Care - Vom Rande betrachtet: In welcher Gesellschaft wollen wir leben und sterben? 9783839455517

»Care« steht im Zentrum des Lebens - aber am Rande der Gesellschaft. An den Abbruchkanten der Existenz werden Widersprüc

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German Pages 290 [278] Year 2021

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Care - Vom Rande betrachtet: In welcher Gesellschaft wollen wir leben und sterben?
 9783839455517

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Reimer Gronemeyer, Patrick Schuchter, Klaus Wegleitner (Hg.) Care - Vom Rande betrachtet

Care – Forschung und Praxis  | Band 5

Reimer Gronemeyer (Prof. Dr. Dr.), geb. 1939, ist Professor emeritus für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht in der Region SubsaharaAfrika zu verschiedenen Themen und arbeitet darüber hinaus zur alternden Gesellschaft und Demenz. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins »Pallium - Forschung und Hilfe für soziale Projekte e.V.« und Vorsitzender der »Aktion Demenz Deutschland e.V.«. Patrick Schuchter (Dr.), geb. 1979, Philosoph und Krankenpfleger, studierte Philosophie in Innsbruck und Paris. Er promovierte bei Andreas Heller und Peter Heintel an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Universität Klagenfurt. Er lehrt und forscht an der Universität Graz im Feld von Public Care und leitet den Bereich »Hospiz, Palliative Care, Demenz« im Kardinal-KönigHaus in Wien. Klaus Wegleitner (Prof. Mag. Dr.), geb. 1973, ist Soziologe und Sorgeforscher. Als Assoziierter Professor ist er an der Abteilung Public Care des Instituts für Pastoraltheologie und -psychologie sowie als stellvertretender Leiter am Zentrum für Interdisziplinäre Alters- und Care-Forschung (CIRAC) an der Universität Graz forschend und lehrend tätig. Er hat sich im Bereich Public Health und End-ofLife-Care an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt habilitiert. Darüber hinaus ist er Vorstand von »SORGENETZ - Verein zur Förderung gesellschaftlicher Sorgekultur« in Wien.

Reimer Gronemeyer, Patrick Schuchter, Klaus Wegleitner (Hg.)

Care - Vom Rande betrachtet In welcher Gesellschaft wollen wir leben und sterben?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5551-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5551-7 https://doi.org/10.14361/9783839455517 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Für Andreas Heller Zum 65. Geburtstag

Inhalt

Vorwort Von den Rändern der Sorge aus erahnt man deren Horizonte – Rahmende Ausblicke Reimer Gronemeyer, Patrick Schuchter und Klaus Wegleitner ......................... 11

Im Weinberg sorgender Forschung Was Wissenschaft und Universität vom Weinbau lernen könnten Klaus Wegleitner .................................................................... 15

Die Verletzlichkeit unserer Existenz. Was trägt uns? Ganzheit im Fragment Bedrohung und Chance einer schweren Krankheit Fulbert Steffensky ................................................................. 37

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit Birgit Heller ........................................................................ 45

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen Grenzen und Fragmente als mögliche Begegnungsorte mit dem ANDEREN Christian Metz...................................................................... 57

Sorge um die Reduktion von Care. Wer schenkt uns Gehör? »Der Nächste, bitte!« Wolfgang Heinemann ............................................................... 69

Die randständige Sorge in der Medizin Elisabeth Medicus .................................................................. 75

Ärztliche Sorge am Lebensende Daniel Büche ....................................................................... 85

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s Anna-Christina Kainradl und Ulla Kriebernegg....................................... 97

Innehalten in Organisationen. Mit welchen Verständigungen kommen wir weiter? Konturen kritischer Organisationsethik Thomas Krobath ................................................................... 115

Organisation der Sorge Organisationsethik als Anfrage zur Mixtur von Sorge und Versorgung Thomas Schmidt ................................................................... 131

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen Ralph Grossmann.................................................................. 143

»Spiritual Care«: Echte Alternative oder nur mehr Desselben? Isabelle Noth und Thomas Wild .................................................... 159

Die Bewegungen des Gemüts. Was richtet uns auf? Sorge um die Freude Annährungen an einer Kartografie der Affekte Isabella Guanzini .................................................................. 167

Lachen, Lächeln und Gelassenheit Von der geistigen Größe der Menschen in Scherz, Humor und Gastfreundschaft Patrick Schuchter ..................................................................179

Der einsame Tod und die Sorge der Dichterinnen und Dichter Dorina Heller ...................................................................... 193

Liepundeleid Über Konfigurationen einer Solidarität der Schwäche Oliver Schultz ..................................................................... 199

Konvivialität. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie die Sorge industrialisiert wird Reimer Gronemeyer und Michaela Fink ............................................. 209

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege Cornelia Coenen-Marx ..............................................................221

Caring church Einige Überlegungen zu Macht und Pastoral in kapitalistischen Zeiten Rainer Bucher..................................................................... 231

Men’s Caregiving Wen(n) Männer pflegen Paul M. Zulehner .................................................................. 245

Caring Community – Zwischen Selbstsorge und Weltsorge Was lehrt uns die Tragödie der Geflüchteten auf Lesbos? Thomas Klie....................................................................... 257

Würdigungen Mut zur Seele Hans Bartosch .................................................................... 267

Tiefgreifende Denk- und Gestaltungsspuren von Andreas Heller ... 275 Autor*innenverzeichnis ..................................................... 281 Dank ............................................................................ 287

Vorwort Von den Rändern der Sorge aus erahnt man deren Horizonte – Rahmende Ausblicke Reimer Gronemeyer, Patrick Schuchter und Klaus Wegleitner

»Care«, die Sorge, steht im Zentrum des Lebens – aber am Rande der Gesellschaft. Wo Care in die gesellschaftliche Mitte dringt und gesellschaftlich organisiert wird, besiedeln dominante Systemlogiken den Eigensinn von Care-Praktiken. Im Feld von Sterben, Tod und Trauer, an den Rändern und Abbruchkanten der Existenz werden Widersprüche besonders deutlich: in der Übersetzung von wildwüchsiger Weisheit in standardisierte Kompetenz, von alltagsweltlicher Zugewandtheit in verrechnete Dienstleistung. Glanz und Elend der Moderne – wie unter der Lupe. Was sind gesellschaftliche Bedingungen guten Lebens? Was fördert eine menschenwürdige (Organisations-)Kultur des Sterbens? Wie können wir individuell und kollektiv aus dem Teilen von existentieller Unsicherheit, im Prozess, Sicherheit im Entscheiden und Handeln gewinnen? Was hilft uns dabei, mit den unauflösbaren Widersprüchen des Lebens und Sterbens umzugehen? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Diese und viele andere Fragen stehen im Zentrum des Wirkens von Andreas Heller. Der Theologe, Soziologe, Gesundheitswissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Pionier der deutschsprachigen Hospizbewegung und erster Lehrstuhlinhaber für Palliative Care und Organisationsethik in Europa hat sich von Beginn an den existentiellen Fragen und Grenzerfahrungen des Lebens gewidmet. In seinen Themen geht es immer um alles, in der Liebe, der Freundschaft, dem Sterben, dem Tod, dem Ringen um prozessethische Verständigungsformen und in der Kritik an reduktionistischen Politik- und Lebensformen der kapitalistischen Spätmoderne. Im Denken, Schreiben, Forschen und Lehren hat er Grenzen überschreitend und neue Brücken bauend den inter- und transdisziplinären, wissen-

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Reimer Gronemeyer, Patrick Schuchter und Klaus Wegleitner

schaftlichen Diskurs in Palliative Care, in Ethik und in Spiritual Care geprägt. Ein wissenschaftliches Wirken, das Andreas Heller durchaus am Rande auch im pointierten Widerspruch und in der Differenzsetzung zum Etablierten betrieben hat; kritisch den wissenschaftlichen Mainstream hinterfragend, oftmals weit darüber hinausdenkend, Zukunftsthemen setzend, Position beziehend, nie frei von Ambivalenz, inhaltlich und sozial. Er steht für einen Typus von Wissenschaft und für eine wissenschaftliche Lebensform, die intensive Kommunikation und Kontakt mit Menschen in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen charakterisieren. Ein wissenschaftliches Wirken, das Andreas Heller nicht isoliert von seiner Lebensinterpretation insgesamt begreift, sondern vielmehr als wichtigen Teil und Ausdruck einer freundschaftlich zugewandten, humorvollen, die barocke Opulenz des Daseins ausschöpfenden, von heiterer Spiritualität geprägten Lebensweise. Die Festschrift repräsentiert einen persönlichen, inter- und transdisziplinären Dialog von intellektuellen Wegbegleiter*innen, Freund*innen und Inspirator*innen mit dieser Denk- und Lebensweise. Die Autor*innen u.a. aus den Bereichen der Soziologie, der Theologie, der Philosophie, der Hospizarbeit und Palliative Care, der Medizin- und den Gesundheitswissenschaften, aus Public Health, Spiritual Care, aus der Praxis in ihren unterschiedlichen Feldern, nähern sich zentralen Fragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Existenz: Was bereichert & trägt unser gemeinsames Leben hier und darüber hinaus… Der vorliegende Band will selbst Ausdruck eines Selbstverständnisses von »sorgender Wissenschaft« sein, einer Wissenschaft, die im Austausch mit den alltäglichen Lebenszusammenhängen steht, Beziehungen und Kooperationen aufbaut, Reflexion der gelebten Praxis ermöglicht, Menschen beteiligt und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, einer Wissenschaft, der auch das »existenzialisierende Moment« nicht fehlt. Unter dieser Programmatik der Gastfreundschaft des Denkens kann das Wirken von Andreas Heller gelesen werden, der Sache und der Haltung nach. Die Festschrift sei deshalb damit eröffnet. Der Bogen der Beiträge führt im ersten Kapitel zur existenziellen Verletzlichkeit des Menschen, in der sich Bedrohung und Chance, Begrenztheit und Transzendenz, radikale Einsamkeit und paradoxe Verbundenheit offenbaren. Diese existenzielle Grundsituation verlangt eine Ethik der Sorge, durch die die Verletzlichkeit des Menschen bei anderen in einem sehr grundlegenden Sinn Gehör finden kann. Die Beiträge des zweiten Kapitels ringen um eine hörende Care-Ethik, die immer wieder der Gefahr der reduktionistischen Verarmung in den Systemwerdungen der Sorge unterliegt. Dienstleistung am Menschen des-

Vorwort

halb auch als Dienstleistung an den Organisationen zu begreifen, ist ein Anliegen Andreas Hellers sowie der Beiträge im dritten Kapitel – eine Einsicht, die aus der Begrenztheit aller Appelle ans Individuum und an die bloß subjektive Moral erwachsen ist. Es braucht Organisationen, die sich zu sich selbst in Differenz setzen und so die Frage nach dem Guten eröffnen, Organisationen, die das Innehalten, die Begegnung, die Reflexion organisieren. Analog braucht es praktische Schlüsselkonzepte – etwa von Spiritual Care –, die nicht wieder arbeitsteilig von Spezialist*innen okkupiert werden, sondern ihrerseits diese Differenzsetzung als Unterbrechung schaffen. Das vierte Kapitel hat zum Roten Faden Bewegungen des Gemüts, die Freude, den Humor, die Erschütterung über die Einsamkeit der Vergessenen, die Liebe und das Leiden, aber nicht als Regungen bloßer Innerlichkeit, sondern geradezu als politische und »aufrichtende« Emotionen, die (kreative und ungewöhnliche) Bewegungen zum anderen Menschen auf den Weg bringen: als Solidarität mit den Schwachen, Ausgeschlossenen, Vergessenen, Gescheiterten. Die Beiträge des fünften Kapitels kreisen um Kernfragen und Möglichkeitsbedingungen von konvivialen und sorgenden Gemeinschaften und Gemeinden in einigen Spannungsverhältnissen der globalisierten Weltgesellschaft. Der Band schließt in beseelter Würdigung. Wir wünschen den Leserinnen und Lesern reichhaltige Anregung aus diesem festlichen Band, von dem wir uns wünschen, er möge in einer Gestimmtheit empfangen und gelesen werden, in der sich leidenschaftlicher existenzieller Ernst, unermüdliches, soziales Engagement und ausgelassene, gastfreundliche Heiterkeit verbinden!

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Im Weinberg sorgender Forschung Was Wissenschaft und Universität vom Weinbau lernen könnten Klaus Wegleitner »Vom Urbeginn der Schöpfung ist dem Wein eine Kraft beigegeben, um den schattigen Weg zur Wahrheit zu erhellen.« Alighieri Dante, 1265 - 1321, Gastmahl, Göttliche Komödie

Unseren Spaziergang Richtung Kranachberg beginnen wir in Gamlitz, einem der Orts-Zentren des südsteirischen Weinlandes. Bis ins Jungtertiär war die, geologisch auch als Grazer Bucht bezeichnete, Region von einem sich langsam zurückziehenden Meer bedeckt. Übrig blieb ein mit vielfältigen Meeressedimenten gefülltes Randbecken der Alpen, das sich, jenseits der Mur, nach Osten hin zur Pannonischen Tiefebene weitet. Über Jahrmillionen modellierten die Flüsse daraus sanfte Hügellandschaften, die in der Eiszeit zu teilweise spektakulär steilen Hängen, Einengungen der Erhebungsrücken und vertieften Kurztälern zusammengeschoben wurden. Die wohldosierte Mischung aus landschaftlicher Sanftheit und scharfen Konturen ist eine der prägenden Charakteristika dieser pittoresken Weinlandschaft, welcher mikroklimatisch von den mediterran warmen Luftbewegungen vom Süden her, aus Kroatien und Slowenien, Leben eingehaucht wird. Die alpenländische Kühle in den Nächten tritt mit der südlichen Wärme in Dialog und ermöglicht die typische südsteirische Frische und Aromatik der Weißweine. Der Klimawandel verändert allerdings schon jetzt deren Typizität. Wird die Südsteiermark in 20 Jahren ein Rotweingebiet sein? Wer weiß.

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Klaus Wegleitner

In die Marktgemeinde Gamlitz ist, so scheint es, die gesamte Ambivalenz naturnaher Kultivierung der Weinflächen und deren kapitalistisch-touristische Ausbeutung eingeschrieben. Wir spazieren hier also Richtung Grubtal, am Fußballplatz – Ort und Symbol des unbeschwerten (Lebens-)Spiels – und dem beinahe mit dem Fußballfeld ineins fallenden Friedhof – Ort und Symbol des endlichen Lebensspiels – vorbei. Eine solch besondere Vermählung von Fußballfeld und Friedhof gibt es übrigens auch im 17. Wiener Gemeindebezirk, Dornbach, wo sich die sozial engagierte, linksalternative Fanszene des Wiener Sport-Club in der Alszeile auf der »Friedhofstribüne« allwöchentlich einfindet. Der zweite Wiener Verein, dessen Unterstützer*innen eher eine linke, antikapitalistische, politische Haltung einnehmen, sei an dieser Stelle ebenfalls genannt, die Vienna, oder besser gesagt, der First Vienna Football Club 1894, ältester Fußballverein Österreichs, mit seiner Heimstätte, der Hohen Warte, dem ehemals größten Naturstadion außerhalb der britischen Inseln (90.000 Zuseher*innen beim Länderspiel gegen Italien am 15. April 1923, mit anschließendem Erdrutsch aufgrund der starken Regenfälle auf der Nordrampe) in Döbling, im Neunzehnten, wie die Wiener*innen sagen. Im einenden Motto der Vienna Fans verdichtet sich die gesamte philosophische Lebensklugheit einer lebensmäßigen und sportlichen Grundhaltung, die den inneren Lebens- und Spielleidenschaften treu bleibt und sich dem TurboKapitalismus des Sportes nicht völlig ausliefert (mit den entsprechenden, ungewollten negativen Nebenwirkungen: den Spielergebnissen). Das da lautet: »Es geht sich immer nicht aus!« In einem großen Bogen schlendern wir nun durchs beginnende Grubtal und über den Labitschberg, queren dabei Obstwiesen, sanfte Hügel, steile Weinhänge und spazieren durch einen Buchenwald, um schließlich die Flanken und den Rücken des Kranachberg zu erreichen. Der Kranachberg markiert den Übergang vom Steilen zum Sanften, nach Nordwesten hin, in Richtung der Dörfer Großklein und Kleinklein (was für ein Ortsnamenspaar!). Er ist »in zweiter Reihe stehend« nicht ganz so prominent, nicht ganz so unzählig bewandert, befahren und touristisch »ausge- und erschöpft«, wie jene spektakulären Spitzen-Lagen direkt an der Südsteirischen Grenzstraße zu Slowenien hin. Kranach, urkundlich erstmals 1164 als »Grenach« erwähnt und 1265 zum »Granach« geworden, bedeutet im Slawischen daher nicht ohne Grund so viel wie »bei den Bewohnern am Rand«. Die ungefähr 150 Hektar Rebflächen des Kranachberg wachsen auf leichten Sand- und Schotterböden und werden größtenteils auf besonders steilen Hängen kultiviert. Die Arbeit im Weingarten

Im Weinberg sorgender Forschung

und die Weinlese können demnach nicht industriell passieren, sie erfordern leidenschaftliche, persönliche Zuwendung und Hingabe, Effizienzsteigerung stößt an natürliche Grenzen. Es entwickeln sich gerade deshalb charaktervolle Lagenweine. Auch ist der Kranachberg kein monokultureller Weinberg. Ein großer Teil des Kranachbergs ist bewaldet und bietet Lebensraum für eine Unzahl an Tieren und Kleinlebewesen. Die Weinhänge sind hier, mosaikgleich, in eine vielfältige Kulturlandschaft (Naturlandschaften im engeren Sinn – sprich, Flora, Fauna und anorganische Elemente in ihrem durch Menschen unbeeinflussten Naturzustand – gibt es ja, außer in echten Wildnisgebieten, im gesamten Mitteleuropa nicht mehr) eingebunden, was sich insbesondere im Herbst am schillernden Farbenspiel ablesen lässt. Jedenfalls bietet unser Spaziergang die beste Legitimation dafür, sich nun auf ein Glaserl Sauvignon Blanc beim nächsten Buschenschank »hinzuhocken« und mit den Weinbauern und -bäuerinnen ein wenig über ihre Erfahrungen zur Entwicklung der Weinkultur, den zunehmend naturnahen, biologischen An- und Ausbauformen und natürlich über den Weltenlauf an sich ins Plauschen zu kommen. Dem Weinbauern zuhörend reift in mir die Einsicht, dass aus seinen Erzählungen über den Wandel des Weinbaus und aus unserer gerade eben erlebten »Begehung« des Kranachbergs als Beheimatung der Bewohner*innen am Rande sich geistige Seilbrücken zu mich schon lange begleitenden Fragen aufspannen: Welche klitzekleinen Beiträge sind Wissenschaft und Forschung überhaupt in der Lage zu leisten, für eine grundsätzliche Transformation der gesellschaftlichen Organisation von Sorge hin zu gerechteren und vielleicht auch menschlicheren Formen des Zusammenlebens und FüreinanderDaseins? Sowie, vor allem, welche Aufmerksamkeiten, Zutaten und Gewürze vermögen den Wissenschafts- und Forschungskulturen jene Textur und Aromatik zu verleihen, die bei den Menschen Resonanz und den Wunsch des Mit-, Selber- und Gemeinsam-Kochens auslösen? Diese Fragen stellen sich umso drängender, als die kollektiven Grenz- und Ohnmachtserfahrungen der – auf ungebrochenen linearen Fortschritt, ökonomisches Wachstum, die Kommodifizierung aller Lebensbereiche1 und auf technologisch-wissenschaftliche Mach- und Verfügbarkeit ausgerichteten – spätmodernen, postindustriellen Gesellschaften an allen Ecken und Enden dramatisch spürbar in unser aller Leben hereinbrechen. Das Ende dieser Illusionen ist gekommen. Die multiplen Krisen der Ökologie, der Ungleichvertei1

Polanyi, 2017 [1944].

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lung von Lebens- und Sorgechancen sowie letztlich auch des Politischen zeugen davon. Der gesamtgesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeit ist die Politik, vor allem die nationalstaatlich orientierte, in den vorherrschenden Gesellschaften der Singularitäten2 schon längst verlustig gegangen. Die soziale Logik des Allgemeinen, Übergreifenden weicht den Separierungen, den Diskursen, Positionierungen und (Verschwörungs-)Theorien in den Teilöffentlichkeiten und in sich geschlossenen (medialen) »Meinungsblasen« sowie den ohnehin (scheinbar) unsteuerbaren Kräften des globalen Kapitalismus. Die uns momentan umklammernde Corona-Krise ist ja eben auch nicht der Auslöser existentieller, politischer und wissenschaftlicher Begrenztheitserfahrungen. Sie stellt das Brennglas dar, durch welches die über lange Zeit »selbst geschaffenen« strukturellen Brüchigkeiten der Sozial- und Gesundheitssysteme, die radikale Ungerechtigkeit in der Verteilung und Anerkennung von Sorgearbeit sowie die herzzerreißenden sozialen Schieflagen in den Gesundheits-, Bildungs-, und Arbeitsbereichen deutlicher zu Tage treten. Das pandemische COVID-19-Geschehen führt nun auch den sozio-ökonomisch »hochgerüsteten« Staaten des globalen Nordens die Fragilität ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit vor Augen. Das ohnehin schon brüchige existentielle Sicherheitsgefühl aufgrund zunehmend prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse wird durch die kollektive Konfrontation mit dem Tod und der Endlichkeit zusätzlich zerrüttet. Es ist die radikale Erinnerung an die Verletzlichkeiten und Unabsehbarkeiten des Lebens und Sterbens. Im Frühjahr 2020, mitten im ersten Lockdown, gab es einen ganz kurzen Moment, ein Zeitfenster von wenigen Tagen, der so etwas wie eine kollektive Einsicht in die Grenzen und Fehlentwicklungen des Bisherigen erahnen ließ, und in dem, als ganz zartes Pflänzchen, die Hoffnung keimte, dass aus den Pandemieerfahrungen politische Strategien der Systemveränderung und Transformation abgeleitet werden könnten. Dass etwa die allseits beklatschten »Sorge-Systemerhalter*innen« zukünftig eine ernsthafte politisch-strukturelle Aufwertung erfahren werden und eine neue Form nachhaltiger gesellschaftlicher Anerkennungskultur Platz greifen wird. Oder dass eine Abkehr von der generellen Allverfügbarkeits- und Wachstumsideologie angesagt ist. Aber schon bald war im öffentlichen Diskurs davon nicht mehr die Rede. Viel-

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Reckwitz, 2019.

Im Weinberg sorgender Forschung

mehr dominierte das mechanistische Sujet »die Gesellschaft und die Wirtschaft möglichst schnell wieder hochzufahren«.3 Kann es angesichts des Offensichtlichen ums Hochfahren der Gesellschaft gehen? Wollen wir zurückkehren zum vorher Bestehenden? Oder sollten wir nicht eher, wie Charles Eisenstein, der Frage nachgehen, ob wir die Zivilisation in der Form überhaupt beibehalten möchten. Sollte es nicht spätestens jetzt um eine grundlegendere Veränderung der Welt gehen? »Sind wir denn nicht zu mehr fähig, […]«, wie Eisenstein4 weiter fragt »[…] in Ökologie, Ökonomie, Politik und im persönlichen Bereich?«, und – ich würde hinzufügen – auch in Wissenschaft und Forschung?

Sich über die Maximierung von Zählbarem erheben, um Extraktreiches zu ermöglichen Kehren wir zurück zum Wein. Im August 1985 schaffte es der Wein aus Österreich auf die Titelseite der New York Times und Die Zeit widmete sich unter dem Titel »Saure Trauben – Süße Sünden« ausführlich dem Österreichischen Weinskandal. »Zuckern und Panschen ist so alt wie der Wein. Doch was sich die Burgenländer ausgedacht haben, ist besonders unverfroren: Wein – veredelt mit giftigem Frostschutzmittel«, war darin zu lesen.5 Damit war der Endpunkt eines auf grenzenlose Mengenmaximierung ausgerichteten Weinanbaus erreicht. Seit den 50er Jahren wurden die Böden mit Kunstdünger regelrecht zugeschüttet, um jedes Jahr neue Ernterekorde zu erzielen. Die Überproduktion führte zum völligen Preisverfall. Das Rettungsnetz bildete zunächst der Ende der 1960er aufkommende Süßwein-Boom. Die günstigen Süßweine aus dem Burgenland fanden in Deutschland reißenden Absatz.

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Die Bürger*innen werden in diesem Verständnis ja primär als »Humankapital«, als Ressource begriffen. Nicht zuletzt wegen dieser instrumentellen Verzweckung des Menschen, dem dahinterliegenden reduktionistischen Menschenbild und den zu Tage getretenen existentiellen Problemen von Menschen in prekärer Beschäftigung, der Unsichtbarkeit der unbezahlten (Care) Arbeit und den schlecht bezahlten »systemrelevanten« Berufen, haben beispielsweise weltweit über 5000 Wissenschaftler*innen das Manifest Arbeit: Demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten unterzeichnet: https://democratizingwork.org/. Eisenstein, 2020, S. 7. Moser, 2015.

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Der Schritt der Flaschenabfüllung wurde übergangen. Es wurden stattdessen gleich ganze Tankwagen angefüllt, um den Wein nach Deutschland zu transportieren. Mit der Novellierung des Weingesetzes 1971 wurde für Süßweine ein erforderlicher Grad an Zuckergehalt festgeschrieben. Dieser musste also erreicht werden, um den trotz niedriger Preise attraktiven Markt bedienen zu können. Um den Zuckergrad zur erhöhen und Extraktwerte vorzutäuschen, bemühten die Weinbauern nun kreative Rezepturen. Glykol, eigentlich als zweiwertiger, giftiger Alkohol mit süßem Geschmack in Frostschutz und Desinfizierungsmitteln zu finden, stellte eine der zentralen Ingredienzen der »Panscherei« dar. Österreichs Weinmarkt war mit einem Mal in sich zusammengefallen, der Ruf international ruiniert. Die einzige Chance, die blieb, war, den Weinanbau fundamental auf neue Beine zu stellen und das Vertrauen der Weintrinker*innen durch Qualität wieder zurückzugewinnen. Ab diesem Wendepunkt der neueren österreichischen Weingeschichte setzte an vielen Orten ein neues Bewusstsein ein, es wurde sowohl im Anbau als auch vor allem in der Lese auf Ertragsreduktion gesetzt, um gehalts- und qualitätsvolle Weine zu keltern. Lagenweine, wie jene des Kranachbergs, sind mittlerweile richtiggehende Extrakte, deren Geschmacksintensität sich aus fast händisch abgezählten Obergrenzen von Weintrauben pro Weinstock ergibt. Das Wissenschaftssystem und die Forschung mit all ihren klugen, kritischen und genialen Köpfen sind – natürlich an dieser Stelle unzulässig verallgemeinernd ausgedrückt – nach wie vor im Muster der Maximierung des Zählbaren gefangen. Individuelle Anerkennung wird im akademischen Bereich vorwiegend über den »Output« an möglichst »Impact starken« Zeitschriftenbeiträgen und die Einwerbung von möglichst hohen »Grants«, also Forschungsmitteln, geknüpft. Keine Frage, großartige Erkenntnisse und bahnbrechende Forschungsarbeiten sind hier vielfach das Ergebnis. Aber dem zu Grunde liegt ein quantifizierender Zugang, der beispielsweise an vielen Universitäten und Forschungsstätten zu der Erwartung linearen, jährlichen Kennzahlen-Wachstums führt. Diese werden teilweise in Zielvereinbarungen gegossen, an deren quantitativer Zielerreichung der ›Erfolg‹ bemessen wird. Auch die Zuweisung von Mitteln der Ministerien an die Universitäten folgt dieser Logik. Hinzu kommt hier in Österreich der für die Universitäten im Ringen um Budgetmittel aktuell wichtigste Faktor, die Anzahl der vorzuweisenden prüfungsaktiven Studierenden. Also wieder etwas Zählbares, eine Quantität, die mit Qualität unbegründet gleichgesetzt wird. Dies führt dazu, dass in den universitären Gremien vorwiegend Gespräche über die Erreichung von Quantitäten geführt werden und nicht

Im Weinberg sorgender Forschung

mehr darüber, in welcher Weise die Universität ein Lern- und Lebensort sein könnte, an dem Student*innen ihren, vielleicht auch in nicht lineare Bahnen gegossenen, Wissensdurst stillen und ihr Forscher*innengeist, die Welt besser zu verstehen und zu verändern, mit Leidenschaft geweckt wird. Aber, warum so kompliziert, wenn es einfach, (schein)planbar auch geht? Über die Kennzahlen kennt man dich. An Quantitäten wird die Qualität deines Schaffens abgelesen. Auf welch anderen Spuren Forschung Wirkungen entfaltet, etwa durch partizipative und interventionsorientierte Forschungszugänge mit betroffenen Menschen, mit Bürger*innen, mit Gemeinden, oder mit Organisationen des Sozial- und Gesundheitssystems, um zumindest graduelle Veränderungen von Sorgekulturen und -strukturen zu ermöglichen, bleibt in dieser Zähllogik relativ unsichtbar. Es verwundert nicht, dass eine zunehmend zentrale Aufgabe wissenschaftlichen Tuns und Publizierens heutzutage der Frage gewidmet ist, in welcher Form Erkenntnisse aus einem Forschungsvorhaben möglichst vielfach, salamimäßig in feine Scheiben geschnitten, in die Scientific Communities »eingespeist« werden können. Output zum Selbstzweck. Daraus folgt, um in den Weinmetaphern zu bleiben, dass »ökonomische« Düngung mancher Forschungsbereiche, um den maximalen Ertrag »rauszupressen«, sowie »Praxen des Panschens«, oder anders ausgedrückt, die Verfälschung von Forschungsergebnissen unter verstärktem Wissensproduktions- und Prestigedruck eben auch Teil dieses Wissenschaftssystems sind. Quantitäten, die eine eigene Qualität im Wissenschaftsbetrieb entfalten, fördern diese. Peter Heintel fasste dies in seinen philosophischen Überlegungen zur Qualität einmal so zusammen: »So gesehen bekommt die abstrakte Quantität wiederum Qualität und eine seltsame Relation; sie dient weder der Wissenschaft und Forschung, noch der Gesellschaft, sondern ausschließlich leistungsbilanzierenden Bürokraten, die sie als solche gar nicht beurteilen können. Die Quantität wird zu Qualität für sie und sie hat dazu den Vorteil, dass man universitäre Einrichtungen in die Konkurrenz treiben und gegenseitig gegeneinander ausspielen kann.«6 Die Verdichtung und der Extraktreichtum von Erkenntnissen sowie Formen ihrer gesellschaftlichen Wirkungen entziehen sich jedoch wesenhaft rein quantitativen Abbildungsformen, wie eben auch die Sorge, Care, als sozialer 6

Heintel, 2013, S. 102.

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Prozess, sich dessen entzieht. Wollen die Wissenschaften dazu beitragen, den Wurzeln der Ursache ökologischer, sozioökonomischer und Care-Krisen ernsthaft auf den Grund zu gehen, dann werden sie nicht umhinkommen, ihre eigenen Reproduktionsmuster eben dieser problem-ursächlichen linearen Wachstums- und quantitativen Zählideologien zu hinterfragen, um daraus alternative, sich darüber hinwegsetzende, wissenskulturelle Praxen zu entwickeln, die auch nach Innen das Narrative, die »weichen« Erfahrungsund Wirkungsdimensionen würdigen.

Sich der Bedeutung des Terroirs bewusst sein Der Wein im Glas des Buschenschankes am Kranachberg spiegelt die gesamte geologische, weinkulturelle und soziale Geschichte des Ortes wider, die wir beim Spaziergang von Gamlitz aus ein wenig kennengelernt haben. Das Terroir, als sich fortlaufend verändernder Organismus, als Gesamtheit des singulären Zusammenspiels vom gewordenen Boden, mit all seinen Sedimentschichten, den Reben, dem Mikroklima, den besonderen Formen der Kultivierung des Weins und damit der Weinphilosophie der Bäuer*innen, verleiht dem Wein schließlich seinen spezifischen Charakter. Nun will ich an dieser Stelle Wissenschaftler*innen nicht mit Weinreben vergleichen. Jedoch die Beantwortung der Fragen, welches Forschungsinteresse in welcher Weise aufgenommen wird, welche inter- oder monodisziplinären Perspektiven dabei eine Rolle spielen, welche methodischen Zugänge gewählt werden, wie Forschungsprozesse organisiert sind, in welcher Weise die eigene Forscher*innenrolle und die sozialen Interventionen durch Forschung explizit mitreflektiert werden, welche Bedeutung die unmittelbare gesellschaftliche Wirksamkeit oder Ziele der Systemveränderung haben, ergibt sich nicht aus der autarken Gedankenwelt einer Einzelperson. So sind auch die am Ende stehenden Erkenntnisse oder gesellschaftlichen Wirkungen, die Extrakte des wissenschaftlichen Tuns, ein gewordenes Ergebnis, aus bestimmten Denktraditionen heraus, in einem bestimmten kollegial-freundschaftlichen, wissenschaftlichen Arbeitsumfeld, in einem komplexen sozialen und wissenskulturellen Prozess entstanden. Das Gewordene verdankt sich einer besonderen, orts- und menschengebundenen Forschungskultur. Internationalisierung, globale Mobilitäten und Wissenschaftsbiografien sind quasi unverzichtbar, will man im Wissenschaftsspiel reüssieren. Diese Formen der globalen Erkenntnisproduktion, der kooperativen Entwicklung

Im Weinberg sorgender Forschung

von Projektperspektiven, der eindrücklichen Erfahrungen, die einem dabei helfen, über den Tellerrand eurozentristischer Themen-Engführungen hinaus zu blicken, sind forschungskulturell wahnsinnig bereichernd. Gleichzeitig geht mit diesen Entwicklungen aber auch ein auf Einzelpersonen bezogenes, akademisches Karrieremodell einher, oftmals gepaart mit der zunehmenden Praxis der »fliegenden Lehrstuhlwechsel«. Dabei schwinden möglicherweise die Chancen, dass sich über längere Zeit teamförmige Denk-, Wissens- und Forschungskulturen herausentwickeln können. Die Bedeutung des »Forschungsterroir« ist im Wandel begriffen. Vom Bewusstsein darüber, dass sich das Eigene ihm verdankt und es kollektiv kultiviert werden will, dient es nun vorwiegend als Referenz, als Ausschilderung, die Anerkennung einbringt. Ähnliches ist natürlich auch im Weinbau beobachtbar. Die gesamten letzten jüngeren Generationen von Weinbäuer*innen haben ebenfalls vieljährige globale Erfahrungen an »prominenten Weinadressen« gesammelt und Impulse aufgenommen. Viele sind dann jedoch meist zurückgekehrt, um die gewonnenen Erkenntnisse in die lokale Transformation des Terroirs einzubringen. Oder sie sind an anderem Ort geblieben, aber dann meist längere Zeit, um sich nicht der Chance zu berauben, in vertiefender Weise, im Team, an neuem Ort, eine terroir-bezogene Weinstilistik zu entwickeln. Das Terroir stellt jedenfalls hier wie dort ein diffiziles Gesamtgefüge dar. Wird ein Element über die Maßen strapaziert oder ausgebeutet, gerät dessen gesamte Balance ins Wanken. Dies zeigt sich dann letztlich auch in der »Ernte«, wie auch im »Erkenntnisglas«. In welcher Weise junge Wissenschaftler*innen, die über keine »Dauerstelle« verfügen, teilweise strukturell ausgebeutet, dem individualisierten Wissenschaftsmarkt ausgesetzt und jeder Perspektive einer Stabilisierung von Arbeitsverhältnissen beraubt werden, ist vielleicht der deutlichste Ausdruck fehlender struktureller Terroir-Sorge im universitären Wissenschaftssystem. Abwesende Aufmerksamkeiten für die Förderung von Team- und Organisationskulturen, die auch bestimmte reflexive Besprechungs- und Beteiligungsformen vorsehen müssten, ein anderer.

Sich in Selbstbegrenzung einüben und kollektive Selbstaufklärung fördern Trotz höchster fachlicher, naturwissenschaftlich geschulter Kenntnisse und erfahrungsgesättigtem Weinhandwerk steht für die Weinbäuer*innen außer

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Frage, dass sie zwar eine wichtige Rolle im gesamten Anbau- und Vinifizierungsprozess einnehmen, jedoch vielfältige andere Faktoren im Weingarten, hinsichtlich der Wetterbedingungen und während des Gärungsprozesses eine zentrale Rolle spielen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Je naturnaher gearbeitet wird, desto bewusster wird diesem Anteil des Unverfügbaren Raum gegeben. So legen biologisch oder biodynamisch arbeitende Winzer*innen bei der Spontanvergärung großes Vertrauen in das natürliche, wilde Hefegemisch des Lesegutes (im herkömmlichen Weinbau hingegen wird auf steuerbarere Vergärung durch die Beigabe von Weinzuchthefe gesetzt), wenn sie dieses quasi ohne weiteres Zutun in Tonamphoren abfüllen. Das Unverfügbare ist sozusagen von Beginn an – je nach Weinphilosophie unterschiedlich ausgeprägter – Teil des professionellen Selbstverständnisses. Die begrenzte Reichweite des eigenen professionellen Handelns wird nicht als Defizit erlebt, sondern als wichtiger Beitrag, die Möglichkeit zu erhöhen, dass sich daraus etwas, nicht bis ins Letzte Planbares, Gutes entwickelt. Zudem ist es selbstverständlich, dass im Prozess die wissensbasierten eigenen Entscheidungen überprüft und gegebenenfalls angepasst werden; also ein selbstverständliches, unaufgeregtes, selbstreflexives Handeln und fortwährendes Entscheiden. Das Nachdenken über sich selbst zählt, trotz aller Erkenntnisse der Wissenschaftsforschung und Wissenssoziologie, nach wie vor nicht zu den ganz großen Stärken vieler Wissenschaftsbereiche. Man ist ja mehr mit dem Nachdenken über die Forschungsgegenstände und -objekte beschäftigt. »Am wenigsten denkt sie [die Wissenschaft] über sich selbst nach. Offensichtlich genügt es, Wissenschaft zu betreiben; dabei muss ohnehin genügend gedacht werden.«7 Insbesondere in jenen Forschungen, die unmittelbare Systemveränderung intendieren (Interventionsforschung, Community Based Participatory Research, partizipative Gesundheitsforschung, transdisziplinäre Forschung etc.), stellt das Nachdenken über die Konstruktion und die »TransformationsReichweite« des wissenschaftlich produzierten Wissens jedoch einen integralen Bestandteil dar. Wollen wir also mit Forschung zur Transformation bestehender politischer Sorgestrukturen und -kulturen, oder zu einer nachhaltigeren, gerechteren, (vor)sorgenden Gesellschaft beitragen, so ist zunächst die Einsicht hilfreich, dass wissenschaftliche Erkenntnis im 7

Heintel, 2013, S. 104.

Im Weinberg sorgender Forschung

Transformationsprozess wichtig, aber bei Weitem nicht ausreichend ist. Zum einen liegt dies an den erkenntnistheoretischen Grenzen von Wissenschaft. Sie gibt weder auf alles eine Antwort, noch sind ihre Antworten unveränderbare Wahrheiten. Wissenschaftliche Erkenntnis überholt sich, Neubewertung von Wissen findet statt und letztlich sind Erkenntnisse in allen Wissenschaftsbereichen von ihrer Organisation, expliziten und impliziten Interessen und kulturellen Einbettungen geformt. Zum anderen liegt dies an ihren gesellschaftlichen Akzeptanz- und Interventionsgrenzen. Die aufklärerische Leitidee, dass das Zur-Verfügung-Stellen von wissenschaftlicher Erkenntnis als gemeinsames Wissen auch zwingend zu den »richtigen« gemeinsamen Entscheidungen führt, um die unsicheren, gesellschaftlichen Zukünfte zu gestalten, ist ja schon längst an ihr Ende gekommen. »Vielmehr gilt«, so fassten Roland Fischer und seine Kolleg*innen in ihren Überlegungen zu einer vorsorgenden Gesellschaft zusammen, »[…] Es ist immer wieder gemeinsames Entscheiden unter Ungewissheit notwendig. Nicht einmal ist ein für alle Mal geklärt, was die beste Form der Entscheidungsfindung ist.«8 Wenn also beispielsweise ein Caring Communities Prozess in einer Gemeinde mit der Unterstützung von Forschung in Gang gebracht werden will, geht es unter anderem um die Organisation des Zueinanders von wissenschaftlicher Erkenntnis und Verständigungs- und Entscheidungsräumen. Es wird die kollektive Auseinandersetzung von Bürger*innen, informell und formell Sorgenden, politischen Akteur*innen usw. mit den multiperspektivisch erhobenen und als destilliertes Wissen zur Verfügung gestellten Sorgeerfahrungen ermöglicht. Die Diskussion erforderlicher Entwicklungen von alltagskulturellen und politisch-strukturellen Rahmenbedingungen steht im Zentrum. Forschung kann hier im besten Fall ein kleinwenig dazu beitragen, die gelebte Sorge zu verstehen und als kollektives Wissen ins Bewusstsein zu heben; in ihren Stärken und ihren Brüchigkeiten. In der Anerkennung der »prinzipiellen Endlichkeit von Forschung«9 liegt auch der Respekt vor der individuellen und kollektiven Autonomie der Menschen, die in dieser Gemeinde leben, sich umeinander kümmern und Umgänge mit den Ambivalenzen und Verletzlichkeiten des Lebens finden müssen. In welcher Form hier Wissen wirksam werden soll und was als die »hilfreiche Wahrheit« erachtet wird, ist dann Ergebnis von kollektiven Reflexions- und Diskussionsforen. Kollektiver Entscheidungswille setzt voraus, dass die Menschen vor Ort sich als Teil 8 9

Fischer et al., 2012, S. 3. Heintel, 2009, S. 29.

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eines größeren Ganzen, einer Community, verstehen, die sie durch Beteiligung mitgestalten können und wollen. Der gemeinsame Wille zur Gestaltung und Entscheidung lässt sich jedoch ebenfalls nicht herstellen. Forschung kann aber existentielle Sorgeerfahrungen ins gemeinsame Bewusstsein heben helfen, um damit zur Stärkung der Empathie-Potenziale beizutragen. Im SichHineinversetzen-Können in die Sorgesituation anderer Menschen keimt der Wille zur Veränderung und Entscheidung. Eine Entscheidungsgemeinschaft setzt eine Empathiegemeinschaft voraus.10 Forschung leistet demnach einen Beitrag zum gemeinsamen sozialethischen Lernen, die Vielfalt der Lebensweisen und die Vielfalt der Sorge wahrzunehmen, zu diskutieren und daraus im Bedarfsfall neue sorgende Lebensweisen abzuleiten, als kollektive Entscheidung. »Die ›Wahrheit‹ findet sich weder im Wissenschaftssystem, noch im Forschungsfeld; sie ›wird‹ in einer organisierten Auseinandersetzung beider. Schließlich wird von den Betroffenen selbst entschieden, was für sie Wirklichkeit hat und haben soll; denn sie müssen schließlich in ihr weiterleben.«11 Mit einer solchen Forschungshaltung geht auch einher, dass sich Wissenschaft den Projektionen und Erwartungshaltungen von Politik und Bürger*innen, die »Wahrheiten zu bringen und zu verkünden« hat, die zu sagen hat, wo es lang gehen soll, auch ein großes Stück weit verweigern muss. Schließlich: Die Menschen und Communities »da draußen« brauchen keine Forscher und Forscherinnen und keine Wissenschaft, um alltägliche Sorgekultur zu leben und zu entwickeln. In den besten Momenten kann Forschung fördernd, advokatorisch und ermächtigend sein. In den meisten Momenten gilt es jedoch, forschend und staunend das Leben und die menschlichen Umgänge mit existentiellen Unsicherheiten und schwierigen Sorgesituationen zu würdigen und vom Leben der Anderen zu lernen. Es braucht also die Selbstbegrenzung der Forschung, um kollektive Selbstaufklärung und Selbstentwicklung der Community zu ermöglichen.

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Fischer et al., 2012. Heintel, 2016, S 198.

Im Weinberg sorgender Forschung

Sich mediopassiv bzw. medioaktiv dem Weinberg des Lebens und Sorgens nähern Das Weinhandwerk ist in seinen bestmöglichen Ausprägungen ein zuhörender, dialogischer Prozess, in dem Entfaltungsräume eröffnet, gleichzeitig aber auch klare weinphilosophische Positionierungen eingebracht werden. Die so von den Weinbäuer*innen erzählte Weise sich in ein Wechselverhältnis zum historisch, kulturell und geologisch gewordenen Terroir, zum Weinberg, zu den gelesenen Trauben, zum Gärprozess, zu den in den Fässern gelagerten Weinen zu begeben, kann fast als konkretisierende Übersetzung eines »Abschiedes vom Souveränitätsparadigma der Moderne«, wie ihn Hartmut Rosa12 beschreibt, verstanden werden. Mit dem Souveränitätsparadigma ist bei Rosa eine lange Zeit die Weltenbeziehungen und Handlungsweisen der Menschen bestimmende, umfassende »spirituelle Unabhängigkeitserklärung« von Natur, Geschichte und sozialer Mitwelt gemeint. Die Überwindung dieses Paradigmas erfordert, so Rosa, den »Übergang in ein mediopassives Weltverhältnis, das ebenso gut ein medioaktives genannt werden kann. Es beschreibt eine Form der Weltbeziehung, die auf Natur, Geschichte und Politik, auf das jeweils Eigene wie auf das Andere sensibel zu hören und selbstwirksam zu antworten vermag und sich dabei stetig transformiert.«13 Dem eingeschrieben ist eine spezifische politisch-soziale Haltung, des Zuhörens, des Einander-etwas-zu-sagen-Habens, des Sich-empathisch-berührenLassens und des daraus Veränderung bzw. Verwandlung Zulassens. Joan Tronto14 verweist darauf, dass eine sorgende, das heißt die Sorge demokratisch organisierende, Gesellschaft Orte braucht, an denen Menschen vom und über das Leben Anderer lernen können, in denen existentielle und universelle Erfahrungen, wie Sorgen, Ängste, Krankheit, Verlust, Alter, Sterben und Trauer geteilt werden können und die ethische Reflexion ›des Guten (Lebens)‹ einen Platz findet. Wenn wir angeregt davon Forschung als »Caring Research« begreifen möchten, dann besteht ihre vornehmste Aufgabe vielleicht darin, in

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Rosa, 2019, S. 53. Ebd. Tronto, 2013.

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Beziehung zu den Menschen – angereichert mit Einsichten und Erkenntnissen der Wissenschaft – diskursive, advokatorische und emanzipatorische Ermöglichungs-, Denk- und Handlungsräume zu öffnen, die dem Innewohnenden (Sorgen, Hoffnungen, bestehenden Kulturen und Praxen der Sorge) zur Entfaltung verhelfen. In denen das Zu- und Vertrauen in den Prozess des Zusammenwirkens groß ist und gerade deshalb daraus Gemeinsames entstehen, sich mediopassiv ereignen kann. Wohin dies führen mag, soll vorab nicht festgelegt sein. Sorgende Forschungskulturen unterstützen im Sich-auf-den-Weg-Machen, begleiten ein kleines Stück des Weges, kommen nicht vorschnell mit Antworten und (Schein)Lösungen, sondern helfen, die richtigen Fragen zu stellen, die es den Menschen vor Ort eher ermöglichen, in lokal passende Formen der kollektiven Achtsamkeit, einer gemeinsam geschaffenen Sorgekultur »hinein zu leben«.15

Sich der Frage nach dem Guten verpflichtet sehen In Zeiten der Industrialisierung war die Antwort auf die Frage – was bedeutet guter Weinbau? – aus Sicht der Weinwirtschaft klar. Nämlich mit allen zur Verfügung stehenden (Dünge)Mitteln die Ertrags- und Verkaufsmengen, ganz im Sinne der besprochenen »spirituellen Unabhängigkeitserklärung«16 , zu maximieren. Das Gute war das Abzählbare. Der Boden und die Reben waren Objekte der Ausbeutung mit einer auf Optimierung ausgerichteten Winzertechnik. Der biologisch sorgsame Weinbau heutzutage begreift die Frage nach dem Guten in einer fundamental anderen, eben ethischen Weise. Es geht den Weinbäuer*innen nicht isoliert um den guten Wein, sondern um die Frage, inwieweit ihre Art und Philosophie Wein anzubauen und zu ernten, ihre Lebensweisen, ihre Produktions- und Vertriebsweisen Beitrag sein können für eine sozial-ökologisch nachhaltigere Gesellschaft, für faire Arbeitsbedingungen und für ein gutes Zusammenleben. Ihr Denken und Handeln überwindet den Anthropozentrismus und auch den Eurozentrismus, indem sie

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Andreas Heller und Patrick Schuchter haben im Projekt »Letzte Fragen. Esslingen im Dialog zur sorgenden Stadtgesellschaft« dieses Verständnis einer sorgenden Forschung in exemplarischer Weise gelebt. Siehe dazu auch Schuchter/Heller, 2017; Hospiz Esslingen, 2017. Rosa, 2019.

Im Weinberg sorgender Forschung

ihre Existenzweisen eingebettet in das komplexe Gewebe von sozialen, natürlichen und technischen Umwelten sowie Nachhaltigkeit durchaus im globalen Maßstab begreifen. Es geht ihnen um eine bewusste gesellschaftspolitische Positionierung, wider den kapitalistischen Raubbau an der Natur und den Menschen, sowie um ein ernsthaftes Ringen um »das Gute«. Die Wissenschaften haben sich lange Zeit vor allem über ihre Distanzierung, ihr Herausstellen aus den alltäglichen Lebensvollzügen, ihren »objektiven« analytischen Blick und ihr »neutrales« Werturteil definiert. Die Frage nach dem Guten blieb ausgeklammert, die Ethik damit ausgelagert. Auch wenn die wissenssoziologischen Arbeiten zur Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit und die Frankfurter Schule in den Sozialwissenschaften ihre Spuren hinterlassen haben, wie auch später die Fabrikation von Erkenntnis17 selbst in den »härtesten« Naturwissenschaften in ihren sozialen, kontextuellen und ethischen Bedingtheiten vor aller Augen freigelegt wurde, hält sich der ethische Distanzierungsmodus in vielen Wissenschaftsbereichen bis herauf in die Jetztzeit. Sorgende Forschungskulturen begreifen sich gesamtheitlich als Wertefigur. Einerseits indem die impliziten Wertorientierungen und Interessen reflektiert und offengelegt werden und andererseits, indem Fragen nach dem Guten (nach den konkreten Lebens- und Sorgebedingungen) in den Forschungsprozess eingelagert werden.18 Sorgende Forschungszugänge sind eben gerade nicht ethisch unschuldig und beliebig, sie lassen sich ein auf die existentielle Wucht des Lebens, in denen auch Emotionen wichtige Quellen von Erkenntnis sind. Sie setzen sich bewusst für politische und sozialethische Grundwerte wie Gerechtigkeit, soziale Teilhabe und Demokratisierung ein. Sie stellen Sorgefragen in Mitteleuropa in Relation zur sozialethischen Ungerechtigkeit von globalen Care Chains und den radikalen Kommodifizierungsdynamiken in der Organisation von Sorge. Sie dekonstruieren die Schieflagen in der Organisation und Anerkennung der Care-Reproduktionsarbeit. Sie widmen sich der Freilegung epistemischer Gewalt, als konstitutiver Zusammenhang von Wissen, Herrschaft und Gewalt in der kolonialen Moderne. Sie stellen Sorgefragen in den größeren Rahmen der Zukunft einer konvivialistischen Gesellschaft.19 Sorgende Forschungskulturen widersetzen sich der technokratischen Optimierung des Bestehenden.

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Knorr-Cetina, 1991. Heintel, 2006. Die Konvivialistische Internationale, 2020.

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Sie tragen das Potenzial in sich, kulturelle Gegenbewegungen zur absoluten Marktorientierung und Durch-Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu sein. Umso wichtiger ist es, hier am Beispiel der Caring Communities Entwicklungen festgemacht, kritisch im Blick zu behalten, dass nicht »unter der Hand«, ungewollt, wieder die Koloniallogiken moderner Gesellschaften reproduziert werden und sich letztlich zum Beispiel eine neue Form von »Community-Kapitalismus«20 den Weg bahnt.

Ein allerletzter Ausblick Die Weinbäuer*innen des Kranachbergs werden heute nicht mehr als Bewohner*innen am Rande begriffen, wenngleich der Reichtum ihres WeinkulturHandwerks sich eben gerade aus dieser gewesenen Randständigkeit speist. Für »sorgende Forschungskulturen«, interventionsorientierte, partizipative und transdisziplinäre Zugänge und ihre Akteur*innen gilt ähnliches. Sie stehen nicht mehr am Rande, gleichwohl aber auch noch nicht gänzlich anerkannt im Zentrum des Wissenschaftssystems, was ihnen vielleicht gar nicht zu wünschen wäre. Denn vom Rande aus lassen sich die neuen DenkHorizonte eher erahnen und es lässt sich leichter über den Rand hinweg losspazieren. Zu wünschen wären der Zukunft des Wissenschaftssystems und der Universitäten, dass sie solchen »Kranachberg-Forschungs-Terroirs« die wir gemeinsam durchwandert haben, immer mehr Raum geben, denn die aktuellen und kommenden gesellschaftlichen Problemlagen sowie der kollektive Umgang mit den existentiellen Unverfügbarkeiten des Lebens und von Care werden noch stärker als jetzt Wissensformen und Transformationsweisen erfordern, die sich nur aus dem Vielfältigen, Übergreifenden, Ethischen, Offenen ergeben werden können. Wollen sorgende Forschungsweisen als Gegenbewegung Systemveränderung und -transformation, also eine fundamentale Neuausrichtung gesellschaftlicher Lebens-, Arbeits- und Sorgeweisen, so stoßen sie mit wissenschaftlicher Aufklärung, analytisch klaren Gegenpositionen oder Protest allein an systemische Grenzen. Denn jede Forderung, jede Transformationsperspektive, bricht wie eine Welle am Riff der bestehenden politischen Verwaltungslogiken, Bürokratien und kurzatmigen, an Legislaturperioden gebunde-

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Van Dyk, 2019.

Im Weinberg sorgender Forschung

nen politischen Kurzsichtigkeiten. Charles Eisenstein sieht für den Protestund Forderungsmodus für Systemveränderung ähnliche Grenzen: »Wenn wir etwas als Forderung verpacken, vertiefen wir die bestehenden politischen Machtverhältnisse. Wir beschränken das, was wir erreichen können, auf das, was in der politischen Macht der Amtsträger steht […].« 21 Sorgende Forschungskulturen tragen demnach dazu bei, über die bestehenden Strukturen hinaus, nicht nur zu denken, zu argumentieren, zu empfehlen, sondern ganz konkret, greifbare, alternative Zukunftsnarrative mit zu entwickeln, und experimentell und in vielgesichtiger Weise, »den bestehenden Verhältnissen andere entgegenstellen, die als praktizierbare Alternativen praktische Wirkungen erzielen.«22 , für die Menschen also erlebbar sind. Insofern ist das von Reimer Gronemeyer und Michaela Fink in diesem Band gezeichnete Hoffnungsbild einer »Sorge-Gegenforschung« ein sehr zutreffendes. Meinem kärntnerisch-wienerischen Wesen liegt, dem zur Seite gestellt, eine »alternative Für-Forschung« ein wenig näher. Also eine SorgeForschung, die in und mit Gesellschaft die Revolutionen für die Zukunft einer Caring Society erforscht, für sie eintritt und experimentell ausprobiert. Die Revolution nach außen setzt aber jedenfalls eine kritische Selbstreflexion und, in manchen Wissenschaftsbereichen, eine Revolution nach Innen voraus, um im eigenen wissenschaftlichen Tun auch dem Anspruch nach außen gerecht zu werden. Wie überall, lässt sich auch für Revolutionen etwas von der Weinhandwerkskunst lernen: Gerade jene Weine entwickeln eine nie dagewesene, das eigene antizipatorische Denken und Schmecken überraschende und überschreitende, revolutionäre Charakteristik, in deren Werden grenzenloses Vertrauen in die Lebendigkeit des Unverfügbaren gelegt wurde. Bevor Sie sich am revolutionären, sorgenden Forschen (nicht) beteiligen, sei Ihnen das Meditieren dieser Frage von Max Frisch ans Herz gelegt: »Keine Revolution hat je die Hoffnung derer, die sie gemacht haben, vollkommen erfüllt; leiten Sie aus dieser Tatsache ab, daß die große Hoffnung lächerlich ist, daß Revolution sich erübrigt, daß nur der Hoffnungslose sich Enttäuschungen erspart usw., und was erhoffen Sie sich von solcher Ersparnis?« 23

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Eisenstein, 2020, S. 11. Brand/Welzer, 2019, S. 328. Frisch, 2020 [1988], S 33.

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Literatur Brand, Ulrich/Welzer, Harald: »Alltag und Situation«, in: Klaus Dörre/Hartmut Rosa/Karina Becker/Sophie Bose/Benjamin Seyd (Hg.), Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 313-332. Die Konvivialistische Internationale: Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt, Bielefeld. Trancript 2020. Dörre, Klaus/Rosa, Hartmut/Becker, Karina/Bose, Sophie/Seyd, Benjamin (Hg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden: Springer VS 2019. Eisenstein, Charles: Wut, Mut, Liebe!: Politischer Aktivismus und die echte Rebellion, München: Europa Verlag 2020. Fischer, Roland/Georg Schendl/Schmid, Martin/Veichtlbauer, Ortrun/Winiwarter, Verena: Wer und Wie wollen wir sein? Über die Bedingungen der Möglichkeit einer proVISIONären Gesellschaft. Weltethos und Bildung. User Generated Ethics, LIT: Wien 2012. Frisch, Max (2020 [1988]): Fragebogen. Entnommen aus Tagebuch 1966 – 1971, 1972 [18. Aufl.], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2020 [1988]. Heintel, Peter: »Interventionsforschung im Gemeindebereich«, in: Ruth E. Lerchster/Larissa Krainer (Hg.), Interventionsforschung. Band 2: Anliegen, Potentiale und Grenzen transdisziplinärer Wissenschaft, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, S. 179 – 207. Heintel, Peter: »Philosophische Anmerkungen zum Thema Qualität.«, in: Qualität in der wissenschaftlichen Forschung: IKN-Forschungstag 2011, Klagenfurt: IKN Eigenverlag 2013, S. 101-128. Heintel, Peter: »Wege aus der Randständigkeit—ein Brückenschlag«, in: Rudolf-Christian Hanschitz/Esther Schmidt/Guido Schwarz (Hg.), Transdisziplinarität in Forschung und Praxis: Chancen und Risiken partizipativer Prozesse, Wiesbaden: VS 2009, S. 23-29. Heintel, Peter: Interventionsforschung: Wissenschaft als kollektive Entscheidung. Beiträge zur interdisziplinären Ringvorlesung Interventionsforschung. Klagenfurter Beiträge zur Interventionsforschung, Bd. 4, 2006. Heller, Andreas/Schuchter, Patrick: Sorgekunst. Mutbüchlein für das Lebensende, Esslingen: der hospiz verlag 2017.

Im Weinberg sorgender Forschung

Hospiz Esslingen (Hg.): Letzte Fragen – Esslingen im Dialog zur sorgenden Stadtgesellschaft. Autor*innen: Patrick Schuchter, Andreas Heller, Susanne Kränzle. Hospiz Esslingen 2017. Knorr-Cetina, Karin: Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Moser, Peter: »Der Weinskandal in Österreich und seine Folgen. 35 Jahre Falstaff: Ein Rückblick auf den größten Skandal der heimischen WeinbauGeschichte«, in: Falstaff, 17. Dezember 2015. Polanyi, Karl: The Great Transformation [13. Aufl.], Wien: Suhrkamp 2017 [1944]. Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin: Suhrkamp 2019. Rosa, Hartmut (2019). »Spirituelle Abhängigkeitserklärung«, in: Klaus Dörre/Hartmut Rosa/Karina Becker/Sophie Bose/Benjamin Seyd (Hg.), Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 35-55. Tronto, Joan C.: Caring democracy: Markets, equality, and justice. NYU Press 2013. van Dyk, Silke: »Community-Kapitalismus«, in: Klaus Dörre/Hartmut Rosa/Karina Becker/Sophie Bose/Benjamin Seyd (Hg.), Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 279-295. Wegleitner, Klaus/Heimerl, Katharina/Reitinger, Elisabeth/Wappelshammer, Elisabeth/Plunger, Petra/Schuchter, Patrick: »Partizipative Forschung in Palliative-und Dementia Care als Beitrag zur Demokratisierung der Sorge«, in: Ruth E. Lerchster/Larissa Krainer (Hg.), Interventionsforschung. Band 2: Anliegen, Potentiale und Grenzen transdisziplinärer Wissenschaft, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, S. 31-62. Wegleitner, Klaus/Schuchter Patrick: »Caring communities as collective learning process: Findings and lessons learned from a participatory research project in Austria«, in: Annals of Palliative Medicine (2018), S. 9894. https://doi:10.21037/apm.2018.03.05. Wegleitner, Klaus: End-of-Life Care als geteilte und öffentliche Sorge in Communities. Die Rolle partizipativer Public Health Forschung. Habilitationsschrift zur Erlangung der Lehrbefugnis im Fach Public Health und Endof-Life Care an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Wien, Graz 2018.

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Ganzheit im Fragment Bedrohung und Chance einer schweren Krankheit Fulbert Steffensky

Die schwere Krankheit als Weltuntergang: Ein einfacher Sachverhalt: der Kranke liegt. Er ist auf einer anderen Ebene und teilt die Perspektive seiner Umwelt nicht mehr. Er schaut hoch, sie schauen herab. Er ist nicht mehr ebenbürtig. Dass er liegt und die Anderen stehen, ist nicht nur eine unbedeutende Äußerlichkeit. Es gibt keine Äußerlichkeit, die nicht auch eine Inszenierung innerer Wichtigkeiten wäre. Die Kranke ist Gegenstand der Sorge und der Besprechung. Sie wird für die Ärzt*innen, sie wird vor allem für die Familie dauerndes Thema. Je gefährlicher die Krankheit ist, umso mehr wird sie eine Beredete. Unter der Beredung wird sie kleiner, als sie ist: Kind. Sie wird älter als sie ist: Greisin. Die alten Intimitäten verschieben sich damit für die Kranke: Freundschaften, Liebesbeziehungen, familiale Beziehungen verändern sich. Die Geläufigkeiten sind zerbrochen. Sie steht nicht mehr um 7 auf, geht nicht mehr zur Arbeit, kauft sich an der Ecke keine Zeitung und sie trifft die Leute nicht mehr, die sie häufig getroffen hat. Der normale Alltag wird erträglich und sinnvoll durch ein absehbares Zeremoniell und einen einsichtigen Verlauf. Dieser Alltag ist für die Kranke zerbrochen. Sie ist vertrieben aus der formalen und normalen Welt, die sie versichert hat. Geläufigkeiten machen das Leben geläufig und einsichtig. Ungeläufigkeiten erzeugen Lebensängste. (Nur am Rande: Der Zwang der Geläufigkeiten kann das Leben auch ersticken.) Weil er krank ist, weil er anderen ein ständiges Thema ist und weil die Routine seines Lebens durchbrochen ist, wird er auf sich selbst geschleudert. Er kann nicht mehr von sich absehen und ist sich ständig gegenwärtig. Zum Glück gehört die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen. Unglück bedeutet, sich selbst jederzeit ein unerträglicher Gast zu sein. Die Welt entschwindet ihm: Er kann sich nicht in ein Buch versenken. Er kann weniger Anteil nehmen

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Fulbert Steffensky

am politischen Geschehen oder an den Vorgängen in seiner Familie. Er kann sich nicht in einen Gedanken verlieben. Er klebt ständig an sich selbst und gerät in eine narzisstische Wahnwelt. Der Wahn, der darin besteht, in sich selbst eingesperrt zu sein. Alle Gefahren scheinen größer, als sie sind – oder kleiner. Alle Probleme scheinen größer, als sie sind – oder kleiner. Er gerät in eine spukhafte Verlorenheit in sich selbst. Er versteigt sich in zwanghafte Gedanken. Er steigert sich ins Nichts. Es gibt den Wahn auf Zeit: Wenn einem Unrecht geschieht und man dem Hass nicht entkommt; wenn man unglücklich verliebt ist; wenn man schwer erkrankt, kann er ihn überfallen. Zur Wahnsituation gehört der Deutungszwang. Man interpretiert alles: die Gesprächsfetzen, die man auffängt, die Mienen der Ärzt*innen und der Angehörigen, den Besuch der Freunde. Alles hat einen geheimen Sinn, in alles liest sie Sinn hinein, in alles liest sie sich selbst hinein. Vor allem ist sie gezwungen, ihre Krankheit selbst zu lesen. Es muss doch eine Erklärung für sie geben, es muss doch einer schuld sein! Und leicht fällt man in die unglücklichste aller Erklärungen: Ich selbst bin schuld. Frauen fallen leichter als Männer in den Zwang der Selbstbeschuldigung. Der Kranke hat – wie wir alle – es nur wenig gelernt, passiv zu sein. Der Kranke dieser Gesellschaft hat nur gelernt, der Welt im Aktionsmodus gegenüberzutreten, als Beherrscher, als Macher, als Bewältiger. War er früher für kurze Zeit krank, war die Krankheit die Feindin und Störerin. Man hatte Mittel gegen sie, und wenn diese nicht halfen, hat man schwerere Geschütze aufgefahren. Krankheit war Krieg. Im Krieg muss man siegen. Kann es glückende Niederlagen geben, wenn wir nur gelernt haben, der Welt als Macher, als Starker, als Sieger gegenüberzutreten? Niederlagen, Wunden und schließlich der Tod sind dann nur Orte dramatischer Sinnlosigkeit. Sie haben keine Nachricht für die Sieger. In Christa Wolfs »Kassandra« weissagt die Seherin: »Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.« Sie fährt fort: »Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte.« Und dann mit letzter Hoffnung: »So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.« Wir haben die pathischen Tugenden verlernt – die Langsamkeit, die Geduld, das Warten und Ausharren, das Lassen, die Gelassenheit, die Ergebung, die Demut. Wer der Welt nur im Aktionsmodus gegenübertritt, dem kann keine Niederlage glücken. Der Schwerkranke ist der Zukunft nicht mehr gewiss. Zur Lebensgewissheit gehört es, mit Zeit rechnen zu können, also ohne Panik das Morgen, das Übermorgen und das nächste Jahr denken zu können. Wo die Selbstverständlichkeiten des Lebens gestört sind, da kommen die Zeitbegriffe durcheinan-

Ganzheit im Fragment

der. Wir kennen dies bei Menschen, die in materieller Unversorgtheit leben: Sie können nur schwer mit der Zeit rechnen. Sie sind zur Heutigkeit verdammt, weil das Morgen ihnen schwarz und ungewiss erscheint. Zur Hoffnung des Menschen gehört die Fähigkeit, ohne Angst Morgen und Übermorgen sagen zu können. Der Schwerkranke weiß oder phantasiert die äußerste Befristung des Lebens. Selbst in der Verdrängung der möglichen Nähe des Todes weiß seine Seele um die karge Lebensfrist. Eine der Grundängste in der Krankheit: Der Kranke fällt möglicherweise aus seiner materiellen Sicherung, er verarmt oder er hat Angst zu verarmen. Krankheit und Armut ist ein unerschöpfliches Thema. Man könnte alle diese Momente des Untergangs der alten Welt des Kranken in einem Satz zusammenfassen: Der Kranke vereinsamt, er ist allein, auch wenn er noch so viele Besucher*innen hat. Die Alten haben gesagt: Vae Soli! Wehe dem, der allein ist! *** »Pathos – Mathos« haben die Griechen gesagt – Leiden ist Lernen. Wenn es so leicht wäre! Was kann ich vom Leiden lernen? Sind nicht die Katastrophen die schlechtesten Lehrmeister? Dankbarkeit ist das erste, was ein Mensch lernen kann, der einer schweren Krankheit entronnen ist. Dankbarkeit ist eine Grundfähigkeit, die uns lehrt, das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Etwa zehn Jahre vor ihrem Tod hatte meine Frau einen großen und dramatischen Zusammenbruch. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften war nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens. Ich frage weiter: Was kann uns eine Krankheit lehren; besser: Was kann man in der Krankheit lernen? Der Mensch könnte lernen, sich nicht mehr

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durch sich selber zu rechtfertigen. Der Schwerkranke ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die bejahte Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, um so bedürftiger ist es; umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Schwer erkrankt sein heißt, verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: Man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selbst rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Die wundervolle Schauspielerin Hanna Schygula sagte in einem Interview: »Ich schaue in der letzten Zeit nicht mehr so gern in den Spiegel. Die Augen, die mich da anschauen, sind nicht die Augen, in denen man am besten aufgehoben ist.« Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen; aber vielleicht ein Anfang davon vielen. Die erste Folge Bedürftigkeit, die man sich eingestanden hat, wäre es, sich als Ganzer im Fragment zu erkennen. Gegen die Chaosängste alter Zeiten gab es immerhin den Glauben, dass Gott das Zerbrochene ansieht und sich dem Zersplitterten zuneigt. Man war also nicht völlig auf die eigene Ganzheit angewiesen. Die Ganzheitszwänge steigen da, wo der Glaube schwindet. Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein. Er ist nicht gezwungen, völliger Souverän seines eigenen Lebens zu sein. Wo aber der Glaube zerbricht, da ist dem Menschen die nicht zu tragende Last der Verantwortung für die eigene Ganzheit auferlegt. Es wächst ein merkwürdiges neues Leiden, das durch überhöhte Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selbst entsteht. Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht. Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist

Ganzheit im Fragment

man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegen nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selbst, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit, in der begrenzten Vitalität und Gesundheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe also nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist. Souverän wäre es, den Durst nach dem ganzen Leben nicht zu verlieren; um es religiös auszudrücken: das Land nicht zu vergessen, in dem auch der Blinde sieht, der Stumme seinen Gesang und der Lahme seinen Tanz gefunden hat. Wenn man in dieser Weise der Endlichkeit fähig wäre, dann brauchte die eigene Bedürftigkeit, Schwäche, vielleicht sogar die Todesnähe nicht in Chaosängste stürzen. Wenn man der Endlichkeit fähig wäre, dann würde das beschädigte Leben von anderen nicht so maßlos irritieren. Wer nur Ganzheiten erträgt, gerät in Panik, wenn er die Lebensverletzungen wahrnimmt, bei sich selbst oder bei anderen. Ich will die Krankheit nicht romantisieren. Aber vielleicht gibt es gelegentlich das Recht des Kranken auf seine Krankheit. Könnte der Gesundheitszwang des Kranken nicht ein Stück geheimer Gewalt gegen sich selbst sein, sich in der Krankheit nicht zu lassen. Könnte es nicht auch ein Stück geheimer Gewalt sein, dem Kranken seine Krankheit nicht zu lassen und sich als Gesunder nicht mit der Krankheit des anderen abzufinden. Ich sage dies übrigens auch als Vater einer epileptischen Tochter, die lange unter den Gesundheitserwartungen, dem Gesundheitsdiktat ihrer Familie, der Ärzt*innen und der besten ihrer Betreuer*innen gelitten hat. Sie wurde erst eine gesunde Kranke, als wir sie nicht mehr in das Gefängnis unserer Erwartungen eingekerkert hatten. Man muss aufhören können zu siegen. Man muss aufhören können, die Krankheit unter allen Umständen und mit allen Mittel zu bezwingen. Es gibt Krankheiten, die zu einem Menschen gehören. Aber es gibt keine Krankheit, die seine Würde als Mensch beeinträchtigt. Eine weitere Folge einer gelungenen Niederlage oder der gelernten Bedürftigkeit ist die Minderung der Aggressivität und damit die Möglichkeit neuer gewaltfreier Intimitäten. Gerade habe ich den Fall eines Freundes erlebt. Er war ein starker Mann, seine Familie hat in der Hauptsache seine Stärke gespürt. Er war ein erfolgreicher Arbeiter, und in seinen Erfolgen wurde er zum quälenden Über-Ich seiner Kinder. Sie kamen nicht mit ihm zurecht

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und er nicht mit ihnen. Vor drei Monaten hatte er einen schweren Unfall. Seine Kinder erleben ihn zum ersten Mal als angewiesen und bedürftig, er selbst erlebt sich zum ersten Male so. Die Kinder sahen ihn zum ersten Mal weinen. Und er sagte mir: »Ich habe Gespräche mit meinem Sohn gehabt wie nie im Leben vorher.« Die Niederlage hat ihm die Gewalt genommen. Die Bedürftigkeit, die die Krankheit ihn gelehrt hat, hat ihn annehmbar gemacht. Nur bedürftige Menschen sind geschwisterliche Menschen und können geschwisterlich mit dem Leben umgehen. Liebenswürdig hat ihn in den Augen seiner Kinder gerade seine Niederlage gemacht, nicht seine Souveränität. Nur wer die Niederlagen des Lebens erfahren hat, kann wissen, was Niederlagen sind. Die Nur-Starken, die Nie-Zusammengebrochenen können Gebrochenheit und Schwäche nur schwer verstehen. Empathie, die Fähigkeit mitzufühlen mit den Schmerzen, den Wunden, dem Hunger, den Qualen von Menschen, setzt voraus, dass man sie am eigenen Leib erfahren hat. Man ist nicht mehr derselbe, wenn man aus einer Krankheit kommt und wenn die Niederlage gelungen ist. Nicht jede Niederlage gelingt, sie kann die Menschen auch hart und verbittert zurücklassen. Wenn sie aber angenommen ist, dann wird der Mensch der Annahme fähig: Er wird eine andere Mutter, ein anderer Vater seinen Kindern gegenüber sein; ein anderer Lehrer und eine andere Ärztin. Man weiß, was Leiden und Hoffnungslosigkeit und Hoffnung ist. Dieses Wissen ist die Voraussetzung einer anderen und neuen Zärtlichkeit dem Leben gegenüber. Die nur Starken, die nur Gesunden und Ungebrochenen haben es schwer mit einer menschlichen Grundhaltung, mit dem Mitleid, mit der Compassion. Vielleicht wird der, der einer großen Bedrohung entronnen ist, sich bei jedem Rettungswagen, der mit Blaulicht vorbeifährt, fragen: Wer ist es? Was hat er, und wie wird es mit ihm ausgehen? Das heißt, er wird sich nicht nur technisch zu Welt und Menschen verhalten. Die Gleichgültigkeit der Schmerzen anderer gegenüber ist gebrochen oder zumindest vermindert. Pathos – Mathos, er hat Mitleid gelernt am eigenen Leiden. In einem der Stücke von Thornton Wilder spricht ein Engel: »Ohne deine Wunde, wo bliebe deine Kraft? … Die Engel selbst vermögen die elenden, irrenden Menschenkinder nicht zu überzeugen, wie ein einziger Mensch es vermag, den die Räder des Lebens gebrochen haben. Im Dienst der Liebe sind nur die verwundeten Krieger tauglich.« Ich vermute, dass man am Leiden und am Unglück nur lernen kann, wenn man es bejaht und annimmt. Das ist ein brandgefährlicher Satz, der in der Geschichte des Christentums manchen Schaden angerichtet hat. Ich rede keinem Masochismus das Wort. Vermeidbares Leiden soll vermieden werden.

Ganzheit im Fragment

Aber ich frage bohrend, was an der alten Vermutung stimmt, dass die Fähigkeit, das Leiden und das Unglück anzunehmen, den Menschen über sich hinauswachsen lasse. Ich verdeutliche es an einem Beispiel. Ein belgischer Priester hat 23 Jahre in einer peruanischen Gemeine auf dem Hochland gearbeitet. Die Gemeinde ist öfter überfallen worden, und ihm war der Rücken so beschädigt, dass er ständig an fast unerträglichen Schmerzen litt. Wie kannst du damit leben, fragte ich ihn. Und er: »Ich opfere diese Schmerzen für das Wohl meiner Gemeinde auf.« Dies ist keine quietistische Hinnahme des Schmerzes. Der Priester wird im Akt der Hinnahme des Schmerzes Subjekt seines Leidens. Er wird ein freier Mensch und Souverän der Situation, er ist nicht mehr nur Objekt seines Leidens. Er hat es adoptiert und es als zu ihm gehörig angenommen. Dieser Mensch ist in seiner Annahme in der Seele verändert. Die Zustimmung dazu, Fragment zu sein, gilt übrigens nicht nur für die Kranken, es gilt auch für die Pflegenden. Sie brauchen den Mut zu fragmentarischem Handeln. Auch sie sollen nicht unter Siegeszwängen stehen. Ich schaue mit Laienblick auf die Ärzte und Pfleger, die Ärztinnen und Pflegerinnen, die mit Kranken umgehen. Sind sie fähig, die unbeherrschbare Krankheit oder gar das Sterben eines Menschen nicht als eigene Niederlage zu betrachten? Es ist schwer, sich die eigene Ratlosigkeit einzugestehen. Vielleicht ist es besonders schwer sich einzugestehen, dass man nichts mehr machen soll, wo man nichts mehr machen kann. Es besteht immer die Gefahr, nur um der eigenen Resignation und Hilflosigkeit zu entgehen, irgendetwas zu tun; irgendwelche Dinge zu treiben, an denen sich herumbasteln lässt. Das Sterben ist schwer. Schwer ist auch, jemanden sterben zu lassen, und dies nicht nur für Angehörige. Wahrscheinlich gehört zur Begleitung eines Sterbenden, ihn gehen zu lassen. Man hilft ihm gehen, indem man ihn gehen lässt. Man begleitet ihn ins Sterben, indem man ihn nicht mit allen Künsten und Tricks hält. Dazu allerdings gehört die schwere Anerkenntnis der eigenen Hilflosigkeit. Wir sind nicht die Macher des Lebens. Wir sind nicht die Herren über Leben und Tod. Ich habe Angst vor einer Welt, in der der Mensch vollkommener Macher seiner selbst wird und alles seinen Machenschaften unterwirft, den Anfang des Lebens, die Tiere, die Bäume und die Flüsse, das Klima und schließlich auch seinen eigenen Tod. Aber zum Verzicht auf die eigenen Machenschaften gehört auch das Einverständnis mit dem Sterben und dem Tod. Ich wünsche mir für mein eigenes Sterben gewaltlose und mutige Menschen um mich. Ich wünsche mir nicht Menschen, die unter allen Umständen alles versuchen. Ich wünsche mir Menschen, die

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meine Schmerzen lindern, selbst wenn das Leben dadurch verkürzt wird. Ich wünsche mir mutige Menschen, die das Risiko eingehen, mich sterben zu lassen. Ich wünsche mir freie Menschen, die nicht in der Erinnerung an die Ideologie der Nazis in eine Anti-Ideologie verfallen, unter gar keinen Umständen mein Leben zu verkürzen. Mit der Möglichkeit der Reanimationsmedizin ist die Verantwortung der Ärzte gewachsen. Sie müssen heikle Entscheidungen treffen. Ich wünsche ihnen den Mut, sie zu treffen. Vielleicht wünsche ich ihnen sogar den Mut zum Irrtum. Der Grundgedanke, der mich geleitet hat, ist in einem Satz zu sagen: Das geistige Leben, auf Dauer vielleicht sogar das biologische Leben, ist nur zu retten, wenn wir fähig werden, den Siegeszwängen zu entsagen; wenn es uns gelingt – den Einzelnen und der Gesellschaft – unsere Omnipotenzphantasien zu bändigen und unserer eigenen Sterblichkeit zuzustimmen. Im Psalm 90 heißt es: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!« Lehre uns unser eigenes Menschenmaß, das wir verloren haben! Mir wird mehr und mehr ein altes Wort wichtig: Demut. Sie lehrt uns: Wir sind nicht alles, nicht die Meister*innen, Besitzer*innen und Beherrscher*innen von allem. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung. Wir sind ein Teil vom Ganzen, nicht mehr, aber das ist viel. Wir sind nicht für uns da, und nichts ist für uns allein da. Wir werden sterben und nicht mehr sein. Aber die Welt um uns und die Welt nach uns soll sein. Und Gott wird sein. Das genügt.

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit Birgit Heller

Wer sich mit Religionen befasst, weiß, dass man dem Tod ins Gesicht schauen kann. Die verschiedenen religiösen Traditionen haben dem Tod seit jeher Gesicht und Gestalt gegeben. Es existieren viele männliche und weibliche Todespersonifikationen quer durch die Kulturen. Auffällig ist der Geschlechter-Unterschied: Während die bekannten männlichen Totengötter (etwa der hinduistische Gott Yama oder der griechische Gott Hades) eindeutig nur die Todessphäre personifizieren, verbinden sich in den weiblichen Gottheiten Todesmacht und Lebensmacht zu einem komplexen, untrennbaren Ganzen. Vieles spricht dafür, dass der Glaube an die Wachstums- und Transformationskräfte der vielerorts verehrten Muttergöttinnen, besonders der Mutter Erde, früh in der Geschichte des Menschen auch die Hoffnung auf die Verwandlung des Todes umfasst. Als Schöpferin bringt die Erde Leben hervor, als Totengöttin nimmt sie die Toten in den Mutterschoß zurück, um neues Leben zu geben. Die in der Frühgeschichte verbreitete Hockerbestattung kann als Nachahmung der embryonalen Haltung gedeutet werden; da die Toten mit roter Farbe bestrichen wurden, legt sich der Gedanke an ein Weiterleben nahe. Diese vielschichtige Vorstellung einer weiblichen Todesund Lebensmacht zeigt sich besonders eindrücklich in der altägyptischen Kultur. Hier ist es nicht die mächtige Erdgöttin, sondern die Himmelsgöttin Nut, die den toten Menschen in ihrem Schoß aufnimmt und neu gebiert.1 Diese Göttin spielt im Totenritual eine herausragende Rolle. Durch die Jahrtausende ist das Symbol der mütterlichen Göttin Nut lebendig. Sie verkörpert sich im Sarkophag und umfängt den Menschen im Tod. So wie die Sonne täglich aus dem Körper der Himmelsgöttin geboren wird, soll auch der Mensch aus dem Tod wieder lebendig hervorgehen. 1

Vgl. Assmann, 2003, S. 220-227.

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Hat es einen Sinn, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, wie es uns die meisten Religionen nahelegen? Bilder von Tod und Tödin sind bis heute in großer Vielfalt innerhalb und auch außerhalb der religiösen Überlieferungen in Kunst und Literatur zu finden.2 Alle Bemühungen der Menschen, dem Tod Gestalt zu geben, als Todesengel zum Begleiter zu machen oder als Tödin musizieren und tanzen zu lassen, gründen in der Erfahrung und Einsicht, dass der Tod nicht irgendein Thema unseres Lebens ist. Wir begreifen die Fülle des Lebens nicht, wenn wir uns nicht der Erfahrung des Todes aussetzen oder ihr ausgesetzt werden. Ja, mehr noch. Leben und Tod hängen tatsächlich untrennbar zusammen. Seit der Frühgeschichte ist es die Erfahrung des Todes, die Menschen dazu anstößt, über das Leben nachzudenken. Der Tod ist offenkundig eine Herausforderung für den Menschen, ein Stachel, der den alltäglichen Lebenstrott stört und antreibt. Der Umgang mit dem Leichnam, die rituelle Behandlung von Schädel und Knochen belegt, dass sich Menschen bereits in der Altsteinzeit nach einer Dimension jenseits der materiellen Existenz ausstreckten. Es ist die religiös-spirituelle Dimension, die sich aus den großen Fragen des Lebens speist und die nicht entwickelt und praktiziert werden kann ohne den intensiven Blick auf Sterben und Tod. Den Tod anzunehmen und in das eigene Leben hineinzunehmen, ermöglicht Selbstentwicklung und persönliches, spirituelles Wachsen und Reifen, aber auch bewussteres und menschlicheres Zusammenleben, wesentlichere Beziehungen, tiefere Freundschaften und entschiedenere Liebe. Wenn Religionen und Philosophien also zur Auseinandersetzung mit dem Tod mahnen, geht es nicht nur und nicht in erster Linie um Todesbewältigung, sondern um Rückkoppelungen auf das Leben. Sterbekunst, ars moriendi, ist offenbar zunächst Lebenskunst, ars vivendi, wirkt sich auf die Art und Weise unseres irdischen Lebens aus, auf unsere Entscheidungen, unser Verhalten, unsere Beziehungen, unsere Wünsche und Ziele. Religionen sind von außen betrachtet Sinnangebote. Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen heißt nicht zwangsläufig, besser zu sterben, aber bewusster und authentischer zu leben. Je näher der Tod an einen Menschen herantritt, umso stärker kann sich die Aufmerksamkeit auf die Dimension der Transzendenz verschieben, auf die Frage nach der Grundlage, dem Halt des vergänglichen, zerbrechlichen Lebens und nach dem Sinn und Ziel des Ganzen. Für viele rücken Vorstellungen über ein Leben danach, aber auch die Möglichkeiten noch darauf Einfluss zu nehmen, in den Blick. 2

Vgl. Guthke, 1997.

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit

Überwindung der Sterblichkeit? Heute stehen wir offenbar an einer entscheidenden Weggabelung der menschlichen Entwicklung. Weltweit dominieren die Weltanschauungen des Kapitalismus und Konsumismus sowie der Glaube an die Wissenschaft. Traditionelle religiöse Sinnangebote werden zunehmend durch diese Systeme ersetzt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch die klassischen religiösen Domänen von Sterben und Tod davon betroffen sind. Neben dem gesellschaftlichen Trend zur ausschließlichen Orientierung am Diesseits, lässt sich ein wissenschaftlicher Trend zur Überwindung der Sterblichkeit ausmachen. Die Entwicklungen und angestrebten Ziele in Biotechnologie, Cyborg-Technologie und Künstlicher Intelligenz basieren auf der Hypothese, dass Sterben eine heilbare Krankheit ist. Durch die Optimierung des Menschen soll sich der Wunsch nach Unsterblichkeit erfüllen. Wenn es nach den Einschätzungen mancher Forscher*innen geht, dann muss sich zumindest die reiche Elite demnächst nicht mehr mit Sterben und Tod auseinandersetzen. Die Menschheit ist dabei, den Traum vom ewigen Leben zu realisieren. Bezeichnenderweise trägt dieses Projekt im Rückgriff auf eine alte religiösmythische Überlieferung den Namen ›Gilgamesch-Projekt‹.3 Der legendäre König Gilgamesch von Sumer (der vor ca. 5.000 Jahren gelebt haben soll) ist sozusagen die Negativfolie, auf die der Siegeszug des modernen Menschen projiziert wird. Gilgamesch begibt sich – angetrieben durch den Schmerz über den Verlust des besten Freundes – auf die Suche nach der Unsterblichkeit und muss zuletzt sein Scheitern akzeptieren. Die Götter, so heißt es, hätten für die Menschen den Tod zum Schicksal gemacht.4 Der Mensch ist sterblich, lautet die eindeutige Botschaft im überlieferten Todesgedächtnis, die nun in Frage gestellt wird. Menschen werden zu Göttern, so scheint es. Aus Homo sapiens wird Homo Deus, wie der gleichnamige Best-

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Dieses Zukunftsprojekt ist im Kontext der Bewegung des Transhumanismus entstanden und ist verknüpft mit dem Forschungsprogramm SENS (Strategies for Engineered Negligible Senescence). Es handelt sich um Initiativen, die das Altern als heilbare Erkrankung bekämpfen und sich einerseits der Erforschung einer radikalen Lebensverlängerung widmen, andererseits auch die gesellschaftliche Einstellung zur Unsterblichkeit in Richtung einer moralischen Forderung verändern wollen, vgl. https://medium.com/futurists-club-by-science-of-the-time/augmented-huma nity-and-the-quest-for-immortality-8c5c0722b2ce [Zugegriffen: 14. Oktober 2020]. Röllig, 2009, S. 148.

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seller des Historikers Yuval Harari verkündet.5 Über die sukzessive Verlängerung der Lebenszeit sollen die, die sich die nötigen Reparaturen leisten können, das ewige Glück auf Erden erhalten. Diese Menschen werden zwar nicht unsterblich im engen Sinn, sondern lediglich nicht-sterblich, da das Risiko eines tödlichen Unfalls nicht ausgeschlossen werden kann. Daher sieht es so aus, als würden die dereinstigen Nicht-Sterblichen geplagt von der Angst vor dem verbleibenden Risiko, das durch äußerste Kontrolle und alle möglichen Einschränkungen vermieden werden müsste. So utopisch diese Szenarien derzeit noch klingen mögen, sie fordern uns heraus: Wer will 200 Jahre, 500 Jahre, 1500 Jahre alt werden? Und wer will eigentlich ewig leben? Vorbild für den Homo Deus ist am ehesten die griechische Götterwelt (und Vergleichbares). Näher betrachtet ist das eine Welt geprägt von Zwietracht, Streit und Konflikten, von Neid, Konkurrenz, Hass und Langeweile. Da drängt sich dann bald der Gedanke auf, ob der Tod letztlich nicht doch ein Segen ist, wie uns einige Mythen und Märchen erzählen. Ich bezweifle, ob das ewige irdische Leben erstrebenswert ist: Es relativiert den Stellenwert von Kindern, Partnerschaft und Freundschaft; es gibt die Ideale der Gleichheit und Gerechtigkeit preis, weil es elitär ist; letztlich fördert es einen autistischen Egoismus und richtet sich gegen die Menschlichkeit im Sinn von Empathie, Beziehungsorientierung, des Mit- und Füreinander-Daseins. In der jüngsten Zeit ist es allerdings recht ruhig geworden um die Ambitionen der Unsterblichkeitsforschung. Das Corona-Virus hat dafür gesorgt, dass die Angst vor dem Tod wieder in den Vordergrund gerückt ist. Interessanterweise bekräftigt der Umgang mit dem Virus aber auch die beiden oben erwähnten wunden Punkte, die mit dem Versuch, die Sterblichkeit zu überwinden, verbunden sind: nämlich die Angst vor dem Risiko und den Preis der Menschlichkeit. Die zukünftigen Nicht-Sterblichen scheuen das Risiko. In den letzten Monaten sind wir angesichts der Pandemie ständig mit der Rede von den Risikogruppen konfrontiert. Es wirkt so, als hätten wir vergessen, dass das organische Leben immer das Risiko des Todes impliziert. Obwohl Philosophie, Literatur, Religion stets klare Worte dafür gefunden haben. So heißt es in einem frühen buddhistischen Text:

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Harari, 2020.

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»Junge und erwachsene Leute, Toren und auch weise Menschen, alle kommen in die Macht des Todes, aller Einkehr ist der Tod.« (Sutta-nipāta 3, 8, 578)6 Nicht anders denkt der Philosoph Martin Heidegger, wenn er das menschliche Dasein als Sein zum Tode bezeichnet. Und aus der humorvollen Perspektive des Schriftstellers Erich Kästner betrachtet, klingt das dann so: »›Wird’s besser? Wird’s schlimmer?‹ fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.«7 Obwohl es durchaus sinnvoll ist, sich vor Gefahren und Ansteckung zu schützen, sollten wir nicht vergessen, dass das Leben grundsätzlich unsicher und riskant ist. Mehr noch, dass das Leben unter Umständen gar nicht das höchste Gut ist. Überleben ist nicht alles. Wie viele Menschen haben ihr Leben für andere, für ein Ideal, eine Überzeugung relativiert oder setzen es – weniger heroisch – im Sport aufs Spiel. Obwohl das irdische Leben in den meisten religiösen Überlieferungen als wertvoll gilt, besteht die Bestimmung des Menschen nicht in der Lebensverlängerung. Wenn Risikogruppen geschützt werden, indem sie isoliert werden, geht das zu Lasten der Menschlichkeit. Was wird aus uns, wenn Begegnung und Berührung von der Angst vor Ansteckung beherrscht werden? Angesichts der fehlenden Güterabwägung im Umgang mit dem Corona-Virus drängt sich die Frage nach unserer Wertehierarchie auf. Wer sind wir, was ist uns wirklich wichtig und wie wollen wir leben? Die Corona-Krise ist symptomatisch für die Krise einer kranken Welt, einer Welt gezeichnet vom drohenden ökologischen Kollaps, vom RaubtierKapitalismus, von sozialer Ungerechtigkeit, von der Vergötzung der nackten Existenz bzw. der technisch-digitalen Verformung des Zusammenlebens. Im Gegensatz zu Robotern und digitalen Formen der Intelligenz sind Menschen sterbliche und sinnliche Wesen. Sinnlich in doppelter Hinsicht: Für einen Großteil der Menschen ist es wichtig, dem Leben einen Sinn zu geben; mit

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Nyanaponika, 1996, S. 137. Kästner, 1983, S. 325.

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allen anderen organischen Lebensformen verbindet uns die Fähigkeit zu sinnlichen Empfindungen.8 Sinnlichkeit umfasst den Stoffwechsel und die damit verbundenen Genüsse ebenso wie die Vielfalt sensorisch gefühlter Schmerzen. Und so viel ist jedenfalls gewiss: Selbst wenn die Alters- und Unsterblichkeitsforschung ihre ehrgeizigen Ziele erreichen sollte, so bleiben wohl die meisten Menschen aus Gründen der mangelnden Finanzierbarkeit sterblich und müssen damit zurechtkommen. Gibt es dafür Ratschläge, Rezepte, Vorbilder?

Sterben Gläubige leichter? Welche Rolle spielt Spiritualität am Lebensende? So viel lässt sich behaupten: Sie spielt keine eindeutige Rolle, sondern spiegelt das ganze Repertoire unseres großen Lebenstheaters. Der Glaube im Sinn des Für-Wahr-Haltens religiöser Inhalte ohne Erfahrungsbezug kippt angesichts des Todes leicht in Zweifel und Verzweiflung und wirkt sich sogar erschwerend auf das Sterben aus: So können religiöse Vorstellungen, die stark angstbesetzt sind – wie etwa die christlichen Bilder von Endgericht, Fegfeuer und Hölle – Gläubigen das Sterben sehr schwer machen. Jedoch kann vor allem der Glaube an ein Leben nach dem Tod das Sterben auch erleichtern. Das Phänomen des Martyriums, die Bereitschaft, für den jeweiligen Glauben zu sterben, beruht zu einem großen Teil auf der subjektiven Gewissheit des Weiterlebens nach dem Tod. Aber auch ohne Hoffnung auf ein individuelles Weiterleben können gläubige Menschen Wege finden, den Tod angstfrei anzunehmen. Beispiele dafür finden wir in der Geschichte genauso wie in der Gegenwart. So wird das Sterben des historischen Buddha Siddharta Gautama als meditativer Prozess einer radikalen Loslösung beschrieben, die kein konkreteres Ziel als die Befreiung aus dem Geburtenkreislauf vor Augen hat. Im Angesicht des eigenen Todes soll Buddha seinen klagenden Lieblingsschüler Ānanda mit folgenden Worten getröstet haben: »Lass gut sein, Ānanda, härme dich nicht, klage nicht! Habe ich dir nicht früher schon gesagt, dass wir von allem Lieben und Angenehmen uns einmal

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Vgl. Tegmark, 2019, S. 464-467. Tegmark schlägt vor, dass wir Menschen uns angesichts von immer schlaueren Maschinen damit trösten sollten, hauptsächlich Homo sentiens statt Homo sapiens zu sein.

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit

trennen und Abschied nehmen müssen, dass es damit nicht ewig so bleiben kann? Wie wäre es wohl möglich, dass das, was entstanden, geworden, seiner Erscheinung und seinem Wesen nach dem Zerfall geweiht ist, nicht zerfiele?« (Dīgha Nikāya 16, 5, 14)9 Sterben ist demnach Zerfall der Körperteile. Es liegt in der Natur des Lebensstroms, dass niemand ewig lebt, da alles, was zusammengesetzt ist, sich irgendwann wieder auflöst. Einen anderen Akzent setzt das Beispiel von Dorothee Sölle, die eine der bekanntesten evangelischen Theologinnen unserer Zeit war. Ihr letztes Buch »Mystik des Todes« ist ihre persönliche Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, ihre Sterbevorbereitung. Die letzten Zeilen schrieb sie zwei Tage vor ihrem Tod am 27.04.2003. Für Dorothee Sölle besteht der Schrecken des Todes vor allem in der Beziehungslosigkeit. Sie ringt um einen Weg, den Tod anzunehmen und angstfrei zu bejahen. Sölles Glaube kommt ohne ein weiterlebendes Ich aus. Sie ist davon überzeugt, dass der Tod seinen Schrecken verliert, wenn ein Mensch sich aufrichtet und aus sich herausgeht, sich aus der Ich-Verfangenheit befreit. Ewigkeit bedeutet ihr aber mehr als ein Freiwerden vom Ich, nämlich ein Aufgehoben sein in Gott. Sie fragt: »Lässt sich nicht eine Geborgenheit denken, die nicht in meiner Weiterexistenz liegt, wohl aber in Gottes Weiterexistenz? ›Ich in dir, du in mir, niemand kann uns scheiden‹ – reicht das nicht?«10 Ihr mystisches Todesbild ist es, ein Tropfen im Meer der Liebe Gottes zu werden. Auch wenn der Glaube das Sterben erleichtern kann, so bedeutet das im Umkehrschluss jedoch nicht, dass ›Ungläubige‹, also Menschen, die keiner Religion zugehören und sich selbst auch nicht als spirituell bezeichnen würden, zwangsläufig schwer sterben müssen. Und es muss betont werden, dass Glaube/Spiritualität kein glattes Sterben garantiert. Sterben ist eine Erfahrung des Bruchs, ein endgültiges Abschiednehmen von allem bisher Vertrauten. So finden sich nicht nur beeindruckende Zeugnisse für einen heroischen Tod, sondern auch Dokumente der Verzweiflung. Und wenn die Verzweiflung vielleicht nicht das letzte Wort hat, so gehört zumindest spirituelles Ringen häufig zum Sterben dazu. Die Konfrontation mit einem gewaltsamen Tod, mit einer todbringenden Erkrankung löst auch bei vielen gläubigen

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Zitiert nach: Mensching, 1970, S. 45. Sölle, 2003, S. 143.

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Menschen ein spirituelles Ringen aus. Beispielsweise beschreibt sich der 60jährige Schauspieler Ernst Ginsberg (1904-1964) im Sterben »schwach wie ein Kind, das nach der Mutter greint, von Angst gewürgt, gejagt von schwarzem Bangen.«11 Er schildert sich als »Jammermann« und zugleich als einen Menschen, der im Jammer zerbrechend ein Christ auch im Schmerz bleibt. Ähnlich ergeht es Peter Wust (1884-1940), Philosoph und tief gläubiger Christ, der sich angesichts der Konfrontation mit einem Gaumenkrebs zu seiner Todesfurcht bekennt. Er will Angst und Schrecken nicht verschweigen, will menschlich sterben und seinem Gott, der einen Namen und ein Gesicht hat, sagen, »daß wir, wir Durchschnittsmenschen, erst dann gerne sterben, wenn uns das Weiterleben zu weh tut. Und warum sollen wir das nicht sagen, nachdem Er selber, Er, der menschgewordene Gott, unter Blutschweiß gesagt hat, daß ihm vor seinem Sterben graue?«12 Prominente Gläubige wie Jesus oder Moses in der jüdisch-rabbinischen Überlieferung sind alles andere als leicht gestorben. Moses will nicht sterben, weil er sein Lebensziel, in das gelobte Land einzuziehen, nicht erreicht hat. Die Gnade eines erfüllten Lebens, das zu einem runden Abschluss kommt und ein friedvolles Gehen ermöglicht, ist vielen Menschen, auch gläubigen Menschen, verwehrt. Dementsprechend schwer gestaltet sich das Sterben. Letztendlich scheinen das Erleben einer Krankheit und das Sterben so verschieden zu sein wie die Kranken und Sterbenden selbst. Sterben ist – wie die Geburt – ein Prozess, der sich letztlich trotz aller Vorbereitungen, aller Regulierungsversuche und aller Sterbekunst der Kontrolle und Garantie entzieht. Deshalb sind Sterbe-Ideale und Maßstäbe für ein gutes oder leichtes Sterben letztlich wenig hilfreich. Der Tod ist das Ziel, in dem die Fäden eines gelebten Lebens zusammenlaufen.

Tod – und danach? Was bleibt am Ende des Lebens? Was bedeutet Sterben? Was ist der Tod? Ende des Lebens oder Restrisiko der Nicht-Sterblichen, Auflösung, Zerfall oder Übergang, Befreiung, Verwandlung, Vollendung, Neuanfang? Die Frage nach dem Jenseits des Todes ist in den modernen Gesellschaften für viele Menschen 11 12

Scherer, 1983, S. 126. Ebd., S. 130.

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit

fast peinlich geworden. Traut man Umfrage-Ergebnissen, spielt das Jenseits für die Mehrheit der Menschen (ca. 60 %) zumindest in Europa keine Rolle,13 das Diesseits ist wichtiger und offenbar ausreichend, weil Gedanken an das Ende gar nicht mehr zugelassen werden und weil herkömmliche christliche Vorstellungen ihre Macht verloren haben, unglaubwürdig geworden sind. Das dominante naturwissenschaftliche Weltbild scheint mit traditionellen religiösen Vorstellungen vom Jenseits nicht vermittelbar zu sein. So akzeptieren etliche Menschen das Ende des Lebens oder entwickeln vage naturwissenschaftlich geprägte Ideen vom Erhalt der Lebensenergie, andere suchen nach einem glaubwürdigen Ersatz für die nicht mehr überzeugenden Konzepte. Auf der Ersatzliste ganz oben befinden sich Reinkarnationsvorstellungen. Angeblich glauben bereits mehr als 25 % der Europäer*innen an Reinkarnation.14 Wie dieser Glaube konkret aussieht, lässt sich schwer beschreiben, weil er höchst individuell gestaltet ist. Reinkarnation wird jedenfalls nicht, wie in der Lesart der asiatischen Traditionen, als Last, die es abzuschütteln gilt, verstanden, sondern ist ein Lustfaktor, eine Chance zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Steigerung der Lebensoptionen.15 Im Grunde handelt es sich um eine Variante der diesseitigen Lebensorientierung. Mindestens genauso viel Interesse wie die Reinkarnations-Idee löst aber auch das Phänomen der Nah-Tod-Erfahrung seit ein paar Jahrzehnten aus. Seit den Bestsellern von Raymond Moody16 und Elisabeth Kübler-Ross17 befassen sich viele Menschen damit. Es gibt Selbsthilfegruppen, Netzwerke und Forschung aus unterschiedlichen Disziplinen mit konträren Hypothesen. Wie diese Erfahrung konkret abläuft, hängt allerdings von den soziokulturellen, biografischen, subjektiven Voraussetzungen der Personen ab, die sie beschreiben.18 So lässt sich kaum mehr verallgemeinern, als dass Menschen,

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Vgl. Zulehner/Denz, 1993, S. 9. Derselbe Trend zeigt sich auch in den folgenden Wellen der europäischen Wertestudie, für die länderspezifischen Daten vgl. European Values Study. The Most Comprehensive Research Project on Human Values in Europe. URL: www.europeanvaluesstudy.eu. Vgl. dazu die Ergebnisse der Europäischen Wertestudien: European Values Study. The Most Comprehensive Research Project on Human Values in Europe. URL: www.europeanvaluesstudy.eu. Vgl. Sachau, 1996. Moody, 2002. Kübler-Ross, 1994. In der Forschung wird daher zwischen den sehr verschiedenen Erfahrungsinhalten und dem besonderen Erfahrungsstil der Nahtoderfahrung (anknüpfend an Alfred Schütz

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die von einer Nah-Tod-Erfahrung berichten, davon überzeugt sind, dass der Tod nicht das Ende des Lebens ist, dass die jeweilige Erfahrung mehrheitlich positiv besetzt ist und sich nachhaltig auf das weitere Leben auswirkt: Sie ist unvergesslich und beseitigt die Angst vor dem Tod. Was auffällt ist, dass sich die Betroffenen selbst stärker mit den Rückkoppelungseffekten auf ihr irdisches Leben auseinandersetzen, während die Interessent*innen Nah-Tod-Erfahrungen als empirische Beweise für ein Leben nach dem Tod betrachten möchten. Aus der Perspektive empirischer Wissenschaft lässt sich allerdings nicht beantworten, ob es sich bei diesen Erfahrungen um Wahrnehmungen eines sterbenden Gehirns handelt oder tatsächlich Fenster in ein ›Danach‹ aufgestoßen werden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass innere Erfahrungen einen genauso gültigen Zugang zur Wirklichkeit eröffnen wie äußere Sinneserfahrungen,19 bleibt unklar, was Nah-Tod-Erfahrungen über das Jenseits des Todes und seine Beschaffenheit aussagen. Und das wird wohl so bleiben, weil die Erlebnismöglichkeiten des Menschen stets an ein begrenztes, individuelles Bewusstsein gebunden sind, das sich nur in den symbolischen Begriffen und Bildern des menschlichen Denkens ausdrücken kann. Die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von uns existiert, ist erfahrbar, aber die Ausdrucksmöglichkeit dieser Erfahrungen ist durch die spezifisch menschliche Erkenntnisfähigkeit und ihre Versprachlichung vorgegeben und begrenzt. Ist das nun der Weisheit letzter Schluss: die Tatsache akzeptieren, dass unser Wissen begrenzt ist? Brauchen wir überhaupt empirische Beweise und wie soll ein Leben nach dem Tod überhaupt aussehen? Ich frage mich oft, was tröstet ohne zu vertrösten? Ist ein Weiterleben, das keine personale Identität beinhaltet, überhaupt relevant? Oder ist das zu eng, zu egozentrisch gedacht? Sollten wir uns in einer kosmischen Bescheidenheit üben und der Maxime folgen: Wer demütig ist, will nicht ewig leben? Oder geht es darum, dem ewigen Kreislauf ein Ende zu bereiten, sich ohne Fortbestand von Individualität in einer kosmischen geistigen bzw. göttlichen Einheit aufzulösen? Im tiefsten Grund sind die anderen das eigentliche Problem beim Sterben. Es ist die Beziehung zu den jeweils anderen Menschen und Lebewesen, deren Verlust den Sterbenden und den Hinterbliebenen den größten Schmerz

19

auch als »Sinnprovinz« bezeichnet) unterschieden, vgl. dazu Knoblauch/Schnettler/Soeffner, 1999. Walach, 2011, S. 81-86.

Dem Tod ins Gesicht schauen: Eine Spiritualität der Sterblichkeit

bereitet. Die jahrtausendealte Überzeugung von der bleibenden Zugehörigkeit der Toten ist mehr als Erinnerungskultur: Es geht um Präsenz, Verbundenheit, wechselseitiges Verwiesen-Sein. Die vielfältigen Traditionen der Totensorge (Pflege des Leichnams, Bestattung, Totenopfer, Gebete, Anleitungen für die Reise nach dem Tod, Totenbesuchsfeste und vieles mehr) sind in erster Linie Akte der Solidarität mit den Verstorbenen. Totensorge ist ein Liebesdienst. Dass die Liebe stärker als der Tod ist, davon erzählen Mythen, Märchen und religiöse Bekenntnisse quer durch die Kulturen. Wem der Begriff der Liebe zu abgegriffen und salbungsvoll erscheint, kann an seine Stelle den Gedanken von der Überwindung der Ich-Zentriertheit setzen. Wir Menschen sind auf Beziehungen angewiesen, wir bilden eine Solidargemeinschaft, die auch die Sterbenden und die Toten umfasst. Und mehr als das: Nicht erst seit dem drohenden ökologischen Kollaps ist deutlich, dass die solidarische Sorge nicht nur um Menschen kreisen darf, sondern alle Lebensformen als Teile eines größeren Ganzen umfassen muss. In allen religiösen Traditionen finden sich zumindest Spuren einer kosmisch orientierten Spiritualität. In der Sterbeliteratur ist die Rede vom Loslassen zu einer stehenden Wendung geworden, die leicht über die Lippen geht. Möglicherweise zu leicht, sodass schon fast der Eindruck einer ›Loslass-Ideologie‹ entstehen könnte. Es ist wohl eher so, dass wir uns im Sterben überlassen, Autonomie und Verantwortung abgeben müssen. Damit verbunden ist eine gewisse Auslieferung an den oder die anderen, die die Sorge übernehmen. Mit Loslassen hat auch die Haltung der Sorgenden nicht viel zu tun. Viel eher besteht die Sorgekultur in einem unterstützenden Freigeben, das in bleibender Verbundenheit wurzelt, getragen von dem Glauben, dass es den Tod als Vernichtung nicht gibt. Das ist der tiefste Grund dafür, warum Menschen Blumen in oder auf die Gräber legen. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Wir können dem Tod ins Gesicht schauen und durch ihn hindurchschauen.

Literatur Assmann, Jan: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München: Beck 2003. Guthke, Karl S.: Ist der Tod eine Frau? Geschlecht und Tod in Kunst und Literatur, München: Beck 1997. Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (= Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, 2016) [12. Aufl.], München: Beck 2020.

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Kästner, Erich: Gedichte. Mit einer Einleitung von Hermann Kesten, Zürich: Atrium Verlag 1983. Knoblauch, Hubert/Schnettler, Bernt/Soeffner, Georg: »Die Sinnprovinz des Jenseits und die Kultivierung des Todes«, in: Hubert Knoblauch/Georg Soeffner (Hg.), Todesnähe – Wissenschaftliche Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen, Konstanz: Universitäts-Verlag 1999, S. 271-292. Kübler-Ross, Elisabeth: Über den Tod und das Leben danach [16. Aufl.], Neuwied: Verlag Die Silberschnur 1994. Mensching, Gustav: Buddhistische Geisteswelt. Vom historischen Buddha zum Lamaismus, Wiesbaden: Vollmer 1970. Moody, Raymond A.: Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung (= Life after Life, 1975) [34. Aufl.], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2002. Nyanaponika (Hg.): Sutta-nipāta. Frühbuddhistische Lehrdichtungen aus dem Palikanon. Übersetzt von Nyanaponika [3. Aufl.], Stammbach: Beyerlein & Steinschulte 1996. Röllig, Wolfgang (Hg.): Das Gilgamesch-Epos. Übersetzt und kommentiert von Wolfgang Röllig, Stuttgart: Reclam 2009. Sachau, Rüdiger: Westliche Reinkarnationsvorstellungen. Zur Religion in der Moderne, Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus 1996. Scherer, Robert (Hg.): Im Angesicht des Todes leben, Freiburg i.B.: Herder 1983. Sölle, Dorothee: Mystik des Todes. Ein Fragment, Stuttgart: Kreuz Verlag 2003. Tegmark, Max: Leben 3.0. Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz (= Life 3.0, 2017) [2. Aufl.], Berlin: Ullstein Verlag 2019. Walach, Herbert: Spiritualität. Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen, Klein Jasedow: Drachen Verlag 2011. Zulehner, Paul M./Denz, Herrmann: Wie Europa lebt und glaubt. Europäische Wertestudie, Tabellenband, Wien: Typoskript Paul M. Zulehner 1993.

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen Grenzen und Fragmente als mögliche Begegnungsorte mit dem ANDEREN Christian Metz

Das Ausloten unserer existenziellen Wahrheit sowie das Älterwerden und Altern konfrontieren uns unweigerlich mit der Erfahrung der Endlichkeit. Jede und jeder von uns ist sterblich. Das wissen wir – auch wenn etwas in uns diese totsichere Tatsache bisweilen ausklammern möchte. Diese Ausgangslage verbindet uns Menschen wesentlich – über alle Unterschiede, Kulturen und Grenzziehungen hinweg. »Wir sitzen sozusagen alle in einem Boot.« Doch was auch für ein Boot gilt: Wichtig ist, dass nicht alle zugleich auf einer Seite sitzen – sonst droht das Boot zu kentern. Es ist für das Leben und Überleben wichtig, Unterschiede und Gegensätze wahrzunehmen, diese gleichzeitig gelten zu lassen und anzuerkennen – und dadurch förderlich zu relativieren. In einem fortwährenden (kommunikativen) Prozess des Ausbalancierens können gefährliche Einseitigkeiten und entzweiende Polarisierungen leichter vermieden werden. Grenz-Erfahrungen im Zusammenhang von Sterben, Tod und Trauer wecken oft moralische Erwartungen und normative Ansprüche, die in Gefahr sind, bestehende Unterschiede im Erleben, Deuten und Bewerten zu nivellieren oder gar zu diffamieren.

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Ist es wirklich (nur) so? – Ganz im Gegenteil. Ein Plädoyer für die Kunst des Querdenkens1 Es gibt unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, verschiedene Lebens- und Sterbe-Situationen, alternative Deutungen des Erlebten und Erlittenen – man möge nichts über einen Kamm scheren. Es könnte auch anders sein. Unser Leben ist ständig im Wandel, es ereignet sich in fortwährender Veränderung – bei genauerer Betrachtung gleicht keine Situation der anderen. Jeder Augenblick wird geboren und stirbt. Und letzten Endes stirbt jede Person ihren eigenen, für sie einmaligen Tod. So wie auch unser erster Fußund Fingerabdruck als Neugeborene einmalig gewesen ist. Unser Leben hat unterschiedliche Zeiten und Momente: es beginnt als Säugling in radikaler Angewiesenheit auf Andere, wünschenswerterweise liebevoll empfangen, gehalten und genährt. In der Regel kommen wir mit der Zeit auf die Beine, können eigene Schritte setzen, werden mündiger und können ICH sagen – und hoffentlich auch DU. Aus der Bindungsforschung wissen wir, dass ein sicher gebundenes Kind leichter imstande und geneigt ist, das noch unbekannte Leben zu explorieren: Es mag den Freiraum und das Neuland erkunden im Vertrauen darauf, im Grunde gehalten und geliebt zu sein und eben nicht unbeachtet verloren zu gehen.2 Am eigenen Leib zu erfahren, dass die Verbindung und Zugehörigkeit nicht abreißen, wenn ich mich losreiße und eigene Schritte setze, dass ich jederzeit auch wieder zurückkehren, heimkommen kann und dort nach wie vor willkommen und geliebt bin. Das lässt Vertrauen und Selbstbewusstsein wachsen. Im Laufe unseres Lebens pendeln wir oft hin und her zwischen dem, was uns mehr oder weniger vertraut ist, wo ich mir ausreichend sicher bin und dem, wohin die Freiheit lockt: ins Unbekannte, Unberechenbare, zu neuen Ufern. Bei diesen Erkundungen oder auch Widerfahrnissen des Fremden und Befremdlichen sind Angst und Mut oftmals gepaart mit im Spiel. Und nicht selten machen Menschen auch, bisweilen überwiegend, die Erfahrung, dass Vertrauen erschüttert oder enttäuscht wird. Das irritiert und verunsichert, das kann verhärten und erstarren lassen. Dann müssen wir uns festklammern und geraten eher in einen stressvollen Überlebensmodus.

1 2

Varga von Kibéd/Sparrer, 2000. Bowlby, 1975; Grossmann, 2019.

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen

»Fasset Mut und habt Vertrauen« Ein Schritt ins Unbekannte lässt sich leichter riskieren, wenn und solange man sich ausreichend sicher fühlt und darauf vertrauen kann, nicht ins Bodenlose zu fallen. Wenn die Verhältnisse und Rahmenbedingungen so beschaffen sind, dass man ausreichend und konkret Halt und Schutz erfährt – auch wenn die Gesamtsituation (womöglich nicht nur in pandemischen Zeiten) unsicher ist und bleibt. Das ist auch das Geheimnis von interprofessioneller Teamarbeit, wo ich eben nicht als Solist*in Unerträgliches zu leisten habe, es vielmehr (erst und nur) im Miteinander möglich wird, auch schwierige und belastende Situationen gemeinsam durchzutragen – mit den ›Patientinnen‹ und ›Patienten‹ und deren Zugehörigen.3 Wie tragfähig erscheint gegenwärtig in unserer Gesellschaft – aufgrund der jeweiligen Lebenserfahrungen und deren Deutungen – das soziale Netz von wechselseitiger Solidarität und tragfähiger Versicherung? Welche Vorstellungen und Bilder entwickeln sich, wenn vorwiegend (Zukunfts-)Ängste geschürt, medial immer wieder Katastrophen- und Horror-Szenarien vor Augen gestellt werden und dadurch Vorstellungen genährt und bekräftigt werden, dass es nur noch bergab gehe? Kann da eine individualisierte VorsorgePlanung die untergründige Angst wirklich mindern, die Befürchtung, letztlich verlassen zu sein, wenn man sich auf andere verlässt? Entpuppen sich die anfangs dialogisch ausgerichteten Instrumente wie Patientenverfügung oder Advanced Care Planning nicht zunehmend zu Absicherungsversuchen, die weithin auf dem Boden des Misstrauens wachsen? Ärzt*innen sei nicht mehr zu trauen, den Verwandten und Nachbarn schon gar nicht; Krankenhäusern gehe es vorrangig um Ökonomie und Profit, was letztlich auch die alltägliche Routine-Diagnostik leite; Befunde und bildgebende Verfahren bekämen mehr Aufmerksamkeit als das Interesse am konkreten Befinden der sogenannten Patient*innen; dass Therapien verabreicht und unbeirrt fortgesetzt werden, die sich rechnen, auch wenn sie medizinisch (weitgehend) sinnlos (geworden) sind oder der erlebte Nutzen für die Betroffenen ausbleibt. In einem Milieu des Misstrauens schwinden Verlässlichkeit und das Vertrauen in die Tragfähigkeit eines wechselseitigen Zusammenhalts und Zusammenwirkens. Da muss jede und jeder für sich selbst sorgen, planen und vorsorgen. Eine solche Autonomie-Bestrebung untergräbt eine menschenmög3

Loewy, 2000.

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liche Sorge füreinander, sie schafft zunehmend eine Angst-, Absicherungsund Rechtfertigungs-Kultur, die eigentlich unterstellt, dass keinem wirklich zu trauen sei. Eine solche Haltung führt nicht selten zu einer ich-bezogenen Hast, »das Leben als letzten Gelegenheit« ergreifen zu müssen, koste es, was es wolle.4 Demgegenüber braucht es eine gesellschaftliche Gegenbewegung: die Entwicklung einer konkreten Sorgekultur, die wie ein verheißungsvoller Lichtblick ist.

»There is a crack in everything – that’s how the light gets in…« (Leonard Cohen)5 Die unausweichliche Endlichkeit unserer (›irdischen‹) Existenz kränkt in gewisser Weise unsere Allmachtphantasien, sie stellt unsere Vorstellungen von Autonomie und Unendlichkeit in Frage. Das Erleben radikaler Ohnmacht angesichts eines endgültigen Sterbens – diese Grenzen können sehr schmerzlich und erschütternd sein: »eine offene Wunde in unserem phänomenalen Selbstmodell«6 , ein Sprung in unseren Idealbildern und Perfektions-Ansprüchen. Es werden die Grenzen des machbaren Managens, der planbaren Kontrollierbarkeit wie auch eines »Total Care« Konzepts offenbar. Doch das Unvollkommene und sprunghafte unserer Existenz kann auch eine ganz andere Beleuchtung und Eröffnung erhalten: Wir sind Fragment.7 Dieser Begriff kommt ursprünglich aus der Ästhetik, aus der Kunst. Wichtig ist dabei: Das Fragment ist nicht nur das Gegenteil von etwas Ganzem. Es verweist auch auf ein Ganzes. Dieser Gedanke wird auf manch altem Friedhof sinnenfällig vor Augen geführt, wenn dort Grabsteine aus dem 19. Jahrhundert eine abgebrochene Säule darstellen. Sie symbolisieren ein Leben, das abgebrochen ist. Aber das Bruchstück einer Säule verweist auf das Ganze seiner Form, die man noch erkennen kann, auch wenn sie nur im Auge der Betrachterin hinzugedacht wird. So auch beim Bild vom Leben als Fragment. Es verweist als Bruchstück auf das Ganze eines Lebens. Das will uns provozieren und dazu ermutigen, »endlich zu leben«. Rainer Maria Rilke bringt dies verdichtet zum Ausdruck:

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Gronemeyer, 2009. Cohen, Leonard: Anthem, im Album: The Future, 1992. Metzinger, 2009, S. 294. Luther, 1991.

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen

»Archaischer Torso Apollos   Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,   sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug.   Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;   und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.«8 An dieser Stelle wird der ästhetische Gedanke vom Fragment des Lebens theologisch: Das Ganze eines Lebens liegt nicht in seiner irdisch sichtbaren Gestalt, sondern es liegt bei Gott und wird in Gott vollendet. Erst in Gott als dem Anderen eines Lebens wird es ganz und heil. Diese Verheißung trägt die Rede vom Leben als Fragment in sich. Die britische Hospizpionierin Cicely Saunders hat das Palliative Care Konzept des Total Pain, des umfassenden Schmerzes und Leidens, entwickelt, um den leidenden Menschen wahrzunehmen in den unterschiedlichen Dimensionen seines Schmerzes: physisch, psychisch, sozial, spirituell.9 Der verheißungsvolle Ort für eine solche leidvolle, gebrochene Existenz war für Cicely Saunders das Hospiz als ›safe place‹ (Balfour Mount). Eine solche gastfreundliche Intention gibt Halt, eine solche Lebens-Haltung lässt als Horizont die vertrauensvolle Aussicht auf ein Leben in Fülle auftauchen: gerade in der Unheilbarkeit der Krankheit ist heiles Leben zu finden im Shalom.10

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Rilke, 2018. Clark, 1999. Mount, 2003, S. 10.

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Im Spannungsfeld des Lebens aufgehoben Wie kann es zu einer solchen befreienden Wendung und Wandlung der Lebensperspektive kommen? Notwendig ist wohl eine tiefgreifende Befragung und Bekehrung (›metanoia‹) unserer Vorstellungen vom Leben. Zumindest ansatzhaft erfahren zu können – und nicht selten erleiden zu müssen, dass unser Leben nichts unveränderlich Festgelegtes ist, vielmehr einen ständigen Veränderungsprozess darstellt. Alles geht vorbei. Heute ist morgen gestern. Wir sind im Werden. Unsere individuellen Lebensperspektiven sind – bei aller Unterschiedlichkeit unserer Lebensgeschichten und Werdegänge – eingespannt in die Achse von Geburt und Tod. Wenn und in dem Maße wie diese beiden Pole in unserem Leben aufeinander bezogen sind, erfahren wir ein Kraftfeld des Lebens. Frank Ostaseski berichtet in seinem Buch »Die fünf Einladungen« von einer modernen Klinik aus Stahl und Glas im Mittleren Westen der USA.11 Anmutungen über die unpersönliche Sterilität des modernen Gesundheitssystems legen sich nahe. Doch hier hinein erklingt plötzlich das »Wiegenlied« von Brahms aus der Lautsprecheranlage. Auf die Frage, was es damit auf sich habe: »Gerade ist ein Kind geboren worden.« Immer dann spielt die Geburtsstation das »Wiegenlied« und die Musik wird in jeden Raum der Klinik übertragen. Auf allen Stationen. Ein kurzer Moment des Innehaltens, ein feines Lächeln, Freude und Leichtigkeit für einige Augenblicke. Krankenhäuser sind Magneten für den Schmerz. Ihr Umfeld ist angefüllt mit so viel Leid, Angst und Furcht sowie allerlei Beschwerden. Das Personal ist großenteils überfordert, oft überwältigt vom Leid der Patient*innen und der Unfähigkeit, angemessen damit umzugehen. Brahms Wiegenlied ist wie Balsam, eine fröhliche Ermahnung, dass das Potenzial zu neuem Leben in jedem Augenblick vorhanden ist, eine feierliche Ermutigung, auch angesichts von Widrigkeiten weiterzumachen. Das ist mehr als der Ausdruck oberflächlichen Wohlfühloptimismus. Für eine kleine Weile ist die Atmosphäre mit Hoffnung und Vertrauen angefüllt. Und vielleicht erinnert es an die frühen Lebensmomente, wo wir sanft in den Schlaf gewiegt worden sind. Wo letzten Endes alles gut ist. »Wenn wir lernen, uns ins Ungewisse loszulassen und darauf zu vertrauen, dass sich unser grundlegendes Wesen und das Wesen der Welt nicht unter-

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Ostaseski, 2017.

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen

scheiden, dann ist die Tatsache, dass die Dinge nicht dauerhaft und festgelegt sind, keine Bedrohung mehr, sondern eine befreiende Chance.«12 Das einzig Beständige im Leben ist der Wandel. Doch was kann im beständigen Wandel eine Wende hin zum Vertrauen bewirken und befördern? Kann ich mich dem Leben überlassen wie eine Welle dem Meer? Wie können sich unsere Lebenseinstellung und -Haltung wandeln (lassen) und dadurch Möglichkeiten eröffnen, auf dass wir lockerlassen können – ganz allmählich vielleicht – und so sich unsere Ich-Verkrampfung lösen kann, in der erlebten Sicherheit und im Vertrauen, dass das, was uns kostbar ist, nicht kaputt geht, nicht ins Bodenlose stürzt und vernichtet wird, sondern gehalten und aufgehoben ist in der Liebe. Um – nicht nur letzten Endes – lassen zu können, braucht es erst einmal ausreichend Halt. Liebevolle Präsenz versucht, das was schmerzt und quält, möglichst genau und aufmerksam wahrzunehmen, anzuerkennen, und so gut es geht erträglicher werden zu lassen. In jedem Fall bleibt sie nahe und in Verbindung. Ein solches wechselseitiges Aushalten ist im Grunde gehalten und genährt von einer Liebe, die frei ist von Mitleid und Selbstmitleid, eine Liebe, die wir nicht machen müssen, nicht machen können.13 Sie wirkt, wenn wir sie zulassen, ›es‹ wirken lassen.

Veränderung allein garantiert noch keine Transformation Solange wir nur müssen (oder glauben zu müssen), ohne zu können und zu wollen, werden wir uns – zumindest innerlich – gegen Veränderungen sträuben und wehren. Dann müssen Tatsachen ignoriert, gegenläufige Meinungen abgewertet, andere uns widerstrebende Verhaltensweisen pathologisiert werden. So immer wieder enttäuscht vom Leben können wir endlos jammern und bedauern oder im Groll verharren, maßlos gekränkt, verbittert und letztlich verzweifelt. Oder wir können im Moment beginnen, zunächst einmal wahrzunehmen und (unbedingt) gelten zu lassen, was ist und wie es ist. Das ist nicht zuletzt auch eine Frage der Absicht, der inneren Ausrichtung, der Intention. So ist beispielsweise der schlichte Tür-Hinweis ›Ziehen‹ beachtenswert – die Tür öffnet sich beim besten Willen eben nicht, auch wenn man noch so viel ›Druck ausübt‹.

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Hyman, 2017, S. 46. Lieben, 2014.

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Es kann eine gehörige Weile dauern, bis wir dem, was ist und wie es ist, auch innerlich zustimmen können, bis wir uns mit dem Leben anfreunden und schließlich Frieden schließen können mit dem Leben, so wie es ist. Lässt sich das lernen und einüben? »Abschiedlich zu leben«14 bedeutet: anzuerkennen, dass unser ganzes Leben von Abschieden durchdrungen ist. Menschen sind immer schon abschiedskundig. Eine Lebenseinstellung, die bereit ist, sich den diversen Abschieden des eigenen Lebens bewusst zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, lässt frei(er) und offen werden für Neues. Wie erleben Menschen die Umzüge ihres Lebens, (eher) freiwillig oder (eher) notgedrungen, die Arbeitsplatzwechsel, das Ausziehen der eigenen Kinder, Trennungen und Scheidung, den Übertritt in den sogenannten Ruhestand, das allmähliche oder abrupte Schwinden der Lebenskräfte, die eingeschränkte Mobilität etc.? Loslassen, gehen lassen, Abschied nehmen zu müssen, tut oft weh. Dieser Abschiedsschmerz ist wahrzunehmen und zu würdigen: im Regelfall ist es wohl nicht leicht zu sterben. Eine rasche Folge von (schweren) Verlusten kann Menschen überwältigen. Zugleich können die alltäglichen kleinen und großen Abschiede wie ein Übungsweg sein (»partir c’est mourir un peu«), um wertzuschätzen, was kostbar ist und kostbar war. Das eigene Sterben-müssen in den Lebensprozess einzubeziehen, lässt eine Haltung einüben, die verhindert, dass wir uns allzu sehr an Erfolge (oder auch Misserfolge), an berufliche Rollen oder Selbstbilder, an fixe Überzeugungen und (Glaubens-)Vorstellungen klammern. Das Leben ist ständig im Fluss. Doch oftmals klammern wir uns lieber an die Illusion, uns selbst als etwas Kompaktes durch eine sich wandelnde Welt zu bewegen. Die Erkenntnis, immer wieder loslassen zu müssen, kann uns dazu bringen, uns so intensiv wie möglich einzulassen auf dieses sich wandelnde Leben, so wie es gerade ist, auf die gegebenen Situationen, die Menschen, mit denen ich gerade bin. Gerade das wehmütige Gefühl, das die Abschiedlichkeit in uns auslöst, kann in uns auch die lebendigsten Gefühle für das Leben und das Lebendige wecken: Dankbarkeit und eine unstillbare Lebensleidenschaft.15 Ein fortschreitender Krankheitsverlauf konfrontiert Menschen (gleich in welcher Rolle wir betroffen oder beteiligt sind) unweigerlich mit den Gren14 15

Weischedel, 1990; Kast, 2010. Steindl-Rast, 2018; Kast, 1994.

Nicht nur letzten Endes: Das Zeitliche segnen

zen radikaler Endlichkeit – und mit der Kostbarkeit des Lebens. Zu entwickeln ist eine Grenzkompetenz, die in den unausweichlichen Spannungsfeldern und Polaritäten des Lebens aushält und so auch die eigene Bedürftigkeit und Angewiesenheit sowie die ungestillte Sehnsucht anerkennt. »Gegen den Totalitätsterror die gelungene Halbheit loben«16 – eine solche Anerkennung und Würdigung des Fragmentarischen kann Momente spiritueller Begegnung schaffen. Glaube und Spiritualität dürfen dabei die Widersprüche des Lebens nicht verleugnen, vielmehr müssen sie gerettet und ausgehalten werden. So kann das Leben als Fragment in aller Endlichkeit gewürdigt und gefeiert werden. Das ist befreiend und stiftet Hoffnung, es kann die Kostbarkeit des gegenwärtigen Moments und der erlebten Geschichte dankbar bewusstmachen. Solche Momente bieten auch den Kairos, sich letzten Endes zu ergeben, sich nicht mehr durch sich selber rechtfertigen zu müssen. Das schließt nicht aus, dass es auch Zeiten des Protestes und der Klage gegen die zugemutete Endlichkeit gibt. Doch wer weiß, dass er*sie ein endliches Wesen ist und sich immer schon verdankt, wird wohl eher fähig sein, das Zeitliche zu segnen und schließlich »abzudanken«.17

Literatur Bowlby, John: Bindung, München: Kindler 1975. Clark, David: »›Total pain‹, disciplinary power and the body in the work of Cicely Saunders, 1958-1967«, in: Social Science & Medicine 49 (1999), S. 727736. Gronemeyer, Marianne: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. Grossmann, Klaus E.: »Theoretische und historische Perspektiven der Bindungsforschung«, in: Lieselotte Ahnert (Hg.), Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung [4. Aufl.], München, Basel: E. Reinhardt Verlag 2019, S. 21-41. Hyman, Carol: »Living and Dying: A Buddhist Perspective«, in: Frank Ostaseski (Hg.): Die fünf Einladungen. Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben, München: Droemer-Knaur Verlag 2017. 16 17

Steffensky, 2007, S. 21. Ebd.

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Kast, Verena: Sich einlassen und loslassen, Freiburg i.Br.: Herder 1994. Kast, Verena: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Die Kraft des Lebensrückblicks, Freiburg i.Br.: Herder 2010. Lieben, Christel: Die Liebe kommt aus dem Nichts – Wenn sie uns berührt, nehmen wir Gestalt an, München: Scorpio Verlag 2014. Loewy, Erich H.: »Orchestrieren oder Töten?«, in: Erich H. Loewy/Reimer Gronemeyer (Hg.), Dokumentation des ersten Gießener Symposiums vom 10.-12. Dezember 1999 zum Thema Die Hospizbewegung im internationalen Vergleich. Gießen (ISSN: 1616-1211) 2000. Luther, Henning: »Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit«, in: Wege zum Menschen, 43(5) (1991), S. 262-273. Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Vom Mythos des Selbst zur Ethik des Bewusstseins, Berlin: Berlin-Verlag 2009. Mount, Balfour: »Existential suffering and the determinants of healing«, in: European Journal of Palliative Care 01.01.2003. Ostaseski, Frank: Die fünf Einladungen. Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben, München: Droemer-Knaur Verlag 2017. Rilke, Rainer Maria: Der neuen Gedichte anderer Teil. Frankfurt a.M.: Outlook Verlag 2018 [1908]. Steffensky, Fulbert: Mut zur Endlichkeit. Sterben in einer Gesellschaft der Sieger. Stuttgart: Radius 2007. Steindl-Rast, David: Dankbar leben. Ein inspirierendes Praxisbuch. Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag 2018. Varga von Kibéd, Matthias/Sparrer, Insa: Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen, Heidelberg: Carl Auer Verlag 2000. Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 [1976].

»Der Nächste, bitte!« Wolfgang Heinemann

Drei alltägliche Worte, in der Wartezone einer radiologischen Abteilung, im Flur vorm Büro des Sozialamtes, in der Warteschlange an der Bäckereitheke, die eine klare, appellative Bedeutung besitzen: Der vorangehende Fall ist abgeschlossen, der Nächste ist dran, es geht weiter. Die Semantik des ›Nächsten‹ ist eindeutig chronologisch gemeint und quantitativ reduziert: das nächste Glied in einer mehrteiligen Kette; eine beliebige Nummer in einer Reihe von Fallzahlen; ein objektives Gegenüber, das je nach Kontext behandelt, verwaltet oder bedient werden wird. ›First come – first serve‹ – so lautet die ungeschriebene Regel. Verletzungen dieser Regel bedürfen einer plausiblen Begründung, um nicht in den Verdacht zu geraten, willkürlich gegen Gleichheit und Gerechtigkeit zu verstoßen. Das ›Ansehen einer Person‹ zählt ausdrücklich nicht. Gleichmäßige und gleichgültige Taktung erscheinen als Garant für eine verlässliche Ordnung beim Abbau der Differenz zwischen hoher Nachfrage der Wartenden und relativ knappem Angebot an zeitlichen oder materiellen Ressourcen. Die Reduktion auf den Fall, das Absehen von der Person ist dabei möglicherweise ein wirksames Rezept für hoch effizientes und ›gerechtes‹ Arbeiten, insbesondere im Gesundheitswesen. »Ich bin froh«, sagt ein Auszubildender in der operationstechnischen Assistenz (OTA), »dass ich nur das Operationsfeld sehe und alles andere mit Tüchern abgedeckt ist.« Was hier zählt, ist nicht die Biografie, sondern allein die Biologie. Wichtig sind objektive Befunde, nicht subjektive Befindlichkeiten. Im Vordergrund stehen medizinische Diagnose und Indikation, nicht das Schicksal und der Lebensentwurf eines Individuums. Die rein funktionale Beziehung, die sich in der Aufforderung ›Der Nächste, bitte!‹ abbildet, dient offenbar nicht nur der Effizienz der Prozesse. Sie schützt auch den Handelnden vor der gefährlichen Herausforderung einer personalen Beziehung. Paradoxerweise verhindert die Aufforderung ›Der

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Nächste, bitte!‹ geradezu, dass der Nächste mir zu nahe kommt und mir zum Nächsten, zu meinem Nächsten wird. Der amerikanische Psychiater und Buchautor Oliver Sacks, der Zeit seines Lebens mit Menschen zu tun hatte, die in gewisser Weise aus der Normalität herausgefallen waren, hat sein ärztliches Tun immer auch unter dem Aspekt betrachtet, Patienten als Personen und Menschen mit Geschichte zu sehen. Er hat Menschen nicht auf ›Krankengeschichten‹ reduziert, sondern immer wieder versucht, hinter den ›Fällen‹ die individuelle Person zu sehen. In einer eindrucksvollen Reflexion dieser Ansehens-Weise schreibt er: »Wenn wir etwas über einen Menschen erfahren wollen, fragen wir: ›Wie lautet seine Geschichte, seine wirkliche, innerste Geschichte?‹ Denn jeder von uns ist eine Biographie, eine Geschichte. Jeder Mensch ist eine einzigartige Erzählung, die fortwährend und unbewusst durch ihn und in ihm entsteht – durch seine Wahrnehmungen, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Handlungen und nicht zuletzt durch seine in Worte gefasste Geschichte. Biologisch und physiologisch unterscheiden wir uns nicht sehr voneinander – historisch jedoch, als gelebte Erzählung, ist jeder von uns einzigartig.«1 Wer mit Oliver Sacks Menschen nicht rein naturwissenschaftlich betrachtet; wer sie nicht reduziert auf bildgebende Verfahren, normale und normabweichende Laborwerte; wer sich für Lebensgeschichten und Lebensentwürfe von Individuen interessiert, für den stellt die Aussage »Der Nächste, bitte!« keinen Appell an den anderen dar, sondern in erster Linie eine Herausforderung an sich selbst.

»Wer ist mein Nächster?« Nächstenliebe und Solidarität sind zentrale Merkmale in der Vorstellung einer besseren sozialen und gerechten Gesellschaftsordnung. Im biblischen Kontext begegnet uns für diese Ordnung die Chiffre ›Reich Gottes‹. In einer oft gelesenen Geschichte2 des sogenannten Neuen Testaments stellt ein Gesetzeslehrer Jesus die Frage, was er tun müsse, damit sein Leben gelingt. Diese offenbar zunächst selbstbezogene Perspektive (Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?) wird von Jesus erweitert: Leben gelingt nicht 1 2

Sacks, 1989, S. 154. Lukas 10, 25-37, zitiert nach: Die Bibel, 2016, S. 1203f.

»Der Nächste, bitte!«

im alleinigen Blick auf sich selbst, sondern essentiell durch den Blick auf den ›Nächsten‹. Die Gegenfrage des jungen Mannes, wer denn der Nächste ist, wird von Jesus durch ein bekanntes Gleichnis beantwortet, in dem es um eine ganze Reihe von Männern geht: Ein Reisender fällt unter mehrere Räuber, die ihn halb totschlagen und seiner Habe und seiner Kleidung berauben. Der Schwerverletzte liegt nackt und sichtbar auf der Straße. Fromme Priestermänner kommen vorbei, sehen ihn ›flüchtig‹ und gehen weiter. Ein Handelsreisender mit fragwürdiger ethnischer Herkunft unterbricht dagegen seinen Kurs, wird von Mitleid übermannt, leistet Erste Hilfe, transportiert den Schwerverletzten in eine sichere Unterkunft und organisiert in Absprache mit dem dortigen Wirt die weitere Versorgung. Diese Geschichte ist so oft erzählt und entsprechend abgenutzt, dass ihre ursprünglichen Sperrigkeiten, die Irritationen und die subversiven Botschaften kaum noch spürbar sind. Auffällig ist zum Beispiel, dass die Frage, wer mein Nächster ist, nur tangential beantwortet wird. Denn am Schluss des Gleichnisses geht es ausdrücklich gerade nicht darum, wer mein Nächster ist, sondern wie ich zum Nächsten werde. »Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?« Der Nächste ist gerade kein Gegenüber barmherziger Behandlung und Sorge. Der Nächste ist der Sorgende selbst, und zwar im Prozess des Sorgens. ›Nächster werden‹ ist dynamischer Prozess und dauerhafter Auftrag für den Sorgenden. Nicht der Sorgebedürftige ist der Nächste, sondern der Sorgende wird zum Nächsten. Er wird in der Begegnung mit dem ›Halbtoten‹ übermannt von einem Gefühl der ›Barmherzigkeit‹. Das griechische Wort (splanchnitzomai) ist ein Medium, ein Mittleres zwischen Aktiv und Passiv. Barmherzigkeit empfinden ist offenbar nicht nur aktives Tun, sondern zugleich Widerfahrnis. Wenn ich in das Angesicht des anderen schaue, wenn ich ihm wirklich ein Ansehen gebe, dann gibt es kein Entrinnen. Die einzige Alternative wäre: Wegschauen. Wer wirklich hinschaut, der ist – in gewisser Weise – verloren. Die deutsche Einheitsübersetzung wird mit den Worten »er hatte Mitleid« diesem mächtigen und zugleich ohnmächtigen Widerfahrnis in keiner Weise gerecht. So wie der unbekannte Sorgebedürftige von den Räubern überfallen wurde, wird der Sorgende vom Mitleid überfallen. Interessanter Weise bezeichnet in der Medizin der Nervus splanchnikus den großen Eingeweidenerv, der sich vom Rückenmark durch das Zwerchfell in die Bauchhöhle zieht. Es geht dem Sorgenden zentral an die Nerven und unter die Haut, das Elend und die Nacktheit des anderen zu sehen. Er hat kein

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Mitleid, er übt nicht Barmherzigkeit, sondern das Gefühl überwältigt ihn.3 Das Elend kommt ihm so nahe, dass es zu seinem eigenen wird: ein Spiegel der eigenen Vulnerabilität und Gebrechlichkeit. Und will man es noch verschärfter sagen: weil er möglicher Weise ahnt, wie leicht er selbst Räuber, Ver- und Zerbrecher gegenüber dem anderen werden kann. Vielleicht nicht durch aktive Gewalt. Vielleicht nur durch Wegschauen und unterlassene Hilfeleistung. Schaut man sich die lateinische Version des Wortes Barmherzigkeit, das ›Miserere‹, an, dann fällt Ähnliches auf. In der medizinischen Tradition wurde das elendige und erbärmliche Erbrechen des Kots, das einem Menschen bei einem Darmverschluss widerfahren kann, damit umschrieben, dass die betroffene Person das ›Miserere‹ bekommt. Auch hier wird deutlich, dass Erbarmen viel zu kurz verstanden wird, wenn es bloß als moralische Leistung oder als professionelle Haltung beschrieben wird. Wer wirklich hinschaut, kann gar nicht anders. Das Hinschauen verändert nicht nur die Situation des Angeschauten, sondern auch die des Schauenden.

Die Zumutung des Nächsten Ist ein solches Hinschauen tatsächlich aushaltbar? Ist das Elend nicht so verbreitet und vielgestaltig, dass jeder Idealismus uns grenzenlos überfordert? Max Frisch berichtet in seinen Tagebüchern von einem Ereignis in den ersten Nachkriegsjahren in Berlin4 : »Jemand berichtet aus Berlin: Ein Dutzend verwahrloste Gefangene, geführt von einem russischen Soldaten, gehen durch eine Straße; vermutlich kommen sie aus einem fernen Lager, und der junge Russe muss sie irgendwohin zur Arbeit führen oder, wie man sagt, zum Einsatz. Irgendwohin; sie wissen nichts über ihre Zukunft; es sind Gespenster, wie man sie allenthalben sehen kann.

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In diesem Sinn beschreibt Klaus Dörner die notwendige ärztliche Haltung »mehr von der Samariter-›Barmherzigkeit‹ her, deren hebräische Bedeutung die sinnliche Erfahrung meint, in der sich mir in Ansehung eines Anderen [Herv. W.H.] die ›Eingeweide um und um drehen‹, gerade auch in der Herausforderung, auch für Fremde die Voraussetzung für die Anwendung jeder notwendigen modernen Medizintechnik zu schaffen«In: Dörner, 2001, S. 210. Frisch, 1950.

»Der Nächste, bitte!«

Plötzlich geschieht es, dass eine Frau, die zufällig aus einer Ruine kommt, aufschreit und über die Straße heranläuft, einen der Gefangenen umarmt – das Trüpplein muss stehen bleiben, und auch der Soldat begreift natürlich, was sich ereignet hat; er tritt zu dem Gefangenen, der die Schluchzende im Arm hält, und fragt: »Deine Frau?« »Ja –«. Dann fragt er die Frau: »Dein Mann?« »Ja -.« Dann deutet er ihnen mit der Hand: »Weg – laufen, laufen – weg!« Sie können es nicht glauben, bleiben stehen; der Russe marschiert weiter mit den elf anderen, bis er, einige hundert Meter später, einem Passanten winkt und ihn mit der Maschinenpistole zwingt, einzutreten: damit das Dutzend, das der Staat von ihm verlangt, wieder voll ist.« Max Frisch, Tagebuchnotiz Eine Geschichte beginnt zunächst romantisch: Die emotionsfreie Logik der Macht und des militärischen Auftrags wird unterbrochen von der Logik der Liebe: Ein namenloser Mensch, Teil eines Dutzend Gefangener und perspektivloser Gespenster, erhält durch ›Zufall‹ ein anderes Ansehen: er ist geliebter Mann einer weinenden Frau, inmitten einer Landschaft von Zerstörung und Ruinen. Die Begegnung ist offenbar für alle so überraschend, dass der ›russische Soldat‹ gezwungen ist, seine Routine zu unterbrechen: »Das Trüpplein muss stehen bleiben«. Aus dem sprachlosen Trott entwickelt sich ein rudimentäres Gespräch und ein heldenhafter und gewagter Akt militärischen Ungehorsams vor Zeugen, über den die Begünstigten, die ihr unerwartbares Glück nicht glauben können, erstarren. Man mag bedauern, dass die Geschichte nicht an dieser Stelle mit einem Happy End schließt. Aber das wäre vermutlich zu trivial. Die Paradoxien des Lebens verlaufen anders: Der Anführer der Truppe kehrt zurück in seine professionelle Lebenswelt. Der verändernde Blick auf den ›Nächsten‹ ist nicht von Dauer. Und willkürlich wendet er sich an den ›Nächstbesten‹ und zwingt ihn herzlos, die entstandene Lücke zu füllen. Das Glück des einen wird durch das Unglück eines anderen erkauft. Es mag sein, dass es bei näherer Betrachtung für den Soldaten Alternativen und konsistentere Lösungsmöglichkeiten gegeben hätte. Allein er handelt pragmatisch. Die Begegnung mit dem Ehepaar bleibt episodisch. Sie unterbricht den Alltag nur vorübergehend. Allein – was wäre der Alltag ohne diese Unterbrechung der wirklichen Begegnung mit dem Nächsten? ›Der Nächste, bitte!‹ ist und bleibt insofern eine Zumutung. Sie bringt nur dort Ordnung, wo Menschen als unpersönliche Glieder einer Kette, als Teil einer Serie betrachtet werden. Wo diese Aufforderung jedoch qualitativ verstanden und gelebt wird, da bringt sie Bestehendes in ›Unordnung‹ oder

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in eine neue Ordnung: auf der Seite des Hilfsbedürftigen, aber nicht minder auf der Seite der Sorgenden.

Literatur Die Bibel: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 2016. Dörner, Klaus: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart: F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH 2001. Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt: Suhrkamp-Verlag 1950. Sacks, Oliver: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Verlag 1989.

Die randständige Sorge in der Medizin Elisabeth Medicus

Von der Sorge ist die Rede, wenn es angebracht ist, sich Sorgen zu machen. Die Medizin1 , die in der Moderne so erfolgreich geworden ist, hatte in der Gesellschaft noch nie einen so hohen Stellenwert wie heute. Und doch ist es angebracht, dass die Medizin selbst und die Gesellschaft sich Sorgen machen um all das, was dabei auf der Strecke zu bleiben droht. Auch in einer weiteren Bedeutung wird im Deutschen immer öfter der Ausdruck »Sorge« verwendet. Das englische Wort ›Caring‹ kann mit Sorge oder Fürsorge übersetzt werden, es bezeichnet das ›Sich-Kümmern‹ und ist der zentrale Begriff der Care-Ethik. Da geht es also um die Sorge als Anteilnahme an der Welt, um Bezogen-Sein, Mitgefühl und Verantwortung und um die Versorgung von Menschen, die sie brauchen. Stärker im Bewusstsein ist in unserer Zeit und auch in der Medizin die Vorsorge, die Prävention. Sie wird neben Diagnose und Behandlung als zentrale ärztliche Aufgabe angesehen. In allen diesen Bedeutungen steht die Sorge in der Medizin nicht im Zentrum des Geschehens, sondern am Rand. Das mag man beklagen oder nicht. Am Rand zu stehen, ermöglicht jedenfalls andere Perspektiven als mitten im Geschehen. Ob dieser Platz am Rand ein guter Ort für die Sorge ist? Darum geht es in den folgenden Gedanken.

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Der Begriff Medizin wird im vorliegenden Beitrag als Handlungsfigur für alle Fachberufe verwendet, die in der Betreuung von kranken Menschen tätig oder damit indirekt befasst sind. Die ärztliche Perspektive auf die Sorge in der Medizin steht hier als die Perspektive der Autorin, die viele Jahre lang in der Palliativbetreuung gearbeitet hat, im Vordergrund. Angeführte Beispiele sind daher spezifisch für die Palliativbetreuung.

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Sorgen Immer noch hat die Sorge in der deutschen Sprache den Beiklang von gefurchter Stirn, von Ängstlichkeit. Die Sorge macht Falten. Die Sorge ist keine moderne Haltung. Der Zeitgeist legt nahe, dass rasch und effizient etwas geschehen muss, das allen Sorgen den Garaus macht. Dabei ist man in guter Gesellschaft, wenn man sich um die Medizin als Heilkunst sorgt. Prominente Ärzte haben sich in diesem Sinn zu Wort gemeldet, Menschen, die bewiesen haben, dass sie die Entwicklungen der Medizin bestens kennen und zu Innovationen in verschiedenen Feldern beigetragen haben. Tatsächlich sind es weit mehr Ärzte als Ärztinnen, die als Beispiele dafür angeführt werden können, Wächter, mitten im Geschehen und doch den Blick auch nach außen richtend und wohl auch auf der Suche nach dem Verbindenden zwischen der Medizin und den anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die kritischen weiblichen Stimmen sind da noch nicht so vernehmbar. »Die verlorene Kunst des Heilens« ist der Titel des Buches von Bernard Lown2 , einem Kardiologen, der sich unter anderem mit den Rhythmusstörungen des Herzens beschäftigt und wichtige Beiträge zu neuen Erkenntnissen geleistet hat. Er schreibt darin etwa im Kapitel über Tod und Sterben, dass Ärzte weder umfassender noch tiefer mit dem Tod vertraut sind als jeder andere auch. »Erfahrungen mit dem Tod verleiht Ärzten nicht mehr Weisheit als Bestattern. Will man den Sinn des Lebens oder die Geheimnisse des Todes ergründen, so kann man mehr von Dichtern, Philosophen und Theologen lernen. Allerdings haben Ärzte Erfahrung bei der Beobachtung des Sterbeprozesses. Tatsächlich bestimmen sie oft den Übergang zum Tod, entweder als Anwender obszöner Technik oder als Begleiter eines ruhigen Sterbens.«3 Und: »Eine riesige Maschinerie wird eingesetzt, um dem Tod anstatt dem Leben zu dienen. Die Biotechnologie stellt die Verkehrsregeln auf, wobei das Mögliche das Notwendige überstimmt.«4

2 3 4

Lown, 2004. Ebd., S. 317f. Ebd., S. 333.

Die randständige Sorge in der Medizin

Bernhard Lown bringt in diesen Sätzen zum Ausdruck, worauf es ankäme: auf die Anerkennung von Grenzen, das Einbeziehen des geistigen Schatzes unserer Kulturen und die Kunst der Unterscheidung. Bei der Anerkennung der Grenzen geht es ja nicht nur um die großen existenziellen Erfahrungen. Es sind auch die ganz alltäglichen Grenzen, die weh tun: Wenn die Medizin nicht mehr heilen kann, wenn man als Arzt oder Ärztin nicht mehr helfen kann, weil man erschöpft ist oder wenn Begegnung nicht so möglich ist, wie man es sich erhofft. Ausdrücklich wendet sich Bernhard Lown also gegen die Medikalisierung des Sterbens und nimmt doch Ärzte und Ärztinnen in die Verantwortung. Denn das hat sich ja in den vergangenen fünfzig Jahren radikal geändert: Wesentliche Lebensbereiche, das Gebären, das Sterben, das Leiden sind aus der Lebenswelt der Menschen Spezialisten überantwortet worden und diese haben die neuen Aufgaben übernommen und professionalisiert. Die Kritik daran wurde in den vergangenen Jahrzehnten zwar vernehmbar, aber diese Bereiche können auch nicht einfach wieder abgegeben werden. Ärzte dürfen sich nicht vor der Begleitung sterbender Menschen drücken. Sie haben an den modernen Sterbebetten ihre spezifischen Aufgaben. Für die Therapiezieländerung braucht es die Ärzte. Bei ihnen liegt die Verantwortung, mit den kranken Menschen zu reden und im Wissen darum zu entscheiden, was indiziert ist und was nicht. Hannes G. Pauli, ein Arzt aus Bern, hat schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Didaktik im Medizinstudium begründet, die erst allmählich Fuß zu fassen beginnt. Er kritisierte das herrschende Verständnis in der Medizin, das dem soziokulturellen Umfeld zu wenig Beachtung schenkt und Interdisziplinarität eher behindert. »Der Mensch ist kein Baukasten«5 , so seine Kritik an der Spezialisierung in der Medizin und seine Begründung für das neue Paradigma in der Ausbildung der jungen Ärzte und Ärztinnen. Da und dort sind inzwischen Früchte seiner Vorarbeit zu bemerken. Hannes Pauli steht in der Tradition von Viktor von Weizsäcker und hat mit Thure von Uexküll zusammengearbeitet. In dieser Denkwelt hat sich auch Klaus Dörner bewegt. Mit konkreten Projekten hat er die Sozialpsychiatrie in Deutschland begründet und sich – weit darüber hinaus – in Sorge um die Entwicklung in der Medizin immer wieder zu Wort gemeldet. In seinem Buch »Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung« findet sich eine bemerkenswerte Spur. Die ärztliche 5

Pauli, 1994, S. 21.

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Grundhaltung sei nicht zu finden in einem neuen abstrakt-präventiven Paternalismus, ebenso wenig in einem weiteren Abbau ärztlicher Autorität. »Gesucht ist […] eine neue, dritte Richtung der Entwicklung ärztlicher Autorität, die den heutigen Balanceanforderungen entsprechen könnte. Ich nenne sie: Autorität des Maternalismus. […] Sie geht vom Grundprinzip der Sorge aus, von der sie ihre Verantwortung ableitet. […] unabhängig davon, dass Maternalismus als Grundhaltung sich in einem Mann genauso wie in einer Frau ausdrücken kann […]«.6

Caring Diese Überlegungen führen zur Bedeutung von Sorge im Sinne der Fürsorge. Fürsorge ist weit mehr als das Prinzip des Wohltuns (beneficence), mit dem sie manchmal ineins gesetzt wird. Ihren Ort hat die Fürsorge in der CareEthik gefunden. Sie schreibt die Prinzipienethik weiter. Ihr Ursprung ist eine Untersuchung von Carol Gilligan, die feststellt, dass das Moralverständnis von Mädchen anders ist als das von Buben, geprägt von Kontextualität und Fürsorglichkeit.7 Care-Ethik richtet sich an den Beziehungen der beteiligten Menschen und an situativen Besonderheiten aus und bezieht die Betroffenheit von Betreuenden ein, sie ist »[…] eine Praxis der Achtsamkeit und Bezogenheit, die Selbstsorge und kleine Gesten der Aufmerksamkeit ebenso umfasst wie pflegende und versorgende menschliche Interaktionen sowie kollektive Aktivitäten«.8 Das Gute ist nicht in erster Linie etwas objektiv Gutes, es erschließt sich nur unter Einbezug der subjektiven Werte und Überzeugungen der beteiligten Personen. Care-Ethik erinnert an die relationale Dimension des Menschseins und betont, dass emotionale Dimensionen für ein Verständnis konkreter moralischer Konflikte relevant sind.9 Die Betreuungsbeziehungen, in denen wir stehen, sind meistens vielschichtig und vielfältig, ambivalent und asymmetrisch, verletzlich oder gebrochen. Selbst Zweifel und Ohnmacht werden durch die Care-Ethik systematisch in den Blick genommen. Und explizit in den Blick genommen wird auch die Selbstsorge. 6 7 8 9

Dörner, 2003, S. 350f. Gilligan, 1984. Conradi, 2001, S. 13. Vgl. Biller-Andorno, 2002, S. 101-115.

Die randständige Sorge in der Medizin

Die Care-Perspektive stellt also eine notwendige Ergänzung anderer Moraltheorien dar, weil in ihr der Mensch als ein in Verbindung stehendes und mitfühlendes Wesen gesehen wird, das fähig ist, vom Antlitz des Anderen berührt zu sein und diese Berührung in seiner Antwort spürbar und wirksam werden lässt. Lässt die Medizin sich berühren? Berührt sie? Spricht sie Menschen an? Hier schließt sich der Kreis zu Bernard Lown, der die Kunst des Heilens in der Medizin vermisst. Die Sorge im Sinne des Carings erinnert daran, dass die Königsdisziplin der Sorge das Fragen ist. Bewertung auszusetzen hilft, weiter und offener in der Wahrnehmung zu werden, mehr zu verstehen. Sie weiß auch um ihre Grenzen, das Leid aus der Welt zu schaffen, ohne das Lebendige des Lebens zu verletzen. Die Sorge kennt die Unsicherheit, sie kennt den klugen Umgang mit dem Nicht-Wissen, von dem wir wissen und dem Nicht-Wissen, von dem wir – noch? – nicht wissen. Elemente der Care-Ethik sind: Aufmerksamkeit, Verantwortlichkeit, Kompetenz und Resonanz. Sie richtet sich an kulturellen und situativen Besonderheiten aus und reflektiert auch die Betroffenheit von Betreuenden. Das reine Denken allein ist oft unzureichend, wenn in moralischen Dilemmata am Lebensende tragfähige Entscheidungen anstehen. Die Dimensionen von Relation, von Intuition und Emotion sind da zu integrieren, denn Situationen am Lebensende sind meist komplex, mit vielen Unsicherheiten befrachtet, emotional beladen und instabil. Sonst greifen die Entscheidungen zu kurz. Care-Ethik ist keine einfache Handlungsanleitung, sie hält keine Algorithmen bereit. Nicht von ungefähr hat sie ihren Weg über eine politisch engagierte Ethik in die Betreuungsethiken gefunden. Auch in medizinethischen Standardwerken findet die Care-Ethik inzwischen Erwähnung. Die Care-Ethik kann normativ-ethische Theorien um die Perspektive der Fürsorge ergänzen.10 Tom Beauchamp und James Childress, haben die CareEthik in den neuen Auflagen ihres Standardwerkes, in dem sie die vier medizinethischen Prinzipien formuliert haben, berücksichtigt.11 Doch in der ärztlichen Ethik ist sie noch nicht in der Mitte angekommen und oft wird sie der Pflege zugeordnet.

10 11

Wiesemann/Biller-Andorno, 2005, S. 17. Beauchamp/Childress, 2019, S. 35ff.

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Es liegt mir am Herzen, ein Beispiel für die Stimme einer Frau, die im Sinne der Care-Ethik schreibt, anzuführen. Die amerikanische Ärztin Rachel Naomi Remen hat der Kunst des Heilens Ausdruck verliehen. Ihr Curriculum »The healer´s art« hat in zahlreiche US-amerikanische Universitäten Eingang gefunden. Selbst leidet sie seit ihrer Jugend an einer chronischen Erkrankung. In ihren bekanntesten Büchern »Kitchen Table Wisdom«12 und »My Grandfather´s Blessing«13 erzählt Rachel Naomi Remen Geschichten gelebter CareEthik. In den wissenschaftlichen medizinischen Zeitschriften ist die Care-Ethik nur in Spuren, meistens zwischen den Zeilen und kaum explizit zu finden. »Tolerating Uncertainty: The next medical revolution?«, so lautet der Titel eines Kommentars im New England Journal of Medicine.14 Darin schreiben die Autoren, dass wir als Ärzte und Ärztinnen viel zu oft die Narrative der Patienten und Patientinnen, jede Unsicherheit abwehrend, in kategorisierbare Diagnosen umwandeln und auf der obsessiven Suche nach der einzig »richtigen« Antwort die betroffenenorientierte Fürsorge verraten. Medizin sei eine Wissenschaft der Unsicherheit und eine Kunst im Umgang mit Wahrscheinlichkeit, hat William Osler, einer der bedeutendsten Ärzte des 19. Jahrhunderts gesagt.15 Die gute Sorge ist sich ihrer Sache nicht so sicher und sie ist weise genug, damit umzugehen. Welchen Platz hat also die Sorge im Sinne des Carings in der Medizin? Die Arbeitsteilung hat das Caring der Pflege zugewiesen, das Curing der Medizin. Doch diese Aufteilung ist artifiziell. Denn heilsame Betreuung ist ohne das Caring nicht möglich. Freilich, Heilen wird im Deutschen meist mit Gesundmachen gleichgesetzt. Dabei reicht es viel weiter. Heilen ist ein Verb, das sowohl transitiv als auch intransitiv verwendet wird. So wird auch schon sprachlich deutlich, dass es sich der Machbarkeit entzieht. Um das Heilwerden geht es auch am Lebensende, wenn von Gesundheit keine Rede mehr sein kann. »The essence of Palliative Care is healing«, so hat es Robert Twycross formuliert.16 Am Rande stehend wird sich die Sorge von der Medizin nicht kolonisieren lassen. Aber sollte sie als Fürsorge nicht doch ihren Platz in der Mitte

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Remen, 2006. Remen, 2000. Simpkin/Schwartzstein, 2016. Bean, 1950. Twycross, 2005.

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haben? Die rechte Sorge wird sich auch dann, wenn sie mehr Platz bekommt, nicht für allgemeine Zwecke einspannen lassen, wird sich Routinen nicht unterordnen, wird den dritten Weg suchen, eine für alle Beteiligten tragfähige Entscheidung finden.

Vorsorgen Vorsorge als Prävention von Krankheit ist gemeinsam mit Diagnose und Behandlung eine zentrale ärztliche Aufgabe in der Medizin. Die Vorsorge im Sinne der Prävention ist auf der Handlungsebene angesiedelt, so wie Diagnose und Behandlung. Daher hat sie sich, genauso wie Diagnose und Behandlung, unter den Anspruch der Fürsorge zu stellen und den Menschen zu dienen. Ich war als junge Ärztin erstaunt, die Vorsorge auch in der Definition der WHO für Palliative Care zu finden. Palliative Care dient »der Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung nicht nur durch Linderung, sondern auch durch die Vorbeugung von Leiden«. Doch bald schon wurde mir klar, was damit im Sinne schwer kranker Menschen gemeint ist. Die Krankheit bricht in ein Leben herein, unerwartet, schicksalhaft. Sie zieht Menschen den Boden unter den Füßen weg. Auf Sicht zu entscheiden und zu handeln bedeutet auch in der Medizin meistens nur zu retten, was zu retten ist, während mit der Vorsorge die gute Ordnung der Welt ein Stück weit gegeben ist oder hergestellt werden kann. In beängstigenden, verunsichernden Situationen kann die Vorausschau Halt und Sicherheit geben – und sei es die Sicherheit zu wissen, wen man in der Not anrufen kann, um Hilfe zu bekommen.17 Palliativbetreuung ist in unserer Zeit nicht denkbar ohne Advance Care Planning; medizinischen Lärm am Lebensende kann man nur vermeiden, wenn man rechtzeitig über Alternativen redet.18 Aber mit der Vorsorge ist es am Lebensende nicht anders als mit anderen programmatischen Konzepten: Vorsorge darf nicht zum Selbstzweck und zum Selbstläufer werden; die radikale Betroffenenorientierung ist der Kompass, sonst passiert es, dass Vorsorge zur Sicherheit für die Betreuenden über die Köpfe der Betroffenen hinweg gemacht wird. 17 18

Wegleitner/Medicus, 2012. Medicus, 2020.

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Die kluge Unterscheidung hilft auch hier: Wo dient die Vorsorge den Menschen? Wo stellt sie eine Belastung für sie dar? Beherzt ist das Gespräch darüber zu beginnen. Behutsam ist zu erfassen, wie viel Vorsorge der einzelne Mensch treffen will. Manchmal wird sich die Vorsorge für kurze Zeit vom Rand in die Mitte einer konkreten Betreuungssituation bewegen müssen. Sonst könnte es sein, dass in einer unvorhergesehenen Situation ein unangemessener Aktionismus Platz greift. Wenn dieses Gespräch über mögliche krisenhafte Situationen in der Zukunft stattgefunden hat und dokumentiert ist, darf die Vorsorge sich wieder auf ihren Platz am Rand zurückziehen.

Abschluss Der Rand ist ein guter Ort, um Sorge zu äußern. Dort ist der Blick frei für die umgebenden Welten. Dort ist Auseinandersetzung möglich. Am Rand ist man nicht ganz so behelligt von den Problemen des Alltags. Auch die Narrenfreiheit hat dort ihren Ort. Aber der Rand ist auch ein unbequemer Ort, ein Ort der Ambiguitäten: Da kann man als nicht zugehörig wahrgenommen werden, als Teil von »Draußen«. Da wird man vielleicht nicht ganz ernst genommen. Wenn die Bedrängnis groß wird, läuft die randständige Sorge Gefahr, zu verstummen oder sich einen anderen Ort zu suchen, an dem sie in Ruhe gelassen wird. Für die Sorge im Sinne des Carings hingegen braucht es den Platz in der Mitte der Medizin. Am Rand darf sie nicht stehen bleiben. An den Rand gedrängt hat die Fürsorge wenig Spielraum, ihre Wirkung zu entfalten, kann sie sich nur in den Grenzgebieten einbringen, vielleicht in Palliative Care, da und dort in der Psychiatrie und in der Geriatrie. Die leise Stimme der Sorge wird vom Rand her kein Gehör finden. Da gibt es noch viel zu tun – es wird nur im gemeinschaftlichen Bemühen und mit einem übergeordneten Ziel möglich sein. Wenn schließlich dann, endlich, die Fürsorge wieder die Grundlage von Medizin geworden sein wird, dann bekommt auch die ihr untergeordnete Vorsorge in der Begleitung und Betreuung den angemessenen Platz zur rechten Zeit.

Die randständige Sorge in der Medizin

Literatur Bean, William Bennett (Hg.): Sir William Osler: aphorisms from his bedside teachings and writings, New York: Henry Schuman 1950. Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford: University Press 2019. Biller-Andorno, Nikola: »›Fürsorge‹ in der Medizinethik: Prinzip oder Perspektive?«, in: Ludger Honnefelder/Christian Streffer (Hg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ehtik, Berlin: De Gruyter-Verlag 2002, S. 101-115. Conradi, Elisabeth: Take Care, Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2001. Dörner, Klaus: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart: Schattauer Verlag 2003. Gilligan, Carol: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München: Piper-Verlag 1984. Lown, Bernard: Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken, Stuttgart: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2004. Medicus, Elisabeth: »Die Rolle von Advance Care Planning in der Hospiz- und Palliativbetreuung«, in: Fachzeitschrift für Palliative Geriatrie 6 (1) (2020), S. 33-36. Pauli, Hannes G.: Der Mensch ist kein Baukasten. Spezialisierung in der Medizin. Neue Zürcher Zeitung, 15. Februar 1994, S. 21. Remen, Rachel Naomi: Kitchen Table Wisdom. Stories that heal, New York: The Berkley Publishing Group 2006. Remen, Rachel Naomi: My Grandfather´s Blessing. Stories of Strenght, Refuse and Belonging, New York: The Berkley Publishing Group 2000. Simpkin, Arabella L./Schwartzstein, Richard M.: »Tolerating uncertainty: The next medical revolution?«, in: New England Journal of Medicine 375(18) (2016), S. 1713-1715. Twycross, Robert: »Death without suffering? Floriani lecture, 9th Congress of the European Association for Palliative Care«, Aachen 2005, in: European Journal of Palliative Care 12/2 Supplement (2005), S. 5-7. Wegleitner, Klaus/Medicus, Elisabeth: »Vorausschauende Betreuungsplanung in Palliative Care. Palliativer Behandlungsplan und ethischer Orientierungsrahmen«, in: Klaus Wegleitner/Katharina Heimerl/Andreas Heller (Hg.), Zu Hause sterben. Der Tod hält sich nicht an Dienstpläne, Ludwigsburg: der hospiz verlag 2012, S. 220-238.

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Wiesemann, Claudia/Biller-Andorno, Nikola: Medizinethik, Stuttgart: Thieme Verlag 2005.

Ärztliche Sorge am Lebensende Daniel Büche

Hinführung zum Thema Das Thema der Palliative Care am Ende des Lebens möchte ich in einem inneren Dialog zwischen Mediziner und Arzt darlegen. Dabei fokussiere ich auf die Betreuung des sterbenden Menschen, der bereits in seinem Bewusstsein und seiner Kommunikation eingeschränkt ist. Dies möchte ich aus meiner persönlichen professionellen Entwicklung als Person, die als Naturwissenschaftler in der Medizin sozialisiert wurde und im Laufe meines Berufslebens zunehmend das Arzt-Sein entdeckt hat, tun. Der Dialog soll das Spannungsfeld dieser zwei Standpunkte – Mediziner und Arzt – erleben lassen. Dabei erscheint es mir wesentlich, dass ich mir erlaube, das Subjektive mit der Wissenschaft zu verbinden, im besten Sinne der Paradigmenerweiterung durch die Narration. Dies ist mir insofern wichtig, als dass ich mich als Mediziner verstehe, der Stolz ist auf sein naturwissenschaftliches Verständnis von Krankheit, Organsystemen, Pharmakologie und psychosomatischen Phänomenen des Patienten. Es geht somit keinesfalls darum, mich von meiner Profession und deren Wurzeln in der Naturwissenschaft zu entfernen oder mich gar darüber lustig zu machen – vielmehr möchte ich deren Grenzen ausloten. Dies erlaube ich mir, da ich als Mediziner tief in die Professionalität und Naturwissenschaftlichkeit der Medizin eingetaucht bin, mich aber wieder daraus zu lösen versucht habe. Womit ich für mich in Anspruch nehme, auch eine gewisse Außensicht zu haben. Damit vermeine ich die Professionalität des Arztes in- und auswendig zu kennen – ohne zu meinen, sie vollständig verstanden zu haben.

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Begrifflichkeiten In diesem Text wird unter »Mediziner« der schulmedizinisch ausgebildete Arzt verstanden. Sein Krankheitsverständnis basiert auf den Grundlagen der Ätiologie und Pathophysiologie im naturwissenschaftlichen kausalen Denken, das psychosomatische Erkenntnisse integriert. Sein erkenntnistheoretisches Werkzeug ist die evidenzbasierte Medizin, welche wiederum als Goldstandard die Erkenntnisse aus randomisiert kontrollierten Studien anerkennt. Der Begriff »Arzt« basiert auf dem Verständnis von Bernard Lown (1921*), welcher die heilsame ärztliche Tätigkeit folgendermaßen umschrieb: »Die Fürsorge für einen Patienten ohne Wissenschaft ist zwar gut gemeinte Freundlichkeit, nicht aber Medizin, andererseits beraubt eine Wissenschaft ohne Fürsorge und Anteilnahme die Medizin ihrer heilenden Fähigkeiten.«1 Narration2 ist eine in vielen wissenschaftlichen Disziplinen – Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften u.a. – anerkannte erkenntnistheoretische Paradigmenerweiterung. Dies aus dem Wissen heraus, dass quantifizierende wissenschaftliche Methoden ihren Preis darin haben, dass die Wirklichkeit nach den Vorgaben des Forschers vorstrukturiert und ausgewählt wurde. Die Narration ist nicht Abbildung von Geschehenem (Zeugenschaft, Anamnese, Katamnese, klinische Exploration), sondern eine sprachliche Konstruktion von Zeiterfahrung. Die Unterscheidung der Begriffe Krankheit (disease) und Erkrankung (illness) trägt den unterschiedlichen Standpunkten des Mediziners und Patienten Rechnung3 . Krankheit ist ein Zustand, welcher ein bestimmtes Symptomenbild hervorruft und damit vom normalen physischen und psychischen Zustand abweicht. Die Krankheit wird durch Ätiologie und Pathogenese charakterisiert, welche mittels spezifischer diagnostischer Verfahren verifiziert wird. Wichtig dabei ist die Krankheitsgeschichte (Anamnese). Als Erkrankung wird das subjektive, vom Patienten zu bewältigende Kranksein beschrieben. Dieses muss vom Betroffenen in einen Sinn- und Handlungszusammenhang zum eigenen Leben gestellt werden. Dieses Konzept entspringt der anthropologischen Forschung und ist für die Verständigung zwischen den Professionellen und dem Patienten von enormer Bedeutung. Der Arzt anerkennt das 1 2 3

Lown, 2004. Freeman, 2007. Helman, 1981.

Ärztliche Sorge am Lebensende

Kranksein des Patienten und möchte über dieses durch Anwendung narrativer Vorgehensweisen mehr erfahren.

Care am Ende des Lebens Bedürfnisse Lebensende Folgende Bedürfnisse von Menschen am Lebensende sind wissenschaftlich belegt: Patient*innen wünschen sich eine möglichst gute Symptomfreiheit, klare Entscheidungen, sich von den An- und Zugehörigen verabschieden zu können, am gewünschten Sterbeort versterben zu können, zudem sollte ihren psychologischen und spirituellen Bedürfnissen entsprochen werden. Dieses Wissen wurde durch soziologische, anthropologische und medizinisch-pflegerische Forschung erhoben. Basierend auf diesem Wissen werden vom Mediziner, bestenfalls als Teil eines interprofessionellen Teams, Verordnungen von Arzneimittel, im Sinne von Notfallverordnungen für den Fall des Auftretens folgender Symptome verordnet: Schmerz, Unruhe, Atemnot, Rasselatmung, allenfalls Angst und epileptischer Anfall. Dies möglichst nach evidenzbasierten Leitlinien. Mittels Advance Care Planning (ACP) werden Vorgehensweisen für den Fall von Entscheidungs- oder Kommunikationsunfähigkeit festgelegt und Stellvertreter*innen bestimmt, welche an Stelle des Patienten für dessen vorgefassten Entscheidungen einstehen sollen. Als Arzt bleibt mir in diesen Fällen immer ein Gefühl der Unzulänglichkeit bei diesem Vorgehen. So stelle ich mir die Fragen: »Wie kann ich wissen, ob der Sterbende, nicht mehr kommunizierende und wahrscheinlich in seiner Bewusstheit veränderte Patient noch die gleichen Bedürfnisse hat, die er kurz zuvor – bereits schwer krank – geäußert hat?« Tatsache ist, dass Menschen am Lebensende in einer großen Ambivalenz leben. Dies wurde zum Beispiel bezüglich des Sterbewunsches aufgezeigt. Somit ist die Annahme, dass die sterbende Person eindeutige Entscheidungen treffen kann und will, keinesfalls als gegeben anzusehen, vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Zudem gehen wir mit der Hypothese, dass eine sterbende Person auch sehr nahe am Lebensende noch die gleichen Bedürfnisse hat wie zuvor, davon aus, dass es eine Kontinuität der Person auch im Sterben gibt. Diese Hypothese kann kaum wissenschaftlich untermauert werden. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass Nahtoderlebnisse dem Erleben vor dem Tod ent-

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sprechen, so müssten wir aus diesen Schilderungen folgern, dass sich das körperliche Empfinden als auch das Bewusstsein zu diesem Zeitpunkt wesentlich verändern. Körperliche Symptome werden in diesen Schilderungen nicht mehr beschrieben. Somit gibt es zu diesem Zeitpunkt keinen Grund, den Menschen Schmerzmittel oder andere Arzneimittel zu verabreichen, um deren vermeintliche körperliche Symptome zu behandeln. Trotzdem erhalten viele Menschen in der Sterbephase Opioide zur Analgesie oder Arzneimittel zur Behandlung der »terminalen« Unruhe. Dieses Vorgehen entbehrt jeglicher Evidenz und fußt allenfalls auf einer Expertenmeinung, nicht aber auf einem umfassenden Wissens- und Denkansatz. Entscheidungen von Menschen während ihrer Nahtoderfahrungen basieren auf ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als sie diese in ihrem Tagesbewusstsein fassen würden. Aus diesem Blickwinkel müssen Entscheidungen, die im Rahmen der ACP vorgefasst wurden, kritisch hinterfragt werden. Auch die Forschungsergebnisse von Monika Renz4 zeigen in die Richtung, dass sterbende Menschen eine ganz andere Wahrnehmung mit u.a. verändertem Körperempfinden haben, was in dieser Phase bei gewissen Patienten zu einem deutlich geringeren Gebrauch an Arzneimittel führte. Somit wird klar, dass aktuelle Leitlinien und Handlungsanweisungen kurz vor dem Lebensende jeglicher medizinischer und damit Evidenz entbehren – es sind Expertenmeinungen, mehr nicht. Das heißt nicht, dass sie falsch sind, aber als naturwissenschaftlich fundierte Vorgehensweisen dürfen sie keinesfalls deklariert werden. Auch Analogien aus Beschreibungen von Nahtoderfahrungen und anderen bewusstseinsveränderten Zuständen (Psychoaktiva wie LSD u.a.) lassen sich nicht zwingend für die Situation des sterbenden Menschen heranziehen. Sie erweitern aber unsere Denkmuster und relativieren die medizinischen und ärztlichen Vorgehensweisen beim Sterbenden. In diesem Sinne sind sie gleichrangig zur Naturwissenschaft zu werten. Insgesamt bleibt aber nur die Bescheidenheit, dass wir vom Geheimnis des Sterbens nichts wissen. Diese Erkenntnis hilft mir als Arzt wenig. Auch möchte ich damit nicht in einen therapeutischen Nihilismus verfallen. In der Phase, in welcher der Patient noch kommuniziert, sind verordnete Arzneimittel für störende physische und psychische Symptome hilfreich, damit beim Auftreten solcher von allen Netzwerkpartnern rasch gehandelt werden kann. Tritt der Patient in die Phase der Bewusstseinsveränderung ein, so bleibt mir nach heutigem Erkennt4

Renz, 2018; Ohnsorge et al. 2012; Ohnsorge et al. 2014

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nisstand lediglich das phänomenologische Vorgehen im Sinne eines Zyklus. Dieser umfasst folgende Schritte: 1. 2. 3. 4. 5.

Phänomenologisches Wahrnehmen Interpretation des Wahrgenommenen Bildung einer Hypothese Folgerung einer Handlung aus der Hypothese Evaluation der Maßnahme und Neubeginn mit dem Zyklus

Die phänomenologische Wahrnehmung basiert auf allen dem Beobachter zur Verfügung stehenden Sinnen (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch und allenfalls gustatorisch). Aus der Wahrnehmung eines veränderten Muskeltonus der mimischen Muskulatur u.a., eines veränderten Atemmusters, Pulses, eines speziellen Geruchs, einer veränderten Atemfrequenz oder von Geräuschen, kann ein Bild entstehen, das zusammen mit der Intuition zu einer Interpretation des möglichen Zustandes und allenfalls Erlebens des Patienten führt. Dabei ist dieser Schritt der Interpretation der risikoreichste, da unsere Interpretation immer auch ganz falsch liegen kann. Somit ist darauf zu achten, dass der erste Schritt – das phänomenologische Wahrnehmen – möglichst ohne Interpretation stattfindet. Da uns diese durch zu schnelle Schlussfolgerungen auf den falschen Weg führen kann. Verbunden mit der Interpretation ist immer auch die Intuition. Unter dieser verstehen wir das (unbewusste) Wissen des Beobachters aus seiner persönlichen und professionellen Erfahrung. Dieses Wissen wird mit den Beobachtungen verknüpft. Befindet sich der Patient in einer Situation, die wir schon öfter gehabt haben, so dürfen wir unserer Intuition vertrauen. Stehen wir jedoch vor einer Patientensituation, die wir nicht kennen, so müssen wir das rationale Wissen über das Krankheitsbild abrufen und daraus die Interpretation ableiten. Aus der Interpretation folgt dann nahtlos eine Hypothese, welche wiederum in eine Handlung oder Handlungsmöglichkeiten mündet. Ein wichtiger Schritt, der oft vernachlässigt wird, ist die Evaluation der Maßnahmen. Damit bleibe ich als Arzt handlungsfähig trotz meines Nicht-Wissens. Bin mir aber bewusst, dass entschiedenes Nicht-Handeln häufig die beste Vorgehensweise ist.

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Palliative Care: größtmögliche Sicherheit in einer maximal unsicheren Situation Ein wesentliches Bedürfnis der sterbenden Menschen und deren An- und Zugehörigen ist das Bedürfnis nach Sicherheit. In der Sterbebegleitung können Professionelle nie auf ihre eigene, aber auch nicht auf die geschilderten Erfahrungen von Sterbenden zurückgreifen. Zwar kann man phänomenologische Beobachtungen bei sterbenden Menschen beschreiben, was aber in der letztendlichen Phase geschieht, dies bleibt immer ein Geheimnis. Letzteres wird auch nie mit den bisher bekannten wissenschaftlichen Methoden erforscht werden können. Somit können über das Sterben an und für sich keine verlässlichen Aussagen gemacht werden. Diese bleiben somit im hypothetischen Bereich und sind mit maximaler Unsicherheit behaftet. Als Mediziner kann ich dieser Unsicherheit durch Erarbeitung und Festlegung von Leitlinien und Prozessen begegnen. Diese geben v.a. dem Verordnenden Sicherheit, was sich allenfalls auf die Betroffenen – Sterbende und deren An- und Zugehörigen – übertragen kann. Dieses Phänomen kennt jeder Lernende. Zu Beginn einer Aus- oder Weiterbildung braucht man gute Guidance im Sinne von Mentoring oder Leitlinien, um die ersten Schritte in die Selbständigkeit machen zu können. Dies gibt einem Sicherheit und man kann die nächsten Schritte mit mehr Selbstvertrauen bewältigen. Kann man die Leitlinien aber nie verlassen und ist der Meinung, die damit gewonnene Sicherheit sei immer auch die Sicherheit des Patienten, so wird man nie Experte werden. Als Arzt bin ich mir meines Nicht-Wissens bezüglich des Sterbeprozesses bewusst, fühle aber gleichzeitig auch die Verantwortung dem Sterbenden gegenüber, der sich nach Sicherheit sehnt. Nun habe ich die Möglichkeit mein Nicht-Wissen kund zu tun und damit das Bedürfnis des Sterbenden unbefriedigt zu lassen. Eine alternative Möglichkeit ist, die Unsicherheit bei mir als Experten zu lassen und damit so umzugehen, dass sich der Sterbende in der Situation aufgehoben und sicher fühlt. Dies kann je nach Patient und Patientensituation durch Beziehungsarbeit, Ansprechbarkeit, Erreichbarkeit, Sorgekultur, Authentizität u.a. erreicht werden. Ein Patient mit einer drohenden Magenblutung kann sich unter Umständen zuhause ebenso sicher fühlen wie auf der Intensivstation. Dies zum Beispiel wenn zuhause ein Team abrufbar ist, sobald der Notfall eintritt, der Arzt Teil des Teams ist, er dem Patienten eine Telefonnummer überlässt, unter der ihn der Patient jederzeit erreicht und der Arzt das Telefon auch abnimmt wenn der Patient anruft. Es geht den

Ärztliche Sorge am Lebensende

Patienten häufig eher um das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit – um »safety« – als um Absicherung – »security«.

Bedürftigkeit am Lebensende Die Bedürftigkeit ist von den Bedürfnissen zu unterscheiden. Unter Bedürftigkeit versteht man einen Zustand eines Menschen, in dem er nicht oder nicht ausreichend in der Lage ist, aus eigener Kraft für sich zu sorgen. In der Palliativversorgung diskutiert man häufig über Autonomie, Autonomiefähigkeit und deren Verhältnis zur Abhängigkeit. Häufig ist, in Bezug auf Menschen am Lebensende, das Verständnis bezüglich Autonomie und Abhängigkeit derart, dass diese beiden Begriffe in einer direkten Abhängigkeit zueinander verstanden werden. Es wird perzipiert, dass durch die Abnahme der Autonomie gleichzeitig die Abhängigkeit zunehmen müsse und umgekehrt. Dies in Analogie zum Lebensanfang, bei welchem es durch die Abnahme der Abhängigkeit zu einer Zunahme der Autonomie kommt. Doch ist dem am Lebensende so? Ersetzen wir den gesellschaftlich und im Gesundheitswesen negativ konnotierten Begriff »Abhängigkeit« durch den Begriff »Bedürftigkeit«, so könnte sich die Betrachtungsweise ändern. Bedürftigkeit ist – nach obiger Begriffsklärung – mit Selbstsorge verknüpft. Als Mediziner ist Selbstsorge mit dem Selbstsorgedefizit, der Abhängigkeit assoziiert. Dies zum Beispiel, wenn ich gewisse Aktivitäten des täglichen Lebens nicht mehr ohne Hilfe verrichten kann. Ziel medizinisch-pflegerischer Interventionen ist oftmals die Verkleinerung des Selbstsorgedefizits. Häufig wird eine Zunahme der Abhängigkeit oder auch schon die drohende Zunahme der Abhängigkeit schwerkranker oder sterbender Menschen von anderen Personen bzw. Diensten als Verlust ihrer Lebensqualität – ja sogar als Würdeverlust empfunden. Dies kann bis zur Inanspruchnahme von Suizidhilfe gehen. Als Arzt stelle ich mir die Frage, was die abnehmende Selbstsorgefähigkeit für den sterbenden Menschen noch für eine Bedeutung hat. »Wie viel Umsorgen benötigt der sterbende Mensch nahe am Lebensende noch«? Wie die ungeklärten Bedürfnisse in der Sterbephase, kann auch die Bedürftigkeit der Sterbenden nicht eingeschätzt werden. Vor dem Wissen um die veränderte Wahrnehmung und das veränderte Bewusstsein des sterbenden Menschen nimmt die Autonomiefähigkeit (Selbstbestimmung) ab. Betrachten wir das

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Selbst im Sinne von C. G. Jung5 als Zentrum der menschlichen Psyche mit bewussten – das Ich – und unbewussten Anteilen, so wird evident, dass sich durch Veränderung des Bewusstseins auch das Selbst und dessen Bedürftigkeit ändert. Auch im Sinne des Selbstkonzepts6 – einem dynamischen Selbst – wird klar, dass dieses keine über das gesamte Leben unveränderliche Konstante ist. Damit darf postuliert werden, dass die Bedürftigkeit – der Bedarf von Sorge für sich selbst – sich im Sterben ändern dürfte und keine Aussage bezüglich deren Veränderung gemacht werden kann. Da immer weniger Ichbewusste, »weltliche« Bedürftigkeiten bestehen, für welche die Gesellschaft im Allgemeinen oder das Gesundheitswesen im Speziellen zu sorgen haben, könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass die Bedürftigkeit bezüglich des Gesundheitswesens im Sterben abnehmen könnte. Diese Hypothese ist bisher nicht untermauert, wäre aber durchaus eine mögliche Betrachtungsweise, die weg von der Omnipräsenz des Gesundheitswesens in der Sterbephase führen würde. Dies würde für mich als Arzt keine Enthaltung von der Sorgekultur, jedoch einen differenzierteren Umgang damit bedingen.

Wofür tragen wir Sorge? Das Wohlergehen des Patienten steht im Mittelpunkt unserer Bemühungen. Leiden zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern, sind für die Palliative Care die hehren Ziele. Als Mediziner sorge ich mich um die Symptome und das Advance Care Planning. Mit guter Symptomkontrolle, vorausschauender Planung, dem Aufbau eines tragfähigen Netzwerks und der Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen im Netzwerk als auch durch Unterstützungsangebote für die Angehörigen kann schon sehr viel zur Verbesserung der Lebensqualität beigetragen werden. Gemäß Bernard Lown steht es dem Arzt gut an, sich auch der Fürsorge anzunehmen. Was ist damit gemeint? Lown beschreibt damit die Beziehungsarbeit im Sinne eines therapeutischen Bündnisses zwischen Arzt und Patient. Dieses Bündnis soll gekennzeichnet sein durch das Geschenk der Beziehung. Diese ist nicht einfach gegeben, sondern muss gestaltet werden. Von Seite des Arztes bedeutet dies, sich in eine Beziehung einlassen, genauso wie ein sich wieder aus der Beziehung Lösen. Auch Ärzte können nicht gleichzeitig in 5 6

Carl Gustav Jung: GW 9/1: § 278; vgl. GW 11: § 755. Montemayor/Eisen, 1977.

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vielen Beziehungen leben und diese vertiefen – damit laufen sie Gefahr sich in den Beziehungen zu verlieren und in der Erschöpfung (Burnout) zu landen. Wenn aber jede Beziehung nach jedem Patientenkontakt abgeschlossen wird, so ist der Arzt frei in eine nächste Arzt-Patienten-Beziehung einzutreten. Dies beinhaltet die Selbstsorge, ohne welche es keine Fürsorge gibt. Arzt sein bedeutet, in Beziehung treten, Beziehungen zu gestalten und zu kommunizieren. Dies auch in der Haltung der Compassion.

Sympathie, Empathie und Compassion Sympathie beschreibt das Phänomen zweier Menschen, die miteinander in eine positive emotionale Resonanz gehen – mitzuschwingen. Die Sympathie ist ein rein affektives Geschehen. Die Resonanz birgt die Gefahr, dass, wenn die Frequenz der Eigenschwingung erreicht wird, sich die Schwingung derart verstärkt bis sich das System selbst zerstört. Damit wird klar, dass Sympathie für einen Patienten zu haben zwar nett ist, dem Patient aber nicht hilft, sogar für Patient und Arzt gefährlich werden kann. Empathie leitet sich vom Begriff »Einfühlungsvermögen« ab und meint bildlich »in den Schuhen des anderen zu gehen«. Die Empathie hat eine affektive und eine kognitive Komponente, das heißt das Mitschwingen wird kognitiv und affektiv bewertet. Dafür braucht es die Fähigkeit der Selbstgewahrsamkeit – man muss sich vom anderen unterscheiden können. Empathie äußert sich im Wahrnehmen, Ansprechen und Wertschätzen der Gefühle des Gegenübers. Compassion, das Mitfühlen, führt die Empathiefähigkeit in die Handlung – ein prosoziales, allenfalls altruistisches Handeln. »Wir Menschen haben das Bedürfnis Leiden anderer Menschen zu lindern, weil wir alle in irgendeiner Art und Weise verbunden sind«. Compassion wird gelegentlich auch als die Essenz des Pflegens7 beschrieben. Aber auch William Osler hat es als wesentliche Eigenschaft des Arztes folgendermaßen umschrieben8 : »The practice of medicine is an art, not a trade; a calling, not a business; a calling in which your heart will be excercised as much as your head.« Als Mediziner ist mir Empathie ein geläufiger Begriff. Schon im Medizinstudium wird die Empathie im Patientenkontakt angeschaut und auf dessen Wichtigkeit hingewiesen. 7 8

Käppeli, 2001. Mark, 2003.

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Als Arzt habe ich den Anspruch aus dieser Haltung auch in ein patientendienliches Verhalten überzugehen. Ein solches kann die Compassion sein. Leider gibt es dafür auch kein geeignetes deutsches Wort. Die früher gebräuchliche Übersetzung »Mit-Leiden« muss aus heutiger Sicht als falsch bezeichnet werden. So konnten neurophysiologische Untersuchungen zeigen, dass bei Empathie andere Hirnareale aktiviert werden als bei Compassion. Dabei war die Haltung der Probandinnen nicht geprägt von Mitleid und der damit geringen Fähigkeit der Distanzierung vom Patienten als vielmehr von einer offenen Beziehung zum Patienten, die eine Dialogfähigkeit ermöglichte. Somit sollte es ein Anliegen der Palliativversorgung sein, zu erforschen, wie Compassion bei Professionellen in der Palliative Care gefördert werden kann, damit es den Patienten zugutekommt.

Erkenntnisse und Hoffnung In diesem Artikel wird aufgezeigt, dass das Sterben – verstanden als allerletzte Phase des Lebens mit verändertem Bewusstsein und eingeschränkter Kommunikation – als bisher unerforschter und mit den aktuellen Forschungsmethoden nicht zu erforschender Abschnitt des Menschenlebens, eine Zeit maximaler Unsicherheit umfasst. Diese Unsicherheit betrifft einerseits die Bedürfnisse und die Bedürftigkeit des Sterbenden. Gleichzeitig besteht auch eine Unsicherheit auf Seiten des Mediziners und des Arztes. Das Vorgehen beider – Mediziner und Arzt – ist unterschiedlich. Beschränkt sich der Mediziner auf sein naturwissenschaftliches Wissen, so müsste er – in der stringenten Einhaltung der Vorgaben der Naturwissenschaftlichkeit – sich jeglicher Tätigkeit entsagen und nicht in das Sterben des Menschen eingreifen. Meist wird er trotzdem aktiv, was seine naturwissenschaftliche Vorgehensweise berechtigterweise in Frage stellt. Stellt sich der Mediziner auf den Standpunkt des Arztes und anerkennt andere erkenntnistheoretische Vorgehensweisen, so erweitert er sein Spektrum des Verstehens. Auch dieses erlaubt ihm nicht wesentlich mehr Handlungsoptionen, sondern ermöglicht es ihm, einen anderen Blick auf die Sterbephase zu werfen und seine Beobachterrolle in der allerletzten Phase des Lebens mit mehr Sicherheit und Gelassenheit zu erfüllen. Diese Demut im Umgang mit Sterbenden zu leben und auszuhalten, ohne daran zu zerbrechen, ist eine große Aufgabe des Arztes. Das lösungsori-

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entierte Vorgehen, das sonst sein professionelles Leben stark prägt, muss in dieser Phase dem Da-Sein, dem Zeuge-Sein, dem Mit-dem-Patienten-Sein, Platz machen. Der Patient wünscht sich in dieser Phase vom Arzt allenfalls noch die Beziehung von Mensch zu Mensch – die Sicherheit, vom Arzt nicht verlassen zu werden – doch auch dies ist unsicher und vielleicht nur Wunschdenken des Arztes.

Literatur Freeman, Mark: »Wissenschaft und Narration«, in: Journal für Psychologie 15 (2007). Helman, Cecil G.: »Disease versus illness in general practice«, in: JRCGP 31(230) (1981), S. 548-552. Käppeli, Silvia: »Mit-Leiden (Compassion) – eine vergessene Tradition der Pflege?«, in: Pflege 14 (2001), S. 293-306. Lown, Bernard: Die verlorene Kunst des Heilens, Frankfurt: Suhrkamp 2004. Montemayor, Raymond/Eisen, Marvin: »The development of selfconceptions from childhood to adolescence«, in: Developmental Psychology 13(4) (1977), S. 314-319. Ohnsorge, Kathrin/Gudat, Heike/Widdershoven, Guy/Rehmann-Sutter, Christoph: »›Ambivalence‹ at the end of life: How to understand patients’ wishes ethically«, in: Nurs Ethics 19 (2012), S.629-641. Ohnsorge, Kathrin/Gudat, Heike/Rehmann-Sutter, Christoph: »What a wish to die can mean: reasons, meanings and functions of wishes to die. Reported from 30 qualitative case studies of terminally ill cancer patients in palliative care«, in: BMC Palliat Care 13(38) (2014). https://doi.org/10.1186/ 1472-684X-13-38. Renz, Monika: Hinübergehen, Freiburg: Herder 2018. Silverman, Mark E.: The Quotablie Osler (Medical Humanities) Quotes, American College pf Physicians 2003.

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Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s Anna-Christina Kainradl und Ulla Kriebernegg

Ähnlich wie der tragische, alte König Lear, der verwirrt durch die Nacht irrt, verzweifelt und voller Schmerz über die vermeintliche Ablehnung durch seine Tochter Cordelia empfindet auch die alte, namenlose Protagonistin von Margaret Atwoods Kurzgeschichte »The Bad News« aus dem Zyklus Moral Disorder (2006)1 Angst und Verzweiflung, wenn sie an ihre eigene Zukunft denkt; sie fühlt sich der Welt hilflos ausgeliefert, fürchtet das fortschreitende Alter, ihre beginnende Vergesslichkeit und ihre eigene Verwundbarkeit: »This has become my picture of my future self: wandering the house in the darkness, in my white nightdress, howling for what I can’t quite remember I’ve lost«.2 Noch ist ihr Partner Tig am Leben, und die beiden sorgen so gut es geht füreinander. Von ihrer Tochter lässt sich keine Hilfe erwarten; sie lebt irgendwo anders ihr eigenes Leben: »Stuck on to the refrigerator is a photo of our daughter, taken several years ago; it beams down on us like the light from a receding star. She’s busy with her own life, elsewhere«.3 Der Vergleich mit dem Licht eines Sterns, der sich entfernt, lässt auf die Sehnsucht nach der geliebten Tochter schließen, die ebenfalls auf König Lear verweist. Eine noch explizitere Bezugnahme auf König Lear findet sich in Atwoods Gedicht »King Lear in Respite Care« (1995)4 , das wir ebenfalls im vorliegenden Aufsatz behandeln: Die Lieblingstochter besucht ihren alten, verwirrten Vater in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung, wo sie ihn trotz seines Wunsches, sie möge ihn mit nach Hause nehmen, wohl zurücklassen wird. Sowohl »The Bad News« als auch »King Lear in Respite Care« thematisieren re-

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Atwood, 2006. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Atwood, 1995.

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levante care-ethische Spannungsfelder, die besonders die Ambivalenzen der Care-Beziehungen ihrer Protagonisten und Protagonistinnen deutlich machen. Die kanadische Autorin denkt Care in diesen und anderen Texten vom Rande her, und das ist es auch, was ihre Literatur ausmacht: Sie widmet sich dem Randständigen, den individuellen und kollektiven Grenzerfahrungen, und -überschreitungen, die Care-Beziehungen auch immer mit sich bringen können, und erzeugt durch ihre detaillierten, scharfsinnigen Beobachtungen Dynamik, Spannung sowie ein notwendiges Unbehagen. Ihre Texte enthalten sowohl dystopische als auch utopische Elemente, ein Ineinander, das sie mit »Ustopie«5 bezeichnet, und dessen Charakteristika sich auch als aufschlussreich für die in ihren Texten beschriebenen Care-Beziehungen erweisen. Als beispielhafte Ustopien des Alter(n)s und der Sorge lassen sich sowohl Margaret Atwoods Kurzgeschichte »The Bad News« als auch ihr Gedicht »King Lear in Respite Care« lesen. Ihre ustopischen Beschreibungen des Alter(n)s und der Care-Beziehungen treffen sowohl Ängste und Befürchtungen, die den gesellschaftlichen Diskurs über diese Themen bestimmen, als auch die erfüllten und unerfüllten Wünsche, die damit verbunden sein können. Careethische Spannungsfelder wie Relationalität und Verletzlichkeit werden damit in ihrer Ambivalenz thematisiert, und es wird die Einsicht unterstrichen, dass »Menschen in einer Gesellschaft wechselseitig voneinander abhängig, gebrechlich und verletzlich sind, und dass sie einander bedürfen, um ihr Leben in einer bedeutungsvollen Weise zu leben.«6 Indem Atwood ihren dystopischen Beschreibungen des Alterns und der Care-Beziehungen jedoch auch ein utopisches Element zuspricht, betont sie die Ambivalenz des Alter(n)s und hinterfragt somit ebendiese uneingeschränkt positiven Alter(n)sbilder, die auf dem Imperativ der unbedingten und flexiblen Gestaltbarkeit des Alter(n)s beruhen und ein autarkes Autonomieverständnis im Sinne eines neoliberalen Individualismus propagieren. In ihren Ustopien spricht sie ähnliche Erfahrungen der Bedürftigkeit und Abhängigkeit von Menschen in unterschiedlichen Alter(n)s- und Lebenssituationen aus und beschreibt sie damit auch als »konstitutiv für die menschliche Existenz […] also nicht im Mindesten als demütigend«.7 Indem Atwood in ihren Ustopien Care-Beziehungen beschreibt, macht sie deren Bedeutsamkeit ebenso wie deren Bedrohlichkeit deutlich. Sie macht es 5 6 7

Atwood, 2011. Visse, 2016, S. 112. Bourgault, 2016, S. 277.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

möglich, den starken Zusammenhang zwischen dem ihnen innewohnenden Sehnsuchtspotenzial ebenso wie die damit zusammenhängenden Befürchtungen zu thematisieren. Darüber hinaus ist der Begriff anschlussfähig für care-ethische Interpretationen, wie beispielsweise jene von Joan Tronto, die die Praxis des Sorgens immer als »vielschichtig, komplex und ambivalent«8 beschreibt. In den Texten M. Atwoods lässt sich die Ustopie sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene aufzeigen: die dystopische gesellschaftliche Situation, die in »The Bad News« durch Kriege und Aufstände geprägt ist, ist eine Anfrage an die Generationengerechtigkeit politischer Strukturen und politischer Handlungsträger*innen. Im engen Zusammenhang, den Atwood zwischen den individuellen Beziehungen und der gesellschaftlichen Situation zeichnet, lassen sich auch die engen Zusammenhänge von individuellen und strukturell-organisatorischen Perspektiven von Care aufzeigen, die, wie Joan Tronto argumentiert, in einem umfassenden Verständnis aufeinander zu beziehen sind: »Caring is not only about the intimate and daily routines of hands-on care. Care also involves the larger structural questions of thinking about which institutions, people, and practices should be used to accomplish concrete and real caring tasks.«9 Im Folgenden soll keine konkrete Praxis der Sorge in den Blick genommen werden. Die dargestellten Care-Beziehungen entstammen fiktionalen Texten M. Atwoods und ermöglichen zwar keine Kritik und Analyse konkreter Praxis oder erzählter individueller Einzigartigkeit, bleiben aber gleichsam an Narrativen orientiert und heben in literarisch verdichteter Form Emotionalität und Reflexion sowie »Situierung und Kontextualisierung der Erfahrungen«10 hervor. Damit kommen in care-ethischer Tradition »Praktiken [in den] Blick, in denen Fürsorge, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Anteilnahme, auch die Verantwortungsübernahme mit und für Andere eine besondere Rolle spielen«.11

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Schües, 2016, S. 257. Tronto, 2013, S. 140. Schües, 2016, S. 252. Ebd., S. 252.

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Die Schlechten Nachrichten »The bad news arrives in the form of the bad newspaper«.12 Bevor sie ihren Morgenkaffee getrunken hat, kann die Protagonistin der Kurzgeschichte die täglichen Horrormeldungen aus der Zeitung kaum ertragen. Sie bereiten sowohl ihr als auch ihrem Partner Tig körperliches Unbehagen: »He wants to pass the bad news on as soon as possible – get it off his hands, like a hot potato. Bad news burns him«.13 Sie sorgt sich um ihn und sorgt für ihn, und sie nimmt ihm die belastenden Neuigkeiten ab, obwohl sie auch ihr nicht guttun: »[H]e has less body fat than I do and therefore less capacity to absorb, to cushion, to turn the calories of the bad news – and it does have calories, it raises your blood pressure – into the substance of his own body. I can do that, he can’t.«14 Sowohl ihre Angst vor der immer größer werdenden Verwundbarkeit und dem Verlust ihres Partners (»I wake up in the night and reach out to make sure Tig is still there, still breathing«15 ) als auch das Leiden und die Hilflosigkeit Fremder, die ihr in den Hiobsbotschaften der täglichen Zeitungslektüre begegnen und ihr trotz der Distanz unter die Haut gehen, weisen auf das große Ideal und das gleichzeitige Anerkennen der Unmöglichkeit eines idealen Sorge-Tragens füreinander hin. Die Geschichte thematisiert damit auch die Einsicht, dass Care ein Beziehungsgeschehen, und daher relational zu denken ist16 , und die Herausforderungen, die sich daraus ergeben. Amelia DeFalco beschreibt dieses Spannungsfeld in Atwoods Kurzgeschichten-Zyklus wie folgt: »In the literary texts […] one finds the ideals of reciprocity and responsivity set against human limitations«.17 Atwoods Texte zeigen, dass relationale Identität und die damit einhergehenden Verpflichtungen sowohl schöne als auch schwierige Seiten haben; Sorge und Fürsorge für jemanden zu tragen und dessen Bedürfnisse anzuerkennen, ist in Atwoods Geschichten stets von hoher Notwendigkeit, birgt aber auch Gefahren für die eigene Iden-

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Atwood, 2006, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Ebd., S. 6. Tronto, 2013, S. 140. DeFalco, 2016, S. 7.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

tität: »To participate in the ethics of care, that is, to respond to the needs and demands of others is both necessary and dangerous«.18 Atwoods Kurzgeschichte »The Bad News« steht paradigmatisch für einen großen Teil ihres Gesamtwerks, in welchem Care im Sinne von Sorge, Fürsorge, aber auch Pflege immer wieder eine zentrale Rolle spielt. Die Texte drehen sich um die Frage, was man in Anbetracht des Leidens und der Bedürfnisse einer anderen Person tun kann und tun soll, und welche Konsequenzen dementsprechende »Care«-Handlungen haben. Ohne Idealisierung thematisiert Atwood in ihren Texten Fragen der Schuld und der wechselseitigen Abhängigkeiten und stellt auf diese Weise sowohl neoliberale Körperund Leistungsideale als auch traditionelle Familien- und Beziehungsmodelle in Frage. Sie thematisiert die zentrale These der Care-Ethik »that humans are concrete beings, who exist in mutually interconnected, interdependent, and often unequal relations with each other«.19 Wie DeFalco mit Bezug auf Moral Disorder erläutert, lenken viele von Margaret Atwoods Texten den Blick auf die Problematik, angesichts der alltäglichen Erfahrungen von Leid und Hilflosigkeit zwar das Verlangen, Sorge zu tragen zu verspüren, gleichzeitig aber keine klare Handlungsanweisung dafür aus dem Text zu erhalten: »The opening story […] draws attention to the problems that arise in everyday experiences of suffering and helplessness that engage the desire to care, but provide no clear direction for action«.20 Die daraus resultierende Hilflosigkeit wird sowohl in »The Bad News« als auch in »King Lear in Respite Care« deutlich.

Utopien – Dystopien – Ustopien Care-Beziehungen können als Ustopien – ein Begriff, den Atwood selbst als Mischform aus Utopie und Dystopie geprägt hat – des Alterns gelesen werden. »Ustopia is a word I made up by combining utopia and dystopia—the imagined perfect society and its opposite – because, in my view, each contains a latent version of the other«21 , erklärt Atwood. Utopien und Dystopien

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Ebd., S. 58. Hankivsky, 2014, S. 253. DeFalco, 2016, S. 59. Atwood, 2011, S. 8.

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als imaginierte perfekte Welten und ihr Gegenteil enthalten immer auch eine verborgene Version des jeweils anderen. Sie lassen sich nicht immer ganz scharf voneinander abgrenzen und sind durch eine starke Verflochtenheit gekennzeichnet. Utopien lassen sich mit Thomas Morus sowohl als »Nicht-Orte« als auch als idealtypische »gute Orte« verstehen, ist die englische Aussprache der griechischen Vorsilben »u« und »eu« ja gleichlautend. Atwood weist darauf hin, dass Utopien beides, sowohl nicht existierende als auch ideale Orte seien, denn schon alleine aufgrund der »fallen human nature«22 könnten sie niemals real vorkommen, sondern nur als phantastische Vorstellungen einer in allen Bereichen idealen Gesellschaft existieren. Dystopien, so führt Atwood unter Bezugnahme auf Morus weiter aus, seien deren exaktes Gegenteil, beschreiben sie doch Orte des Leidens, der Ungerechtigkeit, der Tyrannei.23 Kratze man aber ein wenig an der Oberfläche von so kategorisierten Texten, ließe sich »something more like a yin and yang pattern«24 erkennen: »Within each utopia, a concealed dystopia; within each dystopia, a hidden utopia«.25 Als Beispiele führt Atwood etwa George Orwells Nineteen Eighty-Four an, eine der unheimlichsten Dystopien der Weltliteratur, der jedoch eine – wenngleich minimale – Utopie innewohnt: sowohl der antike, gläserne Briefbeschwerer, der Winston fasziniert, Winstons idyllische Traumlandschaft der Waldlichtung als auch die zusätzlich zur Handlung im Buch enthaltene Abhandlung über »The Principles of Newspeak« über »Sprache als Kontrolle« (»language-as-control«26 ), die klar macht, dass das totalitäre Regime gestürzt worden sein muss, lassen sich als kleine, aber sichtbare utopische Momente lesen.27 Aber auch in ihre eigenen spekulativen Texte wie Oryx and Crake oder The Year of the Flood und ihren vermutlich bekanntesten dystopischen Roman A Handmaid’s Tale webt sie utopische Elemente ein, die daraus eben Ustopien machen, wie sie in Dire Cartographies ausführt.28 Auch ihre 2014 erschienene Kurzgeschichten-Sammlung Stone Mattress: Nine Wicked Tales29 lässt sich durch eine ustopische Linse lesen, wie Helen Snaith zeigt, die die Texte durch eine

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Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 28. Atwood, 2014.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

feministische Interpretation auf ihr subversives Potenzial hin untersucht, das Stereotyp der Asexualität alter Frauen zu untergraben.30

»King Lear in Respite Care« In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass die Institutionalisierung des Lebensendes immer häufiger zum zentralen Thema in Literatur und Film wird: Altersheime oder Seniorenresidenzen werden sowohl in Nordamerika als auch in Europa zunehmend als Settings von Romanen und Filmen verwendet. Auch Margaret Atwood bedient sich des Genres der »Altersheim-Literatur«, die wie etwa in ihrer Kurzgeschichte »Torching the Dusties«31 oft stark dystopische Züge aufweist. Kulturelle Repräsentationen dieser Art erzählen das Heim zwar nicht immer als schauderhaften, angsteinflößenden Ort. Er ist jedoch fast immer, auch wenn das Setting als luxuriöse Senior*innen-Residenz dargestellt wird, ein Ort der Randständigkeit, des Verlusts von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, und letztlich des Versagens. Fiktionale Darstellungen des Heims betonen dieses Versagen auf mehreren Ebenen: einerseits auf der Ebene des individuellen versagenden Körpers, der nicht mehr erfolgreich und gesund altert und damit der Norm des healthy und successful aging widerspricht. Weiteres auf der Ebene der Familien, in denen Kinder daran scheitern, ihre Eltern adäquat versorgen zu können, aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene, indem es keine passenden Betreuungsstrukturen zu geben scheint.32 Dennoch wohnt diesen Texten oft etwas Widerständiges, Subversives, Ustopisches inne, das trotz des Versagens von Care-Beziehungen dennoch Handlungsspielräume sichtbar macht. Margaret Atwoods Gedicht »King Lear in Respite Care« ist ein berührendes Beispiel einer Ustopie, die dieses Versagen thematisiert, zugleich aber auf die innige Beziehung zwischen Vater und Tochter verweist. Es hat teilweise autobiografische Züge: Atwood erinnert sich in einer Sequenz von insgesamt zwölf Gedichten an ihren Vater Carl Atwood, zu dem sie eine starke, jedoch

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Snaith, 2017. Atwood: »Torching the Dusties«, in: ebd., S. 225-268. Siehe dazu auch Kriebernegg, 2018. Vgl. Chivers, 2015, S. 139.

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nicht immer ganz friktionsfreie Verbindung hatte.33 Wie bereits der Titel des Gedichts verrät, ist der alte Vater in einer Kurzzeit-Pflegeeinrichtung (respite care), die zumindest zeitweise die Angehörigen entlasten soll. Wie lange »König Lear« schon im Heim ist und dort noch bleiben soll, wird nicht ausgeführt. Schnell wird klar, dass er sich dort nicht zuhause fühlt und den Töchtern vorwirft, sich nicht um ihn zu kümmern. Das Gedicht unterstreicht in all seiner poetischen Verknappung die Ambivalenzen und Konflikte, die intergenerationellen Care-Beziehungen innewohnen. »The daughters have their parties«34 , lautet die erste Zeile. Wie die Töchter aus William Shakespeares Drama The Tragedy of King Lear scheinen sie sich vom alten Vater abgewandt zu haben, und er irrt umher: »Who knows what he knows?/Many things, but where he is/isn’t among them. How did it happen,/this cave, this hovel?/It may or may not be noon«.35 Der einsame und orientierungslose alte Vater fühlt sich in »dieser Höhle, diesem Schuppen« verletzlich und ausgeliefert. Die Angst des alten Mannes vor dem Identitätsverlust sowie seine Verwirrtheit werden durch die Verwendung der eingeschränkten Erzählperspektive in der dritten Person unterstrichen: auch wenn die interne Fokalisierung die Perspektive des Mannes zeigt, wird dennoch die limitierte Sichtweise der dritten, nicht die der ersten Person verwendet. Die Abwesenheit des Ich kann als Zeichen der Selbst-Objektivierung gelesen werden, als ein Zeichen der in Frage gestellten, gefährdeten Subjektposition: »Another man’s hand/coming out of a tweed sleeve that isn’t/his, curls on his knee. He can move it with the other/hand. Howling would be uncalled for«.36 Sein Körper ist fragmentiert, seine Bewegungen unkontrolliert. Die jüngste Tochter, die den alten Mann besuchen kommt, wird mit Cordelia, Lears tragischer Lieblingstochter verglichen, mit der ihm erst am Ende des Lebens Versöhnung vergönnt war. Die Tochter hält ihres Vaters Hand, während er sie auffordert, sie möge ihn mit nach Hause nehmen. Sie darum zu bitten bringt er, vielleicht aus Stolz, jedoch nicht zustande. Wie die intertextuellen Bezüge zu Shakespeares Stück klar machen, kann sie ihm diesen Wunsch auch nicht erfüllen:

33 34 35 36

Vgl. Jamieson, 2001, S. 3. Atwood, 1995, S. 85. Ebd., S. 85. Ebd., S. 85.

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»At eight the youngest daughter comes. She holds his hand. She says, Did they feed you? He says no. He says, Get me out of here. He wants so much to say please, but won’t.   After a pause, she says— he hears her say— I love you like salt.«37 Besonders das Ende des Gedichts, »I love you like salt«, unterstreicht die Ambivalenz der Care-Beziehung, ist es doch der Satz, der zwar einerseits die Liebe Lears jüngster Tochter zu ihrem Vater ausdrückt, sie in der Tragödie zugleich aber auch ins Verderben stürzt, weil der Vater die Aussage nicht richtig versteht. Wenngleich der Satz in der Shakespeare’schen Bühnenfassung nicht in dieser Form vorhanden ist, ist er doch Teil der überlieferten Erzählungen und steht für das grundlegende Missverständnis bei gleichzeitiger, starker Zuneigung zwischen Vater und Tochter. Darüber hinaus ist der Vergleich mit der Figur des Königs, der schlussendlich ein tyrannischer Patriarch war, nicht nur schmeichelhaft. Das Gedicht thematisiert hier aber nicht nur ungelöste intergenerationelle Konflikte und den Wunsch nach Versöhnung und bleibender Verbundenheit; es lässt sich auch als Darstellung des kulturellen Erwartungsdrucks lesen, der vor allem Frauen in traditionelle Geschlechterrollen als die Vergebende, Sorgende, Pflegende zwingt, wie Sara Jamieson ausführt: »Here, the poem not only points to unresolved intergenerational conflicts and the wish for (re-)connection, but has also been read to reveal the pressure often felt, especially by women, to adhere to traditional gender roles and meet cultural expectations to act as the forgiving, caring, nurturing female.«38 Jamieson macht die gesellschaftspolitischen Ambivalenzen von Care-Arbeit aus einer Gender-Perspektive deutlich und verbindet damit individuelle Fra-

37 38

Ebd., S. 85. Jamieson, 2001, S. 3.

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gestellungen der intergenerationellen Care-Beziehung mit gesellschaftlichstrukturellen Herausforderungen. Geht man der Frage nach, »wie die Beziehung, Verbundenheit und Bezogenheit zwischen den Menschen verstanden, gestaltet und gelebt werden kann«39 , so zeigt sich, dass die Beziehung weiterhin ambivalent bleibt: »Was passiert ganz konkret zwischen denen, die gepflegt werden und die pflegen, oder etwa zwischen denjenigen, die sich gegenseitig umeinander kümmern? Was für Beziehungen gibt es?«40 Auch in »The Bad News« ist diese Ambivalenz stets vorhanden. Tig und seine Partnerin kennen die gegenseitigen Bedürfnisse und sorgen liebevoll füreinander. Es scheint jedoch mitunter so, als müsste die Ich-Erzählerin gut abwägen, zu wessen Gunsten die Sorgebeziehung ausfallen solle. Soll sie sich mit den schlechten Nachrichten krank machen lassen, oder kann sie es verantworten, diese ihm zuzumuten? Eher nicht, wie sie beschließt: »If Tig must respect my need to wallow mindlessly, free of bad news, before the first cup of coffee, shouldn’t I respect his need to spew out catastrophe so he himself will be rid of it? He shoots me a reproachful look. Why must I disappoint him like this? Don’t I know that if he can’t tell the bad news, to me, right now, some bilious green bad-news gland or bladder inside him will burst and he’ll get peritonitis of the soul? Then I’ll be sorry. He’s right, I would be sorry. I’d have no one left whose mind I can read.«41 Die beiden kennen einander sehr gut, leben in einer fast symbiotischen Beziehung und wissen, dass sie einander brauchen. Das gemeinsame Leben ist von einem ständigen Aushandlungsprozess begleitet, der auch idyllische Momente des Genusses und der Freude beinhaltet: »It’s such a beautiful day. The air smells of thyme, the fruit trees are in flower.«42 Die Idylle ist auf die Gegenwart beschränkt, gefährdet nicht nur durch die »bad news« von außen, sondern auch durch die Schwierigkeiten der Care-Beziehung sowie die Dystopie des alternden Körpers. Damit ähnelt die Beschreibung stark dem, was Atwood bezüglich des Begriffs der Ustopie festhält. So lässt sich der folgende Ausschnitt, in dem sie das Wesen der Ustopie beschreibt, auch auf CareBeziehungen und deren Ambivalenzen hin lesen:

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Schües, 2016, S. 251. Ebd., S. 252. Atwood, 2006, S. 2-3. Ebd., S. 10.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

»High hopes have been dashed, time and time again. The best intentions have indeed led to many paved roads in Hell. Does that mean we should never try to rectify our mistakes, reverse our disaster-bent courses, clean up our cesspools, or ameliorate the many miseries of many lives? Surely not: if we don’t do maintenance work and minor improvements on whatever we actually have, things will go downhill very fast. So of course we should try to make things better, insofar as it lies within our power. But we should probably not try to make things perfect, especially not ourselves, for that path leads to mass graves. We’re stuck with us, imperfect as we are; but we should make the most of us. Which is about as far as I myself am prepared to go, in real life, along the road to ustopia.«43

Conclusio Wenn anhand von zentralen care-ethischen Themenfeldern auf Texte von M. Atwood Bezug genommen wird, gilt es dabei, die Vieldeutigkeit fiktionaler Texte weiterhin im Blick zu behalten und nicht vorschnell konkrete Handlungsanweisungen sowie ideale oder abschreckende Modelle abzuleiten.44 Eine Interpretation der literarisch-fiktionalen Texte bietet jedoch auch für eine (care-)ethische Lesart einige Anknüpfungspunkte und ermöglicht die subversive Thematisierung existentieller Themen. Darüber hinaus eröffnen Atwoods Texte neben der (rationalen wie emotionalen) Introspektive in vielfältige, oft unterrepräsentierte, Perspektiven die Chance der Konfrontation mit alternativen Handlungs- und Argumentationsstrukturen.45 Vom Rand her zu denken, kann im Zusammenhang mit den Texten Margaret Atwoods aber auch bedeuten, von den Extremen her zu denken: Viele ihrer Texte bieten in einer fiktional-radikalen Zuspitzung in besonderer Weise Einsicht in normativ relevante Zusammenhänge.46 In ethischen Zusammenhängen könnte darin die Gefahr bestehen, »ohne eine normative Begründung vor Veränderungen zu warnen und so den eigenen Standpunkt ostentativ zu

43 44 45 46

Atwood, 2011, S. 29-30. Kainradl/Kriebernegg, 2020, S. 171. Vgl. Lesch, 2002, S. 237. Vgl. ebd., S. 231.

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markieren«.47 Stattdessen können in »sozial dichte[n] Szenarien«48 Themen wie Körperlichkeit, Relationalität und andere in Care-Beziehungen relevante Themen zur Sprache gebracht werden und Lesende für die Wirkmächtigkeit von sprachlichen Bildern, auch in Verzerrung und Übersteigerung, sensibilisieren. Durch die kritische, ethisch aufmerksame Analyse ästhetischer Repräsentationen können Einsichten über die Zusammenhänge des Alter(n)s in Care-Beziehungen sowie deren Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit gewonnen werden. Dabei wird eine politische Haltung eingenommen, »mit dem Ziel, nicht nur die Welt zu interpretieren, sondern durch eine Bewusstseinsänderung die Beziehung zwischen Text und Lesenden und in der Folge zwischen Lesenden und Welt neu zu definieren.«49 Der Versuch einer care-ethischen Lektüre zweier Texte Margaret Atwoods folgt einer theoretischen Einsicht Andreas Hellers und Patrick Schuchters und übt ein Wahrnehmen ein, das (Care-)Beziehungen ins Zentrum der Reflexion stellt, wie in den Ausführungen zum Potenzial einer Care-Ethik ausgeführt wird: »Where a classical ›ethics of justice‹ approach perceives values, norms and specific rules, a ›care ethics‹ approach sees relationships and stories which people are involved in and which lead to concernment and compassion.«50 Im gegenseitigen Aufeinander-Beziehen von ›fiktionaler Literatur und CareEthik steht nicht das Herausarbeiten von Werten, Normen und Prinzipien, die Inspiration für mögliche moralische Entscheidungen sein können, im Mittelpunkt. Die Fiktionalität ermöglicht in dieser Lesart etwas, was auch für die Care-Ethik zentral ist: »The ›solution‹ to a moral problem does not lie in judging on actions on the basis of moral principles, but in intensifying relationships and enhancing empathetic involvement. This allows not only to (a) find new options, which were not clearly discernible before, but also (b) to see and interpret a problem in a new, more plural way. In this approach, committed care would allow and favor ›ethical creativity‹.«51 47 48 49 50 51

Hansen, 2017, S. 308. Ebd., S. 306. Maierhofer, 2007, S. 116. Schuchter/Heller, 2018, S. 54. Ebd., S. 54.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

Die Diskussion der Care-Beziehungen in »The Bad News« und »King Lear in Respite Care« zeigt, dass der Begriff der Ustopie auf derartige Beziehungen im Alter(n) deshalb aufschlussreich ist, weil er es erlaubt, zentrale Spannungsfelder zu analysieren, und gerade darin ist er auch anschlussfähig für care-ethische Interpretationen. Die in diesen Beziehungen dargestellte Relationalität menschlicher Existenz beschränkt sich zwar nicht auf bestimmte Lebensphasen52 , in den dystopischen Beschreibungen des Alter(n)s wird jedoch oft ein gesellschaftlicher Diskurs deutlich, der Alter(n) einseitig mit Katastrophen und Bürde53 verbindet und damit ein Ideal autark-autonomer, gleichmäßig leistungsfähiger Individuen zeichnet. Atwoods Kritik an den Praktiken der Sorge richtet sich daher nicht so sehr an die instrumentellen Qualitäten der Handlungen, sondern an die gesellschaftlichen Gegebenheiten und deren Einfluss auf Care-Beziehungen, und stellt eine Haltung der Achtsamkeit in den Mittelpunkt.54 Die Utopien, die Atwood in ihre dystopischen Darstellungen des Alter(n)s einflicht, stellen damit den Diskurs über Alter(n) und Care und seine normativen Implikationen in Frage. Atwoods Ustopien arbeiten sich an den Komplexitäten ab, die der Einsicht Joan Trontos innewohnt: »In truth, all human beings require care, all the time.«55

Literatur Atwood, Margaret: »King Lear in Respite Care«. Morning in the Burned House. Boston: Houghton Mifflin 1995, S. 85-87. Atwood, Margaret: »The Bad News«. In Moral Disorder and Other Stories. Toronto: Seal Books 2006, S. 1-12. Atwood, Margaret: Dire Cartographies. The Roads to Ustopia – The Handmaid’s Tale and the MaddAddam Trilogy. A Vintage Short Series. New York: Anchor Books 2011. [Kindle-Version]. Atwood, Margaret: Stone Mattress. Nine Wicked Tales. First American Edition, New York: Nan A. Talese/Doubleday 2014.

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Vgl. Visse, 2016, S. 112. Vgl. Kriebernegg, 2018, S. 46. Vgl. Kohlen, 2016, S. 116. Tronto, 2010, S. 163.

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Bourgault, Sophie: »Bedürfnisinterpretation und Fähigkeitenansatz in careethischer Perspektive«, in: Elisabeth Conradi/Frans Vosman (Hg.), Praxis der Achtsamkeit: Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2016, S. 273-296. Chivers, Sally: »›Blind people don’t run‹: Escaping the ›nursing home specter‹ in Children of Nature and Cloudburst«, in: Journal of Aging Studies 34 (2015), S. 134-141. https://doi.org/10.1016/j.jaging.2015.06.001. [Zugegrifffen: 21.11.2020]. Conradi, Elisabeth/Vosman, Frans (Hg.): Praxis der Achtsamkeit. Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2016. DeFalco, Amelia: Imagining Care: Responsibility, Dependency, and Canadian Literature, Toronto: University of Toronto Press 2016. Hankivsky, Olena: »Rethinking Care Ethics: On the Promise and Potential of an Intersectional Analysis«, in: American Political Science Review 108(2) (2014), S. 252-264. https://doi.org/10.1017/S0003055414000094. [Zugegriffen: 21.11.2020]. Hansen, Solveig Lena: »Dystopie und Methode: zur fiktionalen Verhandlung moralischer Überzeugungen in der Bioethik«, in: Ethik in der Medizin 29(4) (2017), S. 306-22. https://doi.org/10.1007/s00481-017-0462-8. Jamieson, Sara: »Mourning in the Burned House: Margaret Atwood and the Modern Elegy«, in: Canadian Poetry (48) (2001), S. 1-23. http://canadianp oetry.org/volumes/vol48/jamieson.html. Kainradl, Anna-Christina/Ulla Kriebernegg: »›They say we messed it up. Killing the planet with our own greed‹: Alternswissenschaftliche Überlegungen zu einem generationengerechten Klimadiskurs in Margaret Atwoods »Torching the Dusties«, in: Limina, 3(1) (2020), S. 166-191. https://doi.org/ 10.25364/17.3:2020.1.8. Kohlen, Helen: »Sorge als Arbeit und Ethik der Sorge – Zwei wissenschaftliche Diskurse«, in: Elisabeth Conradi/Frans Vosman (Hg.), Praxis der Achtsamkeit: Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2016, S. 116-127. Kriebernegg, Ulla: »›Time to go. Fast not slow‹: geronticide and the burden narrative of old age in Margaret Atwood’s ›Torching the Dusties‹«, in: European Journal of English Studies 22, 1 (2018), S. 46-58. https://doi.org/10 .1080/13825577.2018.1427200. Lesch, Walter: »Hermeneutische Ethik/Narrative Ethik«, in: Marcus Düwell (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart: Metzler 2002, S. 231-242.

Bad News? Literarische Care-Beziehungen als Ustopien des Alter(n)s

Maierhofer, Roberta: »Der gefährliche Aufbruch zum Selbst. Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Kultur. Eine Anokritische Einführung«, in: Ursula Pasero/Gertrud Backes/Klaus Schroeter (Hg.), Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion, Wiesbaden: VS 2007, S. 111128. Schuchter, Patrick/Heller, Andreas: »The Care Dialog: The ›Ethics of Care‹ Approach and Its Importance for Clinical Ethics Consultation«, in: Medicine, health care, and philosophy 21(1) (2018), S. 51-62. https://doi.org/10.1007/ s11019-017-9784-z. Schües, Christina: »Ethik und Fürsorge als Beziehungspraxis«, in: Elisabeth Conradi/Frans Vosman (Hg.), Praxis der Achtsamkeit: Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2016, S. 251-271. Snaith, Helen: »Dystopia, gerontology and the writing of Margaret Atwood«, in: Feminist Review 116 (2017), S. 116-132. Tronto, Joan C.: »Creating Caring Institutions: Politics, Plurality, and Purpose«, in: Ethics and Social Welfare 4(2) (2010), S. 158-171. https://doi.org /10.1080/17496535.2010.484259. Tronto, Joan C.: Caring Democracy: Markets, Equality, and Justice, New York: New York Univ. Press 2013. Visse, Merel: »Wessen Verantwortung? Auf dem Weg zu einem dialogischen Begriff«, in: Elisabeth Conradi/Frans Vosman (Hg.), Praxis der Achtsamkeit: Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2016, S. 209-230.

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Konturen kritischer Organisationsethik Thomas Krobath »Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.«1

Andreas Heller verfügt über eine hoch ausgeprägte Gabe der Wahrnehmung von Zerrissenheit und Spannungen. Er schöpft die Kraft seines Denkens in der Auseinandersetzung mit all ihren Phänomenen besonders in der konkreten Reflexion unterschiedlicher praktischer Konstellationen hinsichtlich eines guten Lebens und Arbeitens in Sozial- und Gesundheitssystemen. Sein Denken blüht im Gespräch auf, das seine Lehr- und Beratungssettings kennzeichnet und wird vielen daran Beteiligten zu einer Quelle der Inspiration. Seine Aufmerksamkeit bleibt dabei immer auf kontextuell-konkrete Phänomene, Personen und Erfahrungen gerichtet, ohne diese durch generalisierende Begriffe zu verdecken. Somit ist sein (Mit-)Wirken von einer gesellschaftskritischen Haltung getragen, die sich immer wieder auf die Achtung der Würde von Menschen konzentriert, sich an einer vorrangigen Option für Menschen in vulnerablen Verhältnissen orientiert. Heller spricht unermüdlich Krankheit, Sterben und Tod als Spiegel der Problematik moderner Gesundheitsund Versorgungssysteme an: »Wie verhält es sich mit der Frage nach einem mehr oder weniger ›guten‹ (was auch immer das dann ist) Sterben für alle? Die ›Gretchenfrage‹ an die Politik lautet: Wie hältst du es mit den schwer Kranken und Sterbenden, wie 1

Hegel, 1952, S. 29f.

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geht eine Leistungsgesellschaft mit den von ihrer Leistung her ›Unproduktiven‹ um?«2 In diesen Zusammenhängen betreibt Andreas Heller auch, und wie sich zeigen wird notwendigerweise, organisationsethische Reflexion. Sie ist weder aus den recht heterogenen einschlägigen Diskursen und ihren Theoriesträngen heraus entwickelt worden, noch hat sie eine größere systematischtheoretische Entfaltung gefunden3 . Sie entsteht im Diskurs mit anderen und wird immer wieder kontextbezogen ausdifferenziert, spezifiziert und reformuliert. Seine Reflexionen zu Organisationsethik wollen in Organisationen tätige Subjekte darüber aufklären, wie Organisationen ›ticken‹, um Handlungsspielräume einschätzen zu können und ausweiten zu lernen. Das soll idealerweise in gemeinsamer Reflexion geschehen, für die Räume, Settings und Verfahren kreiert werden, die ethische Reflexion in einer Organisation etablieren können.

»Organisationen kann man nicht küssen« Eine für Andreas Heller bezeichnende Aussage. Oft hat er Teilnehmende an den Lehrgängen für Organisationsethik damit zum Nachdenken provoziert. Die scheinbar triviale Ansage verbirgt hinter der Aufmerksamkeit erregenden erotischen Konnotation einige Quintessenzen an systemischen Einsichten, die Andreas Heller in seinen Lehrveranstaltungen mit anderen geteilt hat. Zur Auseinandersetzung mit Organisationsethik waren teilnehmende Akteur*innen aus Organisationen, vornehmlich des Gesundheits- und Versorgungsbereiches, ungewohnten Abstraktionsleistungen ausgesetzt, z.B. dass ihre Organisationen nicht aus ihnen als Personen bestehen, sondern aus den Kommunikationsleistungen, die sie als relevante Umwelt ›ihrer‹ Organisation zur Verfügung stellen, dass sie als Führungskräfte ›ihre‹ Organisationen nicht unmittelbar direkt steuern können, sondern sich mit Phänomenen systeminterner Verarbeitung von Steuerungsimpulsen befassen müssen, dass sie als engagierte Einzelpersonen strukturelle Defizite auf Dauer nicht kompensieren können.

2 3

Heller/Heller, 2014, S. 21. Ansatzweise z.B. Heller/Krobath, 2010, S. 43-70.

Konturen kritischer Organisationsethik

Der Ausgangspunkt jeden ethischen Nachdenkens in und über Organisationen ist für Andreas Heller, dass Arbeiten in Kontexten von Organisationen und organisationalen Netzwerken deren Systemlogiken unterliegt und sich auf sie einlassen muss, um diese gestalten und weiterentwickeln zu können. Er wollte damit nicht den Eindruck verstärken, die einzelne Person wäre nur »eine Funktion des Getriebes«4 , sondern über die notwendigerweise zu berücksichtigende Differenz von Person und Organisation Spielräume der Freiheit eröffnen: Die Organisation ist nicht alles. Aber psychische und soziale Systeme sind in ihrer Differenz aneinandergekoppelt und beeinflussen sich wechselseitig. Das gehört bei Andreas Heller zum ABC einer Organisationskompetenz. Dahinter kommt auch die systemtheoretisch unmögliche moralische Intention des theologisch studierten Sozialethikers zum Vorschein: Organisationen haben einen dienenden Charakter, der immer wieder in das Getriebensein zurückgeholt werden soll. Über den von Adorno der Vernünftigkeit eines Zweckes kollektiver Selbsterhaltung zugesprochenen Dienstcharakters von Organisationen hinausgehend sieht Heller den konstruktiven Umgang mit der »Unausweichlichkeit der Organisation«5 in deren bewussterer Reflexion, also in Organisationsethik. Selbst die Alternative eines Verleugnens oder ›Bekämpfens‹ der Organisation unterliegt einer in der Organisationsgesellschaft wiederkehrenden anthropologischen Bedingung, wie sie von einem von Heller geschätzten Kollegen und für seine Organisationsethik relevanten Referenzautor formuliert wird: »Je ›freier‹ immer mehr Individuen werden […], umso mehr Organisationen müssen sie schaffen, um die Konfrontation zwischen ›Ich‹ (freies Individuum) und seinem Grundwiderspruch der Gebundenheit zu mildern, abzuwehren oder zu verdrängen«.6 Es geht um das kontextsensitive Ausbalancieren der Organisation zwischen Freiheit und Zwang. Adorno zieht die Möglichkeit kritischer Reflexion auf »ohnmächtige Einzelne« zurück, das »Allgemeine und Vernünftige« könne »beim isolierten Einzelnen besser überwintern als bei den stärkeren Bataillonen«, alles andere sei »Fetischisierung von Kollektivität und Organisation«.7 Dem Ansatz einer Organisationsethik, den Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem heute anders, nämlich in der Mitgestaltung und

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Adorno, 1972 [1953], S. 447. Ebd., S. 446. Götz/Heintel, 2000, S. 49. Adorno, 1972 [1953], S. 455.

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Steuerung von Organisationen als sozialen Systemen, zu prozessieren, könnte Adorno so gesehen nichts abgewinnen: Heller verabschiedet die monologische ethische Reflexion zugunsten einer »kollektiven Autonomie«8 , die sich in »Verständigungssystemen«9 organisiert.

Hellers Ansatz einer kritischen Organisationsethik Die wechselseitige Bedingtheit und Erschließung von personalen und organisationalen Bezügen wurde exemplarisch in einem von Andreas Heller und Kolleg*innen begleiteten Projekt der Diakonie Düsseldorf deutlich herausgearbeitet, in dem es um die Organisation einer an individuellen Bedürfnissen orientierten Kultur des Sterbens ging. »Um die Individualität [des Sterbens] gewährleisten zu können und um einen intimen und persönlichen Rahmen sicher zu stellen, müssen entsprechende organisatorische Rahmenbedingungen dafür hergestellt werden«.10 Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung, dass der Ort des Sterbens sich immer mehr in Organisationen verlagert, muss Individualität bewusst organisiert werden. »Eine Kultur des Sterbens ist eben immer auch eine Organisationskultur des Sterbens«.11 Der Entdeckungszusammenhang des von Heller geprägten Ansatzes einer Organisationsethik war die in der Organisationsberatung gewonnene Einsicht, dass ein menschenwürdiges Sterben nicht nur mit kompetenter Begleitung zu tun hat, sondern auch mit dem Organisationskontext, in dem Sterben stattfindet. Der von der Organisation intendierte Dienst an Menschen erfordert auch einen Dienst an der Organisation, also an den organisationalen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten. Organisationsethik in diesem Sinne »entsteht nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte der Entscheidung«.12 Es ist schon deutlich geworden, dass Hellers organisationsethisches Denken keiner abgehobenen akademischen Tätigkeit entspringt, sondern sich der Begegnung mit Betroffenen in Organisationen verdankt und der von ihm selbst gestellten ›Gret-

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Heintel, 2007. Jonas, 2005, S. 58. Heimerl et al., 2007, S. 62. Ebd., S. 33. Anselm, 2004, S. 173.

Konturen kritischer Organisationsethik

chenfrage‹ (siehe oben) stellt. Moralische Grundannahmen und Optionen sind nicht zu verleugnen, sondern im Sinne einer »emphatischen Reflexion«13 bewusst und selbstkritisch aufzugreifen. Organisationsentwicklung als junges Feld beraterischer und akademischer Praxis ist von seinen Ursprüngen her als »ein humanistisches Projekt«14 zu verstehen. Ein prominenter Vertreter der Organisationsethik drückt seine Überzeugung so aus: »I believe that when we enter organizations as managers, workers, or volunteers, we assume the ethical burden of making them better places«.15 Das organisationsethische Lernen von Andreas Heller war institutionell an der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Universität Klagenfurt angesiedelt.16 Der Titel war Programm, entlang gesellschaftlicher virulenter Themenbereiche wurden spezifische Fragen in interdisziplinärem Zuschnitt und mit transdisziplinären Projekten erforscht und die als Projektpartner involvierten Organisationen beraterisch begleitet. In der IFF-Abteilung Palliative Care und Organisationsethik arbeitete das Team um Andreas Heller an Themen rund um die Behandlung, Betreuung und Begleitung chronisch kranker und sterbender Menschen als eines der anspruchsvollsten Versorgungsprobleme moderner Gesellschaften. Der in der IFF verankerte gruppendynamisch orientierte Zugang zu Organisationsentwicklung, die über Beratungsprojekte sich herauskristallisierende interventionsorientierte Sozial- und Organisationsforschung sowie die diese verbindende Prozessethik prägten ein spezifisches Verständnis von Organisationsethik als zu organisierender Reflexion organisationsrelevanter moralischer Fragen. In expliziter Benennung bahnte es sich an der IFF mit einem ersten Sammelband 200317 an, der aus kollegialer Reflexion sich in Projektkontexten ergebender Fragestellungen hervorgegangen ist. Die inhaltliche Ausarbeitung einer Organisationsethik wird jedoch erst möglich, wenn der Diskursrahmen

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Girschner, 1990, S. 178. Grossmann, 2010, S. 247f. Heller bezeichnet Organisationsethik als »eine Realisierungsmöglichkeit der weitergehenden Humanisierung und Demokratisierung unserer Arbeits- und Lebenskontexte« (Heller/Krobath, 2010, S. 67). Johnson, 2016, S. xxi. Dazu besonders auch Lozano, 2000, S. 12-16. Die IFF wurde 2018 aufgelöst. Damit wurde eine der spannendsten und innovativsten Entwicklungen der österreichischen Wissenschaftsorganisation der letzten 40 Jahre einer der IFF diametral entgegenstehenden universitären Systemlogik geopfert. Zur Entwicklung der IFF siehe Arnold, 2009. Heller/Krobath, 2003.

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ausgeweitet und die Vielfalt der Perspektiven aus unterschiedlichen theoretischen Zugängen, aus divergierenden Reflexionskontexten und verschiedensten Praktiken der Ethikkommunikation in diversen Organisationen aufeinander bezogen werden. Das 2010 erschienene »Handbuch der Organisationsethik«18 bot eine inter- und transdisziplinär angelegte Zwischenbilanz zu einem Perspektivenwechsel, der 1. von einer traditionell überwiegenden Individualethik zu neuen Formen kollektiver ethischer Kommunikation und Entscheidung führt; 2. im Unterschied zur Delegation moralischer Fragen und ethischer Probleme an Expert*innen der Ethik die Implikationen einer kollektiven Autonomie konzeptionell ernst nimmt: ethische Entscheidung beruht auf Partizipation der Betroffenen; 3. ethische Reflexions- und Entscheidungsprozesse mit den kontextuellen Gegebenheiten und den Rahmenbedingungen der Organisationen rückkoppelt, in denen sie stattfinden bzw. sie in diese einbettet. Aus der Einsicht in den organisationalen Charakter von Ethik erwächst ein neues Verständnis von Ethik im Rahmen von Organisationen, ein neuer Begriff von Organisationsethik.

Das Augenmerk dieser sich von und mit Andreas Heller konturierenden praktischen Organisationsethik liegt darauf, immer wieder die Frage danach zu stellen, wer betroffen ist, wer das Recht hat, zu entscheiden, und wer in welcher Form zu beteiligen ist. Die Kunst einer solchen Organisationsethik besteht darin, immer wieder neue Settings zu kreieren, um Betroffene und Beteiligte in ethische Gespräche und Entscheidungsprozesse einzubinden. Die Aufgabe der Organisationsethik ist es, einzelne moralische Fragen und Aspekte immer wieder mit den organisationsethischen Kernfragen in Beziehung zu setzen, in den Perspektiven der in einer Organisation existierenden Teilethiken (Berufsethiken, Grundwidersprüche, normative Ansprüche) zu reflektieren und in die normative Ausrichtung der Organisation zu integrieren bzw. den normativen Rahmen der Erschütterung und Revision durch neue Fragen auszusetzen (Systemtranszendenz).

18

Krobath/Heller, 2010. In den weiteren Jahren wurde der Perspektivenwechsel beispielsweise in Richtung einer organisationsethisch reflektierten Care-Ethik (Schuchter/Heller, 2018.) oder einer Organisationsethik der Sorge weiter entwickelt (Schuchter et al. 2020).

Konturen kritischer Organisationsethik

Der kritische Charakter dieses Ansatzes hat seine theoretische Basis in einem philosophisch grundgelegten und konsequent organisational umgesetzten Verständnis von Reflexion, wie es in der auch an der IFF ausformulierten Prozessethik grundgelegt wird.

Der prozessethische Zugang Krainer und Heintel entwickeln ihren prozessethischen Denkansatz aus dem Ineinandergreifen der drei zentralen Begriffe ihrer anthropologischen Grundlegung: Differenz, Reflexion und Prozess. Sie begründen diese Begriffe in der Reflexion auf die Grundlagen einer Ethik in einer Zeit, in der normative Vorgaben nicht mehr allgemeingültig institutionalisiert sind. Ist der Mensch selbst das Maß aller Dinge? Nur, wenn es gelingt, die Differenz von Allgemeinem und Konkreten im Menschen zusammen zu denken. Der Mensch wird damit, vorgängig aller positiven Wesensbestimmungen, zum Differenzwesen: »Es ist ein Begriff für einen Widerspruch, den jeder Mensch und jedes Kollektiv selbständig prozessiert«.19 Diese Differenz muss zu sich kommen, als Selbstbewusstsein erfahren und begriffen werden, das setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus. Das Differenzwesen Mensch vollzieht sich selbst im praktischen, zweckrationalen Denken und erfasst sich im selbstreflexiven Denken, indem es seinem Widerspruch, seiner Differenz nachdenkt. Das Differenzwesen kann aber seine Widersprüchlichkeit nicht auflösen oder endgültig aufheben, die Reflexion führt in einen permanenten Prozess.20 Die zu sich selbst gekommene Differenz wurde als Selbstdifferenz aufs Engste mit dem Gewissen verbunden, das als Ort der Moral anerkannt ist. In der Trennung von Moralität (Individuum) und Legalität (Staat) wird aber eine weitere Differenz vereinseitigt: die zwischen dem Menschen als Individuum und als Sozialwesen. Das Individuum wird als »Sozialabstraktion«21 gesehen, es ist allein nicht überlebensfähig. Hinsichtlich der sich deshalb etablierenden Formen der Vergemeinschaftung mangelt es der Moralität, im Vergleich etwa zum Recht, an etablierten Prozessen der kollektiven Reflexion.

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Krainer/Heintel, 2010, S. 62. Berger, 1998, S. 203. Krainer/Heintel, 2010, S. 34.

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Ein weiterer Grund für die Problematik der als Errungenschaft unaufgebbaren individuellen Gewissensautonomie als moralische Letztinstanz für Selbstreflexion besteht unter der Last der Fragen und Entscheidungen heute in einer überfordernden »Autonomiezumutung«22 . Viele Fragen können aufgrund ihrer Komplexität von Einzelnen gar nicht mehr im ethischen Gesamtzusammenhang entschieden werden.23 Und zur Organisation von Differenz in einem sozialen System ist das einzelne Individuum nicht in der Lage, da es jeder anderen Konstellation von der Gruppe bis zur Organisation unterlegen ist. Es braucht Partner und Verbündete. Individuelle Autonomie sei zwar ein richtiger Anfangsmoment ethischer Reflexion, aber »gegenüber Systemen wird sie wirkungslos. Hier ist kollektive Autonomie gefragt, gemeinsam organisierte Selbstdifferenz«24 . In Organisationen bedarf es einer »doppelten Differenz«.25 Um die Praxis der Alltagsroutine zu verlassen, bedarf es zunächst der gemeinsamen Anstrengung, eine Differenzebene herzustellen. Auf dieser muss dann in einem zweiten Schritt eine kollektive Distanz zur Alltagspraxis gesucht werden. Diese zweite Differenz besteht in der Verständigung auf eine gemeinsame Sichtweise der Probleme und Aufgaben: Worum geht es hier? Was in der Diskursethik von Habermas noch abstrakt als »ideale Sprechsituation«26 postuliert wird, fängt in der Prozessethik dort an, wo im System zunächst mal ein Unterschied zur Alltagsroutine gemacht wird: Unterbrechung, Entschleunigung. »Im selbstreflexiven Akt der Praxisdistanzierung ist immer die Frage nach dem Guten versteckt«27 . Prozessethik wird somit beschrieben als »organisiertes Differenzgeschehen, immer darauf bedacht, die Freiheit, das Wollen-Können aus ihren Selbstobjektivierungen wieder zurückzuholen«.28 Die prozessethisch-konzeptionellen Weichenstellungen bewirken eine Radikalisierung des Verständnisses von Organisationsethik.29

22 23 24 25 26 27 28 29

Heintel, 2003, S. 36. Krainer/Heintel, 2010, S. 210. Heintel, 1999, S. 75-76. Krainer/Heintel, 2010, S. 68. Habermas, 1984 [1973], S. 179-181. Heintel, 2003, S. 37. Krainer/Heintel, 2010, S. 58. Eine philosophisch radikalisierte Organisationsethik kann ähnlich wie durch die Prozessethik auch durch zwei weitere, im Kontext der IFF noch nicht rezipierten Ansätze, bereichert werden: Durch die Transformation von business ethics in organisationale Lernprozesse durch den spanischen Wirtschaftsphilosophen Lozano (Lozano, a.a.O.), die in einen eigenständigen Ansatz von Organisationsethik mündet, sowie durch die

Konturen kritischer Organisationsethik

Ethische Reflexion organisieren Organisationsethik eines herkömmlichen Typs ist von managerialen Traditionen ihrer Herkunft aus den »business ethics« geprägt.30 In einem etwas verkürzenden Überblick kann man sie nach Compliance-Ansätzen einer Ethik der Regelbefolgung und Integrity-Ansätzen des Einbeziehens normativer Reflexion und gesellschaftlicher Mitverantwortung unterscheiden.31 Compliance-Ansätze sind weniger auf die Lern- und Entwicklungsfähigkeit von Organisationen ausgerichtet. Sie widmen sich aus einer Managementperspektive vor allem ethischen Richtlinien einer Organisation. Sie klären Fragen der Ethik in einer Organisation, im Gesundheitsbereich z.B. mit der Einrichtung von Ethikkomitees, die moralische Fragen über Delegation prozeduralisieren und sich inhaltlich auf den Bereich klinischer Ethik beschränken. Dominante Modelle klinischer Ethik mit organisationsethischem Anspruch beruhen auf unzureichenden Vorstellungen über Komplexitäten und Differenzen von Organisationen. Sie bekommen den organisationalen Charakter ethischer Reflexion, die in Organisationen etwas bewirken können soll, konzeptionell nicht in den Blick.32 Welche Art Prozesse braucht eine Organisationsethik, um sich von den Prämissen managerialer Ethikmodelle zu lösen? Im Sinne der Prozessethik als ein systemisches Differenzgeschehen muss die Frage nach der Ethik der Organisation in die Frage nach der Organisation der Ethik33 umgedreht bzw. um diese erweitert werden. ›Organisationsethik‹ gewinnt über diese Doppelperspektive eine eigenständige Konzeption innerhalb der vielfältigen Diskurse um Organisationsethik, bereichert diese vor allem um die Perspektive der ›Organisation von Ethik‹. Die Rede von einer ›Organisation der Ethik‹ mag sperrig und abschreckend klingen, wenn auf diese Weise eine Reglementierung und Verwaltung ethischer Fragen und Themen und eine damit schnell zu assoziierende Domestizierung und Instrumentalisierung von Ethik beabsichtigt würde. Die Erfahrung aus der Begleitung ›organisationsethischer‹ Projekte zeigt, dass gängige Ethiksysteme in Organisationen nicht mehr ausreichen,

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ethische Grundlegung normativen Organisationslernens in der Organisationspädagogik von Geißler (Geißler, 2000). Vgl. Krobath, S. 468ff. Thielemann, 2005. Siehe dazu Schuchter et al., 2020, S. 4. Krobath/Heller, 2010a, S. 12-39. Heintel, 2010.

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um z.B. neue Spannungsfelder (z.B. Ökonomie und Ethos der Einrichtung) und Wertorientierungsansprüche zu bearbeiten. Die Frage nach der Ethik von Organisationen, Institutionen und Unternehmen kann somit nicht von der Frage nach der ›Organisation der Ethik‹, also der Art und Weise der Gestaltung ethisch relevanter Maßnahmen und eines ethischen Reflexionsrahmens, getrennt werden. Das Augenmerk einer Organisationsethik liegt gerade auf der wechselseitigen Bezogenheit beider Aspekte. Dies erfordert neue Organisationsformen ethischer Verständigung, oft in und durch Organisationen oder auch kommunal zwischen ihnen. Kollektive, bereichs- und professionsübergreifende ethische Selbstreflexion braucht eigene Organisationsformen. Verfahren und Prozeduren müssen definiert und vereinbart werden. Eine solcherart prozedural und selbstreflexiv ansetzende Organisationsethik ist von der Einsicht getragen, dass es Zeiten und Orte der Unterbrechung braucht, des Innehaltens, der kollektiven Nachdenklichkeit, der Selbstverständigung unter Beteiligung der Betroffenen. Wie, durch wen und woraufhin werden Entscheidungen in Organisationen getroffen? Was wird entschieden? Wie kommt es zu partizipativ abgesicherten und nachhaltig wirksamen Entscheidungen? Welche Spannungen und Widersprüche sind zu balancieren? Ethische Reflexion wird zur Systemreflexion, die als organisierte kollektive Reflexion die Gestalt sozialer Subsysteme annimmt und somit zur ethisch gesehen notwendigen »Systemdifferenz«34 wird. Sie erschließt Perspektiven, die in der routinegeleiteten Eigengesetzlichkeit einer Organisation nicht erfasst werden und eröffnet darin neue Horizonte. Organisationsethik geht über eine Optimierung funktionaler Leistungen der Organisation hinaus. Keine Organisation kommt mehr um die Frage herum: Halten wir das, was wir tun, auch für gut – für uns und für andere, für heute und für morgen? Das neue Verständnis von Organisationsethik als zu organisierender Reflexion organisationsrelevanter moralischer Fragen beruht auf der grundlegenden Annahme, dass es in der Organisation ethische Reflexion als integralen Bestandteil der darin stattfindenden Arbeit braucht und dass diese nur stattfindet, wenn sie organisiert wird. Selbstreflexion in der Organisation am Ort einer mit bedingter Autonomie versehenen Sozialform organisationaler Selbstdifferenz führt zu einer systemimmanenten Position oder Instanz, durch die die Möglichkeit der Frage nach dem Guten auch als Anfrage an die

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Zu diesem Begriff siehe Berger/Heintel, 1998, S. 23.

Konturen kritischer Organisationsethik

eigene Organisation, als ihrer Infragestellung eröffnet35 und sie zugleich zu einer in der Organisation zulässigen Reflexion macht. Die bewusste Auseinandersetzung mit moralisch-ethischen Fragen und Konflikten dient nicht nur der Qualitätsverbesserung von funktionalen Leistungen der Organisation im Einzelnen, die für sich schon enorme Auswirkungen hinsichtlich der Verbesserung der Lebensumstände von Betroffenen zeitigen kann. Sie zielt darauf, die Ausrichtung am Dienstcharakter von Organisationen für die von ihren Leistungen Betroffenen grundsätzlich in die Entwicklungsprozesse und Entscheidungsstrukturen der Organisationen zu integrieren. Insofern geht es um die Organisation der Selbstreflexion einer Organisation. Als kritische Organisationsethik reflektiert sie auch die Dialektik der Organisation von Ethik und setzt sich zu ihrer eigenen Systemwerdung in Differenz. Sie bezieht die Frage »Ist es gut so, wie wir es uns eingerichtet haben, für uns und für andere?« auch auf die Formen und Praktiken organisierter, ethischer Reflexion. Die Frage nach dem Guten braucht als ethische Frage immer die reflexive und strukturelle Differenz zur Funktionslogik jeder Organisation, um das grundsätzliche Angewiesensein auf Systemtranszendenz nicht der Optimierung von Organisationsprozessen im Sinne ihrer jeweiligen Systemlogik unterzuordnen. Als ständig bleibende Anfrage nach ihrem eigenen Sinn setzt die Organisation der Ethik auch eine Differenz zu ihrer notwendigen Systemintegration.

Kritische Organisationsethik Organisationsethik ist keine normativ ausgearbeitete Theorie und kein einzigartiges Model. Es ist ein Nachdenken, das sich dem »ethischen Problemstau«36 einer einseitig rationalisierten Organisationsgesellschaft verdankt, dieses Nachdenken partizipativ an den Orten konkreter Herausforderungen organisiert und die betreffenden Systemlogiken in die Reflexion einbezieht. Jede Organisation muss sich ihren eigenen Weg des kontextuell passenden organisationsethischen Prozesses suchen und darin mit auftretenden Widersprüchen und Konflikten umgehen.37 Der von Andreas Heller mitgeprägte 35 36 37

Vgl. Krainer, 2001, S. 235. Geißler, 2000, S. 7. Dazu Krainer, 2010, S. 584-603. Lozano, 2003.

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organisationsethische Ansatz besteht darin, dass er grundsätzliche Fragen der ethischen Voraussetzungen und der praktischen Organisation ethischer Reflexionsprozesse in und zwischen Organisationen und Netzwerken für weitergehende Klärungen bearbeitet. Ethisch radikal ist jegliche Organisationsmoral und Funktionslogik auf die Frage nach dem Guten, verstanden als »prozessbezogene regulative Idee«38 , hin zu überschreiten. Und das nicht vom ethischen Lehrstuhl aus, sondern in einem praktischen Nachdenken in einer Organisation, die sich darüber zu sich selbst in Differenz begibt. Die daraus zu entwickelnden Kriterien und Modelle der Prozessgestaltung39 stellen Unterstützungsangebote für die Begleitung organisationsethischer Prozesse dar. Sie sollen anschlussfähig an vorhandene Settings der Kommunikation und Reflexion sein und Anregungen für organisationsspezifische Prozessdesigns geben. Die philosophische Grundierung der Organisationsethik erweist sich in der permanenten Fokussierung des Reflexionscharakters ihres Unterfangens, der sie zur Differenzsetzung zu bereits getroffenen Festlegungen, Wertsetzungen und Entscheidungen nötigt. Ihre organisationale Ausrichtung besteht in der immer wieder neuen Übersetzung philosophischer Grundannahmen und Einsichten in Gestaltungselemente realer Reflexionsprozesse. Ihr wissenschaftlicher Charakter bedingt deren empirische Erforschung und normative Überprüfung vor allem hinsichtlich der Übereinstimmung von Formen und Inhalten der Prozesse. Ihre demokratiepolitische Relevanz realisiert sich in der Organisation bedingter Autonomie organisationaler Reflexionsarrangements und der zu sichernden Teilhabe der jeweils Betroffenen, womit sie zu einer »reflektierten Form von Machtverhältnissen«40 in hierarchischen Strukturen führen kann. Das macht sie zu einer kritischen und praktischen Organisationswissenschaft mit dem Ziel jeweils neu einzurichtender Systemdifferenz in einer Organisation.

Literatur Adorno, Theodor W.: »Individuum und Organisation«, in: Ders., Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M. Suhrkamp 1972 [1953], S. 440-456, 447. 38 39 40

Berger/Heintel, 1998, S. 252. Siehe dazu z.B. Heller/Krobath, 2010; Krobath, 2010. Schuchter/Heller, 2018. Berger, 2010, S. 607.

Konturen kritischer Organisationsethik

Anselm, Reiner: »Ethik als theologische Dienstleistung der Diakonie in der Gesellschaft«, in: Michael Schibilsky/Renate Zitt (Hg.), Theologie und Diakonie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004, S. 169-176. Arnold, Markus (Hg.): iff. Interdisziplinäre Wissenschaft im Wandel, Wien: LIT Verlag 2009. Berger, Wilhelm/Heintel, Peter: Die Organisation der Philosophen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 203. Berger, Wilhelm: »Ethik als Machtprozess«, in: Thomas Krobath/Andreas Heller (Hg.), Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus 2010, S. 604-616. Geißler, Harald: Organisationspädagogik, München: Franz Vahlen 2000. Girschner, Walter: Theorie sozialer Organisationen. Eine Einführung in Funktionen und Perspektiven von Arbeit und Organisation in der gesellschaftlich-ökologischen Krise, Weinheim-München: Juventa 1990, S. 178. Götz, Klaus/Heintel, Peter: »Organisationen als Freiraum und Zwang«, in: Gruppendynamik und Organisationsberatung 31(1) (2000), S. 43-54. Grossmann, Ralph: »Ethik der Veränderung von Organisationen«, in: Thomas Krobath/Andreas Heller (Hg.), Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus-Verlag 2010, S. 244-256. Habermas, Jürgen: »Wahrheitstheorien«, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1984 [1973], S 127-183. Hegel, Georg W.F.: Die Phänomenologie des Geistes (=Philosophie Bibliothek, Band 114), Hamburg: Felix Meiner Verlag 1952. Heimerl, Katharina/Heller, Andreas/Zepke, Georg/Zimmermann-Seitz, Hildegund: »Individualität organisieren. Organisationskultur des Sterbens«, in: Andreas Heller/Katharina Heimerl/Stein Husebo (Hg.), Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Wie alte Menschen würdig sterben können [3. Aktualisierte und erweiterte Aufl.], Freiburg i.Br.: Lambertus 2007, S. 31-65. Heintel, Peter: »Organisation der Ethik«, in: Thomas Krobath/Andreas Heller (Hg.), Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus 2010, S. 453-483. Heintel, Peter: »Supervision und ihr ethischer Auftrag«, in: supervision 1 (2003), S. 32-39. Heintel, Peter: »Supervision und Prozessethik«, in: supervision 4 (2007), S. 3547.

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Heintel, Peter: »Wissenschaftsethik als rationaler Prozess«, in: Konrad Paul Liessmann/Gerhard Weinberger (Hg.), Perspektive Europa. Modelle für das 21.Jahrhundert, Wien: Verlag Sonderzahl 1999, S. 57-81. Heller, Andreas/Krobath, Thomas (Hg.): OrganisationsEthik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Freiburg i.Br.: Lambertus 2003. Heller, Andreas/Krobath, Thomas: »Organisationsethik – eine kleine Epistemologie«, in: Dies., Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus-Verlag 2010, S. 43-70. Heller, Birgit/Heller, Andreas: Spiritualität und Spiritual Care: Orientierungen und Impulse, Bern: Hogrefe 2014, S. 21. Johnson, Craig E.: Organizational Ethics. A Practical Approach. Thousand Oaks: Sage Publications (Third Edition) 2016, S. xxi. Jonas, Hans: Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend (Hg. von Dietrich Böhler), Münster: LIT-Verlag 2005, S. 58. Krainer, Larissa/Heintel, Peter: Prozessethik. Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse, Wiesbaden: VS 2010, S. 62. Krainer, Larissa: »Prozessethik als Widerspruchsmanagement«, in: Thomas Krobath/Andreas Heller (Hg.), Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus 2010, S. 584-603. Krainer, Larissa: Medien und Ethik. Zur Organisation medienethischer Entscheidungsprozesse, München: KoPäd Verlag 2001, S. 235. Krobath, Thomas/Heller, Andreas (Hg.): Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus 2010. Krobath, Thomas/Heller, Andreas: »Ethische Naivität durch Organisation der Ethik überwinden«, in: Wolfgang Heinemann/Giovanni Maio (Hg.), Ethik in Strukturen bringen. Denkanstöße zur Ethikberatung im Gesundheitswesen, Freiburg i.Br.: Herder 2010a, S. 12-39. Krobath, Thomas: »Organisationsethik als Gegenstand der Organisationspädagogik«, in: Michael Göhlich/Andreas Schröer/Susanne Maria Weber (Hg.), Handbuch Organisationspädagogik, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 467-477. Krobath, Thomas: »Zur Organisation ethischer Reflexion in Organisationen«, in: Thomas Krobath/Andreas Heller, Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus 2010, S. 543-583. Lozano, Josep M.: »An Approach to Organizational Ethics«, in: Ethical Perspectives 10 (2003), 1, S. 46-65.

Konturen kritischer Organisationsethik

Lozano, Josep M.: Ethics and organizations. Understanding business ethics as a learning process, Dordrecht: Kluwer 2000, S. 12-16. Schuchter Patrick/Krobath, Thomas/Heller, Andreas/Schmidt, Thomas: »Organisationsethik. Impulse für die Weiterentwicklung der Ethik im Gesundheitssystem«, in: Ethik in der Medizin 32 (2020), https://doi.org/10. 1007/s00481-020-00600-3. Schuchter, Patrick/Heller, Andreas: »The Care Dialog. The ›ethics of care‹ approach and its importance for clinical ethics consultation«, in: Medicine, Health Care and Philosophy 21 (2018), 1, S. 51-62 Thielemann, Ulrich: »Compliance und Integrity. Zwei Seiten ethisch integrierter Unternehmensführung«, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 1 (2005), S 31-45.

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Organisation der Sorge Organisationsethik als Anfrage zur Mixtur von Sorge und Versorgung Thomas Schmidt

Hinter der Frage nach den Horizonten der Sorge steckt für mich persönlich die Grundfrage, in welcher Gesellschaft meine Enkel künftig leben werden1 : in einer Welt wachsender Gewalt oder zunehmender Achtsamkeit? Kämpfen oder mitfühlen, was bleibt am Ende? Und woraufhin wollen wir Zukunft denken? Ist der Mensch des Menschen Wolf, dann geht es bestenfalls um die Begrenzung von Gewalt. Oder ist der Mensch Hüter seiner Geschwister, dann geht es auch um Grenzen – aber um Grenzen der Erreichbarkeit dieses Anspruchs. Das ist keine empirische Frage, die sich rasch mit einem resignierten Blick auf die Tagesschau beantworten ließe. Das ist eine existentielle Frage. Worauf wollen wir hoffen?

Sorge-Ethik als Reflexion einer Praxis der Achtsamkeit Auch das gehört für mich zur Faszination der Sorge-Ethik. Sie hat sich in dieser existentiellen Frage längst entschieden: Zuwenden statt Wegsehen! So lautet ihre Parole. Entsprechend sucht sie nach ›Kriterien des Gelingens‹ für eine solche Praxis der Achtsamkeit. Sorge-Ethik, so formulieren es Conradi

1

Ich widme diesen Beitrag meinen Enkeln Emil und Oskar, auf dass sie sich gegenseitig darin bestärken, Hüter ihres Bruders zu sein, falls die Welt der Achtsamkeit auch noch auf sich warten lässt, wenn sie dies lesen können. Und ich danke Andreas Heller für seine Freundschaft und nicht zuletzt auch dafür, dass er mich seit 1999 beharrlich an das Wichtigste erinnert, was achtsame Organisationsberatung braucht: Herzenswärme, Zivilcourage und Ambiguitätstoleranz.

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Thomas Schmidt

und Vosman, »reflektiert, wie Interaktionen alltäglicher Sorge zwischen Individuen« gelingen und spürt dazu »Veränderungspotentiale in deren Lebenspraxis auf«. Dazu gehört aber eben auch die Achtsamkeit für »organisatorisch-institutionelle, strukturelle und politische Rahmenbedingungen sozialer Interaktion«2 . Care-Beziehungen lassen sich also nicht auf Interaktionen beschränken und erst recht nicht ausschließlich auf eine spezifische Haltung. Es geht ebenso um die Bedingungen des Durchhaltens in einer von Organisationen geprägten Gesellschaft. Ich möchte diese Ebenen-Unterscheidung mit Joan Tronto noch etwas zuspitzen. Es geht um alles, »was wir tun, um unsere ›Welt‹ zu erhalten, ihren Fortbestand zu sichern und sie zu bewahren, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können. Diese Welt umfasst unsere Körper, unser Selbst und unsere Umwelt, all das, was wir in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz zu verflechten versuchen«.3

Drei Fragezeichen Es geht also, systemtheoretisch formuliert, um Sorge-Kulturen in Interaktionen, Organisationen und in Netzwerken. Es wird hilfreich sein, diese unterschiedlichen Systemlogiken zu unterscheiden und dann wieder ihre Verflechtungen in den Blick zu nehmen. Daraus ergeben sich aus meiner Sicht drei Fragezeichen: Wie können wir Beziehungssorge, Organisationssorge und Netzwerksorge zusammenbringen, um in dieser Welt »so gut wie möglich« zusammenzuleben? Sicherlich geht das nur mit einem gerechteren Zugang zur Macht. Deshalb frage ich nach Macht und Machtmissbrauch in persönlichen und in organisierten Beziehungen, nach Asymmetrien und nach Entscheidungsqualität und komme am Ende zur Frage nach dem Risiko der Verantwortungsdiffusion auch in Netzwerken der Sorge.

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Conradi/Vosmann, 2016, S. 14, 19. Vgl. dazu bereits Conradi, 2001. Tronto, 1993, S. 103: »On the most general level, we suggest that caring be viewed as a species activity that includes everything that we do to maintain, continue, and repair our ›world‹ so that we can live in it as well as possible. That world includes our bodies, our selves, and our environment, all of which we seek to interweave in a complex, lifesustaining web.«

Organisation der Sorge

1. Beziehungssorge Feministisch inspirierte Sorgeökonomie hat in den letzten Jahren damit begonnen, unser kapitalistisches Wirtschaftssystem grundlegend zu hinterfragen und seine Voraussetzungen aufzudecken. Die neoliberale Wirtschaft geht bislang fraglos und schamlos davon aus, dass sie Leistungen unbezahlter und unterbezahlter Sorgearbeit in ihre Profitberechnungen ebenso einkalkulieren kann wie den Raubbau an der Natur. Ich folge hier Ulrike Knobloch: Dringender denn je brauche es Um-Care, eine Rückbesinnung auf die dienende Funktion der Wirtschaft, damit wir nicht stillschweigend zusehen, wie Effizienz und Gewinnmaximierung verabsolutiert und dadurch unsere Existenzgrundlagen ruiniert werden. Care statt Crash!4 Auch das ist eine Machtfrage, die nur Chancen auf Veränderung hat, wenn Asymmetrien offengelegt werden. Wir haben uns leider längst gewöhnt an die sedierenden SymmetrieIllusionen des Marktmodells: Das sorgenfreie Gleichgewicht der Tauschverhältnisse prägt die Selbstdarstellungen der Wirtschaft. Ihre asymmetrischen Voraussetzungen fallen im Neoliberalismus gerne unter den Tisch. Sorgebeziehungen sind aber selten symmetrisch. Sie beginnen mit der Differenz zwischen bedürftig sein und besorgt sein. Maren Jochimsen geht in ihrer Studie Careful Economics5 von drei Asymmetrie-Formen aus, der existentiellen, der machtförmigen und der motivationalen: Auch hier geht es um die Trias von Beziehung, Organisation und Netzwerk. Ich möchte mit der existentiellen Asymmetrie beginnen und sie mit Levinas noch radikaler verstehen als »Bruch mit der Gleichgültigkeit«6 . Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas hat sein Denken an dieser Asymmetrie von Beziehungen ausgerichtet, an der Nacktheit und Verletzlichkeit jedes Menschen – und an Begegnungen, die an dieser Asymmetrie dramatisch scheitern.7 Was Nicht-Begegnung und Verlust bedeuten, hat er am eigenen Leib erleiden müssen. Seine gesamte Familie ist in Litauen dem Terror der Nazis zum Opfer gefallen. Er selbst war fünf Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft und hat danach nie wieder deutschen Boden betreten. Levinas spricht vom Antlitz, das zu uns spricht. Das Gesicht wird für ihn zur Metapher des Entblößtseins, der Nacktheit und der Verletzlichkeit. »Das

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Knobloch, 2018; vgl. dazu auch Knobloch, 2013. Jochimsen, 2003, S. 85ff. Levinas, 1995, S. 8. Levinas, 2005.

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Verhältnis zwischen mir und dem Anderen ist kein Wissen, kein Erkennen des Anderen, sondern geht von seiner Schwäche aus. Es besteht darin, von seinem Dem-Tod-Ausgesetzt-Sein berührt zu sein.«8 Wenn es zu einer wirklichen Begegnung kommt, stehe ich immer vor der existentiellen Entscheidung zwischen Gewalt und Verantwortung. Levinas zitiert Dostojewski: »Wir sind alle verantwortlich für alles und alle, und ich noch mehr als alle anderen.«9 »Die Begegnung mit dem Anderen ist von Anfang an Verantwortung für ihn.«10 Wenn es sich denn um eine wirkliche Begegnung handelt, auf die ich mich tatsächlich einlasse. »Eine der wichtigsten Sachen überhaupt«, so Levinas, »ist für mich diese Asymmetrie und diese Formel: Alle Menschen sind füreinander verantwortlich, und ich mehr als alle anderen.«11 Diese Begegnung, eine solche Sozialität kommt für ihn vor jeder Individualität. Der Mensch wird nicht wie bei Buber gleichsam automatisch am Du zum Ich. Es ist erst die Erfahrung der Asymmetrie, der nicht ausgenutzten Verletzlichkeit, die mich zum Ich werden lässt. Oder eben zum Monster meiner verpassten Möglichkeiten. Nochmals Levinas: »Ich, nicht-auswechselbar, ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin.«12 »Verantwortung, die Sie an jemanden abtreten, ist keine Verantwortung mehr.«13 Menschlichkeit liegt nicht im Können, auch nicht zuvörderst in der Freiheit, sondern im Sichverantwortlich-Zeigen. Allerdings sieht Levinas in der Begegnung mit dem Anderen nicht nur das Erwachen zur Menschlichkeit, sondern auch den Grund tiefster Ernüchterung: »Es ist klar, dass es im Menschen die Fähigkeit gibt, nicht zum Anderen hin zu erwachen; es gibt die Fähigkeit zum Bösen. […] Doch das Menschliche besteht darin, zu handeln, ohne sich von jenen bedrohlichen Möglichkeiten irritieren zu lassen. Das Erwachen zum Menschlichen ist genau das.«14 Radikaler kann man Sozialität wohl nicht denken. Es ist die Asymmetrie, die mich verpflichtet, und nicht die bequeme Erwartung eines Ausgleichs. Wo Symmetrie oder Reziprozität ins Spiel kommen, geht es bereits um Anderes

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Ebd., S. 18. Levinas, 1995, S. 134. Ebd., S. 132. Ebd., S. 137. Levinas, 1996, S. 78. Levinas, 1995, S. 138. Ebd., S. 145f.

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als den Anderen, letztlich um Politik und damit um Macht. Levinas hält dagegen: »Der Mensch erschließt sich nur einer Beziehung, die nicht Macht ist.«15 »Man ist niemals ›quitt‹.«16 »Niemand kann in irgendeinem Moment sagen: ich habe all meine Pflicht getan. Außer dem Heuchler…«.17 Entgegen allem Augenschein hält Levinas am Vorrang der Begegnung, der Beziehung in Verletzlichkeit fest. Aber es gibt eben auch für ihn mehr als nur diese vorrangige Begegnung. Es gibt darüber hinaus die Begegnung mit Dritten, und deshalb stellen sich schließlich auch Fragen der Bewertung, der Gerechtigkeit, der Ordnung. »Gäbe es keine Ordnung der Gerechtigkeit, so hätte meine Verantwortung keine Grenze.«18 Aber die Legitimität dieser Gerechtigkeit kommt aus der Verantwortung für die Beziehung zum anderen. Wörtlich heißt es: »Die Gerechtigkeit geht aus der Liebe hervor.«19 »Die Politik, wenn sie sich selbst überlassen wird, besitzt einen eigenen Determinismus. Die Liebe muss immer über die Gerechtigkeit wachen.«20 Es brauche regelmäßig »Selbstzweifel der Gerechtigkeit«21 , denn sie kann die Güte nie einholen. Damit lässt sich eine erste Zwischenbilanz zum Thema Beziehungssorge ziehen. Diakonie kommt vor jedem Dialog22 , eine reziproke Caritas ist keine.23 Erst kommt der Andere, dann ist meine Antwort gefragt, und erst danach kommen Dritte ins Spiel, so dass der Sozialität der Begegnung eine zweite Sozialität der Gerechtigkeit folgen muss. Erst in zweiter Hinsicht braucht es also den Vergleich, die Quantifizierung, die Addition. Das Haushalten, das Wirtschaften, das Organisieren, all das ist und bleibt zweitrangig. Politische Fragen, ökonomische Fragen, Organisationsfragen sind damit nicht überflüssig oder überwindbar, aber sie sind relativierbar im Blick auf das Entscheidende: die Menschlichkeit in der Begegnung mit dem Anderen. Jede menschenwürdige Organisation braucht erkennbar Respekt vor dem Anderen und Selbstzweifel an ihrer Gerechtigkeit. Und auch hier werden wir mit Grenzen rechnen müssen, die unsere Sehnsucht nicht überwinden kann.

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Ebd., S. 23. Levinas, 2013, S. 22. Levinas, 1996, S. 80. Levinas, 1995, S. 134. Ebd., S. 137. Ebd. Ebd., S. 273. So Levinas, 1996, S. 74. So Levinas, 2005, S. 23.

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2. Organisationssorge Organisationen verdienen allein schon deshalb Aufmerksamkeit, weil sie sich im Lauf der Evolution als Vermittlerinnen zwischen Interaktion und Gesellschaft etabliert haben. Die moderne Gesellschaft verkraftet ihre eigene Komplexität nur noch mithilfe von Organisationen, die uns von Entscheidungen entlasten, weil sie selbst aus solchen Entscheidungen bestehen. Niemand hat dies klarer analysiert als der Soziologe Niklas Luhmann24 . Organisationen sind »soziale Systeme«25 , in denen Erwartungen in Routinen übersetzt werden. Sie absorbieren Unsicherheit, indem sie Freiheit einschränken und dadurch neue Freiheiten ermöglichen.26 Fragt sich nur: für wen? Deshalb gibt es massive Unterschiede in der Qualität von Organisationen, etwa zwischen Mafia und Menschenrechtsorganisationen. Auch Sozialeinrichtungen sind häufig nicht sozial. Es bleibt ein Unbehagen, dass auch dort der Zweck die Mittel heiligen könnte. Oder vorsichtiger formuliert: Es braucht offenbar eine besondere Achtsamkeit für die Ambivalenz von Organisationen. Entlastung und Entfremdung: beides kann Ergebnis von Entscheidungen sein. Und deshalb achtet Organisationsethik auf die Qualität dieser Entscheidungen.27 Es ist nicht zuletzt der Luhmann-Schülerin Maren Lehmann zu verdanken, dass wir die paradoxen Wirkungen von Organisationen kritischer wahrnehmen.28 Ihre Routinen sind den Algorithmen von Computern vergleichbar, denen wir ebenfalls mit wachsender Ambivalenz begegnen. Organisationen schaffen Ordnung durch Asymmetrie, hier Hierarchie genannt, um allmählich zu merken, dass die Vorteile des Organisierens nur zu gewinnen sind, wenn Hierarchie durch Heterarchie, also Netzwerke der Begegnung, relativiert wird. Wir können zwar die Komplexität der modernen Gesellschaft nicht ohne Organisationen verkraften. Wohl aber geht dies ohne organisierten Leistungsdruck. Dazu ist Organisationssorge nötig. Wie das praktisch aussehen könnte, hat uns Iris Young gezeigt: Neben der Abschaffung von Ausbeutung durch schlechte und ungerechte Entlohnung und durch die Marginalisierung

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Luhmann, 2011. Luhmann, 1987. Oder aber durch den Aufbau von Qualitätsbürokratien verhindern; vgl. dazu Schmidt, 2017. Schmidt, 2018. Lehmann, 2011; vgl. dazu auch Lehmann, 2018.

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von Sorge-Arbeit fordert sie ein Ende der Machtlosigkeit und des Kulturimperialismus, der als Kultur nur gelten lassen will, was den Mächtigen gefällt und was schließlich zu jenen Formen subtiler Gewalt führt, die sich gerade in hierarchischen Organisationen als Demütigung und Zynismus zeigen.29 Organisationssorge, so meine zweite Zwischenbilanz, sieht Chancen und Risiken der Organisationsgesellschaft und leitet daraus geeignete Maßnahmen ab, um Organisationsdominanz zu identifizieren und gemeinsam nach Verfahren zu suchen, wie Organisationen zivilisiert werden können. Die Care-Bewegung kann sich zur Avantgarde einer Gesellschaftsreform entwickeln, die sich nicht länger vom kalten Herz des Kapitalismus leiten lassen will. Die organisationsethische Grundfrage lautet: Ist es angemessen, wie wir hier mit denen umgehen, die sich um angemessene Beziehungen bemühen?30 Wie sehen bei uns achtsame Organisationsstrukturen aus? Wo wird in unseren Einrichtungen Sorgearbeit anerkannt und wo wird sie marginalisiert oder unterdrückt? Das kann nicht allein im zumeist immer noch männlich dominierten Management entschieden werden. Damit komme ich zum letzten Fragezeichen, zur Netzwerksorge.

3. Netzwerksorge Der Netzwerkbegriff hat Konjunktur, nicht selten auch als Kontrastfolie zur schwerfälligen Organisation. Das scheint mir ein fatales Missverständnis zu sein. Netzwerke, darauf hat Veronika Tacke hingewiesen, sind genauso ambivalent wie Organisationen. Sie erinnert an old boys networks und andere kriminelle Seilschaften.31 Auch hier kommt es auf achtsame Unterscheidungen an. Netzwerke setzen auf aktualisierbare Kontakte. Erwartet wird die Bereitschaft, situativ Leistungen zu erbringen. »Das bist Du mir schuldig!«, heißt es dann. Networking rechnet mit einem Kredit, den man erwirtschaftet, um damit bei Gelegenheit neue Möglichkeiten zu mobilisieren. Es geht um Reziprozität, um Symmetrieerwartungen, um Kompensationsgeschäfte. Die Nebenwirkungen liegen auf der Hand: Anders als Organisationen leben Netzwerke vom Risiko der Verantwortungsdiffusion. Organisationen müssen Zuständigkeiten klären und Verantwortung einfordern können. Netzwerke

29 30 31

Young, 2013. Heller/Schmidt, 2011. Tacke, 2011; vgl. dazu auch Bommes/Tacke, 2011.

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wollen genau dies erfolgreich verhindern. Es ist also ratsam, Organisationen und Netzwerke nicht zu verwechseln. Selten geht es beim Netzwerken um existentielle Begegnungen. Attraktivität ist die Leitwährung: Dauerbelastung durch Aufmerksamkeitsproduktion. Steuerungsversuche laufen ins Leere, denn Netzwerke besitzen kein Zentrum und keine Spitze. Das macht sie flexibel, aber auch unorganisierbar. Sie teilen mit persönlichen Interaktionen das Interesse für Begegnungen. Sie unterscheiden sich jedoch durch Reichweite und Tiefe. Auch die Care-Bewegung möchte ein Netzwerk von Netzwerken sein, in denen Beziehungen gepflegt und von Fall zu Fall genutzt werden. Das ist sicher klug, denn vieles deutet daraufhin, dass künftig die funktionale Logik der Gesellschaft von Netzwerkkontakten überlagert werden wird. Wer mitspielen will, muss am Ball bleiben können. Allerdings beinhaltet Netzwerksorge, so meine dritte Zwischenbilanz, dann eben auch die kritische Rückfrage nach den Grenzen dieser Mobilisierung. Die Care-Ethik ist nicht nur eine Korrektur traditioneller Ethik.32 Sie ist zugleich eine gesellschaftliche Reformbewegung. Caring communities bieten belastbare Beziehungen, brauchen selbst aber auch kritische Distanz zu Organisationsphobie und Netzwerkeuphorie. Sonst wird Networking zum Berufsrisiko. Ich möchte zum Schluss dazu drei Ermutigungen für Care-Ethiker*innen in Führungspositionen formulieren.

Organisationsethische Ermutigungen Erstens: Es braucht Mut zur Achtsamkeit auch in Vorstand und Geschäftsführung: Führung hat mit Beziehungsqualität zu tun. Care-Kulturen können nur wachsen, wenn sie vom Management nicht vereinnahmt, sondern durch angemessene Partizipationsstrukturen gefördert werden. Ethik-Komitees und Fallbesprechungen sind ein guter Anfang, lassen sich aber transdisziplinär weiterentwickeln zu komplexeren Formen kollektiver Sensibilisierung. Zweitens braucht es den Mut zur Nachhaltigkeit: Entscheidungsqualität entsteht nicht durch Pro-forma-Partizipation, sondern durch tragfähige Vereinbarungen, die sich evaluieren lassen. Nicht das Bewerten ist per se problematisch, wohl aber die zumeist männliche Dominanz in Entscheidungsgremien und bei der Bestimmung der Bewertungskriterien.

32

Schmidt, 2019.

Organisation der Sorge

Drittens schließlich braucht es Mut zu komplexeren Formen der Selbstsorge33 : Das beginnt beim Respekt vor der eigenen Verletzlichkeit und mündet in der Bereitschaft, regelmäßig die eigenen Routinen des Bewertens nicht nur auszusetzen, sondern aus der Unterbrechung auch wieder Impulse zu gewinnen für das Wechselspiel von Selbstvertrauen, Vertrauen in den Anderen und Systemvertrauen. Das ist ein spiritueller Prozess. Die achtsame Organisation der Zukunft wird Spielräume lassen, Schutzräume organisieren und Marktplätze nutzen für überraschende Begegnungen – im Trialog zwischen Achtsamkeit, Professionalität und Attraktivität. Erst wenn Organisationen diese Komplexität verkraften, werden wir eine Chance haben, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verändern, ganz im Sinne der Vision von Carol Gilligan, »dass jeder gehört und einbezogen werden wird, dass niemand allein gelassen oder verletzt werden wird.«34

Literatur Bommes, Michael/Tacke, Veronika: Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag 2011. Conradi, Elisabeth/Vosman, Frans (Hg.): Praxis der Achtsamkeit. Schlüsselbegriffe der Care-Ethik, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2016. Conradi, Elisabeth: Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2001. Gilligan, Carol: Die andere Stimme (Originalausgabe: In a Different Voice 1982), München: Piper 1992. Heller, Andreas/Schmidt, Thomas (Hg.): Sorgende Kommunikation. Verstehen heißt sich verständigen. Jahresheft Praxis Palliative Care, Demenz, Praxis Pflegen, Hannover 2011. Heller, Andreas/Schuchter, Patrick: Sorgekunst. Mutbüchlein für das Lebensende, Esslingen: Hospizverlag 2017. Jochimsen, Maren A.: Careful Economics. Integrating Caring Activities and Economic Science, Dordrecht: Springer Science + Business Media 2003. Knobloch, Ulrike: »Sorgeökonomie als kritische Wirtschaftstheorie des Sorgens«, in: Hans Baumann/Iris Bischel u.a. (Hg.), Jahrbuch Denknetz 2013: Care statt Crash, Zürich: Verlag Edition 8 2013, S. 9-23 33 34

Heller/Schuchter, 2017. Giligan, 1992, S. 82.

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Knobloch, Ulrike: »Versorgen, Fürsorgen, Vorsorgen als sozialökonomische Herausforderung«, in: Waltraud Waidelich/Margit Baumgarten (Hg.), Um-Care zum Leben. Ökonomische, theologische, ethische und ökologische Aspekte von Sorgearbeit, Hamburg: VSA: Verlag 2018, S. 17-33. Lehmann, Maren: Mit Individualität rechnen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011. Lehmann, Maren: Zwei oder Drei. Kirche zwischen Organisation und Netzwerk, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. Levinas, Emmanuel: »Antlitz und erste Gewalt. Ein Gespräch mit HansJoachim Lenger über Phänomenologie und Ethik«, in: Christian Kupke (Hg.), Levinas’ Ethik im Kontext, Berlin: Parodos Verlag 2005, S. 11-24. Levinas, Emmanuel: »Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe«, in: Ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen (Originalausgabe: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre 1991), München: Carl Hanser Verlag 1995, S. 132-153. Levinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo; hg. v. Peter Engelmann (Originalausgabe: Ethique et Infini, 1982), Wien: Edition Passagen 1996. Levinas, Emmanuel: Gott, der Tod und die Zeit (Originalausgabe: Dieu, la Mort et le Temps, Paris 1993), Wien: Passagen Verlag 2013. Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung, Wiesbaden: VS Verlag 2011. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie [Erstausgabe 1984], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Schmidt, Thomas: »Mit dem Dritten sieht man besser. Die Kunst der Unterscheidung als Methode der Organisationsethik«, in: Lebendiges Zeugnis 4 (2018), S. 263-274. Schmidt, Thomas: Nie wieder Qualität. Strategien des Paradoxie-Managements, Weilerwist: Velbrück Wissenschaft 2017. Schmidt, Thomas: »Qualitäten der Ethik. Moralische Aporien als nützliche Illusionen«, in: Erika Adam/Stephanie Bohlen (Hg.), Autonomie und Gerechtigkeit als Illusion? Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2019, S. 63-80. Tacke, Veronika: »Systeme und Netzwerke«, in: Journal der Deutschen Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit 2 (2011), S. 6-24. Tronto, Joan C.: Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care, New York; London: Routledge 1993.

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Young, Iris M.: »Fünf Formen der Unterdrückung«, in: Christoph Horn/Nico Scarano (Hg.), Philosophie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2013, S. 428-445.

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Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen Ralph Grossmann Die Entwicklung von Organisationen entscheidet sich an ihren Grenzen. Die Humanität von Gesellschaften auch.

Persönlich engagieren mich vor allem die Bewegung und die Arbeit an den Grenzen: den Grenzen zwischen Berufsgruppen und professionellen Kulturen, den Grenzen zwischen Hierarchieebenen, den Grenzen von Funktionen und Rollen, den Grenzen von Teams, Organisationseinheiten, Unternehmen und ihren Umwelten, den Grenzen dessen, was sich verstehen und steuern lässt. Die Kooperation über Grenzen hinweg zu erforschen, zu beraten, zu organisieren, ist zu einem leidenschaftlich verfolgten Thema geworden – biografisch und professionell verankert. Systemtheoretisch geschult ist der Blick auf die Unterscheidungen, die sich an den Grenzen und Verbindungen eröffnen, die wesentliche Quelle des Verstehens und professionellen Handelns. Als Organisationsentwickler bin ich notwendigerweise ein »Grenzgänger« zwischen Forschung und Gestaltung. Der interdisziplinäre Gegenstand der Organisationsentwicklung konstituiert sich im Tun. Im Bereich Palliative Care hatte ich Gelegenheit, gemeinsam mit Andreas Heller schon in den 1990er Jahren diese professionellen und organisationalen Grenzen, an der Grenze zwischen Leben und Tod, theoretisch und praktisch auszuloten: durch Workshops mit Expert*innen, durch organisationsbezogene Supervision und Publikationen1 . Diese Zusammenarbeit hat meine spätere Arbeit speziell im Feld Palliative Care aber auch darüber hinaus inspiriert. In meinem Beitrag zum zitierten Buch, Organisationsentwicklung im Krankenhaus,

1

vgl. Heller/Heimerl/Metz, 1994.

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habe ich anhand eines Falls aus eigener Betroffenheit die Kooperation zwischen Organisationen und Professionen thematisiert: »Vor einigen Jahren, es war kurz vor Ostern, kam ein Arbeitskollege Mitte 30 mit der Diagnose Melanom ins Büro. Innerhalb weniger Monate begann das Karzinom in mehreren Organen zu metastasieren. Die Krankheit und die Chemotherapie zehrten seine Kräfte rasch auf. Einige Wochen vor Weihnachten wurde er in einer Wiener Klinik zur stationären Behandlung aufgenommen. In dieser Station machte auch ein Schulfreund unseres Kollegen Dienst und betreute ihn. Unmittelbar vor Weihnachten meldete sich die Ehefrau des Kollegen verzweifelt bei uns mit der Nachricht, der befreundete Arzt habe ihr mitgeteilt, sie seien ›mit ihrer Kunst am Ende. Das Krankenhaus könne nichts mehr für ihren Mann tun‹. Über die Bedingungen des Sterbens wurde nicht gesprochen. Wir ermutigten die Ehefrau, sich um eine baldige Entlassung zu bemühen und auf diese Weise noch etwas Gemeinsamkeit in der Familie zu ermöglichen. Das gelang ihr auch und am 23. Dezember war unser Kollege wieder zuhause. Meine letzte Erinnerung ist, wie er – teilweise noch bei Bewusstsein und ansprechbar – inmitten seiner spielenden Kinder, die sich auf Weihnachten vorbereiteten, langsam tiefer ins Koma glitt. Er hatte offensichtlich keine großen Schmerzen. Trotz der verzweifelten Traurigkeit der Situation ein würdiger und beruhigender Abschied. Am 25. Dezember starb unser Kollege. Später erfuhr ich von der Witwe, dass Atemprobleme doch noch eine medizinische Versorgung notwendig gemacht hatten. Die Schwierigkeit, einen Notarzt zu finden, der eine ambulante Sauerstoffversorgung sicherstellen hätte können, habe schließlich dazu geführt, dass er im Krankenhaus unter weniger günstigen Bedingungen gestorben sei. […] Die gesellschaftlichen Bedingungen des Umgangs mit dem Sterben in Österreich sind von einer scharfen Polarität, einem organisatorischen Entweder-Oder gekennzeichnet: entweder im Krankenhaus oder Pflegeheim, was der Regelfall ist, oder zu Hause im Kreis der Familie, was eine privilegierte Ausnahme darstellt; entweder organisiert und professionalisiert in der Großorganisation oder im informellen Sektor. Organisatorische Zwischenformen sind kaum systematisch entwickelt und die Übergänge sind nicht sehr durchlässig. Die einseitige Entwicklung der professionellen Rollen und Organisationsformen entspricht wohl dem gesellschaftlichen Bewusstseinsstand, sowohl in Bezug auf das Sterben, als auch in Bezug auf vielfältigere Organisationsformen zwischen öffentlich und privat, zwischen

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

Staat und Markt, zwischen professionell und ehrenamtlich. Die Kooperation zwischen ambulanten Einrichtungen der Pflege, aber auch der medizinischen Versorgung und den Krankenhäusern und Pflegeheimen ist dabei die entscheidende organisatorische Schnittstelle. Nur die professionelle Unterstützung im ambulanten Bereich wird die Krankenhäuser entlasten können und Sterben zu Hause oder in besonderen Einrichtungen leichter möglich machen.«2 Hospizkultur und Palliative Care in der mobilen Betreuung und Pflege ist eine Arbeit an den Grenzen. Sie wird wirksam, wenn das Leben an seine Endlichkeit kommt. Diese Arbeit wird vorrangig an unterschiedlichen Nahtstellen erbracht – den Übergängen zwischen der Betreuung und Pflege zu Hause, den Hausärzt*innen, den Krankenhäusern, dem mobilen Palliativteam, den Notärzt*innen, den Rettungsdiensten, den ehrenamtlichen Hospizbegleiter*innen, den Alten- und Pflegeheimen und Hospizen. Insgesamt handelt es sich um Fachkräfte, deren professionelles Handeln von unterschiedlichen Ausbildungen, beruflichen Biografien, unterschiedlichen Arbeitskulturen, divergierender Alltagsorganisation und verschiedenen Entlohnungssystemen geprägt ist. Die Mitarbeiter*innen erleben Eingebundensein in ein Arbeitsteam selten vor Ort bei den zu pflegenden Menschen, sondern vor allem durch informelle Kontakte, Teambesprechungen und Supervisionen in den Trägerorganisationen.

Das Beispiel HPC Mobil Drei Jahre lang (Juni 2015 – Mai 2018) habe ich im Auftrag von Hospiz Österreich die Organisationsentwicklung des Pilotprojekts »HPC Mobil – Hospizkultur und Palliative Care in der mobilen Pflege und Betreuung zu Hause« beraten. Schon davor habe ich OE-Know-How in das Projekt Hospizkultur und Palliative Care in Pflegeheimen eingebracht. An dem Pilotprojekt in Wien nahmen folgende Trägerorganisationen, also Anbieter von Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialbereich teil: Arbeitersamariterbund, Caritas Socialis, Caritas Wien, Sozial Global, Volkshilfe. Innovationsversuche wie HPC Mobil bedeuten praktisch, dass in den Trägerorganisationen die Grenzen zwischen verschiedenen professionellen

2

Grossmann, 2000, S. 98f.

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Funktionsgruppen, Organisationseinheiten und Hierarchieebenen überschritten werden müssen, damit die Innovation in einem Unternehmensteil oder der gesamten Organisation wirksam werden kann. Der Erfolg des Pilotversuchs entscheidet sich wesentlich an den Grenzen zwischen den beteiligten Trägern, die gleichermaßen Bündnispartner wie Konkurrenten sind. Er entscheidet sich auch an den Grenzen zu den Finanzgebern und dem politisch-administrativen System. Die Bewegung an diesen Grenzen hat immer auch mit den Grenzen zwischen Denken, Fühlen und Handeln zu tun. Gefragt sind fachliche Arbeit, Kenntnisse und Fertigkeiten, Zuwendung und Beziehungsfähigkeit sowie persönliche Werte, die aber erst wirksam werden können, wenn sie in Handlungen, in Leistungsprozesse regelmäßig Eingang finden.

Kooperation als Antwort Soziale und organisatorische Grenzen können durch Vernetzung überschritten werden. Durch Kooperation an den Grenzen kann gemeinsam entwickeltes Neues entstehen, ohne die Grenzen aufzuheben. Soziale Systeme, wie Berufsgruppen, Abteilungen, ganze Organisationen bilden mit ihrer Umwelt, den »benachbarten« Einrichtungen, – systemtheoretisch betrachtet – eine Überlebenseinheit. Sie sind in ihrem längerfristigen Erfolg und Überleben voneinander abhängig.3 Kooperation ermöglicht, die Eigenleistungen und die Autonomie der Organisation oder von Teilen der Organisation zu respektieren und gleichzeitig Verbindungen zu schaffen. Sie ermöglicht, Ressourcen zu verknüpfen für maßgeschneiderte Lösungen und zeichnet sich durch hohe Flexibilität aus. Sie kann ganz unterschiedliche Partner an Größe, Tradition, Organisationsstruktur verbinden. Sie kann zeitlich und inhaltlich begrenzt angelegt werden. Sie ermöglicht, Leistungsprozesse über Grenzen hinweg zu verknüpfen und zu optimieren.4 Kooperationen fordern die handelnden Personen und Systeme radikal heraus. Die Zusammenarbeit ist konsequent auf horizontale Beziehungen umzustellen: Zwischen den Kooperationspartnern der verschiedenen Träger von HPC Mobil, zwischen beteiligten Berufsgruppen und Einrichtungen wie 3 4

vgl. Grossmann, 2015. Aus eigener Werkstatt dazu: Grossmann/Lobnig/Scala, 2007. Grossmann/Prammer/Neugebauer, 2011. Grossmann, 2013.

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

Ärzt*innen, Krankenhäusern und der mobilen Betreuung und Pflege, aber auch zwischen den Funktionsträgern innerhalb einer Organisation. Innovationsversuche wie HPC Mobil brauchen ein produktives Nebeneinander von Hierarchie und Kooperation. Auch Vernetzung und Kooperation müssen gesteuert und gemanagt werden, nur die Art des Steuerns und Organisierens ist eine andere, basierend auf horizontalen, kooperativen Beziehungen und Teams.

HPC Mobil hat den Weg der Innovation durch Kooperation konsequent beschritten5 Im Rahmen des Projekts HPC Mobil wurden Verträge abgeschlossen, in denen sie sich zu bestimmten Voraussetzungen und Leistungen verpflichten, wie einen größeren Prozentsatz ihrer Mitarbeiter*innen entsprechend schulen zu lassen, am Organisationsentwicklungsprozess teilzunehmen, eine Evaluierung durch ein externes Forschungsinstitut zu akzeptieren und daran mitzuwirken, sich mit Führungskräften und operativen Mitarbeiter*innen aktiv an der Umsetzung des Projekts zu beteiligen. Im Projektleitungs- und Koordinationsteam, bestehend aus der Projektleiterin und der Projektassistentin seitens des Hospiz Dachverbands und dem externen Berater und in der Folge auch der gemeinsamen Steuergruppe der 5 Träger, wurden die Weichen dahingehend gestellt, dass die Entwicklung und Umsetzung des Pilotprojekts konsequent in Kooperation zwischen den Trägern realisiert werden soll. In einer Entwicklungsgruppe, gebildet aus je zwei Leitungskräften der beteiligten Träger sowie der Projektleiterin und Projektassistentin von Hospiz Österreich, wurden in einem mehrtägigen Arbeitsprozess gemeinsame Ziele formuliert. Das bis in die Details gemeinsam formulierte Dokument benennt diese, beschreibt die Leistungsprozesse im Alltag von Betreuung und Pflege, in

5

Aufbauend auf den Erfahrungen im Projekt HPC Mobil habe ich mit dem Projektmanagementteam von Hospiz Österreich und Führungskräften aus den beteiligten Trägerorganisationen einen Beitrag für das Buch »Netzwerke und soziale Innovationen« verfasst. Dieser Abschnitt folgt im Wesentlichen meinem Beitrag zum Kapitel »HPC Mobil – Hospizkultur und Palliative Care in der Betreuung und Pflege zu Hause«. Bahringer et al., 2019.

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denen diese Ziele praktisch werden können und definiert Indikatoren, an denen der Erreichungsgrad der Ziele abgelesen werden kann. Dieses Dokument stellt eine kooperative Selbstverpflichtung der beteiligten Organisationen dar, mit erheblichen Konsequenzen für die interne Organisationsgestaltung. In einem kooperativen Steuerungssystem, der Steuergruppe, gebildet aus Geschäftsführer*innen und trägerinternen Projektleiter*innen sowie der Projektleiterin und Projektassistentin des Gesamtprojekts, werden die Schlüsselfragen der strategischen und organisatorischen Entwicklung des gemeinsamen Vorhabens diskutiert und Entscheidungen getroffen. Durch eine Reihe von trägerübergreifend beschickten, einwöchigen Schulungen wurden interne Trainer*innen für die Vermittlung von Kompetenzen, Haltungen und Werten für Hospizkultur und Palliativ Care qualifiziert. In berufsgruppen- und hierarchieübergreifend zusammengesetzten Workshops geben die Trainer*innen diese Kompetenzen, Haltungen und Werte innerhalb der Organisation an die Mitarbeiter*innen weiter. In den Trägerorganisationen wurden neue Funktionsträger und Teams mit einem HPC-Mobil-spezifischen Rollenprofil geschaffen, die Palliativbeauftragten und die Palliativgruppen. Die Palliativbeauftragten haben in einer trägerübergreifenden Gruppe ihr Rollenprofil, ihre Arbeitsziele und möglichen Prioritäten bearbeitet und an die Projektleiter*innen rückgekoppelt. In der Steuergruppe wurden diese neuen organisatorischen Einrichtungen und die Leitlinien für ihre Arbeit diskutiert und auf die damit verbundene Selbstverpflichtung der Organisationen eingegangen. In kooperativ vorbereiteten und durchgeführten Fachtagungen wurde die Vernetzung zwischen den Akteur*innen der Trägerorganisationen (Trainer*innen, Palliativbeauftragte, operative Führungskräfte, Geschäftsführer*innen) vorangetrieben und die Kooperation zu anderen Partnern wie den niedergelassenen Ärzt*innen und den Finanzgebern zum Thema gemacht. Für die Weiterentwicklung der externen Kooperationen wurden darüber hinaus eigene Veranstaltungen durchgeführt, zum Beispiel mit den Entlassungsmanager*innen der Krankenhäuser. In den Trägerorganisationen wurden Veranstaltungen zur Vernetzung, zur Information, zur Motivation und zum Erfahrungsaustausch zwischen den Führungskräften entwickelt, insbesondere auch für die Teamleiter*innen, Einsatzleiter*innen, Koordinator*innen, also all jene Funktionsträger*innen, die für die Arbeitsorganisation, die Unterstützung, die Vernetzung der einzelnen Mitarbeiter*innen in der Betreuung und Pflege zuständig sind. Erst durch

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

ihre Initiative und Kompetenz können die Trennungen in der Alltagspraxis bearbeitet werden. Übergreifende Teams sind das Bauprinzip von Kooperation. Solche Teams halten eine Kooperation sozial zusammen. In diesen Gruppen und Teams können durch gemeinsam formulierte Ideen, Motive und Interessen die Innovationen Gestalt annehmen. Durch die praktischen Erfahrungen der Zusammenarbeit werden sie schrittweise erprobt und wirksam gemacht. Im Falle von HPC Mobil geschah dies in der Steuergruppe, in der Entwicklungsgruppe als Vernetzung der Topführungskräfte, in der Gruppe der Palliativbeauftragten als Vernetzung von Expert*innen, in den Palliativgruppen als Vernetzung von Mitarbeiter*innen, in den Workshops im Rahmen der Fachtagungen mit externen Partnern. Vernetzung und Kooperation brauchen einen »Server« im Netz, ein Arbeitsteam, das die Entwicklung zielgerichtet mit Autorität und in der Haltung kooperativ vorantreibt. In HPC Mobil wurde das von der Projektleiterin und Projektassistentin von Hospiz Österreich realisiert. Kooperationen brauchen Organisation, haben aber zunächst keine eigene Organisation. Diese muss durch systematische und kontinuierlich aufbauende Kommunikation erst geschaffen werden. In Netzwerken und Kooperationen kann sich Organisationsberatung an wichtigen Knotenpunkten der Kommunikation nützlich machen, weil die Zusammenarbeit der Partner, abgesehen von Fachkompetenz, so etwas wie einen »allparteilichen Dritten« oder eine »allparteiliche Dritte« braucht. Einen Akteur, eine Akteurin, der oder die nur der Kooperation, dem gemeinsamen Vorhaben verpflichtet ist.

Entwicklungsnetzwerke als Vehikel der Innovation: ein kurzer Blick auf ein laufendes Projekt Aufbauend auf dem Wiener Pilotprojekt wurde das bundesländerübergreifende Vorhaben Hauskrankenpflege im Zentrum (HiZ) konzipiert und organisiert. Daran sind vier Bundesländer – Oberösterreich, Kärnten, die Steiermark und Vorarlberg – und zahlreiche Trägerorganisationen beteiligt, von großen Dienstleistungsorganisationen bis zu einer Vielzahl von kleinen Vereinen für mobile Pflege. Anders als im Wiener Projekt werden die beteiligten Organisationen und ihre Führungskräfte und Expert*innen nicht direkt beraten. Die beraterischen Impulse werden vor allem in bundesländerübergreifenden Vernetzungstreffen eingebracht.

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Was ist ein Entwicklungsnetzwerk? Ein Entwicklungsnetzwerk ist eine stabile Arbeits- und Kooperationsstruktur mit gemeinsam definierten Grenzen, Mitgliedschaften und Spielregeln. Es ist darauf ausgerichtet, inhaltliche und organisationale Impulse für seine Mitglieder und für das Netzwerk selbst zu generieren. Ein solches Netzwerk muss kontinuierlich organisiert, serviciert und gesteuert werden. Im Projekt Hauskrankenpflege im Zentrum hat das Entwicklungsnetzwerk mehrere Funktionen. Die zentrale Funktion ist es, bundesländer- und trägerübergreifende Arbeitstreffen durchzuführen, ergänzt durch Meetings der Projektleiter*innen und Projektmanager*innen von Hospiz Österreich aus den vier beteiligten Bundesländern mit einer begleitenden Dokumentation und Evaluation. Durch das Netzwerk werden für die landeskoordinierenden Stellen für Hospiz- und Palliative Care von ausgewählten Bundesländern, die in den Ländern tätigen Anbieter von Pflege und Betreuung zu Hause sowie für deren Kooperationspartner Impulse zur Verfügung gestellt, etwa zur Qualifizierung, Organisationsentwicklung, Erfahrungen aus dem Pilotprojekt HPC Mobil. Gleichzeitig ermöglicht es die Kooperation der beteiligten Partner. Das Netzwerk gibt Raum, wichtige Arbeitsschritte des Projekts in den Netzwerktreffen zu erledigen, durch die gemeinsame Entwicklungsarbeit Synergien zu nutzen und Maßnahmen der Aufbauarbeit zu vergleichen und als Lernerfahrung einzubringen. Der Aufbau der mobilen Pflege und Betreuung im Interesse von Palliative Care erfordert einerseits maßgeschneiderte Arbeit in den Regionen und Trägerorganisationen und gleichzeitig Orientierung an gemeinsamen Zielen und bewährten Standards der Umsetzung. Über das Netzwerk erfolgt auch wesentlich die soziale und organisatorische Steuerung des Projekts. Der wesentliche Vorteil dieser Arbeitsstruktur liegt in der Möglichkeit, während der Netzwerktreffen in kurzer Zeit, also eineinhalb oder zwei Tagen, eine ganze Reihe von Arbeits- und Lernschritten zu setzen. Die Netzwerktreffen könnten multifunktionell genutzt werden, etwa für gemeinsame Analysen der Ausgangssituation in den Regionen und bei den einzelnen Anbieter*innen, für Arbeit an den Zielen, Leistungsprozessen und Indikatoren in der Pflege und Betreuung zu Hause, zur Vermittlung von organisationsentwicklerischem Know-How, zum regelmäßigen Austausch der Erfahrungen durch Prozessbenchmarks, für gemeinsame Willensbildung und Entscheidung zur Steuerung des Projekts und des Netzwerks, für die Einführung

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

des Curriculums zur Organisation der Qualifizierung der Mitarbeiter*innen, zum gemeinsamen Aufbau einer guten Dokumentation, für die Planung von Evaluationsschritten und deren Umsetzung, um nur einige Beispiele zu nennen. Netzwerke schaffen Optionen, um voneinander zu profitieren und gemeinsame Leistungen zu realisieren. Kooperationen hingegen realisieren ausgewählte Optionen. Nicht alle Netzwerkaktivitäten müssen auch tatsächlich zu einer engeren Zusammenarbeit führen. Oft scheint die Option nicht attraktiv genug oder die Beteiligten sind nicht in der Lage, sie gemeinsam zu realisieren. Mit den bundesländerübergreifenden Entwicklungsnetzwerken wurde im Projekt Hauskrankenpflege im Zentrum schon einiges an Erfahrung gesammelt. 2019 konnten zwei dieser Veranstaltungen von zwei und eineinhalb Tagen durchgeführt werden. Vor allem im zweiten Entwicklungsnetzwerk hat sich die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten eines Bundesländernetzwerks beziehungsweise einer bundeslandbezogenen Kooperation gut eingespielt, das gilt auch für die Zusammenarbeit und den Lernprozess zwischen den Bundesländergruppen. Durch differenzierte Designs sind hier in relativ kurzer Zeit sehr unterschiedliche Lern- und Entwicklungsoptionen einschließlich der Nutzung der Organisationsberatung realisiert worden. COVID-19 hat diesen Entwicklungsprozess eingebremst, eine Pandemie, die uns vor ganz neue Herausforderungen zwischen Vereinzelung und Kooperation stellt und uns an neue Grenzen treibt.

Entscheidende Grenzen und Bruchlinien Ich habe eingangs markiert, dass es die Unterscheidungen an den Grenzen und Verbindungen sind, die Quellen des Verstehens freilegen und Orientierung für gesellschaftliches, professionelles und persönliches Handeln geben können. Das Denken und Handeln entlang von Differenzen schützt auch vor Polarisierungen, dem Entweder-Oder. Die systemische Figur der Differenz verweist auf das Eine und das Andere. Das Eine tun und das Andere nicht lassen. Sie eröffnet den Weg zur Abwägung, was es jeweils mehr oder weniger oder anderes braucht. Die zentrale systemtheoretische Unterscheidung ist die zwischen einem sozialen System und seinen relevanten Umwelten. Mit diesen Umwelten bildet das System eine Überlebenseinheit, die kontinuierliche Auseinander-

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setzung mit den Umwelten ist überlebens- und erfolgssichernd; bezogen auf die hier im Fokus stehende Grenze zwischen Leben und Tod auch im physisch-existenziellen Sinne. Je nachdem, wo man die System-UmweltUnterscheidung ansetzt, beim Individuum, der Familie, der einzelnen Pflegekraft, den professionellen Gruppen der Pflege und Betreuung eröffnen sich Perspektiven des Denkens und Handelns auf andere Umweltbeziehungen. Einige wenige möchte ich abschließend ansprechen. Es sind einige, die mich in meiner aktuellen Arbeit sehr beeindrucken und auch fordern. Ich lade dabei ein, den Blick nicht nur oder nicht primär auf Organisationen zu richten, sondern auf das Organisieren. Die Grenzen sind nur durch kontinuierliches Tun zu überschreiten. Vereinzelung versus Care in Unterstützung und Sicherheit spendenden Netzwerken ist dabei mein Fokus.

Vereinzeltes oder gemeinschaftliches Wohnen Dass Paare oder Personen alleine wohnen, ist charakteristisch für die gesellschaftliche Situation, zumindest in hoch entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. Die Anzahl der Einpersonenhaushalte ist rasant im Steigen begriffen. Ein familiäres, nachbarschaftliches oder freundschaftliches Netzwerk zu pflegen, zu organisieren wird im hohen Alter immer schwieriger, auch in wirtschaftlich privilegierten Gruppen. Ich bin selber vor vielen Jahren mit dem Versuch, im eigenen Freundeskreis ein »fideles Altersheim« zu gründen, gescheitert. Unter diesem Motto wollte ich eine gemeinschaftliche Wohnform initiieren. Jetzt, mit Anfang siebzig, wo die Dringlichkeit einer solchen sozialen Verankerung rasch zunimmt, sitzen alle Freunde, mich eingeschlossen, noch viel mehr fest in ihren Einfamilienhäusern, Eigentumswohnungen, verschiedenen Mietarrangements. Im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungsauftrags zum Thema »Kooperatives Wirtschaften – Neue Genossenschaften«6 habe ich unter anderem Wohngenossenschaften in der Schweiz und in Deutschland beforscht, die sich dieser Problemlage stellen. Unterschiedliche Wohntypen ermöglichen unterschiedliche Formen des Zusammenlebens, insgesamt ist die Alltagssituation eingebettet in eine räumlich und sozial kooperativ verfasste

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Den Abschlussbericht zum Projekt »Kooperatives Wirtschaften – Neue Genossenschaften« habe ich im September 2020 fertiggestellt. Darin finden interessierte Leser*nnen gesammelte Erkenntnisse über das Wirken von neuen Genossenschaften in diversen Wirtschaftszweigen.

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Wohn- und Lebensumwelt, in der von Einkaufsmöglichkeiten über kulturelle Aktivitäten bis zur pflegenden Unterstützung viele Möglichkeiten geschaffen wurden, und zwar in einem lebendigem Quartier mitten in der Stadt. Die eine Wohngenossenschaft hat auch in einem längeren Prozess mit externen Partnern Wohngemeinschaften für alte Menschen realisiert. Für Pflege und Betreuung gibt es zusätzlich professionelle Unterstützung im Rahmen eines Kooperationsvertrags der Genossenschaft mit Einrichtungen der mobilen Pflege. Die andere Wohngenossenschaft hat sich in besonderer Weise dem Thema Inklusion verschrieben. Sie organisiert das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Handicap. Ebenfalls in einem zentral gelegenen Quartier bietet diese Genossenschaft auch Wohnformen mit Menschen aller Altersstufen und mit unterschiedlichem Assistenzbedarf, und zwar mit hoch spezialisierter medizinisch-pflegerischer Unterstützung in dafür ausgelegten Wohneinheiten. Dieses Vorgehen verbindet sich mit nachbarschaftlicher Unterstützung. Es geht auch darum, Vielfalt als Bereicherung zu entdecken – eine Erkenntnis, die nur in konkreten Alltagssituationen miteinander erlebt und erlernt werden kann. Die Kommunikationsstrukturen beider Genossenschaften sind auf Teilhabe der Bewohner*innen an der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Organisation und des Zusammenlebens ausgerichtet. Hier wird deutlich, das Palliative Care nicht nur eine Frage der Pflegereform, sondern ein Thema der Wohnbaupolitik und der Stadt- und Gemeindeentwicklung darstellt. Auch in Wien sind vergleichbare genossenschaftliche Wohnprojekte im Entstehen (etwa die Projekte der WoGen eG). Solche Innovationen auch im Kontext eines sozialen Wohnbaus zu realisieren, ist eine zentrale Zukunftsaufgabe in einer sorgenden Gesellschaft.

Kooperativ organisierte Pflege statt grenzüberschreitender Ausbeutung Viele Menschen sind auf Pflege und Betreuung rund um die Uhr angewiesen, die von mobilen Diensten allein nicht sichergestellt werden kann. Die sogenannte 24-Stunden-Pflege ist eine Unterstützungsform, die ein Leben in der eigenen Wohnung statt Betreuung im Pflegeheim ermöglicht. Regelrechte Wanderbewegungen von Menschen aus zentral- und osteuropäischen Staaten in die wirtschaftlich stärker entwickelten Länder Europas sind zu verzeichnen. Hunderte Vermittlungsagenturen alleine in Wien bieten, vielfach ohne Qualitätsstandards sicherstellen zu können, den Klient*innen und deren An-

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gehörigen eine teure Dienstleistung an und beuten die Pflegekräfte aus – ein grenzüberschreitender Ausbeutungszusammenhang in einer neokolonial-kapitalistischen Organisationsform. Hier sind dringend Projekte und Experimente für innovative Lösungen mit mehrfachen Zielen angesagt: den Pflegekräften die notwendige (Zusatz-)Ausbildung, soziale Sicherheit und angemessene Entlohnung zu ermöglichen, den Klient*innen und ihren Angehörigen faire Preise, Qualitätssicherung sowie kompetente organisatorische Betreuung zu bieten. Auch hier könnte die genossenschaftliche Unternehmensform Chancen eröffnen. In dieser Unternehmensform könnten Vertreter der Klient*innen, der Pflegekräfte und Organisatoren der Vermittlung, der Qualifizierung und Qualitätssicherung Mitglied sein und zusammenwirken.

Der Vereinzelung der KlientInnen korrespondiert die Vereinzelung der Pflege- und Betreuungspersonen Die Arbeit der ambulanten Pflege und Betreuung ist in mehrfacher Hinsicht Einzelarbeit. Die Arbeit mit den Klient*innen wird praktisch durchgängig alleine durchgeführt, die Mitarbeiter*innen der Pflege und Betreuung sind tagaus, tagein alleine unterwegs. Die Beziehungen, jedenfalls im großstädtischen Bereich wie Wien, sind zumeist für Klient*innen und Betreuer*innen fragmentiert. Es gelingt nur selten, personale Betreuungskontinuität für die Kund*innen zu gewährleisten, also eine Art Teamkonstellation für die Klient*innen zu schaffen und daher gelingt das auch nicht für die Mitarbeiter*innen. Es kann durchaus sein, dass eine Klientin im Verlauf einer längeren Betreuungsphase bis zu 30 Betreuungspersonen »kennenlernt«, eine entfremdende Konstellation in einer besonders vulnerablen Lebenssituation. Hinzu kommt, dass es aus organisatorischen und finanziellen Gründen sehr schwierig ist, regelmäßig Teambesprechungen durchzuführen. Diese geraten leicht zur »Randzeit« für erschöpfte Pfleger*innen und Betreuer*innen. Aus der Sicht der Dienstleistungsorganisationen handelt es sich dabei um sogenannte nicht-verrechenbare Zeit, die aus dem Overhead des Unternehmens zu finanzieren ist. Eine organisatorisch stabile Verankerung in einem sicherheitsgebenden, fachlich und sozial nährenden Team ist kaum zu realisieren, also eine Teamkonstellation, in der Belastungen verarbeitet, Krisen aufgefangen, schwierige und gelingende Beratungsfälle lernträchtig aufgearbeitet werden könnten. Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Leistung der Pflegenden gar nicht hoch genug einzuschätzen. Es ist ein systematischer Problemexport zu konstatieren. Die Dysfunktionalität von Finanzierungs- und

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

Versorgungssystem werden zu den Betreuungspersonen und den Klient*innen exportiert. Es überrascht nicht, dass alle Pflegekräfte, die mit dem niederländischen Vorzeigebeispiel Buurtzorg in Kontakt kommen, hellauf begeistert sind. In vielen Ländern, auch in Österreich, wurde begonnen, diese Pflegeorganisation aufzugreifen, die im Wesentlichen auf selbstorganisierten Teams aufgebaut ist.7 Die Auseinandersetzung an den Grenzen und den Bruchlinien zwischen Vereinzelung und Team ist ein Schlüssel für Palliative Care in der mobilen Pflege und Betreuung. Diese Bruchlinie setzt sich fort in der Beziehung zu anderen relevanten Umwelten der Pflege- und Betreuungskräfte, insbesondere den niedergelassenen Ärzt*innen, aber auch dem Entlassungsmanagement der Krankenhäuser und den spezialisierten Palliativteams. Wenn es auf das Sterben zugeht oder zwischenzeitlich gesundheitliche Krisen auftreten, die Entscheidungen über die Einlieferung ins Krankenhaus oder die Möglichkeit, weiterhin zu Hause betreut werden zu können, verlangen, dann kann diese nur im Zusammenwirken mit dem Arzt getroffen werden. Im großstädtischen Bereich wie in Wien sind immer noch sehr wenige niedergelassene Ärzt*innen einschlägig qualifiziert und sehen sich von ihrer Arbeitsorganisation häufig nicht in der Lage zu zeitnaher Kooperation mit den Pflegekräften und Angehörigen. An dieser Grenze scheitert, mit Blick auf den oft herzzerreißenden Einzelfall und mit Blick auf die Statistik, die Erfüllung des letzten großen Wunsches der Mehrheit der Bevölkerung, nämlich zu Hause sterben zu können. Rund 70 % sterben in Österreich derzeit in Institutionen, obwohl sich die überwiegende Mehrheit ein Sterben zu Hause wünscht. An dieser Bruchlinie treffen Pflege und Betreuung auf einen weiteren vereinzelt tätigen Systempartner, den in einer Einzelpraxis tätigen Arzt. Die Umstellung auf organisatorisch ausdifferenziertere, kooperative Unternehmensformen wie Gemeinschaftspraxen oder Ärztezentren sind noch die Seltenheit. Seit 2017 gibt es rechtliche, finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen für sogenannte Primärversorgungseinheiten (PVE). 75 solcher Primärversorgungseinheiten sollen in den nächsten Jahren in Österreich entstehen. Ein längst überfälliger, aber entscheidender Schritt für den Ausbau der Primärversorgung in Österreich.8

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Laloux, 2015. Die gesetzliche Basis bieten der Zielsteuerungsvertrag 2017 bis 2021 zwischen Bund, vertreten durch Bundesministerium für Gesundheit und Frauen und dem Hauptver-

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Ralph Grossmann

»Der österreichische Hospizdachverband engagiert sich seit mehreren Jahren für die Entwicklung des Vorsorgedialogs (VSD). Der VSD zielt darauf ab, durch strukturierte und wiederholte Gespräche gemeinsam mit BewohnerIn, Arzt/Ärztin, Pflegeperson, Angehörigen und Vertrauenspersonen relevante Willensäußerung der Bewohner in Bezug auf physische psycho-soziale und spirituelle Bedürfnisse, auf Maßnahmen in kritischen Situationen (zum Beispiel Wiederbelebung, Einweisung ins Krankenhaus, Einsatz von PEG-Sonde) festzuhalten. Das Hauptaugenmerk des erarbeiteten VSD ist auf die Wünsche und auf den Willen der BewohnerInnen gerichtet.«9 Wie es auch gehen kann, zeigt der Kurzfilm »Mutmacher« entstanden im Rahmen des Pilotprojekts HPC Mobil, ebenfalls zu finden auf der Webseite von Hospiz Österreich.

Literatur Bahringer, Mischa et al.: »HPC Mobil – Hospizkultur und Palliative Care in der Betreuung und Pflege zu Hause«, in: Christian Neugebauer/Sebastian Pawel/Helena Biritz (Hg.), Netzwerke und Soziale Innovationen. Lösungsansätze für gesellschaftliche Herausforderungen, Wiesbaden: Springer Verlag 2019, S. 87-105. Grossmann, Ralph/Bauer, Günther/Scala, Klaus: Einführung in die systematische Organisationsentwicklung, Heidelberg: Carl Auer 2015. Grossmann, Ralph/Lobnig, Hubert/Scala, Klaus: Kooperationen im Public Management. Theorie und Praxis erfolgreicher Organisationsentwicklung in Leistungsverbünden, Netzwerken und Fusionen, Weinheim/München: Juventa-Verlag 2007. Grossmann, Ralph/Prammer, Karl/Neugebauer, Christian: »Unterschiede in Einklang bringen. Von der Herausforderung, Kooperationen zu beraten«, in: Zeitschrift für Organisationsentwicklung 2 (2011), S. 20-29. Grossmann, Ralph: »Organisationsentwicklung im Krankenhaus«, in: Andreas Heller/Katharina Heimerl/Christian Metz (Hg.), Kultur des Sterbens.

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band der Sozialversicherungsträger und den Bundesländern und das Primärversorgungsgesetz 2017. Siehe auch: https://www.hospiz.at/hospiz-palliative-care/hospiz-und-palliativecare-inder-grundversorgung.

Palliative Care – Arbeit an den Grenzen von Organisationen und Professionen

Bedingungen für das Lebensende gestalten, Freiburg i.Br.: Lambertus Verlag 2000, S. 80-105. Grossmann, Ralph: »Perspectives of New Public Governance: Organizing Public Goods Cooperatively in the Health and Social Sector«, in: Organizing for Sustainable Effectiveness 3 (2013), S. 193-222. Heller, Andreas/Heimerl, Katharina/Metz, Christian (Hg.): Kultur des Sterbens. Bedingungen für das Lebensende gestalten, Freiburg i.Br.: Lambertus Verlag 1994. [2. erw. Aufl. 2000]. Laloux, Frederic: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München: Verlag Franz Vahlen 2015.

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»Spiritual Care«: Echte Alternative oder nur mehr Desselben? Isabelle Noth und Thomas Wild

Andreas Heller hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er aus der Warte seines breitgefächerten Wissensfundus die Entwicklungen von Health Care im Allgemeinen und die Implementierung von Spiritualität in Palliative Care im Besonderen mit kritischer Distanz beobachtet.1 Im Bewusstsein, dass die Hospizbewegung religiöse Wurzeln hat, weisen Birgit und Andreas Heller im Zusammenhang mit der Entwicklung des Palliative Care-Konzepts auf die Psychologisierung von Religiosität und auf deren Neu-Etikettierung durch Spiritualität hin.2 Nicht jede Person, die von Spiritual Care spricht, meint auch dasselbe. Darauf hat in den letzten Jahren die Medizinerin und Theologin Doris Nauer emphatisch hingewiesen.3 Anhand zahlreicher konkreter Beispiele zeigt sie die semantische Bandbreite unterschiedlicher Möglichkeiten auf, den Begriff Spiritual Care zu verwenden. So kann darunter »eine unerlässliche Dimension« beziehungsweise »ein wesentliches Merkmal von Palliative Care« oder ein »theoretische[s] Konzept«, »eine bestimmte Art und Weise professioneller Sterbebegleitung«, »eine innere (ethische) Haltung«, »eine ganz konkrete […] Alltagspraxis«, »eine neue Berufsbezeichnung«, »eine neue ärztliche Disziplin«, »ein neuartiges gesundheitswissenschaftliches Modell« verstanden werden – um nur einige der Möglichkeiten zu erwähnen, wie der englischsprachige Terminus gebraucht werden kann.4 Leicht überspitzt lässt sich feststellen, dass die Verwendung des Begriffs nicht nur als ein Sammelbecken unterschiedlichster Projektionen dient, sondern zuweilen mehr über

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Vgl. Heller, 2014. Vgl. ebd., S. 23ff. Vgl. Nauer, 2014, S. 329: »Interessanter Weise reden nicht alle automatisch über das Gleiche, wenn Spiritual Care zum Thema wird.« Vgl. auch Nauer, 2015, S. 14-19. Ebd.

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Isabelle Noth und Thomas Wild

die Person (Personengruppen) und ihre zum Teil berufspolitischen Absichten und Interessen aussagt als über den »Inhalt« selbst. Wer sich mit den historischen Wurzeln von Spiritual Care befasst, stößt unweigerlich auf Cicely M. Saunders und die Hospizbewegung. Pflegefachpersonen waren die treibenden Kräfte in der Entwicklung und Ausgestaltung von Spiritual Care als Teil eines ganzheitlichen Sorge-Ansatzes, der auch spirituelle Bedürfnisse miteinbezieht und schließlich im Begriff Palliative Care Gestalt annahm. Dieser Terminus bezeichnet gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2002 »an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problems associated with lifethreatening illness, and impeccable assessment and treatment of pain and other problems«. Dazu zählen neben physischen, psychischen, sozialen auch spirituelle Probleme. Palliative Care wird nun aber, entgegen der ursprünglichen Absicht, zur Palliativmedizin. Wir beobachten, wie sich Palliative Care im Rahmen hoch entwickelter, industrialisierter Länder des Westens in die impliziten Voraussetzungen des Gesundheitswesens und dessen Rahmenkonzept einverleiben lässt. Auch Palliative Care findet mehr und mehr im Rahmen eines naturwissenschaftlich orientierten und auf Profitmaximierung und Effizienz getrimmten Systems statt. Spiritual Care leitet sich aus dem Palliative Care-Konzept ab. Was geschieht vor diesem Hintergrund mit der Seelsorge – näherhin mit der Spitalseelsorge –, wenn Palliative Care zum »head of concept« wird? In der Geschichte der Seelsorge leitete sich diese bisher stets aus theologisch fundiertem und kirchlich motiviertem Handeln ab. Im Kontext von Palliative Care, dem ein medizinisch orientiertes Paradigma zugrunde liegt, wird Seelsorge zu spezialisierter Spiritual Care. Was bei Saunders einst als Ausdruck einer tieferliegenden, sich schon seit längerem bemerkbar machenden Unzufriedenheit mit einer naturwissenschaftlich-technokratischen Medizin entstand und überwunden werden wollte, setzt sich – so zumindest der Verdacht – unter der Marke »Spiritual Care« fort. Die durch die Palliative Care-Konzepte inaugurierte Welle von spiritueller Instrumentalisierung (spiritueller Anamnese, spirituellem treatment, spiritual screening, spiritual assessment, spiritueller Symptomkontrolle, spiritual skills) hat in den USA mittlerweile die ganze Health Care erfasst. Spiritual Care wird zunehmend auch jenseits vom palliativen Setting auf die ganze Gesundheitsversorgung in Kliniken ausgeweitet. 2015 haben das amerikanische Beryl Institut und das HealthCare Chaplaincy Network in einem Grundlagenpapier dazu aufgerufen, die evi-

»Spiritual Care«: Echte Alternative oder nur mehr Desselben?

denzbasierte Forschung zu Spiritual Care zu verstärken, 2016 folgte das HealthCare Chaplaincy Network mit einem ersten Modell zur Standardisierung und Etablierung von Qualitätsindikatoren für die »Spezialisierte Spiritual Care«. Die Organisation unterscheidet in ihrer Publikation »Time to Move Forward«5 zwischen Struktur-, Prozess- und Wirksamkeitsindikatoren. Mit anderen Worten: Seelsorge wird als spezialisierte Spiritual Care in erster Linie im Kontext ihrer Leistungen gesehen, die sie für die Institution erbringt. Sind diese Leistungen nicht ausweisbar, werden Effekte und Notwendigkeit der Seelsorge in Frage gestellt. Dahinter steht weniger die Frage nach dem – unbestrittenen – Bedarf an Seelsorge von Patientinnen, Patienten und Mitarbeitenden, sondern vielmehr die Fragen nach »outcome« und »impact« für das medizinische Kerngeschäft sowie die medizinischen Organisationseinheiten. Im Modell von Spiritual Care werden die bisher unangefochtenen Kompetenzen der Seelsorge im Bereich spiritueller Begleitung auf andere Unterstützungsfunktionen ausgeweitet. Die Seelsorger sind nicht mehr die alleinigen Repräsentanten von »Spiritualität«. Seelsorger*innen sind aber ebenso nicht mehr Repräsentant*innen einer bestimmten Religion oder Konfession. Sie werden, etwas zugespitzt, zu Gesundheitsfachpersonen mit Expertise für spirituelle und religiöse Dimensionen. Das wirft Fragen auf, die hier abschließend in drei Teilfragen gebündelt werden sollen:

Ausweitung oder Einengung der Entscheidungskompetenzen der Leidenden? Nach Heller und Heller6 wird durch die Verwendung des Spiritualitätsbegriffs der Schutz und die Freiheit des Individuums gegenüber den Ansprüchen von Religionsgemeinschaften und Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht verbürgt. Abgesehen davon, dass Menschen – und gerade solche, die nichts mit Spiritualität am Hut haben wollen – durch spirituelle Assessments vereinnahmt werden können, besteht zumindest die Gefahr, dass Menschen als defizitär qualifiziert werden. Auch der standardisierte Einbezug von

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HealthCare Chaplaincy Network (HCCN) (2016). Time to Move Forward. Creating a new Model of Spiritual Care to enhance the Delivery of Outcomes and Value in Health Care Settings. New York, S. 12ff. Heller/Heller, 2014, S. 26.

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Isabelle Noth und Thomas Wild

spezialisierter Spiritual Care kann den für manche Patient*innen wichtigen Sachverhalt, wenigstens diesbezüglich selber entscheiden und also eine Restautonomie wahren zu können, übergehen. Die vielfach gepriesene Patientenorientierung moderner Kliniken7 wird mit zunehmenden Standardisierungen zugunsten von betrieblichen Qualitätsindikatoren und Leistungsausweisen in Frage gestellt. Die Differenzierung zwischen religiösem und nicht-religiösem Selbstverständnis von Institutionen spiegelt sich auch im Bewusstsein von Individuen: Für die meisten Menschen »gibt es keine starre Dichotomie des ›Entweder-Oder‹ zwischen Glauben und Säkularem, sondern vielmehr eine fließende Konstruktion des ›Sowohl-als-Auch‹«8 . Wir können daraus folgern, dass Menschen nicht nur institutionell verfassten Religionen, sondern ebenso dem wenig konturierten, säkularer anmutenden Spiritualitätsbegriff gegenüber ambivalent sind.

Ausweitung oder Einengung der seelsorglichen Kompetenzen? Die vielfältigen Qualitäten der Seelsorge auch und gerade in Gesundheitsinstitutionen sind unbestritten und können auf eine lange Tradition zurückgreifen. Die Qualitäten zeichneten sich in den vergangenen Jahrzehnten durch Unabhängigkeit, Außenperspektiven und Alternativangeboten zu evidenzbasierten Behandlungsmethoden aus. Das Spiritual Care-Modell schließt diese Qualitäten zwar nicht grundsätzlich aus, bindet sie aber in ein Konzept ein, das zumindest aus der Perspektive des Care-Bedürftigen einer Plafonierung gleicht. Patientinnen schätzen die Dienstleistung der Seelsorge auch und gerade darin, dass die Seelsorge nicht – oder jedenfalls nicht im engeren Sinn – zum Behandlungsteam gehört. Die Erfahrung zeigt, dass die Systemfremdheit einer niederschwelligen und zweckfreien Seelsorge häufig dazu genutzt wird, in Kliniken tabuisierte Themen anzusprechen. Und vice versa haben Seelsorger*innen alle Freiheiten, mit den ihnen vertrauten und

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Vgl. die strategischen Ziele der Berner Inselgruppe: »Die neuen, gruppenweiten strategischen Unternehmensziele sind: Patientenorientierung, Qualitätsführerschaft, Erfolgsfaktor Mitarbeitende, Digitale Medizin, Innovation in Diagnostik und Therapie sowie Alter und Gesundheit.« (http://netz.insel.ch/index.php?id=13413, Zugriff am 28.11. 2020). Berger, 2015, S. 9.

»Spiritual Care«: Echte Alternative oder nur mehr Desselben?

bewährten Traditionselementen eine »andere« Dimension in die Konversation einfließen zu lassen, die in einem Spiritual Care-Konzept nicht abgebildet oder ohne weitere Differenzierung als »religiöse Dienstleistung« qualifiziert werden. Die diakonisch-prophetische und damit systemkritische Aufgabe der Seelsorge ist den sozial und spirituell entwurzelten Care-Bedürftigen besonders verpflichtet.9 Damit Seelsorge in ihren vielfältigen Bezügen handlungsfähig bleibt, muss sie sich situativ auf die Seite der Benachteiligten schlagen können. Sie wird das, wie professionelle Seelsorge das in den vergangenen Jahrzehnten praktiziert hat, dialogisch tun, in interdisziplinärer Offenheit und in kommunikativer Resonanzfähigkeit.10

Ausweitung oder Einengung des Spiritualitätsbegriffs? Unbefriedigend ist nach Heller die durch Medizin und Psychologie operationalisierte Spiritualität, weil sie die aktuellen Veränderungen des religiös-plural besetzten Feldes verdeckt halten und humane Merkmale wie Sinnsuche, Beziehungsqualität und Persönlichkeitsentwicklung unter einem wenig aussagekräftigen Begriff subsumieren. Um eine grundlegende Implementierung von Spiritual Care in das medizinische Paradigma zu erreichen, muss ein möglichst weiter Spiritualitätsbegriff verwendet werden. Die medizinische Bemächtigung von Spiritualität verändert den Umgang mit dieser: »Glauben, Religion und Spiritualität werden nunmehr unter dem Blickwinkel der evidenzbasierten Medizin mit ihren ökonomisierenden und technisch-rationalen Tendenzen gesehen« – so auch Eckhard Frick, einer der Protagonisten von Spiritual Care.11 Der Containerbegriff »Spiritualität« wird von Religiosität klar abgesetzt. Eine neu aufkeimende Dichotomie ist in diesem Denkschema zu erkennen. Es entspricht weder den heutigen wissenschaftstheoretischen noch den religionssoziologischen Erkenntnissen. Aus der Religionspsychologie wissen wir, dass es weder eine Religiosität noch eine Spiritualität an sich gibt. Beide müssen jeweils unter einer doppelten Perspektivität betrachtet werden. Beide können lebensfördernd wie auch lebenszerstörend wirken. Beide Begriffe sind zudem in hohem Maße durch ambivalente Erfahrungen geprägt: Sie können, wie die Geschichte, aber auch die aktuelle Weltlage zeigt, 9 10 11

Vgl. Nauer, 2014, S. 151ff. Vgl. Wild, 2021, S. 11f [forthcoming]. Vgl. Frick, 2011, S. 412.

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Isabelle Noth und Thomas Wild

missverstanden und missbraucht werden. So ist zum Beispiel kritisch zu fragen, ob individualistisch verengte und apolitische Spiritualitätsdefinitionen nicht letztlich auch ein hohes Abschottungspotenzial in sich tragen. Aus der Geschichte der Seelsorge wissen wir, wie nötig selbst- und gesellschaftskritische Reflexionen sind. Die Diskussion rund um Spiritualität und Spiritual Care zeigt: »Wir befinden uns in einem interdisziplinären Verteilkampf auf dem Sinnsektor.«12 Das Feld der Sinngebungen professionellen Handelns, seiner weltanschaulichen und ethischen Implikationen und Legitimationen kann nicht einfach den jeweiligen fachpolitischen Interessen überlassen werden. Soll Spiritual Care Ausdruck des Korrektivs zu einer einseitig naturwissenschaftlich-technokratischen Medizin und ihres biologistischen Menschenbilds sein, müssen die hier aufgeworfenen Fragestellungen ernsthaft diskutiert werden.

Literatur Berger, Peter L.: Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2015. Frick, Eckhart: »Spiritual Care in der Humanmedizin. Profilierung und Vernetzung«, in: Constantin Klein/Henrik Berth/Friedrich Balck (Hg.), Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim: Beltz Verlag 2011, S. 407-420. Heller, Andreas: »Christliche Krankenhausseelsorge. Ein Spiegel für Spiritual Care?«, in: Birgit Heller/Andreas Heller (Hg.), Spiritualität und Spiritual Care, Bern: Huber Verlag 2014, S. 69-92. Heller, Birgit/Heller, Andreas: Spiritualität und Spiritual Care, Bern: Huber Verlag 2014. Nauer, Doris: Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2014. Nauer, Doris: Spritual Care statt Seelsorge? Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2015. Noth, Isabelle: »Spiritual Care zwischen Sehnsucht und Realität«, in: Neue Wege – Beiträge zu Religion und Sozialismus 11 (2018), S. 5-8. Wild, Thomas: Seelsorge in Krisen. Zur Eigentümlichkeit pastoralpsychologischer Praxis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 2021. 12

Noth, 2018, S. 6.

Sorge um die Freude Annährungen an einer Kartografie der Affekte Isabella Guanzini

Das Wagnis einer fürsorgenden Gesellschaft Die sowohl theoretische als auch praktische Frage nach den möglichen Formen von realen, sorgenden Gemeinschaften oder compassionate communities in den heutigen pluralistischen und hoch individualisierten Gesellschaften, die im Zentrum des theoretischen und praktischen Engagements von Andreas Heller steht, ist nicht zuletzt theologisch-politischer Natur. Denn grundsätzlich geht es um das Verständnis des Menschlichen in der Alternative zwischen einer institutionalisierten bzw. professionalisierten technisch-medizinischen Behandlung des Sterbens (und somit des Lebens), welche letztendlich die Menschen mit ihren Schicksalen ohne Erzählung zurücklässt, und einer demokratisierten heilenden Sorgekultur, die »auch als ein Akt der Widerständigkeit«1 zu interpretieren ist. Kritisch-apokalyptische und philosophisch-soziologische Perspektiven kämpfen kompromisslos gegen das »politische Analgetikum« der gegenwärtigen »Palliativgesellschaft«2 , die mittels Pharmakologisierung und Privatisierung ausschließlich auf die neoliberale Optimierungslogik einer messbaren und zählbaren Körperlichkeit abzielt. Andreas Heller fordert seinerseits mit seinem politisch-theologischen Sorgeprogramm zu einem Paradigmenwechsel auf, der eine neue erzählbare symbolische Ordnung in die heutige zielorientierte Leistungsgesellschaft einzuschreiben versucht. Es geht vor allem um ein neues Narrativ des Zusammenlebens, das seine Ränder – Menschen am Anfang und am Ende des eigenen Lebens – ins 1 2

A. Heller, https://www.bildungkirche.ch/newsroom/magazin/Ausgaben-2018/03-2018geteilt/Sorge-teilen-ist-die-einzige-Hoffnung Vgl. Han, 2020.

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Isabella Guanzini

Zentrum rückt, um das Gesamte neu zu denken. Dieser Blickwinkel setzt sich besonders der Biopolitik eines medizinischen Paradigmas entgegen, das Formen des »nackten Lebens«3 produziert, indem es das Leben auf sein bloßes Überleben hin erschöpft und es dadurch seiner Bedeutungshorizonte entkleidet. Da sich das beherrschende, technisch-medizinische Dispositiv gegenüber der Komplexität der individuellen Körpergeschichten zunehmend immunisiert hat und jede symbolische Sinnerschließung funktionalistisch ausklammert, stellt sich die dringliche Frage, ob unsere Formen der Behandlung und der Pflege noch in der Lage sind, die Zeichen der Schwäche real wahrzunehmen und mit Sorgfalt zu begleiten, statt sie einfach zu medikalisieren, privatisieren und anästhetisieren. Dagegen plädiert Andreas Heller leidenschaftlich für ein neues Zueinander, das nicht nur Fachexpert*innen, Pflegepersonal und Familien miteinschließt, sondern auch ein sorgendes gesellschaftliches Gewebe, in welchem die individuellen Sorgen geteilt werden, sodass sie in eine gemeinsame symbolische Narration eingeschrieben werden können. In dieser Spannung zwischen einem institutionalisierten und professionalisierten Sorgeprogramm und der Vision eines umsorgenden Miteinanders, die sich im medizinischen sowie familiären Alltag nie in absoluten Polarisierungen verwirklicht findet, sondern im pflegenden Handeln oft eine Mischung von technischer Optimierung und sorgender Präsenz darstellt, eröffnet sich jedenfalls ein hochsensibler Denk- und Erfahrungsraum, in welchem die Sinnfrage in ihrer wesentlichen Form offenkundig wird. Denn in Grenzund Krisensituationen – vor allem angesichts eines nahenden Anfangs oder Endes – wird unser »Existential« der Kontingenz und Zerbrechlichkeit besonders spürbar und fordert mit seinen erschütternden Fragen die Bedeutung unseres alltäglichen Weltumgangs heraus. Im Zentrum steht dadurch die Frage nach der Eröffnung einer neuen freundschaftlicheren Vision der Sorge und einer fürsorgenden Gesellschaft, welche die Schwächen, das Altwerden und das Sterben in die Mitte zu rücken und Lebenssinn und Zugehörigkeitsgefühl freizusetzen vermag. In diesem Zusammenhang geht es also darum, Prozesse in Gang zu bringen, die Widerstand gegenüber einer kurzsichtigen und kurzlebigen Politik leisten können und demgegenüber auf der Ausdehnung der menschlichen Fülle beruhen. Um mich dieser Frage anzunähern, möchte ich einige Überlegungen präsentieren, welche auf Voraussetzungen unseres Miteinanders verweisen, 3

Vgl. Agamben, 2002.

Sorge um die Freude

die den entsolidarisierenden und entpolitisierenden Machtdispositiven der heutigen Leistungs- und Müdigkeitsgesellschaft widerstehen könnten. Dabei wird vor allem jener Entleerungseffekt in den Blick genommen, der die Subjekte traurigen Affekten unterwirft, indem sie von sich selbst und von den anderen getrennt werden und auf diese Weise über keine sinnvolle Erzählung für die eigene Selbstwelt, die Mitwelt und Umwelt mehr verfügen. Zuerst wird die Affektenlehre einer der wichtigsten Philosophen der Neuzeit, Baruch de Spinozas, der heutzutage ein besonderes »Jetzt der Lesbarkeit«4 zu erfahren scheint, kurz skizziert. Anschließend werden einige Gedanken über die Lektüre des Religiösen von Henri Bergson präsentiert, der sich auch mit bestimmten gesellschaftlichen sowie religiösen Polarisierungen beschäftigt und einen Beitrag zum Verständnis der heutigen allgegenwärtigen Melancholie leisten könnte.

Lob der laetitia: Spinoza In Teil III und IV seiner Ethik arbeitet Spinoza eine Affektenlehre aus, die eine zentrale Rolle in seiner Ontologie und in seinem Weltverständnis spielt und als eine »Bejahung des Lebens« verstanden werden soll.5 Er analysiert die vielfältigen Variationen unserer Affekte, welche die eigene potentia agendi, das heißt unsere Lebenskraft vermindern oder vermehren können, und bietet uns eine Art Therapeutik der Emotionen an, um ihre oft chaotische Realität besser zu verstehen und dadurch ein freieres Leben zu führen. Der Mensch ist nach Spinoza zunächst und unvermeidlich den eigenen Affekten überantwortet. Die Affekte sind für Spinoza die Prägungen, die die Menschen einander wechselseitig hinterlassen, indem sie die kreative Kraft der Sensibilität aktivieren. In der Erfahrung des affectus wird das Subjekt nach außen, aus sich selbst herausgeführt. In dem Augenblick, in dem man berührt und selbst berührt wird, richtet sich die eigene »relationale Energie«, wie Luce Irigaray sagen würde, auf den Anderen. Dabei wird Welt konstruiert.6 Jede Begegnung in unserer Existenz – mit Ideen, Menschen, Objekten, Situationen, Vorstellungen usw. – verbreitert oder verringert den eigenen

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Vgl. Nadler, 2020; James, 2020; Campbell/Tropper/Winch, 2020; Andermann, 2020; Youpa, 2020. Spinoza, 1995. L. Irigaray, Elogio del toccare, Genova, 2013, 11.

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Isabella Guanzini

affektiven Gradienten: Man trifft auf Gedanken, welche die Lebenskraft unmittelbar vermindern. Man kann aber auch Wörtern und Gesten begegnen, die die eigene emotionale Landschaft intensivieren; es ist eine Art Steigerung-Senkung-Steigerung-Senkung-Rhythmus, der die menschliche emotionale und kognitive Existenz bestimmt. Die Affekte können daher ein Wissen und ein Lebensverständnis vorantreiben, Sprungbretter für glorreiche Handlungen sein oder zu einem Gefängnis von traurigen Gedanken werden, die jede Entscheidung bremsen. Jede Leidenschaft, die eine Verringerung der Handlungspotenz impliziert, wird bei Spinoza tristitia (Trauer) genannt, während laetitia (Freude) jene Leidenschaft bezeichnet, in der sie wächst. Freude und Trauer bezeichnen auch die Proportion von Aktivität und Passivität eines menschlichen Lebens.7 Für Spinoza ist Traurigkeit »ein Übergang des Menschen von einer größeren zu einer geringeren Vollkommenheit«.8 Sobald man Traurigkeit fühlt, fällt der Körper in Passivität und Stillstand. In seinen Vorlesungen über Spinoza behauptet Gilles Deleuze: »Spinoza enthüllt uns eine sehr einfache Sache: Die Trauer macht nie klug. »Traurig sein« bedeutet »geliefert sein«. Deswegen brauchen die Mächtigen die Traurigkeit der Unterworfenen. Kultur und Klugheit haben nie aus Angst Nutzen gezogen. Solange ihr traurige Affekte haben werdet, erleidet ihr die Wirkung von Körpern oder Seelen, die euch nicht angemessen sind.«9 Die Traurigkeit, behauptet Gilles Deleuze, führt also niemals zu »Intelligenz«, weil sie die Macht zu handeln reduziert, indem sie die Existenz einem Teufelskreis konsequenter Verschließungen zuführt. Deswegen bedürfen Mächte und despotische Regierungen der Traurigkeit der Unterworfenen, die immer mehr der Macht des anderen ausgesetzt und damit schwach und passiv in ihrer Handlungsmacht sind. Die Traurigkeit wird nie »Gemeinbegriffe« oder eine Intelligenz der Beziehungen zwischen Körpern kreieren, sondern der Zufälligkeit der Begegnungen ausgesetzt und der Zwiespältigkeit sowie der Absonderung unterworfen sein. Das wahre Problem ist, wie Deleuze in großartiger Weise zeigt, dass wir nicht wirklich wissen, was ein Körper vermag. Dies bedeutet, dass wir nicht

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Vgl. Gilles, 2007, S. 58. Spinoza, 1995, Definition der Affekte 1-3, S. 245. Deleuze, 2007, S. 60f.

Sorge um die Freude

wissen, wie unsere Affekte funktionieren, da wir ihre Ursache nicht untersuchen und insofern ihre Folgen nicht verstehen. Folglich leben wir ein unangemessenes Leben, das dem Zufall der Begegnungen und der Emotionen überlassen wird. Wir brauchen deshalb eine Kartografie der Affekte, die in diesem Sinne von hoher moralischer, politischer und nicht zuletzt theologischer Relevanz ist. Dadurch könnten wir besser verstehen, warum die Macht systematisch traurige und erschöpfte Menschen in ihrem Umkreis braucht und warum sie die Verschließung der Offenheit vorzieht. Die Macht reduziert die Zirkulation der Affekte und liebt die Traurigkeit, weil sich der traurige Modus nicht bewegt, gehorcht und das Mögliche nicht schätzt. Deshalb besteht die Politik für Spinoza darin, als eine Textur von lebendigen Relationen zu existieren, die im staatlichen Körper Öffnungen erzeugen, welche gegenüber einem unterdrückenden Regime zu kritischen Instanzen werden. Darüber hinaus zeigt Spinoza in seinem Tractatus theologico-politicus, dass dem Aberglauben und den archaischen Frömmigkeitsformen, welche die Subjekte ideologisch unterdrücken, eine grundlegende Angst zugrunde liegt: »die Ursache also, aus der der Aberglaube entspringt, durch die er erhalten und genährt wird, ist die Furcht.«10 Diese Ursache, die verschiedene Formen des Religiösen noch immer prägt, ist von gekränkten Affekten sowie von Ressentiments durchzogen, welche die Menschen voneinander trennen, indem sie jede gemeinsame Sinnerschließung verunmöglichen. In Krisenzeiten – wie aktuell der unseren – wird diese Angst (auch jenseits des Religiösen) besonders spürbar und verwandelt die Textur des gesellschaftlichen Austausches maßgeblich, der folglich durch eine hintergründige Strahlung von Resignation und Aggressivität getrübt erscheint. Von daher könnte man sich fragen, ob eine der wichtigsten Aufgaben der Religionsphilosophie und Theologie im nachmetaphysischen Zeitalter nicht in einer religiösen Kritik der Religion bestünde, die sich nicht zuletzt mit einer »Kritik der Furcht und der Resignation« auseinandersetzt und notwendigerweise auch diejenigen, welche diese Furcht systematisch nähren und ausnutzen, trifft. Die moderne (aber auch postmoderne) Infragestellung ideologischer Mystifizierungen, fundamentalistischer Identitätsansprüche und unterdrückenden Aberglaubens soll zu einem neuen Verständnis der religiösen Tradition gegen ihre unterwerfenden und abtötenden Tendenzen führen, die

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Spinoza, 2016.

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letztendlich eine Art religiöser Melancholie in den sozialen Korpus einschreiben. Die Theolog*innen müssten insofern auch Kartograf*innen der Affekte werden, um eine mögliche Landkarte der Gefühle zu entwerfen, die uns helfen könnte, eine neue Poetik der sozialen Beziehungen zu denken und diese im heutigen psychosozialen Kontext in Gang zu setzen.

Henri Bergson und die Mystik des Offenen Die Untersuchungen Spinozas zeigen deutlich, dass die Suche nach dem Geschlossenen eine unglückselige Tendenz menschlichen Lebens darstellt, von der politische und religiöse Machtdispositive systematisch profitiert (haben). Sein Appell, aus der Verschlossenheit herauszutreten, ist zweifellos noch immer sehr aktuell. Vor allem in unserer Krisenzeit, in welcher die Subjekte sich zunehmend in das Private zurückziehen oder nach autoritären Identifikationen streben, um sich selbst in einer gewissen Art der Stabilität und Herrschaft abzusichern, wird Spinoza, den verschiedene Kommentatoren mit einem »großen ruhigen Wind«11 , der uns zieht, verglichen haben, besonders lesbar. Solch eine Obsession für die Geschlossenheit, die eine schändliche faschistische Tendenz versteckt, begleitet wie ein Schatten jeden Subjektivierungsprozess als ständige Versuchung, sich gegen den anderen und sein Eindringen zu verteidigen und zu schützen. Dagegen stellt die Freude ein Konzept von Widerstand und Leben dar, das traurige Affekte bekämpft und die Subjekte in Kontakt mit dem eigenen Begehren bzw. – im Sinne Spinozas – der eigenen potentia bringt. Die Freude entflieht der Resignation, dem Schuldgefühl und denjenigen Machtfiguren, welche die Menschen zur unendlichen Schuld veranlassen. Ein roter widerständiger Faden scheint nun von Spinoza zur Religionsphilosophie von Henri Bergson zu führen, dessen Denken auf den Antinomien Dynamik/Statik, offen/geschlossen, Bewegung/Ruhe, Dauer/Raum, Konzept/Ekstase beruht. Vor allem in seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion (Die beiden Quellen der Moral und der Religion), das 1932 erschien,

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»Und in der Tat gibt es keinen anderen Vergleich als den Wind. Aber handelt es sich um den großen ruhigen Wind, von dem Belbos als Philosoph spricht? Oder gar um den Wirbelwind, die Hexenjagd, von der der ›Fixer‹ redet, der Nicht-Philosoph par excellence […]?« Deleuze, 1988, S. 168.

Sorge um die Freude

setzt sich Henri Bergson (1859-1941) den geschlossenen Moral-Konzeptionen, die sich auf bürokratische Kontrolle und den Dualismus Freund/Feind stützen, ebenso wie den statischen, territorialen und identitären Religionen entgegen. Bei Bergson begegnet man der unablässigen Einladung, das zu öffnen, was in sich verkrustet ist, das zu verflüssigen, was vom abstrakten Intellekt verdinglicht und fixiert wird, das zu dynamisieren, was um die eigene Selbstdarstellung kreist und das heißt, alles in seiner beweglichen Ganzheit zu betrachten. Vom Standpunkt seiner Lebensphilosophie aus wird der sich wiederholende Kreis der Natur durch das élan vital, das ein Mehr-Leben und ein Mehr-als-Leben darstellt, unterbrochen, sodass die menschliche Natur einen Schritt nach vorn tun kann, statt um sich selbst herum zu kreisen. Dieser »höheren« religiösen Form liegt eine offene Seelenhaltung zugrunde und ist von einem schöpferischen Prinzip durchdrungen, das gesellschaftliche Transformationen hervorbringt. Dadurch werden die Abwehrmechanismen der »statischen« Religion, die durch ihre Riten und ihre »fonction fabulatrice« (Fabulierfunktion) gesellschaftliche Stabilität zu erzeugen und auf die zersplitternde Kraft des Intellekts zu reagieren versucht, von einer »dynamischen« und mystischen Religion, die am élan vital teilhat und ein neubelebtes sozialen Engagement verlangt, abgerüstet. Im Zentrum der Religionsphilosophie Bergsons steht nicht zufällig die Erfahrungsdimension einer tätigen Mystik, welche von der Dynamik einer schöpferischen »gelebten Zeit« (durée) statt von der Statik einer äußeren »räumlichen Zeit« (temps d’espace), die gezählt und gemessen werden kann, geprägt ist. In dieser Hinsicht scheint die »statische Moral und Religion« der Dimension des Raumes Vorrang zu geben, anstatt der Zeit Priorität zu gewähren, um letztlich Räume der Macht und der Selbstbestätigung in Besitz zu nehmen. Hierbei ist vielleicht der Verweis auf das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium von Bedeutung: »Damit werden die Prozesse eingefroren. […] Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen, anstatt Räume zu besitzen. Die Zeit bestimmt die Räume, macht sie hell und verwandelt sie in Glieder einer sich stetig ausdehnenden Kette, ohne Rückschritt. Es geht darum, Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik in der Gesellschaft erzeugen und Menschen sowie Gruppen einbeziehen, welche diese vorantreiben, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringt.

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Dies geschehe ohne Ängstlichkeit, sondern mit klaren Überzeugungen und mit Entschlossenheit«12 . Eine dynamische Religion mit ihrer durée ist in dieser Perspektive als ein Sprung über die statische Religion hinaus zu verstehen, in welcher die Mystik keine bloße Erweiterung des sozialen Instinktes, sondern etwas so radikal Neues ist,13 dass, »wenn sie spricht, so […] sich in der Tiefe der meisten Menschen etwas, das ihr unmerklich antwortet«14 , zeigt. In dieser gelebten Zeit, die wir Menschen sind, haben wir die Möglichkeit, so Bergson, diesen Schwung (élan vital) aufzugreifen und unser Zusammensein damit wiederzubeleben. Mystisch ist jede subjektive Erfahrung, die die traditionelle Religiosität mit ihrer fabulatorischen Funktion begleitet und zugleich in der Religion selbst als innere transformative und letztlich nicht völlig symbolisierbare Kraft wirkt. Die wahre Mystik eröffnet »ein ganz anderes Haften am Leben […] durch ein umgewandeltes, verklärtes Vertrauen«15 . Dadurch bildet sich eine gemischte Form der Religion heraus, die aus statischen und dynamischen Elementen besteht, wo ihre stabilisierende und fabulatorische Funktion mehr oder weniger und nicht ohne Kontrast durch den Geist, der sich wirklich offenbart, »erleuchtet und erwärmt« wird. Bergson zufolge sollten jedoch diejenigen Religionen nicht verächtlich gemacht werden, denen es nicht möglich ist, die Erfahrung mit den Tiefen der Mystik zu verbinden. »Auch nahezu leeren Formeln begegnet es hie und da, dass sie als wahrhaft magische Worte den Geist hervorsprudeln lassen, der fähig ist, sie zu füllen«16 . Dennoch behauptet Bergson, dass das Kraftfeld der Mystik – auch wenn man nur deren schwaches Echo vernimmt – die religiöse Erfahrung magnetisiert und verwandelt, da sie »eine Fühlungnahme und damit ein teilweises Einswerden mit der schöpferischen Anstrengung, die vom Leben offenbart wird«, ist. Vor allem ist die dynamische Religion, die in den Kontakt mit dieser Lebensquelle hineinführt, mit einer großen Freude (joie) verbunden, die sich vom bloßen Vergnügen (plaisir) unterscheidet. Diese Freude, die großartig und zugleich einfach ist, entspringt dem Übergang vom Statischen zum Dynamischen, von Geschlossenen zum Offenen, vom gewohnten Leben zum 12 13 14 15 16

Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (2013), S. 223. Steunebrink, 2019, S. 110. Bergson, 2019, S. 224. Ebd. Ebd, S. 225.

Sorge um die Freude

mystischen Leben, wodurch der élan vital neu zur Erscheinung kommt und die Seele endlich aufhört, sich um sich selbst zu drehen: »Sie hält inne, als hätte sie eine Stimme vernommen, die sie riefe« und fühlt eine »ungeheure Freude«17 . Freude entspringt daher aus den Knotenpunkten menschlicher Erfahrung, die in Berührung mit der eigentlichen Lebensquelle kommen und eine neue tiefere Sinnerschließung eröffnen. Eine der wichtigsten Figuren der italienischen Psychoanalyse in den 70er und 80er Jahren, Elvio Fachinelli, würde von jener kreativen und »exzessiven Freude« sprechen, welche die Enge eines versteinerten (auch religiösen) Territoriums sowie jeden Diskurs der Herrschaft zu sprengen und ein »ozeanisches Gefühl« entstehen zu lassen vermag. Einerseits gibt es die fröhliche Kreativität und die dynamische Konvivialität »mit offenen Mündern« in einer wiedergefundenen agorà; andererseits gibt es die hygienische und technokratische Immobilität und Beschränkung, die mit passiv »geschlossenen Mündern« bewohnt wird.18 Während das Mystische sich vor der Begegnung mit dieser exzessiven Freude nicht fürchtet, baut das Statische religiöse Schutzdämme gegen den Anderen und das Offene auf, und schließt sich vor der Möglichkeit des Neuen ab. Mystik bedeutet hier nicht Meditation oder Versenkung, sondern offener Empfang dessen, was im Kommen ist. »Vom spitzen Wald der Abwehr geht man nicht aus. Stattdessen [braucht man] Empfang, Annahme, furchtloses Vertrauen zu dem, was sich abzeichnet«19 . Wenn die Suche nach Stillstand, nach Geschlossenheit und Sicherheit die Macht und die Unterwerfungsdispositive charakterisieren, wenn die beherrschenden Kräfte dem Raum den Vorrang geben und die Zeit flüchten, dann destabilisiert und löst die Freude den kompakten Monolith der Macht auf, um die angliedernde Potenz der Begegnungen und der Berührungen zwischen den Körpern zirkulieren zu lassen. Die Gesellschaft des Stillstandes versteinert sich in einer Welt der Geschlossenheit, da sie dem Exzess bzw. der Gabe der Freude nicht auf Dauer standhalten kann. In diesem Zusammenhang scheint die obsessive institutionelle Verteidigung der bestehenden statischen Ordnung gegen Zeit und Geschichte mit dem Verlust der Dimension der Gabe – oder der gratitude, wie Melanie Klein behauptete20 – eng verbunden zu

17 18 19 20

Bergson, 2019, S. 241. Vgl. E. Fachinelli, La mente estatica, Adelphi, Milano, 2009. Ebd., S. 16. Klein, 2000.

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sein. Die Dankbarkeit der Freude/die Freude der Dankbarkeit bestimmen eine gesellschaftliche und religiöse Erfahrung, die tief zeitlich geprägt ist und schöpferisch wirkt. Es geht um einen mutigen Weltumgang, der bereit ist, dem Schwanken standzuhalten, in der Oszillation zwischen Ich und Anderem ohne Angst zu verbleiben, um der fixierenden Tendenz des Statischen zu entfliehen und neue Wege des Sozialen und Religiösen im Offenen freizusetzen. Wenn es wahr ist, dass diese exzessive Freude eine Art mystischer und dionysischer Hybris – à la Nietzsche – mit sich bringt, die die statische Gesellschaft und Religion in ihrer apollinischen Gestalt zu domestizieren versuchen, würde es der gesellschaftlichen sowie religiösen Erfahrung an etwas Wesentlichem mangeln, nämlich der Möglichkeit, die Welt mit fröhlicher Dankbarkeit anzunehmen. In dieser Hinsicht stellt der Überschuss bzw. der Exzess der Freude, der nicht zuletzt auf das lacansche Reale verweist, in erster Linie nicht etwas Bedrohendes und Überschwemmendes (die jouissance als persistierenden und tödlichen Zwang zum Genießen), sondern als etwas Positives, als eine schöpferische Kraft dar, die uns befreit und uns zum Lachen bringt (hier verweist Fachinelli vor allem auf das freudsche Werk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, 1905)21 . Das lacansche Reale wird durch die »fröhliche Wissenschaft« von Nietzsche tief transformiert, die sich jedoch nicht ohne Tragödie entwickelt.

Schlussworte In dieser Perspektive könnte man sich fragen, ob das eigentlich gesellschaftspolitische Potenzial der Freude in seiner Wirkung, das Statische zu durchlöchern, um neue Wege im Offenen freizusetzen, sich nicht genau in Krisensituationen – angesichts eines Beginns, des Todes sowie angesichts der Schwäche in all ihren Ausformungen – offenbart. Denn hierbei fallen die identitären Masken und Bilder, welche die Subjekte zwar stabilisieren, die jedoch oft vermeiden, etwas Neues zu ersinnen und überraschende Prozesse in Gang zu setzen. Eine mystische Erfahrung, die dem Geheimnis der fröhlichen Gottesquelle entspringt, jedoch nicht ohne ein tragisches Moment zu denken ist, stellt

21

Freud, 1992.

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keine bloße Kontemplation dar, sondern eine lebendige Praxis, die freie Gemeinschaften aufzubauen vermag. Es handelt sich um eine Praxis, die jedem Trennungs-, Unterwerfungs- und Bedrohungsregime gegenüber Widerstand zu leisten vermag, mit dem Ziel, eine fröhliche Geselligkeit und eine lebendige Resonanz zu generieren. Solch ein Prozess stellt eine radikale Mutation der Codes und der Prioritäten innerhalb der gemeinschaftlichen Dialektik dar, die fähig ist, dem Aufruf der Affekte und der Kontemplation der elementaren Beziehungen zu folgen. Denn ein neues Zueinander ist heutzutage notwendig und dringend, da es nicht zuletzt etwas ist, das die größte Freude hervorbringt, das heißt das Gefühl, in einer Dimension der Fülle zu leben und zu denken, die sich dank ständiger freundschaftlicher Austauschprozesse entwickelt. Solch eine Dimension, die immer wieder zu initiieren ist, setzt eine lustvolle und zugleich kritische Fähigkeit zum kollektiven Aufbau voraus, die eine Politik des Gemeinsinns entstehen lassen könnte. Echte demokratische Kämpfe sind daher Kräfte, die das Soziale aufbauen, unablässig neue Zusammenhänge weben, die Stagnation in Fluss bringen, sodass im harten Panzer geschlossener Machtstrukturen Risse entstehen. Hierbei handelt es sich nicht in erster Linie um eine hoch technisierte Professionalisierung und Spezialisierung der Sorge, sondern um eine Vertiefung ihres Sinnes. Erst im Versuch, die Frage nach der Bedeutung der Sorge – vor allem am Anfang und am Ende des Lebens – zu stellen, lassen sich neue Möglichkeiten von Annäherungen, Zuneigungen und kollektiven Bahnen entdecken. Nur so können die Körper jenseits jeder Melancholie und Resignation wieder neue Fähigkeiten der Wahrnehmung und neue Lebenskräfte entwickeln, um auf diese Weise jeglichem statischen Regime der Entfremdung zu entrinnen.

Literatur Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Andermann, Kerstin: Die Macht der Affekte: Spinozas Theorie immanenter Individuation, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2020. Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019.

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Campbell, Michael/Tropper, Sarah/Winch, Peter (Hg.): Spinoza on Ethics and Understanding, Anthem Press 2020. Deleuze, Gilles: Cosa può un corpo? Lezioni su Spinoza. [übersetzt von Isabella Guanzini], Verona 2007. Deleuze, Gilles: Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin: Merve-Verlag 1988. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Frankfurt a.M.: Fischer 1992. Han, Byung-Chul. Palliativgesellschaft: Schmerz heute, Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2020. James, Susan: Spinoza on Learning to Live Together, Oxford University Press 2020. Klein, Melanie: »Neid und Dankbarkeit. Eine Untersuchung unbewusster Quellen (1957)«, in: Ruth Cycon (Hg.), Gesammelte Schriften, Band III: Schriften 1946-1963, Stuttgart: Frommann-holzboog 2000. Nadler, Steven: Think Least of Death: Spinoza on How to Live and How to Die, Princeton University Press 2020. Spinoza, Baruch de: »Ethik in Geometrischer Ordnung dargestellt«, in: Ders., Sämtliche Werke Bd. 2, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1995, S. 218-525. Spinoza, Baruch de: Theologisch-politische Abhandlung [übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann], Berlin: Contumax 2016. Steunebrink, Gerrit: »Warum definiert Bergson Religion von der Mystik her?«, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society 5 (2019). Youpa, Andrew: The Ethics of Joy: Spinoza on the Empowered Life, Oxford University Press 2020.

Lachen, Lächeln und Gelassenheit Von der geistigen Größe der Menschen in Scherz, Humor und Gastfreundschaft Patrick Schuchter

Vor einiger Zeit wurde ich – in einer merkwürdigen Verkettung von Umständen – darauf gestoßen, mich mit dem Thema Lachen und Humor am Lebensende zu beschäftigen. Das wollte ich nie. Denn in meinem bis dahin sehr einfachen Vorverständnis war Lustiges eben lustig – und sobald man darüber reflektiert oder schreibt, ist es eben genau das nicht mehr. Und diesem Widerspruch wollte ich mich nicht aussetzen. Zudem vertrat ich mit großer Gewissheit ein zweites Vorurteil, was spezifisch den Humor in Pflege und Medizin angeht. Ich war überzeugt, dass sich die einschlägige Literatur darauf beschränkt, einerseits (oft auch sehr erheiternde) Witze und Cartoons über den Tod zu machen, andererseits den Humor vor allem unter funktionalem Gesichtspunkt zu betrachten. Leider erwies sich mein zweites Vorurteil weitgehend als zutreffend. Im gängigen Diskurs wird der Humor für Betroffene zur »besten Medizin«, für Betreuende und Helfende zu einer Coping-Strategie. Es wird jeweils auf die physiologischen Vorteile des Lachens und des Humors verwiesen, etwa welche Hormone freigesetzt werden, wie sich die Muskulatur entspannt und dergleichen. Es wird der gesundheitsförderliche psychologische Mechanismus für Betroffene erwähnt. Bei den Helfenden sollte der Humor nicht schwarz werden, aber im Umgang mit dem Ausbalancieren von Nähe und Distanz, gegen Burnout und »Compassion-Fatigue« und für die Teamkultur kann Humor positive Wirkungen entfalten. Es werden also entweder Witze oder humorvolle Geschichten erzählt oder es wird von außen funktional-psychologisch die Bedeutung von Humor erklärt. Weder zum einen noch zum anderen habe ich was zu sagen, noch schien mir die »Rede-über« dazu besonders aufschlussreich.

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Was aber mein erstes Vorurteil betrifft, lag ich so richtig falsch. Wie öfter ergab sich der Perspektivenwechsel nicht so sehr aus einem neuen Gedanken als aus einer Änderung der Fragestellung. Und jede neue Frage enthält ja auch eine neue Erkenntnis. Die aufregende Frage ist nämlich nicht die nach der Funktion des Humors für das Leben des Menschen (Welche Wirkungen hat welche Art von Humor?). Die aufregende Frage ist aber auch nicht die nach dem Wesen des Humors (Wann und warum empfinden wir etwas als lustig?). Nicht der Humor selbst ist Gegenstand für eine philosophisch erfüllende Frage. Die aufregende Frage ist und bleibt die Frage nach dem Wesen des Menschen und des Lebens. Die Tatsache, dass der Mensch – auch und gerade angesichts von Tod, Schuld und Scheitern, also den Grenzsituationen des Lebens – lachen kann, über sich selbst lachen kann, macht den Humor zu einem privilegierten Phänomen: Was ist der Mensch für ein Wesen, wenn er lachen kann? Nach Helmuth Plessner sind Lachen und Weinen zwei Grenzreaktionen menschlichen Verhaltens, die nur deshalb möglich sind, weil die Natur den Menschen »als eine Existenz mit doppeltem Boden geschaffen«1 hat. Der »normale Gang des Lebens und der Geschäfte« lasse uns den abgründigen Ambivalenzcharakter des Daseins vergessen. »Man nimmt die Dinge in dieser oder jener Hinsicht und dichtet sie gegen Zweideutigkeit ab.«2 Aber an den Grenzen und in der Krise sind das Lachen und das Weinen gleichzeitig Ausdruck und Umgang mit der unauflösbaren Ambivalenz der Existenz, die der Mensch nicht aufzuheben vermag. In ihrem Aufsatz »Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit«3 schließt die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle in vielen Facetten an Plessner an und legt inmitten aller möglicher Arten des Lachens auch einen tiefen, »wahrhaften« Humor frei. Es gibt einen Humor, der der Ambivalenz der Existenz gerecht wird und den Menschen mit den tragischen Widersprüchlichkeiten – im Moment der Kapitulation und Resignation – zu versöhnen vermag. Ein solches Lachen ist mehr als eine pseudo-souveräne Distanzierung durch den Intellekt. Dieses Lachen ist nicht einfach das Gegenteil des Weinens, sondern enthält es in einem gewissen Sinne. Im Gegensatz zum Lachen erlaubt das Weinen keine Distanzierung von der Situation und ist der Ausdruck des »Zulassens von Unvermögen und 1 2 3

Plessner, 2005, S. 110. Ebd., S. 112. Bennent-Vahle, 2020.

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Schwäche«4 . Aber es gibt auch ein Lachen, in dem das Eingeständnis von Schwäche bestehen bleibt, sodass in dieser Art von Humor man sich den »leidvollen Ernst des Lebens […] nicht vom Leibe [hält], sondern man nimmt ihn an…«5 . Auf der anderen Seite habe der humorlos-ernste Mensch genauso ein Problem mit seiner eigenen Verletzlichkeit und wird der Vielschichtigkeit der Existenz in seinem »Modus überernster Selbstversteifung«6 auch nicht gerecht. Kierkegaard spricht hier etwa von der »dummen Bürowichtigkeit des Justizrates« oder von der »dummen Wichtigkeit eines Erweckten vor Gott«7 . Ich möchte im Folgenden entlang einer anekdotisch-überlieferten Geschichte über einen Jäger und einen Pfleger, deren »Wahrheit« sich nicht daran bemisst, ob sie sich wirklich genauso zugetragen hat oder nicht, die Seelenbewegung solchen Humors versuchen nachzuzeichnen. Diese Geschichte kann natürlich von vielen Seiten her gelesen und gedeutet werden – aber unter dem Aspekt des Humors gelesen, führt sie uns durch drei Stationen und Stimmungen des Humors in den Figuren des Lachens, des Lächelns und der Gelassenheit.

Die Geschichte von dem Jäger und dem Pfleger Wir befinden uns in einem großen Krankenhaus auf einer Intermediate Care Unit (IMCU), also einer halbintensivmedizinischen Überwachungseinheit mit einem Schwerpunkt für Lebererkrankungen. In einem der Betten liegt Herr K. Man kann sich den gesunden, kräftigen Mann, von Berufs wegen Jäger, hinter dem Patienten eigentlich gar nicht mehr vorstellen: Er hat dünne, kraftlose Arme und Beine, einen prallrunden Wasserbauch (Aszites), ein knochiges Gesicht mit eingefallenen Wangen und eine schal-gelbliche, gelblich-bräunliche Hautfarbe. Seine Diagnose lautet: alkoholisch bedingte Fettleberzirrhose. Er ist bereits wiederholt hier. Nachdem er aus der schlimmsten dämmernden Verwirrung (Enzephalopathie) ein wenig aufgewacht ist und halbwegs dazu in der Lage, setzt er sich seinen Jägerhut auf den Kopf – inmitten des medizinischen Instrumentariums ein gewisser Kontrapunkt und

4 5 6 7

Ebd., S. 24. Ebd., S. 39. Ebd., S. 39. Kierkegaard, 2005, S. 659, zit. in Bennent-Vahle, 2020 S. 39.

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eigenwilliger Anblick. Das »Jägerhut-Statement« gibt aber den Pflegenden, den Ärzten und Ärztinnen, dem Physiotherapeuten die Chance zu lachen und lachend ein Gespräch zu beginnen – jenseits der Krankenakte und Patientenrolle. Wer einigermaßen im Raume zu lesen imstande ist – Herr K. selbst auch –, versteht, was der Hut zwischen den Schläuchen und Kabeln ungefähr sagen will: Seht her, ich war immer ein lustiger Mensch, mit mir hat man lachen können, ich habe – vielleicht am Stammtisch? – andere zum Lachen gebracht. Seht mich, wie ich bin – nicht in meiner Entstellung, nicht nur im Flügelhemd, an den Infusionen, auf dem Klostuhl. Gleichzeitig steckt im Jägerhut aber auch noch eine andere Bedeutung – nämlich etwas im Sinne von: Gut, ich werde sterben, ich weiß das, ich habe viel im Leben verpfuscht, meine Familie zerstört, ich sterbe zu früh, weil ich getrunken habe – und: Das intensivmedizinische Theater hat mit mir nichts mehr zu tun, mich betrifft das nicht mehr, aber ich weiß auch nicht, wohin sonst mit mir. Wir müssen nicht so tun, als ob ich noch einmal gesund werden könnte; wir müssen nicht so tun, als ob ich mein Scheitern und meine Schuld umkehren könnte. Es gibt einen Pfleger, der selbst schon etwas älter ist und offenbar auch im Leben immer wieder Scheiternserfahrungen gemacht hat. Er ist selbst geschieden und vielleicht sogar selbst Alkoholiker. Zwischen dem Jäger und diesem Pfleger ist – vermutlich gerade deshalb – ein gewisser Draht entstanden. Die beiden scherzen hin und her während der Pflegeverrichtungen und zwischendurch im Beisammensein auf der IMCU. Wir können uns männlichkumpelhafte Witzelein vorstellen und ein gegenseitiges Wohlmeinen. Dann passiert etwas Besonderes. Eines Nachts holt der Pfleger den Jäger aus dem schlaflosen Bett, bittet ihn, im »Schwesternzimmer« am Tisch Platz zu nehmen und serviert ihm ein Bier. Ein richtiges Bier. Mit Alkohol. Wir können uns vorstellen, wie die beiden zwischen zwei und vier Uhr in der Nacht sitzen und trinken. Sie reden dabei vielleicht gar nicht mehr so viel – und doch verständigen sie sich: die Herzen sind offen. Zwei Wochen später kommt ein Anruf und der Pfleger wird ans Telefon gebeten. Der Sohn des Verstorbenen wollte ihm berichten, dass eines der letzten Worte des Jägers dieser Geste mit dem Bier galt und der Sterbende noch dem Ausdruck verlieh, »dass er so viel Menschlichkeit erfahren durfte. Das war so menschlich!«

Lachen, Lächeln und Gelassenheit

Der Scherz und das Lachen Ich meine, dass wir in dieser Geschichte einen Übergang vom Witz zum Humor, vom Scherz zur »heiteren Gelassenheit« lesen können. Ein Übergang, der ermöglicht wird durch eine radikale Geste der Gastfreundschaft des Pflegers. Das im Scherz erfahrene Lachen verdichtet sich im (symbolischen) Aufsetzen des Jägerhuts; die Gastfreundschaft in der vertrauensstiftend »lächelnden« Einladung ins Schwesternzimmer und im Servieren des Biers; Heiterkeit und Gelassenheit des Humors verdichten sich in der (symbolischen) Bierflasche, die nicht nur ein gut schmeckendes Getränk, sondern auch den Geschmack von »Menschlichkeit« enthält. Beginnen wir mit dem Scherz und dem Lachen. Das Aufsetzen des Jägerhuts impliziert oder ermöglicht zunächst eine Distanzierung zum unmittelbar Gegebenen, die Alltagswelt von Krankheit und Krankenhaus wird wie in Klammern und ihre schmerzhaft aufdringliche Geltung wird außer Kraft gesetzt. Der Humor bleibt dabei in einer innigen Verbindung mit dem Ernst der Lage: »Der Ernst kennt und weiß um die Tragik der Situation und ihre Ausweglosigkeit. Der Humor versucht durch Verschieben eine Diskrepanz zu Wege zu bringen, um nicht in eine Identität mit dem Verhängnisvollen zu geraten.«8 Das Aufsetzen des Jägerhuts impliziert oder ermöglicht außerdem eine Kommunikation jenseits der gewohnten Verständigungsroutinen sowie jenseits der Dominanz der Fachsprachen und eröffnet einen Begegnungs- und Kommunikationsraum des Allgemein-Menschlichen. Und es ermöglicht schließlich von anderen und von sich selbst anders und vollständiger ›gesehen‹ zu werden, nicht nur in einer Rolle (als Kranker, Alkoholiker usw.), sondern als Person. Die scherzhafte Aktion dient der Aufrichtung der Person durch die »[…] Weigerung, mit der Erkrankung übereinzustimmen und sozusagen mit ihr deckungsgleich zu werden […] Wir sind mehr als die Verhältnisse, in denen wir uns befinden.«9 Das ist nicht wenig, was der Scherz zu leisten vermag. Aber der bloße »Scherz« scheitert dennoch daran, die tieferen Lebensthemen zu thematisieren und die einseitig kurativen Routinen des Medizinbetriebs substantiell und auf etwas anderes hin zu unterbrechen – nämlich auf das Sterben lassen und 8 9

Müller, 2018 S. 211. Ebd., S. 212.

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das Sterben können hin. Hierzu bedarf es einer stärkeren Intervention, die nicht aus der Selbstsorge, sondern, wie es scheint, nur aus der Fürsorge geschöpft werden kann – und in der das Lachen vom Scherz hin zu gelassener Heiterkeit den Charakter ändert. Diese Intervention können wir als radikalen Akt der Gastfreundschaft interpretieren.

Das Lächeln und die Gastfreundschaft »Was passiert, wenn jemand eines Tages an meine Tür klopft, bei mir zuhause, obwohl ich niemanden eingeladen und niemanden erwartet habe, aber ich stehe Angesicht zu Angesicht mit einem völlig Fremden, auf der anderen Seite der Tür, der mich fragt, ob er eintreten dürfe.«10 In dieser Szene sieht der kanadische Philosoph und Vertreter einer éthique de l’hospitalité Luc Vigneault den ethischen Testfall, die anthropologische Urszene schlechthin. Nun lässt sich diese an der empirischen Realität des geflüchteten oder reisenden Fremden orientierte, ethische Urszene nicht gerade eins zu eins in unsere Szene im Krankenhaus übersetzen. Auch klopft ja nicht der Patient an die Tür, sondern der Pfleger hat eine Tür gezeigt und aufgemacht, von der der Jäger gar nichts wusste (oder davon, was dahinter alles möglich ist). Und es war der Pfleger, der gebeten hat einzutreten – nicht umgekehrt. Aber die Erfahrung des Fremden (jemand oder etwas) ist auch allgemeiner und grundsätzlicher zu betrachten. Bernhard Waldenfels hat in vielen phänomenologischen Untersuchungen gezeigt11 , dass im Kern der FremdheitsErfahrung stets die Überschreitung einer vertrauten Ordnung steckt. Das Eindringen eines Anderen (etwas oder jemand) setzt eine gegebene Ordnung irgendwie aufs Spiel. Das wird zunächst als Bedrohung erfahren, kann aber in Bereicherung verwandelt werden. Waldenfels unterscheidet hier verschiedene Intensitätsgrade des Fremden. Das strukturell Fremde liegt außerhalb einer bestimmten Ordnung (z.B. die Spielregeln des Krankenhauses), das radikal Fremde zerstört jegliche Ordnung (z.B. Tod, Krankheit). Es wird deutlich, dass der Pfleger die Ordnung des Krankenhauses überschreiten musste, um der Zerstörung des Lebens durch Scheitern, Schuld und Tod etwas entgegenzusetzen. Das ist das »Momentum« der Gastfreundschaft:

10 11

Vigneault, 2020 S. 259, Übersetzung P. Sch. Waldenfels, 1997.

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der Übertritt über die Schwelle (in dem Fall des »Schwesternzimmers«), wodurch eine gegebene Ordnung der Dinge aufs Spiel gesetzt wird, ins Chaos gerät, weil sie offensichtlich der Vielschichtigkeit und Verwicklung der Dinge und Verhältnisse nicht mehr gerecht wird. Die Chance auf eine neue, noch nicht greifbare Ordnung ist eröffnet. Ich möchte darauf hinweisen, in welchem Maße dieser Pfleger für diesen Akt der Menschlichkeit eine gegebene und vertraute Ordnung verlassen, durchbrechen musste, um eine Begegnung zu ermöglichen, die etwas Ordnung in eine irrlichternde Seele bringen wird. Er hat seinen Job riskiert, seine Rolle, die Konventionen, fast schon Gesetze radikal überschritten. Ohne personal-überschießende Hingabe (im Großen, aber auch im Kleinen), über Dienstvertragliches, Rollenprofile, Leistungskataloge hinaus, ist die Sorge für andere eine halbierte. Es gehört zur Paradoxie der Sorge, dass sie ohne Grenzüberschreitung und »Einlass des Fremden« nicht vollständig ist.12 Ich stelle mir außerdem vor, dass der Pfleger das Bier dann mit einem augenzwinkernden Lächeln serviert. Überhaupt scheinen Akte der Gastfreundschaft, wie das Öffnen des Eigenraumes für Gäste oder Fremde, das Betreten eines Fremdraumes, das Servieren von Speis und Trank, stimmigerweise von Lächeln begleitet zu sein. Wann lächeln wir – oder wie können wir dieses Lächeln deuten? »Man lächelt wenn man die Welt stimmig erfährt. Lächeln heißt übereinstimmen und danken«, schreibt Fulbert Steffensky13 . Ich möchte ein wenig widersprechen und hinzufügen, dass im Lächeln, gerade an der Schwelle, wo Fremde einander begegnen, diese Übereinstimmung und der Dank noch nicht gegeben sind. Das Lächeln ist der (Vertrauens-)Vorschuss, der es dem anderen ermöglicht, etwa dem Gast, übereinzustimmen und zu danken, das Friedensangebot anzunehmen. Lächeln ist nicht (immer) unmittelbar Ausdruck von Übereinstimmung und Dank, sondern die Einladung dazu. Es zeugt nicht von vornherein von Vertrautheit, sondern sucht Vertrauen zu stiften14 . Nicht umsonst verharrt Lächeln manchmal zweideutig zwischen einer ängstlichen und (gegebenenfalls demonstrativ) vertrauensvoll-gelassenen Gefühlslage und Mimik. Das Durchbrechen der Ordnung (Einlass ins Schwesternzimmer, Alkohol auf Station usw.) angesichts der Zerstörung jeglicher Ordnung (Krankheit, 12 13 14

Schuchter, 2016 und 2019. Steffensky, 2017 S. 89. Waldenfels, 2012, S. 255-314.

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Tod) ist ein riskantes, von einem einladenden Lächeln begleitets Wagnis. Diese Geste stiftet Beziehung auf einer tieferen Ebene, lässt so etwas wie Transzendenz erfahren (was der Jäger »Menschlichkeit« nennen wird) – und ermöglicht insgesamt dem Jäger von der Quasi-Souveränität des Scherzes und des Lachens überzugehen zu einer tieferen Seelenbewegung, in der der Humor zur »heiteren Gelassenheit« wird.

Humor und Gelassenheit An diesem Punkt lässt sich Humor eben nicht mehr im Muster von »WitzPointe-Lachen« verstehen, sondern muss als Haltung oder Lebensform aufgefasst werden, einer … »[…] Einstellung zum Leben insgesamt, die die Unzulänglichkeiten des Daseins durchschaut, sich aber in liebevollem Verstehen über das Leben, oder – unter dem Aspekt der Demut gesehen – auch unter das Leben, stellt.« 15 Humor in diesem Sinne wurde etwa von Kuno Fischer in seiner Schrift »Über den Witz«16 als eine Doppelbewegung des Gemüts beschrieben. Die Dinge der Welt überwältigen und beherrschen uns in Grenzsituationen einerseits, wir erfahren uns als das »Unendlichkleine« im Verhältnis zum »Unendlichgroßen«. Aber dieses Erdrücktwerden erfährt eine Gegenbewegung, in der sich das Selbstgefühl wehrt und wiederherstellt. So ist dann das Erheiternde umgekehrt das Freiwerden »von dem Drucke der Welt, von der Macht, womit die Dinge uns einengen und auf uns lasten.«17 Was der Pfleger demnach serviert hat, das war neben dem Geschmack des Biers mehr noch der Geschmack freundschaftlicher Heiterkeit, die als tiefe »Menschlichkeit« erfahren wird. Es geht ja gar nicht um das Getränk und die Flasche, sondern um die (unausgesprochene) symbolische Dimension der Geste, die die eigentliche Wirkung und Seelenbewegung in diesem Sinne auslöst. Die eine Richtung ist eine Art »Ergebung«: nämlich ein klarer Blick auf das, was ist und war, auf das eigene Leben und das Scheitern und die Schuld darin – aber vielleicht damit auch eine Art Relativierung der eigenen Geschichte 15 16 17

Müller, 2018, S. 214. Fischer, 2005. Fischer, 2005, S. 76.

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und des Dranges nach Glück und Selbstvervollkommnung in diesem einen Leben: Es ist so, mein Leben ist so gelaufen, ich weiß das, ich kann es nicht mehr ändern, es ist nun nicht mehr in meiner Hand. Odo Marquard sieht in der Todesnähe die Möglichkeit besonderer Theoriefähigkeit und stellt Bezüge zum Lachen her. Unser Blick auf die Wirklichkeit sei grundsätzlich illusionsbereit und illusionsanfällig, insbesondere weil er durch die Zukunft bestechlich sei. Diese Bestechlichkeit nehme in Todesnähe jedoch ab und dies führe zu einer heiteren Theoriefähigkeit: »Die Theorie […] ähnelt dadurch dem Lachen; denn auch sie ist – wie das Lachen – eine Kapitulation vor Merkbornierungen vor der Wirklichkeit«18   »… die Fähigkeit zum Lachen hat – wie die Theoriefähigkeit […] – justament darum zu tun mit Bildung […] Wer nichts mehr will, gewinnt – kompensatorisch – die Fähigkeit, viel zu sehen […] Theorie [Lachen] ist das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist.« 19 Nach Kant ist das Lachen die »Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts«20 . Das wäre die eine Seite der Bewegung, die im Humor steckt: die illusionslose Ergebung gegenüber dem, was uns übersteigt und nicht mehr mit menschlicher Macht zu ändern ist. Die Geste des Pflegers ermöglicht – über den Scherz hinaus –, dass der Jäger sich und den anderen (um vier Uhr in der Früh) nichts mehr vorspielen muss. Der Genuss des Biers ist insofern eine sehr »nüchterne« Angelegenheit. Auf der anderen Seite steckt im Genuss des Biers bzw. in der Geste aber auch Erhebung – nämlich über das Leiden, über die Ohnmacht. Der Moment ist ein kleiner Sieg über das Scheitern und den Tod. Das ist vielleicht nur ein Augenblick, eine Ahnung, aber sie begründet eine bleibende Erfahrung dessen, was »Menschlichkeit« heißen kann: Ein anderer Mensch hat mich nicht verurteilt oder links liegen gelassen, hat mich nicht abgeschrieben, sondern trotz allem Verbindung gehalten. Vielleicht ermöglicht diese Geste der Einladung ins Schwersternzimmer zum Bier auch, dass sich Herr K. ein kleines Stück weit selbst vergeben kann? Dieses Aufrichten der Person scheint nun eher geschenkt als selbst vollbracht – und entspricht im freundschaftlich-hei-

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Marquard, 2000 S. 137. Ebd. Zit. in Marquard, 2000 S. 137.

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teren Moment des gemeinsamen Bier-Trinkens einem Humor als »weinender Weisheit«. »Man lacht, wenn man die Unstimmigkeit der Welt wahrnimmt. Wir lachen, wenn Charlie Chaplin verzweifelt mitkommen will mit dem Tempo der Maschinen. Wir lachen, wenn der Clown mit seinen zu großen Schuhen laufen will. Es stimmt etwas nicht, darum lachen wir […] Das Lachen ist eine weinende Weisheit: Das sind wir, die da stolpern; die nicht gut ausgerüstet sind für das Leben […]. Es ist unsere eigene produktive Resignation vor dem Fragment Leben, vor seinen Schmerzen, seiner Unmöglichkeit und seiner Schönheit.«21

Heitere Spiritualität – jenseits (oder diesseits) von Sinn und Sinnlosigkeit Man kann diese zwischenmenschlichen und seelischen Bewegungen des Humors in unterschiedliche Denkrahmen setzen. Ich möchte schlussfolgernd eine Verbindung von Humor und Spiritualität bzw. Spiritual Care ziehen. Das scheint mir erkenntnisreich. Außerdem ermöglicht uns dieser Gedankengang noch zu sehen, wie abgründige Ambivalenz und Alltäglichkeit des Daseins in Beziehung stehen. Hören wir noch einmal Helmuth Plessner: »Exzentrisch zur Umwelt, im Durchblick auf eine Welt steht der Mensch zwischen Ernst und Unernst, Sinn und Sinnlosigkeit und damit vor der Möglichkeit ihrer unauflösbaren, mehrdeutigen, gegensinnigen Verbindung …«22 Diese wiederholten Sprachfiguren Plessners sind bemerkenswert – denn er sieht im Lachen die Erfahrung radikaler Ambivalenz des Daseins: Sinn und Sinnlosigkeit. Es heißt nicht etwa: Sinn statt Sinnlosigkeit. Das ist keine Kleinigkeit, sondern ein wichtiger Hinweis, der uns vor einer flachen Vorstellung von Transzendenz, Spiritualität und Spiritual Care bewahrt. Wie meine ich das? Wie Birgit und Andreas Heller bemerken, kommt es gegenwärtig und im Spiritual Care Diskurs rasch zu einer »Gleichsetzung von Spiritualität und Sinnsuche«23 . Die Ursachen dafür sind in der Säkularisierung, einer postkonfessionellen Pluralisierung religiöser Überzeugungen, aber auch in einer ge21 22 23

Steffensky, 2017, S. 89-90. Plessner, 2005, S. 111. Heller et al., 2014, S. 27.

Lachen, Lächeln und Gelassenheit

wissen »Psychologisierung« bzw. »Therapeutisierung« von Religion und Spiritualität zu finden.24 Was aber bedeutet Sinn? Warum sollten wir uns vielleicht auch ein wenig Unbehagen gegenüber dem Topos von der Sinnsuche bewahren? Und warum ist Humor – so meine These – grundlegender und sozusagen »spiritueller« als der Sinn? »Sinn« kann allgemein als Bedeutungsüberschuss25 verstanden werden. Was wir wahrnehmen, hat in der Regel auch noch Bedeutung, unser Handeln hat Ziele, unsere Alltags-Ziele verweisen auf tiefere Lebensziele, diese und unser Leben sind insgesamt hineingenommen in ein größeres Ganzes, das uns trägt und in dem wir uns verstehen. Der Begriff des »Sinns« verweist auf ein bedeutsames Mehr im Unmittelbaren. Sinnlosigkeit, das Absurde, Verzweiflung und (existenzielle) Angst verweisen umgekehrt auf die schmerzhaft empfundene Abwesenheit eines solchen »Mehr«. Handeln und Leben werden bedeutungs- und ziellos, das Wahrgenommene ist schal, das Ganze trägt nicht, sondern ist ein Abgrund. Sinn ist das Andere von Sinnlosigkeit. Wir erstreben Sinn, um nicht an der Sinnlosigkeit zu verzweifeln. »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie« lautet Viktor Frankls Paraphrase eines berühmten Wortes von Friedrich Nietzsche. Dadurch läuft das Reden vom Sinn jedoch auch Gefahr, Verzweiflung und Leiden allzu rasch mit dicken Farben zu überpinseln, gar die Verzweifelten unter existenzial-sportlichen Leistungsdruck zu versetzen, Sinn zu finden oder ihrem Leben einen zu geben. Die Sinn-Rede droht totalisierend zu werden, sodass Haltungen und Lebensgefühle übersehen werden, die nicht im Begriffspaar Sinn-Sinnlosigkeit verstanden werden können. Was wir sehen, fühlen, denken, tun, hat möglicherweise gerade keinen Überschuss an Bedeutung. Dem Sinn steht nicht nur das Sinnlose gegenüber, sondern vielleicht einfach eine gelebte Gleichgültigkeit, die einen höheren Sinn weder fühlt noch braucht – und dennoch ganz glücklich existiert. In dieser Richtung empfiehlt etwa Odo Marquard eine »Diätetik der Sinnerwartung«26 : Nicht die Klage über den Verlust oder das Ausbleiben von Sinnerleben bringe uns weiter, sondern vielmehr die Reduktion unmäßig großer Sinnansprüche. Deshalb sei Sinn eher der »Unsinn, den man lässt« und die

24 25 26

Ebd., S. 21-28. Schnell, et al., 2018. Marquard, 1986.

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»Antwort auf die Lebenssinnfrage hängt mehr an den nächsten Dingen als an den letzten (Religiös könnte man sagen: Gott hat sie subsidiär geregelt)«27 : »Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben […] dadurch (durch diese kleinen Aufhalter im Sinne des Mini-Kat-Echon) kommen die Menschen […] ständig zu spät zum Rendezvous mit dem absoluten Nein.«28 Taugt diese Lebensform des Aufgehaltenwerdens durch alltägliche NeinAufschieber auch in der Grenzsituation? Vielleicht müssen wir die Geschichte vom Jäger und Pfleger, um sie in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen, gerade auch von dieser alltäglichen Seite her lesen. Ein gutes Getränk mit einem neuen Freund ist vielleicht in jeder Situation ein guter Grund, das Rendezvous mit dem absoluten Nein der Verzweiflung zu verschieben. Jedenfalls: Ganz logisch-analytisch betrachtet ist die Rede von Sinn und Sinnsuche eine (humorlose) zweistellige Relation. Ein Warum steht gegen das unerträgliche Wie, ein Sinn gegen die Sinnlosigkeit, ein A versus ein Nicht-A. Das Relationsgefüge des Humors als spirituelle Heiterkeit ist hingegen »dialektisch« – also (mindestens) dreistellig. Er ist Ausdruck und Bewältigung der unauflösbaren Ambivalenz des Daseins zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Im Humor erträgt der Mensch ein unerträgliches Wie gegebenenfalls auch ohne Warum! Mit einem Warum ein Wie zu ertragen – das ist irgendwie geheimnislos. Aber ein Wie zu ertragen »ohne Warum« (wie die berühmte Rose des Angelus Silesius), das stellt uns mitten in das Geheimnis der Existenz zwischen abgründiger Ambivalenz und aufschiebender Alltäglichkeit. Aber in einer dialektischen Welt ist auch »das Geheimnis« wiederum etwas Einfaches und Offenkundiges. Bestimmt hat der Humor Grenzen – besonders dann, wenn nicht über sich selbst, sondern über andere gelacht wird. Oder wenn im Lachen Leugnung anstelle von Annahme der eigenen Verletzlichkeit steckt. Wenn das Lachen zur Pose statt zur »weinenden Weisheit« gerät. Aber sind diese Voraussetzungen einmal erfüllt, lässt sich vollkommen ambivalenzfrei und more geometrico eine Lebensformel angeben, wie man die Dinge mit spiritueller Heiterkeit betrachten und angehen kann – nämlich mit 27 28

Ebd., S. 49. Ebd., S. 49.

Lachen, Lächeln und Gelassenheit

Karl Valentin gesprochen so: »Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.«29

Literatur Bachmaier, Helmut (Hg.): Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart: Reclam 2005. Bennent, Vahle, Heidemarie: »Das Weinen – über Humor und Verletzlichkeit«, in: Thomas Gutknecht/Heidemarie Bennent-Vahle/Dietlinde Schmalfuß-Plicht (Hg.), Humor und Philosophie – eine ernste Angelegenheit? Berlin: LIT Verlag 2020, S. 19-47. Fischer, Kuno: »Erhebende und erheiternde Betrachtungsweise. Über den Witz«, in: Helmut Bachmaier (Hg.), Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart: Reclam 2005, S. 74-77. Gutknecht, Thomas/Bennent-Vahle, Heidemarie/Schmalfuß-Plicht, Dietlinde (Hg.): Humor und Philosophie – eine ernste Angelegenheit? Berlin: LIT Verlag 2020. Gutknecht, Thomas: »Humorige Philosophie: Vom heiteren ›Philolekt‹«, in: Heidemarie Bennent-Vahle/Thomas Gutknecht/Dietlinde SchmalfußPlicht (Hg.), Humor und Philosophie – eine ernste Angelegenheit? Berlin: LIT Verlag 2020, S. 123-144. Heller, Andreas/Heller, Birgit: Spiritualität und Spiritual Care. Orientierungen und Impulse, Bern: Huber 2014. Marquard, Odo: »Theoriefähigkeit des Alters«, in: Philosophie des Stattdessen (2000), S. 136-139. Marquard, Odo: Diätetik der Sinnerwartung. Apologie des Zufälligen, Stuttgart: Reclam 1986, S. 33-53. Müller, Monika: Dem Sterben Leben geben. Die Begleitung sterbender und trauernder Menschen als spiritueller Weg. [ergänzte und überarb. Neuausg.], Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2018. Plessner, Helmut: »Ambivalenz und exzentrische Position«, in: Helmut Bachmaier (Hg.), Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart: Reclam 2005, S. 108112. Schnell, Tatjana/La Cour, Peter: »Von der Tiefe im Leben sprechen«, in: Wege zum Menschen 1 (2018), Bd. 70, S. 33-47. 29

Zit. in Gutknecht, 2020 S. 132.

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Schuchter, Patrick: »Philosophisch sorgen. Was wir von Epikur für die Sorge der Gegenwart lernen können« in: Willibald Stronegger/Kristin Attems (Hg.), Mensch und Endlichkeit. Das Lebensende zwischen Ökonomie und Ethik, Baden-Baden: Nomos 2019, S. 101-132. Schuchter, Patrick: Sich einen Begriff vom Leiden Anderer machen. Eine Praktische Philosophie der Sorge, Bielefeld: transcript 2016. Steffensky, Fulbert: Heimathöhle Religion. Ein Gastrecht für widersprüchliche Gedanken, Stuttgart: Radius 2017. Vigneault, Luc: »Notre propre étrangeté: Anthropologie et éthique de l’hospitalité chez Daniel Innerarity«, in: Sophie Bourgault/Sophie Cloutier/Stéphanie Gaudet (Hg.), Éthiques de l´hospitalité, du don et du care. Actualité, regards croisés, Ottawa: Les Presses de l’Université d’Ottawa 2020, S. 255-272. Waldenfels, Bernhard: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2012. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie des Eigenen und des Fremden [Online] 1997. [Zitat vom 24.11.2020]. https://edoc.bbaw.de/files/282/25nzvtX xXJA_250.pdf.

Der einsame Tod und die Sorge der Dichterinnen und Dichter Dorina Heller

In jeder größeren Stadt sterben jedes Jahr Menschen völlig einsam. In Wien oder Berlin sind es hunderte, in Amsterdam oder Zürich sind es hingegen ›nur‹ ein paar dutzend.1 Oftmals haben diese Menschen schon viele Jahre vor ihrem Tod am Rande der Gesellschaft gelebt. Für sie hat niemand mehr gesorgt, oftmals konnten sie nicht mal mehr für sich selbst sorgen. Dabei ist die Definition, ob jemand ›einsam verstorben‹ ist, zunächst eine bürokratische. Als einsam verstorben gilt, wenn es den Behörden auch nach einer ordnungsbehördlichen Bestattung (in der Regel eine Kremation) nicht gelingt, Angehörige oder Verstorbene zu vermitteln. Teilweise werden Urnen jahrelang aufbewahrt und nicht abgeholt, bis sie schließlich durch die Friedhofsämter beigesetzt werden. Über die konkreten Umstände des Sterbens sagt diese Begrifflichkeit allerdings noch nichts aus. Etwa Menschen, die zwar keine lebendigen Sozialbeziehungen, aber einen zugeteilten Vormund haben, fallen per amtlicher Definition nicht in die Kategorie der ›einsam Verstorbenen‹. Die tatsächliche Anzahl der Menschen, die jedes Jahr völlig vereinsamt stirbt, ist also noch viel höher. Oftmals wird ihr Tod erst bemerkt, wenn sich Nachbarinnen und Nachbarn über die Geruchsbelästigung im Treppenhaus beschweren. Sind diese vielen einsamen Tode das vielleicht morbideste Symbol in unseren postmodernen, ›westlichen‹, technokapitalistischen Gesellschaften

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Vgl. Bezirksamt Mitte: https://www.berlin.de/ba-mitte/aktuelles/pressemitteilungen/2 019/pressemitteilung.867103.php (letzter Aufruf: 15.11.2020); ORF.at: https://wien.orf.a t/v2/news/stories/2804865/(letzter Aufruf: 15.11.2020); Radio Netherlands: https://ww w.radionetherlandsarchives.org/lonely-funeral-burying-amsterdams-anonymous-dea d/ (letzter Aufruf: 15.11.2020).

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für die Abwesenheit einer kollektiven Sorge? Welche systemischen (Versagens-)Schritte gehen einem einsamen Tod voraus? Und welche Art von Sorge ist über einen einsamen Tod hinaus möglich? Mögliche Antworten verlangen nach einer Umarmung von Theorie und Praxis. Die beiden zeitgenössischen Philosophinnen Miranda Fricker und Judith Butler werden für die Beantwortung der ersten Frage herangezogen. Für die zweite Frage hingegen liefert das länderübergreifende literarische Projekt Das Einsame Begräbnis, im Zuge dessen Dichterinnen und Dichter ein persönliches Gedicht für einsam verstorbene Menschen verfassen und es an deren Begräbnis verlesen, mögliche Antwortansätze. Judith Butler schreibt, dass in unseren Gesellschaften manche Leben mehr »grievable«, also »trauernswerter«, sind als andere.2 Während manche Leben unter massiven Anstrengungen beschützt werden – sogar gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege werden in Kauf genommen, um sie zu bewahren – werden andere Leben nicht mal als »trauernswert« angesehen. Mehr noch: Sie werden erst gar nicht als Leben eingestuft. Weil sie sich scheinbar in keines der gesellschaftlich dominanten Analyseraster für die ›Erfassung‹ von Menschen einordnen lassen, werden sie dehumanisiert. Butler denkt hier vor allem an Menschen, die sich in ihrer Genderidentität und sexuellen Orientierung außerhalb des binär-heterosexuellen Rahmens bewegen. Aber ihre These ist ebenso auf ethnische Minderheiten oder People of Colour anwendbar, die historisch wie gegenwärtig dehumanisiert wurden, versklavt, ermordet und in unseren Museen ausgestellt. Auch einsam Verstorbene werden auf mehrfache Weisen dehumanisiert und als »nicht-trauernswert« behandelt. Zum einen, weil ihre Leben in den meisten Fällen tatsächlich von niemandem mehr betrauert werden. Zum anderen, weil in vielen – wenn auch nicht allen Fällen – ihr Tod eng mit dem Thema von sozialer Randständigkeit verknüpft ist. Wie Frank Starik, langjähriger Koordinator vom Einsamen Begräbnis in Amsterdam, schreibt: »[…] unter den Verstorbenen sind ältere Junkies, verwahrloste alte Menschen, gelegentlich auch Selbstmörder, illegale Einwanderer, Drogenkuriere (sogenannte Bodypacker), Obdachlose, Opfer diverser Verbrechen, professionelle Säufer, die durchaus schon Wochen zuvor in den Grachten ertrunken sein können.« 3

2 3

Vgl. Butler, 2004, S. 24f. Inghels/Starik, 2016, S. 5.

Der einsame Tod und die Sorge der Dichterinnen und Dichter

Dem Tod vieler einsam Verstorbener haftet also ein soziales Stigma an. Wie ihren Leben. Selten gelingt es deshalb, ihren Tod nicht zu ›kolonialisieren‹. Kolonialisieren im Sinne von – ihnen unsere eigenen Narrative, Deutungsmuster und Wertsysteme aufzwingen. Diesen Akt und den aus ihm resultierenden Zustand hat die Philosophin Miranda Fricker als ›epistemische Ungerechtigkeit‹ konzeptualisiert. Epistemische Ungerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, einen bedeutenden Bereich der eigenen sozialen Erfahrung aufgrund hermeneutischer Marginalisierung vom kollektiven Verständnis verdeckt zu haben.4 Bestimmte, privilegierte gesellschaftliche Gruppen – weiße Menschen, Männer, jene Menschen, die über überdurchschnittlich viele Ressourcen verfügen – haben einen unfairen Vorteil darin, unser kollektives, soziales Verständnis zu strukturieren. Deshalb beeinflussen und gestalten sie maßgeblich die Praktiken, durch die soziale Bedeutung generiert wird. Sie legen fest, wer in unserer Gesellschaft Gehör findet, wer sichtbar wird und eben auch welche Leben als besonders »trauernswert« einzustufen sind. Fricker bezieht sich in ihrer Argumentation zwar nur auf Männer5 , aber ihr Argument ist auch auf weitere Gruppen ausdehnbar. Viele der einsam verstorbenen Menschen werden also in ihrem Leben und abermals in ihrem Sterben marginalisiert. Sie verdeutlichen die Herausforderung und Frage wie eine Sorge, die nicht kolonialisiert, aussehen kann. Dem literarischen Projekt das Einsame Begräbnis scheint genau das zu gelingen. Es zeigt, dass kollektive Sorge – für völlig Fremde – auch über den Tod hinaus möglich ist und versucht ein Licht auf diese scheinbar ›vergessenen Leben‹ einsam Verstorbener zu werfen. Hier verfassen Dichterinnen und Dichter ein persönliches Gedicht für einsam verstorbene Menschen und verlesen es an deren Begräbnis. Das Projekt nahm ursprünglich seinen Anfang in den Niederlanden und existiert mittlerweile in mehreren niederländischen und belgischen Städten und seit vier Jahren auch in der Deutschschweiz. Dutzende Menschen haben die Dichterinnen und Dichter bereits mit Gedichten bei ihrer letzten Station, dem Begräbnis, begleitet. Melanie Katz, Projektinitiatorin und Koordinatorin in der Deutschschweiz, versteht die Tätigkeit der

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Fricker, 2007, S. 13. (aufgrund der Onlineversion, in der jedes Kapitel neu beginnend nummeriert wird, beziehen sich die Seitenzahlen auf Frickers 7. Kapitel »The Central Case of Hermeneutical Injustice«.) Fricker, 2007, S. 2.

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Dichterinnen und Dichter als ein Begleiten: »Auf diesem letzten Weg sollte niemand alleine gehen. Was wir machen ist ein Erinnern, wir gehen den Spuren nach, die diese Menschen hinterlassen haben«6 , sagt Melanie Katz. Für sie ist das Thema Einsamkeit hochpolitisch: »Können wir es uns als Gesellschaft leisten, dass es Menschen gibt, die völlig ohne die Anwesenheit von Menschen, die Sorge tragen, dieses Leben und diese Erde verlassen?« Diesen scheinbar vergessenen Leben ein Gedicht zu widmen, ist eine Art Abschiedsgruß, aber auch eine Art Sorgearbeit. »Dem Erinnern Sorge tragen, das kann Dichtung sehr gut leisten«, ist Melanie Katz überzeugt. »Das Gedicht als verdichtete sprachliche Form hat meiner Meinung nach die zartesten und die stärksten Möglichkeiten zum Sublimen. Daher eignet es sich hervorragend für diese Erinnerungsarbeit.«7 In Katz’ Gedicht für das 16. einsame Begräbnis namens ›Taschenspiel, leise‹, lauten die letzten Zeilen so: »Leere Flaschen, aus denen du trinkst/sind Orte des Verschwindens/sprachlos/Wer nach dir fragt/trifft auf Geschichten, Gelächter/fremde Leben/Und du/Hast die einundreissigste Türe geschlossen/die Tragetaschen abgestellt/Bist hinter die Stille/verschwunden.« Die Sorge der Dichterinnen und Dichter ist eine vorsichtige. »Unser Respekt ist anders, hält Abstand«, schreibt Frank Starik.8 Sie nähern sich den ihnen fremden Leben mit Bedacht und in dem vollen Bewusstsein, dass hier eben nur eine ›Annäherung‹, eine Umkreisung stattfinden kann. »Es ist der Versuch »dem Vergessen, der Anonymität, dem Unmenschlichen und Entmenschlichenden eines einsamen Todes etwas entgegenzustellen«9 , wie Alexander Estis, einer der beteiligten Dichter in der Deutschschweiz, schreibt. Dem fertigen Gedicht geht jeweils ein aufwändiger Rechercheprozess voraus. Meistens ist nur wenig über die verstorbene Person bekannt. Dann müssen die Dichterinnen und Dichter behutsam investigativ vorgehen: Sie suchen die Orte auf, an denen die betreffende Person gelebt oder gearbeitet hat. Sie gehen die täglichen Wege ab, zur Straßenbahn, zum Supermarkt, zur Eckkneipe und versuchen mit Nachbarinnen und Nachbarn in Kontakt zu kommen. »Der Rechercheprozess ist fast immer total interessant«, sagt Melanie

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Alle Zitate von Melanie Katz stammen aus einem Interview mit der Autorin vom 08.09.2020. Katz, unveröffentlichter Text. Inghels/Frank, 2016, S. 8. Aus einem schriftlichen Interview mit dem Autor vom 07.10.2020.

Der einsame Tod und die Sorge der Dichterinnen und Dichter

Katz. Bei der Recherche müssen die Dichterinnen und Dichter öfters Hemmschwellen überwinden. Sie sind gezwungen, sich mit ihren eigenen Werturteilen, ihrer Rolle im System von epistemischer Ungerechtigkeit, wie Fricker sagen würde, auseinanderzusetzen. Einmal stand Melanie Katz vor dem heruntergekommenen, verwaist wirkendem Haus eines Verstorbenen, niemand der Nachbarinnen und Nachbarn hatte ihr aufgemacht, niemand mit dem sie hätte sprechen können. »Plötzlich kam ein Mann auf mich zu, der an mir vorbei wollte. Aus einer Intuition heraus habe ich ihn angesprochen. Es stellte sich heraus, dass er ein Freund des Verstorbenen war und eigentlich schon vor Monaten weggezogen war und nur an dem Tag zufällig in der Gegend. Als ich ihm erzählt habe, was ich mache, meint er: ›Sag ihm einen Gruß von mir.‹ Das war ein fast magischer Moment.« Anschließend werden die Gedichte bei Sammelbeisetzungen, die mehrmals im Jahr stattfinden, von den Dichterinnen und Dichtern vom Dienst für die jeweiligen Verstorbenen selbst verlesen. Bei den einsamen Begräbnissen ist oft niemand anwesend außer ein, zwei Mitarbeiterinnen vom Friedhofsamt, dem Gärtner und den Dichterinnen und Dichtern. Gefördert wird das Projekt unter anderem von der Stadt Zürich und privaten Stiftungen, muss aber dennoch jedes Jahr sein Fortbestehen aufs Neue sichern. Auch die mediale Resonanz auf das Projekt ist bislang verhalten. Immer wieder wurde sogar der literarische Wert des Projekts hinterfragt oder als ein sozialer interpretiert, obwohl viele renommierte Dichterinnen und Dichter daran mitwirken. Da die Gedichte aber nicht auf Bühnen, sondern an den Begräbnissen verlesen werden, ist das Interesse noch verhalten. Für Melanie Katz ist das ein Grund weiterzumachen und das Einsame Begräbnis fest in der deutschschweizerischen Kulturlandschaft zu etablieren. Das Projekt steht im Dienst der Verstorbenen und ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität. »Das Wort ist Erinnerungsträger, macht die vergessenen Leben wieder sichtbar und wirft Licht auf diese Leben. Das ist der kleine Beitrag, den wir leisten können.« Einer der wesentlichen systemischen Versagensschritte, der einem einsamen Tod vorausgeht ist also die gesellschaftliche Marginalisierung und Kolonialisierung der Verstorbenen. In ihrem Leben wie in ihrem Tod, werden sie gewaltsam in Systeme, die durchzogen von epistemischer Ungerechtigkeit sind, eingeordnet. Um Sorge zu ›dekolonialisieren‹, ist also eine andere Art von Vorsicht und Behutsamkeit nötig. Die Art von Sorge, die die Dichterinnen und Dichter des Einsamen Begräbnis praktizieren.

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Literatur Butler, Judith: Undoing Gender, New York/London: Routledge 2004. Fricker, Miranda: Power and the Ethics of Knowing, Oxford: Oxford University Press 2007. Inghels, Maarten/Starik, Frank: Das Einsame Begräbnis. Geschichten und Gedichte zu vergessenen Leben, Wien: Edition Korrespondenzen 2016. Katz, Melanie: Über das Einsame Begräbnis [unveröffentlichter Text].

Liepundeleid Über Konfigurationen einer Solidarität der Schwäche Oliver Schultz

Erinnern Sie sich an das Sorgelzähnchen? Ich glaube, heute kennt es kaum noch jemand. Es war die Hauptfigur eines gleichnamigen Büchleins, wie man sie kleinen Kindern an die Hand gibt, nämlich mit Seiten aus fester Pappe. Ich liebte es! Dabei sah es gar nicht liebenswert aus. Es hatte schütteres, wirres Haar, eine platte Nase, spitze Ohren und einen viel zu großen, schiefen Mund mit nur einem kleinen Zahn darin. Wirklich grausig aber waren seine dunklen Augen, die einen aus ihren tiefen Höhlen heraus zu beobachten schienen, während es von seinem Leben erzählte. Ich war sehr darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben, wenn ich, Seite um Seite, seine Lebensgeschichte vorgelesen bekam. Immerzu hungrig war es auf der Suche nach Sorgen. Denn von ihnen ernährte sich das Sorgelzähnchen. Auf seiner Suche nach Sorgen bohrte es sein kleines Zähnchen in alles, was ihm unterkam. In eine Tischkante. Allein, die war zu hart und es rutschte ab und stürzte, sein Mäulchen weit aufgerissen, in eine Tiefe. In eine Tasse. Aber die zerbrach und eine spitze Scherbe stak in seiner Wange. In ein Kissen. Denn das war weich. Aber als sich aus diesem eine Wolke aus Daunen erhob und wie ein wütendes Federvieh aufflatterte, da wäre es fast erstickt. Doch das Sorgelzähnchen gab nicht auf. Nie konnte oder wollte es lockerlassen. Sogar während es von sich erzählte, blieb es in Tischkante, Tasse oder Kissen verbissen. Es redete mit vollem Mund. Das war ein Gegurgel! Und es war so herrlich, dieses Gegurgel vorgelesen zu bekommen: »Drrssb brrrrttt!« oder »Wssnnd dsswwn ntssggg!« oder »Brrmm Bmmfft Bjjkkllmm!«. Aber weil es nirgends Futter finden konnte, wurde sein Gegurgel schwächer. Gggnn.

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Gllg. Ng. Langsam hungerte es dahin. Doch dann, es waren nur noch wenige Pappseiten und noch weniger Hoffnung, spitzte es seine Ohren. Schnupperte. Nahm Witterung auf. Und biss in Man-wusste-nicht-was. Etwas Ockerbraunes. Daraus quoll ein golden schimmernder Tropfen. Gierig schlürfte es ihn auf. Und da wurde sein dunkler Blick ganz hell. Endlich hatte es eine Quelle gefunden, an der es sich ausgiebig laben konnte: einen Menschen! Wahre, reine, wunderschöne Sorge, so viel sein kleines Herz begehrte. Hier konnte es bleiben. Aus dem Haupthaar des Menschen wob es eine flauschige Höhle, krümmte sich wohlig hinein und schlummerte ein. Friedlich. Satt. Das Sorgelzähnchen. Immer wieder wollte ich seine Geschichte hören, immer wieder die Verwandlung seiner Augen erleben, wenn es Sorge schlürfte. Und so gerne wollte auch ich einmal von dieser goldenen Substanz kosten, dass ich irgendwann damit angefangen hatte, selbst auf den Pappseiten herum zu kauen. Weich und ausgefranst wurde das Büchlein, eine ganze Einbuchtung hatte ich schließlich aus ihm herausgebissen. Aber irgendwann ist mir das Sorgelzähnchen aus den Händen und aus den Zähnen und schließlich aus meinem Leben und meiner Erinnerung geglitten. Erst sehr viel später begegnete mir ein Buch, das mich wieder an das Sorgelzähnchen denken ließ. Denn hier stieß ich auf ein Kauderwelsch, in dem ich sein Gegurgel wieder zu hören glaubte. Da hieß es: »swem nie von liebe leit geschach, dem geschach ouch liep von liebe nie. liep unde leit diu wâren ie an minnen ungescheiden.«1 Silben und Sinn dieser Worte erschienen mir gerade so zerkaut wie die Geschichte vom Sorgelzähnchen. Tatsächlich waren es Worte aus einem der großen Werke der Literaturgeschichte. Sie stammen aus einer Verserzählung des Gottfried von Straßburg aus dem 12. Jahrhundert, in der wir von einem der berühmtesten Liebespaare aller Zeiten hören: Tristan und Isolde. Und in diesen wenigen Versen ist bereits die ganze Tragik der beiden angedeutet. Ich übersetze einmal:

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Gottfried von Straßburg, 1990, V. 204 – 207.

Liepundeleid

Wem nie durch Liebe Leid widerfuhr, dem widerfuhr auch Liebe nie durch Liebe. Liebe und Leid, die waren seit jeher in der Minne unzertrennlich. Das sind ebenso knappe wie harte Worte: Liebe ist ohne Leid nicht zu haben. Die sanften Arme der Liebe, so stelle ich mir vor, sie münden in scharfe, schneidende Klauen; wer sich in diese werfen will, der muss sich auch von jenen aufschlitzen lassen. So also muss man sich die Minne vorstellen? Minne. Es gibt für sie keine neudeutsche Entsprechung. Sie bezeichnet eine typisch mittelalterliche Art der Liebeswerbung. Ein Ritter minnt eine Dame, das heißt, er kämpft um sie, besteht Abenteuer, erleidet alles Erdenkliche, um ihre Zuneigung zu gewinnen. Man vermutet, dass es solchen Minnedienst nie wirklich gegeben hat, dass er eine Erfindung der Dichtkunst war. Sie ist einer jener Kunstgriffe der Dichtung, die man mit Lügen verwechseln könnte. Dabei wird erst durch sie sagbar, was jenseits des bloß Wirklichen angesiedelt ist. So ermöglichte es die Erfindung der Minne, von den Wahrheiten der Liebe zu erzählen. Die spannenden, komischen und verwickelten Geschichten der Minne bringen etwas so Spannendes, Komisches und Verwickeltes wie die Liebe erst zu Gehör. Und umgekehrt lässt sich ohne diese Spannung, diese Komik und diese Verwicklung über das Rätsel der Liebe nichts Wahres sagen. Bei Gottfried von Straßburg verdichtet es sich zu einem untrennbaren Gespinst von Liebe und Leid, aus dem sich Tristan und Isolde nicht befreien können. Ihre Lage ist aussichtslos. Isolde ist dem englischen König Marke versprochen. Tristan, dessen treuester Diener, soll sie ihm zuführen. Auf dem Weg zum König flößt ihnen die Erzählung einen Zaubertrank ein, der sie unwiederbringlich einander in die Arme treibt. Aber es sind Arme mit Klauen. Das Leid, das aus ihrer Liebe erwächst, ist haarsträubend. Ihre Liebe hat in der Welt keine Zukunft. Tristan und Isolde flüchten sich ins Exil. Sie begeben sich außer Landes. Mittelalterlich gesagt: Sie begeben sich ins »elend«. Ihr Elend führt sie auch außerhalb jener Wahrheit der Minne, deren Unzertrennlichkeit von Liebe und Leid so ausweglos beschrieben wird, als sei sie eigentlich ein fest verschlossenes Wort: Liepundeleid. Doch inmitten dieser Ausweglosigkeit öffnet sich ihnen eine unerwartete Zuflucht. Die beiden finden eine Höhle. Hier, in dieser sogenannten »Minne-

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grotte«, leben Tristan und Isolde eine Liebe ohne Leid. Diese Grotte ist wie ein Hohlraum, getrieben ins unnachgiebige Gestein, ins harte Elend ihrer Minne. So verwirklicht sich in diesem Hohlraum die Umkehrung jener Wahrheit, dass Liebe und Leid unzertrennlich sind, ohne dass diese ihre Geltung verlöre. Ihre Liebe ist ein Hohlraum, der sich in der Unzertrennlichkeit von Liebe und Leid öffnet. Weil Liebe und Leid unzertrennlich sind, ist Minne nicht einfach nur von Leid durchschattet, sondern es finden sich in ihr auch Gewölbe der Liebe. Ungefähr 600 Jahre später, am 16.11.1800, stößt Heinrich von Kleist auf ein ganz ähnliches Gewölbe. Ein Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge legt davon Zeugnis ab. Er schreibt: »Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, daß ich vielleicht von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der neuen Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt.«2 Dieser Brief ist ein Dokument der Verzweiflung – und ihrer unerwarteten Verwandlung. Düstere, erdrückendste Stimmung wandelt sich zu neuer, strahlender Hoffnung. Wie konnte es zu dieser Verwandlung kommen? Kleist beginnt seinen Brief mit Andeutungen über seine ganz persönliche, hoffnungslose Situation. Man weiß wenig über deren konkrete Umstände. Aber der Brief macht deutlich: Kleist sieht sich dem Tode nahe. »Mich schauerte« – schreibt er – »wenn ich dachte, dass ich vielleicht von allem scheiden müsste, was mir teuer ist.« Im Angesicht seines Todes erfasst ihn äußerste Einsamkeit. Doch gerade als seine Verzweiflung am größten geworden ist, widerfährt ihm mit einem Mal eine nicht mehr für möglich gehaltene Hoffnung! Sie begegnet ihm in Gestalt eines Torbogens, den er auf seinem Weg durch die

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Heinrich von Kleist, 1986, S. 154.

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abendliche Stadt durchquert. Es brauchte wohl die intensive Erfahrung seiner inneren Haltlosigkeit, die ihn bemerken lässt, auf welch merkwürdige Weise dieser Torbogen gebaut ist. Denn dessen Statik ist auf paradoxe Weise mit äußerster Haltlosigkeit verknüpft. Wie kann das sein? Hören wir noch einmal, wie Kleist den Torbogen beschreibt: »Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen.« Die Tektonik des Bogens kehrt die zu Boden drängende Schwerkraft der Steine in ihr Gegenteil. Ausgerechnet die Haltlosigkeit jedes einzelnen erzeugt im Ganzen einen soliden Halt aller Steine. Diese Umkehrung gelingt nur gemeinsam. Nur durch die gleichzeitige Einwirkung der Schwerkraft auf jeden einzelnen Stein bleiben alle vor dem Sturz bewahrt. So wird der Torbogen zum Sinnbild für eine Solidarität. Eine Solidarität der Schwäche. Worin gründet diese? Erst einmal in Haltlosigkeit. Jeder Stein, jeder Mensch, so sieht es Kleist, ist haltlos. Aber der allgemeine Zusammenfall eines jeden Steins, eines jeden Menschen, ist ein Fall, durch den alle aufeinander zu fallen. Nicht auseinander oder voneinander weg, sondern zu-sammen. Ich falle!! – aber wider Erwarten stürze ich nicht zu Boden. Der befürchtete gänzliche Einsturz bleibt aus. Denn im Zusammenfall begegne ich derart dem Fall der jeweils anderen, dass dieser den meinigen abbremst. Durch unser aller Fall finden wir zu einem unerwarteten Halt. Die Gefahr des Einsturzes ist gebannt. Wir bleiben bestehen, wenn auch nicht aufrecht, so doch einander zugeneigt. Es ist eine Solidarität der gegenseitigen Zuneigung, deren Stabilität darauf angewiesen ist, dass keiner und keine von uns stabil bleibt. Es braucht also nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, eine besondere Kraft, die stark genug wäre, den allgemeinen Zusammensturz zu verhindern. Ganz im Gegenteil. Nicht nur könnte keine einzelne herausragende Kraft diesen verhindern; nein. Wenn auch nur eine Kraft aufrecht bliebe und damit sozusagen bei sich verharrte, dann erst würden alle anderen einstürzen. Nur weil keiner und keine stark ist, sondern weil alle eine Bereitschaft zur Schwäche miteinander teilen, können sie einander halten. Diese Schwäche gibt Halt, sofern es eine Schwäche ist, die man füreinander hat. Eine Solidarität der Schwäche.3 3

Diese Solidarität der Schwäche widerspricht jeder gängigen Auffassung von Versorgung. Stabil, souverän, wissend, professionell – all diese Adjektive charakterisieren die

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In der November-Ausgabe einer Wochenzeitung dieses Jahres habe ich kürzlich den schönen Satz gelesen: »Zu sterben heißt, unwiederbringlich aus der Zukunft mit anderen herausfallen.«4 Im Bewusstsein dieser Aussichtslosigkeit haben wir Kleist im November vor über 200 Jahren angetroffen. Aber weil ihm der Torbogen, den er an jenem Novemberabend durchschreitet, zum Durchgang in eine ebenso unerwartete wie hoffnungsfrohe Zukunft wurde – und mit Blick auf die Unzertrennlichkeit von Liebe und Leid – möchte ich diesen Satz umschreiben. Dann lautet er: »Zu liebesleiden heißt, immer wieder in eine gemeinsame Zukunft hineinfallen.« Vor vielen Jahren habe ich die Bekanntschaft von Frau L. gemacht. Sie bewohnte ein Altenpflegeheim, in dem ich regelmäßig eine meiner Malgruppen leitete. Wann immer ich bei ihr vorbeischaute, saß sie an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer. Ich suchte das Gespräch mit Frau L., aber vergebens. Sie reagierte nicht auf mich. Frau L. war dement und sehr allein. Dann erhielt ich den Hinweis, dass man, um die Aufmerksamkeit von Frau L. zu erhalten, mit ihr singen müsse. So begrüßte ich sie also das nächste Mal mit einem gesungenen »Guten Tag«. Und tatsächlich: Sie wendete sich mir zu, schaute mich aus den leuchtendsten Augen an, die man sich vorstellen kann, und erwiderte freundlich singend: »Guten Tag!« Ich sang, ob ich mich zu ihr setzen dürfe und sie lud mich singend ein, Platz zu nehmen. Singend fragte ich sie, ob sie Lust hätte, etwas zu malen? Höflich singend lehnte sie ab und widmete sich wieder ihrer kurz unterbrochenen Beschäftigung. Vor sich hinsingend verteilte sie mit beiden Händen wie in einem langsamen, sorgfältigen und zärtlichen Dirigat die Reste ihres Mittagessens auf dem Tisch. Auf diesem stand eine gerahmte Fotografie. Auch das Glas des Bildes war von Essensresten bedeckt. Darunter konnte man eine zottelige, dunkle Gestalt

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Vorstellung einer Versorgungspraxis, in der es auf der einen Seite Versorgungs- oder Pflegekräfte gibt, die über sie verfügen, und auf der anderen Seite zu Versorgende, die ihrer bedürfen. Wollte man die von Kleist entworfene Solidarität auf eine reale Praxis von Versorgung übertragen, dann bräuchte es also in erster Linie eine Schwächung der Versorgenden, die es ihnen erleichtern würde, sich ihren schwachen Gegenübern ernsthaft zuzuneigen. Dann entfaltete sich eine wechselseitige Schwäche füreinander und ein vertrauensvoller Halt in einer Versorgungsstatik, die von sich ausbreitenden Rissen und Zusammenbrüchen gezeichnet scheint. Maio, 2020, S. 53.

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erkennen. Ein Hund. Ich meine es war ein Pudel. Sie sang seinen Namen: Peterle. Mit Hingabe fütterte Frau L. das Peterle mit den Resten ihres Essens. Zärtlich strich sie ihm, liebevoll summend, Brei und Sauce in die Schnauze. Ich dachte: Von ihrem längst verstorbenen Peterle, das sie sehr geliebt haben muss, war ihr nur mehr eine Fotografie geblieben. Ein Bild – und ihre Liebe zu ihm. Und damit diese nicht in die Leere stürzte, die sein Tod hinterlassen hatte, bedachte sie nun an seiner statt die Fotografie mit ihrer Zuneigung, gerade so, als sei es Peterle selbst, das da auf dem Tisch säße und ihr aus der Hand fräße und aufmerksam seinen Kopf ihrem Gesang und ihren Händen entgegenneigte. Später erfuhr ich, dass Frau L. nie einen eigenen Hund gehabt hatte. Auch von ihren Angehörigen wusste niemand, wer jenes Peterle sei. Die Fotografie war also gar keine Erinnerung an ein wirkliches Peterle. Eher war sie so etwas wie eine Ikone, die ein Peterle ins Hier und Jetzt des Lebens von Frau L. vergegenwärtigte. Ihre nicht nachlassende Sorge nährte das Peterle und zugleich nährte diese sich von einer Einbildungskraft, die weit entfernt ist von einer Einbildung im Sinne einer Täuschung. Diese Einbildungskraft von Frau L. nährte eine Wahrheit. Eine grundlose Wahrheit, wenn man so will. Eine schwache Wahrheit. Sie öffnet sich wie eine unerwartete Zuflucht, in die man sich getrost hineinfallen lassen kann.

Literatur Kleist, Heinrich von: Briefe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 154. Maio, Giovanni: »Was es heißt zu sterben?«, in: DIE ZEIT Nr.47, 12.11.2020. Straßburg, Gottfried von: Tristan, München: Reclam 1990.

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Wie die Sorge industrialisiert wird Reimer Gronemeyer und Michaela Fink Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Matthäus 6,25

Sorgenfreie Menschen »Ich habe von Pirahã kein einziges Mal gehört, sie würden sich Sorgen machen. Soweit mir bekannt ist, gibt es für ›Sorge‹ in ihrer Sprache überhaupt kein Wort. Eine Gruppe von Psychologen des Brain and Cognitive Science Department am Massachusetts Institute of Technology, die einmal bei den Pirahã zu Besuch waren, bezeichneten daraufhin dieses Volk als das glücklichste, das sie jemals gesehen hätten.«1 Daniel Everett zog aus, um die Pirahã im brasilianischen Urwald zu Christen zu machen. Die Pirahã aber bannten seine Aufmerksamkeit so, dass er dieses Vorhaben aufgab und sich ganz ihrer Sprache und Kultur widmete. Die Pirahã seien glücklicher, lebendiger und besser an die Umwelt angepasst als jeder Christ und jeder andere religiöse Mensch, den er jemals kennengelernt habe, sagt Everett.2 Was hat es mit der Sorge auf sich? Die ›Sorge‹ kommt, wenn man auf den Ursprung des Begriffes schaut, aus zweierlei indogermanischen Quellen: Das

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Everett, 2012, S. 407. Ebd., S. 408.

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Wort bedeutet »sich um etwas kümmern« einerseits und »krank sein« andererseits. So hat die Sorge bis heute zwei Gesichter: Sie spricht erstens von der Bemühung um andere und zweitens von einer quälenden inneren Unruhe. Man könnte auch sagen: Sorge für und Sorge um. Unsere Vermutung ist, dass die Sorge für sich im Wandel befindet und dabei die Sorge um allmählich zum Verschwinden bringen könnte. Von der »sorgenden Gemeinschaft«, gar von »sorgender Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede: Sorge wird damit zur gesellschaftlichen Aufgabe, staatliche Daseinsfürsorge steht auf dem Programm. Es sieht so aus, als wenn die alte doppeldeutige Sorge sich vereindeutigt. Zwar haben die Menschen Sorgen – um die wirtschaftliche Zukunft, um das Klima, um den Frieden, um ihre Gesundheit. (Die Pirahã indessen scheinen diese Sorge nicht zu kennen.) Aber die Menschen sind zunehmend auf gesellschaftlich organisierte ›Sorge‹ angewiesen, um ihren Alltag zu bewältigen. (Auch diese Sorge, die der Versorgung benachbart ist, scheinen die Pirahã nicht zu kennen.) Wir ahnen, dass diese beiden Gestalten der Sorge auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind. Bei Pflegebedürftigen, bei Kranken, bei Hilfsbedürftigen ist die Verbindung augenfällig. Der Pflegebedürftige zum Beispiel ›sorgt‹ sich um seine ›Versorgung‹. Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, inwieweit die Sorge ihre Bodenhaftung verliert. Wird aus einer Sorgehaltung, die eigentlich aus der Gemeinschaft wächst, ein Instrument, mit dem Gemeinschaft administrativ gefördert, verwaltungsmäßig gesteuert und mit neusten Methoden kontrolliert wird? Wird Sorge zu einer Ressource, die nicht mehr aus der Gemeinschaft erwächst, sondern die der Gemeinschaft zugeführt werden muss, um sie am Leben zu erhalten? Bekommen wir eine dahinsiechende Gemeinschaft, die auf der Intensivstation liegt und mit Sorgeeinheiten beatmet werden muss?

Sorge wird zum Plastikwort Das Wort ›Ressource‹ ist eigentlich eine Metapher für Leben, kommt es doch vom lateinischen Wort ›surgere‹ – ›hervorquellen‹. Es verweist auf die Schöpfungs- und Selbsterneuerungskräfte der Natur. Und spricht zugleich von Gegenseitigkeit und Regeneration: ›re-source‹ heißt es deutlich im Englischen. Mit dem Kolonialismus und mit dem Beginn des Industriezeitalters beginnt ein Bedeutungswandel des Wortes Ressource: Als Ressourcen gelten nun die Teile der Natur, die für die industrielle Produktion gebraucht

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werden. »Wenn wir von den natürlichen Ressourcen eines Landes sprechen, meinen wir das Erz unter Tage, das unabgebaute Gestein, das ungefällte Nutzholz (usw.)«, so heißt es 1870 in der Natural History of Commerce.3 Diese Nutzung der Ressourcen manifestiert sich zum Beispiel in der »Umwandlung gemeinschaftlich genutzten Waldlands in Monokulturen industriell verwertbarer Baumarten oder in der Verwendung des Wassers, das traditionell zur Erzeugung der Grundnahrungsmittel und als Trinkwasser diente, zur Bewässerung von Anbaugebieten, deren Erträge für den Export bestimmt sind«, sagt die indische Wissenschaftlerin und Umweltaktivistin Vandana Shiva.4 Es sieht so aus, als wenn der Begriff ›Sorge‹ einen ähnlichen Bedeutungswandel durchlaufen hat. Die Sorge ist zunächst und ursprünglich eine Ressource, die jede Gemeinschaft braucht: Die Bereitschaft zur gegenseitigen Sorge konstituiert Gemeinschaft. Sie ist die Quelle der lebensnotwendigen Gegenseitigkeit, aus der Gesellschaft wächst. Wir sind gegenwärtig mit einem Prozess konfrontiert, in dem aus dieser ›subsistenten‹, daseinsmächtigen Sorge, die nachbarschaftlich begründet ist, ein administratives Instrument wird. Sie ist ursprünglich die Quelle, aus der jeder trinken kann, der Sorge braucht. Dass das in der Gemeinschaft nicht immer gelingt, ändert nichts daran, dass Gemeinschaft ohne Sorge nicht existieren kann. Wir erleben aber gegenwärtig, dass aus der Sorge eine nutzbare Ressource wird. Heute sind wir mit Sorgekonzepten, die sich in den Händen von Case-Managern, Pflegeleitungen oder Diakoniedirektor*innen befinden, konfrontiert. Sorge ist organisiert, vergeldlicht, professionalisiert und instrumentalisiert. Sie ist nicht mehr die Voraussetzung für ein konviviales Leben, sondern Teil eines Versorgungsstaates, der die subsistente Sorge entmachtet hat. Sorge ist zur bezahlten Dienstleistung geworden.5 Die Mitglieder dieser Dienstleistungsgesellschaften bedienen sich zugleich quasi parasitär an den Resten konvivialer Gemeinschaften: So werden häusliche Pflegekräfte aus den (noch) subsistenzstärkeren Gesellschaften Osteuropas abgezogen. Die wärmende Freundlichkeit rumänischer oder polnischer Pflegekräfte wird zur emotionalen Ressource, die heute so abgebaut wird wie ehemals die Kohle. Ein Mix aus wohl-

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Diese Interpretation des Bedeutungswandels von ›Ressource‹ und das Zitat aus der ›Natural History of Commerce‹ findet sich bei Shiva, 1993, S. 322ff. Ebd., S. 341. Gronemeyer/Jurk, 2017.

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fahrtsstaatlich administrierter Sorge und importierter Alt-Sorge halten hier den Alltag aufrecht. Sorge ist so eine flexible Ressource geworden, die in die Adern der verödeten spätmodernen Gesellschaft transfusioniert werden kann. In diesem Sinne wird die ›Sorge‹ gerade vereindeutigt.6 Um als Instrument der Versorgung geeignet zu sein, muss die Erinnerung an das Eigene und eigentlich auch an die Sorge als meine höchst eigene quälende Emotion zum Verschwinden gebracht werden. Die soll zur Behandlung an das Dienstleistungsgewerbe abgegeben werden. Sorge ist in diesem Sinne dabei, zu einem Plastikwort zu werden. Plastikwörter sind dadurch gekennzeichnet, dass sie wie Amöben in der Sprache herumschwimmen, formlos und vieldeutig.7 Die ›Sorge‹ schwimmt gerade in diese Richtung. Das Wort ist in die Hände der Dienstleister geraten und seiner ursprünglichen subsistenten Bedeutung beraubt. Sorge spricht nicht mehr von der Sorge, die ich Dir schenke oder Du mir, sondern Sorge wird ein tragendes Element in der administrativ überwölbten spätindustriellen Gesellschaft. »Sorge ist ein integraler Bestandteil des Handelns im Gesundheitswesen.« An die Stelle der persönlichen Sorge treten »Sorgekonzepte der Care-Ethik«.8 Plastikwörter sind dadurch gekennzeichnet, dass sie keine klare Bedeutung mehr haben. Was einmal lebendige diakonische Liebe war, ist weitgehend zu einer institutionalisierten Dienstleistung geworden. Uns werden im wahrsten Sinnen des Wortes die Sorgen abgenommen, das gut versorgte Individuum tritt an die Stelle. »Ich werde über die Institutionalisierung der Liebe sprechen. Das nennt man heute ›care‹ oder Dienstleistung. In einer Gesellschaft, die sich christlich nennt, wird das Wohltätigkeit genannt. Und auf diese Weise hat sich Liebe in eine monströse Karikatur verwandelt. Sie trägt dazu bei, dass Menschen das ›Leben‹ als etwas betrachten, das zu managen sei, das geschützt und gepflegt werden muss.«9 So beschreibt Ivan Illich diesen Prozess, bei dem die Sorge entsorgt wird.

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Vgl. Bauer, 2018. Pörksen, 1988. Ein Beispiel, das für eine Tendenz steht: »Caring about Care. Der Sorgebegriff im Gesundheitswesen, siehe: https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/caring-abo ut-care-der-sorgebegriff-im-gesundheitswesen-ein-vergleich-zwischen-deutschland-5 494.php [Zugegriffen: 16.11.2020]. Zit. in Cayley, 2020.

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»Hast Du die Sorge nie gekannt?« Vielleicht ist es gut, sich daran zu erinnern, dass die Sorge erst einmal kein Managementereignis, sondern eine aufwühlende Emotion ist, die einen hin und her zerrt und gar nichts mit kühler Sorge-Administration zu tun hat. Das ist die ungezähmte, die ungebändigte Sorge, die uns im Griff haben kann. Nie ist das so eindringlich beschrieben worden wie in Goethes Faust. Am Ende des Faustdramas packt ihn, den Faust, die Sorge. Vier graue Weiber treten auf: der Mangel, die Schuld, die Sorge und die Not: Faust ist an sein Ende gekommen. Der Sorge gelingt, was die grauen Schwestern Mangel, Schuld und Not nicht schaffen – sie dringt durch das Schlüsselloch in Fausts Gemach: »Ihr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein. Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein.« Die Sorge ist flexibel, beharrlich, gestaltlos, allgegenwärtig. Die Sorge, die sich durch das Schlüsselloch in Fausts Privatgemächer geschlängelt hat, fragt ihn: »Hast Du die Sorge nie gekannt?« Jetzt ist sie da und sie macht Faust klar: »Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze.« Der Mensch, der sich sorgt, verliert sich immer mehr, flüstert ihm die erstickende Sorge zu. »Sich und andre lästig drückend, atemholend und erstickend; Nicht erstickt und ohne Leben, Nicht verzweifelnd, nicht ergeben. … Bald Befreien, bald Erdrücken, Halber Schlaf und schlecht Erquicken Heftet ihn an seine Stelle Und bereitet ihn zur Hölle.« Die Art und Weise wie heute wissenschaftlich und in pflegerischer Praxis von »sorgender Gemeinschaft«, gar »sorgender Gesellschaft« geredet wird, lässt den Verdacht aufkommen, es gehe vor allem darum die ›Sorge‹ abzukühlen, ja zu verleugnen. Aus dem zappelnden Besorgten (»noch nicht erstickt und

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doch ohne Leben«) wird ein Care-Objekt. Die dunkle Seite der Sorge im Menschen wird zum Verschwinden gebracht, weil die Sicherheitsgesellschaft suggeriert, dass für alles gesorgt ist – sogar für den assistierten Suizid, wenn es denn nicht mehr anders geht. So könnte die Devise heute also lauten: Rettet die Sorge! Rettet sie, bevor der wohlfahrtsstaatliche Lieferservice mich mit industrialisierter Sorge ruhigstellt.

Die Sorge leben. Die Sorge tanzen Es gilt, die Erinnerung daran festzuhalten, dass die Sorge für ein zentrales Element gelingender Gemeinschaft ist: Sie wächst aus dem Bewusstsein der Notwendigkeit füreinander da zu sein. Wenn wir in der Kulturgeschichte der Menschen weit zurückgehen, ist das deutlich spürbar. Die zum Element der Administration gewordene Sorge hat die Erinnerung daran teilweise erfolgreich getilgt. Darum gehen wir einen gedanklichen Augenblick weit zurück. Bei den San, früher hießen sie ›Buschmänner‹, ist die in der Gemeinschaft begründete Sorge in kleinen Resten bis heute erfahrbar. Die San leben im südlichen Afrika, sie sind traditionell Jäger und Sammler, Nomaden in Wüsten und Regionen, die für andere (Landwirte oder Viehhalter) nicht interessant sind. Und sie haben überaus raffinierte Techniken entwickelt, um in der wasserarmen Wüste zu überleben, sie nächtigen in einfachen Laubhütten und sind wegen ihrer nomadischen Lebensweise nahezu besitzlos. Sie waren es jedenfalls früher: Was kann ein Nomade schon mitschleppen? Ihre Sprache ist mit kunstvollen Klick- und Schnalzlauten durchsetzt, sie sind Maler atemberaubend schöner Felszeichnungen – und im Zentrum ihrer Kultur steht der Tanz, in dem Trancezustände hervorgerufen werden. Ihre Kultur sagt, dass die Krankheit eines Menschen immer etwas mit einer Störung in der Gemeinschaft zu tun hat. Und deshalb ist der gemeinschaftliche Tanz eine an die Wurzeln der Existenz gehender Akt gemeinschaftlicher Sorge. Der Kranke wird umtanzt, berührt, mitgerissen, eingeschlossen. Stöhnen, singen und stampfen, sich in ein Tier verwandeln, den Kranken umklammern – alles das gehört dazu und lässt einen Tänzer nach dem anderen in Trance verfallen. Wir können an so etwas nicht anknüpfen, dafür fehlen uns alle Kompetenzen. Aber wir können in einem Augenblick des Erschreckens unsere individualisierte, professionelle, industrialisierte Sorge danebenstellen, um etwas von unserer Verlassenheit zu erfahren. Man muss sich nur einen Augenblick unsere Praxis während des Lockdowns in Pflegeheimen und Hos-

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pizen in Erinnerung rufen, um zu ahnen, was bei uns aus Sorge geworden ist. Abschließung und Isolation waren die Antworten auf die Pandemie. So mancher alte Mensch dürfte daran zugrunde gegangen sein.

Sorge als Teil der imperialen Kultur Corona hat uns gelehrt, was Government-by-Science ist: Die politische Führung dankte ab, der Gesundheitsapparat regelte über den Bildschirm den Alltag der Menschen. Die amerikanische Feministin Donna Haraway spricht davon, dass gegenwärtig die »Integrität des westlichen Selbst« verschwindet und »Entscheidungsverfahren, Expert*innensysteme und Ressourceninvestitionsstrategien« an die Stelle treten.10 Insofern droht der alten subsistenten Sorge das Verschwinden. Beruhigungstabletten und Sorgekonzepte überkrusten (oder: kolonisieren) diesen altmodischen Komplex. Was die Menschen im Innersten bewegt und das, was die Menschen selber können, weckt zunehmend Misstrauen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass das Massenexperiment »soziale Kontrolle« funktioniert, dass gesellschaftliche Regelkonformität durchsetzbar ist und dass die eigene Sorge überflüssig wird. Die Abschaffung der subsistenten Sorge, der Sorge also, die aus uns und aus der Gemeinschaft wächst, wird zur Signatur unserer Zeit. Die freundlich-kommunikative Industriesorge tritt an die Stelle und übernimmt die Ruhigstellung der Bevölkerung. Das aber ist dringend erforderlich, weil zugleich die gesellschaftlichen Prozesse, die zu Sorge Anlass geben, exponentiell wachsen. Vor allem gibt es eine schwindelerregende Explosion der Ungleichheit. »Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als ›Eliten‹ bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und den Rest der Welt nicht mehr genügend Platz vorhanden sei«, so der französische Soziologe Bruno Latour.11 Die Folgen der Klimakatastrophe werden unerbittlich sein. Der Traum von einem guten Leben für alle ist geplatzt. Daraus entsteht zwangsläufig die Idee, dass es für Reich und Arm keinen gemeinsamen Horizont mehr gibt, an dem die Morgenröte eines globalen Wohlstands aufdämmert, der alle Menschen mit Wohlstand begabt. Im Kontext unserer Sorgereflexionen kann man sagen: Die Eliten haben den Gedanken an eine Sorgeverantwortung für die Habenichtse aufgegeben. Ein rasender Durchgang: 10 11

Zit. ebd. Latour, 2018, S. 9.

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In einem ersten Schritt wird subsistente Sorge zerstört, stattdessen werden die Menschen administrativ versorgt. Der zweite Schritt steht an: Den Menschen, deren Sorgekompetenz vernichtet ist, wird der Sorgeersatz entzogen. Das ist zu teuer, zu kompliziert, es gibt nicht genügend Geld und Personal. Der Prozess läuft parallel im Bereich Nahrung. Die Fähigkeit, sich selbst mit Nahrung auszustatten, verschwindet. Die Abhängigkeit von der Versorgung mit Nahrungsmitteln tritt an die Stelle. Jede Krise bringt dann Hunger mit sich – was man zum Beispiel in vielen afrikanischen Ländern sehen kann.12 Die globalisierte Industriezivilisation ist zur dominanten Kultur auf diesem Planeten geworden. Man könnte sie das ›Imperium‹ nennen.13 In der Pflege, schreibt Silja Samerski, wird »Sorge-Arbeit nicht als ein vielschichtiges, ganzheitliches ›Sich-Kümmern‹ verstanden […], sondern als Belieferung mit Service-Einheiten, also als mechanische Bedürfnisbefriedigung, die auch vor der Simulation von Menschlichkeit nicht zurückschreckt.«14 Spätestens hier wird deutlich: Sorge lässt sich nicht organisieren, aber man kann sie zum Verschwinden bringen. Oder hat die Sorge unter der dicken Eisschicht administrativer Versorgung doch eine Überlebenschance? Immerhin erleben wir, wie in gesellschaftliche Krisen (die Flüchtlingskrise, die Corona-Krise, …) das Eis jederzeit aufbrechen kann und Menschen von der Sorge um den Anderen persönlich ergriffen werden und sich ›eigenmächtig‹ um andere kümmern. Der amerikanische Philosoph Charles Eisenstein schreibt: »Wenn Krisen die beengenden Routinen der gesellschaftlichen Normalität hinwegfegen, dann erwarten wir Plünderung, Chaos und die Ausbeutung der Schwachen durch die Stärkeren. Das ist aber keineswegs so. Nein, die Menschen kommen zusammen und sorgen füreinander. Wir merken dann, dass dieser natürliche Altruismus, die Gemeinschaft, die Solidarität, die dann entstehen, ständig von unseren Systemen und Ideologien des Getrenntseins unterdrückt werden. Aber die Verbindungen zwischen den Menschen sind immer da. Sie liegen nur brach und warten darauf, wieder leben zu dürfen. Und wir erfahren jetzt einen solchen Moment. Er zeigt uns einen Weg in die Zukunft, den wir gehen können!«15 12 13 14 15

Metzger, 2021. Hornschuh, 2020. Samerski, 2020. Covid-19 Is a Rehab Intervention: Charles Eisenstein | Rich Roll Podcast: https://www.y outube.com/watch?v=BCB0eI7TjFc [Zugegriffen: 16.11.2020].

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Die Sorge füreinander hat keinen Preis »Eine überaus korrekte, friedliche, geschützte, in ihrem Komfort verschanzte Welt kann eine völlig unwürdige Welt sein. Jedwede Gruppe, die den Wunsch hat, eine Gemeinschaft zu sein, verspürt diese Würde als verheißen, als bereits gegeben, wenn sich inmitten der mühevollen, ruhmlosen Überlebenstätigkeit ein Raum der Begegnung öffnet, wo man sich gegenseitig als unendlich anders als diese Tätigkeit erkennt.«16 Die Ballade vom traurigen Café erzählt Carson McCullers. Miss Amelia eröffnet während der Depression in einem Ort, der im Süden der Vereinigten Staaten liegt, ein Café. Die Stadt ist trostlos, es gibt eine Baumwollspinnerei, zweiräumige Hütten für die Arbeiter*innen, eine Kirche, eine schäbige Hauptstraße. Die Stadt liegt verlassen da, traurig und abgewandt von allen anderen Ortschaften der Welt. Miss Amelia näht rote Fenstervorhänge, kauft von einem Straßenhändler einen großen Strauß Papierrosen. Das Café bedeutet viel für die Stadt. Es zog ein gewisser Stolz in die Menschen ein, der hierzulande bisher unbekannt war. Das menschliche Leben galt nicht viel, es wird für viele zu einer langen trübseligen Plackerei, bei der es darum geht, die notwendigsten Dinge für das Überleben zusammenzuscharren. »Doch das menschliche Leben hat keinen Geldwert, es wird uns umsonst gegeben, und es wird uns genommen, ohne daß wir dafür bezahlen […] Doch der neue Stolz, der mit dem Café in diese Stadt gekommen war, berührte fast jeden, sogar die Kinder […] So waren auch die Leute aus der Stadt stolz, wenn sie an einem Tisch im Café saßen. Sie wuschen sich, ehe sie zu Miss Amelia ginge, und putzten sich vor dem Betreten des Cafés anständig die Schuhe ab.«17 Im Café konnten die Menschen für ein paar Stunden die bittere Einsicht vergessen, dass der Mensch in dieser Welt nichts wert ist.18 Alles Lebendige verliert seinen Eigenwert gegenüber dem Geldwert. Das entspricht der Logik der weltumspannenden Kapitalismus-Religion.19

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Den Hinweis auf dieses Zitat und auf die folgende Geschichte verdanken wir Jonas Metzger. Hénaff, 2009, S. 602. McCullers, 1971, S. 5, zit. in Hénaff, 2009, S. 603. Ebd. Vgl. Drewermann, 2017, S. 364f.

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In der gegenseitigen Sorge haben die Menschen die Möglichkeit, sich als würdig zu erfahren, indem sie Kräfte in sich finden, die sie selber haben. Die »Umsonstigkeit« (Ivan Illich) des Füreinander-Sorgens ist die Bedingung für wirkliche Sozialität. Gegenwärtig ist unsere Realität dadurch gekennzeichnet, dass die bodenlos gewordene Sorge immer absurdere Züge annimmt. Das jüngste Beispiel: Die Entsorgung des nuklearen Mülls, den wir produziert haben. Eine Million Jahre wird dieses menschengemachte Material in den Stätten, in denen es gelagert werden soll, strahlen und gefährlich bleiben. Die ›Sorge‹ darum ist ein monströses Verbrechen. Es ist ein absurdes Beispiel für die Richtung, die industrialisierte Sorge einschlägt. Niemand kann sich wirklich Sorgen machen über Menschen, die vielleicht in zehntausend Jahren auf diese strahlende Materie treffen. Gegenüber einer solchen völlig erkalteten Sorge gilt es, die verlorene, die enteignete, die zum Schweigen gebrachte Sorge in Schutz zu nehmen. Der Blick auf die Sorge, die von ihrer Bodenhaftung abgeschnitten wurde und der Blick auf die Sorge füreinander, zieht zwangsläufig den Vorwurf des Romantizismus auf sich. Ja, die Zukunft scheint der Versorgung zu gehören. Wer würde es noch wagen, auf die Sorge, die in der Gemeinschaft, in der Kommune, in der Nachbarschaft wächst, zu vertrauen? Aber vielleicht ist die Wiederentdeckung dieser zerstörten, enteigneten Sorge unsere Hoffnung? Sie könnte wachsen in den Ruinen des Kapitalismus und auf den Trümmern einer zerstörten Natur. Ursula K. Le Guin, eine kalifornische Autorin phantastischer und ethnologischer Literatur, schreibt dazu: »Ich schlage nicht vor, in die Steinzeit zurückzukehren. Meine Absicht ist weder reaktionär noch konservativ, sondern schlicht subversiv. Die utopische Vorstellungskraft sitzt offenbar in der Falle, wie der Kapitalismus, die Industrie und die gesamte Menschheit, sie sitzt in einer Einbahnstraßenzukunft, die nur Wachstum kennt. Ich versuche lediglich darüber nachzudenken, wie die Kuh vom Eis zu holen ist.«20 Das ist die Aufgabe: Die Sorge aus ihrer Bodenlosigkeit herauszuholen, sie neu zu erfinden als etwas, was wir selber können. Ivan Illich spricht vom Geist der Selbstbegrenzung, die einen »mutigen, disziplinierten, selbstkritischen und in Gemeinschaft vollzogenen Verzicht« verlangt.21 20 21

Ursula K. Le Guin zit. in Tsing, 2019, S. 31. Illich, 1998, S. 169.

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Sorge: Das könnte ein wichtiges Thema für eine künftige »Gegenforschung« sein, die sich der imperialen Kultur, die Sorge zum administrativen Element machen will, zu entziehen sucht.22

Literatur Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart: Reclam 2018. Cayley, David: »Fragen zur Pandemie aus der Sicht Ivan Illichs«, in: Charlotte Jurk/Reimer Gronemeyer (Hg.), Was glaubst du eigentlich? Über das, was wir wissen können und was nicht, Gießen: Verlag Wolfgang Polkowski 2020, S. 65-94. Drewermann, Eugen: Von Krieg und Frieden. Kapital und Christentum (3.Bd.), Ostfildern: Patmos Verlag 2017. Everett, Daniel: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas [2.Aufl.], München: DVA 2012. Gronemeyer, Reimer/Jurk, Charlotte (Hg.): Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und sozialer Arbeit, Bielefeld: transcript 2017. Heller, Andreas/Schuchter, Patrick: Sorgekunst. Mutbüchlein für das Lebensende, Esslingen: hospiz verlag 2017. Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Franfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Hornschuh, Jürgen: »Die dunkle Seite der Wissenschaft. Epistemizid und kognitive Ungerechtigkeit«, in: Charlotte Jurk/Reimer Gronemeyer (Hg.), Was glaubst du eigentlich? Über das, was wir wissen können und was nicht, Gießen: Verlag Wolfgang Polkowski 2020, S. 10-26. Illich, Ivan: Selbstbegrenzung, München: Beck 1998, S. 169. (Amerikanische Original-Ausgabe: Tolls of Conviviality, 1973). Jurk, Charlotte/Gronemeyer, Reimer: Was glaubst du eigentlich? Über das, was wir wissen können und was nicht, Gießen: Verlag Wolfgang Polkowski 2020. Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest [2.Aufl.], Berlin: Suhrkamp 2018.

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Als wegweisende Beiträge in dieser Richtung kann man lesen: Heller/Schuchter, 2017. Und Wegleitner et al., 2016.

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McCullers, Carson: Die Ballade vom traurigen Café, Zürich: Diogenes Verlag 1971. Metzger, Jonas: Mehr als eine Ressource. Die soziale Bedeutung lokaler Saatgutsysteme und des Saatgutaustausches im Globalen Süden. Das Beispiel Tansania, , Wiesbaden: Springer 2021. Pörksen, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart: Klett-Cotta 1988. Samerski, Silja: »Die Krise der Sorgearbeit. Demenz und die Digitalisierung der Pflege«, in: Demenz – das Magazin, 47 (2020), S. 40-42. (Thema der Ausgabe: Demenz in Zeiten der Krise, hg. Von Michaela Fink, Reimer Gronemeyer und Oliver Schultz). Shiva, Vandana: »Ressourcen«, in: Wolfgang Sachs (Hg.), Wie ist Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993. Tsing, Anna Lowenhaupt: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin: Matthes & Seitz 2019. Wegleitner, Klaus et al.: Compassionate Communities, London: Routledge 2016.

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege Cornelia Coenen-Marx

Mehr als Versorgung: »Dich schickt der Himmel« »An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona«, sagt Elke Schilling. Die 75-jährige Berlinerin hat den Telefondienst »Silbernetz« gegründet, der sich inzwischen bundesweit an einsame Ältere richtet. Der Dienst ist nachgefragt wie nie zuvor. Und Elke Schilling hat sich auch vom Lockdown nicht abhalten lassen, ins Büro zu gehen. Auch wenn sie zur Risikogruppe gehört, sie wird gebraucht. In Großbritannien wurde 2018 ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme und Depressionen nehmen zu, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. 20 Prozent Gesundheitskosten könnten eingespart werden, haben Wissenschaftler*innen berechnet, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe: Wandergruppen, Gesprächskreise, Chorgesang. Die Situation in Deutschland ist nicht viel anders; auch bei uns leben 46 Prozent der 70- bis 85-Jährigen allein. Und 20 Prozent von ihnen geben an, in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben.1 »Ich habe in den ersten Wochen der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel schwerer und niederdrückender als vorher. Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder mir die Hand gibt. Die Kinderfamilien leben verstreut in Zürich, Berlin, Recklinghausen. Mit neuen Formen wie Facetime halten wir den sicht- und hörbaren Kontakt, aber es bleibt Ersatz«, schreibt Ilse G.

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Studie der Universität Frankfurt, 2019.

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Das Alleinsein ist aber nicht nur eine emotionale Herausforderung. Es geht auch um die alltägliche, soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Nur noch ein Viertel der erwachsenen Kinder lebt am gleichen Ort; ältere, kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten deshalb bei der Bewältigung des Alltags unter Druck, wenn es um praktische Hilfe beim Einkaufen, bei der Gartenarbeit oder beim Arztbesuch geht. »Die Hochbetagten, Dementen und Pflegebedürftigen sind von zunehmender Exklusion betroffen und brauchen Unterstützung, um auch weiterhin Teil der Gemeinde zu bleiben«, sagt auch Eckart Hammer.2 Während der Corona-Krise entstanden deshalb an vielen Orten Einkaufsdienste; besonders erfolgreich waren sie da, wo sich unterschiedliche Organisationen zusammengetan haben, um Ehrenamtliche und Hilfebedürftige anzusprechen wie beim Projekt »Dich schickt der Himmel« in Witzenhausen. Der Name zeigt: Es geht nicht nur um Lebensmittel oder Medikamente; auch der kurze Plausch an der Haustür kann lebensnotwendig sein.

Das Haus, das sich kümmert – Gemeinschaft ist unersetzbar »Im Alter bekommen die Körper eine andere Bedeutung – sie werden anfälliger und schwächer. Das heißt auch, dass der Ort, an dem sich der Körper befindet, und die Umstände an diesem Ort wichtiger werden. Weil es um Wohlergehen, Gesundheit, Versorgung und Betreuung geht. Wie werden die nachkommenden Generationen im Alter mit ihrer virtuellen Realität umgehen, wenn die physische wichtiger wird?«, fragt Lisa Frohn.3 Der selbstbewusste Umgang mit der neuen Technik wird es möglich machen, möglichst lange selbstbestimmt zu leben, meint Rolf Heinze.4 Tatsächlich können sich 83 Prozent von rund 1.000 Befragten vorstellen, einen ServiceRoboter zu nutzen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause leben könnten.5 Mehr als drei Viertel der Deutschen fürchten an einer Krankheit am meisten den Verlust der Selbständigkeit – noch vor Schmerz und Tod. Und ein

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Mitglied des Beirats »Alter neu gestalten« der Ev. Landeskirche in Württemberg. Frohn, 2015. Mitglied des Beirats beim 7. Altersbericht. Befragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, 2018.

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege

Zuhause ist »der einzige Ort, wo die eigenen Prioritäten unbeschränkt Geltung haben«, wie Atul Gawande schreibt.6 Zu Hause kann ich mich einrichten, wie ich will, aufstehen und zu Bett gehen, wann ich will, ein Haustier halten, den Tag im Trainingsanzug verbringen oder spät noch Freunde einladen. Und wenn die Mobilität eingeschränkt ist, können Smarthomes und elektronische Haushaltshilfen helfen. Der Magenta-Slogan bringt unsere Wünsche auf den Punkt: »Das Zuhause, das sich kümmert.« Aber letztlich, das wissen wir, kann ein Haus sich nicht kümmern. Mein Zuhause, das sind nicht nur die vier Wände; es sind auch die Menschen, die ich kenne, die mich kennen. Freundinnen, die nach mir sehen, wenn ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen bin. Nachbarn, die schauen, ob der Briefkasten geleert wird, die Rollladen hochgezogen sind. Tatsächlich engagieren sich immerhin 25 Prozent in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten, Arztbesuchen.7 Die kleinen, wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten8 , sie stärken das Gewebe der Gemeinschaft. Denn das Interesse, das dabei spürbar wird, gilt dem ganzen Menschen – nicht nur seiner Hilfebedürftigkeit. Es ist sogar entscheidend, dass wir das hohe Alter nicht automatisch mit Hilfebedürftigkeit und Betreuung verknüpfen. 80 Prozent der Hochaltrigen interessieren und engagieren sich gern für die nächste und übernächste Generation, sie hüten Kinder, stehen den Jüngeren mit Rat und Tat zur Seite oder beten für sie.9 So wichtig unsere Selbstbestimmung ist, so entscheidend ist auch, dass wir Menschen haben, denen wir vertrauen können, eine Gemeinschaft, in der wir uns geborgen wissen, einen Ort, wo wir dazu gehören. Jeder Mensch braucht die Gewissheit, sich in seinem Handeln und Sprechen »aus der Hand geben« zu können, wie die Philosophin Hannah Arendt sagt. Und wo die informellen Netze nicht mehr tragen, sind wir auf professionelle Dienste und vertrauenswürdige Einrichtungen angewiesen. Die ersten »Sorgenden Gemeinschaften« entstanden in den Mutterhäusern von Diakonie und Caritas, die Kranke und Sterbende aufnahmen, als in der industriellen Transformation die Familien vollkommen überlastet waren. Dabei entwickelte sich allerdings auch eine institutionelle Eigengesetzlichkeit, die wir bis heute in den

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Gawande, 2015. Simonson/Vogel/Tesch-Römer, 2017. Ebd. Hochaltrigen- Studie des Instituts für Gerontologie Heidelberg, Generali, 2013.

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Pflegeeinrichtungen kennen. Die Versorgung, die auch den Angehörigen Sicherheit bietet, erleben Betroffene zugleich als Verlust an Autonomie, Privatsphäre und Freiheit.

Sterbende nicht allein lassen – Überforderte Heime Noch immer gilt das Paradox, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zu Hause sterben will – während die meisten tatsächlich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sterben. Angesichts von Überforderung von Familien und Unterversorgung in der ambulanten Pflege wird das Sterben an Expert*innen delegiert; vom Haus ins Heim, vom Heim ins Krankenhaus. Der Tod ist der Enteignung durch Expert*innen zum Opfer gefallen – auch, weil wir froh sind, die Dilemmata abgeben zu können. Die Untersuchung »Sterben im Heim«10 zeigt, dass im Durchschnitt noch immer jede*r vierte Bewohner*in einer Langzeitpflegeeinrichtung im Krankenhaus stirbt. Zu den zentralen Gründen für diese Einweisungen gehören die professionelle Überforderung und strukturelle Überlastung der Pflegekräfte und die häufige Unterversorgung in der Nacht. Die Spannung zwischen Versorgungsstandards, Selbstbestimmung und Gemeinschaft führte im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 zu einer einschneidenden Vertrauenskrise. In Pflegeeinrichtungen sind Menschen gestorben, ohne ihre Angehörigen noch einmal zu sehen. Alte Menschen fühlten sich »wie im Knast«, Angehörige fühlten sich »ausgesperrt«, selbst gesetzliche Betreuer*innen konnten nicht mehr auf die Zimmer von Sterbenden kommen. Dabei ist noch nicht erforscht, wie hoch tatsächlich der Einfluss von Besuchern und Besucherinnen auf das Infektionsgeschehen war. Klar ist nur: Organisationen mit vielen Hochrisikopatienten und schlechten Schutzvorkehrungen sind gefährdet – zumal, wenn bei Materialmangel der Schutz der Mitarbeitenden, die in den Häusern ein- und ausgehen, nicht gewährleistet ist, wie es im Frühjahr 2020 noch der Fall war. Jedenfalls haben sich die Selbstbestimmung der Bewohner*innen und die Beteiligung der Angehörigen oft nicht durchhalten lassen.»Freiheitsbeschränkende Entscheidungen wurden ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen.«11 10 11

Universität Augsburg und IPP München, 2017. Positionspapier Care.Macht. Mehr zur Corona-Krise 2020.

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege

In dieser Zeit fehlten den Bewohnerinnen und Bewohnern die Kontakte auf dem Flur, im Speisesaal. Vertraute, die sonst regelmäßig kamen, blieben plötzlich aus. Mitarbeitende, die das Zimmer mit Schutzkleidung und Maske betraten, waren oft kaum zu erkennen. Hautkontakt war nicht möglich. Aber gerade Kranke und Sterbende sind immer wieder auf Berührung angewiesen. Pflegende wissen das besser als andere. Und dieses Wissen ist tief verankert in der christlichen Kultur. »Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben«, heißt es im Brief des Jakobus. Lasst die Kranken nicht allein, sprecht mit ihnen, wenn ihr sie schon nicht berühren könnt! Während der Pandemie gerieten deshalb nicht nur Pflegeeinrichtungen in die Kritik, sondern auch die Kirchen. »Ordnungspolitik, die totalitär wird, darf keine Option sein für einen demokratischen Staat. Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen«, äußerten sich im Oktober die evangelischen und katholischen Bischöfe in Niedersachsen selbstkritisch.12

End-of-life-care: Genau hinschauen In den letzten Jahren haben sich die stationären Altenhilfeeinrichtungen verändert: Mehr und mehr Menschen kommen tatsächlich nur noch für die Sterbephase ins Pflegeheim. Nicht nur in den Niederlanden oder in Spanien, auch in Deutschland gab es während der Pandemie Heime, in denen Ärzt*innen von sich aus entschieden, hier sei »nur noch« palliative Pflege angesagt – keine Intensivstation, keine Beatmungsgeräte, keine Hochleistungsmedizin. Dabei blieben aber alle Standards und Lernerfahrungen aus der hospizlichen Arbeit außen vor: Patientenverfügungen wurden zum Teil nicht befragt, der Kontakt zu Angehörigen kaum gesucht, Düfte oder Musik fehlten genauso wie Berührung und Seelsorge. Aber Langzeitpflegeeinrichtungen sind keine Hospize, auch wenn dort hospizliche Arbeit notwendig ist. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Verweildauer der Bewohnerinnen und Bewohner in Einrichtungen der Langzeitpflege noch immer bei 22 Monaten. Die Heime sind Orte des Lebens – mit aktivierender, sozialer Arbeit und mit palliativer Pflege und Begleitung. Es geht in einem umfassenden Sinne um eine erfüllte Lebenszeit, um »end-of-lifecare«. Entscheidend ist, die einzelnen Personen mit ihrer Lebensgeschichte 12

HAZ, 27.10.20.

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und ihrer gesundheitlichen Verfassung wahrzunehmen, mit ihren Angehörigen, ihren Werten und Wünschen und ihrer eigenen Lebenserwartung. Dazu braucht es immer wieder Gespräche mit Bewohnern und Bewohnerinnen, mit Zugehörigen und Menschen aus Gemeinde und Quartier, Zeit für BiografieArbeit genauso wie Achtsamkeit bei spontanen Tür- und Angelbegegnungen. Damit das gelingt, müssen die fachliche Sicherheit und Eigenständigkeit der Pflegenden, aber auch das Miteinander im Team gestärkt werden. Aus dem Gefühl, das eigene Berufsethos im Alltag zu verraten, muss ein gemeinsamer Kampf um die Werte werden, aus der individuellen Abwanderungsbewegung in der Pflege ein solidarisches Miteinander. Das braucht offene Gespräche und Reflexionsräume – Orte, wo Situationsdeutungen ausgetauscht, Tabus angesprochen und bearbeitet werden. Das Angebot von Ethikberatung in interdisziplinären Fallbesprechungen ist genauso wichtig wie regelmäßige Ethikbesprechungen im Team. Notwendig sind auch externe wie interne Fortbildungsprogramme für alle, die mit Bewohnerinnen und Bewohnern in Kontakt sind – Reinigungskräfte, Pflegende, Angehörige, Diakone und Pfarrer*innen und Ehrenamtliche aus Quartier und Kirchengemeinde. So wichtig die Netzwerke der Gemeinschaft im Pflegeheim sind, so notwendig ist die Öffnung ins Quartier. Das gilt es gerade nach den erschütternden Erfahrungen der COVID-19-Krise mit ihren Heimschließungen wieder neu zu entdecken. Auch digitale Ressourcen sind dringend erforderlich zur Vernetzung mit den Fachdiensten, den Angehörigen, der Kirchengemeinde. Hätte es solche elektronischen Netzwerke und vor allem die nötige Hardware in den Einrichtungen gegeben, wäre die Zeit des Shutdowns besser bewältigt worden. Eine Postkarte mit einem guten Wort wäre schon mal ein Anfang, dachte Monika Riedmeier. Sie hat seit März 1420 Postkarten an alte Menschen in ganz Deutschland geschrieben. »Es war die Zeit, in der man darüber nachgedacht hat, was im Leben wirklich wichtig ist«, sagt die 40-jährige, alleinlebende Frau, die sehr früh ihre Mutter verloren hat und weiß, wie es sich anfühlt, allein zu sein. Aber auch Konfirmandengruppen schrieben Karten für naheliegende Pflegeheime und schlugen so eine Brücke im Quartier. Vor allem Angehörige nahmen aber die Dinge selbst in die Hand. Sie machten Musik vor der Tür, zogen Körbe mit Obst an Seilen auf den Balkon, schickten Tablets und Kameras, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Manche Ehepartner zogen sogar selbst ins Pflegeheim. So viel Kreativität, so viel Bereitschaft, das Risiko zu teilen! Ich bewundere das – auch wenn ich überzeugt bin, dass die Verantwortlichen in den Heimen wie in den Gemeinden

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege

schon früher andere Lösungen hätten finden müssen. Mit Treffen in Parks und Besucherräumen, mit Tests und Tablets, vor allem aber immer mit Pflegebedürftigen und Angehörigen gemeinsam.

Gegen die Kolonisierung der Sorgearbeit Auch wenn Corona gezeigt hat, dass die Langzeitpflegeeinrichtungen am stärksten gefährdet waren, auch wenn viele Ältere Wohngemeinschaften, Genossenschaften oder Mehrgenerationenhäuser bevorzugen: Die Probleme wären nicht gelöst, wenn wir die stationären Pflegeeinrichtungen auflösen und Pflege und Versorgung so weit wie möglich ambulantisieren. Denn die Familien sind zerstreut, die erwachsenen Kinder und Schwiegerkinder erwerbstätig und oft hält nur die Kostensituation die Familien davon ab, die Mutter oder den Vater in ein Heim zu geben; schon 2020 waren 36 Prozent der Betroffenen und Angehörigen nicht mehr in der Lage, die Heimkosten selbst zu tragen. Seit Langem wird deswegen eine Deckelung der Pflegekosten durch eine steuerfinanzierte Umlage geplant. Dabei ist allerdings unstrittig, dass auch die Pflegesätze steigen werden, wenn eine angemessene Versorgung der häufig multimorbiden und demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohner gewährleistet werden und die Fachkräfte ein angemessenes Entgelt erhalten sollen. Genau deshalb wird seit vielen Jahren ein Kollaps des stationären Systems vorausgesagt.13 Die mehr als 300.000 osteuropäischen Haushaltshilfen, die zurzeit die Lücke in der Versorgung füllen, sind allerdings auf Dauer auch keine Lösung. Das war in der Corona-Krise öffentlich sichtbar, als die Grenzen zu Polen, Tschechien und Rumänien geschlossen waren und Pflegekräfte wie Spargelstecher vor verschlossenen Türen standen. Für kurze Zeit mussten Familien und Nachbarn einspringen, stationäre Einrichtungen zusätzliche Zimmer schaffen, hier und da blieben auch Mitarbeiter*innen länger als geplant bei den pflegebedürftigen Älteren, um das Schlimmste zu verhindern – und ließen die eigene Familie in Polen oder anderswo im Stich. Diese weiblichen Care-Ketten sind, wie die Armutsrenten vieler Frauen, die ein Leben lang Sorgearbeit in der Familie geleistet haben, ein sichtbares Zeichen mangelnder Geschlechtergerechtigkeit.

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Z.B. Berliner Bevölkerungsinstitut, 2011.

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»Prekarisierte Angebote in Pflege und Betreuung, wie etwa die häusliche 24-Stunden-Betreuung, müssen neu geregelt werden: Ausreichende Sozialversicherung, angemessene Entlohnung, fairer Zugang zu Sozialleistungen, kontrollierte Arbeitsbedingungen mit genügend Freizeit und Erholung, menschenwürdige Lebensbedingungen in den Haushalten sowie ein sicherer Aufenthaltsstatus sind vorzusehen […] Darüber hinaus braucht es gesamteuropäische Zugänge, damit nicht die Lösung von Problemen in einem Land durch migrantische Arbeitskräfte zu einer Verschärfung der Care-Krise in deren Herkunftsländern führt«, heißt es dazu im Positionspapier Care.Macht.Mehr. Kaum ein Bereich der Sozialdienstleistungen zeigt so deutlich, was geschieht, wenn Versorgungslücken durch ungeregelte Marktangebote geschlossen werden; hier dringt die Ökonomisierung bis in die Familien vor – gerade bei den Schwächsten. Und dabei zeigt sich: Care-Arbeit ist ein wachsender, europäischer Markt – mit Angeboten auf digitalen Plattformen. Deshalb braucht es eine neue, soziale Umverteilung mit Blick auf die unentgeltliche wie die bezahlte Care-Arbeit mit der Option für Männer wie Frauen, die Zeit der Erwerbsarbeit für Erziehungs- und Pflegearbeit sozial abgesichert zu unterbrechen. Dringend notwendig sind auch integrative Konzepte der Kommunen, aber auch des Bundes und der EU, um einen schützenden Rahmen für Pflegedienste zu schaffen, Quartierspflege abzusichern, sie mit (teil-)stationären Angeboten zu verknüpfen und die Stadtplanung insgesamt auf den demografischen Wandel, speziell auf Ältere auszurichten. Inzwischen haben verschiedene Städte wie Bielefeld und Stadtbezirke wie Hamburg-Altona Demografie-Konzepte entwickelt. Andere haben sich als »altersfreundliche« Städte auszeichnen lassen. Anfang 2020 erschien dazu bei der Hamburger Körber-Stiftung das Diskussionspapier »(Gem)einsame Stadt? Kommune gegen soziale Isolation im Alter«, das die Kommunen als Schlüsselakteure bei der Bekämpfung von Einsamkeit im Alter sieht. Zugleich entstehen regelrechte »Altersstädte« dort, wo die Mieten günstiger und die Landschaft besonders schön ist. Wo allerdings in schrumpfenden Regionen mit bezahlbaren Mieten der Anteil der Älteren besonders hoch ist, wächst zugleich der Bedarf an professionellen Dienstleistungen in Pflege und Hauswirtschaft. Gerade hier sind aber die wenigen stationären Einrichtungen oft weit entfernt vom Wohnort und ambulante Dienste unterversorgt. Es gilt also, schlüssige Konzepte gegen den Fachkräftemangel zu entwickeln und auch sonst rechtzeitig gegenzusteuern – mit günstigem Wohnen für

Im Corona-Spiegel: Alter, Quartier und Pflege

junge Familien, Schulen, Kindergärten und Quartierszentren, in denen die Generationen einander unterstützen.

Gemeinden als Schutzräume gegen Einsamkeit Was können wir in den Quartieren tun, um ältere Menschen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu stärken und einen tabufreien Umgang mit dem Thema Tod und Sterben zu ermöglichen? Pflegende Angehörige fühlen sich oft überlastet und überfordert; aber sie machen auch ganz neue Erfahrungen von Nähe und Energie. Um sich darauf einzulassen, brauchen sie Unterstützung – im Alltag wie in der Seelsorge. Wo sie sich während der Pflege in Gesprächsgruppen getragen wussten, fanden sie später oft den Weg in ein eigenes Engagement in Hospiz oder Krankenseelsorge.14 Genau das ist nötig: In den Nachbarschaften wie in den Pflegeeinrichtungen werden Menschen gebraucht, die aus eigener Erfahrung andere begleiten und Einsamkeit verringern – so wie es mit den Einkaufshilfen, Telefonketten und Quartierscafés begonnen hat. Wir wissen: Das tut beiden gut. Denn wer einem älteren Menschen zuhört, sich auf dessen Zeit und Zeitwahrnehmen einlässt, tut auch etwas für sein eigenes Leben. So wie umgekehrt jeder, der einem anderen das eigene Leben anvertraut, ihn beschenkt – mit anderen Zeiterfahrungen, ungeahnten Möglichkeiten, ehrlichen Aussagen über Scheitern und Abschiede. Kirchengemeinden, Quartiers- und Altenzentren können dafür sorgen, dass solche Erfahrungen Raum bekommen – in Erzählcafés, Geschichtswerkstätten, Gesprächsrunden. Gefragt sind Orte, an denen ältere Menschen nicht länger »Betreute« sind, sondern zum Subjekt werden und Resonanz erfahren. Wer keinen Platz im Leben der anderen mehr hat, wird sich schnell überflüssig fühlen. Das gilt es zu verhindern – nicht nur im Lockdown.

Literatur Frohn, Lisa: Ran ans Alter, Hamburg: tredition 2015. Gawande, Atul: Sterblich sein. Was am Ende wirklich zählt, Frankfurt a.M.: Fischer 2015. 14

Institut für Gerontologie Heidelberg, Studie zu pflegenden Angehörigen, 2017.

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Simonson, Julia/Vogel, Claudia/Tesch-Römer, Clemens (Hg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014, Wiesbaden: Springer VS 2017.

Caring church1 Einige Überlegungen zu Macht und Pastoral in kapitalistischen Zeiten Rainer Bucher Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus […] erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter –, deren er bedarf.2

Macht und Pastoral Wenn es kirchlicher Pastoral nicht nur, wie lange, um das »ewige Heil«, sondern tatsächlich um den Menschen überhaupt geht, um den »eine(n) und ganze(n) Mensch(en), mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen«, wie das II. Vatikanische Konzil nicht ohne Pathos schreibt (GS 3),

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Andreas Heller, geschätzter pastoraltheologischer Fachkollege seit langem, wechselte im März 2018 zusammen mit dem Soziologen Klaus Wegleitner und dem Philosophen Patrick Schuchter aufgrund der opaken Kontingenzen österreichischer Universitätspolitik von der Universität Klagenfurt an das von mir geleitete Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz; hier bildeten sie die rasch breit sichtbare Abteilung »Public Care«. Und es galt: Aus einem überraschenden Angebot wurde ein fachlich wie menschlich ungemein bereicherndes Geschenk. – Die vorliegenden Überlegungen greifen zurück auf: Bucher 2019; Bucher 2010. Zur Thematik siehe auch: Bucher 2020, insbesondere die Beiträge von Michael Schüßler, Herbert Beiglböck, Rainer Krockauer, Franziska Loretan-Saladin und Klaus Wegleitner zu »Caritas und Care-Arbeit«. Weber, 2016, S. 162.

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dann muss die katholische Kirche nichts weniger leisten, als eine spezifische dogmatische, genauer soteriologische Verschiebung3 zu revidieren, deren schwerwiegende pastorale Konsequenzen bis vor kurzem nachwirkten. Zurückgenommen werden muss, so Isidor Baumgartner, die »christologische Wende vom heilenden Jesus zum Heil schenkenden Christus«4 . Heilung, so Baumgartner, wurde »in einer unterschwellig monophysitischen Christologie5 in den Himmel verlegt und spiritualisiert. Die ReichGottes-Botschaft verliert« dabei »an Lebensnähe« und »wird Angelegenheit der Lehre und des Bekenntnisses.« Das konkrete Heilen und Befreien wanderten so »zunehmend aus einer am ewigen Heil und nicht am konkreten Heilen und Befreien interessierten Pastoral aus.« Dieser von einer »halbierten Christologie gestützten Marginalisierung heilend-befreiender Praxis« sei entgegenzuhalten: »Kirche vergegenwärtigt den ›fortlebenden Christus‹ nur dann in seiner Gesamtheit, ›wenn sie in real erlebbarer Diakonie zugleich den fortliebenden Christus verkörpert.‹«6 »Mit Blick auf das Wirken Jesu« sei neu zu lernen, »daß Gott nicht jenseits heilend-befreiender Praxis vorkommt, sondern in ihr.«7 Diese 1997 formulierten Sätze sind ohne Zweifel richtig und sie werden mittlerweile wohl auch kaum mehr bestritten. Es stellt sich aktuell aber die Frage, wo die Grenzen und Gefährdungen dieses Paradigmenwechsels liegen. Denn wo Monophysitismus lauert, lauert auch Arianismus8 , also der Verlust jener paradoxalen Spannung, jener konstitutiven Balance, die im christologischen (wie eigentlich in jedem) Dogma sprachlich formatiert ist. Wie auch beim pastoralen Monophysitismus geht es dabei nicht um häretische diskursive Praktiken, sondern um eventuell problematische nicht-diskursive Praktiken kirchlicher Pastoral, genauer ihre Heilungs- und Sorgepraktiken, und

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Soteriologie ist die Lehre von der »Rettung« der Menschen durch die Menschwerdung Christi (›soter‹ griech. »Retter«). (Anm. RG). Baumgarten, 1997, S. 239f. Vgl. jetzt als einen ersten Entwurf einer praktischen Soteriologie in nach-christentümlichen Kontexten: Loffeld, 2020. Die Monophysiten waren eine frühe christliche Gruppe, die lehrten, dass Christus nicht Mensch und Gott sei, sondern nur eine (mono) Natur (physis) habe. Der Monophysitismus wurde auf dem Konzil zu Chalcedon 451 verworfen. (Anm. RG). Baumgartner, 1997, S. 240. Baumgartner zitiert im letzten Satz: Fuchs, 1990, S. 86. Baumgartner, 1997, S. 240. Arius war ein frühchristlicher Theologe, der die Ansicht vertrat, dass Jesus Christus nicht Gott gewesen sei, weil eine solche Lehre dem Monotheismus widersprechen würde. (Anm. RG).

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um deren mögliche Gefährdungen im Kontext einer kapitalistischen Gesellschaft, die angetrieben durch Beschleunigungsimperative, Innovations- und Expansionsdrang alles und alle einem wettbewerbsorientierten, steigerungslogischen Optimierungszwang unterwirft und sich dabei, wie schon Max Weber gesehen hat, jene Subjekte schafft, die sie braucht. In diesen Überlegungen soll der Vermutung nachgegangen werden, dass es sich bei der konkreten Ausgestaltung der pastoralen Heilungs- und CarePraktiken der katholischen Kirche, seien sie wie früher unterschwellig monophysitisch ausgerichtet, seien sie, ebenso unterschwellig, arianisch orientiert, um eine Frage des Bezugs zu jenen Machtfeldern handelt, in denen kirchliche Pastoral real situiert ist. Denn diese Machtfelder sind es, die sich im Zuge der Entwicklung einer liberalen kapitalistischen Gesellschaft grundlegend neu ausgerichtet haben. Kirchliche Praktiken haben sich in ihren basalen Strukturen stets nur in Reaktion auf unabweisbare und unausweichbare politische, gesellschaftliche und kulturelle Kontextänderungen wirklich basal umformatiert. Solch eine geradezu disruptive Kontextveränderung hat sich aber mit dem Durchbruch des hoch entwickelten und kulturell hegemonialen Kapitalismus ereignet.

Disruption und Dekonstruktion Die Gesellschaften des entwickelten Westens stecken aktuell in einem tiefgreifenden sozialen, kulturellen, technologischen und ökonomischen Wandel. Die Pluralisierung der Lebensstile, die Digitalisierung, die Globalisierung und die Postindustrialisierung der Ökonomie schaffen eine Lage, in der die von uns in Gang gesetzten kulturellen und technologischen Entwicklungen hinter unserem Rücken eine Eigendynamik produzieren, die vor uns als Quelle unvorhergesehener, ja unvorhersehbarer Ereignisse wieder auftaucht. Disruptive Prozesse fügen dem Bisherigen nicht einfach etwas Neues hinzu, sondern bauen es grundlegend um. Meist sind diese Prozesse heute technologieinduziert: Internet, Smartphone, GPS, big data etc. verändern die geltenden Wissens-, Kommunikations-, Verkehrs- und Herrschaftssysteme, zuletzt gar die politischen Systeme und die Modi unseres täglichen Lebens. Teils geschieht dies wie intendiert, teils und wohl häufiger zeigen sich soziale Folgen, die bei Einführung der diversen Technologien überhaupt nicht absehbar waren: von den Migrationsströmen über die Finanzkrise bis zum chinesischen Sozialkreditsystem.

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Die Komplexität der gesellschaftlich-technologischen Entwicklungen im innovationsgetriebenen, expansiven globalen Kapitalismus übersteigt die Kapazitäten menschlicher Voraussicht, mag sie selbst noch so technologiegestützt sein. Die typisch moderne Illusion, die Zukunft wäre das Ergebnis unserer Planungen, erweist sich als das, was sie immer war: eine Illusion. Die Kontingenzerfahrung menschlicher Existenz, minimiert – zumindest in unseren Breiten – in vielen früher existentiell bedrohlichen Feldern, kehrt aus anderer Ecke machtvoll zurück. Getrieben wird diese Entwicklung von einem global hegemonialen Kapitalismus, dessen Expansions- und Steigerungsdynamik für ihn selbst konstitutiv, weil notwendig für seine Bestandserhaltung ist. Der global hegemoniale Kapitalismus ist jener neue Souverän, der niemanden fragt, vor dem sich aber alle rechtfertigen müssen. Darin hat er, vor allem in Europa,9 aber absehbar wohl auch anderswo, die Religion(en) abgelöst. Er arbeitet nicht mit Befehl und Gehorsam, wie noch weitgehend die Kirchen und ihr Souveränitätsnachfolger, der Staat, sondern mit der Steuerung der Gefühle und Sehnsüchte der Regierten. Er ist nicht repressiv, wie noch die totalitären politischen Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern invasiv und persuasiv, insofern er exakt dort operiert, wohin sich auch die Kirchen – dann als »Religionsinstitutionen«– gerettet hatten, als der moderne Staat ihnen als der neuzeitlich immer dominantere Souverän die äußere Macht nahm: auf jener Sehnsuchtsund Gefühlsebene, die man christlich Frömmigkeit nennt. Nur anders als diese, zielt das Sehnen der kapitalistischen Individuen nicht ins (nur zu »glaubende«) Transzendente, sondern auf real existierende Güter: Sind die religiösen Güter vollkommen, aber arg weit weg und manchmal auch ein wenig diffus, so sind die anderen natürlich endlich und daher unvollkommen, aber eben (für manche zumindest) tatsächlich erreichbar. Seit Walter Benjamins einschlägigem, 1921 geschriebenem, posthum publizierten Fragment gehört es denn auch zur Reflexionstradition des Kapitalismus, in ihm eine »Religion zu erblicken«, insofern er »essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen (dient), auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben«. So der berühmte erste Satz von Benjamins Essay.10 Funktional, um mit Jochen Hörisch zu sprechen, kann man den Kapitalismus sowieso als entessentialisierte Religion begreifen: Sein Geldverkehr etwa folgt keiner anderen als der christlich-sakramentalen Idee 9 10

Vgl. Casanova, 2009. Benjamin, 2003, S. 15.

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der Wandlung, und der monetäre Verwandlungszauber ist noch faszinierender als der eucharistische, da Geld, anders als die Hostie, sich in alles wandeln kann.11 Der Kapitalismus freilich operiert nicht nur mit sehr realen Sehnsuchtsgütern, er ist auch so klug, sich weder an das protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er bekanntlich mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der Religionen spielt und diese nutzt. Aber festlegen lässt er sich nicht, dazu ist er zu anti-essentialistisch. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen und vor allem: Sie sind nicht traditionsbehindert. Denn der Kapitalismus macht schließlich, was alle Souveräne ausmacht, er macht sich die anderen untertan, auch die Religion(en). Alle ihre Praktiken geraten ins Kraftfeld seiner Macht. Die Herrschaft des kulturell hegemonialen Kapitalismus lässt sie in eine Situation grundstürzender Dekonstruktion schlittern, eines außeninduzierten, mehr erlittenen als gestalteten Umbaus bei lange aufrechterhaltener Kontinuitätsfiktion und mit ungewissem Ausgang. Dekonstruktive Prozesse lösen ein starkes Stressgefühl aus und sind schwer auszuhalten: Chaotischer und fremdbestimmter als konstruktive Prozesse, zäher und selbstbestimmter als destruktive Prozesse sind sie zudem ergebnisoffener als beide, weiß man doch bei konstruktiven wie destruktiven Prozessen ziemlich genau, wie es (gut oder böse) ausgeht. Die innerkirchliche Diskussion neigt denn auch dazu, die dekonstruktive Lage illusionärkonstruktiv (»Wachstum gegen den Trend«) oder depressiv-destruktiv (»Es ist alles zu spät«, »Das Christentum geht unter« – hier gibt es eine progressive wie eine reaktionäre Variante) zu kompensieren. Religiöse Praktiken werden im Zuge der globalen Durchsetzung eines liberalen, kapitalistischen Gesellschaftssystems in die Freiheit des Einzelnen gegeben und folgen damit vielen anderen, ehemals der Entscheidungsfreiheit des Individuums entzogenen Praktiken, etwa der Orts-, Kleidungs-, Berufsoder Partnerwahl. An Stelle normativer Integration tritt damit situative, temporäre, erlebnis- und intensitätsorientierte Partizipation auch im religiösen Feld. Vor allem aber: Religiöse Praktiken geraten nicht nur unter den situativen Zustimmungsvorbehalt der Einzelnen, sie geraten mit jenen auch in das Feld des kulturell hegemonialen Kapitalismus. Damit gilt: Die Kirchen 11

Vgl. Hörisch, 2013.

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werden von ihrer Konsumentenseite her umformatiert, insofern die klassischen kirchlichen Produktionsbedingungen von Religion und Pastoral und deren Konsumbedingungen nicht mehr selbstverständlich zueinander passen, schon allein, weil sich die Institutionen der Religion nicht unter den Kategorien von Produktion und Konsum verstehen, aber genauso heute genutzt werden und zwar ganz unabhängig davon, wie sie sich dazu stellen. Religiöse Traditionen werden dabei im postmodernen Kapitalismus aus ihren eigenen Herkunftskontexten gelöst, um in abstrakt-mediale, grenzenlos vermarktbare und natürlich auch austauschbare Marken transformiert zu werden. Diese dekonstruktive Konstellation trifft gerade die katholische Kirche an einem zentralen Punkt ihrer neuzeitlichen Geschichte: ihrer institutionellen Lebensform, an die sie ja auch ihre kognitiven, rituellen und moralischen Traditionen außerordentlich eng gekoppelt hatte. Gestärkt werden in diesem Prozess weltweit die Ränder des religiösen Partizipationsspektrums, also völlige Religionsdistanz und religiöser Fundamentalismus, wie es zum Beispiel in den USA, aber nicht nur dort, zu beobachten ist. Lange wurde der bürgerliche (oder gar kommunistische) religionsneutrale bis kämpferisch-atheistische Staat als der große neuzeitliche Gegner der ihre Macht nach und nach verlierenden Kirchen identifiziert. Er war auch tatsächlich der erste große Gegner der Konfessionskirchen, zu dem diese sich seit Beginn der Neuzeit in Beziehung setzen mussten. Doch mittlerweile hat diesen Platz des herrschenden Souveräns, an dem sich alle ausrichten bzw. der alle auf sich ausrichtet, der kulturell hegemoniale Kapitalismus eingenommen. Darunter kann man fassen, was Ulrich Bröckling am Beispiel des »unternehmerischen Selbst«12 analysiert hat oder Eva Illouz »emotionalen Kapitalismus« nennt. »Der emotionale Kapitalismus«, so Illouz, »ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben […] der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft«.13 Was für die Liebe in Zeiten des Kapitalismus gilt, gilt auch für Glauben und Kirche in Zeiten des Kapitalismus: Sie werden von jenem geprägt, zutiefst 12 13

Bröckling, 2007. Illouz, 2008, S. 13. Siehe auch: Illouz, 2018.

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und zuinnerst. Denn die Priorität, die Macht, die Dominanz, liegt beim Kapitalismus: Er ist der Souverän der Gegenwart. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint nicht nur, dass die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme diffundieren und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen, was ohne jeden Zweifel vom Sport bis zur Universität der Fall ist.14 Es meint vielmehr, dass sich klassisch kapitalistische Prinzipien wie Wettbewerb, Verdinglichung, Quantifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize und intrinsische Motivationssteuerung, Optimierungs- und Effizienzkalküle, dass sich all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse tief in Schichten des Selbst einschreiben, in Schichten, die man so gerne davor geschützt gesehen hätte, die es aber nicht sind, will man kein unkorrumpierbares, dekontextualisiertes Selbst ganz im eigenen Inneren annehmen – das es aber nicht gibt. Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, insofern er sich der Sehnsüchte und Hoffnungen, Ängste und Nöte der Menschen bemächtigt. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprache, Bilder und Erfüllung, konkret und fassbar. Das menschenrechtliche Problem liegt dabei – theologisch gesprochen – in der Diffusion der dem Kapitalismus inhärenten Gnadenlosigkeit in immer mehr menschliche Existenzvollzüge. Diese Gnadenlosigkeit, schon im Ökonomischen fatal und zumindest auf globaler Ebene schwer zu bändigen, ist in diesen nicht-ökonomischen Existenzvollzügen verheerend. Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ersetzt nicht die alten Angsterzeuger und Angstbewältiger, Sehnsuchtsproduzenten und Sehnsuchtserfüller, aber er drängt sie ins zweite Glied oder noch weiter zurück. Die einschlägigen Untersuchungen zeigen: Unter der Herrschaft des Kapitalismus verschwindet Religion nicht, aber sie wird, zumindest in unseren Breiten, extrem relevanzgemindert.15 Und sie gerät ins Machtfeld des kulturell hegemonialen Kapitalismus – in allen ihren Praktiken.

14 15

Vgl. Bröckling, 2017; Bröckling/Krasmann/Lemke, 2000. Vgl. Müller/Pollack, 2008.

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Sorge und Widerstand Wie darauf in den eigenen pastoralen Praktiken reagieren, gerade im Feld von ›Heilung‹, ›Heil‹ und ›Sorge‹, jenem Feld, das im herrschenden »autologischen Dispositiv« des Religiösen als Organisation und Praxis von individueller Religion nach dem, durchaus nicht beliebigen und trivialen, individuellen biografischen Bedürfnis eine neue Relevanz und Sichtbarkeit bekommt? Denn wenn tatsächlich »drei Hauptsphären menschlicher Erfahrung« unsere Existenz bestimmen, näher hin »die Erfahrung des Körpers, der Kommunität« und »des Kosmos«16 , dann wird deutlich: Der Weg der kirchlichen Pastoralmacht17 führte offenkundig vom Kosmos zur Kommunität und gegenwärtig zum Körper – nicht freilich ohne eine spezifische und signifikante Umkehr. Während sich die kosmisch codierte Selbstverständlichkeit des Christentums in den religionsemanzipatorischen Paradigmenwechseln der Wissenschaften im 18. und frühen 19. Jahrhundert verflüchtigte und die soziale Codierung (zumindest für die katholische Kirche) in der Auflösung ihrer Sozialform als geschlossenes Milieu Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend brüchig und löchrig wurde, so blieb – und bleibt – der Kirche doch der Körper, die letzte der drei großen Erfahrungssphären menschlicher Existenz, als Ort der Darstellung der Bedeutsamkeit des von ihr tradierten Glaubens. Während vor Kurzem noch galt, dass sich im »Leben des institutionalisierten Christentums […] das Interesse am und der Zugriff auf den Körper im Wesentlichen auf zwei Bereiche [konzentriert]«, wie Regina Ammicht Quinn schreibt, »den der Moral und den der Liturgie«18 , und ersterer der Kontrolle, letzterer der »Einbindung des Körpers in den religiösen Akt«19 diente, so wird seit einiger Zeit ein Drittes gegeben: der direkte Zugriff des Christentums auf den Körper unter der Kategorie des (nunmehr primär irdischen) Heils, also der Heilung, der Sorge und des Beistands. Körper und Christentum arrangieren sich gegenwärtig gerade in den entwickelten und differenzierten, die Einzelnen zu einem anstrengenden und risikobehafteten Leben als »Kinder der Freiheit« (U. Beck) zwingenden Gesellschaften neu.

16 17 18 19

Ammicht Quinn, 1998, S. 46. Vgl. zu diesem Begriff: Foucault, 1987. Ammicht Quinn, 1999, S. 123. Ammicht Quinn, 1999, S. 124.

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So entsteht für kirchliche Praktiken der Sorge und der Heilung ein beachtlicher Markt. Denn die »neoliberale kapitalistische Welt«, so Klaus Wegleitner, »produziert ›Andere‹, die dem Idealtypus des spätmodernen, produktiven, vernunftbegabten, autonomen, sich ökonomisch behauptenden Menschen nicht gerecht werden und sich daher immer defizitär, abweichend, persönlich entwertet erfahren. Damit wird tendenziell eine gesellschaftliche Atmosphäre der Enttäuschung und des Misstrauens geschaffen, begleitet von einer Politik, die auf top-down-orientierte und kontrollierende Steuerung setzt. Eine prinzipielle Abwertungs- und Misstrauenskultur bietet keinen nährenden Boden für eine breit getragene Kultur der wechselseitigen Sorge.«20 Wie damit umgehen, dass kirchliche Pastoral, die sich nicht nur um das ewige Heil, sondern um konkrete Heilung sorgt, zwar ihr eigenes fatales Machtdispositiv hinter sich lässt, aber in die Gefahr geraten ist, allzu schnell in die Einflusszonen kapitalistischer Gesundheitsmärkte und den (Optimierungs-)Interessen von deren Akteur*innen und Kund*innen zu unterliegen? Denn einerseits gilt sicher, wie Michael Schüßler angesichts der aktuellen CoronaKrise paradigmatisch festhält, dass sich in »Gestalt von Caritaseinrichtungen, Pflegeheimen, Seelsorger*innen, gemeindlicher Hilfe für Risikogruppen« tatsächlich nichts weniger als »eine konkrete, aber religiös unaufdringliche Form des christlichen Gotteszeugnisses«21 ereignet. Eine »zu starke Konzentration auf traditionelle Sichtbarkeit von Kirche« entwerte »die flüchtigen ›CareEreignisse‹ von Begegnung und Bestärkung, von Gottes- und Nächstenliebe, von denen Menschen im Lockdown leben – und auf die es auch theologisch ankommt.«22 Die kapitalistische Kultur wäre dann einerseits der karge, weil kapitalistisch versteppte Boden für ein christliches Gotteszeugnis in Praktiken der Heilung und der Sorge, aber andererseits eben auch der Nährboden für solches Handeln, insofern seine Versteppung Heilungsbedarf generiert, dessen Stillen aber selbst wiederum der kapitalistischen Kontextualisierung und Logik nicht einfach entkommt.23

20 21 22 23

Wegleitner, 2020, S. 383. Schüßler, 16. November 2020. Ebd. Vgl. Bucher, 2019, S. 18-31.

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Der »postheroische Ansatz einer kommenden Caritas-Theologie«, so Michael Schüßler, lernt dabei »von jenen Innovationen, die sich situativ und regional aus Praxisverhältnissen heraus schon ereignen. Er versteht die christliche Glaubenstradition dabei zweitens weniger als normative Information, sondern ›im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrung‹ (Gaudium et spes 46) als abduktive(n) Transformation(sgenerator) für befreiend-solidarische Musterunterbrechungen.« Vor allem aber: Er »versteht das eigene Agieren von Caritasorten und -ebenen […] selbstreflexiv immer auch als gesellschaftspolitisches Handeln in der lokalen Zivilgesellschaft und in Relation mit globalen Abhängigkeiten.«24 Deshalb reiche es »für die Caritas nicht aus, sich auf einem verschärfenden Wohlfahrtsmarkt möglichst machtvoll und groß zu positionieren, um anschließend Gutes tun zu können. Theologie hat nicht die Aufgabe, diesen fast abgeschlossenen Umbau zu einer marktgerechten Caritas der Unternehmenskonsortien religiös auch noch zu rechtfertigen. Sie hat vielmehr die Horizonte des alternativ Möglichen offenzuhalten. Kirchliche Auftragsvergewisserung heißt hier nicht arbeitsrechtliche Gängelung, sondern theologisch reflektiertes Strategiedesign.«25 Was Schüßler hier für die kirchliche, institutionalisierte Caritas beschreibt, gilt auch für die diversen Institutionen der Sorge. Auch sie sollten »ihr institutionelles Gewicht für jene Transformation der Rahmenbedingungen in Richtung Gemeinwohl, solidarischer Sinnstiftung und ent-rivalisierter Muster einsetzen, die regional und projekthaft bereits stattfindet.«26 Das aber erfordere »einen Switch von der heroischen Utopie zur postheroischen Heterotopie.« Schüßler verweist dabei auf Kondratjew, bei dem es heißt: »Wir müssen nach Organisationen der Solidarität suchen, die eine eigene Produktionsstruktur besitzen. Es gibt sie. In ihnen können Menschen sich nicht nur verteidigen, sondern (ohne das System direkt anzugreifen) autonome Alternativen dagegensetzen. Nicht Utopie, sondern Heterotopie.«27 24 25 26 27

Schüßler, 2020, S. 298. Ebd., 298f. Ebd. Ebd.

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Kirchlichem Handeln im Bereich von Heilung und Sorge könnten dabei drei theologische regulative Prinzipien helfen. Nach ihren dogmatischen Ursprüngen kann man sie das ekklesiologische, das christologische und das gnadentheologische Prinzip nennen. Das ekklesiologische Prinzip besagt: Alle pastoralen Heilungs- und Sorgepraktiken sind darauf hin zu orientieren, dass es in ihnen wirklich um den selbstlosen Dienst der Kirche am Menschen geht und nicht, wie versteckt auch immer, um kirchliche Machtentfaltung an einem ihrer letzten verbliebenen Orte. Ein Indiz ist hier der Öffentlichkeitscharakter des Heilungshandelns, wie er etwa im evangelikal-pfingstlichen Bereich offensiv zelebriert wird.28 Wirklicher Beistand passiert diskret, zumindest ohne intendierten Werbe- und Show-Effekt, und ganz von den Bedürfnissen, Sorgen und Anliegen der Bedürftigen her. Das christologische Prinzip besagt: Alle pastoralen Heilungs- und Sorgepraktiken sind darauf hin zu orientieren, dass in ihnen nicht versteckt oder gar offen die Illusion genährt wird, es gäbe ein Leben vorbei an Leid, Kreuz und Tod und gerade die Religion wäre etwa noch das beste Hilfsmittel, dies zu erreichen. Der Auferstandene trug bekanntlich die Wundmale und all seine Reich-Gottes-Wunder haben ihn nicht vor Verzweiflung und Hinrichtung bewahrt. Tod und Leiden verschwinden nicht in der Gottesbegegnung, sie werden vielmehr gewandelt. Die christliche Tradition hat den Glauben zu (re-)präsentieren, dass Gott nicht erst im Sieg über das Leiden auf uns wartet, sondern bereits im Grab unserer Verzweiflung über das Leiden. Nicht weil er ihm ›Sinn‹ gibt, sondern weil er seine Sinnlosigkeit teilt. Christliche Seelsorge neigte früher ohne Zweifel dazu, dem Leiden allzu schnell Sinn zuzusprechen, an den Beteiligten vorbei und über sie hinweg. Geschieht das von außen und gar noch moralpädagogisch, sind solche Praktiken von Zynismus nicht mehr zu unterscheiden. Und eminent zynisch ist es, wenn Krankheit und Leiden gar als Strafe (Gottes) definiert werden. Aber es gibt auch den anderen Straßengraben: die Autorität der Leidenden zu missachten und nur in einem gesunden, integren Leben ein würdiges Leben zu sehen. Niemand soll leiden müssen, aber alle, die leiden, haben das Recht der unmittelbaren Solidarität, denn Jesus leidet in ihnen mit. Insofern ist etwa gerade die Hospizbewegung29 ein wichtiger und noch viel zu wenig im Gesamt des kirchlichen Handelns repräsentierter Faktor. 28 29

Vgl. dazu etwa: Werner, 2018, speziell: Schüßler, 2018. Heller et al., 2012.

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Das gnadentheologische Prinzip schließlich besagt: Alle pastoralen Heilungspraktiken sind darauf hin zu orientieren, dass in ihnen ohne Wenn und Aber klar bleibt, dass Gott es ist und nur er und in völliger Freiheit und aus seiner reinen Gnade und in völliger Unverfügbarkeit, der Hilfe und Beistand, Heil und Heilung schenkt. Niemand kann sich an Gottes Stelle setzen, nicht einmal Jesus konnte (und wollte) das in seinem Heilungshandeln. Alle unsere Heilungspraktiken, unser Beistand im Leiden stehen unter dem Gesetz des unendlich größeren Gottes, dessen Nähe und Beistand, dessen Hilfe und Rettung wir erbitten und erbeten und dessen Menschenliebe wir so gut es geht folgen können – mehr aber nicht. Gott will das Heil der Menschen und durchaus nicht erst bei ihm im sogenannten Jenseits unseres irdischen Lebens. Er steht Menschen bei, ob sie gesund sind oder krank, leiden oder fröhlich sind, sündig, was sie ja immer sind, oder heiligmäßig, was sie bekanntlich fast nie sind. Glauben wir Jesus, seinem Christus, dann ist er den Leidenden und Sündern, den Kranken und Gefangenen sogar ganz besonders nahe. Denn sie brauchen ihn besonders. Vor allem aber: Gott ist Menschen nahe, ob sie es spüren oder nicht, ob sie es glauben können oder nicht. Er ist die Rettung, weil er rettet, weit über das hinaus, was Menschen sich als Rettung und Heil überhaupt denken können. Gott will das Heil des Menschen und verlässt sie nicht im Unheil, selbst nicht im Unheil der Verzweiflung und des Unglaubens. Das ist schwer zu verstehen, aber ein Segen, es zu glauben.

Literatur Ammicht Quinn, Regina: »Rituale und Körperlichkeit«, in: Regina Ammicht Quinn/Stefanie Spendel (Hg.), Kraftfelder. Sakramente in der Lebenswirklichkeit von Frauen, Regensburg: Pustet 1998, S. 35-51. Ammicht Quinn, Regina: Körper – Religion- Sexualität, Mainz: MatthiasGrünewald-Verlag 1999. Baumgarten, Isidor: »Heilende Seeldorge – ein verkehrtes Leitwort?«, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 145 (1997), S. 238-244. Benjamin, Walter: »Kapitalismus als Religion«, in: Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos 2003, S. 15-18. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lehmke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.

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Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologe einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Bröckling, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017. Bucher, Rainer (Hg.): Pastoral im Kapitalismus, Würzburg: Echter Verlag 2020. Bucher, Rainer: »Pastorale Heilungspraktiken. Überlegungen zu ihrer Attraktivität und Prblematik«, in: Walter Schaupp/Hans-Walter Ruckenbauer (Hg.), Macht Religion gesund? Christliches Heilsangebot und WellnessKultur, Innsbruck, Wien: Tyrolia-Verlag 2010, S. 231-245. Bucher, Rainer: Christentum im Kapitalismus, Würzburg: Echter Verlag 2019. Casanova, José: Europas Angst vor der Religion, Berlin: Berlin Univ. Press 2009. Foucault, Michel: »Warum ich Macht untersuche? Die Frage des Subjekts«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 243-250. Fuchs, Ottmar: Heilen und Befreien. Der Dienst am Nächsten als Ernstfall von Kirche und Pastoral, Düsseldorf, Patmos-Verlag 1990. Heller, Andreas/Pleschberger, Sabine/Fink, Michaela/Gronemeyer, Reimer: Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland (The history oft he hospice movement in Germany), Ludwigsburg: der hospiz verlag 2012. Hörisch, Jochen: Man muss daran glauben. Die Theologie der Märkte, München: Fink 2013. Illouz, Eva (Hg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2018. Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Loffeld, Jan: Der nicht notwendige Gott. Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos inmitten seines säkularen Relevanzverlustes, Würzburg: Echter-Verlag 2020. Müller, Olaf/Pollack, Detlef: »Wie religiös ist Europa? Kirchlichkeit, Religiosität und Spiritualität«, in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh: Verlag Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 67-178. Schüßler, Michael: »Gott erleben und gerettet werden? Praktiken und Affektstrukturen des pentakostalen Christentums in europäisch-theologischer Perspektive«, in: Gunda Werner (Hg.), Gerettet durch Begeisterung. Re-

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form der katholischen Kirch durch pfingstlich-charismatische Religiosität?, Freiburg: Verlag Herder 2018, S. 215-262. Schüßler, Michael: »Postwachstum und Transformation. Theologie als Ressource einer heterotopen Caritas«, in: Rainer Bucher (Hg.), Pastoral im Kapitalismus, Würzburg: Echter-Verlag 2020, S. 287-307. Schüßler, Michael: »Was heißt in Corona: Erfahrungsbezug von Theologie?«, in: feinschwarz.net. 16. November 2020, https://www.feinschwarz.net/ was-heisst-in-corona-erfahrungsbezug-von-theologie/#more-28898 [Zugegriffen: 18.11.2020]. Weber, Max: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: ders., Max Weber. Schriften 1904-1920 (Hg. Von W. Schluchter), Tübingen: J.C.B. Mohr 2016. Wegleitner, Klaus: »Wider die Kommodifizierung der Sorge. Kritisches Potential der Caring Community-Bewegung?«, in: Rainer Bucher (Hg.), Pastoral im Kapitalismus, Würzburg: Echter Verlag 2020, S. 375-397. Werner, Gunda (Hg.): Gerettet durch Begeisterung. Reform der katholischen Kirch durch pfingstlich-charismatische Religiosität?, Freiburg: Verlag Herder 2018.

Men’s Caregiving1 Wen(n) Männer pflegen Paul M. Zulehner

Wachsender Pflegebedarf Dank der Verbesserung der Lebensbedingungen und nicht zuletzt dank erfolgreicher Medizin haben Menschen in modernen Gesellschaften Lebenszeit gewonnen. Frauen und (aufholend) auch Männer werden älter. Längere Lebenszeit schafft (nicht nur, aber vor allem) mit steigendem Alter auch längere Pflegezeit. Auch die Sterbenszeit verlängert sich, manchmal in fragwürdiger Weise durch eine Art ›surmedicalisation‹ des Sterbens.

Verhäuslichung der Pflege In modernen Kulturen gilt es als ein hohes Gut, in einem eigenen Daheim zu leben. Damit wird auch verbunden, gegebenenfalls (so lange es geht) daheim gepflegt zu werden und daheim zu sterben. Zwar bewirken eine Reihe von Faktoren eine Art ›Enthäuslichung des Sterbens‹ – und damit auch des Pflegens: wie die selbstverständlich gewordene Berufstätigkeit von Frauen, die Verkleinerung der ›familialen Lebenswelten‹, 1

Bei den folgenden Überlegungen wird bevorzugt der englische Begriff des Caregivings verwendet. Dieser entbindet zunächst von der nicht einfachen definitorischen Aufgabe, im »Pflegebereich« unterschiedliche Tätigkeiten säuberlich abzugrenzen: Pflege im engeren Sinn über die Sorge bis hin zur einfachen Anwesenheit rund um die Uhr. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Angehörige zunächst meist das Gesamtpaket übernehmen und sich nicht selten eben dadurch auch übernehmen. Der Begriff Care(giving) hat zudem den Vorteil, nicht nur die körperliche Dimension des Dienstes zu sehen, sondern auch dessen psychosoziale wie spirituelle Anteile. Schließlich handelt es sich um einen human positiv aufgeladenen Begriff: Care ist von seiner Wortwurzel her mit Liebe, Nächstenliebe, Sorgen und Umsorgen verwandt.

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der Verlust der praktischen Pflegekompetenz, der Einsatz kostenintensiver Medizin, die einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung verursachen. Gegen eine solche ›Enthäuslichung‹ des Pflegens und Sterbens, ist ein Trend zu deren (neuerlichen) ›Verhäuslichung‹ zu beobachten. Das ›Daheim‹ hat (wie auch der Begriff Heimat) gerade in einer Zeit der wachsenden Mobilität und Entnetzung eine hohe Humanqualität erhalten: »Nur eine Minderheit der Europäer präferiert stationäre Langzeitpflege«. Ein ähnliches Ergebnis zeitigte eine eigene Kompaktumfrage zum Pflegenotstand in Österreich aus dem Jahre 2006: Lediglich 6 % plädieren im Fall einer erforderlichen Pflege für ein Heim. Die Übrigen entscheiden sich für das ›Daheim‹: Dieser ist nicht primär ein räumlicher, sondern ein sozialer Begriff und meint »im Kreis jener Menschen, mit denen man das Leben verbracht hat«. Der Trend nach ›Verhäuslichung der Pflege‹ hat auch eine sozialpolitische Seite. Die Enthäuslichung (also die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen/sozialstaatlicher Mittel) ist kostenintensiv. Die gewonnenen Jahre sind zu einer der größten sozialstaatlichen Herausforderungen geworden. Die Finanzierbarkeit nicht nur der Alterssicherung, sondern auch des Gesundheitswesens und des Pflegebereichs, ist angesichts der erfreulichen Entwicklung der Lebenserwartung (und dies in Verbindung mit der sinkenden Kinderzahl – solange diese nicht durch Einwanderung abgefangen wird) unsicher geworden. Pflegen und Sterben daheim wird so nicht nur zu einer willkommenen Entlastung sozialstaatlicher Haushalte, sondern geradezu zu einem unabdingbaren Erfordernis. Moderne Gesellschaften sind sozialpolitisch ohne ›informelle Pflege‹ kaum finanzierbar.

Wer pflegt daheim? ›Pflege daheim‹ geht nur, wenn dafür genug informell Pflegende zur Verfügung stehen. Das trifft in erster Linie jene Menschen, die in den »familialen Lebenswelten« zusammenleben. Familiale Lebenswelten umfasst zunächst die traditionellen Familien, also Lebensorte »geprägt von Stabilität und Liebe«, zumeist aus einer Frau und einem Mann mit einem oder mehreren Kindern, aber eben auch mit Alten, Pflegebedürftigen und Kranken. Der ›Kern‹ solch einer ›familialen Lebenswelt‹ ist aber nicht in allen Fällen ein heterosexuelles Paar. Es gibt auch familiale Lebenswelten, deren Kern von

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einem gleichgeschlechtlichen Paar gebildet wird. Ob dort auch Kinder leben, ist gesellschaftspolitisch eine umkämpfte Frage; dass aber in deren Lebenskreis Ältere vorkommen, ist gewiss. Diese familialen Lebenswelten sind nicht an einen einzigen Ort, etwa eine Wohnung oder ein Haus gebunden. Zwischen den Generationen bilden sich im Nahraum Netzwerke, wo Menschen durchaus füreinander Verantwortung übernehmen, und dies auch im Fall der Pflege. Nähe und Distanz werden ausbalanciert. Es entstehen dadurch ›multilokale Mehrgenerationenfamilien‹ mit »Intimität auf Distanz« (Leopold Rosenmayr). Es gibt internationale Prognosen, dass die Anzahl verfügbarer ›informeller Pflegekräfte‹ in den nächsten Jahren rückläufig sein wird. Damit öffnet sich die Schere: •



Hier ein wachsender Pflegebedarf in Gesellschaften mit ›gewonnenen Jahren‹ und in Verbindung damit (aus menschlichen wie ökonomischen Gründen gegebener) wachsender Bedarf an informellen Pflegekräften, dort zugleich aber ein prognostizierter Rückgang just solcher Pflegekräfte in den familialen Lebenswelten.

Das eröffnet zwei Fragen: Worauf ist der vermutete Rückgang an informellen Pflegekräften zurückzuführen? Und im Gegenzug die Frage: Gibt es ein brachliegendes Pflegepotenzial in modernen Gesellschaften und wie kann dieses gehoben werden?

Pflege ist traditionell (eher) weiblich Das ›Lebensdienliche‹ ist bei Frauen besser aufgehoben als bei Männern. Das gilt am Beginn wie am Ende des Lebens, aber auch über die Lebenszeit hinweg. Frauen haben mehr mit (kranken) (Klein)Kindern zu tun, arbeiten mehr als Tagesmütter und in Kindergärten, stellen weit mehr Personal in der Krankenpflege als Männer, engagieren sich in der Hospizarbeit, und übernehmen – je nach Kultur verschieden – eben den Großteil der anfallenden Pflege ›daheim‹.

Berufstätigkeit von Frauen Damit Frauen diese traditionelle Kompetenz für das Lebensdienliche auch realisieren können, müssen sie freie Lebenszeit investieren können. Die dafür verfügbare Zeit ist aber unter den modernen Lebensaspirationen von Frau-

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en rückläufig. Frauen haben heute einen selbstverständlichen Zugang zu Bildung und Ausbildung. Darauf baut der Anspruch nach beruflicher Tätigkeit auf. Allein daraus folgt, dass Frauen in Zukunft schon aufgrund ihrer Berufstätigkeit wenige Zeit dafür haben. Dazu kommt, dass der Wunsch nach einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit bei Frauen, die in (zunehmend instabilen) Paarbeziehungen leben, auch noch durch das Streben nach ökonomischer Unabhängigkeit und dem damit verbundenen Freiheitsgewinn verstärkt wird. Kulturell ist dieser Wunsch von Frauen nach Erwerbsarbeit inzwischen auch weithin akzeptiert: auch von traditionellen Männern und in religiös geprägten Milieus, die in Fragen der Geschlechterrollenentwicklung sonst eher zurückhaltend sind. Die breite Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen (und auch von Müttern) hat auch damit zu tun, dass ein Familienhaushalt mit einem einzigen Einkommen allein kaum bestritten werden kann.

Dienstbereitschaft bei Frauen rückläufig Die Bereitschaft von Frauen, sich im informellen Pflegebereich zu engagieren, ist vorhersehbar rückläufig. Anhaltspunkte für einen solchen prognostizierbaren Rückgang weiblicher Engagement-Bereitschaft liefert die Deutsche Männerstudie 20082 , in der eine Kontrollgruppe von Frauen mitbefragt worden war. Das war die einschlägige Frage: Angenommen, bei Ihnen zuhause würde jemand pflegebedürftig. Wie weit wären Sie in einer solchen Situation bereit, Ihre berufliche Tätigkeit/Ihre berufliche Arbeit oder sonstigen Aktivitäten zu Gunsten der Pflege daheim zu verringern? Die berufliche Erwerbsarbeit aufzugeben bereit sind 47 % der (teil)traditionellen, aber nur 18 % der modernen Frauen. So sehr also sich Frauen dem Lebensdienlichen verbunden fühlen und sie damit für informelle Pflege grundsätzlich bereit sind: Ihr Anspruch auf Erwerbsarbeit steht zu dieser sozialen Grundhaltung in einer beträchtlichen Spannung. Dabei scheint bei immer mehr Frauen das berufliche Engagement vor dem Lebensdienlichen die Oberhand zu erhalten.

Veränderungen in den familialen Lebenswelten Dass dem gesellschaftlich verfügbaren Pflegepotenzial ein Schrumpfen prognostiziert wird, hat mit der Verringerung der Kinderzahl zu tun. Die geringere Zahl an Kindern ist darüber hinaus weniger bereit, sich (ehrenamtlich2

Volz, 2009. Auch: Zulehner/Steinmair-Pösel, 2014.

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informell) im pflegerischen Feld zu engagieren. Die jüngeren Generationen sehen eine geringere Verantwortlichkeit der Familien für die Betreuung alter Menschen. Der Anteil jener, die ihre berufliche Tätigkeit oder sonstige Aktivitäten nicht zu reduzieren bereit sind, ist bei den jüngeren höher als bei den älteren. Dass die Pflegemöglichkeiten ›daheim‹ abnehmen, hat auch mit der sinkenden Stabilität der familialen Lebenswelt zu tun. Wo diese Stabilität gegeben ist, wo also ein Mann und eine Frau (oder ein gleichgeschlechtliches Paar) es schaffen, in Frieden miteinander alt zu werden, dort ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass jemand bis ins hohe Alter ›daheim‹ leben und gegebenenfalls gepflegt, ja schließlich auch sterben kann. Die familialen Beziehungsnetze sind aber zum Teil instabil. Auf wen kann sich dann ein alt werdender und pflegebedürftiger Mensch einst verlassen, wenn die familialen Netzwerke brüchig geworden sein werden? Zumindest wird es für einen wachsenden Teil der kinder- und beziehungslosen Alten schwierig, ›daheim‹ zu leben, gepflegt zu werden und zu sterben.

Männer als bislang ungehobenes Care-Potenzial? Wie optimistisch oder pessimistisch auch immer diese auf uns zurasende Entwicklung eingeschätzt wird: Realistisch ist, dass für ein humanes Alt- und Gepflegt-Werden – und dies im Modus des ›Daheim‹, das für viele ein Teil der erhofften Lebens- und Pflegequalität ist – das derzeit schrumpfende informelle Pflegepotenzial nicht ausreichen wird. Es stellt sich die Frage nach zusätzlichen, brachliegenden informellen Humanressourcen. Und wie am Anfang des Lebens auf der Suche nach Betreuungspersonal für Neugeborene und kleine Kinder die Väter ins Blickfeld gerückt sind, so wächst heute gesellschaftlich die Hoffnung, dass (zumeist, aber nicht immer, im Schlussteil des Lebens) sich Männer für die informelle Pflege gewinnen lassen.

Die Fragestellungen In einer solchen Lage stellen sich einige gewichtige Fragen. Sie werden zunächst benannt und dann in diesem Beitrag, gestützt auf vorliegende Daten der Deutschen Männerstudie 2008 andiskutiert. Die Schlüsselfrage: Können Männer ein solches Potenzial für informelle Pflege sein? Mehrere Teilfragen tun sich von hier aus auf:

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Wie steht es um die Bereitschaft (berufstätiger) Männer, ihre Erwerbsarbeit zu reduzieren, um (angehörige) Personen eine Zeit lang zumindest zu pflegen? Welches sind die Motive, die gegen eine solche Bereitschaft heute wirkmächtig sind? Wie lassen sich solche Gegenmotive abbauen und förderliche Motive stärken (z.B. rentenrechtliche Anerkennung)? Steht dieses männliche Pflegepotenzial ganz allgemein zu Verfügung, oder nur für bestimmte Personengruppen? Oder etwas allgemeiner gefragt: Unter welchen Bedingungen sind Männer zum Caregiving bereit? Damit zusammenhängend: Ändert sich diese Bereitschaft im männlichen Lebensverlauf (vielleicht auch deshalb, weil sich die Bedingungen verändern)?

Eine Reihe von Fragen richten sich auf die Art der Pflege durch Männer: •



• •

Ist die Bereitschaft zum Caregiving bei Männern zeitlich (durch Berufsarbeit oder auch durch beanspruchte Freizeit) limitiert? Und wenn nicht ausreichend Zeit von der beruflichen Arbeit auf die Pflegearbeit umgebucht werden kann/will: Wie kann »Ersatz« für die nicht von den Männern geleistete Pflegezeit organisiert werden? Fühlen sich Männer für bestimmte Aufgaben besonders kompetent, für andere hingegen weniger: also für Pflegearbeit im engeren Sinn weniger, für Sorgearbeit aber eher? Welchen Support brauchen Männer, um bei den Tätigkeiten, für welche sie sich weniger kompetent fühlen, entlastet zu werden? Haben Männer Neigung und Fähigkeit, sich Entlastungen (zeitlicher und qualitativer Art) selbst zu organisieren? Gehört zum Support auch das Angebot von Schulungen, um die erforderte, aber anfangs nur ansatzhaft vorhandene Kompetenz zu stärken? Welche Rolle spielen Selbsthilfegruppen für Männer?

Männerzeit für Caregiving Nicht alle Männer sind resistent gegenüber einer Pflege daheim. Die sich das ganz und gar nicht vorstellen können, machen ein schwaches Drittel (29 %) aus. Sie gaben in der Deutschen Männerstudie 2008 an, dazu nicht bereit zu sein. 15 % würden ganz zu arbeiten aufhören. Die übrigen Männer (57 %)

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würden ein Teilzeitmodell wählen. 18 % würden auf 75 % reduzieren, 26 % auf 50 %, 13 % auf 30 %. Diese Bereitschaft hängt mit einer Reihe von Merkmalen zusammen. Einzelne Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildung überlagern einander. Solche Überlagerungen sind bei den folgenden Analysen herausgerechnet. Einen herausragenden Einfluss übt das Geschlecht aus. Frauen haben eine weitaus höhere Reduktionsbereitschaft als Männer. Im Vergleich zu den 29 % der Männer, die zu einer Reduktion nicht bereit sind, sind es unter den Frauen nur 14 %. 29 % der Frauen hingegen würde die Pflege daheim gänzlich der Erwerbsarbeit vorziehen. Unter den Männern sind es 15 %. Der zweitstärkste Einflussfaktor ist die Schulbildung. Die Tendenz lautet: je höher die Bildung, desto geringer die Reduktionsbereitschaft. Personen mit einfacher Volksschulbildung sind doppelt so häufig (33 %) bereit, die Erwerbsarbeit ganz zu unterbrechen als Akademiker (16 %). Umgekehrt: Gar nicht dazu bereit sind 13 % der Volksschulabgänger, dagegen 30 % der Akademiker. Bei höherer Schulbildung sind Männer allerdings eher bereit, die eigenen Söhne oder auch außerhalb der Familie Freunde zu pflegen. Es gibt auch religiöse Einflusskräfte. Religiöse Menschen haben zur Zeitreduktion eine andere Einstellung als Nichtreligiöse und überzeugte Atheisten. Die informelle Pflege ist bei den Religiösen besser aufgehoben als bei den Nichtreligiösen.

Gegenmotive für Caregiving Die Bereitschaft zur Pflege daheim (und damit zur Reduktion von Berufstätigkeit und anderen Tätigkeiten) wird von Gegenmotiven geschwächt. Hier vier wichtige ›gute Gründe‹: Außerhäusliche Einrichtungen, so 44 % der befragten Männer (34 % bei den Frauen), erfüllen die Aufgabe besser, als wenn diese von Angehörigen selbst daheim gemacht werden. Hier wird auf die hohe Professionalität institutionalisierter außerhäuslicher Pflege gesetzt. Zugleich wird eigene Inkompetenz sichtbar. Man(n) hat keine Erfahrung, fühlt sich überfordert. Das sind Gefühle, wie Studien belegen, die verbreitet sind – etwa bei Männern, sobald diese in Pension gehen. Ein zweites Gegenmotiv ist für 44 % der befragten Männer (Frauen 20 %), dass sie das höhere Einkommen erhalten und deshalb ihren Beruf nicht aufgeben können. Dies ist wohl auch deshalb ein naheliegendes Männerargu-

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ment, weil Frauen immer noch bei gleicher Arbeit im Schnitt weniger bezahlt bekommen und Frauen (auch wegen der Kinder) mehr teilzeitig arbeiten. Ins Positive gewendet: Hat ein Familienhaushalt zwei Einkommen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch Männer Pflege übernehmen: 32 % der Männer (Frauen 17 %) haben auch mehr Angst, durch eine Arbeitsunterbrechung ihre berufliche Karriere zu gefährden. Und schließlich sieht ein Drittel der befragten Männer (31 %) Pflege nicht als ihre (männliche) Aufgabe an (Frauen 15 %). Das Bild von der eigenen Männlichkeit steht hier pflegerischen Tätigkeiten im Weg. Addiert man die Werte, zeigt sich, dass Männer fast doppelt so viele Gegengründe (Summe 151 Prozentpunkte) haben, ihre Berufstätigkeit zu Gunsten von Pflege daheim zu reduzieren als Frauen (87 Punkte). Die geringere Bereitschaft, Berufstätigkeit zu Gunsten von Caregiving zu verringern, ist also bei Männern mit einer Reihe von guten Gründen abgestützt. Kann daraus gefolgert werden, dass die Schwächung der Gegengründe die Reduktionsbereitschaft erhöhen könnte? Diese vier Gegengründe treten in unterschiedlichen Konstellationen auf. Vier Varianten werden clusteranalytisch herausgearbeitet. Bei einer ersten Gruppe spricht alles gegen eine Reduktion der beruflichen Arbeit zu Gunsten der Pflege daheim (19 %). Die Mittelwerte liegen bei allen vier Gegenmotiven um 2 = trifft zu: das Einkommen ist zu niedrig, die Karriere gefährdet, die außerhäuslichen Einrichtungen sind besser – und es ist schließlich auch nicht Aufgabe der Befragten. Bei einer zweiten Gruppe dominiert das Einkommensmotiv, also die Sorge um das Ausreichen des Familieneinkommens (30 %). Eine dritte Gruppe argumentiert vor allem mit der Professionalität der Einrichtungen und verbindet damit eine Unzuständigkeit (21 %). Die vierte Gruppe schließlich hat starke Motive, Zeit für Pflege daheim zu ermöglichen: alles spricht dafür (32 %). Wer also das gesellschaftliche Potenzial der Männer in der Pflege heben will, braucht nicht nur einen Abbau der Angst, dass das familiale Einkommen nicht reicht. Genauso wichtig wie diese sozialpolitische Maßnahme ist die männer-entwicklerische Anstrengung, Männlichkeit kulturell umzudefinieren.

Men’s Caregiving

Wen(n) Männer pflegen Männer sind nicht grundsätzlich resistent gegen die Übernahme von Pflege daheim. Wenn aber Männer pflegen, dann anders als Frauen. Das sind wichtige Aspekte, wenn und wen Männer pflegen.

Pflege ist für Männer eine freiwillige Leistung Der Zugang zu pflegerischen Tätigkeiten verläuft bei Männern anders als bei Frauen. Im Unterschied zu Frauen, die Pflege als eine Art innerer moralischer Verpflichtung in sich tragen, sehen Männer darin eher eine – zu ihrem Selbstbild nicht zwingend dazugehörige – »freiwillige Leistung«.

Männer pflegen im familialen Personenkreis Dieses Gefühl der ›Freiwilligkeit‹ ist auf besondere Motivationen angewiesen. Unter den vielfältigen Motivationen ragt jenes der liebenden Verbundenheit mit Angehörigen im familialen Lebensraum heraus. Daher sind Männer vor allem zur Pflege ihrer Lebenspartnerin bereit. Männer pflegen primär Personen im »eigenen Haus«, im familialen Lebensraum. Dies betrifft in erster Linie ihre Lebenspartnerin, bzw. (darüber gleich mehr) ihren Lebenspartner, Söhne ihre Eltern – wenn keine Schwestern da sind. Der Hauptgrund für die bevorzugte Pflege der Lebenspartnerin durch Männer ist Dankbarkeit. Die Bereitschaft von Männern, in der dritten Lebensphase ihre Partnerin zu pflegen, führt auch dazu, dass sich in diesem Lebensabschnitt die Balance zwischen den Geschlechtern ausgleicht. Diese aus liebender Verbundenheit entspringende ›freiwillige‹ Pflege der Lebenspartnerin erklärt zudem zu einem Gutteil mit, dass im Verlauf des Männerlebens der Anteil der Männer, die daheim pflegen, zunimmt. Allerdings pflegen Jüngere seltener und tun sich auch schwerer. Das Prinzip, dass Männer sich vor allem in der Pflege (langjähriger) Lebenspartner engagieren, trifft insbesondere bei den homosexuellen Männern zu. Dabei bleiben einerseits die homosexuellen Männer durchaus bereit, notfalls auch in ihrer biologischen Herkunftsfamilie zu pflegen, etwa ihre pflegebedürftigen Eltern. Umgekehrt sind es Angehörige der biologischen Familie, die Homosexuelle zu pflegen bereit sind. Ältere Homosexuelle werden nicht selten von der eigenen Familie gepflegt.

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Zunächst aber scheint es eher der Fall zu sein, dass im Fall der Pflegebedürftigkeit eines Homosexuellen neben dem Lebenspartner auch das Freundesnetzwerk einspringt.

Männerspezifische Pflege Männern wird in unserer Kultur stereotyp nachgesagt, dass Neigung und Fähigkeit zur Pflege bei Männern nur schwach ausgebildet seien. Diese Aussage gilt es zu differenzieren. Tatsächlich ist die Art und Weise, wie Männer pflegen, »männlich« geformt. Wenn Männer pflegen, dann umfasst ihre pflegerische Tätigkeit nicht immer das erforderliche, breite Set von Tätigkeiten. Vielmehr neigen Männer dazu, nur bestimmte Tätigkeiten zu übernehmen. Sie sind so etwas wie Auswahlpfleger. Eine erste Art von Männern, im häuslichen Pflegebereich präsent zu sein, ist eine indirekte. Sie fußt auf dem Bemühen, die hauptpflegende Person, nämlich die (Ehe-)Frau, zu entlasten. Männer nehmen dann der Partnerin Haushaltsarbeiten ab, damit sie mehr Zeit für die Pflege selbst hat. Sodann machen Männer mehr Sorgearbeit denn im engeren Sinn des Wortes Pflegearbeit. Männer meiden zumeist auch intime Pflegeleistungen. Beobachtet wird auch, dass je schwerer die Pflegefälle sind, desto wahrscheinlicher wird dann die Pflegearbeit von Frauen und nicht von Männern gemacht. Wenn Männer pflegen, dann tun sie das in einer eigenen männlichen Weise. Dies ist eine treffliche Variation der Annahme, dass sich Männer und Frauen nicht durch menschliche Eigenschaften und Tätigkeiten unterschieden (Männer wie Frauen denken, fühlen – und pflegen eben): aber sie tun es jeweils mit einer eigenen Färbung, in einer geschlechtsspezifischen Art und Weise. Männer pflegen also anders als Frauen. Dies zu wissen, ist für das Gewinnen von Männern, das Heben ihrer Pflegebereitschaft sowie die Schaffung geeigneter struktureller Voraussetzung wichtiger als die Klage über die (weithin gar nicht vorhandene) Unwilligkeit von Männern, sich in der Pflege zu engagieren. Männer wählen einen pragmatischen, problemlösungsorientierten Zugang zur Pflegearbeit. Dabei kann es durchaus sein, dass Männer Tätigkeiten delegieren. Arbeitsintensive wie unangenehme (intime) Arbeiten werden Frauen überlassen. Damit, dass Männer der intimen Pflege bei Frauen eher

Men’s Caregiving

ausweichen, kann zusammenhängen, dass Männer von den eigenen Kindern eher die Söhne und Frauen mehr die Töchter pflegen. Männer suchen zudem Abhilfe gegen soziale Isolation, die durch die Pflege verursacht werden kann. Männer haben – anders als Frauen – wenig Zugang zu informeller Hilfe. Aber sie sind es auch selbst, die sich Hilfe organisieren. Sie suchen vor allem im Stillen emotionalen Support, und das primär in Workshops. Direkter Support gilt vielen Männern eher als unehrenhaft. Männer werden von zu Pflegenden weniger beansprucht als Frauen. Dabei verursacht die Pflege bei Männern (wegen deren Art zu pflegen) weniger gesundheitliche Probleme als bei Frauen. Sie können sich auch im Gegensatz zu Frauen leichter vom Dauerpflegestress frei machen. Auch halten sie sich emotional weithin heraus und versuchen eine sachlich-nüchterne Pflegeorganisation. Dieser vielen Männern eigene Pflegestil hat zur Folge, dass es Männern bei der Pflege meist besser geht als Frauen. Das führt insgesamt dazu, dass Männer aus (ihrer Art der) Pflege bei aller Belastung auch psychischen Gewinn schöpfen.

Pflege bringt menschlichen Zugewinn Wenn über Pflege Anderer in der familialen Lebenswelt die Rede ist, dominieren eher dunkle Begriffe und Überlegungen wie Stress, Verzicht, Belastung, Überforderung, Burnout. Das Pflegeengagement hat aber auch eine andere, eine lichte Seite. Sie ist ein Teil des Königswegs der menschlichen Reifung, der Menschwerdung. Der Logotherapeut Viktor Frankl berichtete, er habe das Konzentrationslager in Auschwitz nur überlebt, weil er für jemand und für etwas gelebt habe. Solidarischer Einsatz für Andere trägt diese sinnkonstituierende Kraft in sich.3

Literatur Volz, Rainer/Zulehner, Paul M.: Zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland. Ein Forschungsprojekt der Gemeinschaft der Katholischen Män3

Eine Langfassung mit Abbildungen, Tabellen und internationaler Literatur findet sich auf https://info.zulehner.org/site/umfragen/maenner/article/56.html.

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ner Deutschlands und der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland, Baden-Baden: Nomos 2009. Zulehner, Paul M./Steinmair-Pösel, Petra: Gleichstellung in der Sackgasse, Wien, Graz: Styria Premium 2014.

Caring Community – Zwischen Selbstsorge und Weltsorge Was lehrt uns die Tragödie der Geflüchteten auf Lesbos? Thomas Klie

»Mitbewohner sollen wir des Lands hier sein und frei Geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen; Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns Wegführen; sollt es sein, dass man uns Gewalt gebraucht, Soll der nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier, Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluss verbannt. So war das Wort, das, überzeugend, sprach für uns Pelagias Fürst, vor Zeus’, des Flüchtlingsschützers, Zorn, Dem schweren, warnt‹ er, den in Zukunft nie die Stadt Großmästen dürfe; wider Gast noch Landeskind«1 Die Rückgewinnung der Sorge um den Anderen, des Ringens um Bedingungen guten Lebens für alle Bürger*innen – auch im politischen Sinne: Dafür steht der Begriff der Caring Community, wenn er denn nicht reduziert wird auf die Sorge unserer kleinen, selektierten, wohl abgeschlossenen Lebenskreise und Gemeinschaften.2 In vielen Orten weltweit, aber auch und in besonderer Weise im deutschsprachigen Bereich, wird mit dem Leitbild der Caring Community, der sorgenden Gemeinschaften gearbeitet, werden Erfahrungen gesammelt, Projekte initiiert, Sorgedialoge geführt, nicht gedeckte und entdeckte Bereiche der Sorge freigelegt und demokratischen Aushandlungspro-

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Aischylos, 2011, Vers 609 – 618. Klie, 2020a.

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zessen insbesondere vor Ort rücküberantwortet.3 Nicht die Sorge als Dienstleistung eines kommerzialisierten Gesundheits- und Pflegewesens, nicht Sorge als Fürsorge im Sinne staatlich bürokratischer Sozialleistungen, vielmehr die subsidiäre Verankerung der Verantwortung für Bedingungen guten Lebens vor Ort, in den kleinen Lebenskreisen, in den Gemeinden, auf kommunaler Ebene und Regionen: Dafür steht das Leitbild der Caring Community, das allerdings inflationär benutzt wird und daher in seinen Werthaltungen und seiner politischen Ausrichtung einer klaren Konturierung bedarf. Besteht doch die große Gefahr, dass sich sorgende Gemeinschaften im Sinne des »Bondings«4 auf exklusive, nach innen gerichtete und das Fremde und die Anderen abwehrende Gemeinschaften bezieht. Eine gerade in CoronaZeiten gefragte Haltung der Solidarität und der Empathie steht anthropologisch und philosophisch hinter der Caring Community. So wie es Camus formulierte: Die Sorge um den Anderen ist eine zentrale Dimension unser Existenz.5 Nach Hannah Arendt entfaltet sich das individuelle Lebensglück nicht im Selbstbezug, sondern immer im Bezug zum öffentlichen Raum: Dafür steht der Begriff der Mitverantwortlichkeit.6 In den Werkstätten der Caring Community, ob nun aus den Gemeinden heraus entwickelt, von außen angestoßen und begleitet, von Wohlfahrtsverbänden zum Programm erklärt oder von den Kirchen (wieder-)entdeckt, wird die Caring Community in ihrer Sorgehaltung breit aufgestellt: Von der Sorge um die Bedingungen für Kinder, um auf Pflege angewiesene Menschen und Sterbenden, um Geflüchtete, um Vulnerable, um die Lebensgrundlagen für künftige Generationen und das Ringen um Demokratie als Lebensform. Die Caring Communities stehen für das säkulare Versprechen: »Für Euch und für uns wird gesorgt sein.« Und Caring Communities stehen für die Skepsis an und für die Kritik gegenüber den Folgen eines globalen Kapitalismus, der bis in die letzten Lebensbereiche und lebensweltlichen Bezüge hineinwirkt. »Da stehen Räume zum Bewohnen euch bereit Mit vielen andern; doch wenn es euch lieber ist Gibt’s auch in Einzelwohnung Unterkunft für euch. Hiervon das Beste, eurem Sinn Erwünschteste

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Siehe Beiträge in diesem Band. Putnam, 2001. Camus, 2000. Arendt, 2013.

Caring Community – Zwischen Selbstsorge und Weltsorge

Ist da! – Ihr könnt euch wählen. Schirmherr bin ich selbst Und alle Bürger, deren Stimme den Beschluss Gefasst. Wie? Wartest du auf bessre Bürgen noch?«7 In der Hochzeit der Flüchtlingsströme im Jahr 2015 und 2016 haben sich viele Gemeinden, viele Städte und Quartiere als Caring Communities auch und gerade gegenüber Geflüchteten bewährt. Das Engagement der Bürger*innen, selbstorganisiert und selbstinitiativ, war beeindruckend. Bis heute wirken die damals entwickelten Sorgestrukturen fort und beziehen sich, dort wo sie gepflegt werden konnten und nicht durch eine zynische Einwanderungspolitik einerseits und zu hohe Erwartungen von den und an die Bürger*innen andererseits, irritiert und zerstört wurden. Von den knapp 600.000 Geflüchteten, die im Jahre 2015 auf die Insel Lesbos flüchteten, kamen auch viele nach Deutschland. Aus dem »Wir schaffen das!« ist inzwischen ein »Haltet sie ab!« geworden: So das migrationspolitische Signal der europäischen Staaten. Die Insel Lesbos, zum Symbol für die Flüchtlingsdramen 2015 avanciert, hat ihrerseits Qualitäten einer sorgenden Insel an den Tag gelegt. Die Geflüchteten wurden ganz überwiegend freundlich und mit der Tradition der Gastfreundschaft der Inselbewohner*innen willkommen geheißen.8 Die Biografien der Inselbewohner*innen beförderten diese Gastfreundschaften und die sorgende Haltung der Inselbevölkerung. Die kleinasiatische Katastrophe 1922 hat dazu geführt, dass die Bevölkerung Kleinasiens und der westägäischen Inseln wie ausgetauscht wurde. Die meisten Inselbewohner*innen kennen aus ihrer Familiengeschichte die Erfahrung von Flucht und Vertreibung und Neuanfängen.9 Sie zeigten sich hospizlich, lebten in beeindruckender Weise eine engagierte Gastfreundschaft und haben überwiegend bis heute eine gelassene Haltung gegenüber den vielen Geflüchteten, die auf der Insel leben, entwickelt. Auch die Bürgermeister und Kommunalpolitiker auf der Insel Lesbos haben sich überwiegend für gelebte Gastfreundschaft, für einen menschenfreundlichen Umgang, für würdeverträgliche Verhältnisse eingesetzt. Selbstverständlich gab es auch auf der Insel Lesbos harte politische Auseinandersetzungen zwischen rechts und links, zwischen denen, die sich durch die Geflüchteten überfordert, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht und vernichtet sahen und denjenigen, die europäische Solidarität ein-

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Aischylos, 2011, Vers 958. Klie, 2020b. Lesenswert: Sotiriu, 1994.

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forderten und sich weiter für humane Bedingungen vor Ort einsetzen. Auf Lesbos begegneten sich AfD Aktivitist*innen und ein breites Spektrum von NGOs – links bis evangelikal. Innerhalb des inzwischen abgebrannten Lagers Moria gab es, nicht zuletzt mithilfe zahlreicher NGOs aus Europa, so etwas wie sorgende Gemeinschaften im Kleinen. Von selbstorganisierter Kinderbetreuung, bis zur Versorgung Kranker, im Austausch von Nahrungsmitteln, der Gestaltung von dem eintönigen Alltag und dem Umgang mit den knappen Ressourcen. Um Existenz- und Subsistenzsicherung ging und geht es. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zur Selbstsorge, wurde durch die strukturellen Rahmenbedingungen, die politischen Vorgaben in dramatischer und menschenverachtender Weise eingeschränkt. Nicht einmal die elementare Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit menschenwürdigen Hygienebedingungen im Lager, das für zweieinhalbtausend ausgerichtet und von zeitweise über 21.000 Menschen bewohnt war, wurden gewährleistet. Auch wenn die Geflüchteten Geld erhielten, sie waren und sind in ihrer Existenz bedroht und alltäglich von außen aber auch von innen Demütigungserfahrungen ausgesetzt. Mafiöse Strukturen, Korruption, Gewalt, Prostitution, Schutzgelder: Das hat das Leben in Moria genauso geprägt wie Formen der Solidarität und der Empathie. Das In-Brand-setzen des Flüchtlingslagers Moria lässt sich (auch) lesen als verzweifelter Versuch, aus dieser menschen- und lebenszerstörenden In-Geiselnahme auszubrechen. Es erinnert an Hannah Arendts Essay »Wir Flüchtlinge«10 , in dem sie auf ihre Erfahrungen aus dem Lager Gurs zurückgreift und von dem kollektiven Protest und Lebensmut berichtet. Inzwischen sitzen die Geflüchteten, die nicht zu den wenigen mit einer Ausreiseperspektive gehörten, in dem neuen Lager Kara Tepe, kaserniert, um ihre letzten Freiheiten gebracht, kontrolliert und noch dramatischer dem alltäglichen Überlebenskampf ausgeliefert.11 Die NGOs haben kaum Zugang und werden zum Teil kriminalisiert. Eine schnelle Lösung soll es nicht geben, da die Attraktivität des Fluchtweges über die ostägäischen Inseln nicht erhöht werden soll. Wir wissen darum: Die Fluchtgründe liegen ganz wesentlich in den Folgen des globalen Kapitalismus, der Auflösung von nationalstaatlichen Strukturen und im Klimawandel. Wenn sich die Lebensbedingungen im südlichen Afrika

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Arendt, 2016. Deutschlandfunk Kultur (12.11.2020): Interview. Flüchtlingslager auf Lesbos. Die Situation hat sich verschlimmert. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.d e/fluechtlingslager-auf-lesbos-die-situation-hat-sich.1008.de.html?dram:article_id=48 7418 [Abruf vom 17.11.20].

Caring Community – Zwischen Selbstsorge und Weltsorge

nicht deutlich verbessern, wie es etwa in dem Projekt der Afrikanischen Union »The Great Green Wall« gefordert und symbolisiert wird, wird der Flüchtlingsstrom niemals abrechen. Mit Millionen schwarzafrikanischen Flüchtlingen wird zu rechnen sein. Wir werden es in den nächsten Jahrzehnten mit einer drastischen Ressourcenknappheit mit elementaren Gütern wie Wasser und Nahrungsmitteln zu tun bekommen. Werden die weiterhin nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit der Bürger*innen verteilt, wird es niemals zu einer gerechten Verteilung dieser knappen Güter kommen. Der Klimawandel führt uns die Notwendigkeit drastischer Einschränkung des individuellen Ressourcenverbrauchs vor Augen, den wir unfreiwillig unter den Bedingungen der Corona-Pandemie eingeübt haben – ohne wirkliche Ideen, wie ein Wirtschaftssystem aussehen könnte, das Prosperität im Sinne von Sicherung der Lebensgrundlagen auch in wirtschaftlicher Hinsicht weiterhin verspricht. In einer globalen Perspektive wird die Schwächung nationalstaatlicher Gebilde zugunsten überstaatlicher Organisationen – in den letzten Jahren von der Trump Regierung dramatisch geschwächt – notwendig. Die politischen Dynamiken weltweit zeigen, dass wahrscheinlich nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Szenarien die Rückbesinnung auf nationalstaatliche Egoismen fröhliche Urstätt feiert. Die Einschränkung von Freiheitsrechten und die Akzeptanz von Entscheidungen supranationaler Organisationen findet keinerlei Resonanz und Widerhall in der Bevölkerung. Und so bleibt es bei dem Drama um die Geflüchteten auf Lesbos. Wir wollen nicht, dass sie kommen, wir wollen nicht, dass sie sterben – was wollen wir? Wir opfern weiter Leben für unsere Freiheit. Und Lesbos steht auch und gerade mit den demütigenden Bedingungen, denen sie auf dem Meer bei Flucht ausgesetzt sind und unter denen Menschen dort leben müssen, für die klare Aussage: »Kommt nicht nach Europa.« Eine Insel kann man verhältnismäßig leicht exterritorialisieren. Das ist mit Lesbos faktisch geschehen. Die Debatten, die Projekte, das Ringen um Bedingungen guten Lebens vor Ort, das die Diskussionen um Caring Community im deutschsprachigen Raum prägt, auch die um die Compassionate Cities12 , sie darf sich nicht mit sich selbst begnügen, sondern wird, um nicht der Gefahr des »Bondings«, der ethnozentrischen abgrenzenden Sorge um sich selbst zu erliegen, die Sorge um die Welt mit einzubeziehen haben. Gelingt es, das Ringen und gute Bedingungen für alle Bürger*innen vor Ort immer auch in den Kontext des Ringens um gerechte Lebensbedingungen anderswo zu stellen, kann der Diskurs um 12

Wegleitner/Heimerl/Kellehear, 2016.

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Caring Community vor Ort auch einen Beitrag dazu leisten, dass man sich mit Lesbos und dem »Lesbos provozierenden« Problem nicht abfindet. Ein nicht unwichtiger Beitrag könnte in der Aufnahme und Umsetzung des Konzeptes von Sanctuary Cities13 liegen, dass bereits seit den 1990er Jahren in vielen Gemeinden und Countys in den USA und Kanada aber auch England umgesetzt wird. Die von den Gemeinden zugesicherte Aufnahme von Geflüchteten – finanziert über einen entsprechenden Fonds auf EU-Ebene – und dem verbindlichen Eintreten dafür, dass die Sanctuary Regions und Cities sich zuständig für alle Einwohner*innen erklären, ohne Blick auf den aufenthaltsrechtlichen Status – darum geht es. Den Geflüchteten wird der gleiche gesundheitliche, grundrechtssichernde Sozialschutz gewährleistet wie allen Bürger*innen vor Ort auch – wie seinerzeit in Argos in den »Schutzflehenden« von Aischylos. Die Zukunftskommission Niedersachsen 2030 hat sich in ihren Empfehlungen dafür ausgesprochen, dass das Land Niedersachsen sich in dieser Weise als sorgendes Land verpflichtet und committet. Auf kommunalpolitischer Ebene ist die Bereitschaft gegeben, geflüchtete Menschen aufzunehmen, als Sanctuary Cities zu fungieren, das Versprechen »Für Dich ist gesorgt«, die Caring Community auch auf die Geflüchteten zu beziehen – und nicht nur in dem Sammeln von Spenden für das neue Lager Kara Tepe – mit seinen unmenschlichen Lebensbedingungen14 – bei gleichzeitiger Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen aus Kara Tepe. Aischylos »Die Schutzflehenden« erinnert uns daran, was Asylgeber und -bewerber im alten Griechenland galten. Der König hatte sich unschlüssig gezeigt und hatte auf sein Volk verwiesen15 . Caring Communities leben (auch) von der Antwort der Bürger*innen auf Fragen unserer Zeit – und delegieren Fragen von Flüchtlingsursachen und der Asylpolitik nicht (allein) an die große Politik sondern machen diese auch zum Gegenstand kommunaler Debatten und demokratischer Auseinandersetzungen – zwischen Selbstsorge und Weltsorge. In Aischylos Tragödie der Schutzflehenden ging es um die Aufnahme von im erweiterten Sinne »Verwandten«, die auch um Gehör bitten mussten, um Aufnahme zu finden, was keineswegs selbstverständlich war.

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Kopan, 25. Januar 2017. https://www.deutschlandfunkkultur.de/fluechtlingslager-auf-lesbos-die-situation-hatsich.1008.de.html?dram:article_id=487418. https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/aischylos-die-schutzflehenden-2.

Caring Community – Zwischen Selbstsorge und Weltsorge

»In eurer Stimme liege nichts von dreistem Ton, Nichts Eitles zeige sich auf dem mit keuscher Stirn Geschmückten Antlitz und im Auge voller Ruh! Werdet nicht vorlaut noch auch zögernd, schleppend im Gespräch! Weckt solche Art doch Missgunst nur und Hass. Lernt euch bescheiden! Arm seid, fremd, landflüchtig ihr; Ein keckes Mundwerk ziemt sich für die Schwächern nicht.«16 Mögen wir den Geflüchteten Gehör schenken – und uns damit mit ihnen in Beziehung und zu ihnen ins Verhältnis setzen? Auf Lesbos werden die Geflüchteten daran gehindert, sich wie die Ägypter*innen in einer Weise zu verhalten, durch die sie mit die Voraussetzungen dafür schaffen können, dass Bürger*innen ihnen im Sinne Kant’scher Ästhetik Schönheit zuschreiben können. Ob das gelingt, hängt von unserem Umgang mit ihnen ab – und den Möglichkeiten, die ihnen zur Wahrung ihrer Würde gegeben werden. Bilder der Hässlichkeit, die uns aus Lesbos erreichen, stoßen ab, schüren Angst und Ablehnung.

Literatur Aischylos: »Die Schutzflehenden«, in: Bernhard Zimmermann (Hg.), Aischylos. Die Tragödien (Übersetzer: Oskar Werner) [7.Aufl.], Berlin: Akademie Verlag Berlin 2011. Arendt, Hannah: Vita activa. Oder Vom tätigen Leben [13.Aufl.], München: Piper 2013. Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge [10.Aufl.], Stuttgart: Reclam 2016. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbeck: Rowohlt 2000. Klie, Thomas: »Caring Community. Beliebiger Dachbegriff oder tragfähiges Leitbild in der Langzeitpflege?«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (Hg.), Pflege. Praxis – Geschichte – Politik (=Politik und Zeitgeschehen, APuZ, Bd. 10497), Bonn: bpb 2020a, S. 36-41. Klie, Thomas: Moria – ein persönlicher Bericht über die Situation auf Lesbos, 2020b. www.thomasklie.de. Kopan, Tal: »What are sanctuary cities, and can they be defunded?«, CNN, 25.Januar 2017.

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Aischylos, 2011, Vers 194.

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Putnam, Robert D.: Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2001. unter www.worldcat.org/oclc/49760737. Sotiriu, Dido: Grüss mir die Erde, die uns beide geboren hat, Köln: Romiosini 1994. Wegleitner, Klaus/Heimerl, Katharina/Kellehear, Allan: Compassionate Communities Case Studies from Britain and Europe, London: Routledge 2016.

Mut zur Seele Hans Bartosch

Andreas Heller wurde in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im deutschen Sprachraum bekannt, weil er wie kaum ein anderer die Organisations-Entwicklung mit der damals noch nicht zwingend etablierten Hospizbewegung zusammensehen und zusammenbringen konnte. Heintel meets Saunders.1 Was im zeitlichen Abstand als etabliert und selbstverständlich gelten mag, war es keineswegs. Über Standards und Qualität zu sprechen angesichts der (neben der Liebe) existentiellsten aller Lebenserfahrung, dem Sterben und Tod, das erzeugte damals reihenweise rümpfende Nasen auf der Ebene von Hospizvereinen, Bildungsträgern, Kirchengemeinden und nicht zuletzt jener Hochberufenen, welche die Hospizbewegung als die finale Befreiung vom überkommenen Medizinalwesen feiern und schützen wollten. Warum aber wurde trotz aller damals rümpfenden Nasen (von denjenigen weiter Teile der Wissenschaften ganz zu schweigen!) das, was als »iff-

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Peter Heintel (1940-2018) war ein österreichischer Philosoph und Hochschullehrer für Philosophie und Gruppendynamik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er war Mitbegründer und lange Zeit Leiter der IFF – Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung. Sein mit Larissa Krainer gemeinsam entwickelter Ansatz der »Prozessethik« war maßgeblich für Andreas Hellers Organisationsethik (Krainer/Heintel, 2010). Heintel wurde auch durch die Gründung des »Vereins zur Verzögerung der Zeit« bekannt. Cicely Saunders (1918-2005) gilt als Begründerin der modernen Hospizbewegung – nicht zuletzt durch die Gründung des St. Christopher’s Hospice in London im Jahr 1967.

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Palliative Care«2 mit breiten, vielen Schultern, Hirnen und Herzen Schule machte, warum wurde es eine solche Erfolgsgeschichte? Als wesentliche Antwort sehe ich eine ownership-Philosophie, welche die Pflege (oft genug das vermeintlich graue Entlein Altenpflege) zu den ersten Hüterinnen des Themas »Versorgung, Leiden und Sterben« erklärte. Also diejenigen, die den intimsten und weisesten und geerdetsten Zugang haben zu den noch tieferen Hüterinnen und Hütern, nämlich zu den sterbenskranken Menschen selbst. Geschärft wurde jene ownership durch eine von Anfang an differenziert gestaffelte Wahrnehmung des mit den Begriffen »Haupt- und Ehrenamt« nur unvollständig beschriebenen Phänomens einer damals noch oder wieder neuen bürgerschaftlichen Durchdringung von Pflege, Sorge, Geleit, Parteinahme. Relativ bald wurde Care zum Schlüsselbegriff. Allerdings hat es einige Jahre gedauert, bis eine kluge Durchdringung von Care-Bewegung und Hospiz/Palliativbewegung zu Stande kam und heute Standard ist. Alles Meilensteine, die sich der IFF verdanken. Übrigens vollzogen sich jene Meilensteine sowohl in den Seminarräumen des 7. Bezirks der alten Reichshauptstadt Wien als auch an hunderten weiteren Seminarorten. Nicht selten wurde dort gelehrt, geforscht und entwickelt, wo wirklich nur eine Wand weiter ein Mensch seine Tage segnete und andere ihn oder sie an jene Schwelle geleitet hat. Andreas Heller hat als begnadeter Seminarleiter, Tagungsinspirator, Institutsleiter und multipler Quervernetzer seine Handschrift zwischen Flensburg und Graz, Stralsund und Düsseldorf über drei Jahrzehnte fulminant hinterlassen. Als Soziologe, als »Oh-Eh-ler«3 , als ein Enzyklopädiker und InterFanantiker der seltenen Art. Vermutlich war und ist vielen gar nicht klar, dass Andreas Heller auch katholischer Theologe ist. Die Lage und die Gestalt der Römisch-Katholischen Kirche haben es Andreas Heller oft genug sehr schwer gemacht, sich zur Kirche und auch zur Theologie zu bekennen. (Das sage ich als Protestant voll2

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Die Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt, Wien, Graz mit seinem Institut für Palliative Care unter der Leitung von Andreas Heller und später Katharina Heimerl arbeitete bis 2018 aus der legendären Schottenfeldgasse im Bezirk Neubau heraus mit einem international renommierten, spezifisch interdisziplinären Fort- und Weiterbildungskonzept, welches aus der Care-Praxis für die Care-Praxis bildete und forschte und in wachsendem Maße nationale und internationale Politik- und Institutionenberatung entwickelte. Oh-Eh-Ler bezieht sich auf »Organisationsentwickler und Organisationsethiker«.

Mut zur Seele

kommen ohne Häme, eher ähnlich empfindend.) Dabei kannte und kennt er seine Kirche in einem solchen Umfang und in einer solchen Tiefe von innen, das ihm wirklich ein Urteil zustand und zusteht. Seine Auseinandersetzungen hat Andreas Heller gezielt nicht kirchenpolitisch geführt, das wäre ihm zu enggeführt gewesen. Früh aber setzte er sich mit der aufkommenden Debatte um Spiritual Care auseinander. Er hat es sehr unterstützt, dass die Spiritualität, jene vierte Säule der Palliative Care deren eigene Dignität und zentrale Bedeutung erfährt. Aber recht bald hat er die Gefahren gewittert und gemeinsam mit seiner Frau Birgit Heller das Feld der real existierenden Spiritualität und des Spiritual Care politisch-kritisch als auch religionswissenschaftlich vermessen. Die alte IFF-Frage tauchte neu und in markanter Schärfe auf: Wer will das wirklich? Was wollen die, die am nächsten dran sind? So wie ansonsten nur bei Doris Nauer und vormals bei Isolde Karle gelangen Andreas und Birgit Heller in »Spiritualität und Spiritual Care. Orientierungen und Impulse«4 eine fundierte Kritik neuer Tendenzen und Moden eines ansonsten wahrlich notwendigen Themas.

Seelsorge statt Spiritual Care Dieser fundamentalen Einrede von Andreas Heller möchte ich mich anschließen und hier weiterdenken: Wir haben, wie ich finde, mit Seele und Seelsorge zwei Schlüsselbegriffe für die hospizlich-palliative Arbeit, aber auch weit darüber hinaus für das Gesundheitswesen, für Care und für Community, die wir dringend wieder neu ins Schaufenster zu stellen haben. Seelsorge ist nach katholischer Dogmatik ein Teil der Beichtlehre und der Beichtpraxis. So aber wird es heute nur noch von sehr wenigen fundamentalistischen Kräften gebraucht. Durchgesetzt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein weit über die Großkirchen hinausgehendes gesellschaftliches Verständnis von Seelsorge, das vom Überwältigungsverbot genauso tief durchdrungen ist wie von interkonfessioneller, interreligiöser Weite. Durch Telefonseelsorge, Notfallseelsorge und Krankenhausseelsorge entstand ein funktionierendes und öffentlich breit anerkanntes und breit be4

Heller/Heller, 2014.

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kanntes Netzwerk erreichbarer, diskreter und wenig erklärungsbedürftiger Akutunterstützung, welche ihre Kompetenz aus geregelten Ausbildungswegen, organisierter Präsenz in Organisationen und zugleich großer innerer wie äußerer Freiheit empfängt. Vor diesem Hintergrund erscheint es verwunderlich, warum bis in die Kirchen selbst hinein jene »Kernmarke« der Seelsorge entweder vernachlässigt wird oder eben mutwillig in Frage gestellt wird durch ein Neuprodukt namens »Spiritual Care«, welchselbiges zunächst nichts anderes (und Wichtiges!) bedeutete als die Reflexion von Medizin-, Pflege und Sozialberufler*innen auf deren eigene spirituelle Orientierung. Was hat »Spiritual Care« praktisch bewirkt? Nüchtern gesagt, gibt es in einigen Universitätskliniken Fragebögen an palliative Patient*innen, wo diese sich spirituell verortet sehen und begleitet werden müssen. Und in vielen Institutionen des Gesundheitswesens und den dazugehörenden Bildungseinrichtungen ist ein neuer Stress entstanden, unbedingt alles verfügbare Wissen über die Haltung der Weltreligionen zu Tod und Sterben qualitätsgesichert zur Verfügung zu haben. Ich bezweifle, ob Fragebögen und Handbücher die Wirklichkeiten, Sorgen und Bedürfnisse schwerkranker Menschen wirklich abbilden. Und noch mehr bezweifle ich, dass solche Methodik die gemäß der WHO berühmte vierte Säule der Palliative Care, nämlich die Spiritualität, besser abbilden kann als der alte, aber kundige und sturmerprobte Ackergaul der Seelsorge. Schämt sich die Kirche für die Seele? Schämt sie sich mittlerweile so, wie sich tendenziell eine Gesellschaft für alles Seelische schämt? Schämt sich die Kirche – auch wiederum in Resonanz der sie umgebenden Gesellschaft – für all die Wagnisse, Risiken, Tröstungen und Irritationen, welche im umfassenden Sinne »Transzendenz« auslöst? Denn was ist die Seele? Nach der originären hebräischen Lesart sitzt die nefesch in der Kehle. Mit Instinkten und leibhaftigster Angewiesenheit hat sie weitaus mehr zu tun als mit klugen Gedanken, mit Geschäftsmodellen und Konzepten. Auch das griechische psyche weist auf eine leibhaftige und oft genug dunkle Kraft, welche aber für uns Menschen allemal konstitutiv, prägend und letztlich auch erkenntnisleitender ist als alles rein Willensmäßige und, ja, gewiss auch als alles blasiert oder langweilig Fromme. Die Seele ist das Kind, ist der Schatz, ist das Küken, ist der Schrei. Alles das also, was sowohl in der Liebe als auch im Sterben elementar »hochkommt« und sich zeigt. Dabei ist die Seele – weder von der hebräischen noch von der griechischen Sprache her – anti-vernünftig oder gar rein egoman und patho-

Mut zur Seele

gen narzisstisch. Im Gegenteil öffnet sich die Seele als das Höchstindividuelle zwingend zum Sozialen und zum Kosmischen. Mit den Egoshootereien einer freidrehenden kapitalistischen Wellness-Pseudo-Religion hat die Seele so wenig zu tun wie mit, auf rheinisch gesagt: »frommem Gedöns« oder irgendeiner Akklamation zu irgendeiner noch so brillant-ethischen Organisation. Daher hat Seelsorge viel eher mit den Künsten zu tun. Mitten im Rheinland (der Heimat von Andreas Heller) befindet sich auf der legendären Museumsinsel Hombroich bei Neuss das Atelier des Beuys-Schülers Anatol. In zartem wie auch blutigem Rot steht an der Tür jenes Holzschuppen-Ateliers unter den Eschen: »Kunst ist Seelsorge«. Neben ihrer Affinität zu den Künsten hat die Seelsorge eine natürliche Relation zu Geschichte und Geschichten. Die Seele erzählt ihre Geschichte mit je und je verblüffender Präzision, oft bildreich und oft genug eingebettet in jenes Netz von Menschen, Familien, Berufen, Migrationen, Landschaftsprägungen, Reisen, Abbrüchen und Neusetzungen, welche handfest, geerdet, umgangssprachlich und lebensklug, weise wie witzig in erfrischender Unzensiertheit sich einstellen, wenn eine echte Haltung der Frage die Seelsorge prägt und die Seele in den Strom des Erzählens kommen kann, welcher übrigens zuweilen in knappsten Minuten das Panorama eines Jahrhunderts nahezu bühnenreif in Worte zu fassen fähig ist. Es entsteht durch solche Seelsorge ein verblüffend präziser Blick auch in dasjenige, was vor langer Zeit einmal Volksseele hieß, brandgefährlich werden kann, aber genauso gut eine emanzipatorische Wucht entfalten kann. Viele europäische Freiheitsbewegungen wurden genährt von Geschichte, von Erzählen und von Weite. Seelsorge ist hochgradig politisch – oder sie ist keine Seelsorge. Warum aber ist in der immer noch (trotz aller Auflösungserscheinungen) leitenden Religionsorganisation Europas, nämlich der Kirche, oft eher von Pastoralpsychologie und neuerdings von Spiritual Care die Rede? Warum jene Scheu vor der Seele (als auch vorm Tod, vor dem Himmel und vor der Transzendenz)? Und warum wurden an so vielen Stellen zu Beginn der Corona-Krise Seelsorgende eher zurückgerufen, vermeintlich geschont oder gezielt übersehen, auch von den Kirchen? Weil eine Pandemie weder pastoralpsychologisch noch mit Spiritual Care zureichend zu bewältigen ist? Nicht, dass ich es zwingend weiß. Allerdings halte ich die Zeit gekommen für Fragen, gerade innerhalb der Religionsorganisationen, aber auch innerhalb der »vierten Säule« der Palliative Care.

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Warum scheuen wir die Seele? Was versprechen wir uns vom vielsilbrigen Wort Spiritualität? Welches ein wunderschönes Wort ist und ein notwendiges (weil Religion eben Geist zu sein hat), in den existentiellsten Situationen des Lebens aber nicht so tief zu greifen vermag wie die Seele und, ja, auch die Sorge. Gut, der Volksmund geht mit den Seelchen hart um. Wer einen Seelischen hat, erscheint als wenig brauchbar. Gerne wird der Seele unterstellt, etwas für Poesiealben und alte Frauen zu sein. Sehr uncool. Und doch zeigt sich das Wort eindrücklich unausrottbar und gerade in Krisen nicht nur stärker als schnelle Medikation und billige Alleserklärerei. Seele und Seelsorge brauchen wenig erklärt werden, selbst wenn oder auch gerade weil sie so breit schillern. Die Seelsorge im Angesicht von schwerkranken und sterbenden Menschen gelingt ja auch nicht durch gute Worte oder durch gute Taten, sondern eher durch Enthaltsamkeiten, Räumen für Abgründe und pure und oft genug zittrige Präsenzen. Nicht mal um »Begleitung« geht es da, sondern um Aushalten, härteste Differenzen und (hin und wieder nur) zugleich vage Einschwingungen in Neuland.

Chapeau vor einem Mann mit Seelenmut Andreas Heller verdanke ich, wie wenigen anderen, den Mut zur Seele. Er würde sich nie als Seelsorger bezeichnen oder gerieren. Vermutlich ist er es auch nicht primär, wegen der Fülle und Prägnanz aller seiner anderen Gaben. Aber erstens darf er, was ich hier dringend zu erinnern habe, seit Jahrzehnten als ausgewiesener Fachmann der internationalen KrankenhausseelsorgeDebatte gelten. Und zweitens – und dies möchte ich in einer Festschrift ganz besonders und ganz persönlich herausstellen – treibt er sein Geschäft mit so viel Risiko, Emotion, Tiefe und Lust, mit Freundschaftskunst, habsburgischer Tafelfreude und mit originär rheinischem Humor, dass ich es für recht und billig halte, ihn – als eine große, eine ganz bemerkenswert große Seele zu bezeichnen. Im Jiddischen sagt man »Des is a Mensch!«. Auf goijisch, also nicht-jüdisch: »Der hat Mut zur Seele und ermutigt Hunderte anderer zur Seele. Ihm gebührt das Zücken eines ganzen Hutladens.«

Mut zur Seele

Literatur Heller, Birgit/Heller, Andreas: Spiritualität und Spiritual Care. Orientierungen und Impulse, Bern: Huber 2014. Krainer, Larissa/Heintel, Peter: Prozessethik: Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse. Wiesbaden: Springer 2010.

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Tiefgreifende1 Denk- und Gestaltungsspuren von Andreas Heller »Promoviert über die Liebe und habilitiert über den Tod«

Schreibend – Publikationen Heller, Andreas: Zusammenleben von Frau und Mann. Kirche und Nichteheliche Lebensgemeinschaften, Klagenfurt/Celovec: Verlag Hermagoras/Mohorjeva 1989. Heller, Andreas: Ganzheitliche Lebenspflege. Für ein Miteinander von Krankenpflege und Krankenseelsorge, Düsseldorf: Patmos Verlagsgruppe 1989. (erschienen 1993 in Übersetzung: Curare il corpo. Guarire l´anima. Medicina e pastorale a servizio del malato. Padova: PPFMC Messaggero di S.Antonio Editrice). Heller, Andreas (Hg.): Kultur des Sterbens. Bedingungen für das Lebensende gestalten, Freiburg i.Br., Lambertus Verlag 1994. Heller, Andreas/Stenger, Hermann: Den Kranken verpflichtet. Seelsorge – ein Gesundheitsberuf im Krankenhaus, Innsbruck: Verlagsanstalt Tyrolia 1995. Heller, Andreas/Heimerl, Katharina/Husebö, Stein (Hg.): Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Wie alte Menschen würdig sterben können, Freiburg i.Br.: Lambertus Verlag 1999.

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Bei knapp 500 Publikationen und 100 Forschungs-/Entwicklungsprojekten von Andreas Heller haben wir uns ganz im Sinne der Sorge um die interessierte Leser*innenschaft erlaubt, auszuwählen und hier einige der wichtigsten und tiefgreifendsten Spuren würdigend sichtbar zu machen.

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Care – Vom Rande betrachtet

Heller, Andreas/Dinges, Stefan/Heimerl, Katharina/Reitinger, Elisabeth/Wegleitner, Klaus: »Palliative Kultur in der stationären Altenhilfe«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 36 (2003), S. 360-365. Heller, Andreas/Krobath, Thomas/Metz, Christian/Husebö, Stein (Hg.): OrganisationsEthik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Freiburg i.Br., Lambertus Verlag 2003. Heller, Andreas/Reitinger, Elisabeth: Leitkategorie Menschenwürde. Zum Sterben in stationären Pflegeeinrichtungen, Freiburg i.Br., Lambertus Verlag 2004. Heller, Andreas/Heimerl, Katharina/Kittelberger, Frank (Hg.): Daheim sterben. Palliative Kultur im Pflegeheim, Freiburg i.Br., Lambertus Verlag 2005. Heller, Andreas/Schmidt, Thomas: »Und das Wort ist Organisation geworden …«, in: Norbert Schuster (Hg.), Kursbuch Management und Theologie. Führen und Leiten als spirituelle und theologische Kompetenz, Freiburg i.Br.: Lambertus-Verlag GmbH 2008, S. 229 – 240. Heller, Andreas/Knop, Matthias: Die Kunst des Sterbens. Todesbilder im Film – Todesbilder heute, Düsseldorf, Wien: Filmmuseum Düsseldorf in Kooperation mit IFF Wien Universität Klagenfurt 2008. Krobath, Thomas/Heller, Andreas (Hg.): Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg i.Br.: Lambertus-Verlag 2010. Heller, Andreas/Pleschberger, Sabine/Fink, Michaela/Gronemeyer, Reimer: Die Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland, Ludwigsburg: der hospiz verlag 2012. Wegleitner, Klaus/Heimerl, Katharina/Heller, Andreas (Hg.): Zu Hause sterben – der Tod hält sich nicht an Dienstpläne, Ludwigsburg: der hospiz verlag 2012. Wegleitner, Klaus/Blümke, Dirk/Heller, Andreas/Hofmacher, Patrick (Hg.): Tod – kein Thema für Kinder? Zulassen – Erfahren – Teilen. Verlust und Trauer im Leben von Kindern und Jugendlichen. Anregungen für die Praxis, Ludwigsburg: der hospiz verlag 2014. Heller, Andreas: »Sorgekulturen des Sterbens. Hospizlich-palliative Kultur vom Krankenhaus bis zur Kommune«, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 163 (2015), S. 115 – 122. Bollig, Georg/Heller, Andreas/Völkel, Manuela (Hg.): Letzte Hilfe. Umsorgen von schwer erkrankten und sterbenden Menschen am Lebensende, Ludwigsburg: der hospiz verlag 2016.

Tiefgreifende Denk- und Gestaltungsspuren von Andreas Heller

Heller, Andreas/Wegleitner, Klaus: Sterben und Tod im gesellschaftlichen Wandel. in: Bundesgesundheitsblatt/Nov 16, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, Bd. 60 (2017) S. 11-17. Schuchter, Patrick/Heller, Andreas: »The Care Dialog. ›The ethics of care‹ approach and its importance for clinical ethics consultation«, in: Medicine, Health Care and Philosophy (2017) https://doi.org/10.1007/s11019-017-978 4-z. Heller, Andreas: »Compathisch-sorgende Lebensweise«, in: Leidfaden 7(4) (2018), S. 72-76. Schuchter, Patrick/Fink, Michaela/Gronemeyer, Reimer/Heller, Andreas: Die Kunst der Begleitung. Was die Gesellschaft von der ehrenamtlichen Hospizarbeit wissen sollte, Esslingen: hospiz verlag 2018. Gronemeyer, Reimer/Heller, Andreas: In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann [3. Aufl.], München: Droemer 2018. Heller, Birgit/Heller, Andreas: Spiritualität und Spiritual Care. Orientierungen und Impulse [2. erw. u. überarb. Aufl.], Bern: Hogrefe 2018. Heller, Andreas/Schuchter, Patrick: Sorgekunst. Mutbüchlein für das Lebensende [2. korr. Aufl.], Esslingen: Edition Caro&Caro 2018. Heller, Andreas/Wenzel, Claudia: »Palliative Care and Hospice. Innovation at End of Life«, in: Elias G. Carayannis (Hg.), Encylopedia of Creativity, Intervention, Innovation and Entrepreneurship, London: Springer Reference 2019, S. 1421-1426.

Vorausdenkend – Herausgeberschaften & Gremien Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Praxis Palliative Care (2009ff.); Hauptherausgeber der Buchreihe Palliative Care und OrganisationsEthik im Lambertus – Verlag (1999ff), Freiburg i.Br. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats: Zeitschrift Spiritual Care, European Journal of Palliative Care, Zeitschrift für medizinische Ethik. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats und des Stiftungsrates des Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e.V. (DHPV), des Beirats der Robert Bosch Stiftung, im wissenschaftlichen Beirat des Zentrums für Interdisziplinäre Alters- und Sorgeforschung (CIRAC) an der KFU und Schirmherr von Omega, Mit dem Sterben leben e.V.

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Gastprofessuren, Lehraufträge, Gastvorlesungen an internationalen Universitäten und Hochschulen; Internationale Gutachtertätigkeiten.

Gestaltend – Forschung, Lehre, Weiterbildung, Beratung2 Projekte »Letzte Fragen«: Esslingen im Dialog. Kommunale Sorgekultur am Lebensende durch vorausschauende Sorge-Gespräche und Philosophische Praxis entwickeln. Ehrenamtlichkeit und bürgerschaftliches Engagement in der Hospizarbeit. LETZTE HILFE – Umsorgen und begleiten am Lebensende. »Sorgen auf den Tisch«: Gesprächsrunden zu grundlegenden Themen des Lebens moderieren. »Ethik von unten«: Ethisch-existenzielle Gespräche mit sorgenden Angehörigen von älteren und sterbenden Menschen, um regionale Ethikstrukturen zu etablieren. Was bleibt? Nachhaltige Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe in Deutschland. Interdisziplinäres Forschungs- und Interventionsprojekt zur Kinder- und Jugendhospizarbeit in Bethel. Palliative Praxis. Ein Projekt der Robert Bosch Stiftung – Systemische Evaluation. »Hamburg am Lebensende«. Hospizkultur und Mäeutik – Ein Beratungs- und Entwicklungsprojekt. 2

Es werden hier lediglich die Titel sichtbar gemacht, um die Themenbreite und Markpfeiler als Panorama zu verdeutlichen. Förder-/Auftraggeber und auch die jeweiligen Forscher*innen-Teams werden nicht einzeln angeführt. Die allermeisten Projekte und Lehr- und Weiterbildungsformate wurden in unterschiedlichen Teamkonstellationen am von Andreas Heller gegründeten Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik, der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF Wien) an der Alpe-Adria Universität Klagenfurt, Graz, Wien umgesetzt. Die Kolleg*innen im Laufe der Jahre in alphabetischer Reihenfolge: Stefan Dinges, Gert Dressel, Eva Eggenberger, Katharina Heimerl, Birgit Heller, Silvia Hellmer, Anna Hostalek, Stein Husebø, Thomas Krobath, Marina Kojer, Christian Metz, Sabine Pleschberger, Petra Plunger, Elisabeth Reitinger, Georg Ruppe, Patrick Schuchter, Karin Schönbauer, Alexandra Trafoier, Elisabeth Wappelshammer, Klaus Wegleitner, Ilona Wenger, Claudia Wenzel.

Tiefgreifende Denk- und Gestaltungsspuren von Andreas Heller

Geschichte von Hospizarbeit und Palliative Care – Oral History Projekt über die Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Homöopathie als Alternative zu schulmedizinischer Behandlung? Rahmenbedingungen, Praxis und Inanspruchnahme von Homöopathie in Österreich. TRAFO – Ethische Entscheidungen im Alten- und Pflegeheim. Sterben in alternativen Wohnformen. Leben bis zuletzt – Menschenwürdig sterben. Entwicklung einer integrierten Palliativversorgung im Kanton Graubünden. Pilotprojekt Palliativeinheiten der Steiermärkischen Krankenanstalten GmbH, Systemische Evaluation. OrganisationsKultur des Sterbens: Umsetzung in den »Leben im Alter«Zentren. Europäisches Qualitätsnetzwerk Palliative Care. Menschenwürdiges Sterben in der Kaiserswerther Diakonie – Umsetzung der palliativen Kultur. Qualitative Bedarfserhebung und Qualitätsentwicklung in der Palliativen Versorgung in Vorarlberg. Barmherzigkeit buchstabieren: Führungskräfteentwicklung als Wertemanagement in einer Krankenhausholding. Leiten und Zukunft gestalten im Krankenhaus. Ein Programm zur Qualifizierung von Führungskräften an den Horst-Schmidt-Kliniken Wiesbaden. Leben und Sterben in Würde. Die pflegebedürftigen Alten in Deutschland. »Leben bis zuletzt«: Palliativbetreuung in den Alten- und Pflegeheimen der Inneren Mission München. Organisationsethik.

Lehre & Symposien Mit-Entwicklung der ersten Hospiz- und Palliative Care Ausbildungen in Österreich. Leitung des internationalen Universitären Masterlehrgangs Palliative Care an der IFF Wien. Leiter des internationalen und interdisziplinären Doktorand*innenkollegs – Palliative Care und OrganisationsEthik an der IFF Wien. Gastprofessuren, Lehraufträge, Gastvorlesungen an internationalen Universitäten und Hochschulen.

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Internationale Sorge – Symposien der IFF Wien und zuletzt an der KFU Graz.

Autor*innenverzeichnis

Hans Bartosch hat Evangelische Theologie und Diakoniewissenschaften studiert und arbeitet seit 1989 im Pfarrdienst. Er ist als Seelsorger und im Bildungsbereich in drei diakonischen Komplexeinrichtungen und Krankenhäusern in Düsseldorf und Magdeburg beschäftigt gewesen. Seit 2012 erlebt er als westdeutscher Seelsorger die Tiefen und Höhen von erstaunlich starken Biografien ostdeutscher Menschen, denen er in den Krankenhäusern, im Hospiz und in den Wohnheimen von Menschen mit Behinderungen der Pfeifferschen Stiftungen begegnet. Daniel Büche, Facharzt für Innere Medizin mit Spezialausbildung in Palliative Care (Kings College London) und Schmerztherapie (Medizinische Universität Wien) war über 18 Jahre Kadermitarbeiter und später Leiter des Palliativzentrums am Kantonsspital St. Gallen. Seine Zuneigung zum Patienten als Mensch, Person und Individuum führte ihn in die Palliative Care. Wichtige Förderpersonen auf diesem Weg waren Prof. Dr. Steffen Eychmüller, Arzt, Cornelia Knipping, Pflegefachfrau, Dozentin und Buchautorin sowie Prof. Dr. Andreas Heller, die letzten beiden Personen, die ihm das Feld der Lehre eröffneten, ihn in seiner Lehrtätigkeit förderten und ihn im Diskurs herausforderten, was ihm ermöglichte, einen ganzheitlichen Blick auf die Palliativversorgung – weg von der alleinigen, medizinischen Versorgung von schwerkranken und sterbenden Menschen – einzunehmen. Rainer Bucher, Prof. Dr., Leiter des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz. Neuere Veröffentlichungen: Christentum im Kapitalismus, Würzburg 2019; (Hg.) Pastoral im Kapitalismus, Würzburg 2020. (www.rainer-bucher.de).

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Cornelia Coenen-Marx, geb. 1952, ist Pastorin, Autorin und Inhaberin der Agentur »Seele und Sorge« (Impulse, Workshops, Beratung). Bis 2015 war die Oberkirchenrätin a.D. Sozialreferentin der EKD, zuvor u.a. Theologischer Vorstand der Kaiserwerther Diakonie. Veröffentlichungen u.a.: »Die Seele des Sozialen« (2013), »Noch einmal ist alles offen« (2016), »Aufbrüche in Umbrüchen« (2017). Während der Corona-Krise organisierte sie die Webkonferenz »Oma trotzt Corona – Die Krisenexpert*innen«. (www.seele-und-sorge.de). Michaela Fink, Dr. phil., geb 1973, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zusammen mit Prof. Reimer Gronemeyer forscht und arbeitet sie zu zwei Themenbereichen: 1) Versorgung am Lebensende, Ehrenamt, Demenz; 2) Studien zum subsaharischen Afrika. Sie hat von 2006-2012 den ambulanten Kinderhospizdienst in Gießen aufgebaut und geleitet und in 2011 zur Frage der Institutionalisierung des Sterbens in der Hospiz- und Palliativarbeit bei Prof. Andreas Heller promoviert Sie ist Vorstandsmitglied in dem gemeinnützigen Verein »Pallium – Forschung und Hilfe für soziale Projekte e.V.« sowie Mit-Herausgeberin von »demenz: das Magazin« (mit R. Gronemeyer und O. Schultz). Reimer Gronemeyer, Prof. Dr. theol., Dr. rer., geb. 1939, ist Professor emeritus für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er forscht seit den 1980er Jahren in der Region Subsahara-Afrika zu verschiedenen Themen (z.B. Saatgut und Sozialsystem in Tansania und Namibia, Waisen und gefährdete Kinder in Namibia, Textilindustrie in Äthiopien) und arbeitet darüber hinaus zu den Themen »Alternde Gesellschaft und Demenz«. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins »Pallium – Forschung und Hilfe für soziale Projekt e.V.« und Vorsitzender der »Aktion Demenz Deutschland e.V.«. Er ist außerdem Mit-Herausgeber von »demenz: das Magazin« (mit M. Fink und O. Schultz). Ralph Grossmann, Univ.-Prof. Dr., Executive Education Estonian Business School (EBS); langjähriger Leiter des Instituts für Organisations- und Gruppendynamik an der IFF-Fakultät der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Forscher, Berater, Publizist im Bereich »Organizing Public Goods« mit einem Fokus aus Netzwerken, Kooperationen, Genossenschaften. Isabella Guanzini ist Universitätsprofessorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privatuniversität in Linz. Ihre Hauptforschungsfrage be-

Autor*innenverzeichnis

trifft den Begriff der »Übersetzung« des Religiösen, ebenso wie den Bedingungen des Glaubens in einer (post-)säkularen Welt. Wolfgang Heinemann, geb. 1958, Dipl. theol., Lic. Theol. Berufsschullehrer, Supervisor, Ethikberater und Krankenhausseelsorger, aktuell Stabsstelle Christliche Identität/Ethikberatung bei der GFO (Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe). Birgit Heller, Mag.a Dr.in theol.; Dr.in phil. Habil.; geb. 1959, seit 1999 Professorin am Institut für Religionswissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. 1999-2016 Lehrbeauftragte im Internationalen Masterstudium Palliative Care und Organisationsethik (IFF-Fakultät der Universität Klagenfurt in Wien). Forschungsschwerpunkte: Themen der systematisch-vergleichenden Religionswissenschaft (Sterben, Tod und Trauer; Jenseitsvorstellungen); Hindu-Religionen; praxisorientierte Religionswissenschaft (Interreligiöse/spirituelle Dimensionen von Palliative Care); Gender Studies. Dorina Marlen Heller, BA, MSt studierte Sinologie, Literaturwissenschaft, Sozialanthropologie und Gender Studies in London, Heidelberg, Peking und Oxford. Sie arbeitet als freie Journalistin und Texterin sowie für verschiedene NGOs. Zudem veröffentlicht sie regelmäßig in Literaturzeitschriften und Anthologien und ist mehrfach ausgezeichnete Literaturpreisträgerin. Anna-Christina Kainradl, Mag., phil. MA, ist Dissertantin im Bereich Public Care des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz und Lehrende für Medizinethik an der Medizinischen Universität Graz. Sie forscht im Rahmen der Projekte »Who Cares? Alter(n) und Pflege gemeinsam neu denken« und »App-solute Neuigkeiten« am Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC) der Universität Graz und ist Mitglied der Age and Care Research Group Graz. Thomas Klie, Prof. Dr. habil., geb. 1955 in Hamburg, ist seit 1988 Professor an der Evangelischen Hochschule, Privatdozent an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurth. Er leitet die Institute AGP Sozialforschung und Zentrum für Zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) in Freiburg und Berlin, nebenberuflich ist er Rechtsanwalt. Das Thema »Caring Community« beschäftigt ihn seit Jahren in Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Tho-

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mas Klie war Mitglied der 6. und 7. Altenberichtskommission der Bundesregierung und Vorsitzender der Zweiten Engagementberichtskommission der Bundesregierung. Er lebt seit 1985 im Sommer auf der Insel Lesbos. (www.th omasklie.de). Ulla Kriebernegg ist Assoziierte Professorin für Amerikanistik, Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC) der Universität Graz und Sprecherin der Age and Care Research Group Graz. Sie ist stellv. Vorsitzende des European Network in Aging Studies (ENAS), Mitglied des Humanities, Arts and Cultural Gerontology Committee der Gerontological Society of America und Fellow des Trent Centre for Aging and Society, Kanada. Thomas Krobath evangelischer Theologe, Organisationsentwicklungsberater. Seit 1998 mit Andreas Heller in vielfältiger Projektkooperation, zeitweise auch als Mitarbeiter von Andreas Heller an der IFF. Derzeit: Vizerektor für Forschung und Internationalisierung an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems. Forschungsschwerpunkte: Organisationsethik im Bildungs- und Versorgungsbereich, Schulentwicklung und Kultur der Anerkennung, konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Elisabeth Medicus, Dr. med., Ärztin für Allgemeinmedizin, Spezialisierung in Palliativmedizin; zwanzig Jahre klinische Tätigkeit in stationären und mobilen Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Tirol, Mitwirkung am Aufbau von Strukturen der Palliativversorgung in Tirol, Lehrbeauftragte an der Medizinischen Universität Innsbruck. Christian Metz, Mag. Dr., Studium der Philosophie, Psychologie, Erwachsenenpädagogik, Theologie; Personzentrierter Psychotherapeut & Supervisor in freier Praxis; Lehrtherapeut und Ausbilder des FORUM (Personzentrierte Psychotherapie, Ausbildung, Praxis); 2005-2020 Bereichsleiter im Kardinal König Haus Wien für Hospiz, Palliative Care, Demenz. Isabelle Noth, Dr. theol. Habil., BSc Psychology, MAS Systemische Beratung ZFH und MAS Pastoral Care and Pastoral Psychology Unibe, ist Co-Direktorin des Instituts für Praktische Theologie und Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik. Sie ist Präsidentin der Aus- und

Autor*innenverzeichnis

Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie und des trifakultären CAS Spiritual Care an der Universität Bern. Thomas Schmidt, geb. 1965, Professor für Management und Organisationsethik an der Katholischen Hochschule Freiburg, Privatdozent der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Mitherausgeber der Zeitschrift Praxis Palliative Care, Organisationsberater und Managementtrainer. Patrick Schuchter, Philosoph und Krankenpfleger studierte Philosophie in Innsbruck und Paris. Er absolvierte danach eine Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger und arbeitete als solcher in Innsbruck und Wien. Er promovierte bei Andreas Heller und Peter Heintel (und dem großartigen Team des ehemaligen Instituts für Palliative Care und Organisationsethik) an der IFF Wien, Universität Klagenfurt – die Dissertation ist unter dem Titel »Sich einen Begriff vom Leiden Anderer machen. Eine Praktische Philosophie der Sorge« 2016 bei transcript erschienen. Aktuell lehrt und forscht er an der Universität Graz im Feld von Public Care und leitet den Bereich »Hospiz, Palliative Care, Demenz« im Kardinal-König-Haus, einer bekannten Bildungsinstitution in Wien. Gemeinsam mit Andreas Heller hat er »Sorgekunst. Mutbüchlein für das Lebensende« (Esslingen 2017) publiziert, zur Organisationsethik geforscht und gelehrt sowie in Projekten wie »Ethik von unten« oder »Letzte Fragen: Esslingen im Dialog« zusammengearbeitet. Oliver Schultz, Dr. phil., Bildender Künstler und Germanist, hat bei Andreas Heller über die Beziehung von Ästhetik und Demenz promoviert. In Ausstellungen, Vorträgen, Publikationen und Fortbildungen thematisiert er seine künstlerische Arbeit mit Menschen mit Demenz. Als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen forscht er über Demenz, Ehrenamt und Migration. Er ist Mit-Herausgeber von »demenz: Das Magazin.«. Mit Andreas Heller verbindet ihn eine Schwäche für die Ambivalenzen in Leben und Wissenschaft. Fulbert Steffensky, geb. 1933 in Rehlingen/Saar, studierte katholische und evangelische Theologie und praktizierte anschließend in Schule und Seelsorge. 1972 Promotion mit anschließender Professur in Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Köln. Ab 1975 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Forschungs-

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schwerpunkte: religiöse Erziehung in posttraditionalen und urbanen Gesellschaften; kirchliche Sprache in Medien und anderen säkularen Räumen. Klaus Wegleitner ist Soziologe und Sorgeforscher. Er hat sich im Bereich Public Health & End-of-Life Care an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt habilitiert, wo er von 2001-2018 am Institut für Palliative Care und Organisations-Ethik gemeinsam mit Andreas Heller und dem IFF-Team vielfältige Projekte und Publikationen zu Fragen der Hospiz- und Palliativkultur sowie zu Caring Communities auf den Weg gebracht hat. Als Assoziierter Professor ist er nun an der Abteilung Public Care des Institutes für Pastoraltheologie und -psychologie sowie als stellvertretender Leiter am Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC) an der Universität Graz forschend und lehrend tätig. Er ist Vorstand von SORGENETZ – Verein zur Förderung gesellschaftlicher Sorgekultur, in Wien (www.sorgenetz.at). Thomas Wild, Pfr., Studium der evangelischen Theologie in Bern und Heidelberg, CAS Systemtherapie ZSB Bern, MAS Pastoral Care ans Pastoral Psychology Unibe, ist Co-Leiter des Seelsorgeteams am Universitätsspital Bern und Geschäftsführer der Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie am Institut für Praktische Theologie, Universität Bern. Paul M. Zulehner, geb. 1939 in Wien, emerit. Pastoraltheologe, Werte- und Religionsforscher. Mitglied der Europäischen und Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 1985-2000 Berater der Präsidenten des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE). (www.zulehner.org).

Dank

Wir danken dem transcript Verlag, der diese Festschrift in sein Programm aufgenommen hat. Das ist ein besonders schöner Ort für dieses Buch, das viele Facetten des Themas Care präsentiert und so die Arbeiten von Andreas Heller würdigt. Weiters danken wir der Fakultät für Katholische Theologie an der Karl-Fanzens-Universität Graz, dem Institut für Pastoraltheologie und psychologie der Universität Graz sowie SORGENETZ – Verein zur Förderung gesellschaftlicher Sorgekultur für die finanzielle Unterstützung. Inga-Luise Schüßler danken wir für die überaus präsente und kompetente Lektoratsarbeit an dem Manuskript.

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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