nicht im Judentum) eine wichtige Rolle. Im Christentum wurde der Geburtstag Jesu auf den 25. Dezember (den Geburtstag der Gottheiten Mithras und Helios, die von den römischen Legionen verehrt wurden) festgelegt. Im Islam wird Mohammeds Geburtstag am zwölften des Rabia al-Awwal gefeiert, dem dritten Monat des islamischen Jahres. Der Name für Mohammeds Geburtstag (maulid an-nabi) bezeichnet sowohl den Tag als auch die Feier des Geburtstags, der in manchen muslimischen Ländern (außer in SaudiArabien) ein offizieller Feiertag ist. (Die Schreibweise maulid, »Geburtstag«, variiert von Land zu Land: mawlid, mulud, milad und mevlut.) Dieses Fest ist fast so beliebt wie die beiden ids (siehe Kapitel 9).
Die Geschichte des maulid Bald nach Mohammeds Tod begannen Muslime, zu seinem Sterbehaus in Medina, das heißt zur dortigen Moschee, zu pilgern. Doch erst 170 Jahre später richtete die Mutter des Kalifen Harun al-Raschid Mohammeds Geburtshaus in Mekka als Besuchsstätte her. Die Fatimiden-Herrscher von Ägypten (909– 1171) waren die ersten, die aus dem Geburtstag einen größeren Feiertag machten. Einer der frühesten ausführlichen Berichte über einen maulid beschreibt eine Feier, die 1207 von der Abbasiden-Regierung im Irak abgehalten wurde. Der Autor erwähnt Fackelumzüge, Gesänge, Predigten, Gedichte und Geschenke. Ende des 13. Jahrhunderts hatte sich die Maulid-Feier in Ägypten zu einem Großereignis entwickelt. Von dort verbreitete sie sich als eine »Neuerung« (bida) über den größten Teil der muslimischen Welt.
Typische Elemente der Maulid-Feier Auch wenn die Einzelheiten sehr unterschiedlich sein können, umfasst eine typische Maulid-Feier die folgenden Elemente: ein mehrtägiges Fest, das an den beiden Abenden des elften und zwölften des Monats seine Höhepunkte hat eine karnevalsähnliche Atmosphäre mit Zelten, Unterhaltung und besonderen Süßigkeiten In letzter Zeit haben einige Regierungen die karnevalsähnliche Atmosphäre heruntergespielt und das Fest als Gelegenheit zur moralischen Inspiration durch Mohammeds Vorbild dargestellt. Umzüge mit Lichtern, Rezitationen und Gesängen Koranrezitationen, Gebete und Gedichte über Mohammed eine Verbindung zu den dhikr-Feiern der Sufis (siehe Kapitel 13)
Viele Länder haben eigene Maulid-Bräuche. In Marokko gilt ein Kind als glücklich, das am maulid geboren wird. Oft bekommt es den Namen Mauludi beziehungsweise Mauludiyya. Der maulid gilt auch als gutes Datum, um Jungen zu beschneiden. In einigen Länder werden Festmahle abgehalten und Arme beschenkt.
Die Maulud-Gedichte Maulud-Rezitationen sind ein besonderes Kennzeichen der Maulid-Feier. Mauluds sind Prosatexte und Gedichte, die die Geburt Mohammeds feiern. Ein maulud kann verschiedene literarische Formen haben (etwa die qasida oder die mathnavi; siehe Kapitel 6). Ein typischer maulud enthält die folgenden Elemente: Eröffnende Anrufung und Preisung Gottes die Erschaffung des »Lichts Mohammeds« (siehe Kapitel 6) verschiedene Informationen, beispielsweise über die Vorfahren Mohammeds Verkündung von Mohammeds Empfängnis durch seine Mutter Amina einen Bericht über seine Geburt und dabei stattfindende Wunder Mauluds können Ereignisse aus Mohammeds Leben umfassen, besonders seine Himmelsreise. Häufig werden andere Gedichte zum Lob Mohammeds (etwa die Burda von al-Busiri) rezitiert (siehe Kapitel 6). Maulud-Gedichte werden auch beim Beschneidungsritual, bei Totenfeiern und bei den dhikr-Zeremonien der Sufis (siehe Kapitel 13) rezitiert. Die Rezitation ruft Segen (baraka) auf den Rezitierer und die Zuhörer herab. CDs mit Maulud-Aufnahmen von professionellen Sängern sind beliebt. Die Geschichten um die Empfängnis und Geburt von Mohammed illustrieren die legendenhafte Anreicherung der Geschichte in der populären Literatur. Die Geburtsgeschichte erinnert an die Legenden, die sich um die Geburt des Buddha ranken. Das erste Beispiel stammt aus einem sehr beliebten türkischen maulud, dem mevlud-i sherif, von Suleiman Chelebi, etwa um 1400. In dem Gedicht verkünden drei himmlische Frauengestalten, darunter die Mutter Jesu, Mohammeds Mutter die kommende Geburt. Als die Niederkunft naht, wird Amina durstig und bekommt einen Becher mit einem himmlischen Fruchtsaft. Ein weißer Schwan lindert die Entbindungsschmerzen von Mohammeds Mutter Amina, indem er ihren Rücken mit einem Flügel berührt. Ein späterer maulud, der besonders in Afrika beliebt ist, stammt von einem islamischen Richter aus dem 18. Jahrhundert, al-Barzandschi aus Medina. Seine ursprüngliche Prosaerzählung wurde in viele Sprachen übersetzt und in Gedichte umgesetzt. Die Prosaversion beschreibt die Nacht von Mohammeds Empfängnis: Die Früchte reiften an den Bäumen und fielen den Leuten in den Schoß. Tiere kündeten in flüssigem Arabisch von dem Kind, dass Amina empfangen hatte. Diese Wunder (und viele andere in anderen mauluds) betonen die künftige Größe
von Mohammed. Sie widersprechen der Sicht der frühen Überlieferungen und der Theologen, die nur die Übermittlung des Koran als Mohammeds einziges Wunder gelten lassen. Diese Dichtungen und Feiern wirken auf normale Muslime emotional ähnlich wie die Melodien und Texte zahlreicher Weihnachtslieder auf Christen. Die Verehrung Mohammeds im Islam wird auch in Kapitel 6 sowie besonders in dem Buch Und Mohammed ist sein Prophet von Annemarie Schimmel (Diederichs, 1995) beschrieben, das auch ein Kapitel über die Maulid-Feiern und Maulud-Dichtung enthält.
Die Verdammung der Maulid-Feiern Ibn Taymiyya, ein hanbalitischer Rechtsgelehrter aus dem 14. Jahrhundert, verdammte die Feier als unrechtmäßige Neuerung (bida), und die modernen konservativen Wahhabiten haben sie in Saudi-Arabien verboten. Andere bezeichneten den maulid als erlaubte Neuerung. Die Gegner führen folgende Gründe an: Der Koran und echte Hadithe erwähnen die Feier nicht. Die Zeremonie grenzt an eine Anbetung Mohammeds, der nur ein Mensch war. Die Zeremonien zeigen christliche Einflüsse. Die Feier fördert emotionale Exzesse. Beim maulid kommt es zu unziemlichen Kontakten zwischen Frauen und Männern.
Die Heiligenverehrung Ein islamischer Heiliger, der als »Freund (wali) Gottes« bezeichnet wird, kann auf mehrere Arten verehrt werden. So werden allein in Ägypten mehr als 300 Heiligenfeste veranstaltet. Ein solches, sehr gut dokumentiertes Fest ist das von Sayyid Ahmad alBadawi, des Gründers des Badawiyya-Sufi-Ordens in Ägypten, dessen maulid im Herbst mehr als eine Million Pilger anzieht. Auch wenn weder der Koran noch die frühen Hadithen Heilige erwähnen, ist die Idee des »wali« begründet. Sure 10:62 sagt: »Wisset, dass über Allahs Freunde keine Furcht kommt und dass sie nicht traurig sein werden.« Neben den Wahhabiten greifen auch einige islamische Modernisten und Säkularisten die Heiligenverehrung als Aberglauben an. Als Folge von Verstädterung und besserer Bildung sind heute viele Heiligenschreine verlassen und ziehen nur noch wenige an. Dennoch spielen Heilige im Islam immer noch eine große Rolle. Zu manchen Heiligenfesten kommen bis zu 50.000 Gläubige. In einigen Fällen galten die Stätten, die mit Heiligen verbunden sind, bereits als heilig, bevor das Land oder die Einwohner den Islam übernahmen. In Indonesien bewachen heilige Schlangen (Nagas), die aus dem Hinduismus stammen, den Eingang einiger
Heiligenschreine. In Südasien konkurrierten muslimische Heilige mit hinduistischen Heiligen um Prestige und Wunderkraft.
Die Verehrung von Heiligengräbern Die Heiligenverehrung im Islam ist mit einem umfangreichen Ritual verbunden, in dessen Mittelpunkt ein Besuch des Heiligenschreins bei passender Gelegenheit steht. Nach Betreten des Schreins berühren Muslime das Heiligengrab, sprechen ein Gebet und treten dann einige Schritte zurück. Diese Gläubigen, hauptsächlich Frauen (siehe den Abschnitt »Rituale der Frauen« weiter hinten in diesem Kapitel), bitten den Heiligen um Hilfe bei diversen Problemen: Heilung einer Krankheit oder Unfruchtbarkeit, Unterstützung eines Sohnes beim Examen, Vermittlung bei Eheproblemen oder Abhilfe bei finanziellen Sorgen. Als Gegenleistung versprechen sie dem Heiligen ein Geschenk, doch nur im Falle des Erfolgs; Vorauszahlungen werden nicht geleistet.
Heiligengräber Heiligengräber können in Städten oder auf dem Land liegen. (Tatsächlich sind sie oft Ausflugsziele, die Städter an freien Tagen ohne religiöse Motive besuchen.) Ein typisches Heiligengrab (qubba, Bedeutung »Kuppel«) ist ein kleines Gebäude. Es hat eine quadratische Basis, auf der ein achteckiger Zylinder steht, der von einer Kuppel bedeckt wird. Einige sind sehr viel aufwendiger und umfassen Moscheen, Unterkünfte für Besucher und andere Einrichtungen. Das Grab kann einen festen Aufseher haben oder von Nachkommen des Heiligen betreut werden. Einige werden sogar durch eine Stiftung (waqf) unterstützt. In ländlichen Gegenden einiger Länder sind überall Heiligengräber zu sehen. So hat der Anthropologe Dale Eickelman berechnet, dass es in Marokko ein Heiligengrab pro sechs Quadratkilometer oder pro 150 Einwohner gibt.
Die große Gelegenheit für den Besuch eines Heiligengrabs ist der Geburtstag (maulid) des Heiligen. In einigen Fällen übernimmt auch sein Todestag diese Funktion, der als seine Hochzeit (urs) bezeichnet wird. Bei einer Wallfahrt (ziyara) zu einem Heiligengrab umwandelt man das Grab, so wie Hadsch-Pilger die Kaaba in Mekka umwandeln (siehe Kapitel 9). Koranrezitationen, Predigten, Gebete, Geschenke, Nahrungsmittel und dhikrZeremonien der Sufis (siehe Kapitel 13) gehören zum maulid.
Andere Rituale In der folgenden Liste beschreibe ich einige rituelle Pflichten, die weniger wichtig sind als die aus Kapitel 9 oder den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels. Besondere Rituale der Schiiten und Sufis (das dhikr und die sama) werden in Kapitel 12 beziehungsweise 13 beschrieben. Aschura: Bevor das Fasten im Ramadan eingeführt wurde, fasteten Muslime am aschura. Heute beachten Sunniten aschura als freiwilligen Fastentag. Laut Überlieferung ist aschura auch der Tag, an dem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden und an dem Noah nach der Flut die Arche verließ. In einigen Ländern werden am aschura Gräber besucht. In Mekka wird am aschura die Tür zum
Inneren der (leeren) Kaaba geöffnet. Der 15. des Schaban: Laut Überlieferung wird am 15. des Schaban (dem achten Monat) der Paradiesbaum geschüttelt. Die Namen aller Lebenden sind auf jeweils ein Blatt geschrieben. Falls das Blatt abfällt, wird dieser Mensch im kommenden Jahr sterben. Nach Sonnenuntergang werden spezielle Gebete und Sure 36 rezitiert. In Südasien und Indonesien werden an diesem Tag Zeremonien für die Toten abgehalten. Dies ist auch der Tag, an dem Mohammed 630 in Mekka einzog (siehe Kapitel 6). Der 27. des Radschab: An diesem Tag fand Mohammeds Nachtreise nach Jerusalem und seine Himmelsreise statt (siehe Kapitel 6). Viele Muslime feiern den Tag mit Prozessionen und Gebeten. Andere besondere Tage: Verschiedene muslimische Länder feiern die Tage ihrer Landesheiligen und andere Ereignisse aus Mohammeds Leben. Türkische Muslime feiern den Tag, an dem Amina Mohammed empfing, am Beginn des Radschab. Die Schiiten feiern die Geburt Alis am 13. des Radschab. Perser und Alewiten feiern den vorislamischen persischen Neujahrstag (nawruz) oder zwölf Tage bei der Tagundnachtgleiche im Frühling. Am selben Tag erschuf Gott angeblich Adam, zerstörte Abraham die heidnischen Götzenbilder und wählte Mohammed Ali zum Nachfolger.
Wendepunkte im Leben Viele Religionen, einschließlich des Islam, wollen das ganze Leben leiten. Wenn die Religion die gesamte Lebensführung durchdringt, haben auch wichtige Wendepunkte im Leben (Geburt, Heirat und Tod) eine religiöse Bedeutung. Folglich werden sie durch religiöse Rituale, sogenannte Übergangsrituale, begleitet.
Geburt In einigen islamischen Ländern, wie auch anderswo, gibt es während der Schwangerschaft Feiern, Besuche und besonderes Essen. Zunächst zum ersten Hauptereignis im Leben: der Geburt eines Kindes und der damit verbundenen Rituale. Wie bei allen Ritualen gibt es auch bei der Geburt kulturspezifische Rituale, die mit dem Islam nichts zu tun haben. So führen viele muslimische Eltern des Yoruba-Stamms in Nigeria sowohl eine uralte Namensgebungszeremonie aus, um das Kind sicher in die Welt zu geleiten, als auch eine separate islamische Namensgebungszeremonie. Im Islam haben Namensgebung und die anderen die Geburt begleitenden Ereignisse den Zweck, das Neugeborene in die Muslimgemeinde aufzunehmen und ihm Schutz vor allem Übel zu gewähren, das ihm nach diesem ersten Hauptereignis in seinem Leben drohen könnte. Nach der Geburt spricht der Vater dem Kind den ersten (adhan) und zweiten
(iqama) Gebetsruf (siehe Kapitel 9) ins rechte beziehungsweise linke Ohr. Der Vater soll das Fruchtfleisch einer Dattel zerkauen und dem Kind ein wenig davon in den Mund stecken, weil, so wollen es einige Überlieferungen (ohne den Grund zu erklären), Mohammed dies getan hat, als seine Kinder geboren wurden. Freunde bringen kleine Geschenke, und Sure 1, die Fatiha (siehe Kapitel 7), wird in Gegenwart des Kindes rezitiert. Die Geburt wird gefeiert. Während dieser frühen Tage im Leben des Kindes können die Eltern besondere Rituale ausführen (Zaubersprüche oder besondere Formeln aufsagen), um das Kind vor bösen Dschinn zu schützen (siehe Kapitel 5). Orthodoxe Muslime rezitieren stattdessen die beiden »Schutzsuren« (113 und 114) des Koran.
Namensgebung Der Vater wählt den Namen des Kindes nach Absprache mit der Mutter und anderen Verwandten. Das Kind kann seinen Namen bereits bei der Geburt bekommen. Welche Namen sind gebräuchlich? Beliebt sind zusammengesetzte Namen, die eine enge Verbindung mit Gott ausdrücken: etwa Abdallah (Diener Gottes). Empfohlen werden auch Namen, die mit Mohammed und seiner Familie zu tun haben: unter anderem Mohammed (oder einer der anderen Namen, die für Mohammed verwendet werden, etwa Ahmad) und Ali (der Ehemann von Fatima) für Jungen, und Fatima für Mädchen. Schiitische Muslime bevorzugen Namen der Familienmitglieder der zwölf Imame (siehe Kapitel 12). Namen, die nicht mit dem Islam zu tun haben, sind erlaubt, aber Reformbewegungen drängen zur Verwendung arabischer Namen, die eine besondere islamische Bedeutung haben. Folglich sind islamische Namen auch in nichtarabischen Ländern wie Indonesien und den Vereinigten Staaten zunehmend populär geworden. In der arabischen Kultur erhält eine Person normalerweise mehrere Namen, einige davon erst später im Leben. Die Namen werden aneinandergehängt und informieren über die Person, etwa über ihren sozialen Kontext (siehe den Kasten »Muslimische Namen verstehen«).
Muslimische Namen verstehen Für Nichtmuslime können muslimische Namen verwirrend sein, weil eine Person viele Namen haben kann. Normalerweise haben Muslime fünf verschiedene Arten von Namen; einige tragen sie von Geburt an, andere erwerben sie später im Leben. Wenn der komplette Name einer Person genannt wird, ist die folgende Reihenfolge typisch, aber nicht verbindlich: Der ism ist der Geburtsname, den der Vater dem Kind auf die beschriebene Weise gibt. Der ism entspricht dem Vornamen im Westen und kann, wie erwähnt, ein nichtmuslimischer Name sein. Wenn ein Paar sein erstes Kind bekommt, nehmen Vater und Mutter einen weiteren Namen (den kunya) an, der dem ism vorangestellt werden kann. Die Form ist: Abu Talib (Vater von Talib) oder Umm Fatima (Mutter von Fatima). Normalerweise werden sie mit diesem Namen angesprochen. Der nasab gibt den Vater oder die Mutter der Person an. Die Form ist: Ibn Ali (Sohn des Ali) oder Bint Ali (Tochter des Ali). Der Name kann mehr als eine Generation zurückgehen (Sohn von A, der
Sohn von B ist und so weiter). In letzter Zeit werden Name von Kind und Vater einfach nebeneinandergestellt und Ibn oder Bint weggelassen: Ahmed Ali (Ahmed, der Sohn des Ali). Der laqab umfasst diverse Ehrennamen und Spitznamen, etwa der Bäcker oder der Taube (aber diese Namen sind nicht immer in Arabisch). Die nisba zeigt normalerweise die Herkunft einer Person an. Sie kann auch Stammesverbindungen oder Beziehungen zu einer Rechtsschule anzeigen (zum Beispiel: der Hanbalite). Die fünf oben genannten Namen repräsentieren einen traditionellen arabischen Brauch. Stellen Sie sich vor, Sie wollten eine wichtige Person der islamischen Geschichte im Lexikon nachschlagen. Leider gibt es keine Regel, die vorschreibt, unter welchem der fünf Namen sie eingetragen ist. Möglicherweise müssen Sie mehrere Namen nachschlagen, um den Eintrag zu finden. Üblicherweise wird dies der Name sein, unter dem die Person allgemein bekannt ist. In Ländern wie Deutschland, in denen Nachnamen gesetzlich erforderlich sind, haben Muslime Nachnamen, die bei ihrer Einwanderung (oder der ihrer Eltern oder Großeltern) festgelegt worden sind. Danach bleibt dieser Name, wie bei anderen Personen, der Familienname und wird als Eintrag im Telefonbuch verwendet. Aus Respekt vor den eigenen Eltern sollte man den Familiennamen behalten, wenn man zum Islam konvertiert. Viele Konvertiten in westlichen Ländern nehmen arabische Vornamen an, obwohl dies nicht erforderlich ist. In den USA haben einige afroamerikanische Muslime andere Familiennamen angenommen, weil sie ihren ursprünglichen Familienamen als Sklavennamen betrachten, der möglicherweise auf die Sklaveneigner ihrer Vorfahren zurückgeht.
Die Opfergabe Das aqiqa-Opfer, das an Abrahams beabsichtigtes Opfer seines Sohnes erinnert, wird oft zusammen mit der Namensgebung des eine Woche alten Kindes zelebriert. Nur bei den Hanbaliten handelt es sich um ein Pflichtritual; andere Strömungen des islamischen Rechts empfehlen dieses Opfer. Das Opfer besteht bei einem Jungen aus zwei männlichen Schafen oder Ziegen, bei Mädchen aus nur einem Tier – falls sich die Eltern dies leisten können. Ein Teil des Opfers wird den Armen gespendet. Außerdem können wohlhabende Eltern das Haar des Kindes abschneiden, wiegen und das Äquivalent an Silber oder den Geldwert des Silbers den Armen oder einer Wohlfahrtsorganisation spenden.
Beschneidung (khitan) Die Beschneidung wird im Koran nicht erwähnt, wird aber bei fast allen muslimischen Männern praktiziert. Bei der Beschneidung wird die Vorhaut vom Penis entfernt. Die männliche Beschneidung wurde von den Juden übernommen. Abraham, der gemeinsame Vorfahr der Juden und Muslime, hatte bekanntlich seine Söhne beschnitten (siehe Genesis 17). Die Beschneidung wird auch in anderen Kulturen wie den USA praktiziert. Auf Arabisch heißt dieser Ritus Reinigung (tahara), was auf eine seiner Funktionen hinweist. Jungen werden je nach Land direkt nach der Geburt oder bis zum Alter von etwa 15 Jahren beschnitten. In einigen Ländern erfolgt die Beschneidung bei der Geburt oder bei Kleinkindern und ist in den größeren Zusammenhang der Rituale von Geburt und Kindheit eingebettet. Die Beschneidung erfolgt am häufigsten im Alter von sechs bis sieben Jahren. In Indonesien oder im Jemen ist die Beschneidung ein Pubertäts- oder Mannbarkeitsritus, wenn der Junge zwischen zehn und zwölf Jahren alt ist. In diesen
Fällen kann die Beschneidung damit verbunden sein, dass der Junge den Koran in der Koranschule vollständig rezitiert hat. In wieder anderen Ländern erfolgt die Beschneidung noch einige Jahre später und dient als Vorbereitung auf die Ehe und die volle Teilnahme an der Gemeinschaft als Erwachsener. Manchmal bietet die Beschneidung Anlass zu einer größeren Feier mit besonderer Kleidung, Nahrungsmitteln und Prozessionen. In einigen Ländern wird die Beschneidung mehrerer Jungen gemeinsam gefeiert. Die Beschneidung wird für männliche Konvertiten zum Islam empfohlen, aber nicht gefordert. Die weibliche Beschneidung (auch Klitoridektomie genannt) variiert von einer Entfernung eines kleinen Teils der Vorhaut der Klitoris bis zur Entfernung der Klitoris, der kleinen Schamlippen und Teilen der großen Schamlippen. Die weibliche Beschneidung wird in Oberägypten, im Sudan, in Somalia und Äthiopien praktiziert. Sofern Daten vorliegen, scheint die weibliche (wie die männliche) Beschneidung in diesen Gebieten auf vorislamische Zeiten zurückzugehen und ist deshalb nicht auf islamische Einflüsse zurückzuführen. Es scheint demnach eine Tradition aus dem afrikanischen Raum zu sein. Die weibliche Beschneidung ist nicht im Islam verankert, sondern eine vom Islam missbilligte Körperverletzung, die leider noch immer praktiziert wird. Wegen einer Überlieferung, der zufolge Mohammed davon abriet, eine Frau zu beschneiden, lehnen muslimische Autoritäten die weibliche Beschneidung ab. Der Scheich al-Azhar, Muhammad al-Tantawi, hat die weibliche Beschneidung verboten, weil die Verstümmelung des Körpers gegen islamisches Gesetz verstoße. Weltweit ist eine Bewegung gegen die »weibliche genitale Verstümmelung« entstanden.
Erwachsen werden Das Erwachsenwerden im Islam kann als der Punkt definiert werden, an dem das Kind verantwortlich dafür wird, die fünf Säulen des Gottesdienstes (siehe Kapitel 9) zu praktizieren. Im Allgemeinen wird von dem Heranwachsenden etwa zu dieser Zeit erwartet, die Regeln für den Kontakt und die Trennung der Geschlechter zu beachten. Doch der Islam hat keinen allgemein akzeptierten Ritus des Erwachsenwerdens, der etwa mit der Bar/Bat-Mitzva-Zeremonie im Judentum vergleichbar wäre. In einigen Ländern übernimmt die Beschneidung (je nach Alter, in dem sie erfolgt) oder die Abschlussfeier des Koranstudiums diese Funktion.
Hochzeit Ähnlich wie die anderen Übergangsrituale unterscheiden sich auch die Hochzeitsbräuche. Für eine Hochzeit müssen einige Mindestanforderungen erfüllt sein: Es muss natürlich einen heiratsfähigen Heiratspartner geben; ein Ehevertrag muss geschlossen werden; und es muss ein Brautgeld vorhanden sein (ein vereinbartes Brautgeschenk des Ehemanns an die Braut). Diese Anforderungen werden von allen Muslimen erfüllt, solange sie nicht gegen lokales Recht verstoßen. So dürfen muslimische Männer in Ländern, in denen
Polygamie verboten ist, nicht mehr als eine Frau heiraten. Abgesehen von diesen Minimalanforderungen gibt es große Unterschiede bei der Partnerwahl, den Hochzeitszeremonien, die mit dem Vertrag beginnen und mit einem Hochzeitsfest vor Vollzug der Ehe enden können. Von Muslimen wird erwartet zu heiraten. Der Koran und die Hadithe (Überlieferungen) fördern eine frühe Eheschließung. Mann und Frau sollten sexuell reif sein; und der Mann sollte seine Frau finanziell unterstützen können. Normalerweise heiraten Männer kurz bevor sie zwanzig sind, Frauen sogar mehrere Jahre früher. Die Ehe basiert nicht notwendig auf romantischer Liebe, sondern hängt von der Herkunft, dem Eigentum, der Religiosität des möglichen Partners und dem Nutzen für beide Familien ab. Obwohl muslimische Männer Christinnen und Jüdinnen heiraten dürfen, müssen muslimische Frauen muslimische Männer heiraten, um zu gewährleisten, dass die Kinder als Muslime erzogen werden. Das islamische Gesetz verbietet die Heirat zwischen engen Verwandten. In Ländern, in denen Muslime eine kleine Minderheit bilden, bieten islamische Organisationen Heiratsvermittlungsdienste an; außerdem kann man Heiratsanzeigen in islamischen Zeitschriften aufgeben.
Gesetzliche Auflagen Die Ehe ist im Islam ein auflösbarer rechtlicher Vertrag, kein unauflösliches religiöses Sakrament. Rechtlich basiert die Ehe auf einem Vertrag (nika), der Folgendes umfasst: Er wird von dem Vater oder Vormund der Braut und dem Bräutigam in Gegenwart zweier Zeugen unterzeichnet, normalerweise vor der eigentlichen Hochzeitsnacht. Die Braut muss der Ehe aus freien Stücken zustimmen, aber ihr Vater oder Vormund führt die Eheverhandlungen. Erwachsene Frauen haben größeren Einfluss auf die Wahl des Ehemanns als junge Frauen. Im 20. Jahrhundert haben einige muslimische Staaten ein Mindestalter für die Ehepartner festgelegt (etwa 18 für den Mann und 16 für die Frau) und die staatliche Registrierung der Ehe zur Pflicht gemacht. Die Brautgeldzahlung des Bräutigams an die Frau basiert auf Sure 4:4. Ohne Brautgeld ist die Ehe ungültig. Das Brautgeld soll vertraglich festgelegt werden. Auch wenn es normalerweise vor dem Vollzug der Ehe bezahlt wird, können Ratenzahlungen vereinbart werden. Das Brautgeld bleibt Eigentum der Ehefrau, mit dem sie nach Gutdünken verfahren kann. Es kann aus Geld oder Gütern bestehen. Laut Tradition soll das Brautgeld nicht zu hoch sein, sondern dem Üblichen entsprechen, das Bräute mit ähnlichem sozialen Status erhalten. Laut Überlieferung hieß Mohammed bei einem armen Paar schon Dinge wie ein Paar Sandalen oder eine Handvoll Mehl für gut. In ölreichen arabischen Staaten ist dieser »Brautpreis« allerdings bis ins Unerschwingliche gestiegen, sodass der Staat das Brautgeld subventionieren muss, damit seine Söhne nicht außer Landes auf Brautschau gehen,
etwa im »preiswerteren« Ägypten.
Die Hochzeitszeremonie Auch wenn sich die Hochzeitsbräuche zum Teil erheblich unterscheiden, haben sie normalerweise einiges gemeinsam: eine Feier mit Gesang, Tanz, Festessen und vielleicht Koranrezitationen. Hochzeitsfeiern (eine oder mehrere) können mit folgenden Ereignissen verbunden werden: der Unterzeichnung des Ehevertrags, dem feierlichen Einholen der Braut zum Haus des Bräutigams, der Hochzeitsnacht und einem Hochzeitsfest bis zwei Tage nach der Hochzeit. Bei diesen Ereignissen wird die übliche Trennung von Männern und Frauen beachtet. Flitterwochen gehören nicht zu dem traditionellen muslimischen Bräuchen. Wer zu einer Hochzeitsfeier eingeladen wird, muss die Einladung grundsätzlich annehmen.
Mehrere Frauen heiraten Wahrscheinlich haben Sie gehört, dass muslimische Männer bis zu vier Frauen heiraten dürften. Doch haben heute nur sehr wenige muslimische Männer mehr als eine Frau. In Teilen Afrikas, wo auch vor dem Islam Polygamie praktiziert wurde, wurde sie unter dem Islam fortgesetzt. Laut Mohammed zählt Scheidung zu den hassenswertesten von Gott erlaubten Dingen. Eine geschiedene Person zu heiraten, ist nicht mit einem Stigma verbunden. In der muslimischen Geschichte gibt es Fälle von Männern, die ihr Scheidungsrecht missbraucht haben. Heute versuchen Gerichte und Rechtsreformer in einigen muslimischen Ländern dies zu verhindern (siehe Kapitel 11).
Die Ehe als Übergang zum Erwachsenenalter In vielen traditionellen muslimischen Gesellschaften ersetzt die Ehe in gewissem Maß für Männer, stärker jedoch für Frauen das Ritual, erwachsen zu werden. Frauen verlassen ihr Elternhaus und übernehmen die traditionellen Aufgaben einer Frau: die Führung des Haushalts und das Gebären und Aufziehen von Kindern. In einigen Ländern markiert die Geburt – sogar noch stärker als die Heirat – für die Mutter den Eintritt ins Erwachsenenalter. In einigen muslimischen Ländern ist die Wiederaufnahme der jungen Mutter in die Gesellschaft wie in vielen vormodernen Kulturen mit bestimmten Einschränkungen und Reinigungen verbunden (siehe Kapitel 9; dort werden die Reinigungsvorschriften beschrieben, die mit dem Verlust von Blut verbunden sind). Die Mutter muss besondere Reinigungen ausführen. In einigen Fällen müssen Mutter (und Kind) eine Phase der Absonderung durchlaufen. Sie sind zuerst auf ihren Raum beschränkt, ohne Kontakt zu Menschen außerhalb der engeren Familie zu haben. Dann dürfen sie sich im Haus bewegen und mehr Kontakte zu anderen haben.
Auch hier sind die Einzelheiten der Absonderung und Reinigung nach der Geburt kulturspezifisch und werden im traditionellen islamischen Recht nicht geregelt.
Tod Der Tod, sowohl das Ereignis selbst als auch seine Bedeutung, wirft Fragen auf, die alle Religionen beantworten müssen. Während der Islam bei anderen Übergangsritualen traditionell bereit war, lokale Gebräuche zu übernehmen oder wenigstens zu tolerieren, ist er beim letzten Übergang – dem Tod – weniger bereit, Kompromisse mit den Bräuchen der lokalen Kultur zu schließen. Der Tod gilt im Islam als der Punkt, an dem alles zusammenläuft und das ewige Schicksal der Person bestimmt wird. Der Tod ist ein natürliches, aber dennoch einschneidendes Ereignis. Die Glaubenssätze und Rituale dieses Übergangs sollten strikt islamischen Gebräuchen folgen (siehe Kapitel 5; dort werden die islamischen Glaubensvorstellungen des Nachtodgeschehens beschrieben). Deshalb sind die Rituale um den Tod im Islam einheitlicher als die anderen Übergangsrituale.
Sterben Wenn der Tod bevorsteht, wird ein Muslim auf die rechte Seite gelegt, das erste Zeugnis (»Es gibt keinen Gott außer Gott«) wird in sein Ohr geflüstert, und Sure 36 wird rezitiert, darunter Vers 12: »Wahrlich, Wir machen die Toten lebendig. Und Wir schreiben auf, was sie getan und an Spuren hinterlassen haben«, und Vers 51: »Dann wird in die Posaune gestoßen [die den Tag des Gerichts ankündigt] – und siehe da, schon eilen sie aus ihren Gräbern zu ihrem Herrn!«
Vorbereitung auf das Begräbnis Weil der Tod natürlich ist, sollte kein Aufwand getrieben werden, so zu tun, als habe er nicht stattgefunden. Traditionell wurden Leichen nicht einbalsamiert, obwohl die Muslime auch hier, wie in anderen Angelegenheiten, die örtlichen Gesetze befolgen. Weil der Körper im wörtlichen Sinne wiederauferstehen soll, ist eine Einäscherung nicht erlaubt. Verwandte des gleichen Geschlechts des/der Verstorbenen schlagen den Leichnam in weiße Tücher ein. Falls der Verstorbene die Wallfahrt nach Mekka unternommen hat, können seine Wallfahrtgewänder (siehe Kapitel 9) zum Einwickeln benutzt werden. In einer Moschee oder zu Hause wird ein rituelles Gebet (salat al-dschanaza) für den Verstorbenen gesprochen.
Begräbnis Das Begräbnis findet, falls möglich, am Todestag statt, sonst am folgenden Tag. In muslimischen Ländern zieht eine Prozession durch die Straßen; vier oder sechs sich abwechselnde Männer tragen die Bahre. Manchmal werden Klageweiber (Frauen, welche die Trauer laut herausschreien) angeheuert, obwohl diese Praxis von Rechtsgelehrten abgelehnt wird.
Das Grab ist tief genug, um wilde Tiere abzuhalten. Särge sind zwar erlaubt, werden aber nicht verwendet, wenn es nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Leichnam wird auf der Seite liegend mit dem Gesicht nach Mekka in das Grab gelegt. Wenn der erste Teil der Schahada (»Es gibt keinen Gott außer Allah«) nicht gesprochen wurde, als die Person starb, wird dies jetzt nachgeholt. Bisweilen hält jemand am Grab eine kurze Rede, und die Trauernden rezitieren die Fatiha. Die Trauernden werfen jeweils drei Handvoll Erde auf das Grab und pflanzen Blumen an.
Nach dem Begräbnis Die islamische Tradition empfiehlt einen einfachen Grabstein mit dem Namen des Verstorbenen und einigen Versen aus dem Koran. Dies hat die Aufstellung kunstvoller Grabsteine und Mausoleen jedoch nicht verhindert. Empfohlen sind Besuche am Grab am 40. Tag nach dem Tod. Die meisten Freunde und die Familie trauern drei Tage. Die Trauerfarbe ist Weiß. Für Witwen dauert die Trauerzeit vier Monate und zehn Tage.
Alltagsbräuche Religion als Lebensstil umfasst nicht nur die erforderlichen rituellen Praktiken und die Übergangsriten. Stattdessen können alle, selbst triviale und weltliche Handlungen bei entsprechender Ausführung eine religiöse Bedeutung haben. Was Ungläubige als Sitten, Gebräuche oder sogar Aberglauben betrachten, kann ebenfalls eine religiöse Bedeutung haben. Das Essen – sowohl das Wie als auch das Was – hat in vielen Kulturen eine religiöse Bedeutung. Die Kleidung kann ebenfalls religiös bedingt sein. Chassidische Juden sind an ihren langen, schwarzen Mänteln und ihren breitkrempigen Hüten zu erkennen. In US-Bundesstaaten wie Pennsylvania, Ohio und Indiana kann man Amische sofort an ihrer Kleidung erkennen, die aus den ländlichen USA vor 200 Jahren zu stammen scheint. Indische Yogis sind an ihrer Kleidung zu erkennen, und der Turban der männlichen Sikhs (einer südasiatischen Religion) weist sofort ihre Religion aus. Warum beachten Anhänger einer Religion diese Bräuche? Der Hauptdarsteller in dem Musical Fiddler on the Roof (ein Porträt des Lebens in einem osteuropäischen, jüdischen Dorf des 19. Jahrhunderts) beantwortet eben diese Frage über die Sitten und Gebräuche seines Dorfes. Seine Antwort ist einfach, doch frustrierend: Tradition. Die Dorfbewohner tun, was sie tun, weil ihre Väter und Mütter und davor die Großväter und Großmütter es genauso getan haben. Traditionen tragen dazu bei, Mitglieder der Gruppe von Nichtmitgliedern abzugrenzen. Im Islam gibt es eine weitere Antwort: das Vorbild des Propheten Mohammed. Wenn ein Muslim überlegt, wie er sich verhalten soll, fragt er zunächst, ob es Informationen über Mohammeds Verhalten (oder Aussagen) gibt. In diesem Abschnitt werden muslimische Bräuche und Verhaltensweisen beschrieben, die teils vom islamischen Recht gefordert
werden (etwa erlaubte und verbotene Nahrungsmittel), teils von früher übernommen wurden.
Ernährung Die meisten Nahrungsmittel sind mit den drei folgenden größeren Einschränkungen erlaubt: Sure 2:173 sagt: »Verboten hat Er [Gott] euch nur Verendetes und Blut und Schweinefleisch und das, worüber ein anderer als Allah angerufen wurde.« Im Judentum gibt es ähnliche Verbote, aber im Gegensatz zu Juden dürfen Muslime Schalentiere essen. Besonders in China, wo Schweinefleisch in der heimischen Küche eine wichtige Rolle spielt, unterscheiden sich chinesische Muslime durch ihre strikte Vermeidung von Schweinefleisch stark von nichtmuslimischen Chinesen. Muslimische, jüdische und andere Gelehrte haben versucht, logische Gründe für die Vermeidung von Schweinefleisch zu finden (etwa die Gesundheitsgefahren, die von unzureichend gegartem Schweinefleisch ausgehen), doch im Grunde läuft es nicht nur auf eine Angelegenheit der Reinheit und dem Wort Gottes hinaus. Viele Kulturen kennen Nahrungstabus – etwa im Westen: Fleisch von Hunden, Katzen und Pferden. Anthropologen betrachten die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel als eine Möglichkeit, die Identität einer Gruppe oder Religion zu unterstützen. Muslime sind Nachkommen Abrahams und übernahmen das Verbot des Genusses von Schweinefleisch vermutlich aus dem jüdischen Gesetz. Alkoholische Getränke sind verboten. Das Fleisch von Tieren, die nicht korrekt geschlachtet (das heißt, nicht geschächtet wurden; Schächten ist mit der koscheren Schlachtung im Judentum identisch) wurden, und Blutwurst sind verboten. Beim Schächten werden die Kehle, die Luftröhre und die Arterien am Hals schnell durchgeschnitten (während Gottes Name ausgesprochen wird), sodass das Blut schnell aus dem Körper des Tieres fließt.
Muslime dürfen koschere Nahrung essen, weil sie halal (erlaubt) ist. Für Muslime in einem nichtmuslimischen Land wie Deutschland ist es schwer festzustellen, ob vorgefertigte Nahrungsmittel mit Nebenprodukten vom Schwein oder Alkohol kontaminiert sind. Einige Websites für Muslime liefern detaillierte Informationen über die Zusammensetzung diverser Produkte einschließlich der Nahrungsmittel, die in Fast-Food-Ketten angeboten werden. Traditionell essen Muslime mit der rechten Hand, mit oder ohne Besteck. Vor dem Mahl sprechen sie die basmala (»Im Namen Gottes, des Erbarmenden, des Gütigen«). Muslime dürfen bei Christen essen. Natürlich darf das Mahl nicht aus gebratenem Schweinefleisch mit Rotwein bestehen!
Kleidung Muslime sollen ihren Körper pflegen und sich zurückhaltend kleiden. Beide Geschlechter dürfen Parfum verwenden, weil angenehme Düfte im Islam sehr geschätzt werden. Viele dieser Vorschriften gehen auf Überlieferungen zurück, die beschreiben, wie Mohammed sich verhielt und was er über Kleidung sagte. Sure 7:26 sagt: »Wir [Gott] gaben euch Kleidung, eure Blöße zu bedecken, und als Prunkgewänder, aber das Kleid der Gottesfurcht ist besser« (siehe auch 7:31). Beide Suren drücken klar die Richtlinie aus, nach der Männer und Frauen attraktiv, aber zurückhaltend bekleidet sein sollen. Aussagen von Mohammed warnen vor extravaganter Kleidung, um andere zu beeindrucken. In einem anderen Ausspruch sagt Mohammed: »Reinige dich, denn der Islam ist Reinheit.« Natürlich gelten solche Kleidungs- und Hygienevorschriften nicht nur im Islam. Kleidung ist landesspezifisch. Muslimische Männer können rein westliche Kleidung oder einen Mantel über einer traditionellen Tunika oder einem Hemd tragen. Weiter unten beschreibe ich die typische, traditionelle Kleidung für Frauen und Männer. Anhänger islamistischer Bewegungen (sowie einige Muslime im Westen) kleiden sich ähnlich, um ihre Identität als Muslime zu betonen. In Südasien und Westafrika tragen Männer und Frauen sowohl die traditionelle muslimische Kleidung als auch westliche Kleidung, die sie nicht sofort als Muslime ausweist. Die Kleidung der Männern und Frauen unterscheidet sich: Frauen: Langer Rock oder locker sitzende Hosen; langärmliges, locker sitzendes Top, das nicht auf Taille geschnitten ist; Kopfbedeckung über Nacken oder Schultern. Einige muslimische Länder fordern die vollständige Bedeckung von Frauen vom Kopf bis zu den Zehen einschließlich eines Gesichtsschleiers; andere lehnen dies ab (siehe Kapitel 11; dort wird der Schleier behandelt). Männer: Langärmlige Tunika über bauschigen Hosen oder ein langes, locker sitzendes Hemd, Kopfbedeckung und geschnittener Schnurrbart und längerer Kinnund Backenbart. Im Osmanischen Reich wurde der Fez getragen, eine zylinderförmige Kopfbedeckung mit Quaste. Andere traditionelle Kopfbedeckungen sind das arabische Tuch der Beduinen (kafia), das der verstorbene Präsident der Palästinenser Arafat trug, und der Turban. Der Gründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, verbot Schleier (für Frauen) und den Fez für Männer, um die dortige Säkularisierung der Gesellschaft zu forcieren und beschleunigen.
Den bösen Blick vermeiden
Lange vor dem Islam sahen Araber oft den bösen Blick, den jemand auf sie geworfen hat, als Ursache ihres Unglücks. Ähnlich wie im Westen den Hexen wurde die Macht des bösen Blicks besonders alten, unverheirateten Frauen zugeschrieben. Zaubersprüche und Amulette (Glücksbringer) halfen, die Macht des bösen Blicks sowie Unglück abzuwenden, das von Dschinn (bösen Geistern, siehe Kapitel 5) verursacht wurde. Ein anderes Mittel (ebenfalls vorislamischen Ursprungs) gegen den bösen Blick war, die Hand mit der Handfläche nach vorn auszustrecken und die fünf Finger zu spreizen. Auch wenn solche Praktiken in der muslimischen Welt allenfalls am Rande vorkommen, spielen sie im Islam eine Rolle vergleichbar den Volkspraktiken vieler Religionen. Auch in christlichen Ländern des Mittleren Ostens und des Kaukasus ist der böse Blick Teil der Tradition.
Umgangsformen Mohammed wird die Überlieferung zugeschrieben: »Anstand ist Teil des Glaubens.« Muslim zu sein, bedeutet auch, sich korrekt zu verhalten. Deshalb gibt es im Islam eine eigene Schrift über gutes Benehmen und Verhalten. Dafür die folgenden drei Beispiele: Danke Personen unverzüglich, indem du sagst: »Möge Gott dich gut belohnen.« Von Mohammed ist überliefert: »Wer Menschen nicht dankt, dankt Gott nicht.« Versuche nicht, das Niesen zu unterdrücken. Niesen ist ein Segen Gottes. Zu dem, der niest, sollte man sagen: al-hamdulillah (»Gelobt sei Allah«). Behandle Tiere gnädig und freundlich. Im Allgemeinen soll bei allen positiven Handlungen (Essen, Trinken, Handschütteln, Anziehen von Kleidung und Schuhen) die rechte Körperseite, der rechte Fuß und die rechte Hand bevorzugt werden. Wahrscheinlich gibt es keine logische Erklärung für diese Regel, außer dass »rechts« in vielen Kulturen mit positiven und »links« mit negativen Handlungen assoziiert wird.
Rituale der Frauen Frauen nehmen an allen religiösen Hauptritualen des Islam teil. Auch der Hadsch (siehe Kapitel 9) wird von Frauen und Männern gleichermaßen und sogar gemischt ausgeführt. Frauen spielen bei verschiedenen Übergangsritualen wie der Beschneidung und der Hochzeit eine besondere Rolle. Heiligengräber werden häufiger von Frauen als von Männern besucht. So kann eine unfruchtbare Frau einen Heiligenschrein besuchen und Gott im Gebet um ein Kind bitten. Dabei kann sie geloben zurückzukehren, falls ihr Gebet erhört wird. In Teilen Ägyptens und des Sudans spielen Frauen bei zar-Zeremonien eine große Rolle, bei denen es um Heilung psychischer und körperlicher Krankheiten geht. Zar bezeichnet sowohl die besessene Frau als auch die Heilungszeremonie. Einige Sufis (Mystiker – siehe Kapitel 13) waren und sind Frauen. Außerdem erkannten wichtige Sufis wie Ibn Arabi ihre Lehrerinnen an.
Während einige traditionalistische Bewegungen Frauen zurückdrängen wollen, sind Frauen (darunter viele Akademikerinnen) in islamistischen Bewegungen aktiv. Auch wenn Frauen heute im Iran den Tschador tragen müssen, der sie in der Öffentlichkeit von Kopf bis zu den Zehen bedeckt, dürfen sie im Parlament und in der Regierung tätig sein. (Und ich vermute, dass der Rollenwechsel einer islamischen Frau zwischen 1950 und 2050 sehr viel größer sein wird als die Änderungen zwischen 1200 und 1950.)
Kapitel 11
Muslimische Ethik: Das richtige Leben führen IN DIESEM KAPITEL Was bedeutet »Ethik«? Quellen und Prinzipien der islamischen Ethik Die Unterschiede zwischen rationalistischer Ethik, theistischer Ethik und Charakterethik Einige besondere ethische Probleme aus islamischer Perspektive
In den meisten Einführungen in den Islam werden moralische beziehungsweise ethische Probleme über das ganze Buch verstreut diskutiert. Ich fand das immer verwirrend. Deshalb fasse ich in diesem Kapitel Hintergrundinformationen, theoretische Überlegungen und praktische Fragen der islamischen Ethik zusammen. Der Islam kennt Pflichten gegenüber Gott, Pflichten gegenüber Mitgeschöpfen und Pflichten gegenüber sich selbst. Einige Einführungen in die islamische Ethik für Laien vermischen Moral mit Verhaltensanweisungen und Benimmregeln, weil dies in den islamischen Quellen und Lehrbüchern so ist. So stehen etwa im gleichen Buch Ratschläge, auf der rechten Seite zu schlafen, neben Vorschriften, nicht zu lügen. Wenn ich in diesem Kapitel von Ethik spreche, meine ich damit die Pflichten gegenüber anderen Menschen, der Umwelt und sich selbst – die persönliche Moral. In allen Religionen spielt Ethik eine wichtige Rolle. So bilden die Lehren des Konfuzius die Basis der herrschenden Ethik von China und ganz Ostasien. Das Hauptanliegen des Konfuzius war die Frage, wie sich die Menschen in ihren Beziehungen untereinander verhalten sollten, damit die Gesellschaft zum Nutzen aller funktioniert. Konfuzius gab besondere moralische Ratschläge und glaubte, es gebe gewisse absolute moralische Regeln – Verhaltensnormen (Gebote und Verbote), die Menschen aufgrund ihrer Natur als Menschen kennen (oder kennen sollten). Doch wichtiger als spezielle Gebote und Verbote war für Konfuzius der Aufbau eines moralischen Charakters. Eine Person mit dem richtigen Charakter wird sich normalerweise instinktiv moralisch verhalten, ohne die entsprechenden Anweisungen zu bekommen. Eine Person mit dem richtigen Charakter wird den Charakter anderer positiv beeinflussen, ohne selbst von Menschen mit schlechtem Charakter korrumpiert zu werden, so Konfuzius. Er betonte auch maßvolles
Handeln – das Vermeiden von Extremen. Und schließlich gibt es in der konfuzianischen Ethik Hierarchien, die durch die sogenannten fünf Beziehungen definiert werden: zwischen Eheleuten, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern (Brüdern und Schwestern), zu anderen Menschen und zwischen Herrscher und Untertan. All diese Beziehungen sind reziprok, was bedeutet, dass jede Seite in der Beziehung Pflichten gegenüber der anderen hat. Aber es gibt auch Pflichten, die speziell für eine Seite der Beziehung gelten. So ist ein Kind verpflichtet, seine Eltern zu respektieren und für sie zu sorgen. Der Islam könnte fast allen Punkten der konfuzianischen Ethik zustimmen. Tatsächlich sind sich die meisten Religionen im Großen und Ganzen über die hauptsächlichen moralischen Gebote und Verbote einig. Denn welche Religion sagt schon, es sei in Ordnung, zu töten, andere zu betrügen, zu lügen, die Armen zu unterdrücken, Ehebruch zu begehen, zu stehlen oder seine Eltern unfreundlich zu behandeln? Auch die erwünschten und unerwünschten Charakterzüge – die Tugenden und die Laster – werden ähnlich bewertet: Sei großzügig und nicht geizig; sei bescheiden und nicht angeberisch. Der Hauptunterschied zwischen dem Konfuzianismus und dem Islam besteht darin, dass die Ethik im Islam auf göttlicher Offenbarung – dem Wort Gottes – basiert. Auch wenn einige westliche Ethiker Ethik (Theorie) und Moral (praktische Richtlinien) unterscheiden, werden diese beiden Termini in diesem Kapitel synonym verwendet.
Ausgangspunkte der islamischen Ethik Menschen wurden nach dem Bilde Gottes geschaffen, und dieses Bild umfasst auch moralische und intellektuelle Fähigkeiten. Laut Sure 33:72 bot Gott die »Verantwortung« den Himmeln, der Erde und den Bergen an. Sie hatten Angst und lehnten sie ab. Nur die Menschen waren bereit, sie zu übernehmen. Anders ausgedrückt: Moralität ist eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Deshalb spielt die Moralität im Islam eine zentrale Rolle. Dagegen können Engel nicht sündigen und folglich auch keine moralischen Entscheidungen treffen. (Zu Satans Ungehorsam siehe Kapitel 5.) Moralisches Handeln ist nicht immer leicht, zumal Satan und böse Geister (Dschinn) die Menschen in Versuchung führen, Böses zu tun. Laut Islam haben Menschen aber die Fähigkeit, das Gute zu wählen und das Böse zu vermeiden.
Prinzipien der islamischen Ethik Der Islam hat eine starke ethische Komponente. So wurden die Einwohner Mekkas verdammt, weil sie die Armen (siehe Sure 107:3) und Waisen (siehe Sure 17:34; 93:9) unterdrückten und beim Handel betrogen (siehe Sure 17:35). Meiner Meinung nach sind die folgenden sechs Punkte die grundlegenden Prinzipien der islamischen Ethik:
Jede Handlung hat eine moralische Bedeutung. Die von muslimischen Ethikern vielleicht am häufigsten zitierte Passage stammt aus Sure 3:104: Danach gehören Muslime zu einer Gemeinde, die zum Guten einlädt, das Rechte gebietet und das Unrechte verbietet. Dieses Prinzip, »Gutes zu tun und Unrechtes zu verbieten«, dient als Richtschnur. Spezielle »Regeln« sind wichtig; doch es braucht Einsicht, um die Regeln (hier das allgemeine Prinzip »Gutes zu tun«) in speziellen Fällen anzuwenden. Moralisch sind Handlungen, deren Ergebnis Gerechtigkeit ist (adl, siehe Sure 4:58). Unter konkreten Umständen kann eine Handlung sowohl gute als auch böse Konsequenzen haben. Dann muss man die Handlung wählen, die das Gute maximiert und das Böse minimiert, sodass eine größtmögliche Gerechtigkeit erzielt wird. Beides, Glauben und Werke, ist erforderlich. Sure 2:82 sagt: »Diejenigen aber, die glauben und gute Werke tun, werden die Bewohner des Paradieses sein.« Die moralischen Entscheidungen eines Menschen haben ernste Konsequenzen, denn sie bestimmen sein endgültiges Schicksal im Himmel oder in der Hölle. Absichten sind wichtiger als Taten (was auch für gottesdienstliche Handlungen gilt). Ernsthaftigkeit ist entscheidend. Das Trio aus »Herz, Zunge und Tat« wird häufig erwähnt. Jeder stimmt zu, dass es nicht genügt, moralisches Handeln zu predigen (das Handeln der Zunge), aber dann anders zu handeln. Eine Handlung, die nur dem äußeren Schein wegen vollzogen wird, ist laut Islam längst nicht so wertvoll wie eine, die von Herzen kommt. Was aus dem Herzen kommt, wird durch Worte und Taten begleitet. Falls die Umstände die Handlung verhindern, gilt die Bereitschaft des Herzens immer noch als gut. Wenn es darum geht, das moralisch Richtige zu tun, ist der aufrechte Charakter (der aus Tugenden wie Weisheit, Gerechtigkeitssinn, Bescheidenheit und der Vermeidung von Lastern wie Wollust, Gier und Wut besteht) genauso wichtig wie die Befolgung eines Satzes von Regeln. In den meisten Situationen reagieren Menschen instinktiv in Übereinstimmung mit ihrem Charakter, statt ihr Handeln bewusst an Regeln auszurichten. Im 12. Jahrhundert verfasste der bedeutende Theologe al-Ghazali umfangreiche Schriften, in denen er die Kultivierung der Tugenden und die Vermeidung der Laster betonte. Sure 5:105 sagt: »O ihr, die ihr glaubt! Ihr seid nur für euch selbst verantwortlich. Wer irrt, kann euch nicht schaden, solange ihr rechtgeleitet seid.« Extreme sollten vermieden werden; der mittlere Weg, der Weg des Ausgleichs ist der richtige. Man sollte nicht arrogant sein oder vor anderen prahlen. Sure 31:18–19 sagt: »Und sei gegen die Menschen nicht hochfahrend und stolziere nicht eitel auf der Erden herum. Siehe, Allah liebt keine eingebildeten Prahler. Mäßige deinen Schritt und dämpfe deine Stimme. Siehe, die hässlichste Stimme ist die Stimme von Eseln.«
Erläuternde Texte
Von Mohammed ist überliefert: »Niemand unter euch ist ein Gläubiger, solange er nicht für seine Brüdern und Schwestern dasselbe wünscht wie für sich.« Dies entspricht der »goldenen Regel« (»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu«), die in verschiedenen Formen im Judentum, Christentum, Konfuzianismus und den meisten anderen Religionen zu finden ist. Es gibt im Islam keine zehn Gebote, obwohl mehrere koranische Texte die grundlegenden moralischen Pflichten zusammenfassen. Laut Sure 23:3–11 sind Gläubige, die »… sich von allem Nichtswürdigen fernhalten, und die die Steuer entrichten und ihre Scham bewahren, außer gegenüber ihren Gattinnen oder denen, die sie von Rechts wegen besitzen; denn dann sind sie ja nicht zu tadeln. Wer aber etwas darüber hinaus begehrt: Das sind die Übertreter. Und die das ihnen anvertraute Vermögen bewahren und ihr Versprechen erfüllen und die ihre Gebete verrichten: Das sind die Erben, welche das Paradies erben werden, ewig darin zu verweilen.« Sure 70:22–35 enthält eine ähnliche Liste guter und schlechter Taten. Mohammed fasste in seiner Abschiedspredigt in Arafat während seiner Wallfahrt nach Mekka im Jahre 632 einige moralische Pflichten eines Muslim zusammen. Neben dem Gottesdienst und anderen Pflichten nannte er die folgenden moralischen Anweisungen: Gib Eigentum, das anderen gehört, zurück. Verletzte niemanden. Berechne keine Zinsen, wenn du Geld verleihst. Ehemänner sollten ihre Frauen gut behandeln, da sie Partner sind. Freunde dich nicht mit Leuten an, die einen schlechten Charakter haben. Begehe keinen Ehebruch.
Quellen für die ethische Anleitung Wie in anderen Religionen gibt es auch im Islam neben den besonderen ethischen Vorschriften in den Heiligen Schriften andere Quellen mit ethischen Richtlinien: Der Koran mit seinen Gesetzen und moralischen Prinzipien ist natürlich die Hauptquelle. Die Überlieferungen (Hadithe) enthalten ergänzende Anleitungen, die auf Mohammeds Worten und Handlungen basieren. Die islamischen Rechtgelehrsamkeit leitet per Analogie und durch andere Mittel der Argumentation weitere moralischen Regeln aus dem Koran und den
Hadithen ab. Vorislamische arabische Tugenden wie Ehre, Mut, Loyalität, Gastfreundschaft, Selbstkontrolle und Geduld bleiben im Islam wichtig. Bestimmte Menschen der islamischen Geschichte wie die vier rechtgeleiteten Kalifen und Fatima (siehe Kapitel 2) liefern wichtige Beispiele. Philosophische Analysen juristischer und ethischer Probleme, unter anderem durch die Mu'taziliten (siehe Kapitel 4), trugen dazu bei, ethische Fragen zu klären. Ins Arabische übersetzte Werke griechischer Ethiker sind eine weitere Quelle. Gottes Eigenschaften und Namen (siehe Kapitel 3) dienen Muslimen als Aufforderung, sie im Umgang miteinander nachzuahmen. Namen sind unter anderem: der Sanfte, der Dankbare, der Gerechte, der Gebende, der Faire, der Liebende und andere mit ethischem Anklang. Der Sufismus (siehe Kapitel 13) pflegt besondere ethische Werte einschließlich der Bescheidenheit und der Armut. Für diverse Berufe und normale Muslime wurden adab-Bücher (Bücher über Etikette, Benehmen) geschrieben, die heute noch relevant sind, etwa Anleitungen für Könige über das rechte Herrschen oder für Ärzte über die richtige Versorgung von Patienten. Literarische Werke (ebenfalls adab genannt) enthalten weitere Beispiele für moralisches Handeln.
Der Umgang mit größeren und kleineren Sünden Einige Sünden wiegen schwerer als andere. Wie in anderen Religionen werden Sünden auch im Islam nach Schwere abgestuft. Als schwer gelten Sünden, die den Täter am Tag des Gerichts in die Hölle bringen. Da dieses Leben für Muslime nur ein Vorspiel für das Leben nach dem Tod ist, ist die Unterscheidung zwischen schweren und weniger schweren Sünden sehr wichtig. Im 12. Jahrhundert lieferte der Theologe al-Ghazali ein gutes Beispiel für die Einordnung der Sünden in verschiedene Kategorien. (Andere Theologen vertreten andere Unterteilungen.) Al-Ghazali unterscheidet nach Schwere vier Kategorien von Sünden: Die erste Kategorie bilden die Sünden des Unglaubens an Gott (kufr) und des Götzendienstes (schirk, der Beigesellung, bei der neben Gott andere Götter/Götzen/Wesen verehrt werden, siehe Sure 4:48). Diese beiden Sünden bringen den Sünder für immer oder wenigstens für sehr lange Zeit in die Hölle. Die zweite Kategorie umfasst die Sünden gegen das Leben und die Familie (etwa Mord und Ehebruch). Die dritte Kategorie umfasst Sünden der unrechten Aneignung von Besitz. Sünden der
zweiten und dritten Kategorie bringen den Sünder wahrscheinlich für gewisse Zeit in den oberen (und mit den wenigsten Schmerzen verbundenen) Kreis der Hölle; doch wenn sie in ihrem Leben ernsthaft an Gott geglaubt haben, werden sie letztlich in den Himmel kommen. Die vierte Kategorie umfasst alle anderen Sünden, unter anderem auch den Alkoholkonsum und das Lügen. Auch wenn diese Sünden nicht unwichtig sind, halten sie den Sünder nach Ansicht einiger Theologen wahrscheinlich nicht davon ab, am Tag des Gerichts in den Himmel einzugehen.
Die Anwendung der Ethik auf praktische Fragen Was denken Muslime über aktuelle moralische Fragen? Im Rest dieses Kapitels werden diese Fragen behandelt. Wie in jeder Kultur weichen die Meinungen der Experten erheblich voneinander ab. Unter Muslimen herrscht keineswegs eine größere Einigkeit über komplizierte moralische Fragen als in Ihrem Freundeskreis. Sie sollten jedenfalls nicht davon ausgehen, dass alle Muslime mit meinen Aussagen über die muslimische Position zu der jeweiligen Frage übereinstimmen. Meine Kommentare zu besonderen Fragen repräsentieren die Position islamischer Ethiker. Ich versuche nicht, wie ein Anthropologe oder Soziologe zu beschreiben, wie sich Muslime tatsächlich verhalten.
Sexualethik Die Ethik befasst sich mit dem Verhalten von Menschen zueinander. Weil sexuelle Beziehungen die intimsten menschlichen Kontakte sind, spielt die Sexualethik in den meisten Diskussionen über Ethik eine wichtige Rolle. Nichtmuslime würden die muslimische Sexualethik wahrscheinlich als recht puritanisch einstufen. Sex ist gut, aber er darf nur innerhalb sorgfältig definierter Grenzen praktiziert werden. Geschlechtsverkehr ist ein Geschenk Gottes und gut. Der Islam glaubt nicht, dass ein zölibatäres Leben (ohne sexuelle Beziehungen und Ehe) ein heiligeres Leben sei. Christen nehmen an, Jesus habe sein Leben lang zölibatär gelebt, und sind schockiert, wenn jemand etwas anderes behauptet. Abgesehen von einigen Ausnahmen im japanischen Buddhismus heiraten buddhistische Mönche nicht. Einige hinduistische Männer verlassen in der vierten und fünften Phase des Lebens (der des Sannyasin) Weib und Haus, um sich ganz dem Erreichen der Befreiung zu widmen. Juden, Konfuzianisten, Taoisten und Muslime teilen die Auffassung nicht, dass Ehe und
sexuelle Beziehungen dem religiösen Streben zuwiderlaufen. Für Muslime können sexuelle Beziehungen wie andere Handlungen, die maßvoll und mit der rechten Einstellung ausgeführt werden, als ein Akt des Gottesdienstes betrachtet werden. Sexuelle Beziehungen verursachen eine rituelle Unreinheit. Nach dem Geschlechtsverkehr sollte man sofort oder am nächsten Morgen die große rituelle Reinigung ausführen, bevor man das als Nächstes fällige Gebet verrichtet. (Mehr über diesen und den nächsten Punkt finden Sie in Kapitel 9.) Sexuelle Beziehungen haben mit Körperausscheidungen zu tun. Nach allen Körperausscheidungen ist vor gottesdienstlichen Handlungen eine Reinigung erforderlich. Geschlechtsverkehr ist während der Menstruation nicht erlaubt. Impotenz ist ein medizinisches Problem, das am besten mit medizinischen Mitteln behandelt wird. Deshalb ist es in Ordnung, Viagra zu nehmen, wenn dies nicht zu maßlosen sexuellen Anforderungen an die Frau führt. Wollüstige Tendenzen sollten kontrolliert werden. Deshalb sollten Männer, die sexuell gesund sind, kein Viagra nehmen, um ihren sexuellen Appetit zu steigern. Masturbation (die Texte behandeln nur die männliche Masturbation) wird abgelehnt (Sure 23:5–7). Es ist jedoch nicht klar, ob sich Vers 7 tatsächlich auf Masturbation bezieht. Die hanbalitische Rechtsschule (siehe Kapitel 8) erlaubt Masturbation, um Unzucht oder Ehebruch zu vermeiden, wenn der Mann nicht heiraten kann. Ausbildung und eine spätere finanzielle Unabhängigkeit verzögern oft die Heirat, während die Gesundheit und Ernährung zu einer früheren sexuellen Reife führen. Dies stellt für den Islam mit seinen schweren rechtlichen Strafen für außerehelichen Geschlechtsverkehr offensichtlich ein Problem dar. Trotz rechtlicher Strafen für »Unzucht« haben muslimische Kulturen Toleranz gegenüber vorehelichen sexuellen Beziehungen von Männern gezeigt. Voreheliche sexuelle Beziehungen von Mann und Frau sind jedoch verboten und bringen große Schande über die Familie. Vorehelicher Sex von muslimischen Frauen kann zu einem sogenannten Ehrenmord führen. Ehrenmorde widersprechen dem islamischen Recht wie jeder andere Mord, kommen aber dennoch in einigen muslimischen Ländern vor. Prostitution gilt im Islam als moralisch falsch. Es gibt jedoch auch in muslimischen Gesellschaften männliche und weibliche Prostituierte. Sure 24:33 sowie verschiedene Überlieferungen (Hadithe) verurteilen es, Frauen in die Prostitution zu zwingen. Im schiitischen Zwölfer-Islam gilt eine Form der temporären Ehe (muta) als legal. Der Ehevertrag kann festlegen, wie lange die Ehe dauern soll (von Stunden bis zu 99 Jahren) und wie hoch die Bezahlung sein soll. Die Frau hat kein Erbrecht, aber die Kinder aus einer solchen Ehe sind legitim und erbberechtigt. Sunnitische Muslime betrachten muta als Äquivalent zur Prostitution. Sure 4:26 wird sowohl von Sunniten als auch von Schiiten zitiert. Die Sunniten lesen das entscheidende Wort als »Trostgeschenk« (das einer geschiedenen Frau gegeben wird) und die Schiiten als
»temporäre Ehe«. Selbst Sunniten erkennen an, dass Mohammed ursprünglich eine temporäre Ehe für muslimische Männer erlaubte, die fern der Heimat auf einem Feldzug oder einer Handelsreise waren. Sunniten behaupten, dies sei ein Zugeständnis an die menschliche Schwäche. Eine zeitlich begrenzte Ehe sei besser als Ehebruch. Sunniten glauben jedoch, dass Mohammed später die temporäre Ehe verbot, und vergleichen die Situation mit dem Alkoholkonsum, der ursprünglich (in Maßen) erlaubt war, doch später durch Derogation ebenfalls völlig verboten wurde. Schiiten schreiben das Verbot der zeitlich begrenzten Ehe nicht Mohammed, sondern Umar, dem zweiten Kalifen (Nachfolger Mohammeds), zu. Die Schiiten erkennen Umar nicht als rechtmäßigen Nachfolger an, weil er kein Nachkomme Mohammeds war. Deshalb betrachten Schiiten sein Verbot der zeitlich begrenzten Ehe als nicht bindend. Analsex ist verboten. Der Islam lehrt, dass einige Handlungen Gottes Absicht widersprechen, die er in seiner Schöpfung manifestiert hat – einer Vorstellung, die der ähnlich ist, was im Westen manchmal als »Naturgesetz« bezeichnet wird. Für muslimische Ethiker ist analer Geschlechtsverkehr widernatürlich. Homosexualität ist falsch, weil sie Gottes Absicht widerspricht und weil sie im Koran und in den Hadithen ausdrücklich verdammt wird. In Sure 26:165–175, der Geschichte von Lot, wird die Homosexualität der Einwohner Sodoms verdammt. Dies scheint sich nur auf die männliche Homosexualität zu beziehen und sagt, dass die beteiligten Männer bestraft werden sollten, ohne eine Strafe in dieser Welt zu spezifizieren. Einige Hadithe empfehlen die Steinigung von Leuten, die Homosexualität praktiziert haben. Sie leiten diese Strafe daraus ab, dass Gott Sodom und Gomorra durch einen Steinregen auf diese Städte zerstört habe. Doch während die hanbalitische Rechtsschule sehr streng ist, ist die hanafitische Schule milder. (In Malaysia, einem muslimischen Land, beschuldigte der Premierminister den Vizepremier der Homosexualität, um ihn ins Gefängnis zu bringen und sich so einer politischen Bedrohung zu entledigen.) Homosexualität ist in muslimischen Ländern illegal, wird aber oft toleriert, wenn sie diskret praktiziert wird. Allerdings gibt es in muslimischen Ländern keine offen als Schwulentreffs erkennbare Bars. Der Koran, Hadithe und historische Berichte sagen wenig über lesbische Liebe. Die meisten Muslime würden lesbische sexuelle Beziehungen jedoch als sündhaft bezeichnen. Auch Transvestitentum und Cross-Dressing werden von muslimischen Ethikern verurteilt. Die Geschlechterrollen sollten klar zu unterschieden sein. Alles, was diese Unterscheidung verwischt, gilt als verwerflich. Pornografie wird verurteilt, weil sie das sexuelle Begehren anreizt und Frauen herabsetzt. Moderne Methoden der Geburtenkontrolle (außer Abtreibung) werden im Islam akzeptiert. Eine Familie, die zu groß ist, um angemessen versorgt zu werden, ist ein legitimer Grund, Geburtenkontrolle zu praktizieren. Deshalb hat in den letzten 50 Jahren die Geburtenrate in einigen muslimischen Ländern stark abgenommen.
Künstliche Befruchtung einer Frau mit dem Sperma ihres Ehemanns ist erlaubt. Die Verwendung des Spermas eines anderen Mannes wird dagegen als Ehebruch betrachtet. Ersatzmutterschaft ist nach islamischen Recht ebenfalls illegal und ein Kind, das von einer Ersatzmutter zur Welt gebracht wird, gilt als illegitim. Der Islam lehnt sexuelle Anspielungen in der Werbung strikt ab. Auf Automessen gibt es keine knapp bekleideten Frauen als Blickfänger für ausgestellte Autos. Es sind auch keine sich lasziv räkelnden Männer, die nur mit Unterwäsche von Calvin Klein bekleidet sind, auf Werbeplakaten zu sehen.
Ethische Vorschriften für Ehe und Familie Frank Sinatra sang 1955 einen Schlager von Sammy Cahn und Jimmy Van Heusen. Es hatte den Titel »Love and Marriage« (»Liebe und Ehe«), wonach beide wie Pferd und Wagen verbunden sind. Wenn man eines von beiden will, muss man auch das andere akzeptieren. Wie der vorangegangene Abschnitt hoffentlich deutlich gemacht hat, sollen in der muslimischen Welt Sex und Ehe unbedingt zusammengehen. Die Ehe ist im Islam ein sozialer Vertrag mit göttlicher Sanktion (Sure 25:54). Eine Hochzeitsfeier wird zwar sehr empfohlen und findet auch fast immer statt, aber die entscheidende religiöse Anforderung ist der Vertrag, der zwischen dem Mann und dem männlichen Repräsentanten der Frau ausgehandelt und in Gegenwart zweier Zeugen unterschrieben wird. Ein Durchbrennen widerspricht dem islamischen Brauch, weil der Eheschluss ein öffentliches Ereignis ist. (Das Festmahl macht ihn öffentlich.) Auch wenn eine vorherige romantische Zuneigung keine ausreichende Basis für die Ehe ist, ist Liebe in der Ehe wichtig. Sure 30:21 sagt, die Ehe sei ein Zeichen für Gottes Sorge um die Menschheit und Gott habe »Liebe und Barmherzigkeit« zwischen die Eheleute gesetzt. Frauen und Männer sollten früh heiraten – von der Mitte der Teenagerjahre bis Mitte 20. Weil vom Mann erwartet wird, die Frau zu unterstützen, können die Realitäten des modernen Lebens (längere Ausbildung) zu einer etwas späteren Ehe führen. Der Islam erlaubt bis zu vier Ehefrauen, wenngleich nur als Ausnahme (zur Aufnahme von Waisenkindern) und unter der wohl unerfüllbaren Bedingung der Gleichbehandlung (Sure 4:3, 129). Von Muslimen, die in nichtmuslimischen Ländern leben, in denen Polygamie verboten ist, wird erwartet, die Gesetze des jeweiligen Landes zu befolgen. Einige muslimische Länder haben die Polygamie beschränkt oder sogar verboten (so die Türkei und Tunesien). Frauen dürfen nur einen Ehemann haben; und heute haben die meisten muslimischen Männer nur eine Frau. Der Ehevertrag kann eine Klausel enthalten, die es dem Ehemann verbietet, andere Frauen zu heiraten.
Ehebruch ist eines der schlimmsten Verbrechen. Der Koran sieht eine Bestrafung durch 100 Peitschenhiebe vor (Sure 24:2). In jedem Fall gewährleisten prozedurale Sicherheitsvorkehrungen, dass die Bestrafung wegen Ehebruchs in muslimischen Ländern selten ausgeführt wird. In Nigeria verhängten mehrere staatliche Gerichte in den muslimischen nördlichen Regionen des Landes die Todesstrafe durch Steinigung. Der Präsident, ein Muslim, intervenierte, um zu versuchen, diese Verzerrung der muslimischen Rechtsprozeduren zu verhindern. Falsche Anschuldigung des Ehebruchs wird mit 80 Peitschenhieben bestraft (Sure 24:4) und ist deshalb laut Koran fast so schlimm wie der Ehebruch selbst. Scheidung (talaq) ist gemäß eines bekannten Hadith eine der hassenswertesten erlaubten Handlungen im Islam. Der Koran empfiehlt einen Versöhnungsversuch mithilfe von Schiedsrichtern (Sure 4:35). Ein Ehemann kann sich von seiner Frau ohne Gründe nur scheiden, indem er in drei aufeinander folgenden Monaten sagt: »Ich scheide mich von dir.« Nach dem ersten und dem zweiten Mal kann sich das Paar versöhnen. Während der drei Monate lebt die Frau weiterhin im Haus und der Ehemann unterstützt sie auch weiterhin finanziell (siehe Sure 65:1). Nach dem dritten Mal ist die Scheidung endgültig. Das Paar darf erst dann erneut heiraten, wenn die Frau in der Zwischenzeit jemand anderen geheiratet hat (und von diesem neuen Mann geschieden wurde). Die Einzelheiten werden in Sure 2:228–232, 236–237 festgelegt. Später wurde es Brauch, die drei Scheidungsaussagen auf einmal auszusprechen. Diese schnelle Scheidung war gesetzlich zulässig, wurde aber nicht empfohlen. Ein Missbrauch durch den Ehemann war nicht unwahrscheinlich. In einigen muslimischen Ländern schützt die moderne Rechtsprechung die Frau vor einer willkürlichen Scheidung durch den Ehemann. Für eine Frau ist es schwerer, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen. Sie bedarf dafür eines Richterspruchs. Die Gründe für eine Scheidung seitens der Frau umfassen Missbrauch oder Ausbleiben der Unterstützung des Ehemanns, Impotenz, Ausschweifung, Vernachlässigung, chronische Krankheit, Geisteskrankheit oder seinen Übertritt zu einer anderen Religion. Im Fall der Scheidung darf die Frau normalerweise ihr Brautgeld behalten. Der Ehemann trägt die Verantwortung für die Unterstützung der Frau (Sure 4:34). Die Frau ist für die Erziehung der kleineren Kinder und die Führung des Haushalts verantwortlich. Wenn sie diese Pflichten erfüllt, darf sie außerhalb des Hauses zusätzliche Arbeit annehmen. Mit ihrem Einkommen darf sie nach Gutdünken verfahren; sie muss selbst zu den grundlegenden Ausgaben der Familie nichts beitragen. In Ländern, in denen Frauen vollkommen abgesondert werden (das heißt in Bereichen des Hauses leben, in denen sie von nicht verwandten Männern nicht gesehen werden können, wie es von den Taliban in Afghanistan praktiziert wurde), sind Beschäftigungsmöglichkeiten sehr begrenzt. Doch im Lauf der muslimischen Geschichte und in den meisten muslimischen Ländern haben Frauen Berufe ausgeübt
und tun es weiterhin. Trotz starker egalitärer Züge gilt die patriarchalische Familie im Islam als die göttliche Norm. Jeder unterwirft sich unter Gott. Bürger unterwerfen sich unter den Herrscher. Die Frau unterwirft sich dem Ehemann, und die Kinder unterwerfen sich den Eltern. Eine Aufgabenteilung zwischen Ehemann und -frau wird jedoch ermutigt. Normalerweise überlässt der Ehemann seiner Frau die Angelegenheiten des Haushalts und der Erziehung der Kleinkinder. Wenn bei Meinungsverschiedenheiten über ältere Kinder eine Entscheidung getroffen werden muss, hat der Ehemann das letzte Wort (siehe Sure 4:34, die unter anderem von den rechtschaffenen Frauen spricht, die ihren Männern gehorchen). Kinder sind eine Freude. Kinder sollten ihre Eltern ehren, und Eltern sollten alle ihre Kinder gleich behandeln, falls dem nichts entgegensteht, etwa die Behinderung eines Kindes. Ein Hadith sagt: »Fürchte Gott und behandele deine Kinder mit gleicher Gerechtigkeit.« Eltern sind dafür verantwortlich, die Grundbedürfnisse der Kinder zu erfüllen: Nahrung, Kleidung, Unterkunft, religiöse Schulung und Ausbildung. Väter sollten ihre Kinder lieben und mit Wohlwollen behandeln, wie Mohammed laut Überlieferung seine Kinder behandelt hat. Der Islam nimmt an, dass Mütter Liebe zeigen werden. In einem berühmten Satz sagte Mohammed: »Das Paradies befindet sich zu Füßen der Mutter.« In einem anderen Hadith wird Mohammed gefragt, zu wem man freundlich sein solle. Er antwortete sinngemäß: zu deiner Mutter, dann zu deiner Mutter, dann zu deiner Mutter, und dann kommt dein Vater, und dann kommen deine Verwandten in der Reihenfolge der Verwandtschaft. Das islamische Recht erlaubt keine Adoption (Sure 33:4–5), wohl aber die Aufnahme von Pflegekindern. Wenn ein Kind verwaist ist, hat die Großfamilie die Pflicht, für das Kind zu sorgen. Ein kinderloser Mann kann eine Waise aufnehmen und für sie sorgen. Er kann diesem Kind bis zu einem Drittel seines Nachlasses vermachen, aber das Kind erbt nicht wie ein leibliches Kind und hat nicht den Status eines Blutsverwandten. Erwachsene Kinder sorgen für ihre alten Eltern und erweisen ihnen Respekt. Sure 17:23 sagt: »Sag daher nicht ›Pfui!‹ zu ihnen und schelte sie nicht, sondern rede mit ihnen auf ehrerbietige Weise.« Derselbe Respekt sollte allen Älteren gezollt werden, so wie Mohammed sagte: »Kein Junger wird einen alten Mann wegen seiner Jahre ehren, ohne dass Gott jemandem die Aufgabe erteilt, ihn (den Jungen) zu ehren, wenn er alt ist.« Die Großfamilie ist moralisch für die Schulden eines Familienmitglieds verantwortlich, das ohne eigene Schuld verarmt ist, und für die Schulden, die ein verstorbenes Familienmitglied hinterlassen hat. Doch die Großfamilie ist rechtlich nicht für diese Schulden verantwortlich und kann nicht gezwungen werden, sie zu bezahlen.
Die Rolle der Frauen Der Status der Frauen im Islam zählt zu den Punkten, die im Westen größte Aufmerksamkeit finden. Tatsächlich sind viele der Meinung, Frauen seien im Islam Menschen zweiter Klasse. Ich teile diese Sorgen, aber stimme auch den muslimischen Kritikern zu, die darauf verweisen, dass Frauen jedenfalls bis vor etwa 100 bis 150 Jahren in muslimischen Ländern mehr legale und wirtschaftliche Rechte hatten als in westlichen Ländern. Ebenso stimmen sowohl muslimische wie auch viele westliche Gelehrte darin überein, dass die koranischen Vorschriften für Frauen zur Zeit der Gründung des Islam im Vergleich zu vorislamischen Zeiten einen Fortschritt der legalen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rechte der Frauen darstellten. Ein Standpunkt sagt, danach sei die Position der Frauen in Teilen der islamischen Welt nicht wegen, sondern im Grunde gegen die Absicht des Koran schwächer geworden. Ich teile diese Auffassung. Der Islam behauptet, er verfolge in Bezug auf Frauen eine Politik der Trennung bei Gleichheit. Interessanterweise haben einige hinduistische Autoren dasselbe vom Hinduismus behauptet. Wie der Islam sagen sie, dass der westliche Eindruck von unfairer Behandlung der Frauen im Hinduismus (oder im Islam) auf einer falschen Einschätzung der unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern und des hohen Respekts beruhe, der Frauen gezollt wird. Ich bin in einem Teil des amerikanischen Südens aufgewachsen, wo die getrennte, aber vorgeblich gleiche Behandlung von Schwarzen die Regel war (getrennte Schulen, getrennte Plätze in Restaurants und so weiter). Deshalb bin ich skeptisch, wenn jemand von einer Trennung bei Gleichheit spricht. Frauen haben die gleichen religiösen Rechte und Pflichten wie Männer. Sie beten jedoch in getrennten Teilen der Moscheen und dürfen Versammlungen von Frauen als Vorbeterin leiten. Neugeborene Mädchen sollen willkommen geheißen werden. Weil männliche Kinder im vorislamischen Arabien bevorzugt wurden (siehe Sure 43:17), wurden weibliche Neugeborene, nach koranischer Erzählung, oftmals umgebracht (siehe Sure 81:8–9). Der Koran verurteilt diese Praxis. Überlieferungen des Propheten sagen, ein Muslim solle sich über die Geburt einer Tochter genauso wie über die eines Sohnes freuen. Wie Familien in vielen anderen Gesellschaften (zum Beispiel China und Indien) freuen sich traditionelle muslimische Familien mehr über die Geburt eines Sohnes und betrachten die Geburt einer Tochter als Last, egal was ihre Religion dazu sagt. Eine Tochter bekommt nur die Hälfte des Erbes eines Sohnes. Muslime sagen, dies sei fair, weil der Sohn die gesamte Familie unterstützen muss, während die Tochter
mit ihrem Erbe nach Gutdünken verfahren und zusätzlich ein Brautgeld erwarten kann. Der Koran (Sure 2:221; 60:10) verbietet es einer muslimischen Frau indirekt, einen nichtmuslimischen Mann zu heiraten, aber umgekehrt darf ein muslimischer Mann eine nichtmuslimische Frau heiraten. Diese Norm soll sicherstellen, dass sie ihre Kinder muslimisch erzieht. Frauen müssen einen Schleier tragen. Der koranische Text bezieht sich auf die Frauen Mohammeds (Sure 33:53). Zwei Texte (Sure 24:31; 33:59) sprechen davon, dass muslimische Frauen ihren Intimbereich und ihren Busen bedecken und außerhalb des Hauses mit einem über dem Kopf getragenen Umhang bekleidet sein sollten. Die extreme Interpretation verlangt, die Frau müsse sich vollständig vom Scheitel bis zu den Füßen bedecken, das Gesicht eingeschlossen. Die meisten muslimischen Frauen verstehen die Texte nur als Anweisung, sich dezent zu kleiden und ihre Haare, nicht jedoch ihr Gesicht zu bedecken. Offensichtlich sind die Kleidungsvorschriften für Frauen im Islam umstritten. Im Laufe der Jahrhunderte variierten die Kopfbedeckungen und Verschleierungsstile für muslimische Frauen beträchtlich. Vielleicht haben Sie Bilder von Frauen im Iran, in Saudi-Arabien und in Afghanistan gesehen, die einen Umhang tragen, der sie von Kopf bis Fuß bedeckt und nur einen Sehschlitz für die Augen enthält. Diese Bedeckung kann aus einem einzigen oder aus mehreren Kleidungsstücken bestehen. Abaya, chaddor und burqa sind keine genauen Synonyme, doch sie bezeichnen umhangähnliche Bekleidungsstücke, die den gesamten Körper bedecken. Der khimar ist eine Kopfbedeckung, die bis zur Brust reicht und mit dem jilbab kombiniert werden kann, der den Rest des Körpers bedeckt. Die Bezeichnung hidschab ist ein allgemeiner Terminus für Schleier aller Art, egal ob sie das Gesicht bedecken oder nicht. Um ihre islamische Identität zu betonen, haben viele Frauen, deren Mütter oder Großmütter den Schleier ablehnten, in Ost und West begonnen, den Schleier wieder zu tragen. Die Meinungen über die Absonderung von Frauen gehen weit auseinander. Extreme Konservative sagen, Frauen sollten abgesondert im Haus bleiben, sie sollten nur mit ihren Ehemännern oder anderen männlichen Familienmitgliedern ausgehen (oder auf Reisen gehen), und Arbeitsstätten und Schulen sollten nach Geschlechtern getrennt sein. (Saudi-Arabien hat moderne Einkaufszentren nur für Frauen.) Doch in den meisten muslimischen Ländern sind in der Öffentlichkeit viel mehr Frauen zu sehen, als diese Auffassung vermuten ließe.
Medizinische Ethik
Die Medizin war in islamischen Ländern immer hoch angesehen: Jesus, der als islamischer Prophet gilt, wird wegen seiner Heilungen verehrt. Der Koran sagt: »Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten« (Sure 5:32). Hadith-Sammlungen enthalten Abschnitte über die Medizin. In der Medizin lautet der moralische Hauptimperativ, Gesundheit und Leben zu fördern: Medizin sollte Leben fördern, aber nichts tun, um Leben zu nehmen. Sowohl Selbstmord als auch Euthanasie werden im Islam verurteilt (Sure 4:29). Die Sterilisierung ist normalerweise verboten. Man sollte nicht um den Tod beten, weil Gott den Zeitpunkt des Todes festlegt. Andererseits müssen Ärzte keine außergewöhnlichen Mittel einsetzen, um das Leben über sein natürliches Ende hinaus zu verlängern. Der Islam sieht keinen Widerspruch darin, an Gott zu glauben und die bestmögliche medizinische Wissenschaft und Behandlung zur Heilung von Krankheiten zu verwenden. Tatsächlich müssen die Menschen sowohl bei jedem Unternehmen einschließlich der Medizin ihr Bestmögliches tun als auch das Ergebnis letztlich dem Willen Gottes überlassen. Islamische Kulturen haben wichtige Beiträge zur Medizin geleistet: Krankenhäuser, kostenlose Behandlung, Behandlung Geisteskranker, Musiktherapie etc. Es gab Handbücher, die den Leuten helfen sollten, nicht auf medizinische Quacksalber hereinzufallen (siehe Kapitel 18). Einige islamische Autoritäten erlauben Organtransplantationen. Einige Autoritäten lehnen sie jedoch ab, weil sie Transplantate als Verstümmelungen des Körpers betrachten, die Folgen für die Wiederauferstehung am Tag des Gerichts haben. Abtreibung ist verboten (Sure 17:41), außer um das Leben der Frau zu retten. Ein Fötus hat Erbrechte. Für den traditionellen Islam beginnt die Menschwerdung mit vier Monaten, sodass eine Abtreibung nach vier Monaten als Mord gilt. Die Hanbaliten erlauben jedoch die Abtreibung bis zu diesem Zeitpunkt. Während des Bosnienkriegs erließ der ägyptische mufti (ein islamischer Rechtsgelehrter) eine fatwa (Rechtsgutachten), die es bosnischen muslimischen Frauen, die von serbischen Soldaten vergewaltigt worden waren, erlaubte, eine Schwangerschaft innerhalb der Viermonatsperiode abzubrechen.
Gesellschaftliche und wirtschaftliche Gerechtigkeit Der Koran betont Fragen der sozialen Gerechtigkeit (Sure 4:135). Mohammed sagte: »Wer sich für eine Witwe und einen Armen einsetzt, ist wie jemand, der auf Gottes Weg geht.« Was sagt die islamische Ethik hierzu?
Pflegen Sie keinen auffälligen Lebensstil. Ein Muslim sollte nicht das teuerste Auto kaufen oder in einem palastähnlichen Haus wohnen. Männer sollten weder Gold und Silber noch Seide tragen, obwohl Schmuck für Frauen erlaubt ist. Eigentum gehört letztlich Gott. Man sollte hart arbeiten und versuchen, wirtschaftlich Erfolg zu haben. Wenn man Erfolg hat, sollte man sich nicht einen Rolls Royce kaufen, sondern für die Armen spenden. Seien Sie bei Geschäften ehrlich. Verwenden Sie ehrliche Gewichte und Maße. Mohammed sagte, beim Verkauf von Waren auf dem Markt solle man die schlechtere Qualität nach oben legen, um den Käufer nicht zu betrügen. Heute hieße dies: Man soll das Fleisch im Supermarkt nicht so verpacken, dass nur das magere Fleisch, nicht aber die Fettränder zu sehen sind. Sowohl der atheistische Kommunismus als auch der materialistische, uneingeschränkte Kapitalismus sind zu vermeiden. Im Gegensatz zum Islam erkennt der Kommunismus kein Recht auf privates Eigentum an. Gleichzeitig geht der westliche Kapitalismus mit seinem exzessiven Individualismus, der keine Grenzen des Rechts auf Privateigentum anerkennt, ins andere Extrem. Muslime sagen oft, während der Kapitalismus den Wettbewerb verherrliche, fördere die islamische Wirtschaft die Kooperation. Allen solle es gut gehen; es sollten nicht einige auf Kosten anderer prosperieren. Seit den 1930er-Jahren haben Muslime versucht, ein islamisches Wirtschaftssystem im Detail auszuarbeiten. Der Koran lehnt »Wucher«, die Berechnung von Kreditzinsen, ausdrücklich ab. In einer kapitalistischen Wirtschaft zu funktionieren, ohne Zinsen zu nehmen und zu zahlen, ist schwierig. Die erste islamische Bank wurde 1975 gegründet. Heute gibt es in mehreren Ländern islamische Banken (die weder Zinsen für Kredite berechnen noch Zinsen auf Einlagen zahlen). Einige westliche Banken haben sogar islamische Zweigstellen eröffnet. Außerdem kann man heute Anteile von Fonds erwerben, die in Unternehmen investieren, die nicht gegen islamische Prinzipien verstoßen. Aktienindizes wie der Dow Jones Islamic Market Index, der 1999 eingeführt wurde, verfolgen Aktien, die für islamische Investoren geeignet sind. Sorge für die Armen. Moderne islamistische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft in Ägypten unterhalten Sozialprogramme wie Krankenversorgung und Katastrophenhilfe, die oft wirksamer und schneller arbeiten als die entsprechenden Dienste der Regierung, jedoch immer eine versteckte politischreligiöse Ideologie verfolgen. Ein Muslim darf einen anderen Muslim nicht versklaven und muss Sklaven menschlich behandeln. Es ist noch keine hundert Jahre her, dass die Sklaverei in allen Ländern abgeschafft wurde. Die Sklaverei wird im Koran speziell mit einigen Einschränkungen erlaubt. Einen Sklaven zu befreien, ist daher ein verdienstvoller Akt. Obwohl muslimische Staaten heute die Sklaverei verbieten, ist sie nach islamischen
Recht theoretisch immer noch möglich.
Politische Fragen Strikte ethische Richtlinien legen die Pflichten des Herrschers eines islamischen Staates fest. Wegen der Angst vor Differenzen innerhalb der islamischen Gemeinschaft hatte das islamische Recht sehr viel mehr über die Pflichten der Bürger (was der Staat von den Bürgern verlangen kann) als über ihre Rechte zu sagen (was die Bürger vom Staat erwarten dürfen). Fazlur Rahman, ein pakistanischer Gelehrter, der 20 Jahre an der University of Chicago gelehrt hat, nennt vier traditionelle Grundrechte, die ein Rechtsstaat gewährleisten sollte: Leben, Religion, Einkommen und Eigentum sowie persönliche Ehre und Würde. Muslimische Nationen versuchen heute herauszufinden, was einen islamischen Staat ausmacht. Dabei bleibt viel zu tun, um eine moderne islamische politische Ethik zu entwickeln. Nur die formelle Absage an den Islam durch den Herrscher oder tyrannische Unterdrückung durch ihn rechtfertigt eine Revolte gegen den Staat. Natürlich ist dies Theorie. In Wirklichkeit waren und sind Revolten auch aus anderen Gründen üblich gewesen.
Andere ethische Fragen Neben den oben behandelten Fragen gibt es noch einige andere ethische Probleme: Alkohol, Drogen und Glücksspiel sind im Islam verboten. Diese Aktivitäten sprechen das Laster der Gier an und vernebeln die geistigen Fähigkeiten. Der arabisch geprägte Islam lehnt traditionellerweise die darstellende Kunst als Versuch ab, das kreative Werk Gottes nachzuahmen. Statuen sind verboten, weil sie im heidnischen und christlichen Gottesdienst verwendet werden. Spielzeug für Kinder bildet eine Ausnahme. Mohammed hatte nichts dagegen, dass seine spätere Frau Aischa mit Puppen spielte. In den Vereinigten Staaten gibt es bereits islamische Puppen, die zu freizügige Barbiepuppen ersetzen sollen. Hinsichtlich zweidimensionaler Kunst sind die Meinungen geteilt. Illustrierte Epen und Geschichten waren im Iran, in der Türkei, in Zentralasien und in Südasien beliebt. Illustrationen werden auch in medizinischen und wissenschaftlichen Werken verwendet. Fotos, Filme und Fernsehprogramme sind an sich akzeptabel. Allerdings lehnen Muslime manchmal westliche Filme und Fernsehprogramme wegen ihres unmoralischen Inhalts, aber auch wegen ihres aufrührerischen Potenzials ab. Umweltethik ist in der islamischen Ethik ein relativ neues Teilgebiet. Muslimische Länder nehmen an UN-Konferenzen über Umweltprobleme wie die
Umweltverschmutzung teil. Menschen dürfen die Ressourcen der Erde zum Nutzen der Menschheit verwenden, tragen jedoch als Gottes Vizeregenten (Kalifen) die Verantwortung, die Umwelt nicht zu zerstören. Muslime verweisen auch auf Korantexte, die dafür plädieren, Bäume vor Zerstörungen während eines Krieges zu bewahren. Ein weiteres neues Teilgebiet der islamischen Ethik sind die Rechte von Tieren. Laut Islam wurden die Tiere zum menschlichen Nutzen auf die Erde gesetzt, doch sie sollten nicht missbraucht werden oder unnötig leiden müssen. Sie sollten nicht kastriert werden. Der Islam verbietet es, Tiere als Ziel für Schießübungen oder in Wettkämpfen wie Stierkämpfen oder Hahnenkämpfen zu verwenden. Tiere sollten respektiert und versorgt werden. Der Islam ist gegen das Halten von Hunden im Haus, nicht jedoch gegen Wach-, Blinden- oder Hirtenhunde. Mohammed liebte Katzen, auch als Hausgenossen.
Teil IV
Strömungen im Islam
IN DIESEM TEIL … Vielfalt kann Religion sowohl bereichern als auch Kontroversen auslösen. Wenn man den Islam insgesamt betrachtet, ist der sunnitische Islam die Norm, weil 90 Prozent aller Muslime Sunniten sind. In diesem Teil werden andere Formen des Islam behandelt: die Zwölferschiiten und einige Gruppen von Siebenerschiiten (Ismailiten) sowie einige andere Gruppen, die als islamische Sekten begannen und sich unabhängig entwickeln. Zwar sind Rituale sowie Ge- und Verbote für jede Religion wichtig, doch einige Gläubige möchten tiefere religiöse Erfahrungen machen und enger mit Gott in Kontakt kommen. Im Islam entwickelte sich eine Strömung, um diesem Bedürfnis gerecht zu werden: der Sufismus, der in einem separaten Kapitel behandelt wird.
Kapitel 12
Schiiten IN DIESEM KAPITEL Gründe für die Entstehung des Schiismus Die zwölf Imame Der schiitische Gottesdienst Theologie, Gesetz und die Interpretation des Koran im Schiismus Das Verhältnis der Schiiten zu den Sufis und den Sunniten
Da etwa 90 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung Sunniten sind, prägt vor allem der sunnitische Islam das westliche Bild des Islam. Die Schiiten werden erwähnt, wenn es um die iranische Revolution oder die Geiselnahmen in der amerikanischen Botschaft in Teheran oder im Libanon geht. In diesem Kapitel konzentriere ich mich auf das Schiitentum im Allgemeinen und die Zwölferschia (arabisch Imami oder Ithna-Ashari genannt) im Besonderen. Die andere beiden Zweige des Schiitentum sind die Ismailiten (Siebener) und die Zaiditen (Fünfer). Heute sind die meistens Schiiten Zwölferschiiten. Die Reihe ihrer religiösen Führer (imame) beginnt mit Ali und endet mit dem zwölften Imam, der im 9. Jahrhundert verschwand. Die Fünferschiiten und Siebenerschiiten leiten ihren Namen davon ab, dass sie in der fünften beziehungsweise siebenten Generation eine andere Person als imam anerkennen. Die Fünferschiiten, heute die kleinste schiitische Gruppe, steht dem sunnitischen Islam in vieler Hinsicht am nächsten. Aus dem Siebenerschiiten spalteten sich im Laufe der Zeit verschiedene Splittergruppen ab. Viele von ihnen haben im Vergleich zur Zwölferschia oder zum sunnitischen Islam recht esoterische Doktrinen und Praktiken entwickelt. In den Kapiteln 2 und 14 erfahren Sie mehr über das Schiitentum der Ismailiten und Zaiditen.
Die Verbreitung der Schiiten Es gibt mehr als hundert Millionen Schiiten, die etwa 10 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung ausmachen. Nennenswerte Gruppen von Schiiten leben im/in Iran: circa 90 Prozent (über 60 Millionen) Irak: 60 bis 65 Prozent (über 14 Millionen, im Süden konzentriert)
Libanon: 30 bis 35 Prozent (eine Million, im Süden und Beka-Tal) Bahrain (im Persischen Golf): 65 Prozent (über 200.000) Jemen: 30 bis 40 Prozent (über fünf Millionen Zaiditen-Schiiten) Aserbaidschan (in der kaukasischen Bergregion): 75 Prozent (über fünf Millionen) Saudi-Arabien: 5 Prozent (über eine Million) Kuwait: 30 Prozent (über eine halbe Million) Pakistan: über 20 Prozent (über 28 Millionen, vor allem im Punjab) einigen Regionen Indiens einschließlich Kaschmir: 15 Prozent der indischen Muslime (über 23 Millionen) Afghanistan: 20 Prozent (über 5,5 Millionen) Syrien und Türkei: 10 bis 20 Prozent (einschließlich der Drusen, Alawiten und Aleviten, die normalerweise nicht den Schiiten zugeordnet werden wollen) Auch in vielen westlichen Ländern leben eingewanderte schiitische Muslime.
Den Glauben in der Familie halten Das Wort Schia bedeutet »Partei (Alis)«. Ali, der jüngere Cousin Mohammeds, wuchs in Mohammeds Heim auf und heiratete Mohammeds Tochter Fatima. Ali schlief in der Nacht, als Mohammed Mekka verließ, um nach Medina zu gehen, in Mohammeds Bett, um seine Feinde über seine Flucht (hidschra) zu täuschen. Ali trug die muslimische Flagge, als 630 Mekka erobert wurde. Er repräsentierte Mohammed in Medina, während dieser 630 seinen letzten Feldzug im nördlichen Arabien führte. Die Schiiten folgen dem dynastischen Prinzip: Das Oberhaupt der muslimischen Gemeinde muss ein Nachkomme Mohammeds sein. Die ersten drei Kalifen (siehe Kapitel 2) waren in diesem Sinne keine rechtmäßigen Herrscher. Für Schiiten war Ali vom Tod Mohammeds 632 bis zu seinem eigenen Tod 661 der imam oder spirituelle (und politische) Führer, während die Sunniten ihn nur von 656 bis 661 als Führer anerkennen, als Ali als gewählter vierter Kalif herrschte. Obwohl Ali und seine Anhänger Alis Ansprüche als Kalif von Anfang an erhoben, versuchte er nicht, sie gewaltsam durchzusetzen, als er bei den ersten drei Wahlen übergangen wurde. Alle muslimischen Überlieferungen ehren Ali und stellen ihn vorteilhaft dar. Im schiitischen Islam gilt Ali als perfekter Muslim. Er wird oft als »Herrscher der Gläubigen« statt mit seinem Namen bezeichnet. Er galt als Meister der arabischen Sprache und als tapferer, dem Apoll ähnlicher junger Mann und Krieger. In der muslimischen Ikonografie wird Ali durch das zweischneidige Schwert Mohammeds repräsentiert, das er als sein Nachfolger empfing.
Die Ernennung Alis als Mohammeds Nachfolger Laut schiitischer Überlieferung warf Mohammed bei der Rückkehr von seiner nächtlichen Reise nach Jerusalem (siehe Kapitel 7) seinen Umhang über Ali und Fatima. Den Schiiten gilt dies als Zeichen dafür, dass Ali Mohammeds Nachfolger sein solle. Wichtiger ist jedoch ein Hadith über die Abschiedswallfahrt nach Mekka 632, als Mohammed eine Offenbarung empfing, in der Ali angeblich zu seinem Nachfolger bestimmt wurde. Mohammed zögerte, dies bekannt zu machen, bis er auf dem Weg zurück nach Medina in der Oase Ghadir von Khum haltmachte. Dann soll Gott ihn angewiesen haben, Alis Ernennung publik zu machen. Jedenfalls lesen die Schiiten dies in den Koran hinein. Mohammed rief angeblich die Leute zusammen und sagte: »Wessen Herr ich bin, dessen Herr ist auch Ali.« Dann ließ er alle Anwesenden vortreten und Ali anerkennen. In späteren Erzählungen wird diese Geschichte weit ausgeschmückt. Besser als diese apokryphe Geschichte – und sie widerlegend – ist hingegen verlässlich bezeugt, dass Mohammed während seiner Erkrankung nicht Ali, sondern Abu Bakr die Leitung des Gebets anvertraute.
Wie Schiiten den Imam verstehen Während der sunnitische Islam jeden Vorbeter als imam bezeichnet, ist der imam im Schiitentum der Führer der gesamten muslimischen Gemeinschaft. Wie Mohammed ist er zugleich politischer und religiöser Führer. Im Gegensatz zu Propheten empfängt ein imam keine neuen Offenbarungen, wird aber von Engeln geleitet und verfügt über außerordentliche Einsichten in die Heilige Schrift. Er verwaltet die Säulen des Gebets, überwacht das Fasten (saum), zieht die Sozialabgabe (zakat) ein, überwacht die Wallfahrt, erweitert und verteidigt die Herrschaft des Islam, setzt das islamische Recht durch und interpretiert den Koran verbindlich. Gemäß der Zwölferdoktrin des imam hat jeder Prophet zwölf Stellvertreter (walis). Ali war danach der wali, dem Mohammed die esoterische Bedeutung des Koran offenbart hat. Ali schrieb auch den Koran nach Mohammeds Diktat nieder. Alis Kopie des Koran soll nach dieser Auffassung im Besitz des verborgenen Imam sein, der sie bei seiner Rückkehr öffentlich machen wird. Einige grundlegende schiitische Vorstellungen über das Imamat sind: Wie Ali und sein Sohn Hussein waren alle imame mit Ausnahme des zweiten (Hassan) und des zwölften Imams Märtyrer. Deshalb ist Alis Familie auch als Haus der Trauer bekannt. Weil die Muslime Hussein am Tag der Schlacht bei Kerbela nicht halfen (siehe den Abschnitt »Husseins Martyrium bei Kerbela« weiter hinten in diesem Kapitel), spielen Reue über diese Sünde und Leiden dafür im schiitischen Glauben
eine große Rolle. Am Tag des Gerichts werden die zwölf imame und Fatima (Mohammeds Tochter) bei Gott für die gläubigen Schiiten sprechen. Fatimas Trauer über Husseins Tod ähnelt der Trauer Marias über den Tod Jesu. Wie Mohammed Ali zu seinem Nachfolger designierte, bestimmt jeder spätere imam unter göttlicher Eingebung (nass) seinen Nachfolger. Die imame waren ohne Sünde und unfehlbar (isma). Sie kannten auch die innere (batin, das heißt verborgene) und äußere (zahir, das heißt offenkundige) Bedeutung der Schriften und anderer geheimnisvoller Bücher. Es muss stets entweder einen sichtbaren oder einen verborgenen Imam geben; andernfalls würde die Welt aufhören zu existieren. Diese Doktrin der Okkultation (ghayba) sagt, der Verborgene zwölfte Imam bliebe als Führer der Muslimgemeinde lebendig. Er wird erst am Ende der Zeit als der Mahdi zurückkehren und die Gerechtigkeit herstellen. Verheimlichung (taqiyya) oder Verbergen bedeutet: Um Verfolgung zu vermeiden, darf man bei Bedarf seine schiitische Identität verbergen; und ein schiitischer Imam darf sich aus taktischen Gründen einem unrechtmäßigen Herrscher unterwerfen, so wie sich Ali den ersten drei Kalifen unterworfen hat. Die spirituelle Elite kennt die esoterische Bedeutung des Koran, die weit über die wörtliche Bedeutung der Schrift hinausgeht. Das Leiden der Imame war eine große Ungerechtigkeit. Die Sehnsucht der Schia nach Gerechtigkeit (adl) macht sie für utopische, revolutionäre Gruppen attraktiv.
Der Mahdi und der verborgene Imam Der Mahdi wird in den letzten Tagen erscheinen. Er wird das Böse besiegen, Wiedergutmachung durchsetzen und über eine ideale Welt herrschen, in der sich alle Gott unterwerfen. Friede und Gerechtigkeit werden herrschen, und Armut wird abgeschafft sein (siehe Kapitel 5). Sunnitische Gelehrte teilen diese populären Erwartungen einer messianischen Heilsfigur meist nicht. Der Mahdi wird weder im Koran noch in den hauptsächlichen sunnitischen Hadith-Sammlungen erwähnt. Im sunnitischen Islam taucht die Idee des Mahdi in Form des Glaubenserneuerers (mudschaddid) auf, der jedes Jahrhundert erscheint. Verschiedene reformistische politische Bewegungen, besonders in Afrika, wurden von Individuen angeführt, die vorgaben, der Mahdi zu sein, unter anderem: Ibn Tumart (1077–1130), Gründer des Almohaden-Staates in Nordwestafrika; Usman dan Fodio, Gründer des Sokoto-Kalifats im Norden Nigerias (um 1800); und der Gründer der Sanusi-Sufi-Bewegung, die den Staat Libyen gründete. 1881 erklärte sich Mohammed Ahmad Ibn Abd Allah zum Mahdi und gründete den Staat Sudan. Er wollte den Islam so restaurieren, wie er ursprünglich in Medina existierte. Der zwölfte verborgene Imam war Mohammed al-Mahdi. Er wird eines Tages als Imam und Mahdi zurückkehren. Deshalb deckt sich in der Schia die Vorstellung des Mahdi mit dem des verborgenen Imam.
Die beiden Ereignisse, die zur Gründung der Schia führten Das Martyrium Alis und seines Sohnes Hussein sind die beiden Ereignisse, welche die heilige Geschichte der Schia begründeten.
Der Verrat und Alis Martyrium Ali wurde der Komplizenschaft bei der Ermordung Uthmans, des dritten Kalifen, verdächtigt. Obwohl Ali durch einen rechtmäßigen Rat zum vierten Kalifen ernannt wurde, wurde sein Herrschaftsanspruch während seines kurzen Kalifats (556–561) herausgefordert. Ali sandte seinen Beauftragten nach Syrien, um dort Mu'awiya, einen Neffen Uthmans, als Statthalter Syriens abzulösen. Mu'awiya weigerte sich, seine Position aufzugeben. Die gegnerischen Armeen trafen im Sommer 657 bei Siffin am Oberlauf des Euphrat (im heutigen Syrien) zusammen. Um ihre Niederlage zu vermeiden, befestigten die Soldaten Mu'awiyas Seiten aus dem Koran an ihre Waffen und forderten eine Schlichtung. Ali akzeptierte. Mu'awiya sah seinen Anspruch durch das Ergebnis der Schlichtung bestätigt und übernahm 660 in Jerusalem die Rolle des Kalifen. Im folgenden Januar wurde Ali von einem Kharidschiten ermordet, der der Auffassung war, Ali habe durch Annahme eines menschlichen Schiedsspruchs die Sache Gottes verraten. Seine Begräbnisstätte in Najaf (im Irak) wurde die erste heilige Stätte der Schiiten. Zu diesem Zeitpunkt war die Schia immer noch eine relativ unbedeutende politische, religiöse Gruppe. Spätere Entwicklungen führten dazu, dass sich die Schia zu einer alternativen Strömung entwickelt.
Husseins Martyrium bei Kerbela Nach Alis Tod wurde sein älterer Sohn Hassan von Alis Anhängern zum Kalifen ausgerufen. Nach Verhandlungen, die von Mu'awiya initiiert worden waren, verzichtete Hassan in der Moschee von Kufa, dem Hauptzentrum der schiitischen Anhänger, auf seinen Anspruch auf das Kalifat. Hassan erhielt von Mu'awiya eine großzügige Pension und Ländereien. Er lebte den Rest seines Lebens friedlich in Medina und hielt sich der Politik fern. Hassan starb zwischen 670 und 680 und wurde auf dem al-Baqi-Friedhof in Medina begraben, eine Stätte, die sowohl Schiiten als auch Sunniten als besonders ehrwürdig gilt. Die Schiiten behaupten, er sei von seiner Frau auf Mu'awiyas Betreiben vergiftet worden, doch viele Historiker glauben, Hassan sei eines natürlichen Todes gestorben. Mu'awiya starb im Frühjahr 680, nachdem er seinen Sohn Yazid zu seinem Nachfolger, dem nächsten Kalifen, bestimmt hatte. Damit begründete er die Omayyaden-Dynastie. Aus Kufa kamen schiitische Gesandte nach Medina zu Hussein, dem jüngeren Bruder Hassans, und forderten ihn auf, das Kalifat zu übernehmen und Yazid zu stürzen. In der Gewissheit, dass ihn die Einwohner von Kufa unterstützen würden, machte sich Hussein
mit über 50 Anhängern und Familienmitgliedern im September nach Kufa auf. Yazids Statthalter im Irak ließ die Reisegruppe beschatten und Husseins führende Anhänger in Kufa töten. Als sich die Reisegruppe Kufa näherte, wurde sie von Soldaten eingeschlossen. Trotz ihres Versprechens, Hussein zu unterstützen, schlossen sich keine Schiiten aus Kufa Hussein an. Dies waren die Bedingungen der Begegnung von Husseins Gruppe, die aus weniger als 100 Leuten bestand, mit der Armee der Omayyaden bei Kerbela nordwestlich von Kufa. Da Husseins Gruppe der Zugang zum Euphrat abgeschnitten war, litten seine Leute unter starkem Durst und schlugen sich schlecht. Es kam zu einem Massaker, in dem auch Hussein umkam. Husseins Tod bei Kerbela ist das bedeutende Ereignis für die Entstehung der Schia als religiöser Bewegung. Er ist für den Passions-, Gerechtigkeits- und Märtyrerkult verantwortlich, der die Schia durchzieht. Laut schiitischer Theologie ging Hussein freiwillig in den Tod, um die Sünden der Muslime zu sühnen – ähnlich wie Jesus mit seinem Tod die Sünden der Christen auf sich nahm. Jedes Jahr durchleben die Schiiten die zehn Tage des Muharram ähnlich wie die Christen die Ereignisse in der letzten Woche im Leben Jesu nacherleben. Diese zehn Tage waren: Erster bis dritter Tag: Gescheiterte Verhandlungen in Kerbela, bei denen Hussein ablehnte, Yazids Anspruch auf das Kalifat anzuerkennen. Vierter Tag: Martyrium Hurr al-Tamimi, des Kommandeurs von Yazids Kavallerie, der zu den Schiiten überlief. Fünfter Tag: Martyrium der beiden jungen Söhne von Husseins Schwester Zaynab. Sechster Tag: Husseins ältester Sohn Ali al-Akbar stirbt in den Armen seines Vaters. Sein jüngster Sohn, Ali al-Asghar, stirbt als Kleinkind, als ein Pfeil seinen Hals durchbohrte. Siebter Tag: Das Zelt für die Hochzeitsfeier von Alis Neffen war bereits errichtet, als die Nachricht von seinem Tod in der Schlacht die Familie der Braut erreicht. Achter Tag: Alis Halbbruder al-Abbas werden beide Arme abgeschnitten, als er versucht, Wasser aus dem Euphrat zu holen. Neunter und zehnter Tag: Im letzten Scharmützel werden Hussein und seine Soldaten getötet. Husseins Grab auf dem Schlachtfeld wird zu einem wichtigen Wallfahrtsziel. Husseins abgetrennter Kopf wurde an den Kalifen in Damaskus gesandt. Eine Überlieferung besagt, er sei dort im Hof der Omayyaden-Moschee beerdigt worden. Eine andere Überlieferung sagt, der Kopf sei in dem Hussein-Schrein in Kairo. Die überlebenden Frauen und Kinder, einschließlich seiner Schwester, wurden vor den Kalifen Yazid gebracht, der sie mit Respekt behandelte und ihnen erlaubte, nach Medina zurückzukehren. Yazid erlaubt auch Ali Zayn al-Abidin, einem anderen Sohn Alis, sich
nach Medina zurückzuziehen. Er hatte wegen einer Krankheit nicht an der Schlacht teilgenommen. Er starb etwa 713 in Medina.
PS: Der Marsch der Büßer Die Schiiten in Kufa machten sich und anderen Schiiten Vorwürfe, Hussein bei Kerbela nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Um ihre Sünden zu büßen, machten sie sich im November 684 auf einen Todesmarsch nach Kerbela. Sie schwärzten ihre Gesichter und beklagten ihre Schuld. Dort wurden sie von Truppen der Omayyaden getötet. Wehklagen und Selbstbestrafung sind Elemente der blutigen Aschura-Riten, die auf dieses Ereignis der kollektiven Reue zurückgehen.
Die Reihe der zwölf Imame Die grundlegende Religionsgeschichte der Zwölferschia reicht bis zum Verschwinden des zwölften Imams im Jahre 874. Weitere wichtige Ereignisse in der schiitischen Geschichte fallen in die spätere Abbasiden-Zeit. Wichtig war natürlich auch die Gründung des Iran als Staat der Zwölferschia im Jahre 1501.
Die Schia unter den Omayyaden Der fünfte Imam und Nachfolger von Ali Zayn al-Abidin war sein Sohn Mohammed al-Baqir (676 bis nach 733). Al-Baqir lebte und starb in Medina, ohne in die Politik einzugreifen. Später, 739–740, führte al-Baqirs jüngerer Halbbruder Zaid, der mit al-Baqirs Tolerierung der Omayyaden-Herrschaft unzufrieden war, einige Hundert Schiiten aus Kufa in einer anderen gescheiterten Revolte an. Zaid wurde 740 getötet, aber sein Sohn Yahya entkam in den Ostiran, wo seine Bemühungen, die Schiiten gegen die Omayyaden aufzuwiegeln, 743 auch zu seinem Tod führten. Die Zaiditen oder Fünfer, die Zaid statt al-Baqir als den fünften Imam anerkannten, bilden eine der drei Unterströmungen der Schia (siehe Kapitel 14). Obwohl sich der sechste Imam, Dschafar al-Sadiq (699–765), aus der Politik heraushielt, schuf er für die Schia als religiöse Bewegung eine feste Basis. Seine Rechtsschule ist die offizielle der Zwölferschia. Sie wird zusammen mit der Rechtsschule der Zaiditen von den Sunniten als rechtmäßig anerkannt.
Die Schia unter den Abbasiden Die Abbasiden-Revolte, welche die Omayyaden 750 stürzte, stützte sich auch auf den Unmut der Schiiten, der durch die gescheiterten schiitischen Revolten von 740 bis 743 geschürt wurde. Nicht ein Nachkomme Alis, sondern Abu al-Abbas al-Saffah, ein Nachkomme von Mohammeds Onkel al-Abbas, wurde Kalif. Die Abbasiden-Herrscher überwachten den schiitischen Imam, der in Ruhe gelassen wurde, solange er sich aus der
Politik heraushielt. Die Schiiten bildeten eine bedeutende Minderheit der Bevölkerung in der neu gegründeten Abbasiden-Hauptstadt Bagdad. Ein Nachfolgestreit nach Dschafars Tod führt zu einer Spaltung der Linie der Imame: Die Siebener erkannten Mohammed, den Sohn von Dschafars designiertem Nachfolger Ismail, der vor Dschafar starb (siehe Kapitel 14), als den siebten Imam an. Die meisten Schiiten erkannten jedoch Dschafars ältesten überlebenden Sohn, Musa alKazim (745–799), als den siebten Imam an. Der Abbasiden-Kalif ließ Musa nach Bagdad kommen, wo er besser überwacht werden konnte. Musa und der neunte Imam, Mohammed al-Dschawad (810–835), wurden auf einem Friedhof nördlich von Bagdad begraben. Diese Stätte, al-Kazimiyya, ist ein weiterer schiitischer Schrein. Der AbbasidenKalif al-Mamun bestimmte den achten Imam, Ali al-Rida, zu seinem Erben. Ob er je beabsichtigte, dies auch in die Tat umzusetzen, ist ungewiss. Al-Rida starb 818 vor alMamun. Auch hier macht die schiitische Überlieferung den Kalifen für al-Ridas Tod verantwortlich. Al-Rida ist der einzige Imam, der im Iran (in Maschhad im Ostiran) begraben wurde. Al-Ridas Schwester, Fatima al-Masuma, besuchte ihren Bruder im Iran. Als sie dort starb, wurde sie in der Stadt Khum begraben, die 712 von schiitischen Flüchtlingen gegründet worden war. Khum wurde eine wichtige Wallfahrtsstätte und entwickelte sich später zum Hauptzentrum der schiitischen Gelehrsamkeit im Iran. Die Kalifen brachten den zehnten und elften Imam nach Samara, der neuen Hauptstadt, wo sie unter Überwachung lebten. Ihre Gräber in Samara wurden ebenfalls heilige Stätten der Schiiten. Der elfte Imam, al-Hasan al-Askari, starb 873, ohne einen bekannten männlichen Erben zu hinterlassen. Die Zwölferschia behauptet, al-Askari habe einen vierjährigen Sohn gehabt, den er verborgen hatte. Dieser Sohn, Mohammed al-Mahdi, ist der zwölfte, der verborgene Imam, der eines Tages als Imam und Mahdi zurückkehren wird. Die Schiiten glauben, dieser verborgene Imam habe von 874 bis 941, der Zeit der »geringeren Verborgenheit« (ghayba), durch vier aufeinander folgende Gesandte (safir) Kontakt zu der schiitischen Gemeinschaft gehalten. 941 begann die »größere Verborgenheit«. Der zwölfte Imam lebt immer noch und erscheint in Träumen. Seine Abwesenheit führt unter anderem zu der Frage, wie die schiitische Gemeinschaft bis zu seiner Rückkehr geführt werden solle. Der zwölfte verborgene Imam ist im modernen Iran das offizielle »Staatsoberhaupt«. Zu jener Zeit war der Abbasiden-Kalif nur noch eine Galionsfigur. Die Macht lag bei militärischen Führern, die den Titel Wesir oder Sultan trugen. Von 945 bis 1055 spielte die Buyiden-Familie diese Rolle. Die Buyiden waren Schiiten – zunächst Zaiditen –,
schlossen sich aber später den Ithna-Asharis an, weil es unter einem abwesenden Imam günstigerweise keinen Führer gab, der ihre Autorität infrage stellen konnte. Die schiitische Bevölkerung dehnte sich im Westen nach Damaskus und im Osten in den Iran aus. Obwohl die Schiiten eine relativ kleine Minderheit der Muslime bilden, hätte ein Beobachter Ende des 10. Jahrhunderts denken können, die Schia werde die Vorherrschaft erringen. Die Buyiden, die Fatimiden in Ägypten und mehrere kleinere schiitische Dynastien regierten gemeinsam den größeren Teil der muslimischen Welt, einschließlich der heiligen Städte Mekka und Medina. Aber dieser Zustand war nicht von Dauer.
Der Iran wird ein Staat der Zwölferschia Das Abbasiden-Reich ging 1258 unter dem Ansturm der heidnischen Mongolen zugrunde. Die Mongolen, die sich in muslimischen Gebieten ansiedelten, traten allmählich zum sunnitischen Islam über. Mehrere Jahrhunderte war die politische Situation instabil. Die meisten der dezentralisierten Staaten wurden von sunnitischen Dynastien regiert, obwohl einige Regionen von Schiiten kontrolliert wurden. Im 15. Jahrhundert entstand in Aserbaidschan ein militanter, missionarischer Sufi-Orden, der mit den Ismailiten verbunden war. Er wurde von einigen türkischen Stämmen unterstützt, und seine Macht reichte von den nördlichen Regionen des Iran bis in den Osten der Türkei. Ihr Führer Ismail behauptete, ein Nachkomme Musa al-Kazims zu sein, des siebten Imams. Zugleich wollte er auch der Mahdi sein. So wurde Ismail Gründer der iranischen SafawidenDynastie (1501–1722), die den Iran und Irak beherrschte und die Zwölferschia zur Staatsreligion erklärte. Da die Schiiten im Iran immer noch in der Minderheit waren, wurden arabische Gelehrte aus schiitischen Zentren im Libanon, im Irak und in Kaschmir ins Land geholt, um die Schia im Volk zu verbreiten und in den Schulen (madrasas) oder Seminaren in Maschhad, Nishapur und später Khum als religiöse Führer und Theologen zu dienen. Regierungsbeamte überwachten die religiösen Führer, ernannten Richter, Vorbeter und regionale religiöse Autoritäten. Während die Safawiden-Herrscher als Nachkommen des siebten Imams religiöse Autorität beanspruchen konnten, galt dies nicht für die Qadschar-Herrscher (1779 bis 1925) und die Pahlavi-Herrscher (1925–1979). Die Beziehungen des iranischen Staates zu dem schiitischen religiösen Establishment waren immer gespannt. Der schiitische Klerus war finanziell unabhängig; und die meisten schiitischen heiligen Stätten und intellektuellen Zentren befanden sich im Irak außerhalb der iranischen Kontrolle. Vor 1979 strebte die religiöse schiitische Elite nicht nach politischer Herrschaft. Wenn sich ihre Interessen mit denen des Staates deckten, kooperierte sie mit ihm, aber wenn ihre Interessen bedroht waren, stellte sie sich gegen den Staat. Das beste Beispiel für eine erfolgreiche Opposition gegen die Regierung ist der Tabakboykott von 1891. Die Regierung hatte den Briten ein langfristiges Tabakmonopol eingeräumt. Dieses Monopol bedrohte die Lebensgrundlage der einheimischen Händler, die traditionell Anhänger der schiitischen Gelehrten waren.
Diese erließen eine fatwa (Rechtsgutachten) gegen das Tabakrauchen. Da niemand rauchte, war das Tabakmonopol nutzlos, und die Regierung war gezwungen, es aufzuheben. Im 20. Jahrhundert säkularisierte der iranische Staat die Schulbildung. Die Gerichte schafften Schleier und Tschador als Pflichtbekleidung der Frauen ab. Für Männer war westliche Kleidung vorgeschrieben. Eine Minderheit schiitischer Führer wie Khomeini sah dadurch ihre religiösen Interessen bedroht und wurde politisch aktiv, um die Regierung zu stürzen (siehe Kapitel 16).
Gottesdienst in der Zwölferschia In den meisten Glaubensbereichen decken sich Gesetz und Ritual der Schiiten mit dem der Sunniten. In den folgenden Abschnitten werden die Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten beschrieben.
Aschura: Die Erinnerung an Hussein Für einen Außenseiter sind die Aschura-Feiern das auffälligste Merkmal des Gottesdienstes der Zwölferschia. Während der ersten beiden Monate des muslimischen Jahres, doch besonders während der ersten zehn Tage des ersten Monats (Muharram) werden die Ereignisse von Kerbela nachgestellt. Die Feier umfasst: Wehklagen und Tragen dunkler Kleidung Schreie von »Ya, Hussein« (»Oh, Hussein«) Schwärzen der Gesichter und Körper Errichtung von Zelten, Kanzeln und besonderen Gebäuden (tekyeh oder hoseyniyyeh). Bildliche Darstellungen in den tekyehs stellen Episoden aus Kerbela dar. Bitten um Wasser (zur Erinnerung an den Durst bei Kerbela) sich mit Fäusten auf die Brust schlagen Selbstkasteiung der Männer mit Messern, Ketten und Rasierklingen während der letzten drei Tage. Erste-Hilfe-Stationen versorgen die Wunden. Die vollständige Zeremonie im Iran besteht aus drei Phasen: Öffentliche Rezitation der Ereignisse bei Kerbela (rowda-khvani bedeutet »Gartenrezitation«): Die typische Abfolge besteht aus einem Begräbnisklagelied zu
Ehren Mohammeds, gefolgt von Geschichten und Liedern über Hussein, die von einem rowda-Sänger vorgetragen werden, und zum Schluss dem Singen von Klageliedern durch die Zuhörer. Die berühmteste Rezitation ist der »Garten der Märtyrer« (rawdat al-shuhada). Das Publikum wird einbezogen, und die Sprecher können Parallelen zwischen Kerbela und aktuellen Ereignissen ziehen. Prozessionen in den Straßen, die wenigstens bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen: Diese Prozessionen sind mit Umzügen in unseren Städten vergleichbar, an denen sich Bürger, Vereine und Organisationen mit eigenen Wagen beteiligen. Särge repräsentieren die Märtyrer von Kerbela, Standarten auf Stangen repräsentieren die Imame, und Husseins weißes Pferd, das auch das Pferd ist, auf dem der verborgene Imam bei seiner Rückkehr reiten wird, wird ebenfalls in der Prozession mitgeführt. Theateraufführungen (taziya, von dem arabischen Wort für trauern): Bei Theateraufführungen werden die Ereignisse bei Kerbela dramaturgisch nachgestellt. Die Theateraufführungen erreichten im 18. und 19. Jahrhundert ihre endgültige Form. Es handelt sich um eine Art »teilnehmenden Theaters«, bei dem Schauspieler, Publikum und Produzenten interagieren. Schauspieler stellen, mit Rollenbeschreibungen in der Hand, Hussein und seine Truppen dar. Sie sind grün gekleidet und singen ihre Rollen. Die Omayyaden-Schurken sind rot gekleidet und sprechen ihre Rollen. Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Hussein in sein Leichentuch eingehüllt wird. Im Zuge der Modernisierung verbot der iranische Staat in den 1920erJahren Taziya-Aufführungen. Einige Gelehrte lehnten bestimmte Teile der Feiern ab. Seit 1979 lebten die Feiern im Iran wieder auf, auch wenn sie nicht den Umfang der Feiern im 19. Jahrhundert erreichen. Die Schiiten im Irak, im Libanon und in Aserbeidschan feiern weniger aufwendig. Die Aschura-Feiern der Zwölferschiiten in Indien und Pakistan umfassen Rezitationen und Prozessionen, aber keine Theateraufführungen.
Wallfahrten zu den Gräbern der Imame Wallfahrten zu den elf Gräbern der Imame haben eine ähnliche Bedeutung wie die Feiern der Geburtstage von Sufi-Heiligen und Wallfahrten zu den Gräbern von Heiligen. Bis auf ein Grab im Iran befinden sich alle Gräber der Imame im Irak. Die Grabmäler haben meist eine große goldene Kuppel. Die Hauptfeier findet am Todestag des Imams statt. Weil der zwölfte Imam immer noch lebt, hat er kein Grab. Sein Geburtstag wird am 15. des Schaban gefeiert. Viele Schreine verfügen über große Stiftungen und einen großen Komplex von Bauwerken. Wer auf Hadsch war, darf sich hadschi (als Frau: hadscha) nennen. Eine Wallfahrt zu einem schiitischen Hauptschrein berechtigt zum Tragen eines ähnlichen Titels. Wallfahrten gibt es auch zu den Gräbern der Nachkommen der Imame und den Gräbern einiger berühmter Religionsgelehrte. Wie im sunnitischen Islam werden Mohammeds
Nachkommen (die scharifen) besonders geehrt. Sie dürfen sich sayyid (Herr) nennen und tragen schwarze Turbane.
Einige Unterschiede in schiitischen Ritualen Die Unterschiede zwischen den gemeinsamen Ritualen der Sunniten und Schiiten sind gering. Einige Beispiele: Beim Ruf zum Gottesdienst fügen die Schiiten »Ich bezeuge, dass Ali nahe ist« hinzu. Bei der Niederwerfung legen sie die Stirn auf ein Stück Ton aus Kerbela. Schiiten verrichten nur drei rituelle Gebete pro Tag. Sie fassen das zweite und dritte Gebet sowie das vierte und fünfte Gebet zusammen. Während des Gebets falten sie die Hände nicht vor der Brust, sondern lassen die Arme hängen. Während der Hadsch nach Mekka umrunden die Schiiten die Kaaba einmal mehr.
Das Denken der Schiiten Die Schiiten entwickelten eigene Auffassungen über islamisches Recht, Theologie, Philosophie, Schriftauslegung und religiöse Führerschaft.
Das schiitische religiöse Gesetz (Scharia) Die Rechtsschule der Zwölferschiiten wird nach dem sechsten Imam, der als ihr Gründer gilt, als Dschafariten-Schule bezeichnet. Solange ein Imam unter ihnen lebte, gab er göttlich inspirierte und unfehlbare Interpretationen des göttlichen Gesetzes. Solange der Imam verborgen ist, sind die ersten beiden Quellen des Gesetzes für Schiiten dieselben wie für Sunniten: der Koran und (schiitische) Hadithe. Daneben haben die Schiiten eigene »Vier Bücher« mit Überlieferungen; die älteste wurde von al-Kulayni (10. Jahrhundert) zusammengetragen. Im Gegensatz zu den sunnitischen Sammlungen enthalten die schiitischen auch Aussprüche und Handlungen der Imame. Eine Gruppe (die Ashkaris) beharrte allerdings auf einer wörtlichen Auslegung der Schriften. Danach sollten sich Schiiten nicht auf die Auffassungen von Gelehrten, sondern nur auf den Koran und die Hadithe stützen. Ihre Konkurrenten (die Usulis; von dem Wort für »Wurzel«) setzten sich aber durch und verfolgten die Ashkaris. Die Usulis verwenden die Vernunft (aql), um das Gesetz zu erweitern, solange das Ergebnis nicht Koran und Hadith offen widerspricht. Für Schiiten wurde die »Tür der Interpretation (idschtihad)« nie geschlossen. Im Gegensatz zum früheren sunnitischen Islam galten Entscheidungen früherer Rechtsgelehrter nicht als
bindend. In den folgenden drei Bereichen unterscheidet sich das schiitische Recht vom sunnitischen: Die Brüder eines verstorbenen Vaters haben kein Erbrecht. Die Rechte der Frauen werden bei Ehe und Scheidung stärker geschützt. Muta (zeitlich begrenzte Ehe) ist erlaubt. In dem Vertrag werden festgelegte Formeln gesprochen. Außerdem werden eine Brautgabe und die Dauer der Ehe festgelegt. Die Frau erbt nicht, und der Ehemann ist nicht verpflichtet, sie zu versorgen. Kinder gehören dem Vater.
Der schiitische Klerus: Die Mullahs Muslime sagen oft, der Islam habe keinen Klerus. Jeder Gläubige steht direkt vor Gott, ohne dass ein menschlicher Vermittler erforderlich ist. Dies ist richtig, wenn man unter »Klerus« eine »Priesterschaft« versteht. Doch direkt vor Gott zu stehen, könnte auch von vielen protestantischen Christen behauptet werden. In allgemeinerer Bedeutung bezeichnet »Klerus« eine Gruppe religiöser Führer einer Religion. In der Schia entspricht die Position des religiösen Führers ziemlich genau dem, was man im Westen unter einem professionellen Klerus versteht. Im schiitischen Islam wird ein gehobener religiöser Funktionär im Allgemeinen als Mullah bezeichnet. Als der zwölfte Imam in der Verborgenheit verschwand, übernahmen die Mullahs in seiner Abwesenheit allmählich die Aufgaben des Imams. Zusätzlich zu den Steuern, die im sunnitischen Islam vorgeschrieben sind, gibt es in der Schia eine besondere schiitische Religionssteuer, das sogenannte »Fünftel« (khums). Schiiten zahlen ein Fünftel ihres Einkommens an den Imam. Diese Steuer basiert auf Sure 8:41, welche die Sunniten nur auf Kriegsbeute, die Schiiten jedoch auf Einkommen im Allgemeinen beziehen. Die Hälfte dieses Betrags ist der Anteil des Imams, die andere Hälfte dient der Unterstützung der sayyids (Nachkommen Mohammeds). Solange der verborgene Imam abwesend ist, übernehmen die Mullahs die Aufgabe, diese beträchtlichen Summen einzutreiben und zu verteilen, die für die Erziehung, die Wohlfahrt und die Förderung der Religion eingesetzt werden. Schiiten können ihr »Fünftel« einem Mullah ihrer Wahl bezahlen. Der Mullah eines Dorfes darf ein Drittel der Steuer für die Kommune behalten; zwei Drittel gehen an den höherrangigen Mullah. Stiftungen und die »Fünftel«-Steuer sind der Grund dafür, dass der schiitische Klerus vom Staat unabhängig bleiben konnte. Die Schia hat eine Hierarchie religiöser Führer. Kandidaten fangen auf der untersten Ebene als einfacher Mullah an, nachdem sie die entsprechende Ausbildung in einer religiösen Einrichtung abgeschlossen haben und von den mudschtahids (jemand der qualifiziert ist, religiöse Rechtsfragen zu klären) zertifiziert worden sind. Der Aufstieg in
die beiden oberen Ebenen erfolgt durch Konsens. Angehörige der mittleren Ebene des Klerus tragen den Titel eines hujjat al-islam (»Beweise des Islam«). Ein Gelehrter auf dieser Ebene ist ein mudschtahid. Seine Anhängerschaft reicht über seinen Wohnort hinaus. An der Spitze der Hierarchie steht die sogenannte »Quelle der Imitation« (marja al-taqlid), auch Ayatollah (Zeichen Gottes) oder »Groß-Ayatollah« genannt. Der Kreis auf dieser Ebene ist klein, aber die Zahl ist nicht festgelegt. Manchmal wird eine Person als die oberste schiitische »Quelle der Imitation« seiner Zeit anerkannt. Ein Laie wählt einen marja als »Quelle der Imitation« aus, dessen Entscheidungen er akzeptiert (imitiert).
Schiitische Philosophen und Theologen Schiitische Gelehrte waren dem philosophischen Denken gegenüber meist aufgeschlossener als traditionelle sunnitische Gelehrte. Schiiten waren eher bereit, die Auffassung der Mu'taziliten von einem erschaffenen Koran zu akzeptieren, und räumten dem freien Willen eine größere Rolle ein, zwei Positionen der Mu'taziliten, die von der sunnitischen Orthodoxie abgelehnt wurden. Die herausragenden schiitischen TheologenPhilosophen sind: Al-Tusi (995–1067) stellte zwei der vier Hadith-Hauptsammlungen der Zwölfer zusammen und schrieb grundlegende Werke der Ethik, Theologie und der Koraninterpretation. Al-Suhrawardi (1154–1191) ist der Gründer einer philosophischen Auffassung, die als die Ischraqi-Bewegung (Illuminaten-Bewegung) bezeichnet wird. Danach werde die Seele bei ihrer Schöpfung im Körper eingesperrt und vergesse ihren göttlichen Ursprung. Gottes Licht (Illumination) kann sie inspirieren, nach dem Tod die Wiedervereinigung mit Gott zu suchen. Seine Arbeit hat die frühen Safawiden im Iran stark beeinflusst. Mulla Sadra (1571–1640) ist der einflussreichste Philosoph/Mystiker/Theologe des Iran. Er verband Elemente von Aristoteles, Ibn Sina, Suhrawardi und anderen zu einer eigenen einzigartigen Weltsicht. Danach befindet sich das ultimative Sein in unterschiedlichen Graden in allen existierenden Dingen. Spirituell durchlaufen die Menschen vier Stufen. Am Tag des Gerichts wird die Seele mit einem Ätherkörper wiedervereinigt, und die beiden werden eins sein. Mohammed Baqir Madschlisi (1628–1699) war der höchstrangige schiitische religiöse Führer seiner Generation im Iran. Sein bekanntestes Werk ist Bihar al-anwar (Ozean des Lichts), eine umfangreiche Sammlung prophetischer Überlieferungen. Madschlisi legte den künftigen feindlichen Kurs der Zwölferschia gegen die Sunna und den Sufismus fest und betonte die Bedeutung der Trauer um den Imam Hussein und der Wallfahrten zu den Gräbern der Imame. Neben seinen arabischen Werken schrieb er viele Bücher in Persisch, mit denen er das Volk stärker an den schiitischen Islam binden wollte.
Bei der Auslegung des Koran betonten die Zwölferschiiten gleichermaßen die exoterische (zahir; wörtliche) und die esoterische oder verborgene (batin) Bedeutung. Nur die Imame kennen die vielen Schichten der verborgenen Bedeutung. Die Imame sind der »sprechende Koran« im Gegensatz zu dem geschriebenen oder »schweigenden« Koran. Die esoterische Auslegung (tawil) enthüllt viele Bezüge im Koran auf Ali, Hussein und die Imame. So ist die verborgene Bedeutung der geheimnisvollen Buchstaben in den Suren 3:1 und der »Zeichen« in 41:53 ein Verweis auf die Imame. Oder in Sure 37:107: Wörtlich betrauerte Abraham die Opferung seines Sohnes, verborgen aber auch das künftige Leiden Husseins. Die Leiden von Joseph, Moses und Jesus nehmen ebenfalls angeblich das Leiden und Opfer Husseins vorweg. Die Philosophie und Theologie der schiitischen Ismailiten ist noch viel esoterischer als die der Zwölferschia. Nach ismailitischer Auffassung ist die Geschichte in sieben Epochen aufgeteilt. Jede Epoche beginnt mit einem Propheten, der die Offenbarung und das Gesetz für diese Epoche unter die Menschen bringt. Der Prophet wird von einem Stellvertreter (wali) unterstützt, der einer inneren Elite die geheime Bedeutung der Lehren des Propheten enthüllt. Diese geheime Bedeutung (batin) ist in allen Epochen gleich. Die innere, spirituelle Bedeutung ist wichtiger als die äußere (zahir). In einigen ismailitischen Theologien wird der Interpret wichtiger als der Prophet selbst. Dem Interpreten folgen sechs Imame. Dann beginnt der nächste Zyklus. Mohammed und Ali sind der Prophet beziehungsweise Interpret der sechsten Epoche (Jesus und Petrus hatten diese Funktionen in der fünften, davor kamen Moses und Aaron). Der siebte Imam nach Mohammed verbirgt sich und wird als der Mahdi zurückkehren, um die letzte, siebte Epoche der Geschichte zu begründen (siehe Kapitel 14).
Interaktion: Schiiten, Sufis und Sunniten Im letzten Abschnitt dieses Kapitel wird beschrieben, warum der Sufismus (islamischer Mystizismus) hauptsächlich im sunnitischen Islam zu finden ist und warum zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen manchmal Konflikte entstehen.
Schiiten und Sufis Der Gründer der Safawiden-Dynastie gehörte einem schiitischen Sufi-Orden an, aber der Sufismus wird eher mit Sunniten als mit Schiiten assoziiert. Warum? Als Gegenstand der Verehrung spielen die Imame und ihre Familien für Schiiten die gleiche Rolle wie Sufi-Heilige für Sunniten. Die Schia betont die verborgene Bedeutung der Schriften. Sufis legen den Schriften eine spirituelle beziehungsweise innere Bedeutung bei. Beide Auslegungen sind
analog, aber nicht identisch. Sowohl der Sufismus als auch die Schia bieten die Möglichkeit, intensive religiöse Gefühle auszudrücken. Schiitische Theologen behandelten vielfach dieselben Themen wie die Sufi-Theologen und waren mit den Schriften der Sufis vertraut.
Schiiten und Sunniten Heute sind Schiiten und Sunniten für viele Muslime rechtmäßige Strömungen des Islam. Dennoch kommt es immer wieder zu Gegensätzen und Spannungen zwischen den beiden Gruppen. Die Gründe dafür sind komplex. Die Schiiten betrachten das, was Ali und Hussein widerfahren ist, als Ungerechtigkeiten und nicht einfach als unglückliche Ereignisse, die vergessen werden sollten. 1802 zerstörten die sunnitische Wahhabiten (die heute Saudi-Arabien dominieren) den Schrein des Imams Hussein in Kerbela. Die Wahhabiten zerstörten alle Grabdenkmäler, darunter auch die Gräber der vier schiitischen Imame, die in Mekka begraben sind. In Ländern, in denen die Sunniten das islamische Recht einführen wollen, befürchten Schiiten, dann sunnitischem Recht unterworfen zu sein. Einige schiitische rituelle Praktiken, einschließlich der Verfluchung der ersten drei Kalifen, sind für Sunniten schwere Beleidigungen. Sunniten haben Schiiten immer wieder der Scheinheiligkeit und Unmoral bezichtigt, weil sie Verstellung (taqiyya) gutheißen und die zeitlich begrenzte »Ehe« (muta) erlauben. Saudi-Arabien ist eine Hochburg der sunnitischen Orthodoxie. Der Iran ist das führende schiitische Land. Deshalb brechen zwischen diesen Ländern immer wieder alte Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Kampf um die Führung in der muslimischen Welt auf. Der Bürgerkrieg im Irak, Syrien und dem Jemen befeuerte aus vielerlei Gründen die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten
Lassen Sie sich durch die einfachen Gleichungen, Araber gleich Sunna und Iran gleich Schia, nicht zu Fehleinschätzungen verleiten. Schließlich gibt es auch arabische Schiiten und im Iran auch Sunniten.
Kapitel 13
Sufis IN DIESEM KAPITEL Praxis und Institutionen der Sufis Einige wichtige Sufis Sufi-Dichter
Während der 1960er-Jahre zogen New-Age-Religionen die Aufmerksamkeit der Jugend auf sich. Der Sufismus war zwar nie so populär wie Yoga oder Tai-Chi, konnte sich aber seine Nische schaffen. So wie die meisten Leute, die Yoga oder Tai-Chi praktizierten, nicht zum Hinduismus oder Taoismus konvertierten, traten die meisten Teilnehmer an Sufi-Ritualen nicht zum Islam über. Gleichzeitig wurden die Gedichte von Dschalal aldin Rumi, dem Vorreiter des Sufi-Ordens der tanzenden Derwische (die Mevlevi wurden nach Rumis Tod von seinem Bruder gegründet), enorm beliebt, was auch heute noch gilt. All dies passierte, bevor die weltpolitischen Entwicklungen den Islam ins öffentliche Bewusstsein brachten. Das Sufitum war im Islam beizeiten umstritten. Einige bestreiten seine Rechtmäßigkeit und sagen, diese Form des Mystik habe nichts mit dem Islam zu tun. Dies ist eine theologische Beurteilung, weil Sufis historisch im Islam eine erhebliche Rolle gespielt haben. Andere entgegnen, das Sufitum repräsentiere die wahre Essenz des Islam. Viele berühmte muslimische Gelehrte waren Sufis. Sufis brachten einige der großartigsten Werke der prämodernen islamischen Literatur, insbesondere der Dichtung hervor. Sie trugen stärker zur Verbreitung der islamischen Religion außerhalb der arabischen Welt bei als etwa Juristen, Theologen oder sogar Armeen. Sufis spielten in Regionen wie dem subsaharischen Afrika, in Asien (im heutigen Pakistan, Indien und Bangladesch) und Zentralasien eine wichtige Rolle bei der Bekehrung zum Islam.
Die Suche nach Gott Mit seiner Betonung der religiösen Erfahrung bildet der Sufismus auch im Islam ein gewisses Gegengewicht zu dem religiösen Legalismus und theologischen Dogmatismus.
Überblick über die Geschichte des Sufismus Die vier Phasen der Geschichte des Sufismus, die hier beschrieben werden, bauen aufeinander auf. Jede Phase fügt etwas hinzu, ohne Vorheriges zu ersetzen oder wegzunehmen. Während der ersten Phase des Sufismus wollten Individuen Gott näherkommen. Diese frühen Sufis waren spirituelle »Athleten«, welche die normalen Grenzen der religiösen Praxis überschritten. Dabei wurden verschiedene Wege beschritten: der Weg der Selbstverleugnung und Reinigung (der negative Ansatz) und der Weg der Liebe (der positive Ansatz) nüchterner Mystizismus und ekstatischer Mystizismus
Die frühen Sufis waren nach jetzigem Kenntnisstand Asketen (Menschen, welche die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse auf ein Mindestmaß beschränken) und trugen raue Wollkleidung. Wahrscheinlich ist das Wort »Sufi« von dem arabischen Wort für Wolle abgeleitet; es gibt jedoch auch andere Erklärungen. Westliche Islamgelehrte gebrauchten vor einigen Jahrhunderten erstmals die Bezeichnungen Sufi und Sufismus. Die arabische Bezeichnung ist tasawwuf. Weil Gott vollkommen anders und transzendent (die sinnliche Erfahrung überschreitend) ist, muss man bei der Annäherung an Gott alle Eigenschaften des Selbst (Ego) ablegen. Reinigung umfasst die Beschränkung des Besitzes, des Schlafes und der Nahrungsaufnahme. Darüber hinaus reinigt man sich von der Anhaftung am Selbst. Der Weg der Liebe sagt, menschliche Liebe, sogar sexuelle Liebe, sei der höchste Ausdruck der Sympathie zwischen zwei Wesen. Menschliche Liebe ist eine Vorbereitung auf die Liebe Gottes. Gott erschuf die Welt, weil er wünschte, gekannt zu werden; und Gott zu lieben, ist die passende Antwort. Der nüchterne Mystiker folgt oft dem Weg der Selbstverleugnung, während andere auf dem Weg der Liebe eher zu einem ekstatischeren und enthusiastischeren Ausdruck neigen. Der nüchterne Mystiker ist für das religiöse Establishment akzeptabler. Dagegen erfährt der ekstatische Mystiker andere Bewusstseinszustände, die sich in ungewöhnlichen Handlungen und schockierenden verbalen Ausdrücken zeigen können. Die ersten Sufis waren sich kaum bewusst, im Islam einen besonderen Ansatz zu verfolgen. Die zweite Phase umfasst die Konsolidierung des Sufismus etwa um 1000 n. Chr. Damals standen mehrere Probleme an: die Verteidigung des Sufismus gegen seine Kritiker die Öffnung des Sufismus für eine größere Gruppe von Menschen
eine Bestandsaufnahme durch die Bereitstellung von Handbüchern, die das technische Vokabular des Sufismus beschreiben, seine verschiedenen Arten klassifizieren und in Form von gesammelten Geschichten über die Sufi-Heiligen Vorbilder für das Leben als Sufi bieten systematische und poetische Darstellung des Sufismus mit folgenden Schwerpunkten: die Stationen des Sufi-Weges das Ziel des spirituellen Strebens der Sufis die theologisch-philosophische Theorie, die dem Sufismus zugrunde liegt Die dritte Phase (12. Jahrhundert) umfasst die Institutionalisierung des Sufismus. Sie führte zu organisierten Sufi-Logen und der Gründung der großen Sufi-Orden (die mit den Mönchsorden im Christentum vergleichbar sind). In der vierten Phase (nach 1500) verlor der Sufismus seinen kreativen Schwung, was zu einem zahlenmäßigen und spirituellen Verfall führte. Es entwickelte sich eine neue Opposition gegen den Sufismus. Selbst in dieser Phase gab es kreative Ausnahmen: weitere Orden, neue Sufi-Heilige und wichtige Errungenschaften in Denken und Literatur der Sufis.
Sufitum als islamische Mystik Religionshistoriker beschreiben den Sufismus als die islamische Form von Mystizismus, einer bestimmten Form der Religion. Taoismus ist der Ausdruck des Mystizismus in der chinesischen Religion, und das Tao-teching (»Das Buch des Weges und der Macht«) zählt zu den großen mystischen Schriften der Menschheit. Das Tao ist eine nichtmaterielle Wirklichkeit, die nicht einmal benannt werden kann, die aber dennoch der Urgrund alles Geschaffenen ist. Im Mönchstum fand der christliche Mystizismus seinen höchsten Ausdruck in Menschen wie der Heiligen Teresa von Avila oder dem Heiligen Johannes vom Kreuze, beide von der islamischen Mystik in Andalusien beeinflusst. Im Hinduismus ist Yoga der mystische Weg, im Gegensatz zu den Wegen der Hingabe, des Wissens und der Tat. Mystik betont die religiöse Erfahrung. Mystiker suchen eine direkte, unvermittelte Erfahrung des Göttlichen. Mystisches Wissen ist direktes Wissen, im Gegensatz zu dem Wissen von Wissenschaft, Philosophie oder Heiligen Schriften. Der Mystiker beugt sich auch dem äußeren Ausdruck seiner Religion (Hingabe, Ritual, Ethik, Glaubenssätze), möchte aber tiefer gehen. Er möchte Gott nicht nur gehorchen, anerkennen und dienen, sondern begegnen und erfahren. Eine mystische Erfahrung ist mehr als ein plötzliches intensives ekstatisches Erleben. Der Mystizismus erfordert Disziplin und Methode. Wer sich auf den Pfad des Mystikers begibt, hat einen langen, beschwerlichen Weg vor sich, ohne dass seine Ankunft am Ziel garantiert ist. Normalerweise wird ein Novize von einer fortgeschritteneren Person angeleitet, wenn er eine Folge von Stufen durchläuft, die ihn zu immer höheren spirituellen Ebenen führen.
Wichtige Texte und historische Grundlagen Jeder Ausdruck des Islam, der Rechtmäßigkeit beansprucht, muss auf dem Koran und dem Beispiel Mohammeds und im sunnitischen Islam auch auf dem Beispiel der vier rechtgeleiteten Kalifen basieren. Die Legitimierung des Sufismus umfasste:
Zitate aus dem Koran, die das Streben der Sufis unterstützten: Verfügungen, sich »an Gott zu erinnern«. Das Gedenken (dhikr) ist zwar für alle Muslime Pflicht, bezeichnet hier aber das Ritual, das am engsten mit Sufismus verbunden ist. Ausdrücke von Gottes Nähe zu den Gläubigen (Sure 2:186) Aussagen, dass Gott Freund und Liebhaber/Geliebter ist (Sure 5:54–56) Bezüge auf das Angesicht Gottes, das anwesend ist, wohin man sich auch wendet (Sure 2:115). Der Sufi sucht nach dem Angesicht Gottes. das Finden von Sufi-Vorstellungen in der esoterischen, inneren und der symbolischen, allegorischen Bedeutung des Koran (tawil) die Verwendung von Mohammeds Nachtreise durch die sieben Himmel zum Thron Gottes als Modell für die Stationen des Sufi-Weges das Zitieren von Hadithen, die nicht in den Standardsammlungen stehen und Mohammed als Person porträtieren, die Sufi-Tugenden wie Armut oder Bescheidenheit verkörpern das Zitieren der hadith qudsi (außerkoranische Sprüche Gottes) wie etwa: »Ich war der geheime Schatz und wünschte, gekannt zu sein.« Verweise auf das Beispiel der freiwilligen Armut der ersten beiden Kalifen. Umar, der zweite Kalif, bekannte sich so umfassend zur Armut, dass seine geflickte Kleidung zum Vorbild des geflickten Umhangs gedieh, den der Sufi bei seiner Initiation in einem Sufi-Orden erhielt.
Glaube der Sufis Welche Eigenschaften charakterisieren einen Sufi? Die folgende Liste nennt einige der wichtigsten Merkmale: Askese, Selbstverleugnung und Reinigung Armut: »Meine Armut ist mein Stolz«, sagt eine Sufi-Überlieferung. Armut hat mit Asketentum zu tun. Spirituelle Armut bedeutet, wie bei Rabia al-Adawiyya, nichts für sich selbst zu wünschen, nicht einmal das Paradies. Initiierte Sufis werden oft als Fakir oder Derwisch bezeichnet. Der erste Ausdruck ist arabisch, der zweite persisch; beide bedeuten wörtlich eine »arme Person«. Tawakkul, das absolute Vertrauen auf Gott, und rida (Zufriedenheit oder Akzeptanz): Was immer einem widerfährt, ist willkommen, weil alles von Gott kommt. Liebe zu Gott: Nizamis Version der Volkserzählung von Laila und Madschnun (1188)
wurde für Sufis eine Allegorie für die Liebe eines Sufi zu Gott. Abgeschnitten vom Kontakt zu seiner Geliebten verfiel Madschnun dem Wahnsinn (die Bedeutung von madschnun). Er wanderte wie ein Sufi-Derwisch durch die Wüste, gab seinen gesamten Besitz auf und suchte nach ihr, ihren Namen hinausschreiend (dhikr, im Gedenken an sie). Sie starb, bevor sich ihre Liebe erfüllte, so wie der Sufi auf seiner Suche nach Gott letztlich erst nach seinem Tod zum Ziel kommt. Festhalten an Gott (baqa): Baqa ist das, was nach der Vernichtung (fana) des Selbst und der Welt bleibt. Dieses »Ziel«, das nur die fortgeschrittensten Sufis erreichen, wird als eine Art Erfahrung der Vereinigung mit Gott beschrieben, ähnlich wie die Motte von der Flamme angezogen und von ihr verzehrt wird. Andere sagen, es sei die perfekte Erkenntnis (marifa) Gottes. Tawhid (Einheit Gottes): Im Sufismus bedeutet tawhid, dass nichts außer Gott existiert (wahdat al-wujud). Gott ist die ultimative Wirklichkeit oder Wahrheit (alhaqq). Wenn nur Gott existiert, spiegelt alles in der Welt die Wirklichkeit Gottes. Konzentration auf die inneren, spirituellen, esoterischen Aspekte der Religion und der religiösen Texte im Gegensatz zu den äußeren: Für die meisten Sufis bedeutet dies einen Schritt über das religiöse Ritual und Gesetz hinaus, nicht einen Ersatz dafür. Die Meister-Schüler-Beziehung: Seit den ersten Tagen des Sufismus gab es einzelne wandernde Derwische; doch für die meisten Sufis kann es einen spirituellen Fortschritt nur unter Anleitung eines spirituellen Führers (murschid) und Meisters geben. Im Arabischen wird er als Scheich (sheikh) bezeichnet, in persischen, türkischen und indischen Regionen als pir. Der Schüler / die Schülerin wird murid (Novize/Novizin) genannt. Der spirituelle Stammbaum (silsila, »Kette«), der die spirituellen Vorfahren eines Sufi von seinem Scheich über frühere Scheiche zurück auf Mohammed oder Ali verfolgt: Der Form nach ähnelt diese Kette den isnads, die ein Hadith beglaubigen und einführen (siehe Kapitel 8). Die meisten silsilas enthalten entweder al-Dschunayd oder al-Bistami als entscheidendes älteres Glied der Kette. Dhikr (Gottgedenken), die rituelle Rezitation einer Formel zum Zweck der Invokation (wörtlich Hereinrufung), wird oft mit rhythmischem Tanz oder Bewegungen kombiniert. Stationen (maqam) und Zustände (hal): Stationen sind die Sprossen der Leiter, die ein Sufi mit seiner zunehmenden spirituellen Reife hinaufsteigt. Zustände sind zeitlich begrenzte emotionale und psychologische Erfahrungen, die mit jeder Station verbunden sind. So nennt al-Sarradsch (10. Jahrhundert) die folgenden Stationen (in dieser Reihenfolge): Reue, Wachsamkeit, Verzicht, Armut, Geduld, Vertrauen und Annahme. Andere schließen Dankbarkeit, Furcht, Hoffnung, Lieben und Wissen ein.
Bedeutende Sufis Das Aufkommen des Sufismus war auch eine Reaktion auf die Verweltlichung der Omayyaden-Kalifen. Die Sufis lehnten Macht, Reichtum und weltlichen Erfolg ab. Ein Sufi muss den »größeren Kampf« (dschihad) gegen sein niedrigeres Selbst aufnehmen. Frühe Sufis verlängerten ihre Fastenzeit, beteten die ganze Nacht hindurch und vermieden viele Dinge, die der Islam erlaubte, um möglichst keine Sünden zu begehen. Um weltliche Verwicklungen zu vermeiden, blieben einige frühe Sufis ledig, obwohl dies nicht die Regel wurde, da die Ehe im Koran positiv gesehen und unterstützt wird. Der Sufi setzte sein ganzes Vertrauen in Gott (tawakkul). Einige gingen so weit, auf Reisen kein Geld und keine Nahrung mitzunehmen, medizinische Hilfe abzulehnen und keine Nahrung zu essen, die ihnen nicht persönlich gegeben worden war. Hasan al-Basri (642–728) war der erste herausragende Sufi. Wie viele Sufis war al-Basri ein Gelehrter und berühmter Prediger. Er ist ein Beispiel für einen »nüchternen Sufi«, der dem asketischen Weg folgte und die materielle Welt als einen »Fehler« betrachtete. In einem seiner Briefe an den frommen Omayyaden-Kalifen Umar II. beschrieb al-Basri die Welt als Schlange: glatt anzufassen, aber voll tödlichem Gift. Von Hasan blieben keine Schriften erhalten, aber er wird oft von anderen zitiert und wird in den meisten Sufisilsilas (dem spirituellen Stammbaum eines Sufi-Praktikers) als Glied genannt. In einem anderen Spruch sagt Hasan, »die Welt ist eine Brücke, die man überquere, aber auf der man nicht bauen sollte«. Ibrahim Ibn Adham (circa 730–770) zählt ebenfalls zu den frühen Sufis. Ibrahim wanderte von Ort zu Ort; er arbeitete, statt für seinen Lebensunterhalt zu betteln. Er war für seine Großzügigkeit und sein Asketentum bekannt. Freiwillig akzeptierte er Misshandlung als Form der Selbstverleugnung. Legendär ist die Überlieferung, wie er Mönch wurde: Eines Tages blickte er in einen Spiegel und sah nur das Grab. Ein anderes Mal sprach ein Tier, das er jagte, zu ihm und sagte ihm, er sei für ein anderes Leben als das eines Prinzen geschaffen worden. Deshalb gab er, wie der Buddha, sein Leben als Prinz auf. Während seiner Wanderungen traf Ibrahim auf al-Khidr, einen geheimnisvollen Begleiter von Moses (Sure 18:61–83). Für die Sufis repräsentiert Moses, der Überbringer des Gesetzes, die externe Form der Religion, während al-Khidr für ihre innere Essenz steht. Al-Khidr initiierte Ibrahim als Sufi und gab ihm Gottes Namen als dhikr-Formel. Ibrahim benötigte 14 Jahre, um seine Wallfahrt nach Mekka zu vollenden, weil er nach jedem Schritt anhielt, um zu beten. Als er endlich in Mekka angekommen war, war die Kaaba nicht mehr da. Sie war gegangen, um eine andere Heilige, Rabia, zu treffen. Rabia al-Adawiyya (713–801) ist eine der interessantesten Gestalten des frühen Sufismus. Wie Hasan und Ibrahim war sie ein »nüchterner« Sufi und der erste, der sich auf die Liebe Gottes konzentrierte. Ihr ganzes Streben galt nur Gott. Einmal
sagte sie: »O mein Gott, welchen Teil dieser Welt Du mir gegeben hast, gib ihn Deinen Feinden, und welchen Teil der nächsten Welt Du mir gegeben hast, gib ihn Deinen Freunden. Du bist für mich genug.« Mehrere Geschichten erzählen von ihrer Begegnung mit Hasan al-Basri. Jedes Mal gewinnt ihre Bescheidenheit über seinen Stolz. Einmal warf er seinen Gebetsteppich auf das Wasser und fordert sie auf, mit ihm auf dem Wasser zu beten. Sie warf ihren Gebetsteppich in die Luft und forderte ihn auf, in der Luft mit ihr zu beten, wo ihre Frömmigkeit nicht für andere zur Schau gestellt werde. Sie sagte, was Hasan getan habe, könne ein Fisch tun, und was sie tat, könne ein Vogel tun. (In Kapitel 3 finden Sie mehr über Rabia.) Al-Muhasibi (751–857) schrieb über die Psychologie der Seele im Sufismus. Sein berühmtestes Werk besteht aus kurzen Fragen eines Schülers, die von Muhasibi beantwortet werden. So nennt er vier Arten des Egoismus, die der Sufi überwinden müsse: Verblendung, Stolz, Eitelkeit und Selbstüberschätzung. Der Abschnitt über die Eitelkeit wird durch folgende Frage des Schülers eingeleitet: »Erzähl mir von der Eitelkeit, was sie ist, wo sie sitzt und wie sie vermieden werden kann.« Dhu al-Nun al-Misri (nach 796–860) wurde von dem Kalifen al-Mutawakkil ins Gefängnis geworfen, weil er sich weigerte, die Doktrin der Mu'taziliten von der Erschaffenheit des Koran zu bestätigen. Doch Dhu al-Nuns bewegende Zeugenaussage veranlasste den Kalifen, ihn freizulassen. Seine Schriften umfassen Sprüche, Gedichte und Gebete. Als ihn eine Frau fragte, was das Ende der Liebe sei, antwortete er, Liebe habe kein Ende. Dhu al-Nun entwickelte das Sufi-Vokabular für die Stationen und Zustände des Weges. Er war einer der ersten Sufis, der die Welt freudig annahm, weil die gesamte Natur, vom Flüstern der Blätter bis zu den Liedern der Vögeln, Gott preist. Abu Yazid al-Bistami (kurz Bayezid), ein im 9. Jahrhundert lebender Perser, gehört zu den bedeutendsten ekstatischen oder trunkenen Sufis. Alte Autoren zeichnen unterschiedliche Bilder von ihm, die von einer sehr orthodoxen bis zu einer recht unorthodoxen Persönlichkeit reichen. Berühmt sind besonders seine ekstatischen Ausrufe, etwa subhani (Ruhm sei mir) oder »Wie groß ist doch meine Majestät«. AlBistami verwendete Paradoxa, um Wahrheit in einer Weise zu vermitteln, die an Zenbuddhisten erinnert. Als ihn jemand besuchen wollte, sagte er einmal, er sei auch auf der Suche nach Bayezid. Mohammeds nächtlicher Aufstieg zum Himmel (miradsch) diente ihm als Beispiel für seine Vision der Annäherung an Gott. Abu al-Qasim Mohammed al-Dschunayd (9. Jahrhundert) zählte zu den »nüchternen« Mystikern und verurteilte die Extreme des ekstatischen Mystizismus. Er betonte, ein Sufi müsse von seiner mystischen Erfahrung zurückkehren, um in der normalen Welt zu leben. Al-Qasim verdiente seinen Lebensunterhalt als Händler in Bagdad. Statt von der Vereinigung mit Gott, die von den »trunkenen« Sufis betont wurde, sprach er vom Gottesbewusstsein, mit dem eine Person in seinen Zustand als Mensch zurückkehrt.
Hussein Ibn Mansur al-Halladsch (hingerichtet 922) war der berühmteste »trunkene« Mystiker. Al-Halladsch zog viele Schüler an und wurde zur Kultfigur der Massen. In seiner Poesie verwendete er viele Bilder wie etwa das der Motte und der Flamme, das in der späteren Sufi-Poesie zu einem zentralen Thema wurde. Berühmt ist al-Halladsch für seinen blasphemisch verstandenen Ausruf: »Ana al-Haqq« (Ich bin die Wahrheit/Gott). Er wurde der Ketzerei angeklagt und eingesperrt. Nach acht Jahren im Gefängnis wurde alHalladsch ausgepeitscht und geköpft; sein Leichnam wurde verbrannt. Er akzeptierte seinen Tod mit dem Spruch: »Tötet mich … denn mein Tod ist Leben.« Wie Hussein, der Sohn Alis, wurde al-Halladsch mit seinem Tod einer der bedeutenden Märtyrer der Gottesliebe und übte auf den späteren indopersischen Sufismus großen Einfluss aus. Abu Nasr al-Sarradsch (10. Jahrhundert) schrieb das Schlaglichter über das Sufitum, wohl die erste systematische Beschreibung des Denkens und Lebens der Sufis. Er schrieb über kontroverse Themen wie ekstatische Ausrufe, Wunder und die Verwendung von Musik. Wie al-Ghazali verteidigte er den Sufismus als den reinsten Ausdruck des Islam. Sein Buch bildete die Basis für die spätere Sufi-Theologie. Abu Hamid al-Ghazali (1058–1111) ist eine der überragenden Gestalten islamischen Denkens. Er leistete wichtige Beiträge zur islamischen Philosophie und Theologie (siehe Kapitel 5) sowie zur Ethik (siehe Kapitel 9). Al-Ghazalis Der Retter aus dem Irrtum zählt zu den großen religiösen Autobiografien. Geboren im Iran, war al-Ghazali der führende islamische Gelehrte seiner Zeit. Er hatte einen angesehenen Lehrstuhl an der NizamiyyaUniversität inne, die der Seldschuken-Wesir Nizam al-Mulk in Bagdad gegründet hatte. 1095 erlebte al-Ghazali eine spirituelle Krise, verzichtete auf seinen Lehrstuhl und machte sich auf eine spirituelle Suche. Seine elf Wanderjahre führten ihn nach Syrien, wo er im Sufismus die Antwort auf seine spirituelle Krise fand. Der vierte und letzte Abschnitt seines Meisterwerks, Ihya Ulum ad-Din (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften), ist dem Sufismus gewidmet. Für al-Ghazali war der Sufismus der höchste Ausdruck des Islam, solange Ritual, Gesetz und Theologie des Islam nicht vernachlässigt wurden. Die meisten muslimischen Gelehrten betrachten seine Darstellung als die Legitimation des Sufismus im Islam. Der hanbalitische Jurist Ibn Taymiyya (siehe Kapitel 8) und seine späteren Erben, die Wahhabiten, akzeptierten Sufismus jedoch nie als rechtmäßig. Muhy-d-din Mohammed Ibn Arabi (1165–1240), geboren und aufgewachsen in Andalusien, verkörperte das extreme Gegenteil von al-Ghazali. Ibn Arabis Synthese der Sufi-Theologie und -Kosmologie wurde von seinen Sufi-Bewunderern immer wieder verteidigt und neu interpretiert, von konservativen Gelehrten aber verurteilt. Zwei seiner Sufi-Lehrer waren Frauen. Ibn Arabi behauptete, von al-Khidr initiiert worden zu sein. Er ließ sich in Damaskus nieder und verfasste zahlreiche intellektuell anspruchsvolle und esoterische theologische Werke. Die wichtigsten sind: Die mekkanischen Offenbarungen und Ringsteine der göttlichen Weisheit. Ibn Arabi stellt
die Liebe als die zentrale Wahrheit dar, auf der das Universum beruht. Seine Kosmologie umfasst 28 Ebenen zwischen der unergründlichen göttlichen Essenz (dem »Es gibt keinen Gott außer Gott« der Schahada) und der Ebene der physischen Existenz. Seine einflussreichste Vorstellung ist wahdat al-wujud, das mit »Einheit des Seins« übersetzt wird. Diese Vorstellung ist nicht ganz so pantheistisch, wie es sich anhören mag. In Seinem Wunsch, gekannt zu sein, manifestierte sich Gott in der Vielfalt des Seins. Al-Suhrawardi korrigierte den missverständlichen Begriff wahdat al-wujud in wahdat al-shuhud (Einheit der Sichtweise), wonach es eine Abwesenheit der Schöpfung nur in der mystischen Perzeption geben kann. Ein weiterer wichtiger Gedanke Ibn Arabis ist der Perfekte (ganze) Mensch (al-insan alkamil). Diese Person ist prototypisch Mohammed, weil er am vollkommensten das Sein Gottes widerspiegelte. In jeder Generation gab es einen anderen perfekten Menschen, der das Bindeglied zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen bildet. Er ist der »Pol« (qutb), um den sich der Kosmos dreht. Spätere Sufi-Meister behaupteten, der qutb ihrer Generation zu sein. Rabia war nicht der einzige weibliche Sufi oder Heilige im Islam. Die Überlieferung nennt mehrere andere frühe weibliche Sufis, wie etwa Fatima von Nishapur. Im Allgemeinen hat der Sufismus Frauen mehr Möglichkeiten der Teilnahme eingeräumt als der sonstige Islam. In den großen Städten des mittelalterlichen Islam wurden einige weibliche Orden gegründet. Doch abgesehen von einigen Ausnahmen gab es keine weiblichen Oberhäupter von Sufi-Orden oder beidgeschlechtliche örtliche Logen. Einige Orden nahmen Frauen formell auf, aber relativ selten. So wurde Fatima Jahanara, die älteste Tochter des Mogul-Herrschers Schah Dschahan (17. Jahrhundert) in den Qadiriyya-Orden initiiert. Sammlungen mit Biografien der Heiligen beschreiben einige weibliche Persönlichkeiten. Es gab auch einige weibliche Lehrer und Übermittler von Hadithen. Für einige Sufis, welche die höchsten Stufen des Sufi-Weges erreichten, verlor die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich an Bedeutung. Ibn Arabi räumte Frauen sogar die Möglichkeit ein, den Status des qutb (Pol) zu erreichen, des fortgeschrittensten Sufi eines Zeitalters.
Die Sufi-Gemeinschaft In den ersten Jahrhunderten des Islam gab es keine organisierten Gemeinschaften der Sufis. Al-Ghazali zählt zu den ersten Sufis, die eine organisierte Gemeinschaft mit einer zentralen Loge (Gebäude) gründeten.
Logen Das Zentrum einer Sufi-Gemeinschaft wird unterschiedlich bezeichnet. Der Begriff
khanqa geht auf die Logen in Ostpersien (Khorasan) zurück. Die entsprechende türkische Bezeichnung lautet tekke. In westarabischen Regionen benutzt man das arabische Äquivalent ribat (ursprünglich ein Grenzfort) oder zawiya (Klause). Die khanqa hatte mehrere Funktionen: Sie war eine Schule, in der der Scheich seine Schüler unterrichtete; sie war eine Herberge, in der Reisende Unterkunft fanden; und sie war eine Wohlfahrtseinrichtung, in der Arme Nahrung bekamen und Kranke versorgt wurden. Besucher wurden grundsätzlich kostenlos aufgenommen. Eine typische khanqa hatte einen Hof für gemeinsame Zeremonien, der auf zwei Seiten von Zellen für die Mitglieder der Loge gesäumt wurde. Das Grab des Gründers von SufiOrden war oft Teil eines Komplexes, der eine madrasa (Schule), Moschee und andere Gebäude umfassen konnte. Um das Grab eines Heiligen entwickelte sich oft ein Kult, der in späteren Jahrhunderten wichtiger als die Sufi-Praktiken werden konnte (siehe Kapitel 10).
Die Sufi-Bruderschaft Tariqa (»Weg« oder »Pfad«) bezeichnet sowohl einen organisierten, selbstgenügsamen Sufi-Orden (Bruderschaft) als auch die besondere Methodik dieses Ordens. Mit einer khanqa sind vier Gruppen von Leuten verbunden: Die Elite hatte die höchsten spirituellen Stationen erreicht. Sie verrichtete fortgeschrittene Übungen und konnte andere in die tariqa einweihen. Der Scheich konnte ein Mitglied dieser Elite zu seinem Nachfolger ernennen oder ihn entsenden, um eine Tochterloge zu gründen. Andere Vollmitglieder des Ordens führten regelmäßig alle Aufgaben des Ordens (etwa das gemeinsame dhikr) aus. Novizen (murid) hießen die in der Ausbildung befindlichen Sufis. Andere Anhänger wiederum waren weniger eng mit der Loge verbunden. Sie erkannten den Scheich als Meister an und hatten einige Sufi-Schulungen absolviert. Sie nahmen an der Geburtstagsfeier (maulid) oder an dem Gedenken an den Tod (urs, wörtlich Hochzeit) des Gründerscheichs teil. Der Orden war von der finanziellen Unterstützung solcher Anhänger abhängig. Herrscher und Wohlhabende unterstützten Orden ihrer Wahl, die im Laufe der Zeit beträchtliche Stiftungsvermögen ansammelten. Einige Orden waren mit einer bestimmten Klasse oder einem Berufsstand verbunden. Andere Sufi-Orden brachten alle gesellschaftlichen Gruppen, Stämme und Berufsgruppen zusammen. In einigen westafrikanischen Ländern wie Senegal gehören fast alle männlichen Muslime einem Orden an.
Das Verhalten eines Sufi Alltag und Rituale in einer Sufi-tariqa sind geregelt, aber die Regeln variieren recht stark.
Die folgenden Beispiele sind typisch, aber nicht allgemeingültig.
Eintritt in eine Sufi-Bruderschaft Auch wenn ein Muslim von verschiedenen Scheichs initiiert werden kann, erkennt er nur einen als seinen Meister an. Die Schulung kann drei Jahre dauern, in denen er Bescheidenheit und Gehorsam praktiziert. Der Novize eignet sich die silsila (spiritueller Stammbaum) des Ordens an und beginnt mit den grundlegenden Meditationsübungen der Sufis. Am Ende steht eine 40 Tage dauernde totale Absonderung. Bei der Aufnahmezeremonie legt der Initiierte einen Treueeid ab, wobei er die Hand des Scheichs umklammert. Dieses Umklammern der Hand überträgt den Segen des Scheichs (baraka) auf den Schüler. Der Scheich gibt ihm ein Flickengewand (khirqa), die typische Bekleidung der Sufis, und eine Kopfbedeckung mit ordensspezifischem Design. Der Schüler erhält auch ein Dokument (eine Art Diplom), das seine Initiation bescheinigt und seine silsila beschreibt. Der Scheich trägt dem neuen Ordensmitglied auch ein persönliches dhikr-Gebet auf.
Regeln der Bruderschaft Ähnlich wie ein christlicher Mönchsorden hatte jede Sufi-Bruderschaft Regeln für das Verhalten ihrer Mitglieder. Die meisten Sufis waren verheiratet. R. A. Nicholson zitiert zehn Regeln, die in einer khanqa aus dem 11. Jahrhundert galten, darunter die folgenden:
Trage saubere Kleidung und bewege dich im Zustand ritueller Reinheit. Bete während der Nacht ausführlich. Lies am Morgen so viel wie möglich im Koran und schweige bis zum Sonnenaufgang. Verrichte zwischen dem Abend- und dem Nachtgebet den speziellen dhikr. Heiße die Armen und Bedürftigen willkommen.
Das Gottgedenken: dhikr Neben der allgemeinen Verwendung des dhikr, wie es der Koran fordert, um Gottes zu gedenken, bezeichnet dhikr auch die Praxis der Sufis, eine Formel allein oder in einer Gruppe rhythmisch zu wiederholen. Als dhikr-Formeln werden der göttliche Name Allah, einzelne der 99 Namen Gottes, die erste Hälfte der Schahada (la ilaha illa Allah) oder ein Ausruf wie »Gott sei gepriesen« (subhan Allah) oder »Gott ist groß« (Allahu Akbar) verwendet. Der Sufi wiederholt den Ausspruch eine vorbestimmte Zahl von Malen oder über eine bestimmte Zeitspanne. Es gibt ein schweigendes und ein laut gesprochenes dhikr. Ein Sufi kann mit einem gesprochenen »dhikr der Zunge« beginnen, mit einem »dhikr der Herzens«
fortfahren und den Höhepunkt mit einem »dhikr des innersten Seins« erreichen, bei dem die Worte nicht einmal mehr im Geiste ausgesprochen werden. Die Naqschbandiyya verwendet nur das schweigende dhikr. Wegen ihres lauten dhikr werden die Mitglieder des Rifai-Ordens im Westen auch als Heulende Derwische bezeichnet. Die drei Haupttypen des dhikr sind: Das dhikr nach wenigstens zwei der fünf täglichen Gebete Eine umfangreichere Form des dhikr, die dem Yoga ähnelt: Der Teilnehmer verbinden die Wiederholung der Formeln mit Atemtechniken und der Konzentration auf einen Körperteil. So wird die Schahada wiederholt, indem mit dem Spruch »Es gibt keinen Gott« ausgeatmet und mit dem Spruch »außer Allah« eingeatmet wird. Es dauert lange, um dieses fortgeschrittene dhikr zu beherrschen. Gemeinsames dhikr: Dieses »dhikr der Gegenwart« erfolgt normalerweise am Donnerstagabend und bei besonderen Anlässen. »Gegenwart« bezieht sich auf die Gegenwart Gottes, Mohammeds und der Sufi-Heiligen bei der Zeremonie.
Gott hören: sama Sama ist das arabische Wort für eine Sufi-Sitzung mit Musik und Singen. Sie wird oft mit einem gemeinsamen dhikr verbunden. Einige Sufi-Orden verfügen über besondere Musikhallen (sama, khanahs) für sama-Sitzungen. Einige konservative muslimische Gelehrte lehnen Musik allerdings mit der Begründung ab, sie wecke die Leidenschaften und das niedrige Selbst. Außerhalb des religiösen Kontextes blühte jedoch die Musik in muslimischen Kulturen. Ein Außenseiter, der kunstvolle Rezitationen des Koran hört, könnte dies für Musik halten. Doch die Anleitungen zur Koranrezitation ziehen eine feine Linie zwischen einem »Singen« des Koran, das verboten ist, und der melodischen Rezitation, die erlaubt ist (siehe Kapitel 7). Der Qadiri- und der Naqschbandi-Orden arbeiten selbst nicht mit Musiksitzungen (sama), lehnen sie aber bei anderen Sufis nicht ab. Die Mevlevi- und Chisti-Orden sind für ihre Verwendung von Musik besonders bekannt. Einige Orden schulen ihre Mitglieder, ihre Gefühle bei sama-Sitzungen zu kontrollieren. Andere Orden schränken die Körperbewegungen ein, welche die Musik begleiten. Dennoch geraten immer einige Mitglieder in Ekstase, in der sie schreien, aufstehen, tanzen und zum Schluss erschöpft niederfallen können. Bei den Mevlevi (den tanzenden Derwischen) besteht die gemeinsame Sitzung aus einer Kombination von Musik und fortwährenden Drehungen, langsam beginnend und immer schneller werdend, an der alle Mitglieder teilnehmen. Befürworter der sama-Sitzungen verweisen auf eine Stelle des Koran, in der erwähnt
wird, dass David Psalmen gesungen habe: Junge Mädchen begrüßten die zurückkehrenden muslimischen Krieger mit Liedern. Mohammed hörte ohne Widerspruch zu, wenn Mädchen an einem der Feiertage oder bei einer Hochzeit sangen. Doch in Anbetracht des Widerstands, den einige sowohl dem Sufismus als solchem als auch dem religiösen Gebrauch der Musik entgegensetzten, formulierten verschiedene Sufi-Autoren Richtlinien, um Exzesse bei sama-Sitzungen zu vermeiden. Danach sollten keine Musikinstrumente verwendet werden. Die Teilnehmer sollten ihre Aufmerksamkeit auf Gott richten. Und es sollten nur religiös angemessene »Texte« gesungen werden.
Gemeinsames dhikr mit sama Eine sama-Sitzung lernt man am besten durch Teilnahme oder direkte Beobachtung kennen. Das Nächstbeste ist eine Aufzeichnung einer solchen Sitzung, etwa Celebrating the Prophet in the Remembrance of God: Sufi Dhikr in Egypt, erzählt von Valerie Hoffman. Die folgende Beschreibung verbindet Elemente aus Hoffmans Skript und aus Mystische Dimensionen des Islam von Annemarie Schimmel. Zu Beginn der Sitzung stellen sich die Teilnehmer in einer besonderen Anordnung auf, oft in einem Kreis oder in gegenüberliegenden Reihen. Die Sitzung beginnt mit einer Rezitation der Fatiha oder einem Gebet des Ordensgründers. Ein Sänger singt ein Gedicht oder verbindet Teile aus mehreren Liedern. Er kann Zeilen wiederholen, die offensichtlich eine starke Wirkung ausüben. Liebe für Mohammed oder seine Familie ist das vorherrschende Thema. Jeder Sänger hat einen einzigartigen, mehr oder weniger kunstvollen Stil. In Ägypten wird der Sänger von seiner »Band« begleitet, die Instrumente wie Tamburin, Kastagnetten, Geige oder Flöte spielen. Während der Sänger singt, können die Teilnehmer das dhikr des Ordens wiederholen. Kurze Abschnitte bitten die Heiligen um Unterstützung. Dazwischen wird immer wieder intensiv rezitiert oder gesungen, um die Gefühle einen Moment zu beruhigen. Im Laufe des Abends nehmen Geschwindigkeit und Intensität zu. Bei einigen Teilnehmern zeigen sich die Gefühle in sichtbaren Symptomen: Schaum vor dem Mund, Winken mit den Händen, Aufstehen und Abnehmen der Kopfbekleidung. Einige Sitzungen sind öffentlich zugänglich, auch für Frauen, die üblicherweise getrennt sitzen und zurückhaltender reagieren.
Den Glauben in Versen ausdrücken: SufiLiteratur Der Sufismus inspirierte großartige literarische Werke in Arabisch, Persisch, Türkisch und verschiedenen südasiatischen Sprachen. Da die Poesie im vorislamischen Arabien die literarische Hauptgattung war, beherrscht sie auch die Sufi-Literatur. Hier einige berühmte Sufi-Dichter: Ibn al-Farid (1181–1235) gilt als der größte arabische Dichter. Die arabische Sprache
bietet reichhaltige Möglichkeiten für Wortspiele, die al-Farid nutzte. Er soll seine Gedichte im Zustand ekstatischer Trance geschrieben haben. Sein Taiya enthält 760 Verse, die alle auf »t« enden. In seiner Ode an den Wein benutzt er das traditionelle Weinlied, um die mystische Erfahrung der Sufis auszudrücken. Der Sufismus nutzte das Bild des Weins fast ebenso intensiv wie das Bild der Liebe, um den Zustand der Gottestrunkenheit auszudrücken. Farid al-Din Attar (etwa 1119–1220) ist der herausragende persische Sufi-Dichter. Er war ein Meister der Unterhaltung und ein Lehrer des Sufismus. Sein Werk Mantiq altair ist auch auf Deutsch erhältlich (Konferenz der Vögel). Diese lange Fabel basiert auf Sure 27:16, die sich auf König Salomon und die Sprache der Vögel bezieht. Die Fabel erzählt von Vögeln, die sich aufmachen, ihren König, den Simurgh, zu suchen, an den sie nur verschwommene Erinnerungen haben. Die Suche ist schwierig, und der Weg ist ungewiss. Viele Vögel geben die Suche auf. Schließlich kommen 30 Vögel zu Simurghs Palast. Dort stellen sie fest, dass sie selbst der gesuchte Simurgh sind. Simurgh ist das persische Wort für 30 Vögel. Die Reise ist eine Metapher für das Streben der Sufis. Dschalal al-Din Rumi, genannt Maulana (unser Meister), ist der bekannteste SufiDichter. Seine Gedichte sind auch im Westen sehr populär. Sein Leben ist genauso interessant wie seine Gedichte inspirierend sind. Er wurde etwa 1219 im Osten Persiens geboren. Seine Familie floh vor der Bedrohung durch die Mongolen und siedelte sich in der Stadt Konya in Anatolien an. Das Gebiet war einst Teil des Byzantinischen, Oströmischen Reiches und wurde folglich als Rum bezeichnet; daher stammt auch das »Rumi« im Namen des Dichters. Rumi folgte seinem Vater als Lehrer und Sufi-Scheich. Das wichtigste Ereignis in seinem Leben war das Zusammentreffen mit Schams al-Din-i Tabrizi 1244. Rumi wurde von Schams besessen und fand in ihm das Medium, durch das er die göttliche Liebe zu erfahren hoffte. Nach zwei Jahren zog Schams plötzlich weg. Rumi war so deprimiert, dass sein ältester Sohn Schams suchte und zurück nach Konya brachte. Rumis Familie und viele seiner Schüler waren empört und eifersüchtig auf den Einfluss, den Schams auf Rumi ausübte. 1248 verschwand Schams erneut. Wahrscheinlich wurde er ermordet. Rumi schrieb inspirierte Gedichte im Namen Schams’. Der Divan-i Schams-i Tabrizi ist eine Sammlung dieser Gedichte, die reich an Bildern und Symbolen und einfach im Stil sind. Auf Drängen von Husam al-Din Chelebi, einem Schüler, schrieb Rumi sein Meisterwerk, das Mathnawi. Es besteht aus 26.000 Versen und wird oft übertrieben als »der Koran auf Persisch« bezeichnet. Rumi starb 1273. Yunus Emre (13. und 14. Jahrhundert) ist der größte Sufi-Dichter in türkischer Sprache. Seine Gedichte sind reich an plastischen Bildern und erhebend im Ton. Sein Stil ist von traditionellen türkischen Volksliedern beeinflusst. Themen in Yunus’ Poesie ist der Gedanke, die gesamte Schöpfung sei ein dhikr zu Gott, das ständige Streben hin zu Gott, die Liebe zu ihm und das Vergehen des Liebenden in der
Sehnsucht nach ihm.
Gründung der Sufi-Bruderschaften Beständige Sufi-Bruderschaften bildeten sich erst im 12. Jahrhundert. Einige Orden durchdringen die gesamte muslimische Welt, andere sind auf eine Region beschränkt. Im Laufe der Zeit wurde die Führerschaft der meisten Sufi-Orden erblich. Sufi-Orden waren ein treibender Faktor bei der Verbreitung des Islam. In einigen Fällen entwickelten sich aus den Zweigen neue Orden. Im Folgenden finden Sie kurze Beschreibungen der wichtigsten Orden:
Die Qadiriyya, die früheste Sufi-Bruderschaft, ist nach Abd al-Qadir Dschilani (1077–1166) benannt. Al-Dschilani ist der wohl meistverehrte islamische Heilige, obwohl die Qadiriyya erst später von Schülern und nicht von al-Dschilani selbst gegründet wurde. Al-Dschilani war ein hanbalitischer Jurist. Sein Grab in Bagdad wird immer noch von Pilgern besucht. Der Orden, der sich seit dem 15. Jahrhundert zur größten tariqa des Sufismus entwickelte, ist in Südasien, Nord- und Westafrika, Indonesien und Malaysia stark vertreten. Die Rifaiyya (die Heulenden Derwische) wurden von Ahmad Ibn Ali al-Rifai (1106– 1182) im Südirak gegründet und sind ein Ableger des Qadiri-Ordens. Sie verbreiteten sich nach Ägypten, Syrien, in die Türkei, nach Bosnien und in die Region nördlich des Schwarzen Meeres. Neben ihrem lauten dhikr sind die Mitglieder des Ordens für extreme Praktiken berüchtigt, wie Feuerschlucken und Durchstechen der Hände und des Halses. Die Rifaiyya waren der größte Orden, bis sie von der Qadiriyya im 15. Jahrhundert überflügelt wurde. Die Schadhiliyya wurden von Abu al-Hasan al-Schadhili gegründet. Al-Schadhili begann seine Karriere als beliebter Prediger in Tunesien. 1227 veranlasste ihn eine Vision, nach Ägypten zu reisen, wo er seinen Orden gründete. Der Orden, der sich in Arabien, Syrien und Nordafrika verbreitete, kennt kein besonderes dhikr und erlaubt seinen Mitgliedern, ihre weltlichen Berufe weiter auszuüben. Ibn Ata Allah (13. Jahrhundert) ist eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte des Schadhili-Ordens. Sein Hikam (206 Aussprüche) ist einer der beliebtesten Sufi-Texte. Die Suhrawardiyya wurden von Abu al-Nadschib al-Suhrawardi (etwa 1097–1168) und seinem Neffen Abu-Hafs Umar al-Suhrawardi (1135–1244) gegründet. Es handelt sich nicht um denselben Suhrawardi wie Suhrawardi al-maqtul (siehe Kapitel 12). Der Orden ist für seine Lehren und seine nüchterne Form des Sufismus bekannt. Er spielt in Südasien einschließlich Bangladesch eine Rolle. Der Mevlevi-Orden wurde von Rumis Sohn gegründet. Sein Zentrum umschließt
Rumis Grab in Konya. Der Orden, der sich an die Elite der osmanischen Gesellschaft wandte, ist für seinen Sufi-»Tanz« berühmt. 1924 verbot die kemalistische Regierung der Türkei den Mevlevi-Orden als Hemmschuh der Modernisierung. Für Touristen werden weiterhin öffentliche Darbietungen der Tänze veranstaltet. Die Bektaschi leiten ihren Namen von Hadschi Bektasch aus Khorasan ab (13. und 14. Jahrhundert). Er gewann im 15. Jahrhundert als stark zentralisierter Orden an Bedeutung. Sein Oberhaupt lebte in dem Dorf Hacci Bektasch in der heutigen Türkei. Merkmale dieses Ordens sind: eine Gemeinschaftsform, die vielleicht auf christliche Einflüsse zurückgeht, Sympathie für die Schiiten, eine Abschwächung der rituellen Pflichten im Islam. Frauen und Männer sind in diesem Orden gleichgestellt. Ende des 16. Jahrhunderts war der Orden eng mit den Janitscharen verbunden, einer administrativen wie militärischen Eliteeinheit der Osmanen, die vornehmlich aus christlichen Sklaven bestand. Als die Janitscharen 1826 aufgelöst wurden, verfiel der Orden. Die Chistiyya, die von Muinuddin Chisti (1142–1236) als indischer Ableger der Suhrawardi-Tradition gegründet wurden. Chisti wurde in Ajmer nahe Delhi begraben. Der Orden hält sich aus der Politik heraus und zeichnet sich durch extreme Armut aus. Die Mitglieder geben am Ende eines Tages alles weg, was sie übrig haben. Der Orden darf keine Reichtümer ansammeln. Er betont die Hingabe. Bei seinen Sitzungen spielt die Musik eine wichtige Rolle. Die Naqschbandiyya wurden in Zentralasien (Bukhara) von Bahauddin Naqshband (1317–1390) gegründet. Der nüchterne, orthodoxe und konservative Orden, der das schweigende dhikr praktiziert, war immer politisch tätig. Nach der Ausbreitung nach Indien bekämpfte der Orden die seiner Meinung nach laxe Politik früherer Sufi-Orden, die anderen Religionen zu tolerant gegenüberstünden. Der Naqschbandiyya- und einige andere Sufi-Orden spielten eine entscheidende Rolle dabei, den Islam während der Sowjetherrschaft in Zentralasien lebendig zu erhalten, nachdem die ulama (die traditionellen Rechtsgelehrten) des »offiziellen Islam« vom Staat »zwangsverpflichtet« worden waren. Folglich ist der Sufismus in dieser Region sowie in der Türkei, im Kaukasus und in Afghanistan eine sehr lebendige Kraft. Die Badawiyya wurden von Ahmad al-Badawi (1199–1278) gegründet. In Marokko geboren, führte er ein weltliches Leben, bis er im Alter von 30 eine religiöse Erfahrung machte. Er ließ sich schließlich in Tanta im ägyptischen Nildelta nieder. AlBadawi war für seine spirituellen Extreme bekannt – lange Phasen des Fastens oder Schweigens. Das jährliche Geburtstagsfest von al-Badawi, Ägyptens beliebtestem Heiligen, zieht jährlich über 1,5 Millionen Besucher an. Die Kubrawiyya wurden von Nadschmuddin Kubra (1145–1220) in Zentralasien, südlich des Aralsees, gegründet. Von dort breiteten sie sich in die Türkei und nach Indien (besonders Kaschmir) aus. Kubra lehrte, der Mensch sei ein Mikrokosmos der göttlichen Wirklichkeit, und betonte einen Farbsymbolismus und Visionen.
Die Tidschaniyya ein relativ junger Orden, wurden von Abu-l-Abbas Ahmad alTidschani (1737–1815) in Mostaganem (Algerien) gegründet wurde. Er vertritt unter den Sufi-Orden eine einzigartige Position, denn er behauptet, die einzig zulässige Form des Sufismus zu sein. Der Orden ist in Westafrika sowie in Marokko und Algerien bedeutend. In einigen Teilen Westafrikas unterstützte er antikoloniale Bewegungen. Ähnliches galt im 19. Jahrhundert für den Sufi-Orden der Sanusiyya, die den Weg zur Gründung des modernen Libyen ebneten.
Die Ablehnung des Sufismus Trotz bemerkenswerter Ausnahmen hat die Bedeutung des Sufismus im Islam in den letzten Jahrhunderten abgenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Einige Orden konzentrierten sich zu stark auf den Personenkult ihres Scheichs. Techniken zur Erzeugung ekstatischer Erfahrungen führten zum Missbrauch. Einige Sufi-Orden und Scheichs produzierten Islam-widrig magische Amulette und Zaubersprüche für eine abergläubige Kundschaft. Andere Gruppen vernachlässigten die rituellen Anforderungen des Islam so sehr, dass sie Praktiken ausübten, die im Islam als unmoralisch erachtet werden. Wohlhabende aus der Oberschicht, oft die Familien, die das erbliche Scheichtum der Orden innehatten, beuteten die Gutgläubigkeit ihrer armen Klientel aus, um ihren Wohlstand und ihr Prestige zu erhalten. der große politisch-religiöse Einfluss der Bruderschaften, der den jeweiligen Regimen gefährlich wurde Manche Länder haben daher den Sufismus entweder gänzlich verboten (Türkei) oder versuchten, ihn einzuschränken und zu kontrollieren (Ägypten). Die sittenstrenge Wahhabiten-Bewegung in Saudi-Arabien bemüht sich um Reinigung des weltweiten Islam von ihrer Meinung nach unorthodoxen Praktiken, etwa Heiligenverehrung oder Sufismus. Wahhabiten und ihnen Gleichgesinnte wie die Muslimbruderschaft betrachteten jede rituelle Praxis als unrechtmäßig, die nicht ausdrücklich im Koran vorgeschrieben oder von den Gefährten des Propheten beachtet wurde. Sie lehnen jeden Versuch einer Vereinigung mit Gott ab und betrachten Ibn Arabi und seine Schule als vom Islam abgefallene Pantheisten. Einige Leute behaupten, der Sufismus habe im Islam keine Zukunft; aber derartige Vorhersagen könnten verfrüht sein. Die intensiven religiösen Bedürfnisse, auf die der Sufismus Antworten zu geben verspricht, sind immer vorhanden. Vor ein oder zwei
Generationen betrachteten viele westliche Gelehrte alle Religionen als eine Form des Aberglaubens, der in der modernen Welt dem Verfall preisgegeben sei. Ende des 20. Jahrhundert erwiesen sich solche Vorhersagen als widerlegt. Überall auf der Welt zeigen Religionen Vitalität und neues Wachstum. Man kann nur abwarten und beobachten, welche Zukunft dem Sufismus im Islam beschieden sein wird.
Kapitel 14
Weniger bekannte Sekten im muslimischen Spektrum IN DIESEM KAPITEL Einige Formen des Siebener-Islam (Ismailiten) Andere muslimische Sekten Vom Islam abgespaltene, neue Religionen
Jede Darstellung des Islam muss irgendwo anfangen. Da die Sunniten etwa 90 Prozent der Muslime ausmachen, ist es naheliegend, mit ihnen zu beginnen und ihnen den meisten Platz einzuräumen. Einführungen enthalten oft auch ein Kapitel über die Zwölferschia, die bei Weitem größte schiitische Gruppe (siehe Kapitel 12). Im Islam haben sich jedoch auch einige andere faszinierende religiöse Sekten entwickelt. Wenn man sich mit dem römischen Katholizismus, den sogenannten Ostkirchen, dem orthodoxen Christentum sowie den wichtigsten protestantischen Glaubensgemeinschaften beschäftigt, kann man ein recht gutes Bild von der christlichen Welt bekommen. Verglichen mit einer Reise, entspräche dies einer Fahrt auf der Autobahn ohne Abstecher ins Hinterland. So wie man dadurch zahlreiche interessante Sehenswürdigkeiten verpasst, bleiben bei einer Beschränkung auf diese christlichen Hauptgruppen viele faszinierende Facetten des Christentums unentdeckt: Zeugen Jehovas, Kopten, Mormonen, Shaker, Unitarier, Altkatholiken und andere. Ähnlich kann man den Buddhismus verstehen, wenn man sich auf die Hauptströmungen des Theravada- und Mahayana-Buddhismus beschränkt. Doch man verpasst vieles, wenn man den tibetischen Buddhismus (Vayrayana) und einige neuere buddhistische Strömungen in Japan (zum Beispiel den Zenbuddhismus) auslässt. Mehrere der weniger bekannten islamischen Sekten gehören zum zweitgrößten Zweig der Schiiten, den Ismailiten. (Die drei Hauptzweige der Schia werden in der Einführung von Kapitel 12 genannt.) Die Ursprünge einiger Gruppen sind unklar. Sie können Elemente anderer Religionen umfassen. Abbildung 14.1 zeigt einen Stammbaum der verschiedenen islamischen Gruppen. Einige dieser Sekten werden von den meisten Muslimen (ja nicht einmal von ihren Mitgliedern) nicht mehr als islamisch betrachtet. Andere gelten zwar
noch als islamisch, haben aber Praktiken und Lehren, die von den meisten Muslimen abgelehnt werden. Ich bezeichne die diversen Gruppen in diesem Kapitel häufig mit dem Terminus Sekte, den Religionsgelehrte generell für kleinere Gruppen innerhalb einer Religion verwenden, ohne diese Gruppen damit abwerten zu wollen.
Abbildung 14.1: Stammbaum der verschiedenen islamischen Sekten
Ibaditen Die Ibaditen (etwa ein bis zwei Millionen) sind die Nachkommen der frühen Kharidschiten, einer sittenstrengen politisch-religiösen Bewegung. Der Name ist von einem frühen Führer namens Abd Allah Ibn Ibad abgeleitet. Die Gruppe spaltete sich etwa 685 von radikalen Kharidschiten-Gruppen ab. Die Ibaditen wählen geheim einen eigenen Imam und betrachten die Abwesenheit eines Imams als Zustand der Unordnung. Wie die frühen Mu'taziliten und im Gegensatz zu den meisten Muslimen glauben die Ibaditen, dass der Koran erschaffen wurde und nicht schon ewig existiert. Die ibaditische Rechtsschule ähnelt der malikitischen Schule der Sunniten (siehe Kapitel 8). Das Zentrum der Ibaditen befand sich ursprünglich in Basra im Irak. Zeitweilig kontrollierten Ibaditen Südalgerien und das westliche Libyen sowie Oman und Sansibar. Einige der ersten muslimischen Missionare im subsaharischen Westafrika waren Ibaditen. Die größte Ibaditen-Gemeinschaft befindet sich heute in Oman, wo über 75 Prozent der Bevölkerung Ibaditen sind. Kleine, isolierte Ibaditen-Gemeinschaften haben als Mozabiten Algerien, (dem Mzab) Tunesien, Libyen sowie auf Sansibar und in Ostafrika überlebt. Heute unterscheiden sich die Ibaditen kaum von sunnitischen Muslimen. Der ursprüngliche sittenstrengen Anspruch ihrer Vorfahren hat sich im Laufe der Zeit abgeschliffen. Die Ibaditen werden von anderen Muslimen als Mitglieder der muslimischen Gemeinde akzeptiert.
Zaiditen (oder Fünferschiiten) Während andere Schiiten glauben, der Imam müsse ein Nachkomme Alis und Fatimas sein, hat nach Auffassung der Zaiditen jeder Nachkomme Alis die Fähigkeit, die Gemeinschaft spirituell zu führen. Nach dem Tod des vierten schiitischen Imams 713 ging die Nachfolge auf seinen ältesten Sohn Mohammed al-Baqir über. Einige Schiiten betrachteten al-Baqir und seinen Vater im Umgang mit den Omayyaden-Kalifen als zu kompromissbereit und akzeptierten Zaid, einen jüngeren Halbbruder al-Baqirs als fünften Imam. Zaid scheiterte mit einer Revolte gegen die Omayyaden. Danach zogen sich die Zaiditen in die Berge des Jemen und in ein Gebiet an der Südküste des Kaspischen Meeres zurück. Die Zaiditen beherrschten den Jemen vom 10. Jahrhundert bis 1962. Außerdem kontrollierte von 864 bis 1126 immer wieder ein Zaiditen-Staat das Gebiet südlich und südwestlich des Kaspischen Meeres. Heute leben die meisten der schätzungsweise 18 Millionen Zaiditen im Jemen, wo sie mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Abgesehen von ihrem Glauben, der Imam müsse ein Nachkomme Alis sein, unterscheiden sich die Zaiditen kaum von den sunnitischen Muslimen. Die Zaiditen akzeptieren Abu Bakr und Umar als rechtmäßige Kalifen, sind sich aber über Uthman uneins (siehe Kapitel 2). Die Zaiditen legen sich nicht auf eine Folge rechtmäßiger Imame fest. Sie glauben
nicht, es müsse immer einen lebenden Imam geben. Auch die Vorstellung eines verborgenen Imams lehnen sie ab. Die Zaiditen haben eine eigene Rechtsschule und wurden wie die Ibaditen von den Theologen der frühen Mu'taziliten beeinflusst. Andere Muslime erkennen die Zaiditen als rechtmäßige Form des Islam an.
Ismailitische Gruppen (oder Siebenerschiiten) Dschafar al-Sadiq, der sechste schiitische Imam (699–765), hatte einen Sohn, Ismail, der vor seinem Vater starb. Der größere Teil der Schiiten akzeptierte Dschafars lebenden Sohn Musa als siebten Imam. Doch einige glaubten, Dschafar habe Ismail zum Nachfolger designiert. Für sie war Ismail der siebte Imam und sein Sohn Mohammed der achte. Diese Ismailiten oder Siebenerschiiten glaubten, Mohammed (der achte Imam, nicht der Prophet) sei nicht gestorben, sondern habe sich vor seinen sunnitischen Feinden verborgen, die ihn ermorden wollten. Im 9. Jahrhundert war der ismailitische Schiismus eine revolutionäre Bewegung, die Missionare in die ganze muslimische Welt aussandte, um ihre Botschaft zu verbreiten. Falls erforderlich, praktizierten die Ismailiten Verstellung (taqiyya), verbargen also ihre Glaubenssätze und Identität. Ähnlich wie einige Sufis betonten die Ismailiten eine esoterische anstelle einer wörtlichen Auslegung des Koran. Von vielen orthodoxen Muslimen werden sie als Häretiker betrachtet.
Ismailitische Theologie Die Ismailiten glauben, die Geschichte durchliefe sieben Zyklen. Jeder Zyklus beginne mit einer Periode, in der das Gute überwiegt und Gesetze überflüssig sind. In der zweiten Periode werde die Welt korrumpiert. In der dritten Periode werde eine Offenbarung gesandt, um die Ordnung wiederherzustellen. In dieser dritten Periode werde das Recht durch die externe Bedeutung der Heiligen Schrift repräsentiert. Die innere Bedeutung der Heiligen Schrift werde nur dem Imam enthüllt. Mit der Ankunft Ismails (der auch als der Mahdi angesehen wird) beginne die erste Periode des letzten Zyklus, in der die verborgene Bedeutung der Schrift jetzt öffentlich wird und keine Gesetze erforderlich seien. Der Zyklus dauere so lange, bis alle Seelen aus der Gefangenschaft in der Materie befreit und zu der universellen Seele zurückgekehrt seien.
Qarmatiner Die Qarmatiner waren eine wichtige Gruppe der frühen Ismailiten. Ihr Name leitet sich von Hamdan Qarmati ab, einem ismailitischen Missionar, der im späten 9. Jahrhundert im Irak wirkte. Die Qarmatiner griffen die Abbasiden und andere Gruppen im Kernland der Abbasiden an. Diese revolutionäre, messianische Bewegung gegen das wohlhabende Establishment wurde von armen Bauern und Beduinen unterstützt. 930 eroberten sie Mekka und brachten den Schwarzen Stein (der Kaaba) in ihre Festung in Bahrain; doch 951 gaben sie den Stein zurück. Bis 1076 gab es in Ostarabien und in Bahrain einen Staat
der Qarmatiner. Er bildete eine einzigartige, islamisch-sozialistische, egalitäre Gemeinschaft. Im 14. Jahrhundert waren die Qarmatiner bereits untergegangen; sie bleiben aber wichtig, um die ismailitische Unterströmung der Schia zu verstehen.
Nizaris Die Nizaris bilden mit den indischen Bohras die beiden heute noch existierenden Hauptzweige der ismailitischen Schia. Beide haben mehrere Unterzweige:
Von den Fatimiden zu den Assassinen Als al-Mustansir, der Fatimiden-Kalif von Ägypten, 1094 starb, ließ sein Wesir alMustansirs älteren Sohn Nizar ins Gefängnis werfen, wo dieser starb, und setzte den jüngeren Sohn, al-Mustali, als Herrscher ein. Viele Ismailiten außerhalb Ägyptens akzeptierten diese Manipulation der Nachfolge nicht und betrachteten Nizar als den rechtmäßigen Kalifen und Imam. Hasan al-Sabbah war der eigentliche Gründer der Nizaris. Er rebellierte gegen die Abbasiden und errichtete vom nördlichen Syrien bis zum nordöstlichen Iran militärische Stützpunkte. Sein Hauptquartier war Alamut im Elbrusgebirge im nördlichen Iran. Seine Nachfolger behaupteten, Nachkommen Nizars zu sein und so in der Linie der ismailitischen Nachfolge zu stehen. Die Mongolen eroberten Alamut 1256. Zurück blieben nur noch verstreute Gruppen der Nizaris im Iran, in Zentralasien, in Syrien und im Jemen. Christliche Kreuzfahrer bezeichneten die Nizaris als haschischiyun (Haschischsüchtige). Daraus entstand das englische und französische Wort assassin (Attentäter), weil die Nizaris ihren politischen Kampf auch durch gezielte Attentate auf ihre politischen Gegner wie Nizam al-Mulk führten.
Von den Assassinen zu Aga Khan 1817 heiratete der Nizari-Imam Abu-l-Hasan Ali die Tochter des Schahs von Persien, der ihm den Ehrentitel Aga Khan (»Herr und Meister«) verlieh. Nach Zerwürfnissen mit dem Schah ging der Aga Khan 1841 erst nach Afghanistan und ließ sich dann 1848 in Bombay in Indien nieder. Nizari-Missionare waren im 12. Jahrhundert nach Indien gekommen und hatten bis zum 15. Jahrhundert zahlreiche Hindus zum Islam bekehrt. Diese Muslime wurden als Khodschas bezeichnet. Der Khodscha-Islam war eine mutierte Form des Islam, in dem Ali als der zehnte Avatar (Inkarnation) des Hindu-Gottes Vishnu angesehen wurde. Britische Kolonialgerichte bestätigten 1886 den Anspruch des Aga Khan auf Führerschaft der Khodscha-Gemeinschaft. Obwohl ihre Mehrheit die Führerschaft des Aga Khan akzeptierte, hatten sich einige der Zwölferschia angenähert; auch eine Minderheit der Khodschas erkannte den Aga Kahn nicht an. Indische Khodscha-Händler, die im 19. und 20. Jahrhundert nach Ostafrika auswanderten, gründeten dort eine bedeutende ismailitische Gemeinschaft. Der dritte Aga Khan (1885–1957) begann ein
Programm der Modernisierung der Nizari-Gemeinschaft. Er investierte in Schulen, Krankenhäuser und Wohnmöglichkeiten und verbesserte den Status der Frauen. Sein Enkel Karim, der vierte Aga Khan (der an der Harvard University studierte), setzte dieses Programm fort. Er ist der 49. Imam in einer Abstammungsreihe, die mit Ali beginnt. In jüngerer Zeit reformierten Karim Aga Khan und sein Vater die Khodscha-/Nizari-Sekte so, dass sie etwas stärker mit dem islamischen Glauben und der Schia übereinstimmen. Die Khodscha-Nizaris leben heute in Indien, Pakistan, Sri Lanka, Burma und Ostafrika. Andere Gemeinschaften, die die Autorität des Aga Khan anerkennen, gibt es in Arabien, Afghanistan, Iran, Syrien und Zentralasien. Die Nizaris haben knapp 20 Millionen Anhänger.
Mustaliden, Tayibiden und Bohras sind – fast – gleich Nach der Abspaltung der Nizaris setzte sich die hauptsächliche Fatimiden-Linie (die Mustaliden) fort bis zu einer zweiten größeren Abspaltung beim Tod des Kalifen al-Amir 1130. Die Linie der Fatimiden-Herrschaft wurde irregulär mit einem Cousin von al-Amir fortgesetzt. Diese Mustaliden-Linie endete mit der Eroberung des fatimidischen Ägypten durch Saladin 1171. Eine Reihe ismailitischer Fatimiden außerhalb Ägyptens lehnten diese Entscheidung über die Nachfolge des Kalifen al-Amir ab. Sie betrachteten seinen minderjährigen Sohn al-Tayyib als den rechtmäßigen Herrscher. Al-Tayyib soll sich auf der Erde oder im Himmel verbergen. Bis zu seiner Rückkehr wird er durch eine Person, den da'i Mutlaq (den uneingeschränkten Rufer), auf Erden repräsentiert. Die MustaliIsmailiten (manchmal auch Tayibiden genannt) hatten ihr Zentrum im Jemen. Im 12. Jahrhundert begannen Mustali-Missionare in Indien, die Hindu-Bevölkerung zu ihrer Version des Islam zu bekehren. 1556 wurde das Hauptquartier der Bewegung nach Indien verlegt: Diese indische Mustalis wurden nach der Händlerkaste, der die meisten entstammten, als Bohras (Kaufleute) bezeichnet. Viele Bohras sind tatsächlich Kaufleute. 1591 spaltete sich die Strömung wegen eines Nachfolgestreits über die da'i-Position in zwei Gruppen, die jeweils nach ihrem Gründer benannt wurden. Heute leben über 70.000 Sulaimaniden im Jemen, weitere 4.000 in Westindien. Die Daudis umfassen über eine Million Anhänger. Ein Großteil davon in Indien, andere Gruppen leben in Pakistan, Burma, Ostafrika, im Jemen und auf Sri Lanka. Die Theologie und Praxis der Tayibiten/Bohras/Mustaliden lehnte sich eng an die der fatimidischen Ismailiten an. Die Daudis beachten sieben Säulen, einschließlich des Gebetes, des zakat (Armensteuer), des Fastens (saum) während des Ramadan, des Hadsch, des Dschihad und der Reinheit. Ihre erste Säule ist eine Erweiterung der traditionellen ersten Säule und umfasst die Liebe Gottes, der Propheten, der Imame und des da'i. Die Daudi-Bohras erneuern jährlich ihren Treueeid auf den gegenwärtigen da'i. Bohras betrachten sich als Muslime.
An den Grenzen des Islam und darüber
hinaus Die ismailitischen Gruppen, die in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben wurden, befinden sich nach allgemeiner Auffassung innerhalb der Grenzen des Islam, auch wenn sie einige einzigartige Glaubenssätze und Praktiken vertreten. Andere Sekten, die im schiitischen Kontext entstanden sind, werden jedoch von den meisten Muslimen nicht mehr als Gruppen des Islam akzeptiert; einige davon betrachten sich selbst nicht mehr als Muslime.
Drusen Ubaidallah al-Mahdi, ein ismailitischer Missionar, der im 10. Jahrhundert in Tunesien wirkte, behauptete, von Ismail abzustammen und der Mahdi zu sein. Er gründete die Fatimiden-Dynastie, die eine Zeit lang mit dem Abbasiden-Reich (siehe Kapitel 2) konkurrierte. Der sechste Fatimiden-Imam, al-Hakim, war eine geheimnisvolle Persönlichkeit. Beeinflusst von einem Türken namens al-Darazi (nach dem die Religion benannt ist) und einem Iraner namens al-Hamza, war er überzeugt, eine Inkarnation Gottes zu sein. AlDarazi sandte Missionare in den heutigen Libanon, um seine Lehren über al-Hakim zu verbreiten. Al-Hakim verschwand 1020. Die Drusen glauben, er habe sich verborgen. Drusen-Gemeinschaften wurden im Südwesten Syriens, im südlichen Zentrallibanon und in der galiläischen Region des heutigen Israel gegründet. Um das Jahr 1040 schlossen sich die Drusen nach außen ab und nahmen keine Konvertiten mehr auf. Innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft hielten sie ihren Glauben geheim (taqiyya). Eine Elitegruppe (uqqal, die Wissenden), die den verborgenen al-Hakim repräsentiert, führt die Gemeinschaft und übermittelt esoterische Lehren. Die Elite trägt spezielle Kleidung und befolgt strengere Lebensregeln. Die Mehrheit der Gemeinschaft besteht aus den Unwissenden (dschuhhal), die wie die Mitglieder der Elitegruppe nach Wiedergeburt streben. Al-Hakim war der ägyptische Kalif, der Kairo niederbrannte und die Kirche des Heiligen Grabes (den Ort der Kreuzigung und des Begräbnisses Jesu) in Jerusalem zerstörte. Die Drusen spielen die Bedeutung des islamischen Ritus herunter. Sie verrichten die fünf täglichen Gebete nicht, beachten das Fasten (saum) im Ramadan nicht und machen keine Wallfahrt nach Mekka. Sie feiern lediglich das id al-adha (Opferfest). Drusen treffen sich am Donnerstagabend, nicht am Freitag, an einfachen Orten zu Lesungen der Schriften, zum Gebet und zur gemeinschaftlichen Diskussion; sie stehen dem islamischen Recht entspannt gegenüber. Gräber verstorbener Drusen-Heiliger sind heilige Stätten. Das Hauptsymbol der Drusen ist ein fünfstrahliger Stern. Sie nennen sich selbst Banu al-
Maruf (Söhne des Wissens) und ihre Religion Muwahhid (Einheitsbekenner). Die Drusen bilden im Libanon ein wichtige ethnische, politische und religiöse Gruppe. Um ihre Abgeschiedenheit und Unabhängigkeit zu bewahren, haben sie sich oft blutige Gefechte mit fremden Autoritäten der Region (den osmanischen Türken) und anderen lokalen Gruppen (den maronitischen Christen) geliefert. Sie haben sogar in der israelischen Armee gedient. Nach jüngeren Schätzungen gibt es zwischen 750.000 und 1.000.000 Drusen, einschließlich der Emigranten in den Vereinigten Staaten. Weil die Drusen al-Hakim als vollständigere Offenbarung Gottes als die Offenbarung durch Mohammed betrachten, werden sie von Muslimen normalerweise nicht als Muslime anerkannt. Einige Gelehrte führen die Freimaurerei auf Kontakte christlicher Kreuzfahrer mit den Drusen zurück. Sie sagen, das Symbol des Freimaurerordens »Order of the Eastern Star« (www.easternstar.org) könnte auf den Drusenstern zurückgeführt werden.
Die Theologie der Drusen Drusen lehren eine von den Neuplatonikern beeinflusste Theologie. Al-Hakim gilt als Manifestation der universellen Intelligenz auf kosmischer Ebene. Jeder Strahl des Drusensterns repräsentiert eine der Schlüsselpersonen der frühen Geschichte der Drusen und eine Manifestation der universellen Intelligenz. Das »Buch der Weisen« der Drusen enthält die Schriften al-Hamzas und al-Muqtanas, späteren Führern. Sieben Gebote ersetzen die traditionellen fünf Säulen des Islam. Ein Beispiel: Unterwerfe dich unter Gottes Willen, der in al-Hakim verkörpert ist. Seelen werden sofort wiedergeboren, die Anzahl der lebenden Drusen bleibt somit konstant. Am Ende der Zeit wird al-Hakim zurückkehren, um Frieden und Gerechtigkeit herzustellen.
Alawiten (Nusairier) Alawiten ist der moderne Name dieser Gruppe, die über eine Million Anhänger umfasst und ihr Zentrum im Norden Syriens hat. 10 Prozent der Bevölkerung Syriens sind Alawiten. Der Name Alawiten drückt aus, dass Ali ein fast göttlicher Status zugeschrieben wird. Mainstream-Zwölferschiiten betrachten diese außerordentliche Erhöhung Alis als ghulat (Übertreiber). Die Alawiten stammen von den Zwölfern ab und wurden wahrscheinlich von Ismailiten und nichtmuslimischen religiösen Gruppen beeinflusst. Der traditionelle Name Nusairier geht auf ihren Gründer Abu Shuayb Mohammed Ibn Nusair (9. Jahrhundert) zurück. Nusair war ein Gefährte des zehnten Imams, dem er Göttlichkeit zuschrieb. In Syrien entstanden oft Konflikte zwischen Nizari-Ismailiten und Alawiten. Die Alawiten wurden unterdrückt oder toleriert, je nachdem welcher muslimische Staat gerade die Region beherrschte. Viele Alawiten dienten in militärischen Einheiten, die von den Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg aufgestellt wurden. Im modernen, unabhängigen Syrien gewannen sie die Kontrolle über die Armee. Hafiz al-Asad, der 1970 die Führung
der syrischen Regierung und der arabisch-sozialistischen Bath-Partei übernahm, war Alawit. Gleiches gilt für die meisten hochrangigen Regierungsbeamten und Armeeoffiziere. 2000 folgte Bashar al-Asad seinem Vater als Staatsoberhaupt. Seit Beginn der 1970er-Jahre haben sich die Alawiten der Zwölferschia öffentlich angenähert. Traditionell galten die Alawiten wie die Drusen als Ketzer, die vom Islam abgewichen waren. Doch 1973 erließ der führende Zwölferschiiten-Kleriker des Libanon, Musa Sadr, eine fatwa (Rechtsgutachten), welche die Alawiten als Schiiten anerkannte. In der Vergangenheit schenkten die Alawiten den islamischen Riten (Fasten, Gebet und Reinigung) wenig Beachtung und hielten sich eher an christliche Feste wie Weihnachten, Epiphanie und Pfingsten. Der christliche Einfluss kann wahrscheinlich auf Kontakte während der Kreuzzüge zurückgeführt werden. Die traditionelle Theologie der Alawiten betont die Triade von Ali (als mana, »die wahre Bedeutung Gottes«), Mohammed und Salman al-Farisi (als Tor, das als Vermittler zwischen Gläubigen und der Manifestation Gottes wirkt). Salman al-Farisi war der Finanzminister Mohammeds.
Aleviten Einige Leute glauben, Aleviten und Alawiten seien dasselbe. Trotz der Ähnlichkeit der Namen und der geografischen Nähe beider Gruppen sind Aleviten und Alawiten aber dennoch verschieden. Die Aleviten sind eine türkische ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die sich in Zentralanatolien und in der Südosttürkei konzentriert. Die Aleviten machen etwa 15 bis 30 Prozent der türkischen Bevölkerung aus (zwischen sechs und 15 Millionen). Alevitische Organisationen sind unter türkischen Emigranten, insbesondere bei den Gastarbeitern in Deutschland, aktiv. Etwa 25 Prozent der türkischen Kurden sind ebenfalls Aleviten. Es gibt noch einen verkomplizierenden Faktor, eine Überlappung der Aleviten und des Sufi-Ordens der Bektaschi (siehe Kapitel 2 und 13). Der Bektaschi-Orden ist jedoch nicht auf die Aleviten oder die Türkei beschränkt. Jeder kann dem Sufi-Orden beitreten, aber in die Aleviten-Gemeinschaft wird man hineingeboren. Die Aleviten messen den traditionellen muslimischen Riten (Gebete, Hadsch oder Fasten im Ramadan und das Betreiben von Moscheen) wenig Bedeutung bei. Sie sagen, der wahre Hadsch sei der Hadsch des Herzens, nicht eine sture Befolgung äußerlicher Rituale. Sie fasten nicht im Ramadan, sondern während der ersten zwölf Tage des Muharram (des ersten Monats), um der zwölf Imame zu gedenken. Wie bei den Aleviten scheinen die Riten der Alawiten durch den Kontakt mit anderen Religionen beeinflusst worden zu sein. Die Aleviten feiern ebenfalls im August das Fest von Hadschi Bektasch Veli, des Gründers des Sufi-Ordens der Bektaschi. Der Cem ist das jährliche religiöse Hauptfest der Aleviten. Bis vor Kurzem wurde
es nachts und im Geheimen gefeiert. Der Cem feiert die Himmelsreise Mohammeds (miradsch) und ist ein Andenken an das Leiden Husseins und an die zwölf Imame. Es umfasst ein Opfermahl mit alkoholischen Getränken, das Singen von Hymnen, Tanzen und Anzünden von Kerzen. Männer und Frauen (stets ohne Kopftuch) feiern zusammen. Der Versammlungsort der Aleviten wird Cemevi genannt. Die Aleviten hatten ein ambivalentes Verhältnis zu dem modernen türkischen Staat. Da sie von den Osmanen unterdrückt wurden, waren sie begeisterte Anhänger von Atatürk, dem Vater der modernen Türkei. Der laizistische Staat bot den Aleviten größere religiöse und kulturelle Freiheit und entscheidenden Einfluss auf die türkischen Streitkräfte. So sind heute viele Generale Aleviten. Aus Furcht vor Wiedererwachen des Islam in der Türkei schlossen sich außerdem viele junge Aleviten linksgerichteten politischen Parteien an. Die Sunniten misstrauen im Allgemeinen den Aleviten. Die Anstrengungen der modernen Türkei, eine einheitliche türkische Identität zu schaffen, widersprachen den Wünschen der Aleviten und Kurden, die ihre eigene Kultur bewahren wollen. In den 1980er-Jahren begann die Regierung, den Islam wieder – kontrolliert – zu unterstützen. Als Reaktion darauf begannen die Aleviten, ihre eigene religiöse und kulturelle Identität offen zu propagieren. Sie behaupteten, die wahren Muslime, die wahren Türken und die wahren Anatolier zu sein, während die Sunna nur eine legalistische, arabische Variante des Islam darstelle.
Ahmadiyya In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verkündete in Qadian (heute Pakistan) ein indischer Muslim namens Mirza Ghulam Ahmad (1835–1908), ein Erneuerer des Islam (mudschaddid) sowie gleichzeitig die zweite Wiederkunft Jesu, der islamische Mahdi, und der letzte Avatar des Hindu-Gottes Vishnu zu sein. Jesus, so sagte er, sei nicht am Kreuz gestorben und auch nicht in den Himmel aufgefahren, wie die Muslime behaupten. Stattdessen sei er nach Indien gezogen; dort sei er 120 Jahre alt geworden und in Srinagar begraben worden. Die Bewegung, die Ahmad begründete, heißt Ahmadiyya. In Nordafrika gibt es einen Sufi-Orden der Ahmadiyya, genannt nach Scheich Ahmad von Mostaganem, der nichts mit dieser indischen Bewegung zu tun hat. Nach Ahmads Tod wählte ein Rat einen Nachfolger, der als der »Vizekönig des Messias« (khalifa al-Masih) bezeichnet wurde. Es gab vier Vizekönige, drei davon Nachkommen Ahmads. Der Tod des ersten Nachfolgers führte zu einer Spaltung der Gruppe. Die Lahoriten (nach ihrem Hauptsitz in Lahore benannt) glaubten, die Bewegung sollte kollektiv geführt werden. Sie glaubten auch, Ahmad sei nur ein Erneuerer gewesen. Dadurch, dass sie ihn nicht als Propheten betrachteten, blieben sie näher beim orthodoxen Islam. Die andere Gruppe, die Qadianis (nach dem Geburtsort Ahmads), glaubten, Ahmad sei
ein Prophet gewesen. Wegen dieser Behauptung betrachten die meisten Muslime die Ahmadiyya nicht als Muslime. In Pakistan wurde die Gruppe 1984 verboten. Dagegen betrachteten sich die Qadianis als die einzig wahren Muslime. Beide Ahmadiyya-Gruppen führten ein erfolgreiches missionarisches Programm in Westafrika, Europa, Nord- und Südamerika und in Süd- und Südostasien durch. In Deutschland ist Frankfurt ihr Hauptsitz. Heute sollen sie über zehn Millionen Anhänger haben. Ein Teil ihres Erfolgs ist auf ihre gute Organisation zurückzuführen. Die Ahmadiyya richtete Krankenhäuser und Schulen ein und betreibt Verlage in verschiedenen Sprachen einschließlich Englisch und Deutsch (Verlag Der Islam, www.ahmadiyya.de). Sie erstellten die erste Übersetzung des Koran in Swahili, der verbreitetsten Sprache in Ostafrika. Ihre Koranübersetzung ins Englische von Muhammad Ali und ihre darauf beruhende deutsche Übersetzung sind für orthodoxe Muslime nur wegen der beigefügten Fußnotenkommentierung unbrauchbar. Sie heiraten ausschließlich untereinander und halten die Geschlechtertrennung streng ein. Organisatorisch kann man sie eindeutig als Sekte bezeichnen. Sie finanzieren sich hauptsächlich durch Pflichtabgaben ihrer Mitglieder.
Teil V
Abrahamitische Religionen und der Islam
IN DIESEM TEIL … In diesem Teil wird der lebhafte Dialog beschrieben, der während der vergangenen 50 Jahre zwischen Muslimen, Christen und Juden stattfand. Muslime haben für ihre Auffassung, Judentum, Christentum und Islam gehörten zu einer Familie, verehrten denselben Gott und besäßen verwandte Schriften, zwei besondere Ausdrücke: Leute des Buches und abrahamitische Religionen. Zunächst beschreibe ich, warum Muslime glauben, sie seien religiös mit Christen und Juden verwandt. Dabei konzentriere ich mich auf die biblischen Personen, einschließlich Jesus, die eine wichtige Rolle im Islam spielen. Danach beschreibe ich, was Christen und Muslime übereinander gedacht haben und welche Stellung Christen in muslimischen Ländern einnehmen. Muslime haben unterschiedlich auf die politische und ökonomische Macht des Westens und die galoppierende Globalisierung reagiert.
Kapitel 15
Die Suche nach gemeinsamen Wurzeln: Abrahamitische Religionen IN DIESEM KAPITEL Der Stammbaum der abrahamitischen Religionen Die koranische Version der Bibel Mohammed in der Bibel Begegnungen mit Anhängern anderer Religionen
Die Anhänger des Islam, des Judentums und des Christentums machen zusammen fast 50 Prozent der Weltbevölkerung aus. In diesem Kapitel beschreibe ich, warum die drei Religionen ähnlich wie Hinduismus, Buddhismus und Jainismus als Mitglieder einer Familie betrachtet werden. Die Gemeinsamkeiten von Islam, Judentum und Christentum werden anhand biblischer Geschichten erläutert, für die es im Koran Entsprechungen gibt. Schließlich wird in diesem Kapitel die muslimische Ansicht erläutert, die Bibel prophezeie das Kommen Mohammeds.
Mitglieder einer Familie Die Familienzugehörigkeit von Judentum, Islam und Christentum gründet sich auf drei Aspekten: ein gemeinsamer Gott, gemeinsame Vorfahren und verwandte Schriften.
Anerkennung derselben Herkunft Abraham ist der gemeinsame Vorfahre der Juden, Christen und Muslime. Haggar ist die Mutter von Abrahams ersten Sohn Ismael, auf den alle Araber ihre Abstammung zurückführen. Abraham und Sarah hatten einen Sohn: Isaak. Isaaks Sohn Jakob/Israel ist Vater von zwölf Söhnen, von denen die zwölf Stämme Israels ausgehen. Das Neue Testament führt den Stammbaum Jesu auf König David und noch weiter auf Abraham (und Adam) zurück. Einen Überblick über den Stammbaum der abrahamitischen Religionen bietet Abbildung 15.1.
Verehrung desselben Gottes
Alle drei Religionen verehren denselben Gott, auch wenn heute einige Christen den muslimischen Gott nicht mit dem christlichen Gott identifizieren. Als Paulus, der Jude, zum Christentum übertrat, glaubte er nicht, er würde nun einen anderen Gott verehren. Stattdessen hatte er ein anderes Verständnis des Gottes gewonnen, den er schon immer verehrt hatte. Wenn heute ein Anhänger einer der drei abrahamitischen Religionen zu einer anderen Religion in dieser Familie konvertiert, betrachtet er dies als Religionswechsel, aber nicht als Wechsel seines Gottes. Doch wenn ein Heide zum Islam, Christentum oder Judentum konvertiert, ändert er sowohl seine Religion als auch seinen Gott.
Abbildung 15.1: Stammbaum der abrahamitischen Religionen
Für Muslime war Abraham weder Jude noch Christ (Sure 3:67), sondern der erste Monotheist und deshalb der erste Muslim im Sinne einer Person, die sich dem einzigen wahren Gott unterwirft. Für Muslime sind gläubige Christen und Juden im Kern Muslime, soweit sie sich dem alleinigen Gott unterwerfen. Gott schloss mit Abraham, Isaak und Jakob einen Bund, der seine endgültige Form in dem Bund fand, der von Moses am Berg Sinai vermittelt wurde. Gott machte auch Ismael Versprechen (Genesis 17:20), obwohl bei Muslimen nicht von einem Bund gesprochen wird. (Muslime halten die Annahme, dass Gott mit Menschen in ein Vertragsverhältnis treten könnte, für blasphemisch.) Christen verstehen sich als die spirituellen Kinder Abrahams und als Erben des Bundes, den Gott mit Abraham schloss (Genesis 15; Galater 3:6). Der Koran sagt, Gott habe von den Kindern Israels (Sure 5:12), den Christen (Sure 5:14) und den Muslimen (Sure 5:7) Versprechen entgegengenommen. Für den Islam liegt all dem eine implizite Zusage Gottes zugrunde, die zu Zeiten Adams gemacht wurde (Sure 7:172). Das wesentliche Element dabei ist die Anerkennung des einen Gottes. Dieser Gott ist die einzige ultimative Wirklichkeit, der Schöpfer der Welt, der Herr der Geschichte, der den Gläubigen Gebote auferlegt und der den Tag des Gerichts und der Auferstehung kommen lässt.
Das gemeinsame Buch Muslime glauben, die Heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam basierten auf einem ewigen, himmlischen Prototyp, der Mutter des Buches. Die authentischen Offenbarungen in der Bibel (Thora, Psalter, Evangelien) sind Teile dieses himmlischen Buches, auch wenn aus islamischer Sicht nur der Koran die komplette und unverfälschte Version der »Mutter des Buches« ist. Weil ihre Schriften wenigstens teilweise auf demselben himmlischen Prototyp basieren, gelten Muslime, Juden und Christen als Leute des Buches.
Die Familienbeziehungen Offensichtlich schätzen die drei abrahamitischen Religionen ihre Beziehungen zueinander theologisch unterschiedlich ein. So wie sich das Christentum als Erfüllung, Vollendung und Überwindung des Judentums sieht (ohne dem jüdischen »Bund« die Gültigkeit abzusprechen), betrachtet sich der Islam als Erfüllung, Vollendung und Überwindung des Christentums (ohne die jüdischen und christlichen »Bünde« abzuschaffen). Obwohl alle drei Religionen die Ankunft oder zweite Ankunft eines Messias und/oder Mahdi erwarten, betrachten sie sich selbst als die endgültige Offenbarung. Der Islam betrachtet sich nicht nur als die Erfüllung des Judentums und Christentums, sondern auch als ihren Vorgänger,
indem er behauptet, der Islam sei die natürliche Religion der Menschheit bei ihrer Geburt sowie der Glauben Abrahams gewesen. Sowohl Christentum als auch Islam mussten sich innerhalb ihrer eigenen Reihen mit weiteren Offenbarungen oder Propheten auseinandersetzen, die ihren Anspruch auf Endgültigkeit infrage stellten. Beispiele sind im Christentum die Mormonen und die Vereinigungskirche sowie im Islam die Baha'iReligion oder die Ahmadiyya-Sekte. Jede der drei Religionen geht mit den beiden anderen auf ihre Art und Weise um. Zu verschiedenen Zeiten hat das Christentum den Islam als einen Rückschritt zum Legalismus, als christliche Ketzerei, als Vorbereitung der Araber auf das wahre Christentum oder als Zeichen der Endzeit gesehen. Einige Gelehrte sowohl im Christentum als auch im Islam meinen, ihre Religion sei gottgegeben und deswegen wahr, während andere Religionen nur menschliche Schöpfungen seien. Einige moderne islamische Gelehrte haben ein These-Antithese-Synthese-Modell verwendet, in dem das Judentum die These (Gesetz, Materialismus, Partikularismus, Weltlichkeit), das Christentum die Antithese (Liebe, Idealismus, Universalismus, Überweltlichkeit) und der Islam eine ausgewogene Synthese, den Ausgleich von These und Antithese, repräsentieren.
Die Bibel im Koran lesen Etwa ein Viertel des Koran erzählt Geschichten der Propheten, von denen die meisten biblische Propheten sind (obwohl nicht alle in der Bibel als Propheten bezeichnet werden). Da diese Geschichten und Verweise über den ganzen Koran verstreut sind, hat ein ungeübter Leser Schwierigkeiten, sich ein vollständiges Bild der Bibel im Koran zu machen. In diesem Abschnitt fasse ich die koranischen Versionen dieser biblischen Geschichten zusammen und erwähne auch Ergänzungen dieser Geschichten in späteren muslimischen Überlieferungen. Biblische Gestalten und Geschichten waren auch im vorislamischen Arabien bekannt. Wenn der Koran eine biblische Person kurz erwähnte, verstanden Mohammeds Zuhörer den Verweis, ohne dass die ganze Geschichte nacherzählt werden musste. Laut Ibn Ishaq, Mohammeds Biograf, fanden Restaurateure der Kaaba, als Mohammed noch jung war, einen Stein mit einer syrischen Übersetzung von Matthäus 7:16. Ein Historiker aus Mekka berichtet im 9. Jahrhundert, die Kaaba habe auf einer Säule in der Nähe des Eingangs Bilder von Abraham, Jesus und möglicherweise Maria enthalten. Einige Berichte sagen, Mohammed habe diese Bilder unberührt gelassen, als er nach der Eroberung Mekkas durch die Muslime die heidnischen Götzenbilder aus der Kaaba entfernte. Offenbar waren 630 Mohammed und seine Zuhörer mit den biblischen Geschichten, die in Arabien zirkulierten,
einigermaßen vertraut. Mohammed könnte von den Christen und Juden, mit denen er in Kontakt kam, mehr über die Bibel gehört haben. Aus der Form der biblischen Namen in der Bibel schlossen Gelehrte, dass diese Geschichten auf syrischen und aramäischen (zwei Dialekte einer Sprache, die mit dem Hebräischen verwandt ist) Übersetzungen der Bibel und nicht auf den ursprünglichen hebräischen und griechischen Texten beruhten. Eindeutig hat Mohammed die Bibel aber nie selbst gelesen. Der Koran bezieht sich nicht auf die »Bibel«, sondern auf die Thora (taurat), die Psalmen (zabur) und die Evangelien (indschil) und erinnert daran, dass das Neue Testament die hebräische Bibel (Altes Testament) als »das Gesetz, die Propheten und die Psalmen« bezeichnet.
Warum sich die Geschichten im Koran von denen in der Bibel unterscheiden Selbst Gelegenheitsleser der Bibel, die mit den biblischen Geschichten einigermaßen vertraut sind, erkennen leicht, dass sich die biblischen Geschichten von ihren koranischen Gegenstücken unterscheiden. Nichtmuslimische Gelehrte führen dies im Allgemeinen darauf zurück, dass Mohammed die Bibel nur indirekt und unvollständig kannte. Außerdem enthielten die biblischen Geschichten, die zur Zeit Mohammeds im Volk kursierten, auch Elemente aus nachbiblischen jüdischen und christlichen Überlieferungen. Diese Erklärung der Unterschiede überzeugt die meisten Muslime nicht. Schließlich war Mohammed aus muslimischer Sicht nicht der »Autor« der biblischen Geschichten im Koran. Stattdessen wurden sie ihm von Gabriel übermittelt, der damit nur den ewigen, himmlischen Prototyp, das heißt das Wort Gottes, weitergab. Dass Gabriel und Gott von den Versionen der biblischen Geschichten, die im Arabien des 7. Jahrhunderts zirkulierten, beeinflusst waren, scheint natürlich wenig logisch. Weil der Koran die ursprünglichen Versionen der Geschichten enthielt, die direkt dem himmlischen Buch entnommen waren, gab es für Muslime keinen Grund, die Bibel zu studieren, abgesehen von dem Ziel, ihre Positionen besser gegen Christen und Juden verteidigen zu können. Muslime glauben, die Unterschiede zwischen der koranischen und der biblischen Version einer Geschichte seien sowohl auf unterschiedliche Zielsetzung als auch auf absichtliche oder unabsichtliche Änderung des Bibeltextes zurückzuführen. Das arabische Wort für diese Theorie der Änderung ist tahrif. Wurden die Texte absichtlich geändert? Viele für die muslimische Öffentlichkeit bestimmte Schriften und viele muslimische Gelehrte behaupten, die Änderungen seien absichtlich erfolgt. Dagegen haben muslimische Gelehrte wie alTabari, al-Ghazali, Ibn Kathir und Ibn Khaldun dazu beigetragen, die Integrität der biblischen Texte zu bewahren, die von Christen und Juden überliefert wurden.
In der Reihenfolge der Häufigkeit ihrer Nennung kommen folgende biblische Personen im Koran vor: Moses, Abraham, Noah und Adam. Auch Jakob, David und Salomon werden mehrfach erwähnt. Andere Personen wie Lot, Isaak, Ismael und Aaron werden manchmal allein, manchmal im Kontext der Geschichte einer der bekannteren Personen genannt. Die umfangreichste Einzelgeschichte handelt von Joseph (Sure 12). Es gibt auch ziemlich komplette Versionen der Geschichten von Noah, Abraham und Moses, obwohl man Teile mehrerer Suren lesen muss, um die vollständige Geschichte zusammenzusetzen. Kurz erwähnt werden Elias, Elischa und Hiob. Von den zwölf prophetischen Büchern der hebräischen Bibel wird nur Jonas genannt. Die folgenden Abschnitte mit meinen Zusammenfassungen der koranischen Geschichten der Bibel beginnen mit den Hauptberichten; Verweise in anderen Texten werden in der Zusammenfassung zitiert. Ereignisse, die nur in der koranischen Version, nicht aber in der Bibel stehen, sind mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet.
Die Geschichte Adams Die umfangreichste Version der Schöpfungsgeschichte steht in den Suren 2:30–39, 7:11– 31 und 38:71–85. Gott unterrichtet die Engel von seiner Absicht, einen khalifa* (Repräsentanten) auf Erden zu schaffen. Die Engel sind dagegen* und stellen die Sündhaftigkeit der Menschen der Verherrlichung Gottes durch die Engel gegenüber. Gott erschafft Adam aus Staub und haucht ihm seinen Geist ein. Er lehrt Adam die Namen aller Dinge. Auf Gottes Befehl werfen sich die Engel vor Adam nieder*, nur Iblis weigert sich, weil er aus einer höheren Substanz, Feuer, geschaffen worden sei. Gott verbannt Iblis aus dem Garten, erlaubt ihm aber, die Menschen in Versuchung zu führen.* Sure 20:115 erwähnt ein Versprechen an Gott, das Adam vergaß. Gott setzt Adam und seine (namenlose) Frau in den Garten und weist sie an, sich »diesem Baum« (nur ein Baum wird erwähnt) nicht zu nähern. Satan (Iblis) versucht sie, indem er sagt, sie würden ewig leben, falls sie von dem Baum äßen. Deshalb essen sie und knüpfen Blätter zusammen, um ihre neu erkannte Nacktheit zu bedecken. Nachdem Gott sie aus dem Garten auf die Erde verbannt hat, bittet Adam um Vergebung; und Gott verspricht ihm Seine Führung.* In der nachkoranischen muslimischen Überlieferung sendet Gott die Engel Gabriel und Michael aus, um von der Erde Lehm für die Erschaffung Adams zu holen. Als sich die Erde weigert, sendet Gott den Engel des Todes, der roten, weißen und schwarzen Lehm für die Erschaffung Adams holt. Die Lehmarten repräsentieren die drei Menschenrassen. Gott erschafft Eva aus der Spitze einer Rippe Adams. Eva stellt Wein her, und Adam wird betrunken. Im Maul einer Schlange schleicht sich Satan in den Garten zurück, um Adam zu versuchen. Später auf der Erde baut Adam die Kaaba und fügt den Schwarzen Stein in sie ein, der vom Himmel gesandt wurde. Er und Eva führen den Hadsch aus.
Die Geschichte von Kain und Abel wird kurz in Sure 5:27–34 erzählt. Gott nimmt nur das Opfer eines der beiden namenlosen Brüder an. Als Kain droht, Abel umzubringen, lehnt es Abel ab, sich zu rächen.* Gott schickt einen Raben, der den Boden an der Stelle aufkratzt, an der Kain seinen Bruder begraben solle.* Da bereut Kain. Der Text kommentiert, dass das Töten einer Person dem Töten der ganzen Menschheit entspräche und dass die Rettung einer Person der Rettung der ganzen Menschheit gleichzusetzen sei*.
Abraham, Lot, Ismael und Isaak Abraham wird in 25 Suren erwähnt; längere Berichte stehen in den Suren 2:124–141, 6:69–83, 19:41–50, 21:51–72 und 37:83–113. Abraham ist ein Prophet mit einem Buch* (53:37), ein Imam der Nationen*, der erste Muslim (3:67) und ein Anhänger auf dem geraden Weg* (16:121). Abraham wollte anfangs die Himmelskörper anbeten.* Doch seine Torheit erkennend, beschließt er, seinen Schöpfer zu verehren, und wird Monotheist. Er rügt seinen Vater für seine Anbetung von Götzenbildern* und zerstört die Idole* (21:58–65). Als Leute versuchen, ihn zu verbrennen,* wird er von Gott gerettet. Er wandert nach Kanaan aus (37:99), wo Gott ihm Nachkommen und einen Bund verspricht (2:125). Das biblische Versprechen von Land wird nicht erwähnt. Engel besuchen Abraham und versprechen ihm die Geburt Isaaks (11:69–76). Sie erzählen von der Zerstörung Sodoms und Abraham bittet für Lot. Sure 37:83–113 erzählt die Geschichte vom Opfer des namentlich nicht genannten Sohns Abrahams. Statt wie in der Bibel von seinem Sohn über das Opfer befragt zu werden, teilt Abraham seinem Sohn mit, was passieren soll; und sowohl Vater als auch Sohn unterwerfen sich Gott. Obwohl einige frühe muslimische Interpreten, einschließlich al-Tabari, mit der Bibel übereinstimmen und den Sohn als Isaak identifizieren, sagen die meisten muslimischen Kommentatoren, der Sohn sei Ismael – der Erstgeborene – und die Geburt Isaaks sei Gottes Belohnung für Abrahams Gehorsam. Beide Söhne gelten als Propheten. Bei der Auseinandersetzung, welcher Sohn geopferte werden sollte, spielen Stolz und Identität eine Rolle; denn die Juden leiten ihre Herkunft von Isaak und seiner Mutter Sarah ab, während die Muslime (und spezieller die Araber) ihre Herkunft (oder bei den Arabern: die Abstammung ihres Stammes) auf Ismael und seine Mutter Haggar zurückführen. Der Koran erwähnt den Wiederaufbau der Kaaba durch Abraham und Ismael, die Erfüllung der Hadsch-Rituale, die Ansiedlung Ismaels und anderer Gläubiger in Mekka, in einem unfruchtbaren Tal, das durch Abrahams Gebet bewohnbar gemacht worden war (14:37).
Joseph: Die »schönste aller Geschichten« Die Joseph-Sure (12) ist die prosaischste und daher am stärksten ausgebaute
Bibelgeschichte im Koran. Der Koran bezeichnet sie als »schönste aller Geschichten«. Im Gegensatz zu dem erzählenden Stil der biblischen Version konzentriert sich die kürzere koranische Version um eine Reihe dramatisch ausgestalteter Dialogszenen. Nur Joseph und Jakob werden in Sure 12 ausdrücklich genannt. Die Geschichte erzählt, wie Joseph, von seinen Brüdern beneidet, nach Ägypten in die Sklaverei verkauft wird, wo er letztlich zum Hauptminister des Pharaos aufsteigt. Während einer Hungersnot kommen seine Brüder nach Ägypten, um Getreide zu kaufen, und nach einer Reihe von Begegnungen mit Joseph wird die Familie wieder vereint. Ich hebe nur einige der wichtigsten Unterschiede zwischen der koranischen und der biblischen Geschichte hervor. In Ägypten versucht die Frau von Josephs Eigentümer, Joseph zu verführen. Dieser gerät in Versuchung, doch Gott verhindert, dass er nachgibt. Als er zur Tür läuft, reißt ihm die Frau das Hemd vom Rücken. Das am Rücken zerrissene Hemd beweist, dass Joseph vor der Frau floh, statt sie anzugreifen. Die Frau lädt andere Frauen zu einem Bankett ein, wo sie sich, von Josephs Schönheit überwältigt, mit ihren Messern in die Finger schneiden. Später im Gefängnis predigt Joseph den beiden Mitinsassen seiner Zelle die Botschaft des Islam. Als die Brüder später nach Ägypten kommen, gibt sich Joseph seinem jüngeren Bruder (Benjamin in der Genesis), aber nicht den zehn anderen Brüdern zu erkennen. Als Jakob vor Trauer über den Verlust seines Sohnes blind wird, gibt Joseph seinen Brüdern auf ihrer Rückreise nach Kanaan sein Hemd mit, das diese über seinen Vater Jakob werfen sollten. Dadurch erhält Jakob sein Augenlicht wieder. Der Vater und die Brüder kommen nach Ägypten, und die Familie wird wieder vereint.
Die Geschichte von Moses Moses wird in mehr als einem Drittel der Suren des Koran erwähnt. Er ist damit die am häufigsten erwähnte biblische Person. Die Suren 28:1–42, 7:103–171, 20:9–98 und 26:10–58 erzählen einen beträchtlichen Teil seiner Geschichte. Die Geschichte beginnt zu dem Zeitpunkt, als Gott Moses’ Mutter anweist, ihren Säugling in einen Kasten zu legen und auf dem Fluss auszusetzen, weil der Pharao angeordnet hat, alle jüdischen Kinder zu töten. Die Ägypter finden den Kasten und nehmen Moses mit. Moses wird von der Frau des Pharao großgezogen. Später bekennt sie sich zu Gott* (Sure 66:11); und die muslimische Überlieferung nennt ihren Namen: Asiya. Sie ist eine der vier perfekten Frauen. Die anderen drei sind: Maria, die Mutter Jesu; Khadidscha, die Frau Mohammeds; und Fatima, Mohammeds Tochter. Als Moses die Milch der Amme nicht trinken will, holt Moses’ Schwester ihre Mutter, um ihn zu stillen. Als Moses herangewachsen ist, beobachtet er einen Streit zwischen einem Ägypter und einem Juden und tötet den Ägypter. Als er erkennt, dass der Mord auf den Einfluss Satans zurückzuführen ist, bereut Moses.*
Moses flieht nach Midian und heiratet die beiden Töchter Jethros. Eines Tages reist Moses mit seiner Familie und sieht Feuer auf dem Berg Sinai dort spricht Gott zu ihm und fordert ihn auf, seine Schuhe auszuziehen. Gott gibt Moses die zwei Zeichen: den Stab, der sich in eine Schlange verwandelt, und seine Hand, die weiß werden kann. Gott befiehlt ihm, zum Pharao zu gehen und diesen wegen seiner Sünden zu warnen. Weil Moses einen Sprachfehler hatte, bittet er seinen Bruder Aaron um Hilfe. Wie befohlen konfrontieren Moses und Aaron den Pharao, dabei verschlingt Moses’* Stab die Stäbe der ägyptischen Zauberer. Trotzdem macht sich der Pharao über Moses lustig, er befiehlt seinem Gefolgsmann Haman,* einen Turm zu bauen,* damit er (der Pharao) zu Moses’ Gott hinaufsteigen könne (siehe Genesis 12). Die Ägypter töten die männlichen Kinder der Israeliten (ähnlich der Tötung der Kinder zur Zeit der Geburt Moses’ in der Bibel), und die Hebräer beklagen sich bei Moses über die Schwierigkeiten, in die er sie gebracht habe. Moses vollbringt neun Wunder, die in der Teilung des Roten Meeres, sodass die Israeliten trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen können, ihren Höhepunkt finden. Als die Ägypter ihnen folgen wollen, ertrinken sie in den wieder zusammenstürzenden Wogen. Moses verbringt 40 Tage und Nächte auf dem Berg Sinai. Er bittet Gott, sich zu zeigen. Aber als sich Gott offenbart, zerfällt der Berg zu Staub.* Moses bereut, versucht zu haben, Gottes Wesen zu verstehen. Gott gibt Moses die Gesetzestafeln, aber die Zehn Gebote selbst kommen im Koran nicht vor. Während Moses auf dem Berg ist, gießt das Volk, von al-Samiri angestachelt* und gegen den Widerstand Aarons, aus seinem Schmuck das Goldene Kalb. Zur Strafe muss al-Samiri als Unberührbarer sein Leben fristen und ziellos durch die Welt ziehen. Spätere Überlieferungen sehen in ihm einen Samariter, ein Mitglieder einer jüdischen Sekte aus der Zeit Jesu. Einzigartig ist die Geschichte von Moses’ Reise mit dem geheimnisvollen al-Khidr (der Grüne)* (Sure 18:60–82). Moses und sein Diener machen sich auf den Weg, um die Verbindung der beiden Meere zu suchen. Sie nehmen einen Fisch mit auf die Reise. Sie legen den Fisch nieder, und dieser findet seinen Weg ins Wasser und schwimmt weg. Dann treffen sie al-Khidr. Moses fragt ihn, ob er ihm folgen dürfe, um von ihm zu lernen. Al-Khidr gestattet ihm dies, verlangt aber, dass er nicht über seine Handlungen befragen werde. Al-Khidr bohrt ein Loch in ein Boot, tötet einen jungen Mann und verhindert in einer Stadt voller wenig gastfreundlicher Menschen den Einsturz einer Mauer. Jedes Mal fragt Moses nach dem Sinn der Handlung. Deshalb verlässt al-Khidr Moses, nachdem er ihm zuvor vernünftige Gründe für seine seltsamen Handlungen genannt hat. Spätere muslimische Überlieferungen berichten, dass der Pharao Moses töten wollte, als jener als kleines Kind das Kinn des Pharao berührt. Asiya legt Gold auf eine Seite und brennende Kohlen auf die andere Seite von Moses. Als Moses nach dem Gold greift, führt Gabriel dessen Hand zu den Kohlen. Moses berührt seine Lippen, weshalb er später
sprachlich behindert ist. Als der Pharao versucht, die Kinder zu töten, wird Moses in einem brennenden Ofen verborgen und von Gott geschützt. Moses’ Stab stammt von dem ersten Baum, der von Adam im Paradies gepflanzt wurde. Der Stab wurde bereits von anderen Propheten vor Moses benutzt.
Der Tod Jesu Während alle Christen, die meisten nichtmuslimischen Historiker und die relativ wenigen antiken nichtchristlichen Quellen alle den Bericht der Evangelien akzeptieren, dass Jesus am Kreuz gestorben ist, wird dies vom Koran ausdrücklich bestritten. In Sure 4:157–158 sagen die Juden: »Siehe, wir haben den Messias Jesus, den Sohn der Maria, den Gesandten Allahs, getötet – doch sie töteten ihn nicht und kreuzigten ihn nicht, sondern es erschien ihnen nur so … Und sie töteten ihn mit Gewissheit nicht. Ganz im Gegenteil: Allah erhöht ihn zu Sich.« Sure 3:55 ergänzt dies, als Gott sagt: »O Jesus! Ich will dich verscheiden lassen und zu Mir erheben.« Sure 4:159 sagt, dass vor dem Tod Jesu alle Leute des Buches an ihn glauben werden und dass er am Tag des Gerichts gegen sie als Zeugen auftreten werde. In Sure 19:33 spricht Jesus vom »Tag seiner Geburt, vom Tag seines Todes und vom Tag, da er zum Leben erweckt wird«. Diese Verse sind für Muslime Anlass zu sagen, jemand anderes sei am Kreuz gegen Jesus ausgetauscht worden und Jesus selbst sei in den Himmel gefahren, wo er immer noch lebe. In den letzten Tagen werde Jesus zurückkehren, vielleicht als der Mahdi (die messianische Gestalt des Islam), den Anti-Messias besiegen und 40 Jahre lang auf Erden leben. Dann werde er (zum ersten Mal) sterben und an einer für ihn reservierten Stelle neben Mohammed in Medina begraben werden, um am Tag des Gerichts aufzuerstehen und wie alle Propheten Zeuge für (oder gegen) seine Gemeinschaft zu sein. Die unterschiedlichen Auffassungen der Christen und Muslime über die Kreuzigung sind Teil der größeren Auseinandersetzung über das Wesen Jesu und den Heilsprozess. Das Christentum lehrt, die Menschheit sei ihrem Wesen nach sündig und die Menschen könnten die Sünde nicht aus eigenem Antrieb überwinden. Erlösung sei ein Triumph gegen die Macht der Sünde, erfordere aber einen Akt Gottes. Jesus »muss« Gott sein, um die Sünde durch seinen Tod zu überwinden. Deshalb ist die Göttlichkeit Jesu für das Christentum unabdingbar. Die islamische Vorstellung der »Sünde« bezieht sich auf einzelne Akte des Ungehorsams gegen Gott, nicht auf einen grundlegenden Charakterzug der menschlichen Natur. Adam sündigte, indem er vom Baum aß; doch er tat es, weil er unwissend war und Gottes Gebot vergaß. Die Lösung besteht darin, sich an Gott zu erinnern und dem Weg zu folgen, den Gott durch Seine Propheten offenbart hat. Wer dies tut, wird in dieser Welt und der
nächsten gesegnet sein. Die Ablehnung der Kreuzigung im Koran ist logisch mit Ablehnung der Trinität (4:171) verbunden. Der Koran betont, Jesus habe selbst abgelehnt, dass die Menschen in ihm einen Gott verehrten (5:116). Wer sagt, Jesus sei Gott, ist ungläubig (5:17). Wie Mohammed ist der Jesus des Koran zwar ein auserwähltes Wesen, aber eben nur ein Mensch.
Mohammed in der Bibel Zusätzlich zu der koranischen Passage, in der Jesus das Kommen Mohammeds vorhersagt (Sure 61:6), finden Muslime in der Bibel Vorhersagen Mohammeds. Damit treten Muslime in die Fußstapfen der Christen, die in der hebräischen Bibel Vorhersagen Jesu finden. Christen akzeptieren natürlich nicht, dass die zitierten Passagen von Mohammed sprechen. Doch auch die Juden akzeptieren nicht, dass sich Passagen wie Jesaja 7 und Jesaja 52–53 auf Jesus beziehen. Für Muslime sind Bezüge auf den Paraklet, auf Deutsch Beistand (griechisch parakletos), am wichtigsten, den Jesus, oder Gott auf Bitten Jesu, nach Jesus und in seinem Namen senden wird (Johannes 14:16, 26, 15:26, 16:7, I. Johannes 2:1). Christliche Kommentatoren stimmen darin überein, dass die Texte die Vision einer Person in der jungen christlichen Gemeinschaft in der Generation nach dem Weggang Jesu beschreiben. Spätere Christen wollten dies als einen Bezug auf die dritte Person der Trinität, den Heiligen Geist, verstehen. Muslime identifizieren diesen Paraklet jedoch als Mohammed. Dies ist wahrscheinlich genauso gültig oder ungültig wie die christliche Identifizierung Jesu mit dem »leidenden Knecht« in Jesaja 52–53. In Deuteronomium (5. Buch Mose) 18:15–18 sagt Moses den Hebräern, Gott werde aus ihren Reihen einen Propheten erwecken. Die ursprüngliche Zuhörerschaft hätte darunter einen hebräischen Propheten verstanden. Einige Christen interpretierten dies als einen Bezug auf Jesus um, und Muslime sahen in dieser Passage ihrerseits einen Bezug auf Mohammed. Andere biblische Texte werden zitiert, sind aber weniger wichtig als diese beiden. So sollen etwa die Versprechen, die Ismael in der Genesis gegeben werden, mit dem Kommen Mohammeds erfüllt werden (Genesis 21:13). Jesaja 21:13–17 soll sich auf die Schlacht von Badr 624 beziehen; und Habakuk 3:3 von der Hidschra Mohammeds von Mekka nach Medina 622 sprechen. Die zitierten Texte mögen zwar manche Muslime überzeugen, aber kaum nichtmuslimische Interpreten der Bibel.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Muslime die Bibel ernsthaft und ganz natürlich im Licht ihrer Glaubenssätze lesen, wonach eine spätere und letzte
Offenbarung die biblischen Passagen neu interpretiert und ihnen eine Bedeutung gibt, die vor dem Islam nicht bedacht werden konnte, so wie die Christen mit der hebräischen Bibel verfahren sind. Offensichtlich sind die Spannungen zwischen den Religionen derselben abrahamitischen Familie auch auf die Verwendung und den wahrgenommenen Missbrauch der Schriften anderer Mitglieder der Familie zurückzuführen.
Muslimische Auffassung von anderen Religionen Sure 5:48 sagt: »Jedem von euch gaben Wir ein Gesetz und einen Weg. Wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch Er will euch in dem prüfen, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum im Guten.« Diese Passage drückt eine positive islamische Einstellung zu anderen Religionen aus. Während der Koran das arabische Heidentum angreift, ist seine Haltung den Christen und Juden gegenüber recht zwiespältig. Einige Passagen sind positiver, andere negativer. Aufgrund der frühen historischen Situation und der geografischen Lage erfolgten die ersten muslimischen Kontakte mit Anhängern anderer Religionen natürlich mit Christen und Juden. Deshalb sagt der Koran nichts über Hinduismus und Buddhismus. Im Lauf der Zeit wurde der spezielle Status der Christen und Juden als »Leute des Buches« beziehungsweise »Schriftbesitzer« (Schriften, die alle von demselben ultimativen Wort Gottes abstammen) auf einige andere Religionen ausgeweitet, etwa auf die Zoroastriner (die modernen Parsen) und vereinzelt sogar auf Hindus (da sie ein umfangreiches Schrifttum haben, wie die Upanishaden, die Veden und die Puranas).
Zwei frühere Abhandlungen Auch wenn moderne Historiker einige Details früher Überlieferungen infrage stellen, spielen zwei frühe Überlieferungen eine besondere Rolle, wenn es um die Frage geht, wie Muslime Anhänger anderer Religionen behandelten. Der Friedensvertrag von Hudaybiyyah, den Mohammed 628 mit Mekka schloss, lieferte ein positives Modell für den Frieden mit einem nichtmuslimischen Staat, das für viele Muslime auch heute noch wichtig ist, um die Beziehungen muslimischer Staaten zu nichtmuslimischen Staaten zu beurteilen. Ein weiteres Dokument, der Vertrag des Umar, der angeblich geschlossen wurde, als Umar 637 Jerusalem eroberte, legt die Richtlinien fest, nach denen Christen und Juden in einem islamischen Staat leben sollen. Diese Richtlinien können leicht auf Anhänger anderer Religionen angewendet werden (siehe Kapitel 2). Zur Zeit der ersten Expansion des Islam zogen viele in den eroberten Ländern die muslimische Herrschaft der
byzantinischen oder persischen vor. Normalerweise wurden die Einwohner nicht gezwungen, zum Islam überzutreten. Tatsächlich war es für die neuen muslimischen Herrscher finanziell vorteilhaft, wenn nicht alle Einwohner auf einmal konvertierten. Dennoch führte die Verpflichtung des muslimischen Staates, nichtmuslimische Staaten zu bekriegen, um sie unter die Herrschaft von Gottes Gesetz zu bringen, in vielen nichtmuslimischen Ländern zu einer negativen Einstellung dem Islam gegenüber.
Dhimmi (Schutzbedürftige) Das islamische Recht entwickelte für Juden und Christen und später für andere »Leute des Buches«, den sogenannten dhimmi, einen speziellen Status. Oft verfügten solche geschützten religiösen Minderheiten im Osmanischen Reich über beträchtliche Freiräume zur Selbstverwaltung und wurden bei der muslimischen Regierung durch das Oberhaupt ihres Religionsgemeinschaft vertreten. Auch wenn religiöse Minderheiten in islamischen Ländern besser behandelt wurden als umgekehrt Juden und Muslime in christlichen Nationen, gilt der Status religiöser Minderheiten heute als Diskriminierung (Bürger zweiter Klasse). Zusätzlich zu den Sondersteuern für Nichtmuslime (jizya) galt für Nichtmuslime (dhimmis): Sie durften ihre religiösen Symbole wie etwa das Kreuz nicht öffentlich zeigen. Sie durften keine neuen Gebäude für den Gottesdienst (Kirchen, Tempel) bauen. Sie durften ihre Gottesdienste nicht öffentlich ankündigen. Sie mussten eine besondere Kleidung tragen, die sie identifizierte. Sie durften keine Waffen und Schutzpanzer tragen und nicht in der Armee dienen. Sie mussten in der Öffentlichkeit Muslimen Platz machen. Sie durften Muslime nicht zu ihrer Religion bekehren. Der tatsächliche Status der religiösen Minderheiten in muslimischen Ländern und ihre Beziehungen zu der muslimischen Mehrheit variierten von Herrscher zu Herrscher und Zeitalter zu Zeitalter. Heute gibt es in Ägypten 14 Millionen Kopten. Ihre modernen Kirchen dominieren das Zentrum von Kairo. In Damaskus sind die Kirchturmkreuze nachts neonbeleuchtet. In Istanbul gibt es Kathedralen aller großen christlichen Kirchen. In Marokko wird die Bibel auf Arabisch verkauft.
Auf dem Weg zu einem religiösen Dialog Die Geschichte des religiösen Dialogs mit Muslimen begann am abbasidischen Hof, wo
die Kalifen theologische Debatten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen veranstalteten. Später gab es in Andalusien eine fruchtbare Interaktion zwischen Muslimen, Juden und Christen. Noch später (im 16. Jahrhundert) förderte Akbar, der Mogul-Herrscher in Indien, an seinem Hof den religiösen Dialog und ermutigte die Menschen, religiöse Wahrheit zu suchen, wo immer sie zu finden war. In der Moderne entstand eine erste organisierte Bewegung, die den religiösen Dialog suchte, in den 1960er-Jahren. Ein wichtiges Ereignis war die »Erklärung über die Beziehung der Kirche zu nichtchristlichen Religionen« des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965. Danach konnten nicht nur Christen, sondern auch Juden und Muslime »erlöst« werden. Seit den 1960er-Jahren wurden auf hoher Ebene mehrere internationale Konferenzen zum Zweck des Dialogs zwischen den Religionen abgehalten. Die Konferenzen wurden teils von Muslimen, teils von Christen gefördert; gelegentlich nahmen auch Juden und Anhänger anderer Religionen teil.
Prinzipien des Dialogs Die Teilnahme an einer interreligiösen Konferenz ist eine der besten Möglichkeiten, Angehörige anderer Religionen kennenzulernen, weil man dort nicht nur mehr über die anderen Religionen erfährt, sondern auch Menschen anderen Glaubens persönlich trifft. Für den Dialog sollte man die folgenden Richtlinien beachten: Fairness walten lassen: Jede Seite muss die Glaubenssätze der anderen Seite so repräsentieren, dass die Anhänger der anderen Religionen sie als korrekt bestätigen können. Nicht auf Bekehrung abzielen Mitgefühl ausdrücken: Jede Seite muss sich ernsthaft bemühen, die Anziehungskraft der anderen Religion auf ihre Anhänger zu verstehen und zu ergründen, wie die Religion für ihre Gläubigen funktioniert und wie sie die Frage nach dem Sinn für sie beantwortet. Schriften nicht missbrauchen: Im Dialog darf man nicht die eigene Schrift verwenden, um festzustellen, welche Glaubenssätze der anderen Seite gültig oder ungültig sind. Andernfalls findet kein Dialog statt, sondern jede Seite liest nur ihre eigenen Zitate als Beweise ihrer Thesen vor. Offen für Änderungen und Herausforderungen bleiben: Die Teilnehmer des Dialogs sollten nicht nur die offizielle Position ihrer Religionen vertreten, ohne zu versuchen, die andere Seite zu verstehen. Andernfalls findet kein Dialog statt, sondern zwei Monologe laufen aneinander vorbei. Nicht verunglimpfen oder debattieren: Wenn jede Seite nur die Positionen der anderen verunglimpfen will, kommt kein Dialog zustande. Ein Dialog ist keine Debatte, in der eine Seite versucht, die andere zu besiegen.
Sich selbst reflektieren: Legen Sie an sich, Ihre Religion und Ihre Schriften dieselben Maßstäbe an wie an die Religionen anderer. Keine Vorbedingungen stellen: Mit Vorbedingungen werden wesentliche Probleme vor der Diskussion als gelöst erklärt oder von der Diskussion ausgeklammert. Grobe Verallgemeinerungen (positiver oder negativer Art) vermeiden: Dadurch werden Mehrdeutigkeiten und Unterschiede innerhalb der Religionen verwischt. Strittige Bereiche offen anerkennen: Man braucht ein dickes Fell und darf nicht zu leicht beleidigt sein. Bei der Diskussion von Problemen eine selektive Nutzung der Schriften, Überlieferungen und Geschichte vermeiden: Wenn etwa die Frage Gewalt diskutiert wird, sollten aus dem Koran nicht nur Passagen, die Gewalt rechtfertigen können, mit Passagen aus der Bibel verglichen werden, die nur von Liebe und Frieden reden – und umgekehrt.
Die Zukunft der Beziehungen zwischen den Religionen Bis zu einem gewissen Maße hängt der künftige Dialog von regionalen und internationalen politischen Ereignissen ab. Die Erfolgsaussichten sind von Land zu Land verschieden; so schafft der aktuelle Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern kein gutes Klima für einen religiösen Dialog, obwohl es sich um einen politischen Konflikt handelt. Auf beiden Seiten bemühen sich kleinere Gruppen um Frieden, Gerechtigkeit und Toleranz. Häufig stehen diesen Bemühungen die Volksmassen entgegen. Beispielsweise nehmen heute in Indien wegen des Streites um Kaschmir die Spannungen zwischen den Muslimen und Hindus zu, die im frühen 20. Jahrhundert zusammen für die Unabhängigkeit Indiens von den Briten gekämpft hatten. Glücklicherweise nehmen heute die Kontakte zwischen Anhängern der verschiedenen Glaubensrichtungen im Westen eher zu, und die nationalen politischen Führer bekennen sich öffentlich zur religiösen Toleranz. Ereignisse wie der 11. September 2001 und die Anschläge in europäischen Metropolen wie Madrid und London machen den Dialog notwendiger denn je, aber auch schwieriger. Dasselbe gilt für einen offenen Krieg mit einem von Muslimen bewohnten Staat wie dem Irak.
Kapitel 16
Gemeinsame Positionen suchen IN DIESEM KAPITEL Muslimische Sorgen über den Westen Westliche Sorgen über den Islam Schlüsselprobleme, die den Islam und den Westen trennen Möglichkeiten, Spannungen zu reduzieren
Zweifellos gibt es zwischen der westlichen Welt und einem großen Teil der muslimischen Welt Probleme. Beide Seiten fühlen sich ungerecht behandelt. Doch in Zeiten der Globalisierung müssen alle Völker einen Weg finden zusammenzuleben. US-Amerikaner fragen, warum sie von einigen Muslimen gehasst werden. Schließlich erklären Hindus und Buddhisten keinen heiligen Krieg gegen die USA. Natürlich befinden sich auch Muslime im Konflikt mit Hindus in Südasien (Indien, Kaschmir) und in anderen Ländern, in denen Muslime – wie in Tschetschenien und Palästina – mit anderen religiösen Gemeinschaften zusammenleben, brechen immer wieder lokale Aufstände aus. Tatsächlich betrachten deshalb einsichtige Nichtmuslime das Problem nicht als ein Problem zwischen dem Islam und dem Westen. Einige sagen zwar, das Problem liege an einem Hang zu Intoleranz und Gewalt innerhalb der islamischen Welt. Doch da sich viele Muslime zu den von den USA und dem Westen proklamierten Werten der Freiheit und Gleichheit hingezogen fühlen, kann dies so nicht stimmen. Stimmiger ist die Auffassung, dass die USA und der Westen die muslimische Welt enttäuschen, da sie sich zu diesen Werten bekennen, in ihren Beziehungen zur muslimischen Welt aber verletzen. Viele in der wachsenden muslimischdeutschen Gemeinschaft teilen diese Auffassung. In diesem Kapitel geht es um diese Probleme und Sorgen.
Die Sorgen der Muslime In diesem Abschnitt betrachte ich Probleme, vor denen die muslimische Welt steht, und die Einstellung der Muslime dem Westen gegenüber.
Interne Probleme der muslimischen Welt Die muslimische Welt im Allgemeinen und die arabische Welt im Besonderen haben wirtschaftliche, soziale und politische Probleme, die Unzufriedenheit und Ressentiments nähren. Dieser Ärger richtet sich sowohl gegen die eigenen Regierungen wie gegen
dominierende andere Länder. Der Arabic Human Development Report (2001) ist eine von den UN gesponserte Studie arabischer Gelehrter. Der Bericht hebt zunächst die Errungenschaften der letzten drei Dekaden hervor: Die Lebenserwartung nahm um 15 Jahre zu. Die Alphabetisierung der Erwachsenen wuchs um 200 Prozent (300 Prozent bei Frauen). Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren sank um zwei Drittel. Die Armut ist geringer als in manchen Entwicklungsländern, wahrscheinlich aufgrund der Verpflichtung im Islam, für die Armen zu sorgen. Leider werden die guten Nachrichten von schlechten überschattet: Die arabische Welt fällt gegenüber anderen Teilen der entwickelten Welt in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Informations- und Kommunikationstechnologie, Beschäftigungsdichte, politische Teilnahme, persönliche Freiheiten, Produktivität und Handel, Wissenschaft und Technik sowie Beteiligung von Frauen zurück. 50 Prozent der Frauen sind immer noch Analphabeten. Die Arbeitslosigkeit ist höher als in jedem anderen Teil der Dritten Welt. Die Wirtschaft stagniert; regionale Zusammenarbeit und Handel sind beschränkt. Staatliche Eingriffe begrenzen die wirtschaftliche Produktivität. Abgesehen von der untersten Ebene ist die Region bei der Armutsbekämpfung zurückgefallen, während die Lücke zwischen Armen und Reichen größer geworden ist. Individuelle Freiheiten, Menschenrechte und politische Teilnahme befinden sich auf dem niedrigsten Niveau aller Regionen der Dritten Welt. Korruption ist ein Hauptproblem. Während die Bildung quantitativ verbessert wurde, werden technisch-analytische Fähigkeiten und innovative Ansätze zur Problemlösung unzureichend unterrichtet. Die globale Kommunikationsinfrastruktur ist beschränkt, und die Medien sind weniger frei als sonst wo in der Dritten Welt. Ausländische Investitionen in der arabischen Welt sind minimal. Die Region leidet unter der Abwanderung gut ausgebildeter junger Wissenschaftler. 80 Prozent der Flüchtlinge auf der Welt sind Muslime. Der Bericht will weder Muslime noch Araber anprangern und verweist auf das arabische kulturelle und religiöse Erbe, um die Probleme zu lösen. Darüber hinaus sagt er aber auch, dass die arabische Welt wahrscheinlich hinter andere Regionen der Dritten Welt weiter
zurückfallen werde, falls sich nichts ändert. Einige muslimische Länder wie Malaysia, Indonesien und Brunei haben sich viel stärker modernisiert als die arabischen Länder, um in einer globalen Wirtschaft besser konkurrieren zu können. Bernard Lewis verwies darauf, dass sich die osmanische Elite bereits vor mehreren Hundert Jahren fragte, »was schiefgegangen sei«. In seinen ersten tausend Jahren gedieh der Islam, und die islamische Herrschaft dehnte sich aus. Weltlicher Erfolg galt als Zeichen der Gunst Gottes. Der Islam lag in Bildung, Medizin, Wissenschaft, Handel sowie politischer und militärischer Macht weit vor Europa. Doch etwa 1600 begannen die damaligen muslimischen Staaten (der Osmanen, Moguln und Perser), hinter den Westen und im 20. Jahrhundert hinter den Fernen Osten zurückzufallen. Das Osmanische Reich reagierte mit Übernahme westlicher Technik (besonders Waffentechnik), aber die Änderungen waren oberflächlich. Die fernöstliche Tradition wies ebenfalls starke patriarchalische, hierarchische und statische Züge auf, aber die konfuzianische Ethik ermöglichte eine Modernisierung, bei der die Japaner oder Chinesen nicht ihren Nationalcharakter aufgeben mussten. Die Transformation der muslimischen Welt aus einer Position der Dominanz in eine der Schwäche und Abhängigkeit erzeugt Enttäuschung und Ressentiments. Für die meisten Menschen ist es einfacher, die Ursachen ihrer Probleme bei anderen zu suchen, statt zunächst zu fragen, was sie selbst getan oder unterlassen haben. Heute richtet sich ein großer Teil dieses Ressentiments gegen die Vereinigten Staaten, der einzigen verbliebenen Supermacht. In Gesellschaften, die kaum Möglichkeiten für abweichende politische Meinungen bieten, ist die Religion oft das einzige Mittel, um den Widerstand gegen den Status quo zu mobilisieren und auszudrücken. Islamistische Bewegungen boten eine einfache Lösung an: Falls die Muslime zum ursprünglichen Weg des Islam zurückkehrten, würde Gott die alte Dominanz des Islam in der Welt wiederherstellen. »Der Islam ist die Lösung!« wurde zum Ruf, mit dem zu den Fahnen gerufen wird.
Am Puls der muslimischen Welt Befragungen zeigen die Einstellungen der Muslime zum Westen und zu den USA auf. Gallup, ein amerikanisches Meinungsforschungsinstitut, befragte Anfang 2002 Einwohner von neun muslimischen Ländern, die etwa 40 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung repräsentieren. In keinem Land hatte die Mehrheit der Bevölkerung eine positive Meinung über die Vereinigten Staaten. In Jordanien, Saudi-Arabien, Iran und Pakistan hatten zwischen 60 und 70 Prozent der Befragten negative Einstellungen zu den USA. Sie waren auch gegen die amerikanische Militärintervention in Afghanistan. Zogby International führte im Frühjahr 2002 in fünf arabischen muslimischen (Ägypten, Jordanien, Kuwait, Libanon und Saudi-Arabien) und drei nichtarabischen muslimischen Ländern (Indonesien, Iran und Pakistan) sowie in Frankreich und Venezuela eine ähnliche Befragung durch. Ergebnis:
50 bis 84 Prozent schätzten amerikanische Produkte positiv ein. 50 Prozent oder mehr jedes Landes beurteilten die amerikanische Freiheit und Demokratie positiv (außer Iran und Indonesien). 58 Prozent oder mehr (99 Prozent im Iran) beurteilten die amerikanischen Außenpolitik der muslimischen Welt gegenüber negativ, insbesondere wegen der amerikanischen Politik gegenüber Palästina beziehungsweise Israel.
Muslimische Beschwerden über den Westen und mögliche westliche Reaktionen Während die westliche koloniale Dominanz als solche unbestreitbar ist, richtete sie sich doch nicht speziell gegen muslimische Länder, und die Vereinigten Staaten waren keine große Kolonialmacht. Die Grenzen der modernen muslimischen Länder wurden oft von den Kolonialmächten recht willkürlich festgelegt. Aber auch der Islam hat eine imperialistische und koloniale Geschichte. Die westliche koloniale Kontrolle arabischer Länder trat an die Stelle der osmanischen kolonialen Kontrolle (muslimisch, aber nichtarabisch), und die britische Kontrolle Indiens trat an die Stelle eines islamischen Staates, der über eine Bevölkerung herrschte, die über eine beträchtliche hinduistische Mehrheit verfügte. Obwohl die USA Demokratie predigen, haben sie in muslimischen Länder nichtdemokratische Regime nachhaltig unterstützt, insbesondere wenn diese Länder bereit waren, die amerikanische Außenpolitik zu unterstützen. Die USA halfen, demokratische Regierungen im Iran (1953) und Irak (1956) zu stürzen. Die US-amerikanische Regierung schwieg, als das Militär die Wahlsiege der islamischen Parteien in Algerien (1990) und der Türkei (Erbakan) für ungültig erklärte. Der Westen hat die Anstrengungen muslimischer Minderheiten, in nichtmuslimischen Ländern (darunter Kaschmir, Tschetschenien, Dagestan, Westchina und die Philippinen) Autonomie oder Unabhängigkeit zu erreichen, teilnahmslos beobachtet. Die muslimische Sache wäre allerdings stärker, wenn die muslimischen Staaten selbst positiv auf Bestrebungen nach Autonomie innerhalb der muslimischen Länder reagieren würden. Kurden im Irak, Iran und in der Türkei bemühen sich seit Jahrzehnten um einen unabhängigen Staat. Indonesien gewährte Osttimor 2002 nur unter extremem internationalem Druck die Unabhängigkeit. Die Muslime in Bangladesch mussten einen Bürgerkrieg führen, um die Unabhängigkeit von Pakistan zu erreichen. Viele Muslime glauben, dass westliche Reaktionen auf Ereignisse mit muslimischer Beteiligung oft unverhältnismäßig seien und die Einstellung verrieten, muslimisches Leben sei unwichtig. Eine solche Klage richtete sich vor dem Irakkrieg gegen den wirtschaftlichen Boykott des Irak. Viele – einschließlich der Europäer – glauben,
dadurch seien zahlreiche irakische Kinder durch Fehlernährung gestorben. Sie sagen, die USA befürworteten das internationale Recht, wenn es ihren Interessen diene, ignorierten es aber in anderen Fällen. So verletzen sie das Genfer Protokoll über Kriegsgefangene geradezu drastisch, unter anderem im Gefangenenlager von Guantanamo Bay. Die Hauptbeschwerde der Muslime gegen die Vereinigten Staaten lautet, die USA würden einseitig Partei für Israel gegen die Bemühungen der Palästinenser ergreifen, einen palästinensischen Staat zu errichten. Im UN-Sicherheitsrat legen die USA routinemäßig Veto gegen Resolutionen ein, die sich gegen illegales Vorgehen Israels richten. Ähnliche Resolutionen werden in der Generalversammlung meist nur gegen die Stimme der Vereinigten Staaten verabschiedet. Spezielle Beschwerden richten sich gegen das amerikanische Zögern, gegen die Besetzung palästinensischen Landes, die Zerstörung palästinensischer Häuser und der Infrastruktur der palästinensischen Gesellschaft und gegen den Missbrauch der Menschenrechte der Palästinenser durch Israel zu intervenieren. Die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien wird von vielen Muslimen als Sakrileg betrachtet, weil die heiligen Stätten Mekka und Medina im selben Land liegen. Andere Beschwerden drücken Abscheu über bestimmte Aspekte der amerikanischen Kultur aus: Moralischer Verfall, sexuelle Promiskuität, Legalisierung der Homosexualität und exzessiver Individualismus Privatisierung der Religion, die zu einem Abnehmen der religiösen Intensität führt Materialismus: Muslime ärgern sich über die Allgegenwart der Symbole der amerikanischen wirtschaftlichen Überlegenheit in ihren Ländern. Immer wieder werden amerikanische Produkte boykottiert (etwa Marlboro-Zigaretten in Palästina). Natürlich richtet sich der globale Kapitalismus nicht speziell gegen den Islam.
Hauptprobleme Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen werden durch die Probleme belastet, die in den folgenden Abschnitten beschrieben werden.
Zusammenstoß der Zivilisationen 1993 schrieb Samuel Huntington einen Artikel über einen bevorstehenden Zusammenstoß der Zivilisationen, in dem die Hauptantagonisten die westliche und die islamische Welt sind. Während einige Beobachter sagten, die Probleme des Westens mit dem Islam
beträfen nur extremistische Randgruppen des Islam, sah Huntington einen grundlegenden Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam. Neben Huntington teilen viele auch in der islamischen Welt die Auffassung, der Islam und die westliche Zivilisation seien in einem tödlichen Konflikt verfangen. Kritiker dieses apokalyptischen Szenarios antworteten, die islamische Zivilisation sei kein Monolith. Der gravierendere Zusammenstoß erfolge zwischen verschiedenen Richtungen des Islam und nicht zwischen dem Islam und dem Westen. Andere sagen, der Zusammenstoß erfolge nicht zwischen dem Islam und dem westlichen Christentum, sondern zwischen einer materialistisch-säkularen Weltsicht und einer spirituellen Weltauffassung, die den Islam, das Christentum und andere Religionen umfasst.
Menschenrechte Im 20. Jahrhundert hat sich ein Korpus der grundlegenden Menschenrechte und des internationalen Rechts entwickelt. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen haben die meisten muslimischen Länder Deklarationen unterzeichnet, in denen sie die Menschenrechte anerkennen, manchmal unter speziellen Vorbehalten. Es gibt in der Tat einige Konflikte zwischen diesen Menschenrechtsvereinbarungen und dem islamischen Recht. Die Charta der islamischen (Menschen-)Rechte von 1990 behauptet zwar, die internationalen Standards anzuerkennen, sagt aber, dass im Falle eines Konflikts mit der Scharia (islamisches Recht) die Scharia Vorrang habe. Dies läuft auf eine Relativierung beziehungsweise Regionalisierung universeller Menschenrechte hinaus. Muslimische Schlüsselkonflikte sind: Die Vorschriften des islamischen Rechts stehen manchmal mit den Menschenrechten und den Vorstellungen über die Rechtsstaatlichkeit im internationalen Recht in Konflikt. Das internationale Recht und die Menschenrechtskonventionen erkennen das Recht aller Menschen auf Religionsfreiheit an. Doch viele islamische Länder verweigern Nichtmuslimen die freie Ausübung ihrer Religion. Das internationale Recht erkennt die volle Gleichheit von Frauen an, doch in vielen muslimischen Ländern werden Frauen gesetzlich diskriminiert. (Die Position muslimischer Frauen unterscheidet sich aber von Land zu Land. Amnesty International wurde von 2001 bis 2009 von einer muslimischen Frau geleitet. Indonesien, Bangladesch, Pakistan und die Türkei hatten weibliche Staatsoberhäupter – was es in den USA noch nicht gegeben hat.) Die Zensur ist ein weiterer Konfliktbereich zwischen dem traditionellen islamischen Recht und dem internationalen Recht. Viele muslimische Länder verweigern die grundlegenden Menschenrechte nicht
nur Frauen und Nichtmuslimen, sondern auch ihren muslimischen Bürgern. Menschenrechtsorganisationen werden in muslimischen Ländern oft behindert, selbst wenn sie für die Rechte von Muslimen einschließlich islamistischer Gruppen eintreten. Die Körperstrafen des islamischen Strafrechts gelten nach dem heutigen Völkerrecht als inhuman. Das Völkerrecht lässt Mehrehe unter keinen Umständen zu.
Demokratie und Islam Die Menschenrechtsdeklarationen der Vereinten Nationen erkennen das Recht der Bürger an, ihre Regierung zu bestimmen. Die islamische und besonders die arabische Welt blieben bisher bei der Einführung demokratischer Regierungsformen hinter anderen Regionen zurück. Einige muslimische Länder haben auf dem Papier ein demokratisches System, aber in der Praxis erweist sich diese Demokratie als Einparteienstaat, der oft von einem starken Mann oder einer militärischen Elite dominiert wird. Andere muslimische Staaten werden von Erbmonarchien regiert. Ist Demokratie mit dem Islam kompatibel? Muslimische Gegner der Demokratie verweisen darauf, dass Regierungsautorität in einer Demokratie vom Volk abgeleitet ist und dass die Regierung den Willen des Volkes repräsentiert. Dagegen repräsentiere eine islamische Regierung den Willen Gottes, wie er in der Scharia ausgedrückt wird. Viele Muslime betrachten die Demokratie auch als westlichen Import. Wegen der Papierdemokratien, die in der nachkolonialen Periode entstanden sind, sehen andere in Demokratie ein Experiment, das in der muslimischen Welt gescheitert ist. Menschen im Westen betrachten daher öffentliche Bekenntnisse islamischer Bewegungen zur Demokratie mit Argwohn. Sie sagen, Islamisten seien nur daran interessiert, durch demokratische Wahlen an die Macht zu kommen. Die erste Wahl sei dann zugleich die letzte. Andere sagen, Demokratie sei mit dem Islam ebenso vereinbar wie mit dem Christentum. Schließlich wurden alle christlichen Länder früher einmal von Königen beherrscht. Das römisch-katholische Papsttum verurteilte die Demokratie bis ins 20. Jahrhundert als Regierungsform, die mit dem Christentum unvereinbar sei. Muslime verweisen darauf, dass der Koran wenig über die spezielle Form einer muslimischen Regierung sagt. Monarchie konzentriert die Macht auf eine einzige Person und stellt deswegen eine größere Bedrohung der Souveränität Gottes dar als Demokratie. Die Konstitution von Medina (siehe Kapitel 6), die Schura (Wahl des ersten Kalifen und die Beratung des Herrschers mit dem Volk), der madschlis (Ältestenrat) und idschma (Konsens, eine der vier Wurzeln des islamischen Rechts) bilden eine Basis, auf der eine islamische Demokratie errichtet werden kann.
Westliche Demokratien schlossen noch im 19. Jahrhundert Frauen, Sklaven (!) und Nichtgrundeigentümer von der politischen Willensbildung aus. Der Prozess, in muslimischen Ländern eine stabile Demokratie zu erreichen, wird zweifellos ebenfalls lange dauern. Im Jahre 2002 fanden in Bahrain die ersten nationalen Wahlen seit 30 Jahren statt. Frauen durften wählen (indem sie die Wahlkabinen durch separate Türen betraten) und sich um Ämter bewerben. Die Erfahrung der Muslime, die in westlichen Demokratien leben, kommt muslimischen Ländern auf ihrem Weg zu einer demokratischen Regierungsform zugute.
Dschihad Die grundlegende Bedeutung von dschihad ist Anstrengung. Manchen gilt er als eine sechste Säule des Islam. Laut einer Überlieferung sagte Mohammed einigen Muslimen bei ihrer Rückkehr von einer Militäraktion, sie seien von dem kleineren dschihad zurückgekehrt und stünden jetzt vor dem größeren dschihad. Der größte dschihad sei der des Herzens gegen das eigene niedere Selbst (nafs). Der dschihad der Zunge (Worte) verbreitet die Lehren des Islam, und der dschihad der Hände umfasst alle Handlungen, die Gerechtigkeit und Wohlfahrt bringen. Zuletzt kommt der dschihad des Schwertes – der militärische Kampf für die Sache Gottes. Im klassischen Islam war der Kalif verpflichtet, nichtmuslimische Gebiete für die Herrschaft Gottes zu gewinnen. So entstand die Lehre, dass jeder männliche Muslim, wenn nötig und dazu fähig, zur Verteidigung des Islam mit dem Schwert verpflichtet sei. Während einige den defensiven dschihad auf Invasion eines muslimischen Staates beschränken, verstehen andere den defensiven dschihad sehr viel umfassender. Radikale Islamisten halten die Unterscheidung zwischen internem und externem (größeren und kleineren) dschihad für ungültig. Sie rufen alle Muslime auf, untreue Muslime sowie antimuslimisch agitierende Nichtmuslime auf eigene Faust zu bekämpfen (»dschihad von unten« im Gegensatz zu dschihad, der von der staatlichen Autorität erklärt wird).
Terrorismus Was ist ein Akt des Terrorismus? Verbreitete Definitionen sagen: Terrorismus ist ein politischer Akt. Terrorismus umfasst physische Gewalt. Terrorismus möchte Angst und Unsicherheit erzeugen. Terrorismus richtet sich gegen Unschuldige. Terrorismus hat eine lange Geschichte. Vor Jahren gingen Berichte über die terroristischen Angriffe der IRA in Großbritannien und der Baader-Meinhof-Gruppe (RAF) in
Deutschland durch die Medien. Terroristische Akte wurden zunächst vor allem von linken politischen Gruppen ausgeführt, bis Anfang der 1990er-Jahre der Rechtsterrorismus das prägende Thema wurde. Mitte der 1990er-Jahre erfolgten die meisten terroristischen Akte noch gegen Amerikaner in Lateinamerika. Terrorismus ist also kein muslimisches Phänomen. Neu ist lediglich die globale Reichweite einiger moderner terroristischer Gruppen. Terroristen betrachten sich selbst nicht als Terroristen. Der Terrorist des einen gilt dem anderen als Freiheitskämpfer. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat den Iran, Syrien und Libyen beschuldigt, Terrorismus staatlich zu unterstützen. Für Muslime sind aber auch die Handlungen der Russen in Tschetschenien und der Israelis in Palästina Staatsterrorismus. Einige Muslime rechtfertigen Terrorismus als Waffe der Schwachen gegen die Starken. Selbstmordattentäter sind zum Symbol der muslimischen Terroristen in Israel und im Irak geworden, obwohl Selbstmord im Islam ausnahmslos verboten ist. Die meisten islamischen Gelehrten sagen, Selbstmord sei eine Todsünde, egal wie nobel der Grund sein möge. Gleiches gilt für militärische Handlungen, die sich gegen Kinder, Frauen und Nichtkombattanten richten. Nach Meinung der Attentäter sind israelische und amerikanische Zivilisten jedoch Komplizen in der Unterdrückung der Muslime und deshalb als Kombattanten rechtmäßige Ziele. Der Tod eines Selbstmordattentäters sei vergleichbar mit einem Soldaten, der mit dem Wissen in eine Schlacht zieht, dass er getötet werden wird. Oft wird eine Analogie in der Gewalt gesehen, die von Abtreibungsgegnern ausgeübt wird. Die meisten Abtreibungsgegner glauben, Abtreibung sei Mord, und sie sollten daher Abtreibungen stoppen. Doch nur wenige Abtreibungsgegner sprengen Abtreibungskliniken in die Luft oder erschießen Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Ähnlich sind Muslime keine Terroristen, auch wenn sie manchmal mit den Motiven der Terroristen sympathisieren.
Was die Muslime tun sollten Der Islam hat traditionell Extremismus vermieden; doch er muss Eiferer in seinen eigenen Reihen genauso bekämpfen, wie er antimuslimische Eiferer in der nichtmuslimischen Welt beklagt. Muslime dürfen extremistische Behauptungen nicht stillschweigend hinnehmen, sondern müssen dagegen protestieren. Sie müssen ihre internen Probleme aktiv angehen und nicht für alles Juden, Säkularisten und den gesamten Okzident verantwortlich machen. Muslime müssen die Struktur ihrer Gesellschaften ändern und dürfen sich nicht auf simplistische »Der Islam ist die Antwort«-Lösungen beschränken. Die muslimische Welt muss sich ihren Problemen stellen: Fehlen bürgerlicher Freiheit, Sexismus, Korruption und Intoleranz.
Was der Westen tun sollte Nichtmuslimische Amerikaner und Europäer müssen sich um konstruktives Verhalten bemühen: Die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder müssen zur Selbstdarstellung eine PR-Kampagne führen, die sich an die muslimische Welt richtet und mit der Kampagne vergleichbar ist, die während des Kalten Krieges an die kommunistische Welt gerichtet war. Die USA und der Westen insgesamt müssen gegen Terroristen nicht nur Krieg, sondern aktiv »Frieden führen«. Im Jahr 2000 trafen sich fast tausend religiöse Führer auf dem Millennium World Peace Summit und erklärten ihre Bereitschaft, den Kampf um die Beendigung religiös begründeter Gewalt zu unterstützen und ihre religiösen Überlieferungen gegenseitig zu respektieren. Anfang 2002 fungierte Papst Johannes Paul II. als Schirmherr eines Friedenstreffens in Assisi in Italien. Die USA und der Westen insgesamt müssen gegenüber der muslimischen Welt mehr Geduld aufbringen, zumal sie die politischen, ökonomischen und militärischen Trumpfkarten in der Hand halten. Die USA und der Westen insgesamt müssen die Vielfalt im Islam anerkennen und mit den konstruktiven Kräften in der islamischen Welt zusammenarbeiten, ohne einen zynischen Trenne-und-herrsche-Ansatz zu verfolgen. Die Alternative lautet nicht Westen oder Islam, sondern ist die Frage, welche der beiden Versionen des Islam sich durchsetzen wird, die moderate, friedliche oder die radikale, kämpferische. Schließlich muss der Westen erkennen: Wenn in der islamischen Welt Frauenrechte, Demokratie und Freiheit verwirklicht werden sollen, müssen diese Werte in einer islamischen Sprache und mit islamischen Argumenten begründet werden. Das Ziel ist die Bestimmung ihrer Zukunft durch die Muslime selbst.
Teil VI
Der Top-Ten-Teil
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IN DIESEM TEIL … Der Islam ist sowohl eine Religion als auch eine Lebensform. In diesem Teil beschreibe ich zehn Beiträge des Islam zur Zivilisation und zehn Leute, die herausragende Beiträge für unsere Welt geleistet haben. Während einige dieser Leute und Beiträge eng mit dem Islam als Religion verbunden sind, haben andere mehr mit der Kultur zu tun, die durch die islamische Religion entstanden ist.
Kapitel 17
Zehn muslimische Beiträge zur Zivilisation IN DIESEM KAPITEL Erweiterungen von Mathematik und Astronomie Entdeckungen in der Medizin Fortschritte in Technik und Ingenieurswesen Errungenschaften in der Architektur
Jede beschränkte Liste der großen Beiträge einer Kultur, eines Volkes oder einer Religion ist willkürlich und spiegelt die Vorurteile und das Wissen des Autors der Liste wider. Jede Liste mit fünf, zehn oder selbst hundert Beiträgen muss notwendigerweise auch wichtige, gleichrangige Beiträge auslassen. In diesem Kapitel sollen nicht die zehn wichtigsten Beiträge der Muslime genannt werden, sondern zehn wichtige Beiträge beschrieben werden, die Sie hoffentlich interessant finden und die Ihr Wissen über den Islam erweitern. Meine Liste der Beiträge versucht weder alle Teile der muslimischen Welt noch alle Epochen der 1.400-jährigen muslimischen Geschichte zu repräsentieren. Der Islam ist sowohl eine Religion als auch eine Kultur. In diesem Kapitel erwähne ich einige Aspekte der Kultur, die in den anderen Teilen dieses Buches – mit seinem Schwerpunkt auf der Religion – nicht beschrieben werden. Information, die in anderen Kapiteln ausführlich behandelt werden, werden hier nicht wiederholt.
Überlieferung griechischer Schriften Das islamische Interesse an der Wissenschaft führte zur Sammlung und Übersetzung antiker Werke der Medizin, Astronomie, Mathematik und Philosophie ins Arabische. Die meisten Werke stammten aus Griechenland, andere aus Persien und Indien. Harun alRaschid und al-Mamun (im 8. und 9. Jahrhundert) sandten Botschafter in das Byzantinische Reich, um antike griechische Manuskripte für die Regierungsbibliothek, Bayt al-Hikma (Haus der Weisheit), in Bagdad zu sammeln. Hunayn Ibn Ishaq (803–873),
ein christlicher Araber, war der wichtigste frühe Übersetzer. Ein großer Teil der griechischen Werke, die im westlichen Europa vergessen waren, wurden später durch Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische wieder bekannt gemacht, besonders über Spanien und Sizilien, wo muslimische, christliche und jüdische Gelehrte miteinander Kontakt hatten.
Algebra und Mathematik Die Bezeichnung Algebra ist von dem Titel von al-Khwarizmis (etwa 780–850) Kitab alDschabr wa-l-Muqabala (Das Buch vom Zwang und Vergleichen) abgeleitet, der ersten systematischen Abhandlung über die Algebra. Aus al-dschabr wurde im Deutschen Algebra, und der Terminus Algorithmus ist von al-Khwarizmis Namen abgeleitet. Al-Khwarizmi war sich der Neuigkeit seiner Arbeit bewusst. Er erfand neue Bezeichnungen, um seine Ideen auszudrücken: Al-dschabr bezeichnet den Prozess der Umstellung von Positionen; so wird beispielsweise aus dem Ausdruck x + 10 = 60 − 3x der Ausdruck 4x = 50. Al-muqabala bezeichnet das Wegkürzen und die Reduktion von Gleichungen; so wird aus 50 + x2 = x2 + 10x durch Wegkürzen 50 = 10x und durch Reduktion 5 = x. Mehrere Gelehrte entwickelten dieses Fach weiter. Mit der Arbeit von Umar al-Khayyam (1048–1123) erreichte es seinen frühen Höhepunkt. Das Studium eines Teilgebiets der Mathematik führte zu Fortschritten in anderen Teilgebieten wie etwa der Trigonometrie und praktischen Anwendungen wie etwa in der Geografie, zu der frühe und mittelalterliche muslimische Gelehrte bedeutende Beiträge leisteten. Umar al-Khayyam ist im Westen besser durch Edward Fitzgeralds sehr freie Übersetzung von al-Khayyams (persischen) Gedichten, den Rubaiyyat, aus dem 19. Jahrhundert bekannt. Fitzgeralds Übersetzung war in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich. Dieses englische Werk ist zwar selbst interessant, doch nüchtern betrachtet ist es zwar von al-Khayyam inspiriert, aber weder eine genaue Übersetzung von al-Khayyams Gedichten noch eine getreue Darstellung seines Denkens. Andere Übersetzungen der Gedichte finden Sie, wenn Sie beispielsweise im Internet nach »Omar Khayyam« suchen.
Arabische Ziffern Die Araber sind nicht die Erfinder der arabischen Ziffern. Aber sie verfeinerten das System, das sie von den persischen Sassaniden übernommen hatten, und gaben es an den Westen weiter, wo es erstmals 976 n. Chr. nachgewiesen ist. Wichtigste Verbesserung war
die Einführung des Stellensystems, bei dem jede Position einer Zahl eine andere Wertigkeit repräsentiert (zum Beispiel Zehnerpotenz), und der Null, die als Platzhalter für Positionen diente, denen kein Wert zugewiesen war. Mit diesem System kann (zumindest im Zehnersystem) jede Zahl mit einer Kombination von zehn Symbolen (Ziffern) dargestellt werden. Die Hindus verwendeten einen Punkt (wie die Araber heute) oder einen Kreis, um eine leere Spalte (sunya) zu markieren. (Im arabischen Zahlensystem steht der Kreis für die Zahl 5.) Die Araber machten aus sunya sifr, woraus sich zero (englisch für null) und Ziffer ableiten. Die römische Zahl für 321 ist CCCXXI. In der Schreibweise mit dem Stellensystem und den arabischen Ziffern bedeutet 321= 3x100 + 2x10 + 1x1. Bei der Zahl 320 bedeutet die Null: 0 mal 1.
Astronomie Arabisch sprechende Wissenschaftler, die auf die Erkenntnisse des alten Babylon, Indiens und besonders Griechenlands zurückgriffen, leisteten bedeutende Beiträge zur empirischen (beobachtenden) und theoretischen Astronomie. Sie unterschieden klar Astronomie und Astrologie. Die arabische Astronomie wurde von religiösen und praktischen Anforderungen angetrieben: bessere Navigation von Schiffen, Festlegung der fünf täglichen Gebetszeiten, das Datum des Neumonds (wichtig für den religiösen Kalender) und die Bestimmung der Richtung nach Mekka (für Gebete und die Ausrichtung von Moscheen). Sie definierten diese Richtung als den kürzesten Bogen eines Großkreises, der Mekka mit jedem beliebigen Ort verbindet. Bei ihren Berechnungen bestimmten die muslimischen Astronomen die Breiten- und Längengrade vieler muslimischer Städte mit großer Genauigkeit. Das aus dem 2. Jahrhundert stammende Ptolemäische System der Kreisbewegungen der Planeten (und der Sonne) um die Erde wurde akzeptiert, aber in wichtigen Punkten modifiziert, weil arabische Wissenschaftler Abweichungen zwischen der Theorie des Ptolemäus und ihren Beobachtungen feststellten. Derselbe al-Khwarizmi, der der Welt die Algebra gab, schrieb auch das erste erhalten gebliebene arabische Buch über Astronomie. Die früheste Synthese dieses Faches war alBirunis (973–1048) al-Qanun al-Masudi. Viele unserer Namen von Sternen stammen aus Abd al-Rahman al-Sufis Buch der Konstellationen (1009), aus dem sie ins Lateinische und Deutsche übernommen wurden. Astronomische Termini wie Nadir, Azimut oder Zenit stammen ebenfalls aus dem Arabischen. Ibn al-Haytham (965–1040, im Westen als Alhazen bekannt) stellte fest, dass die Milchstraße aus vielen schwach leuchtenden, weit von der Erde entfernten Sternen zusammengesetzt ist. Das vielleicht erste echte astronomische Observatorium der Welt befand sich seit dem 13. Jahrhundert in Maragha im Nordwesten des Iran. Es wurde von Nasir al-Din-al-Tusi
geleitet. Auch wenn das Teleskop noch nicht erfunden war, gelangen arabischen Wissenschaftlern wesentliche Verbesserungen anderer Instrumente wie dem Astrolabium, dem grundlegenden tragbaren Gerät zur Beobachtung des Standorts von Himmelkörpern. Viele Astrolabien sind exquisite Werke und verbinden Schönheit mit Funktionalität.
Technik und Ingenieurswesen Die islamischen Fortschritte in Technik und Ingenieurswesen zeigen sich anhand archäologischer Ausgrabungen, historischer Überlieferungen und noch erhaltener Infrastrukturen. Ingenieure schreiben normalerweise keine Bücher, aber es gibt zwei Ausnahmen. Die dort beschriebenen Verfahren wurden auch praktisch angewendet: Schalter, konische Ventile (einschließlich Schwimmerventile), Siphons, Zahnräder, Kurbelwellen und mehr. Das Buch der raffinierten Geräte von den drei Banu-MusaBrüdern aus dem Bagdad des 9. Jahrhunderts beschreibt 100 raffinierte mechanische Geräte einschließlich einer Gasmaske für das Arbeiten in luftverschmutzten Minen. AlDschazaris Das Buch des Wissens über raffinierte mechanische Geräte (1206) enthält Diagramme, die Materialien, Konstruktion und Arbeitsweise von 50 Geräten darstellen, darunter Uhren, Gefäße, Messgefäße, Brunnen und Maschinen, die Wasser fördern (Schöpfräder etc.). Die wichtigsten Anwendungen dienten der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Maschinen, die Wasser auf ein höheres Niveau anheben konnten, ermöglichten eine großflächige Bewässerung. Ein riesiges Wasserrad von über 13 Meter Durchmesser steht immer noch in Hama in Syrien. Wasserräder trieben auch Getreidemühlen und andere Konstruktionen an. Fruchtwechsel, Verpfropfung, Kreuzung von Pflanzen und die Einführung neuer Getreidearten erhöhten die Nahrungsproduktion. Handbücher berieten Bauern über Bodenarten und was sie wann anbauen und ernten sollten. Die Ingenieurskunst war auch im Schiffbau, im Bergbau, in der Papier- und Textilproduktion und der Metallbearbeitung gefragt. Handbücher liefern detaillierte Informationen über die Konstruktion von Festungen, Belagerungsmaschinen und Waffenkonstruktion. Die Wasserräder von Schiffen auf Euphrat und Tigris wurden im 10. Jahrhundert als schwimmende Getreidemühlen für die Massenverarbeitung von Getreide verwendet.
Medizin Zu einer Zeit, als man sich in Europa als Kranker besser dem lieben Gott als einem Arzt anvertraute, machte die medizinische Versorgung in der islamischen Welt schnelle Fortschritte. Die Schriften von Galen und Hippokrates zählten zu den ersten griechischen Texten, die ins Arabische übersetzt wurden. Die arabische Medizin verfolgte zwei Ziele:
die Gesundheit bewahren und Krankheiten heilen. Außerdem betonte sie das Vertrauen zwischen Arzt und Patient. Das erste echte Krankenhaus der Welt wurde in Bagdad zu Beginn des 9. Jahrhunderts gegründet. Größere Krankenhäuser hatten Schulen, die Diplome vergaben. Die arabische Medizin betonte die klinische Beobachtung, die Diagnose und das Experiment, um das Wissen zu vergrößern und die Behandlung zu verbessern. Al-Razi (850–925) und Ibn Sina (980–1037; im Westen als Avicenna bekannt) sind zwei der vielen berühmten muslimischen Ärzte und Forscher. Al-Razis Hauptwerk war Das umfassende Buch der Medizin, eine 23-bändige medizinische Enzyklopädie. Er schrieb die erste Abhandlung über Pocken und Masern, identifizierte und fand die Ursache des Heuschnupfens und arbeitete über Nierensteine. Der Kanon der Medizin von Ibn Sina war ein Kompendium des gesamten medizinischen und pharmazeutischen Wissens seiner Zeit (13. Jahrhundert). In Europa wurde es noch im 17. Jahrhundert als Standardreferenzwerk verwendet. Ibn Sina betonte die Bedeutung solcher Faktoren wie Ernährung, Umwelt und Klima. Abu al-Qasim al-Zahrawi (936–1013) war ein berühmter Chirurg, der in seinem 30bändigen Handbuch Operationen und Instrumente beschrieb. Trotz religiöser Einwände wurde Anatomie praktiziert, was zur Entdeckung des Blutkreislaufs führte. Muslimische Wissenschaftler entwickelten auch die Ophthalmologie (Augenheilkunde) und Anästhesiologie (Schmerzbetäubung, Narkose).
Pharmakologie Die Pharmakologie (Medizinkunde) wurde im 9. Jahrhundert neben der Botanik als separate Disziplin und neben der Heilkunde als separater Berufsstand anerkannt. Größere Krankenhäuser hatten eigene Apotheken. Im 9. Jahrhundert wurde in Bagdad die erste Apotheke eröffnet. Pharmazeuten wurden vom Staat geprüft und lizenziert. Arzneimittellehre ( griechisch Perí haplón pharmákon / Peri hyles iatrikes; lateinisch De Materia Medica) von Dioskurides wurde vom Griechischen ins Arabische übersetzt und blieb ein Standardlehrbuch. Dschabir Ibn Hayyan (722–815) gilt als Verfasser einer der ersten arabischen pharmazeutischen Abhandlungen. Sabur Ibn Sahl (9. Jahrhundert) schrieb ein praktisches Handbuch mit Rezepten, Dosierungen und Anweisungen zur Verabreichung von Medikamenten. Al-Razi und Ibn Sina (siehe den Abschnitt »Medizin« weiter vorn in diesem Kapitel) leisteten auch bedeutende Beiträge zur Pharmakologie. Ibn al-Baytar (etwa 1190–1248) trug in seinem Wörterbuch einfacher Heilmittel und Nahrungsmittel einen großen Teil des bekannten pharmazeutischen Wissens seiner Zeit zusammen.
Physik, insbesondere Optik Die optische Forschung begann mit der Übersetzung der griechischen Hauptwerke ins
Arabische. Ibn al-Haytham kombinierte Experimente mit einer geometrischen Analyse und stellte so unter Rückgriff auf verbessertes Wissen über die Physiologie des Auges eine erheblich verbesserte Theorie des Sehens auf. Al-Haytham bewies, dass das Auge nicht das Objekt selbst, sondern das Licht empfindet, das von dem Objekt reflektiert wird, und dass es diese Informationen an das Gehirn übermittelt, das ein Bild des Objekts konstruiert. Kamal al-Din al-Farsi (etwa 1260–1320) ist berühmt für seine Erklärung des Regenbogens, bei der er geometrische Theorie, Experiment und Wissen über die Übertragung des Lichts kombinierte. Er führte ein Experiment durch, bei dem das Licht durch einen Wassertropfen reflektiert wurde, um einen »Regenbogen« zu produzieren. Sonnenstrahlen, die den Wassertropfen durchdringen, werden zweimal gebrochen und einmal in dem Tropfen reflektiert, wodurch der primäre Regenbogen erzeugt wird. Eine zweite innere Reflexion erzeugte einen sekundären Regenbogen mit umgekehrter Reihenfolge der Farben.
Architektur In der Architektur sind Technik, Ingenieurkunst und künstlerische Fähigkeiten vereint. Die folgenden Abschnitte beschreiben die beiden bekanntesten architektonischen Monumente des Islam.
Tadsch Mahal 1631 starb Mumtaz Mahal, die geliebte Frau des Großmoguls Schah Dschahan von Indien, bei der Geburt ihres 15. Kindes. Im folgenden Jahr begann er, ihr Grab zu bauen, das weithin als berühmteste Errungenschaft der muslimischen Architektur gilt. In der englischsprachigen Welt wurde das Tadsch Mahal 1789 vor allem durch die zahlreichen Gemälde des englischen Landschaftsmalers Thomas Daniell bekannt. Das Tadsch Mahal steht am linken Ufer des Yamuna-Flusses in Agra auf einer Plattform, die an hinduistische architektonische Stile angelehnt ist. Es zählt zu den vier herausragenden Beispielen für die Grabarchitektur der Moguln aus der Hoch-Zeit ihres Reiches. (In Kapitel 2 erfahren Sie mehr über die Moguln.) Neben Hindus aus Indien und Kaschmir und muslimischen Steinmetzen aus Indien wurden Handwerker aus dem Osmanischen Reich, aus Samarkand, Schiras, Buchara und Kandahar ins Land geholt. Ahmad Lahawri war wahrscheinlich der Hauptarchitekt. Das Grab steht in der Mitte eines großen, angelegten Gartens, der durch sich kreuzende Wasserbecken in vier Quadranten unterteilt ist. Die Becken könnten den See und die vier Ströme des Paradieses repräsentieren. Über dem massiven Eingangstor am Südende des Gartens steht eine Passage aus Sure 89 (»Die Morgenröte«), die mit der Einladung endet, das Paradies zu betreten. Der große Zwiebelturm des Grabs scheint über den reflektierenden Wasserbecken zu schweben. Während derartige Gebäude zuvor mit rotem
Sandstein gebaut wurden, besteht das Tadsch Mahal aus glänzendem, poliertem, weißem Marmor, dessen Farbe im Verlauf des Tages variiert. Viele glauben, das Tadsch Mahal sei noch schöner, wenn es vom Mondlicht beleuchtet wird. Neben der Hauptkuppel werden die Ecken des Gebäudes von vier kleineren Kuppeln überwölbt. Vier große schlanke Minarette rahmen den ganzen Komplex ein. Ein großer Bogen auf der Südseite markiert den Eingang. Auf den anderen drei Seiten befinden sich identische Bogen. Auf dem Eingangsbogen ist Sure 36 eingraviert, die traditionell vor Sterbenden rezitiert wird. Eine Moschee und ein Gasthaus, von außen im Wesentlichen identisch, flankieren das Grabmal auf beiden Seiten. Sie sind in die Mauern integriert, die das Ensemble des Gartens und des Grabes einschließen. In dem Grabgebäude befinden sich Kenotaphe (Särge) für Schah Dschahan und seine Frau. Die innere und äußere Dekoration besteht aus arabischer Kalligrafie und Mustern aus feinen Blumen in voller Blüte. Man muss kein Muslim sein, um das Tadsch Mahal ehrfürchtig zu bestaunen oder zu glauben, einen Blick in den Himmel geworfen zu haben.
Die Alhambra Während das Tadsch Mahal am stärksten von außen wirkt, sollte die Alhambra am besten von innen besichtigt werden. Die Alhambra ist der architektonische Höhepunkt aus der Zeit der Muslime in Andalusien. Die Anlage zählt zu den besterhaltenen muslimischen Palästen, obwohl beträchtliche Teile in Trümmern liegen oder später überbaut wurden. Die ursprüngliche Zitadelle geht auf das 8. Jahrhundert zurück, aber die berühmtesten Teile des Palastes wurden im 14. Jahrhundert von der Nasiriden-Dynastie von Granada gebaut. Gelehrte sagen, es habe ursprünglich sieben Palastkomplexe und 23 Türme gegeben. Die Paläste bestehen aus Höfen mit Wasserbecken und Brunnen, die von Kolonnaden eingeschlossen sind und zu den Innenräumen führen. Der Löwenhof ist nach seinem berühmten Brunnen mit zwölf Löwen benannt, die Wasser aus ihren Mäulern speien. Der Myrtenhof ist wegen seines langen, zentralen Wasserbeckens berühmt, das den nördlichen und südlichen Portikus sowie den Nordturm reflektiert. Wie das Tadsch Mahal erzeugt die Alhambra ein Bild des Paradieses. Die Decken einiger Räume erinnern an die sieben Himmel und den Himmelsdom. Besonders beeindruckend ist die Dekoration im Bienenwabengewölbe, in dem gestaffelte Reihen von Halbnischen aus Stuck bis zur Decke reichen. Aus jeder Nische ragt ein einzelner Vorsprung hervor (ähnlich den Stalaktiten, die wie Eiszapfen von der Decke einer Höhle herabwachsen). Mit der Google-Bildersuche finden Sie im Internet Bilder der Alhambra und ihrer verschiedenen Teile, einschließlich des Myrtenhofs und des Löwenhofs.
Kapitel 18
Zehn bemerkenswerte Muslime aus Vergangenheit und Gegenwart IN DIESEM KAPITEL Geografie und Geschichte Zwei wichtige Führer aus der islamischen Geschichte Berühmte islamische Denker aus dem Mittelalter (und einer aus dem 20. Jahrhundert) Ein Architekt, ein Romanautor und eine Sängerin
Die Beschreibungen wichtiger Muslime in diesem Kapitel sind zu kurz, um mehr leisten zu können, als Ihre Neugier zu wecken. Ich habe mich bemüht, bedeutende Muslime aus Vergangenheit und Gegenwart darzustellen und ähnliche Beiträge gegenüberzustellen. Eine der Besten habe ich bis zum Schluss aufgehoben: Umm Kulthum, eine ägyptische Sängerin aus dem 20. Jahrhundert. Falls Sie wenig Zeit haben, sollten Sie wenigstens den Abschnitt über diese faszinierende Frau lesen oder – noch besser – meinen Hinweisen folgen, um ihre Musik zu hören.
Eine lange Reise: Ibn Battuta 1325 ging Ibn Battuta von seiner Geburtsstadt Tanger in Marokko auf den Hadsch. Die Reise hätte normalerweise ein bis drei Jahre gedauert. Er kehrte 25 Jahre später nach Hause zurück. Nach zwei weiteren kürzeren Reisen nach Spanien und Westafrika hatte Ibn Battuta auf seinen Reisen insgesamt fast 130.000 Kilometer zurückgelegt und mehr als 40 Länder besucht. Der marokkanische Sultan beauftragte den Hofdichter Ibn Dschuzayy, die Memoiren niederzuschreiben, die ihm Ibn Battuta aus dem Gedächtnis diktiert hatte (sinngemäß: »Ein Geschenk für Neugierige, die die Wunder der Städte und des Reisens kennenlernen wollen«). Die englische Übersetzung des Werkes ist über 1.000 Seiten lang. Im Deutschen gibt es nur eine, heute vergriffene Kurzfassung (»Reisen ans Ende der Welt 1325–1353«). Die Berichte sind erstaunlich genau und detailliert. Hier eine Kurzversion von Ibn Battutas Reiserouten:
1. Im Juni 1325 machte er sich auf die Reise. Er reiste auf dem Landweg entlang der nordafrikanischen Küste nach Kairo und dann weiter nach Damaskus, um sich einer Hadsch-Karawane nach Mekka anzuschließen. Dort kam er 1326 an. 2. In den folgenden fünf Jahren machte Ibn Battuta zwei weitere Wallfahrten, während er durch Arabien und an die ostafrikanische Küste reiste. 3. Dann machte er sich auf einem Umweg nach Indien auf. Seine Route führte ihn durch die Türkei nach Konstantinopel, Buchara, Samarkand und Kabul. 1333 erreichte er Indien. 4. 1342 sandte ihn der Sultan von Delhi auf eine diplomatische Mission nach China. Aufgrund verschiedener Unglücksfälle, einschließlich eines Schiffbruchs, verbrachte er einige Zeit auf den Malediven. 5. Dann reiste er weiter nach Sri Lanka und erlitt einen weiteren Schiffbruch, bevor er Bengalen, Sumatra und China besuchte. 6. 1347 kehrte Ibn Battuta nach Indien zurück. Von dort reiste er nach Syrien und Kairo, das vom Schwarzen Tod (der Pest) heimgesucht worden war. Die Seuche forderte bis zu 21.000 Todesopfer am Tag. Per Schiff reiste er zurück nach Marokko. 7. Seine beiden letzten Reisen führten ihn nach Granada in Spanien und dann quer durch die Sahara nach Westafrika und zurück. Ibn Battuta arbeitete bis zu seinem Tod 1378 als Richter in Marokko.
Ein Enzyklopädist: al-Tabari Abu Dschafar Mohammed Ibn Dscharir al-Tabari wurde 839 in der Region südlich des Kaspischen Meers geboren. Im Alter von sieben Jahren kannte er den Koran auswendig. Er ging nach Bagdad, um bei Ibn Hanbal (780–855, siehe Kapitel 8), einem islamischen Rechtsgelehrten, zu studieren, der jedoch vor al-Tabaris Ankunft starb. Deshalb studierte er einige Jahre in Persien, Irak, Syrien, Palästina und Ägypten. Schließlich kehrte er nach Bagdad zurück, wo er ein berühmter Lehrer des Hadith (Überlieferung) und des Rechts wurde. (Quellen berichten, er habe 40 Seiten am Tag geschrieben.) Al-Tabari vertrat einen mittleren Weg zwischen den Positionen der Mu'taziliten und Schiiten sowie der extremen Traditionalisten, die durch Ibn Hanbal repräsentiert wurden. Seine berühmtesten, gigantischen Werke sind sein Korankommentar (tafsir) und seine Geschichte (tarikh) der Propheten und Könige. Beide Werke sind
umfangreiche Sammlungen des damaligen muslimischen Wissens des jeweiligen Fachgebiets. Al-Tabari soll noch umfangreichere Werke geplant haben, aber seine Freunde überzeugten ihn, sie zu kürzen. Deshalb umfassen seine beiden Hauptwerke »nur« jeweils etwa 30 Bände. In seinem tafsir stellt al-Tabari alle Verse des Koran mit allen wichtigen früheren Auslegungen dazu einzeln dar. Sein Korankommentar ist die Hauptquelle für das Verständnis der frühen Geschichte der Koraninterpretation und wurde das maßgebliche Referenzwerk für künftige Gelehrte. Sowohl der Kommentar als auch die Geschichte sind wie eine Hadith-Sammlung aufgebaut: Al-Tabari nennt zunächst den isnad (die Kette der Überlieferer) jeder Interpretation oder jedes Ereignisses (siehe Kapitel 8). Durch seine Auswahl und Aneinanderreihung der Berichte zeigt Tabari subtil die Schwächen einiger Berichte im Gegensatz zur Glaubwürdigkeit anderer auf. Die Geschichte beginnt mit der Schöpfung, fährt mit der biblischen Zeit fort, behandelt dann die Zeit Mohammeds und endet 915. Die Geschichte zählt neben Ibn Ishaqs Biografie Mohammeds zu den beiden wichtigsten Einzelquellen für die frühe islamische Geschichte. Al-Tabari starb 933 in Bagdad.
Ein Mann des Schwertes: Saladin Salah al-Din (Saladin im Westen) war ein großer Krieger zur Zeit der Kreuzzüge (siehe Kapitel 2). Er wurde von Chronisten beider Seiten wegen seiner Ritterlichkeit, Großzügigkeit besiegten Feinden gegenüber und seiner Vertrauenswürdigkeit geachtet. Wenig mehr als 100 Jahre nach seinem Tod machte Dante in der Göttlichen Komödie Saladin neben Homer und Platon zum einzigen seiner Zeitgenossen als Bewohner des Limbus (der Zwischenstation für die Menschen, die weder in den Himmel noch in die Hölle kommen). In 19. Jahrhundert griff Sir Walter Scott in seinem Buch Der Talisman die Geschichte von Saladin auf, worin er König Richard Löwenherz von England auf Saladin treffen ließ. Saladin wurde 1137 als Kurde geboren. Seine Familie zog nach Aleppo, wo sie der lokalen Zangi-Dynastie diente, die das damalige Nordsyrien beherrschte. Saladin begleitete seinen Onkel Schirkuk auf drei Expeditionen nach Ägypten. Als der Onkel 1169 starb, übernahm Saladin den Befehl über die syrischen Truppen und wurde bald zum Herrscher Ägyptens und Gründer der Ayyubiden-Dynastie (1169–1252), welche die Fatimiden-Dynastie ablöste (siehe Kapitel 2). Die Herrschaft über Ägypten gehört zum Plan des Zangi-Herrschers Nur al-Din, Jerusalem zurückzuerobern und die europäischen Kreuzfahrer aus der Region zu vertreiben. Durch die Anwesenheit der Kreuzfahrer entwickelten die Muslime eine starke Verbundenheit mit Jerusalem. Zahlreiche Werke wurden zur Rechtfertigung und Durchsetzung des dschihad und zur Rückeroberung der Stadt geschrieben. Nach Nur al-Dins Tod 1174 übernahm Saladin die Herrschaft über das Zangi-Gebiet in Syrien und im nördlichen Mesopotamien. Saladin fügte der Armee der
Kreuzfahrer bei den »Hörnern von Hattin« in Galiläa im Juli 1187 die entscheidende Niederlage zu. Im Oktober eroberte er Jerusalem zurück, ließ aber die Einwohner der Stadt am Leben (anders als die Christen bei ihrer Eroberung der Stadt 88 Jahre zuvor). Im Laufe der nächsten zwei Jahre fielen die meisten christlichen Festungen bis auf Tyros an der Küste. Die Könige von Frankreich, Deutschland und England verbündeten sich, um auf einem neuen Kreuzzug Jerusalem zurückzuerobern, konnten aber 1191 nur Akkon und einige andere Küstenstädte in ihre Gewalt bringen. Der kranke König Richard schloss 1192 einen Waffenstillstand mit Saladin und zog sich zurück. Saladin kehrte nach Damaskus zurück, wo er im folgenden Jahr starb.
Ein großer König: Akbar Akbar (1542–1605) war der dritte Mogul-Herrscher (siehe Kapitel 2) und Gründer der bedeutendsten Muslim-Dynastie Indiens. Väterlicherseits war er Nachkomme des mongolischen Eroberers Dschingis Khan und von Timur, einem bedeutenden türkischen Eroberer und Gründer der Timuriden-Dynastie (siehe Kapitel 2). Mütterlicherseits stammte er von iranischen Muslim-Herrschern ab. Die Mutter von Akbars Sohn und Nachfolger Dschahangir war eine Hindu-Prinzessin. Sein Stammbaum zeigt, wie sich in Akbar verschiedene Strömungen kultureller und religiöser Überlieferung vereinigten: türkische, persische (iranische), mongolische und indisch-hinduistische. Zu Akbars großen Erfolgen zählen militärische Eroberung, die Einrichtung einer Zentralverwaltung der Regierung, die Förderung der religiösen Toleranz und die Verbindung muslimischer und hinduistischer künstlerischer Überlieferungen. Akbar wurde im Alter von 13 Jahren zum Herrscher ausgerufen. 1560 übernahm er die Herrschaft. Bis zu seinem Tode hatte er den kleinen Staat, den er geerbt hatte, östlich bis zum Golf von Bengalen, nördlich bis Pundschab und südlich bis Zentralindien ausgeweitet. Um seinen erheblich erweiterten Staat zu regieren, reformierte Akbar das Steuersystem, sodass die meisten Steuereinkünfte die Zentralregierung erreichten, während sie den Bauern gleichzeitig Anreize zur Produktionssteigerung ließen. Damit schuf er die Grundlage für wirtschaftliches Wohlergehen. Er entwarf ein System, in dem alle zivilen und militärischen Regierungsämter vom Herrscher vergeben und aus der königlichen Schatulle bezahlt wurden. Höhere und mittlere Beamte, die auch eine wichtige Minderheit der hinduistischen Oberschicht umfassten, wurden häufig in andere Regionen versetzt, damit sich keine örtlichen Machtzentren entwickeln konnten, welche die Macht des Herrschers infrage stellten. Vor Ort gab es eine weitere Gruppe von Verwaltern, die dem König direkt verantwortlich waren. Gerichtsbeamte unterstanden ebenfalls der königlichen Kontrolle, und ein System von Spitzeln lieferte dem König laufend Informationen über das Gebaren lokaler Beamter. Akbar schuf einen Ausgleich zwischen den zahlreichen religiösen Strömungen Indiens:
den verschiedenen Formen des Hinduismus, dem Islam der Rechtsgelehrten (ulama), den verschiedenen Prägungen des Sufismus und Schiismus. Ein Erlass aus dem Jahre 1579 machte den König zum obersten Richter in Fragen des islamischen Rechts. Akbar wurde für seine Toleranz anderen Religionen gegenüber berühmt. Von einigen konservativen Muslimen wird er deshalb manchmal kritisiert, ja abgelehnt. Akbar schaffte die Sondersteuer für Nichtmuslime und die Steuer für Hindu-Pilger ab. Er unterstützte den Bau sowohl von Moscheen als auch von Tempeln. Er förderte den Dialog nicht nur zwischen Muslimen und Hindus, sondern auch mit Jesuitenpatres, die an der indischen Westküste in Goa missionierten, und Anhängern anderer Religionen. Im Jahre 1582 gründete Akbar seine eigene Religion (Din-i-ilahi, »der Göttliche Glaube«), obwohl sie auf wenige Leute seines engsten Freundeskreises beschränkt war. Akbar, der auch als großer Förderer der Kunst in die Geschichte einging, war ein berühmter Bauherr, der mehrere Moscheen, Grabmäler und Paläste errichten ließ. Er gründete eine neue Hauptstadt namens Fatehpur Sikri, die später aufgegeben wurde und heute zu einer der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten in Nordindien zählt. Akbar gründete königliche Ateliers, in denen hinduistische und persische Maltraditionen vereint wurden und die meisterhaft illustrierte Manuskripte hervorbrachten. Alles in allem war Akbar sicher kein Herrscher im Sinne traditioneller Muslime, aber eine faszinierende Gestalt, ein Eklektiker, der Beträchtliches erreichte und bewirkte.
Ein tiefer Denker: Ibn Ruschd Ibn Ruschd, im Westen besser als Averröes bekannt, wurde 1126 in Córdoba in Spanien geboren. Er genoss eine anspruchsvolle Ausbildung in Koraninterpretation, Recht, Theologie und Medizin. Um 1166 traf er Abu Yaqub Yusuf, den Kalifen der AlmohadenDynastie, die zu dieser Zeit Nordwestafrika und Spanien beherrschte. Dieser fragte ihn, ob der Himmel (das Universum) ewig oder irgendwann in der Zeit entstanden sei. Ibn Ruschd zögerte zu antworten, sodass der Kalif seine Frage selbst beantwortete. Daraufhin führten die beiden eine lange philosophische Diskussion. Auf Bitten des Kalifen erstellte Ibn Ruschd Zusammenfassungen der meisten Werke von Aristoteles sowie von Platons Republik. Er schrieb auch drei unterschiedlich umfangreiche Kommentare zu Aristoteles’ Werken. Vom Kalifen unterstützt, wurde Ibn Ruschd 1169 Richter in Sevilla, 1171 Oberrichter von Córdoba und 1182 Leibarzt des Kalifen an dessen Hof in Marrakesch. Als er um 1195 kurzzeitig in Ungnade fiel, musste er ins Exil gehen. Seine Bücher wurden verbrannt. 1198 wurde er rehabilitiert. Er starb im gleichen Jahr. Ibn Ruschd schrieb drei Bücher über zentrale Probleme der Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung. In einem widerlegte er Punkt für Punkt al-Ghazalis Buch über die »Inkohärenz der Philosophen«. Stattdessen vertrat er die Auffassung, Philosophie und Religion lehrten dieselbe Wahrheit: Philosophen könnten diese
Wahrheit durch philosophische Beweise voll verstehen, während die meisten Leute die Wahrheit aufgrund der Autorität der Offenbarung akzeptierten. Der Koran selbst fordere Muslime auf, ihr Wissen zu erweitern, und damit die philosophische Untersuchung. Humorvoll nannte er seine Gegenschrift »Die Inkohärenz der Inkohärenz …«. Für Ibn Ruschd waren Theologen wie al-Ghazali gefährlicher als Philosophen, weil sich Theologen auf unbewiesene Spekulationen einließen, im Gegensatz zu dem Vernunftsbeweis der Philosophen. Ibn Ruschd untersuchte viele Fragen, mit denen sich frühe islamische Philosophen auseinandersetzten: die Erschaffung der Welt, die Eigenschaften Gottes, Kausalität, freien Willen und Vorherbestimmung und das Schicksal der Seele nach dem Tod. Ibn Ruschd wurde in Westeuropa als Übermittler der Lehren von Aristoteles bekannter als in der islamischen Welt, in der das Zeitalter bedeutender islamischer Beiträge zur Philosophie zu Ende ging. In Europa wurden Ibn Ruschds Bücher allerdings 1277 an der Sorbonne-Universität in Paris verbrannt, weil sie auch mit der christlichen Dogmatik unvereinbar waren. Seine erhaltenen Werke, von denen einige nur in lateinischen Übersetzungen überliefert sind, wurden Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl im Westen als auch von einigen islamischen Intellektuellen erneut rezipiert.
Ein Geschichtsphilosoph: Ibn Khaldun Ibn Khaldun, der 1332 in Tunis geboren wurde und 1406 in Kairo starb, war der erste Geschichtsphilosoph und zugleich Vater der Soziologie. Seine Autobiografie, die er im Jahr vor seinem Tod beendete, liefert umfangreiche Informationen über den Autor und seine Zeit. Khalduns Eltern starben 1349 an der Pest, ein Schicksalsschlag, der ihn nachhaltig prägte. Im Alter von 20 Jahren hatte er eine traditionelle Gelehrtenausbildung absolviert und begann seine Karriere, in der sich Phasen der Studien mit Zeiten politischer Aktivität abwechselten. Von 1375 bis 1379 zog er sich vom Leben am Hofe zurück, um den ersten Entwurf seines großen Werkes, Die Muqaddima, zu schreiben. Diese Abhandlung diente als Einführung in sein umfangreiches Geschichtswerk (kitab al-Ibar) und konzentrierte sich auf die Araber aus der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart. Nach einer Krankheit zog Ibn Khaldun nach Kairo, das unter den Mamelukken-Sultanen die bedeutendste Stadt der arabischen Welt war. Dort diente er zeitweilig als malikitischer Oberrichter, als Lehrer und Oberhaupt eines großen Sufi-Ordens, während er gleichzeitig sein Geschichtswerk und seine Muqaddima (Prolegomena) verfeinerte. Ibn Khalduns Ziel war es, eine Geschichtswissenschaft zu erstellen, die den Aufstieg und den Fall der Zivilisationen gesetzmäßig erklären sollte. Seine Muqaddima ist in sechs Teile gegliedert: Umwelteinflüsse auf die Geschichte, primitive und ländliche Gesellschaften, Regierungsformen, städtische Zivilisation, wirtschaftliche Einflüsse auf den Lauf der Geschichte sowie die Ursprünge, die
Rolle, das Wesen und die Arten des menschlichen Wissens und der Kultur. Seine Grundidee war asabiya (Gruppensolidarität), die er auf jede Gruppe anwendete, die auf gemeinsamer Identität beruhte. Dieser Gruppengeist versetzt Gruppen in die Lage, ihre an sich stärkeren Rivalen zu besiegen. Als Folge davon häuften nomadische Gruppen die wirtschaftlichen Mittel, die für die Bildung einer städtischen Gesellschaft erforderlich waren, was wiederum die Förderung der Künste und Produktion von Luxusgütern zur Folge hatte. Die ursprüngliche Bedeutung gemeinsamer Interessen löste sich als Folge des städtischen Wohlstands auf. Der Staat wird schwächer, was einer anderen Gruppe Gelegenheit bietet, sich zur Herrschaft aufzuschwingen und so einen weiteren Zyklus anzustoßen.
Ein Held der Revolution: Ali Schariati Wer vor einer Revolution stirbt, hat die Chance, ein Held zu bleiben. (Wenn Voltaire und Rousseau bis zur Französischen Revolution gelebt hätten, hätten sie als Opfer der Guillotine enden können, statt französische Volkshelden zu werden.) Ali Schariati, 1933 geboren, wurde ein Held, der sich dem Schah von Persien entgegenstellte und 1977, zwei Jahre vor der iranischen Revolution, starb. Er wurde zeit seines Lebens vom konservativen Klerus kritisiert, doch Ayatollah Khomeini (der durch die Revolution an die Macht kam) verurteilte ihn nie. Als toter Held inspirierte er verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen revolutionären Zielen. Schariati wurde in einem Dorf im Ostiran geboren. Seine Schulausbildung erhielt er von seinem Vater, der sich mit der Frage befasste, wie der Islam der modernen, entfremdeten Jugend vermittelt werden könnte. Anfang der 1960er-Jahre ging Schariati nach Paris, wo er in Soziologie und Islamwissenschaften promovierte. Von den Schriften und Aktionen von Che Guevara, Sartre und Fanon beeinflusst, wurde er in Paris zur führenden Stimme der Intellektuellen, die sich der Regierung des Schahs entgegenstellten. Nach seiner Rückkehr in den Iran 1965 verbrachte er sechs Monate im Gefängnis. Wegen seiner Popularität als Lehrer wurde er entlassen und zog 1967 nach Teheran, wo er der Stardozent an der Husseiniya-i-Ershad-Universität wurde und Tausende seinen Vorlesungen folgten. Sein Ziel war es, die radikale soziale Botschaft des Marxismus mit den revolutionären, egalitären Vorstellungen der ursprünglichen Schia zu verbinden. Schariati träumte als muslimischer Soziologe von einer islamischen Gesellschaft, in der das Volk mit Gott auf seiner Seite einen gerechten Staat schafft und aufrechterhält. Die Einheit Gottes (tawhid) impliziert nicht nur Sorge für die spirituelle Welt, sondern auch für die soziale Ordnung. Der traditionelle Schiismus ist zu passiv geworden: Gott handelt nur, wenn das Volk sich ändern will (Sure 13:11). Schariati wurde so populär, sodass der Schah ihn 1973 als islamischen Marxisten anprangerte. Die Polizei setzte Schariati gefangen und verbot seine Werke. Er verbrachte drei Jahre im Gefängnis und zwei Jahre unter Hausarrest. 1977 starb er im Exil in England. Offiziell wurde ein Herzinfarkt als
Todesursache genannt, obwohl viel dafür spricht, dass er von Agenten des Schahs ermordet wurde. In der iranischen Revolution war er der ideologische Held vieler Gruppen, die jeweils den Teil seiner Botschaft betonten, der zu ihren Zielen passte. Auch wenn Schariati die Rolle des Volkes betonte, war er der Auffassung, es brauche Führung – nicht anders als zu Zeiten des Propheten. Ob Schariati Khomeinis Rolle als Wächter oder spirituellen Führer der neuen islamischen Republik des Iran als Verkörperung seiner revolutionären Ideen oder als ihren Verrat gesehen hätte, wird man nie erfahren.
Ein Architekt großer Moscheen: Sinan Die Rekrutenwerbung des amerikanischen Militärs fordert junge Leute auf, der Armee beizutreten, um ein Handwerk oder einen Beruf zu lernen. Sinan hätte ein gutes Beispiel für derartige Werbefilme abgegeben, weil er seinen Beruf als Architekt beim Militär erlernte. Er wurde der berühmteste Architekt des Islam. Ihm werden 34 Paläste und 79 Moscheen, viele öffentliche Bäder, Schulen, Herbergen für Reisende, Grabmäler, Krankenhäuser, Brunnen und Aquädukte zugeschrieben – insgesamt 477 Bauwerke. Historiker wissen nicht genau, wie viele dieser Projekte er persönlich plante und ausführte und bei wie vielen er eher als beratender Architekt beteiligt war. Sinan, 1489 in Anatolien geboren, wurde 1512 zum militärischen Elitekorps der Janitscharen eingezogen, das aus christlichen Jugendlichen bestand, die von der Regierung zu Muslimen erzogen werden sollten. Sinan errichtete Brücken und andere militärische Bauwerke für die Armee. Um 1539 wandte er sich nichtmilitärischen Bauwerken zu und wurde der bedeutendste Architekt des Osmanischen Reiches. Obwohl auch einige seiner kleineren Bauwerke wahre Kunstwerke sind, basiert sein Ruhm auf drei seiner großen Moscheen: die Schezade-Moschee (Istanbul, 1548) die Süleymaniye-Moschee (Istanbul, 1557) die Selimiye-Moschee (Edirne, 1575), sein Lieblingsbauwerk Das heutige Erscheinungsbild des Felsendoms in Jerusalem ist im Wesentlichen auf Sinans Rekonstruktion zurückzuführen, einschließlich der unverwechselbaren Fayencen. Sinan nahm die zentralen Kuppeln byzantinischer Kirchen als Modell für seine großen Moscheen, doch er modifizierte das Innere, um unter der Kuppel Platz für die große, zentrale Gebetshalle zu schaffen. Außen umgab er die Zentralkuppel mit kleineren Kuppeln und Halbkuppeln. Das Bauwerk wurde von hohen, schlanken Minaretten eingerahmt.
Das Osmanische Reich erreichte unter Süleyman I. seinen Höhepunkt. Es stellte dem großen Architekten die Mittel zur Verwirklichung seiner Visionen zur Verfügung. Als Sinan 1588 starb, wurde er in einem kleinen Mausoleum (türbe) in der Nähe seines Meisterwerks, der Süleymaniye-Moschee, begraben.
Der Nobelpreisträger: Naguib Machfus Naguib Machfus, der bekannteste arabische Schriftsteller, erhielt 1988 den Nobelpreis für Literatur. In der Verleihungsurkunde wurde Machfus als Autor beschrieben, der »durch seine nuancenreichen – mal grell realistischen, mal beschwörend vieldeutigen – Werke eine arabische Erzählkunst geformt habe, die für die gesamte Menschheit« gelte. Machfus wurde 1911 geboren. Bis zu seiner »Pensionierung« 1971 arbeitete er in diversen Behörden. Er schrieb an die 40 Romane, von denen mehrere verfilmt wurden. Seine ersten Romane spielten im alten Ägypten und enthielten Anspielungen auf die zeitgenössische ägyptische Gesellschaft und Politik. Vor dem Hintergrund der Ereignisse vom Ersten Weltkrieg bis zum Sturz der Monarchie 1952 beschreibt seine Kairo-Trilogie (1956–1957) das Leben dreier Generationen von Familien in Kairo. Die Trilogie gilt als aufschlussreiche Beschreibung der damaligen ägyptischen Gesellschaft. Der Roman Die Kinder unseres Viertels (Unionsverlag, 1994) ist das umstrittenste Werk von Machfus. Der Roman erzählt die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hinweg. Gleichzeitig erinnern die Personen und Ereignisse an die Geschichten von Moses, Jesus und Mohammed. Das Buch wurde im größten Teil der arabischen Welt verboten. Machfus verurteilte die fatwa von Khomeini gegen Salman Rushdie (siehe Kapitel 3). Als Reaktion darauf verkündete die extremistische ägyptische Gruppe al-Dschihad, alle Muslime seien verpflichtet, sowohl Rushdie als auch Machfus zu töten. 1994 versetzten Unbekannte Machfus Messerstiche in den Hals, aber er erholte sich von dem Attentat, das von der Öffentlichkeit und Scheich Mohammed Tantawi, Ägyptens oberstem religiösen Vertreter, scharf verurteilt wurde. Mehrere Romane von Machfus liegen auch auf Deutsch vor.
Der Gesangsstar: Umm Kulthum Über 45 Jahre beherrschte Umm Kulthum Ibrahim die Gesangsszene Ägyptens und der arabischen Welt. Dorfbewohner versammelten sich erwartungsvoll um das Radio, um ihre wöchentlichen Sendungen zu hören. Menschen reisten nach Kairo, um ihre Konzerte am Donnerstagabend zu besuchen, wo sie in schlichten, langen, eleganten Abendkleidern auftrat. Der Umfang ihrer Stimme und ihre emotionale Ausdruckskraft rührten ihre
Zuhörer tief an. Nach 1967 wurde sie mit Präsident Nasser zur Stimme Ägyptens im Ausland. Umm Kulthum wurde 1904 in einem kleinen Dorf im Nildelta geboren. Ihr Vater war Vorbeter (imam) der örtlichen Moschee, sie besuchte die örtliche Koranschule. Als sie ihren älteren Bruder singen hörte, begann sie, ihn nachzuahmen, und trat bald auf Festen und Hochzeiten in der Nachbarschaft auf. Ihr Vater kleidete sie zunächst wie einen Jungen, um Peinlichkeiten zu vermeiden. Die Familie zog 1923 nach Kairo, um ihre Karriere zu fördern; doch sie vergaß nie ihr Heimatdorf und nutzte ihren Einfluss, um ihm als einem der ersten Dörfer zu Elektrizität zu verhelfen. Umm Kulthums Repertoire umfasste religiöse und patriotische Lieder sowie Liebeslieder. Als sie 1975 starb, sollen über vier Millionen Menschen zu ihrem Begräbnis gekommen sein. Dabei nahmen die Trauernden den Trägern den Sarg fort und reichten ihn während der drei Stunden dauernden Begräbnisprozession von Trauerndem zu Trauerndem weiter. Auch heute werden noch Hunderttausende CDs und Kassetten mit ihren Liedern verkauft. Näheres über »den Star des Ostens« finden Sie in dem Buch Umm Kulthum, Persönlichkeit und Faszination der ägyptischen Sängerin von Stefanie Gsell (Schiler Verlag, 1998).
Teil VII
Anhänge
IN DIESEM TEIL … Wann beginnen in unserem westlichen Kalender das islamische Jahr oder der Fastenmonat Ramadan? Der muslimische Kalender ist ein lunarer Kalender (Mondkalender), im Gegensatz zu dem lunisolaren Kalender (MondSonnenkalender), der im Westen verwendet wird. Der Monatswechsel richtet sich auch hier grob nach dem Mondzyklus, aber die Jahre nach dem der Sonne (genau genommen nach dem der Erde, die ja die Sonne umkreist). Deshalb versucht der lunisolare Kalender durch alternierende Monatslängen und ein im Detail komplexes System von Schalttagen, beide Systeme aufeinander abzustimmen. In diesem Teil stelle ich für mehrere Jahre die Daten des westlichen Kalenders den islamischen religiösen Hauptjahresdaten gegenüber. Außerdem finden Sie eine Liste mit den muslimischen Monatsnamen sowie eine Anleitung zur Umrechnung eines westlichen Datums in das entsprechende muslimische Datum und umgekehrt. Ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe, einschließlich vieler arabischer und einiger persischer Worte, soll Ihnen helfen, deren Bedeutungen nachzuschlagen. Aus Platzgründen konnten leider nicht alle Ausdrücke berücksichtigt werden. Schließlich hoffe ich, dass dieses Buch Ihr Interesse am Islam so weit geweckt hat, dass Sie mehr darüber wissen wollen. Der letzte Anhang gibt Hinweise, wo Sie weitere Quellen (Bücher, Internetseiten, Medien) finden können.
Anhang A
Die Jahre zählen: Der muslimische Kalender So wie die Christen ihren Kalender mit der Geburt Jesu und die Juden ihren religiösen Kalender mit dem traditionellen Datum der Erschaffung der Welt beginnen lassen, lassen die Muslime ihren Kalender mit der Emigration (Hidschra) Mohammeds und seiner Anhänger von Mekka nach Medina 622 n. Chr. beginnen. Deshalb entspricht 622 n. Chr. (auch: A. D. = Anno Domini, Jahr des Herrn) dem Jahr 1 A. H. (Anno Hidschrae, Jahr der Hidschra). Außerdem spielt das genaue Datum der Hidschra eine Rolle. Deshalb entspricht der 16. Juli 622 n. Chr. dem 1. Muharram (erster Monat des muslimischen Jahres) des Jahres 1 A. H. Der muslimische religiöse Kalender ist ein lunarer Kalender. Deswegen finden im Vergleich zu einem solaren Kalender, den die meisten westlichen Länder verwenden, dieselben Ereignisse elf Tage früher statt, da das lunare Jahr nur 354 Tage lang ist, während das solare Jahr 365 Tage umfasst. Bei zivilen Angelegenheiten verwenden auch Muslime oft den im Westen benutzten lunisolaren Kalender, der manchmal als der gregorianischer Kalender bezeichnet wird. Schließlich müssen die Bauern wissen, wann sie säen sollen, und diese Informationen sind an den solaren, nicht den lunaren Kalender gebunden. Doch für religiöse Zwecke wird der islamische religiöse Kalender verwendet. Die folgende Liste nennt die Namen der zwölf Monate des muslimischen Jahres mit ihrer wörtlichen Bedeutung in zeitlicher Reihenfolge. Denken Sie daran, dass sie nicht mit bestimmten westlichen Monaten übereinstimmen: Muharram: der geschützte Monat Safar: der leere Monat Rabi al-Awal: der erste Frühling, auch Rabi 1 Rabi al-Sani: der zweite Frühling, auch Rabi 2 Dschamadi al-Awal: der erste Monat der Trockenheit, auch Dschamadi 1 Dschamadi al-Akhir: der zweite Monat der Trockenheit, auch Dschamadi 2 Radschab: der geehrte Monat Schaban: der Monat der Trennung Ramadan: der sengende Monat
Schawal: der Monat der Jagd Dhu-l Qada: der Monat der Rast Dhu-l Hadscha: der Monat der Wallfahrt Die Schreibweise der Namen kann je nach Quelle variieren. Um ein westliches (christliches) in ein muslimisches Datum oder umgekehrt umzuwandeln, gibt es zwei Umwandlungsformeln: Westliches Datum in muslimisches Datum:
G bedeutet das gregorianische (christliche) Datum. Nach dieser Formel begann das Jahr 1990 n. Chr. in dem muslimischen Jahr 1410 A. H. 1990 − 622 + [(1990 − 622) / 32) = 1378 + [1378 / 32] = 1410 Muslimisches Datum in christliches Datum:
Danach begann das muslimische Jahr 1421 A. H. im Jahr 1999 n. Chr.: (1421 + 622) − (1421 / 33) = 1999. Tabelle A.1 zeigt, auf welche westlichen Daten die muslimischen religiösen Hauptfeiertage im Zeitraum von 2015 bis inklusive 2019 fielen. 2015
2016
2017
2018
2019
Stehen bei Arafat am neunten Tag des Dhul Hadscha (Monat der Wallfahrt)
23.09. 12.09. 02.09. 20.08. 10.08.
Id al-hada: Opferfest am Ende des Hadsch
24.09. 13.09. 03.09. 21.08. 11.08.
1. Muharram: erster Tag des neuen Jahres
15.10. 03.10. 22.09. 12.09. 01.09
Aschura, der 10. Muharram: Erinnerung an den Tod Husseins 680
24.10. 10.10. 10.10. 21.09. 10.09.
Maulid: mauled al-Nabi: 12. Rabi-al Awal (Rabi 1), Geburtsdatum Mohammeds
03.01. 12.12. 01.12. 21.11. 10.11.
Miradsch: der 27. Rabi, die Nachtreise und Himmelfahrt Mohammeds
15.05. 04.05. 23.04. 12.04. 02.04.
15. Schaban: die Nacht der Reue
03.06. 23.05. 12.05. 01.05. 20.05.
1. Ramadan: Beginn des Fastenmonats Ramadan
18.06. 07.06. 27.05. 16.05. 06.05.
26. Ramadan: Datum, an dem der Koran vom Himmel gesandt wurde, die Nacht des Schicksals
13.07. 02.07. 21.06. 10.06. 31.05.
Id al-fitr: Fest des Fastenbrechens, am 1. Schawal
18.07. 07.07. 26.06. 15.06. 05.06.
Tabelle A.1: Muslimische Feiertage zwischen 2015 und 2019
Bei Kalenderfragen hilft auch das Internet weiter, beispielsweise: http://www.arndt-bruenner.de/mathe/scripts/kalenderconv.htm. Danach
entsprach der 18. November 2005 dem 16. Schawal 1426 im muslimischen Kalender.
Die Schiiten feiern den Ghadir al-Khum am 18. des Dhu-l Hadscha (dem Monat der Wallfahrt). Sie glauben, dass Mohammed nach seiner Abschiedswallfahrt an diesem Tag an der Oase von Khum haltmachte und dort Ali zu seinem Nachfolger bestimmte (siehe Kapitel 12 für Details).
Anhang B
Glossar In diesem Anhang finden Sie – hauptsächlich arabische – Wörter und Ausdrücke, die in Diskussionen über den Islam immer wieder vorkommen. Dieses Glossar soll Ihnen helfen, solche Diskussionen zu verstehen. Begriffe, die nur in einem Kapitel vorkommen, werden hier in der Regel nicht aufgeführt, da sie in dem betreffenden Kapitel definiert werden. Namen von Personen, Sekten, Strömungen oder geografischen Orten (Städte, Länder und Regionen) werden hier ebenfalls nicht genannt.
Adab: Manieren, Moral, Etikette (auch gehobene und höfische Literatur) Adhan: Gebetsruf Al-dschanna: der Garten; die gebräuchlichste Bezeichnung für das Paradies Al-Fatiha: die »Eröffnende«; die erste Sure des Koran Al-hamdu li-llah: »Gepriesen sei Gott« Ansar: Bürger Medinas, die Mohammed unterstützten Aqida: grundlegende Glaubenssätze und Praktiken des muslimischen Glaubens Aqiqa: Abschneiden des Haares eines neugeborenen Kindes Arkan al-ibada (auch: Arkan al-Islam): die fünf Säulen des Gottesdienstes – Glaubensbekenntnis, tägliches Gebet, Fasten, Sozialsteuer, Wallfahrt nach Mekka; nicht dasselbe wie die fünf Säulen des Glaubens Arkan al-imam: die fünf Säulen des Glaubens – Glaube an Gott, seine Engel, seine Propheten, seine Bücher und den Tag des Gerichts
Arkan al-Islam: Siehe Arkan al-ibada Aschura: der Zehnte des ersten muslimischen Monats (Muharram), an dem an den Tod Husseins erinnert wird Aya: Zeichen oder Gottesbeweis: ein Vers des Koran (Mehrzahl Ayat) Baraka: Segnung, Segen Barzakh: die Barriere zwischen Leben und Tod, die bis zur Auferstehung besteht Basmala: »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!«; Formel, mit der alle Suren bis auf eine eröffnet werden Batin: die verborgene, esoterische Bedeutung des Koran; siehe Tawil Bida: Neuerung; jede Abweichung von den Praktiken und Glaubenssätzen des frühen Islam Dar al-harb: Gebiet, das nicht von Muslimen regiert wird Dar al-Islam: Gebiet, das von Muslimen regiert wird Dawa: Einladung zum Islam Dervisch (Darwisch): andere Bezeichnung für Sufis; wörtlich »arme Person« (persisch) Dhikr: Gottesgedenken; Sufi-Zeremonien, bei denen der Name Gottes rituell rezitiert wird Dhimmi: »geschützte Leute«; ursprünglich Christen und Juden – später auch Zoroastrier und einige andere Glaubensrichtungen – , die als religiöse
Minderheiten in einem islamischen Staat leben Din: Religion Dschahiliyya: Zeit der heidnischen »Unwissenheit« in Arabien vor der Berufung Mohammeds Dschihad: »Anstrengung« Dschinn: verschiedene unsichtbare Wesen Dua: freiwilliges Gebet; Gegensatz zu salat Falsafa: arabische Bezeichnung für Philosophie Faqih: Rechtsgelehrter Faqir: Sufi; Derwisch Fard: Pflicht; vorgeschriebenes Verhalten Fatwa: Gutachten eines islamischen Gelehrten zu einer Frage des islamischen Rechts Fiqh: islamisches Recht im umfassenden Sinne Fitna: Streit, Zwietracht; Bezeichnung mehrerer Rebellionen, welche die Einheit des frühen Islam bedrohten Fünf Säulen des Glaubens: siehe Arkan al-imam Fünf Säulen des Gottesdienstes: siehe Arkan al-ibada Fünf Säulen des Islam:
siehe Arkan al-Islam Ghayba: verbergen; die Verborgenheit des zwölften schiitischen Imams Ghusl: Ganzkörperreinigung vor Ritualen Hadith qudsi (heiliger Hadith): Worte Gottes, die nicht im Koran stehen Hadith: Überlieferung von Aussagen oder Handlungen Mohammeds Hadsch: Wallfahrt nach Mekka – eine der fünf Säulen des Gottesdienstes Hafiz: Person, die den Koran auswendig gelernt hat Halal: erlaubte Nahrungsmittel und Handlungen Hanif: Monotheist vor der Zeit Mohammeds Haram: verbotene Nahrungsmittel und Handlungen Hidschab: eine Bezeichnung für die Bedeckung muslimischer Frauen Hidschra: Emigration der Muslime von Mekka nach Medina im Jahre 622 Hilal: Neumond, der den Beginn eines neuen Monats anzeigt Hudud: strafbare Handlungen und Strafen, die im Koran für einige schwere Verbrechen definiert werden; Einzahl ist Hadd Ibada: Gottesdienst, wörtlich Verehrung Id (Eid): Id al-adha (Opferfest) gegen Ende der Wallfahrt, Id al-fitr (Fest des Fastenbrechens) am Ende des Ramadan
Idschaz: Unnachahmlichkeit des Koran Idschma: Konsens Idschtihad: Anstrengung (bezeichnet die Auslegung der islamischen Quellen) Ihram: rituelle Kleidung auf dem Hadsch (Wallfahrt) Ihsan: Tugend, Ethik Ilm: Wissenschaft, Wissen Imam: Vorbeter; bei Schiiten Führer der Muslime Iman: Glauben In sha'allah: »So Gott will« Isnad: Übermittlungskette eines Hadith Isra: Mohammeds Nachtreise von Mekka nach Jerusalem Jinn: siehe Dschinn Kadi: siehe Qadi Kafir: Ungläubiger, Atheist Kalam: islamische Theologie als wissenschaftliche Disziplin Khalifa: Titel eines sunnitischen Herrschers; wörtlich »Nachfolger«
Khanqa: Treffpunkt oder Niederlassung eines Sufi-Ordens Khitan: Beschneidung Khutba: Predigt beim Freitagsgebet Kitab: arabisches Wort für Buch, und deshalb auch »das Buch« (der Koran) Koran: Mohammed geoffenbarte Heilige Schrift des Islam Kufr: Unglauben oder Götzendienst Madhhab: Rechtsschule (Mehrzahl: Madhahib) Madrasa: islamische Schule Mahdi: islamische messianische Gestalt, die am Ende der Zeit erscheinen wird Mahr: Brautgeschenk Masdschid: arabisches Wort für Moschee; wörtlich »Ort der Niederwerfung« Matn: Inhalt eines Hadith Maulid al-nabi: Geburtstag Mohammeds; Fest zur Feier seines Geburtstags Mawla: Bezeichnung aus dem frühen Islam für einen Islamkonvertiten, der durch Adoption an einen arabischen Stamm gebunden war Mihrab: Wandnische in einer Moschee; markiert die qibla (Richtung nach Mekka) Minbar:
Kanzel in einer Moschee Miradsch: Mohammeds nächtliche Himmelsfahrt während der isra Mudschaddid: ein Restaurator oder Reformer, der auftritt, um den Islam wiederherzustellen Muezzin: Gebetsrufer Mufti: Person, die qualifiziert ist, ein Rechtsgutachten zu erstellen; siehe Fatwa Muhadschirun: Muslime, die 622 mit Mohammed von Mekka nach Medina emigrierten Mullah: Religionsgelehrter, hat im schiitischen Islam eine Führungsrolle Mushaf: physisches Exemplar des Koran Nabi: Prophet Naskh: ein annullierter (derogierter) Vers in geoffenbarten Schriften Nika: Ehevertrag Niyya: die »Absicht«, die vor allen rituellen Akten gefasst werden muss Pir: Sufi-Führer; persisches Synonym für Scheich Qadi: islamischer Richter Qibla: Richtung nach Mekka Qiyas: Analogie
Qur'an: siehe Koran Qutb: der »Pol« oder die Achse der Welt; der perfekte Mensch Raka: Abschnitt beim salat (Gebet) Ramadan: Fastenmonat Rasul: Gesandter; Apostel Ray: persönliche Meinung eines Gelehrten in einer Frage des islamischen Rechts Riba: Wucher; Zinsen für Kreditvergabe sind im Islam verboten Sadaqa: Spenden über die zakat hinaus Salam alaikum: »Friede sei mit dir«; muslimischer Gruß Salat: das formelle tägliche Gebet Sama (Zuhören): Sufi-Zeremonie mit Musik Saum: Fasten Say: Lauf zwischen zwei Hügeln in Mekka als Teil des Hadsch-Rituals Sayyid: Ehrentitel für zwei Nachkommen Mohammeds Schahada: »Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist Gottes Gesandter« Scharia: islamisches Recht
Schaytan: Satan, Teufel Scheich: siehe Sheik Schiiten: kleinerer Zweig des Islam, der sich auf Ali und seine Nachkommen konzentriert Schirk: Nebengöttern dienen; schlimmste Sünde im Islam Schura: Beratung; Bezeichnung für moderne gesetzgebende Körperschaften Sheik: Stammes- oder Klan-Führer (wörtlich »Älterer«); auch Sufi-Führer Silsila (Kette): der spirituelle Stammbaum eines Sufi Subha: Gebetsperlenkette oder Rosenkranz Sufi: islamischer Mystiker (tasawwuf ist die arabische Bezeichnung für den Sufismus) Sunna: vorbildliche Lebensweise des Propheten und seiner Gemeinschaft Sunni: Mehrheitsislam Sura: Bezeichnung für die 114 Kapitel des Koran Tafsir: Kommentar zum Koran Tahara: Reinigung, die vor der Verrichtung von Ritualen erforderlich ist Takbir: der Ausruf »Gott allein ist groß« (Allahu akbar) Talaq:
Scheidung Talbiya: die Formel »Hier bin ich …«, die während des Hadsch ausgesprochen wird Taqiyya: erlaubte Verstellung (schiitische Praxis) Tariqa: »Weg«; kennzeichnet Sufi-Orden Tasliya: Bittformel zur Segnung Mohammeds (»Friede und Segen sei mit ihm«) Tawaf: Umwandlung der Kaaba Tawhid: Einheit Gottes Tawil: allegorische oder esoterische Interpretation des Koran Ulama: traditionelle Religionsgelehrte des Islam; (Einzahl: alim) Umma: die gesamte muslimische (Welt-)Gemeinschaft Umra: die kleinere jederzeit mögliche Wallfahrt nach Mekka Urs: Hochzeitszeremonie Usul al-fiqh: Wurzeln der muslimischen Rechtsprechung – Koran, Hadith, qiyas, idschma Wali: Freund (Gottes); Bezeichnung von Sufi-Heiligen Waqf: eine islamische Stiftung Wudu: die kleinere Reinigung vor rituellen Aktivitäten
Wuquf: die Zeremonie des Stehens in der Ebene von Arafat während des Hadsch Zahir: die externe Bedeutung eines Textes (Gegenteil von batin) Zakat: jährlich erforderliche Sozialabgabe; eine der fünf Säulen des Gottesdienstes Ziyara: Besuch; Wallfahrt nach Medina
Anhang C
Weitere Quellen Im Lauf der letzten Jahrzehnte, besonders aber seit dem 11. September 2001 hat die Zahl der Bücher über den Islam erheblich zugenommen. In diesem Anhang finden Sie eine Auswahl der verfügbaren Quellen.
Bücher Die meisten der folgenden Bücher sind im Buchhandel erhältlich. Abu Hamid Al-Ghazali: Die kostbare Perle im Wissen des Jenseits, Kandern: Spohr Verlag 2. Aufl. 2009 Bobzin, Hartmut: Der Koran – Eine Einführung, München: Beck, 8. Aufl. 2010 Bobzin, Hartmut: Mohammed, München: Beck, 4. Aufl. 2011 Halm, Heinz: Der Islam – Geschichte und Gegenwart, München: Beck, 8. Aufl. 2011 Halm, Heinz: Die Schiiten, München: Beck, 2005 Hofmann, Murad: Der Islam als Alternative, Kreuzlingen, München: Hugendubel, 6. Aufl. 2010 Hofmann, Murad: Islam im 3. Jahrtausend – Eine Religion im Aufbruch, Kreuzlingen, München: Hugendubel, 2. Aufl. 2001 Hofmann, Murad: Der Islam, Diederichs kompakt, Kreuzlingen, München: Hugendubel, 2. Aufl. 2001 Hofmann, Murad: Der Koran, Diederichs kompakt, Kreuzlingen, München, 2. Aufl. 2002 Hunke, Sigrid: Allahs Sonne über dem Abendland, Stuttgart: DVA, 6. Aufl. 2009 Ibn Ishaq: Das Leben des Propheten, Kandern: Spohr Verlag, 5. Aufl. 2014 Krämer, Gudrun: Geschichte des Islam, München: Beck 2005 Küng, Hans: Der Islam – Geschichte Gegenwart Zukunft, München: Piper, 4. Aufl. 2006 Meier, Andreas: Der politische Auftrag des Islam, Wuppertal: Hammer 2000 Nagel, Tilman: Der Koran – Einführung Text Erläuterungen, München: Beck, 4. Aufl. 2002 Sahih al-Buhari: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad,
Stuttgart: Reclam 1997 (Hadithe) Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam, Frankfurt: Insel, 1995 Schimmel, Annemarie: Sufismus – Eine Einführung in die islamische Mystik, München: Beck, 3. Aufl. 2005 Sultan, Sohaib: Der Koran für Dummies; Weinheim, Wiley-VCH, 2. Aufl. 2014
Der Koran Wenn Sie den Islam ernsthaft studieren wollen, benötigen Sie ein Exemplar des Koran. Diesem Buch liegt die Übersetzung von Max Henning in der Überarbeitung von Murad Wilfried Hofmann aus dem Diederichs Verlag (Der Koran: das heilige Buch des Islam; München: Diederichs 2007) zugrunde. Im Buchhandel werden diverse andere Übersetzungen angeboten (siehe auch die Abschnitte »Bücher« und »Computersoftware« in diesem Anhang).
DVDs und Videos DVDs und Videos über den Islam finden Sie unter den einschlägigen Links auf den Webseiten der weiter hinten im Abschnitt »Islam im Web« genannten islamischen Verleger und Händler.
Computersoftware Muslime haben schnell die Vorteile des Computers und des Internets genutzt sowie diverse Softwareprodukte über den Islam hergestellt. Unter www.kaufundhilf.de (beziehungsweise https://kermesland.de/), Link MULTIMEDIA, finden Sie unter anderem Koranrezitationen, eine islamische Enzyklopädie, die islamische Geschichte und islamische Rechtsliteratur. In der Digitalen Bibliothek (auf CD mit Software) liegen vor: Der Koran – übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Rudi Paret: Berlin: Digitale Bibliothek 46 Lexikon des Islam – Geschichte, Ideen, Gestalten, von Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann und Peter Heine: Berlin: Digitale Bibliothek 47
Islam im Web Websites kommen und gehen; deshalb kann ich nicht garantieren, dass die hier genannten Sites noch aktuell sind, wenn Sie dies lesen. Die folgenden drei großen Webportale für den deutschsprachigen Raum enthalten umfangreiche Link-Sammlungen, die Ihnen mit ein bis drei Klicks praktisch die gesamte islamische Welt im Web erschließen. Islam in Deutschland: www.islam.de Islam in Österreich: www.islam.at Islam in der Schweiz: www.islam.ch
Islamische Organisationen DML (Deutsche Muslim Liga): www.muslim-liga.de IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüs): www.igmg.de Islamrat (Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland): www.islamrat.de VIKZ (Verband der islamischen Kulturzentren e. V.): www.vikz.de ZIF (Zentrum für Islamische Frauenforschung): www.zif-koeln.de ZMD (Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V.): www.islam.de
Islamische Verleger und Händler Einige bieten Produkte vieler Print- und Medien-Verleger an, andere vertreiben hauptsächlich ihre eigenen Erzeugnisse. Islamischer Informationsdienst: www.didi-info.de Muslime helfen: www.kaufundhilf.de mit Umleitung auf https://kermesland.de/ Diese Quellen wenden sich hauptsächlich an Muslime; ihr Angebot wissenschaftlicher Bücher über den Islam von nichtmuslimischen Verlegern ist oft beschränkt und selektiv. Bücher von nichtmuslimische Verlegern finden Sie in Stadtbüchereien oder Buchläden.
Und schließlich … Suchen Sie in Ihrer Stadt nach Quellen: Moscheen, Büchereien, Buchhandlungen und Universitäten in Ihrer Umgebung. Besuchen Sie eine Moschee in Ihrer Nachbarschaft und nehmen Sie an einer ökumenischen Diskussionsgruppe teil.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 2.1: Die Reiche der Omayyaden und Abbasiden in ihrer größten Ausdehnung Abbildung 2.2: Die Reiche der Osmanen, Safawiden und Moguln Abbildung 6.1: Arabien zu Zeiten Mohammeds Abbildung 9.1: Zwei unterschiedliche architektonische Stilrichtungen beim Bau von Moscheen: oben die Blaue Moschee in Istanbul, unten die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem Abbildung 14.1: Stammbaum der verschiedenen islamischen Sekten Abbildung 15.1: Stammbaum der abrahamitischen Religionen
Stichwortverzeichnis A Abaya 202 Abbasiden 35, 46 Erfolge 47 Abbasiden-Revolte 215 Abd Allah Ibn Ibad 242 Abd al-Qadir Dschilani 238 Abdal-Malik 45 Abraham 167, 253, 258 Abrahamitische Familie 22, 253 Abrahamitische Religion 253 Beziehungen zueinander 255 Bibel im Koran lesen 256 gemeinsames Buch 255 Verehrung desselben Gottes 254 Abschiedspredigt 105 Abschiedsumkreisung 171 Abschiedswallfahrt 105, 169, 211 Absicht 152 Abtreibung 198, 203 Abu al-Abbas 47 Abu al-Hasan al-Schadhili 238 Abu al-Nadschib al-Suhrawardi 238 Abu al-Qasim al-Zahrawi 283 Abu al-Qasim Mohammed al-Dschunayd 231 Abu Bakr 38, 99 Abu Daud 134 Abu Hanifa 22, 141
Abu Nasr al-Sarradsch 231 Abu Talib 38 Abu Yaqub Yusuf 291 Abu Yazid al-Bistami 231 Abu-Hafs Umar al-Suhrawardi 238 Abu-l-Abbas Ahmad al-Tidschani 239 Abu-Talib 100 Adab-Bücher 195 Adam 38, 258 Adhan 155, 180 Adl 193, 212 Adoption 200 Afrika 37 Aga Khan 245 Ägypten 35 Ahmad 109 Ahmad al-Badawi 239 Ahmad Ibn Ali al-Rifai 238 Ahmad Lahawri 284 Ahmadiyya 249 Akbar 290 Akbar I. 54 Aladdins Wunderlampe 84 Al-Amin 101, 109 Al-Aqsa-Moschee 160, 171 Al-Ashari 73, 76 Alawiten 248 Al-Baqara 115 Al-Baqir 215 Al-barzakh 86 Al-Bistami 229
Al-Busiri 110, 176 Al-Dadschal 86 Al-Darazi 246 Al-Dschahiliyya 96 Al-dschanna 88 Al-Dschunayd 229 Aleviten 249 Bektaschi 248 Kurden 248 Türkei 248 Al-Fatiha 115 Algebra 280 Algerien 37 Al-Ghazali 58, 76, 231 Gottesbeweis 62 Sündenkategorien 195 Algorithmus 280 Al-Habib 109 Al-Hakim 246–247 Al-Hallaj 60 Alhambra 284 Al-hamdulillah 129 Al-Hamza 246 Al-haqq 229 Al-Hasan al-Askari 216 Alhazen 281 Ali 31, 210, 301 Herrscher der Gläubigen 210 Martyrium 213 Mohammeds Nachfolger 211 und Alawiten 248
Ali Schariati 292 Al-Kazimiyya 215 Al-Khidr 230, 260 Al-Khwarizmi 280–281 Alkohol 205 Allah Herkunft des Wortes 60 Name Gottes 60 Allahu akbar 157 Al-Lat 59, 96 Alltagsbrauch 186 Al-masdschid al-haram 167 Al-masdschid al-Scharif 172 Almohaden-Dynastie 291 Almosen 162 Al-Muhasibi 231 Al-Muqtana 247 Al-Mustafa 109 Al-Mustansir 244 Al-nar 88 Al-Nasai 134 Al-Nawawi 135 Al-Razi 282–283 Al-Ridda 39 Al-salamu alaykum wa rahmatullah 158 Al-Sarradsch 229 Al-Schafii 139, 142, 145 Al-sirat al-mustaqim 150 Al-Suhrawardi 221
Al-Tabari 59, 111, 288 Hadith-Sammlung 289 Korankommentar 125 Alte Eltern 201 Al-Tirmidhi 64, 100, 134 Al-Tusi 221 Al-Uzza 59–60, 96 Al-ziyara 172 Amir al-Mu'minim 39 Amulett 189 Analekten 113 Analogie 139 Analsex 197 Anästhesiologie 283 Anthropologie 174 Antichrist 86 Apostasie 39 Aqiqa-Opfer 182 Aql 220 Araber Religion 96 Arabeske 161 Arabic Human Development Report 268 Arabien 35 Geografie 94 vor Mohammed 94 Arabisch 22 Arabisch (Sprache) 94 Arabisierung 46 Arafat 168
Architektur 159, 283 Sinan 293 Aristoteles 291 Arkan al-din 150 Arkan al-ibada 149 Arzneimittellehre 283 Aschura 179, 218 Ashkaris 220 Asket 226 Asketentum 162 Asma al-sharifa 109 Assassinen 245 Astrolabium 281 Astrologie 281 Astronomie 279, 281 Atatürk 249 Atheist 68 Attentäter 245 Auferstehung 71, 85–86 Aurangzeb 56 Außenpolitik der USA 270 Averröes 291 Avicenna 282 Aya 61 Aya-Nummer 114 Ayatollah 221 Ayatollah Khomeini 59, 292 Ayin 22
B Badawiyya 239
Bagdad 35 Hauptstadt 47 Zerstörung 49 Bahauddin Naqshband 239 Bangladesch 33 Bank islamische 204 Banu al-Maruf 247 Baqa 229 Baraka 55, 128, 234 Barbur 55 Bashir Asad 248 Basmala 116, 129 Batin 125, 221 Baustil 160 Bayezid 231 Bayt al-Hikma 279 Beduine 96 Befruchtung künstliche 198 Begräbnis 186 Beigesellung 58 Bektaschi 52, 239 Aleviten 248 Berg des Erbarmens 169 Beschneidung 151, 182 weibliche 182 Besuchswallfahrt 169–171 Bibel im Koran lesen 256–262 Bida 65, 133, 177
Bihar al-anwar 221 Bint 181 Blaue Moschee 160 Blick böser 189 Bohras 245 Brautgeld 184 Bukhari 134 Buraq 101 Burda 109, 176 Bürgerpflicht 204 Bürgerrecht 204 Burqa 202 Buyiden-Dynastie 48 Buyiden-Familie 216
C Cem 249 Chaddor 202 Charakterbildung 191 Charta der islamischen (Menschen-)Rechte 272 China 34 Chirurgie 283 Chistiyya 239 Christentum Gemeinsamkeiten mit Islam und Judentum 253 und Islam 60 Córdoba 50, 291 Cross-Dressing 198
D
Da'i Mutlaq 246 Daif 135 Damaskus 35 Dar al-harb 36 Dar al-Islam 36, 45, 51 Dar al-sulh 36 Darura 140 Datumsumrechnung 300 Daudis 246 Dawa 152 Demokratie Islam 273 Derogation 126 Derwisch 228 heulender 235, 238 tanzender 236 Deuteronomium 262 Dhikr 65, 229, 234–235 Haupttypen 235 Dhimmi 40, 263 Dhu al-Nun al-Misri 231 Dhu-l Hadscha 299 Dhu-l Qada 299 Diabolos 84 Diakritisches Zeichen 22 Dialog religiöser 264 Din-i-ilahi 290 Dioskurides 283 Doktrin der Okkultation 212 Drogen 205
Drusen 246 Theologie der 247 Drusenstern 248 Dschafar al-Sadiq 243 Dschafariten-Schule 219 Dschahannam 88 Dschalal 64 Dschalal al-Din Rumi 63, 237 Dschamadi 1 299 Dschamadi 2 299 Dschamadi al-Awal 299 Dschamal 65 Dschihad 153, 273, 289 defensiver 274 der Hände 274 der Zunge 274 des Herzens 274 des Schwertes 274 größerer 274 kleinerer 274 Dschingis Khan 49 Dschinn 69, 82, 84 Dschuhhal 247 Dschuma 158 Dua 153, 158
E Ebene von Arafat 105 Edles Heiligtum 171
Ehe 182, 198 Brautgeld 184 temporäre 197 zeitlich begrenzte 220 Ehebruch 143, 199 Ehevertrag 184, 197 Ehrenmord 197 Eigentum 204 Einheit 68 Einheit Gottes 58, 68, 229 Einzigartigkeit Gottes 58 Elite spirituelle 212 Engel 69, 81–82 Aufgaben 82 Eigenschaften 82 Gabriel 29, 83 gefallener 69 Israfil 84 Izrail 84 Michael 83 Munkar 84 Nakir 84 Namen 83 Erkenntnis Gottes 229 Ernährung 187 Ersatzmutterschaft 198 Erwachsenwerden 183 Erziehung 200
Ethik 68, 191–192 in den Religionen 191 in der Praxis 196 Medizin 203 Probleme 205 Sünde 195 Texte 193 Tierrechte 205 Umwelt 205 Euthanasie 203 Evangelium 70 Evolutionstheorie 75
F Fakir 228 Familie 198 Fana 229 Fard 143 Farid al-Din Attar 63, 237 Fasten 31, 163 Bedeutung 164 Fastenbrechen 163, 165 Fest des 165 Fastenmonat 163 Fatawa 68 Fatehpur Sikri 291 Fatiha 58, 116, 129 Fatima 31, 38 Fatimiden-Dynastie 246 Fatwa 138 Beispiel 143
Felsendom 294 Fest des Fastenbrechens 165 Feuer 88 Fez 188 Fihr 97 Fiqh 139 Fiqh Akbar I 79 Fitna 42, 45 Flickengewand 234 Flügel, Gustav 118 Frau Absonderung 202 Erbrecht 201 Geschlechtertrennung 201–202 Gleichberechtigung 201, 272 im Himmel 88 im Islam 201 im Sufismus 232 Kleidungsvorschriften 202 Rituale 190 Schleier 202 Freimaurer 248 Freitagsgebet 158 Friedensvertrag von Hudaybiyyah 263 Führer religiöser 220 Fünfer 215 Fünferschiiten 243 Fünftel (Steuer) 220
G
Gabriel 29, 82–83, 98–99 Garten 88 Garten der Märtyrer 218 Gebet 31 Einzelgebet 158 Freitagsgebet 158 freiwilliges 153, 158 Gebetsort 155 Gebetszeit 154 Häufigkeit 154 rituelles 153 tägliches 153 Gebetsnische 155–156 Gebetsruf 153, 155 Gebetsteppich 155 Gebetszyklus 156 Geburt 179 Geburtenkontrolle 198 Geburtsname 181 Geburtstag Mohammeds 175 Feier 175 Gedicht 110 Geist 69 Gemeindeordnung von Medina 102–103 Gemeinschaft islamische 102 Gerader Weg 150 Gerechtigkeit 193 gesellschaftliche 203 wirtschaftliche 203 Gericht 87
Gesandter Gottes 71 Geschäftsgebaren 204 Geschichte 10. bis 15. Jh. 48 Abbasiden 46 des Islam 29, 35 Epochen 35 frühe 35 Goldenes Zeitalter 43 Nachmittelalter 50 Omayyaden 44 vier rechtgeleitete Kalifen 37 Geschichtsphilosophie 292 Geschlechtertrennung 202 Geschlechtsverkehr 196 Gesetz im Islam 131 Wurzeln 139 Gesetz Gottes 138 Ghadir al-Khum 301 Ghayba 212, 216 Ghulat 248 Ghusl 151, 168 Glaube 67 Glauben und Werke 77 Glaubensbekenntnis 31, 68, 79, 151 Glaubenssatz 30, 57 Gleichberechtigung 272 Glücksspiel 205 Gnade 87 Goldenes Zeitalter 43
Gott Attribute 62 Bücher 70 Einheit 58, 68 Einzigartigkeit 58 Gesandte 71 Gesetz 138 Liebe zu 63 lieben und kennen 62 Namen 63–64 Propheten 71 Suche nach 225 Trinitätsgedanke 58 Zeichen 61 Gottes Engel 69 Gottesbeweis 61 Gottesdienst 67 fünf Säulen des 68, 149 Zwölferschia 217 Gottesverständnis 57 Gottgedenken 65, 229, 235 Grab 85 Grabenschlacht 104 Granada 50, 284 Gregorianischer Kalender 299 Große Moschee 167–168 Großes Fest 170 Großfamilie 200 Gründer des Islam 60 Grundrecht 204 Grüne, der 260
H Hadith 57, 67, 132–133 bewerten 135 daif 135 Geschichte 134 hasan 135 Inhalte 132 isnad 132 matn 132 qudsi 64, 228 sahih 135 Sammlungen 134 Verwendung in der Neuzeit 136 wichtigste Hadithe 135 Hadith-Sammlung 289 Hadsch 104, 165 Ablauf 168 Abstecher nach Medina 172 Aufbruch 167 Ende 171 Mekka 165 Selbsterfahrung 171 Hadscha 166, 219 Hadschi 166, 219 Hadschi Bektasch 239 Hadschi Bektasch Veli 249 Hafiz 127 Hafiz al-Asad 248 Hal 229 Hamdan Qarmati 244
Hamza 22 Hamzanama 55 Hanafiten 22 Hanafitische Schule 141 Hanbalitische Schule 142 Handlung abgeratene 143 empfohlene 143 neutrale 143 obligatorische 142 verbotene 143 Handlungskategorie 142 Hanif 96 Haram 143, 166 Haram al-scharif 171 Harun al-Raschid 47 Hasan 135 Hasan al-Basri 230 Haschim 97 Haschischiyun 245 Hassan 213 Hassan Ibn Thabit 109 Hattin 50 Haus der Trauer 211 Haus Gottes 167 Heidentum 58 Heilige Schrift 113–114 Heiligengrab 178 Wallfahrtsort 171 Heiligenverehrung 177 Heiliger Geist 262
Heiliges 150 Heilsprozess 261 Heiratsalter 199 Helfer 102 Herat 49 Herrscher der Gläubigen 39, 210 Hidschab 202 Hidschaz 95 Hidschra 102, 299 Hikam 238 Hilal 163 Himmel 85, 87–88 Frauen 89 Huris 89 Himmelsreise 101 Hindi 55 Hinduismus 58 Hingabe an Gott 21 Hiyyal 144 Hochzeit 183 Hochzeitsfeier 199 Hochzeitszeremonie 184 Hölle 81, 85, 88 Homosexualität 198 Hubal 60, 96 Hudud 143 Hujjat al-islam 221 Huntington, Samuel 271 Huri 89
Hussein 45 Aschura-Feiern 217 Martyrium 213 Hussein Ibn Mansur al-Halladsch 231 Hypokriten 88, 102
I Ibada 67 Ibaditen 242 Ibaha 140, 142 Iblis 69, 84 Ibn 181 Ibn al-Baytar 283 Ibn al-Farid 237 Ibn al-Haytham 283 Ibn Arabi 55, 64, 232 Ibn Ata Allah 238 Ibn Battuta 287 Ibn Hanbal 142 Ibn Ishaq 111, 167 Ibn Khaldun 292 Ibn Maja 134 Ibn Nusair 248 Ibn Ruschd 291 Ibn Sina 282–283 Ibn Taymiyya 142, 177 Ibrahim Ibn Adham 230 Id al-adha 169 Id al-fitr 165 Id Karim 165 Id Mubarak 165
Idschaz 123 Idschma 139, 273 Idschtihad 138, 143, 220 Ihram 168 Ihsan 67 Ihya Ulum ad-Din 232 Illuminaten 221 Iltifat 124 Imam 53, 155, 209–211 Aufgaben 211 Führung der Engel 83 verborgener 211–212 Wallfahrten 218 Imamat Attribute 211 Imami 209 Immigrant 102 Impotenz 196 Indien 33, 35 Individualismus 204 Indonesien 37, 270 Ingenieurswesen 281 Innovation 133 Insha'allah 73 Iqama 155, 180 Irak 35 Iran 35 Schiismus 53 schiitischer Klerus 217 Staatsgründung 216 Zwölferschia 216
Iranische Revolution 292 Ischraqi-Bewegung 221 Islam 30 als Religion 68 Asketentum 162 Demokratie 102, 273 Einstellung zu den USA 269 Ethik 67, 191–192 Expansion 39 fünf Säulen des 68, 82, 149 Gemeinsamkeiten mit Judentum und Christentum 253 Geschichte 29, 35 Gesetz 131 Glaube 67 Glaube und Vernunft 75 Glaubensbekenntnis 68 Glaubenssätze 30, 57 Gottesdienst 67 Gründer 61 Hauptströmungen 31 Heiligenverehrung 177 in China 34 islamische Länder 32 Kolonialismus 270 Konsens 76 Leben nach dem Tod 81 Loyalität 58 Menschenrechte 272 Offenbarung 76 Probleme mit dem Westen 271 Religionsfreiheit 272
richtiges Handeln 131 Rituale 175 rituelle Pflichten 68 Sekten 241 Stellung der Frau 201 Südasien 54 Sufismus 225 Sünden 58, 261 Terrorismus 274 Teufel 84 Theologie 73 Tradition 131 Trinitätsidee 68 und andere Religionen 263 und Judentum 60 und Polytheismus 58 Volksislam 173 Weltbevölkerung 31 Weltkarte 34 westliche Welt 268 Islamische Philosophie 76 Islamisches Gesetz 138 fiqh 139 Islamisches Recht Handlungskategorien 142 internationales Recht 272 Reform 145 Strafen 143 Wurzeln 139 Islamisierung 46–47 Islamist 21
Ism 181 Isma 212 Ismael 167 Ismailiten 31, 241 Philosophie und Theologie 221 Ismailitische Theologie 244 Isnad 132 Isra 101 Israfil 84, 86 Istanbul 160 Istihsan 140–141 Istishab 140 Istislah 140, 141 Ithna-aschariyya 31 Ithna-Ashari 209 Iznik 52 Izrail 84
J Jafar Ibn Abu Talib 74 Jazid 45 Jemen 243 Jerusalem 160, 294 Wallfahrtsort 170 Jesaja 262 Jesus 60, 261 als Mahdi 261 im Koran 71 und Mohammed 106 Joseph-Sure 259
Judentum Gemeinsamkeiten mit Islam und Christentum 253 und Islam 60 Jüngstes Gericht 72, 84, 86 Vermittlung 87
K Kaaba 95, 166 Umwandlung der 168 Kab Ibn Zuhair 109 Kadscharen 54 Kafia 189 Kafir 67–68 Kalam 73 Kalam Allah 115 Kalender Datumsumrechnung 300 gregorianischer 299 muslimischer 299 Kalif 30, 106 vier rechtgeleitete 37 Kalifat 30 Kalligrafie 109, 127 Kufisch 127 Naskhi 127 Kamal al-Din al-Farsi 283 Kamelschlacht 42 Kanzel 159 Kapitalismus 204 Karma 72 Kaschmir 34
Kaukasus 37 Kerbela 45 Schia 214 Khalifa al-Masih 250 Khanqa 233 Kharidschiten 42, 77, 242 Khimar 202 Khirqa 234 Khitan 182 Khodschas 245 Khomeini 217 Khum 211, 216, 301 Khums (Fünftel) 220 Khutba 159 Kind 200 weibliches 201 Kitab al-Ibar 292 Klan 96 Kleidung 188 Frauen 188 Männer 188 Kleidungsvorschrift 202 Klerus der Schiiten 220 Klitoridektomie 182 Kodex Manu 131 Kolonialismus 270 Kommunismus 204 Konfuzianismus 113 Konfuzius 113, 191 König Faysal 168 Konsens 76, 139, 273
Konya 237, 239 Koran 22, 29, 41, 70, 113 ägyptischer Standardtext 118 als bildhafte Rede 121 als Gottes Wort 115 als Offenbarung Gottes 113 al-Tabaris Kommentar 125 Aussprache 118 Autorität 76 Bedeutungen 115 Bibel lesen im 256–262 Einführung 114 Einstellung zum 117 Eröffnung 129 esoterische Bedeutung 222 esoterische Interpretation 125 exoterische Interpretation 125 geheimnisvolle Buchstaben 119 Geschaffenheit 78 Gliederung 118 Grundlagen 114 hören 115 im Alltag 126 in Persisch 237 Interpretation 125 Juden und Christen 70 Kalligrafie 127 Lesarten 118 lesen lernen 126 Manifestation Gottes 70 Niederschrift 117
Passagen der Zuflucht 62 Perspektiven im 124 Prototyp 115 Prototyp im Himmel 115 Rezitation 115, 128 Rezitatoren 116 schweigender 222 Sprache 122 sprechender 221 Stil 121 Themen im 123 Unnachahmlichkeit 123 Uthman 119 Verseinteilung 118 Versionen 120 Wortbedeutung 115 Zayd Ibn Thabit 119 Zeichen Gottes 61 Zusammenstellung 119–120 Korankommentar 288 Koranschule 126 Kreuzigung 261 Kreuzzug 50 Kubrawiyya 239 Kufa 41–42, 213 Kufisch 127 Kufr 195 Kunst darstellende 205 Kunya 181 Kuraischiten 38, 97
Kurden 248
L Lahoriten 250 Lailat alqadr 164 Laqab 181 Laylat al-qadr 99 Leben nach dem Tod 85 Lebensstil 203 Lesbische Liebe 198 Lesen lernen 126 Leute des Buches 115, 255 Libyen 37 Lichtvers 110 Liebe 226 Liebe zu Gott 63, 228 Limbo 90 Literatur 294 Loge 233 Loyalität 58
M Machfus, Naguib 294 Madhahib 139, 140 Madrasa 49, 139 Madschlis 273 Mahdi 212 Maimonides 50 Makka 22 Makruh 143 Malik Ibn Anas 141
Malikitische Schule 141 Mana 248 Manat 59, 96 Mandub 143 Manuskriptmalerei 55 Maqam 229 Maqasid 146 Maragha 281 Marifa 229 Marja 221 Marja al-taqlid 221 Marokko 35, 37 Marsch der Büßer 214 Märtyrer 153 Martyrium Alis 213 Martyrium Husseins 53, 213 Martyrium in Kerbela 45 Masdschid 159 Masdschid an-Nabi 172 Massaker bei Kerbela 214 Masturbation 197 Mathematik 279 Mathnawi 110 Matn 132 Maulana 237 Maulid 109 Maulid an-nabi 175 Maulid-Feier 176 Verdammung 177 Maulud 110, 176 Maulud-Rezitationen 176
Mawali 46 Medien 205 Medina 29, 95 Gemeinde 102 Medizin 203, 279, 282 Mehrheitsislam 133 Meister-Schüler-Beziehung 229 Mekka 22, 29, 95, 165 Hadsch 165 Mensch perfekter 232 Menschenrecht 272 Mevlevi-Orden 52, 236, 239 Michael 83, 98 Mihrab 155–156 Minarett 155–156 Baustile 160 Minbar 159 Miradsch 101 Mirza Ghulam Ahmad 249 Missionierung 153 Mogul 49 Mogul-Reich 54 Mohammed 29 Abschiedswallfahrt 211 als Gesandter 106 als historische Persönlichkeit 111 als Mensch ohne Sünde 108 als Prophet 105 als schönes Beispiel 107 als Siegel der Propheten 106
als Theologe 105 als Vermittler 108 als Wundertäter 107 Bilder 100 Biografien 110–111 Chronologie 622 bis 630 103 der Prophet 93 Geburtstag 110, 175 Gedichte 110 Geschichte 97 Himmelsreise 101 im Alltag 108 imitieren 132 in der Bibel 262 in der Dichtung 109 Kindheit und Jugend 97 Mission 99 Nachfolger 35, 211 Reise nach Jerusalem 101 Reliquien 109 und Alawiten 248 und Jesus 106 und Moses 106 Wortbedeutung 109 Mohammedaner 30 Mohammed Baqir Madschlisi 221 Mongolen 49 Morgenstern 59 Mosaisches Gesetz 70
Moschee 159 Baustile 160 Bestandteile 159 erste islamische 160 Grundriss 159 Moschee der Dschinn 84 Moses 61, 260 und Mohammed 106 Moses ben Maimon 50 Mu'awiya 42 Mu'taziliten 48, 78 Muba 143 Mudschaddid 212 Mudschtahid 137, 220 Muezzin 155 Mufti 138, 143 Muhadschirun 102 Muharram 163, 214, 299 Muhtasib 137 Muinuddin Chisti 239 Mujawwad 128 Mulla 53 Mulla Sadra 221 Mullah 220 Mumtaz Mahal 284 Munkar 84 Muqaddima 292 Murattal 128 Murid 234 Musa al-Kazim 215 Musa Sadr 248
Muslim 30, 57 wahrer 77 Muslimgemeinde Anfangsprobleme 37 Muslimische Welt Probleme 268 Muslimischer Kalender 299 Mustafa 107 Mustahabb 143 Mustaliden 245 Muta 197, 220, 223 Mutter des Buches 70, 115, 255 Muwahhid 247 Muwahiddun 68 Mystik islamische 227 Mystizismus 227 ekstatischer 226 nüchterner 226
N Nabi 105 Nachfolger Mohammeds 35 Nacht des Schicksals 99, 164 Nachtreise 179 Nadschmuddin Kubra 239 Najaf 213 Nakir 84 Name muslimischer 181 Namensgebung 180
Naqschbandiyya 56, 239 Nasir al-Din-al-Tusi 281 Nasiriden-Dynastie 284 Naskh 126 Naskhi 127 Nawruz 179 Neuerung 177 New Age 225 Nika 184 Nisab 162, 181 Nisba 181 Niyya 152 Nizaris 244 Nobelpreisträger 294 Nordafrika 37 Nur al-Din 289 Nusairier 248
O Offenbarung 76 Gelegenheit der 122 Okkultation 212 Ökumene 264 Omayyaden 35, 44 Erfolge 46 Opferfest 169 Opfergabe 182 Ophthalmologie 283 Optik 283 Organtransplantation 203 Osman 50
Osmanisches Reich 51, 269 Handel 52 Kultur 52 Ostchina 37 Oströmer 43 Osttimor 270 Ozean des Lichts 221
P Pahlewis 54 Pakistan 33 Paradies 88 Paraklet 262 Parsen 97 Partei Alis 31, 210 Passagen der Zuflucht 62 Patriarchat 200 Perzeption 232 Pflicht rituelle 68 Pharmakologie 283 Philosophie 291 islamische 76 Physik 283 Pir 229 Platon 291 Pol (im Sufismus) 232 Politik 204 Polygamie 183–184, 199 Polytheismus 58 Pornografie 198
Präferenz richterliche 140 Praxis religiöse 31 Predigt 159 Prinz der Prinzen 47 Privateigentum 204 Probleme theologische 77 Profanes 150 Prophet Funktionen 99 Mohammed 93 Prophet Gottes 71 Prostitution 197 Psalm 70
Q Qadi 48, 137 Qadianis 250 Qadiriyya 55, 238 Qarmatiner 244 Qasida 110 Qibla 155 Qiyama 86 Qiyas 139, 141 Qubba 178 Qutb 232
R Rabi 1 299
Rabi 2 299 Rabi al-Awal 299 Rabi al-Sani 299 Rabia al-Adawiyya 63, 230 Radschab 299 Raka 156 Ramadan 31, 163, 299 Verhalten 164 Ramban 50 Rasul 106 Rawdat al-shuhada 218 Rebellion dritte 46 erste 42 zweite 45 Recht islamisches 204 Rechter Pfad 130 Rechtsliteratur 144 Rechtsmodell 145 Rechtspraxis 143 Rechtsprechung 144 Rechtsschule 139, 140 der Zwölferschia 215 hanafitische Schule 141 hanbalitische Schule 142 Jarafiten 219 malikitische Schule 141 schafiitische Schule 142 Rechtsstaat 205 Rechtsstaatlichkeit 272
Reconquista 50 Reich des Islam 36 Reich des Krieges 36 Reich des Waffenstillstands 36 Reinheit 151 Reinigung rituelle 150 Reinkarnation 72 Reise nach Jerusalem 101 Reisebericht 287 Religion 68 abrahamitische 253–256 der Araber 96 Ethik 191 fünf Säulen der 68, 149 Gründer 93 Tradition 173 Volksreligion 173 Religionsfreiheit 272 Religionsgelehrter 48 Reliquie 109 Revolution iranische 292 Ribat 233 Richter 48, 137 Rida 228 Rifaiyya 238 Riffat Hassan 136 Risala 145
Ritual 175, 179 Ehe 183 Erwachsenwerden 183 Frauen 190 Geburt 179 Hochzeit 183 Namensgebung 180 Opfergabe 182 Tod 185 Übergangsrituale 179 Rosenkranz 65 Rubaiyyat 280 Rum 237 Rumi 225, 237 Rushdie, Salman 59
S Sabur Ibn Sahl 283 Sadaqa 162 Safar 299 Safawiden-Dynastie 216 Safawiden-Reich 53 Safi al-Din 53 Safir 216 Sahara 37 Sahih 135 Saladin 50, 289 Salah al-Din 289 Salat 153 Salat al-dschanaza 186 Salman al-Farisi 248
Sama 235 Samara 216 Samarkand 49 Sama-Sitzung 236 Sassaniden 43 Satan 60, 69 Satanische Verse 59 Saudi-Arabien 29 Say 169 Sayyid 219 Schaban 163, 299 Schadhiliyya 238 Schafiitische Schule 142 Schah Isma'il 53 Schahada 60, 68, 151–152 Schahid 152 Schahnama 54 Schams al-Din 237 Scharia 52, 131, 138, 219, 272 Schariati 292 Scharif 219 Schawal 163, 299 Schaytan 84 Scheich 38, 96, 229 Scheidung 199 Scheidungsgründe 199 Schezade-Moschee 294 Schia 31, 133 Gründung 213 Schießpulverreich 50
Schiismus 53 Imam 211 Schiiten 31, 133 Denken 219 Fünfer 215 Ghadir al-Khum 301 Klerus 220 Muharram 214 Philosophie 221 Rechtsschule 219 Scharia 219 Siebener 215 Theologie 221 und Sufis 222 und Sunniten 217, 223 und Wahhabiten 223 Verbreitung 209 Wallfahrten 218 Wortbedeutung 210 Zaiditen 215 Schirk 58, 68 Schlacht von Badr 104 Schlacht von Uhud 104 Schleier 202 Schließen der Tür 138, 143 Schulden 201 Schule islamische 49 Schura 41 Schutzengel 83 Schwarzer Stein 166
Sekte Ahmadiyya 249 Alawiten 248 Aleviten 249 Assassinen 245 Bohras 245 Daudis 246 Drusen 246 Fünferschiiten 243 Ibaditen 242 im Islam 241 Kharidschiten 242 Lahoriten 250 Mustaliden 245 Nizaris 244 Nusairier 248 Qarmatiner 244 Quadianis 250 Siebenerschiiten 243 Stammbaum 241 Sulaimaniden 246 Tayibiden 245 Zaiditen 243 Selbst 58, 228 Selbstmord 203 Seldschuk Turk 49 Selimyie 294 Sex in der Werbung 198 Sexualethik 196 Sezessionisten 42 Shah Rukh 49
Sheikh 229 Shema 152 Siebener 215 Siebenerschiiten 243 Siebenmaliger Lauf 169 Siegel der Propheten 106 Silsila 229, 234 Sinan 168, 293 Sirat 134 Sirat Rasul Allah 111 Sklaverei 204 Söhne des Wissens 247 Sowjetunion 37 Sozialabgabe 31, 162 Sozialhilfe 204 Soziologie 292 Spanien 35, 37 Reconquista 50 Sprache des Koran 122 Stammbaum islamische Sekten 241 spiritueller 229, 234 Station 229 Stehen in Arafat 168 Sterben 185 Sterilisierung 203 Steuer 220 Strafe 143 Sufi-Bruderschaft 233 Regeln 234 Sufi-Gemeinschaft 233
Sufi-Literatur 237 Sufi-Mystik 48 Sufi-Orden 236, 238 Mogul-Reich 56 Sufis 58, 225 Abu al-Qasim Mohammed al-Dschunayd 231 Abu Nasr al-Sarradsch 231 Abu Yazid al-Bistami 231 al-Ghazali 232 al-Muhasibi 231 Asketen 226 Bayezid 231 bedeutende 230 Dhu al-Nun al-Misri 231 Hadsch 171 Hasan al-Basri 230 Hussein Ibn Mansur al-Halladsch 231 Ibn Arabi 232 Ibrahim Ibn Adham 230 Rabia al-Adawiyya 230 trunkene 231 und Schiiten 222 Verhalten 234 weibliche 232 Sufi-Sitzung 235
Sufismus 31, 225 dhikr 65 Flickengewand 234 Gegner 240 Geschichte 226 Glaubensmerkmale 228 Legitimierung 227 Logen 233 Meister-Schüler-Beziehung 234 Musik und Singen 235 Mystizismus 227 Pol 232 Station 229 Weg der Liebe 226 wichtige Texte 227 Zustand 229 Sufi-Tanz 239 Suhrawardiyya 238 Sulaimaniden 246 Suleiman I. 52 Süleymaniye 294 Sultan 47, 216 Sünde 58, 195 im Islam 261 Sunna 31, 133 Häresie 133 Innovation 133 Sunnismus 76 Sunniten 31, 133 und Schiiten 217, 223
Sure 21, 114 Datierung 122 Die Kuh 115 Die Öffnende 114 Gelegenheit der Offenbarung 122 Josef-Sure 115 Verse 114 Synkretismus 55 Syrien 35
T Tadsch Mahal 284 Tadschwid 128 Tafsir 125, 289 Tage des Trocknenden Fleisches 170 Tahara 151, 182 Taiya 237 Takbir 157 Talaq 199 Talbiya-Gebet 168 Talfiq 144 Tamerlan 49 Taoismus 113, 227 Tao-te-ching 113, 227 Taqiyya 212, 243, 246 Taqlid 143 Tarikh 289 Tariqa 233 Tartil 128 Tasawwuf 226 Tasbih 65
Taschahhud 158 Tasliya 108 Tawaf 168 Tawaf al-wada 171 Tawakkul 228 Tawhid 58, 60, 68, 168, 229 Tawil 125, 222 Tayibiden 245 Taziya 218 Technik 281 Tekke 233 Tempelberg 101 Terrorismus 274 Teufel 84 Theologie 73 Thora 70 Thronvers 62 Tidschaniyya 239 Tierrecht 205 Timur Lenk 49 Töchter Allahs 59 Tod 72, 81, 185 als Hochzeit 179 Leben nach dem 85 Topkapi-Palast 52 Tradition im Islam 131 Transoxanien 49 Transvestitentum 198 Trauer 186 Trinität 58, 68, 261
Tunesien 37 Tür der Interpretation 143, 220 Türkei 52, 249 Türken 51 Turkmenen 51 Turkvolk 49
U Ubaidallah al-Mahdi 246 Übergangsritual 179 Überlieferung 133 Ulama 48, 137 Umar 39 Umar al-Khayyam 280 Umgangsform 189 Umm Kulthum 295 Umma 77, 102 Umra 168, 171 Umwandlung der Kaaba 168 Umwelt 205 Unitarier 68 Unreinheit Quellen 151 rituelle 150 Unterwerfung 30 Unzucht 197 Uqqal 247 Urdu 55 Urf 140 Urs 179
USA Außenpolitik 270 Islam 269 Usul al-fiqh 139 Usulis 220 Uthman 41 Ermordung 213 Koran 119
V Venus 59 Verbeugung 156 Verbeugungszyklus 156 Verborgener Imam 54 Verborgenheit 216 Verheimlichung 212 Vermittlung 87 Vernichtung des Selbst 229 Vernunft 75 Vers derogierter 126 Verseinteilung 118 Vertrag des Umar 40 Vertrag von Hudaybiyya 104 Viagra 196 Vier rechtgeleitete Kalifen 37 Vogelgespräch 237 Volksislam 173–174 Volksreligion 174 Vorbeter 155, 211
W Wadschib 142 Wahhabiten und Schiiten 223 Waise 200 Wali 211, 222 Wallfahrt 31, 165 Ablauf 168 Besuchswallfahrt 169 Ende 170 innere 171 zu Heiligenschreinen 178 Wallfahrtsort 171 der Schiiten 171 Waqf 137, 162, 178 Weg der Liebe 226 Weihezustand 168 beenden 170 Weltbevölkerung 31, 35 muslimische 209 Wesir 216 Wiedergeburt 72 Willensfreiheit 72 Wirklichkeit 57 Gottes 58 ultimative 229 Wissenschaft 279 Wucher 204 Wudu 151 Wunder Mohammeds 107
Wuquf 169
Y Yathrib 29, 95 Yazid 213 Yoga 227 Yunus Emre 238
Z Zahir 125, 222 Zaiditen 31, 215, 243 Zakat 162 Zakat al-fitr 165 Zamzam 169 Zaqqum-Baum 88 Zar-Zeremonie 190 Zawiya 233 Zayd Ibn Thabit 119 Zeichen Gottes 61 Zeit der Unwissenheit 96 Zeitrechnung islamische 102 Zensur 272 Zentralasien 37 Ziffer arabische 280 Zinsverbot 204 Ziyara 179 Zölibat 196 Zoroastrismus 97 Zustand 229
Zwölfer 31 Zwölferschia 209 Geschichte 215 Gottesdienst 217 Zwölferschiismus 53
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