Doing Urban Space: Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung [1. Aufl.] 9783839424483

Der Mensch ist die Summe seiner Räume: Welcher Zusammenhang besteht zwischen menschlichem Tätig-Sein und den daraus erwa

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German Pages 360 Year 2014

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Inhalt
1. Der Mensch als Summe seiner Räume. Einleitende Gedanken
2. Warum Raumbindungen nachlassen. Städtische Raumentwicklungen als Dezentralisierungsprozesse menschlicher Bezugsorte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen
2.1 Postmoderne Prozesse radikaler Pluralisierung
2.2 Heterogenisierung der individuellen Lebensweise als Uniformisierungsmotor städtischer Lebenswelten
2.2.1 Schrumpfende Städte
2.2.2 Gentrifizierung als Prozess der Verlagerung von Raumzugehörigkeiten
2.2.3 Migration als Entörtlichungsphänomen
2.2.4 Enträumlichung durch Virtualisierung
3. Warum Raumbindungen wichtig sind Zur individuellen und kulturellen Bedeutung von Raumschaffung
3.1 Menschen denken räumlich – Eine neurowissenschaftliche Erkenntnis
3.2 Räume sind konstruiert – Annäherungen an einen Raumbegriff
3.2.1 Der homogene Raum
3.2.2 Der relativistische und der relationale Raum
3.3 Raumkonstruktionen als Ergebnis menschlicher und weltlicher Bedingtheiten
3.3.1 Leiblichkeit als Grundlage atmosphärisch gestimmter Weiteräume
3.3.2 Heimatlosigkeit als Motor der Herstellung und Gestaltung von kulturellen Identitätsräumen
3.3.3 Pluralität als Basis kommunikativer Erscheinungsräume
3.4 Zwischenfazit: Wohnen als raumbezogen basale Bildungsaufgabe im Zeitalter der fortgeschrittenen Moderne
4. Wie sich Raumbindungen stärken lassen. Narrative Figuren und ihre Raumerschließungspraktiken als Wegweiser zur Herstellung und Förderung urbaner Raumbindungen
4.1 Der einheimische Flaneur als aktivierter subversiver Heimatkundler
4.1.1 Herkunft und Merkmale flanerischer Raumerschließung
4.1.2 Spatiierende Raumaufspannungen in der Literatur bei Franz Hessel und Arthur Eloesser
4.1.3 Flanerisches Wahrnehmen als Heimatstiftung bei Ruth Beckermann
4.2 Der nomadische Fremde als Interventionsfigur
4.2.1 Merkmale nomadischer Raumerschließung im Wandel der Zeiten
4.2.2 Herkunft und Ausprägungen des Nomadischen als subversive Strategie zur Konstitution kommunikativer Erscheinungsräume
4.3 Subversive flanerische und nomadische Raumerschlie ungsstrategien als programmatische Aktionsmöglichkeiten für urbane Raumbindungsstärkung
5. Urbane Entfaltungsräume in der Praxis. Beispiele gelungener Stadtprojektkonzepte zur nachhaltigen Raumbindungsstärkung
5.1 Der personalisierte Flaneur: Das ‚BuddyGuide‘-Projekt im Ruhrgebiet
5.2 ‚Auf die Plätze!‘: Nomadisch initiierte Eroberungen des öffentlichen Raumes durch Kunst und Kultur
5.3 Flaneur meets Nomade: Das Halberstädter ‚Vorlesepicknick‘ als narrative Umcodierung einer Brachfläche an der Schnittstelle zwischen flanerischer und nomadischer Raumerschließung
6. Verwurzeln und Beflügeln. Mit konfigurativer Raumschaffung zur gezielten Raumbindungsstärkung
7. Quellenverzeichnis
7.1 Literatur
7.2 Filmquellen
7.3 Internetquellen
8. Anhang
Transkript zum Interview vom 18.09.2007 mit André Bücker, damaliger Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters
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Doing Urban Space: Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung [1. Aufl.]
 9783839424483

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Sandra Maria Geschke Doing Urban Space

Urban Studies

Sandra Maria Geschke (Dr. phil.) lehrt Kulturwissenschaft im Studiengang Cultural Engineering an der Universität Magdeburg. Sie erforscht narrative (Stadt-)Raumschaffung und objektbasierte Wirkungsästhetiken.

Sandra Maria Geschke

Doing Urban Space Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung

Zugleich Dissertation unter dem Titel »Verwurzeln und beflügeln – Stärkung urbaner Raumbindungen durch konfiguratives Raumschaffen« an der Fakultät für Humanwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Henry Mertens Lektorat & Satz: Sandra Maria Geschke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2448-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Der Mensch als Summe seiner Räume Einleitende Gedanken | 9



2. Warum Raumbindungen nachlassen Städtische Raumentwicklungen als Dezentralisierungsprozesse menschlicher Bezugsorte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen | 19 2.1 Postmoderne Prozesse radikaler Pluralisierung | 20



2.2 Heterogenisierung der individuellen Lebensweise als Uniformisierungsmotor städtischer Lebenswelten | 30 2.2.1 Schrumpfende Städte | 34 2.2.2 Gentrifizierung als Prozess der Verlagerung  von Raumzugehörigkeiten | 38 2.2.3 Migration als Entörtlichungsphänomen | 41 2.2.4 Enträumlichung durch Virtualisierung | 42 3. Warum Raumbindungen wichtig sind Zur individuellen und kulturellen Bedeutung von Raumschaffung | 45

3.1 Menschen denken räumlich – Eine neurowissenschaftliche Erkenntnis | 48 3.2 Räume sind konstruiert – Annäherungen an einen Raumbegriff | 51 3.2.1 Der homogene Raum | 52 3.2.2 Der relativistische und der relationale Raum | 53 3.3 Raumkonstruktionen als Ergebnis menschlicher und weltlicher Bedingtheiten | 59 3.3.1 Leiblichkeit als Grundlage atmosphärisch gestimmter Weiteräume | 63 3.3.2 Heimatlosigkeit als Motor der Herstellung und Gestaltung von kulturellen Identitätsräumen | 90 3.3.3 Pluralität als Basis kommunikativer Erscheinungsräume | 122



3.4 Zwischenfazit: Wohnen als raumbezogen basale Bildungsaufgabe im Zeitalter der fortgeschrittenen Moderne | 157 4. Wie sich Raumbindungen stärken lassen Narrative Figuren und ihre Raumerschließungspraktiken als Wegweiser zur Herstellung und Förderung urbaner Raumbindungen  | 169



4.1 Der einheimische Flaneur als aktivierter subversiver Heimatkundler | 187 4.1.1 Herkunft und Merkmale flanerischer Raumerschließung | 190 4.1.2 Spatiierende Raumaufspannungen in der Literatur bei Franz Hessel und Arthur Eloesser | 193 4.1.3 Flanerisches Wahrnehmen als Heimatstiftung bei Ruth Beckermann | 218 4.2 Der nomadische Fremde als Interventionsfigur | 224 4.2.1 Merkmale nomadischer Raumerschließung im Wandel der Zeiten | 224 4.2.2 Herkunft und Ausprägungen des Nomadischen als subversive Strategie zur Konstitution kommunikativer Erscheinungsräume | 236 4.3 Subversive flanerische und nomadische Raumerschließ ungsstrategien als programmatische Aktionsmöglichkeiten für urbane Raumbindungsstärkung | 260 5. Urbane Entfaltungsräume in der Praxis Beispiele gelungener Stadtprojektkonzepte zur nachhaltigen Raumbindungsstärkung | 281 

5.1 Der personalisierte Flaneur: Das ‚BuddyGuide‘-Projekt im Ruhrgebiet | 281 5.2 ‚Auf die Plätze!‘: Nomadisch initiierte Eroberungen des öffentlichen Raumes durch Kunst und Kultur | 286 5.3 Flaneur meets Nomade: Das Halberstädter ‚Vorlesepicknick‘ als narrative Umcodierung einer Brachfläche an der Schnittstelle zwischen flanerischer und nomadischer Raumerschließung | 296



6. Verwurzeln und Beflügeln Mit konfigurativer Raumschaffung zur gezielten Raumbindungsstärkung | 303



7. Quellenverzeichnis | 311  7.1 Literatur | 311 7.2 Filmquellen | 332 7.3 Internetquellen | 332 8. Anhang Transkript zum Interview vom 18.09.2007 mit André Bücker, damaliger Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters | 335



1. Der Mensch als Summe seiner Räume Einleitende Gedanken

Die Natur des Menschen ist seine Kultur und somit bekanntlich ein Ergebnis seines Tuns. Kulturelle Gefüge dienen damit als Spielflächen, auf denen sich das gesellschaftliche Leben Einzelner, aber auch von Menschengruppen in ihrer sozialen Dichte vollzieht. Unter all diesen Kulissen, in denen Menschen ihren Wirkungsradius zu entfalten erstreben, kann die Stadt als das wohl vielschichtigste Gebilde getreu eines Mikrokosmos, welcher die wesentlichen gesellschaftlichen Teilsysteme verdichtet und miteinander vernetzt enthält, angesehen werden. Ihre Straßen fungieren als hochkomplexe Schnittstellen menschlicher Handlungen und damit als das, was wir klassischerweise einen öffentlichen Raum nennen. Jährlich erhöht sich die Anzahl derer, die diesen urbanen Raum bewohnen, sodass sich sagen lässt: Noch nie haben so viele Menschen in Städten gelebt, wie dies heutzutage der Fall ist und in Zukunft sein wird. Das trifft zumindest auf Großstädte zu. In kleinen und mittelgroßen Orten sieht die Lage aktuell bereits ganz anders aus. Hier kämpft man um Anwohner und einen prominenten Platz in der Rangliste der lebenswerten Städte vor dem Hintergrund stetig nachlassender Raumbindungen und könnte dabei meinen, die großen Orte haben jene Probleme nicht. Doch auch die Metropolen verzeichnen einen quartierund bevölkerungsschichtbezogenen Raumbindungsverlust und damit eine verstärkte Veränderung dessen, was den öffentlichen Raum zu einem attraktiven Raum werden lässt. Dieser Prozess einer schleichenden Homogenisierung städtischer Lebenswelten hat verschiedene Ursachen und setzt einen sich selbst verstärkenden Kreislauf in Gange, der die Verwurzelung von Individuen an den betroffenen Orten immer unwahrscheinlicher, weil

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unattraktiver macht. Natürlich ist dieser Prozess an den entsprechenden Stellen spür- beziehungsweise sichtbar und dort, wo er identifiziert wird, versuchen die verantwortlichen Instanzen der Verwaltung, Regierung, Stadtplanung, aber immer stärker auch aufgabenbasierte Interessengruppen und Einzelpersonen, mittels großer oder auch temporär ausgerichteter Mikroprojekte diesen Prozess aufzuhalten. Der Erfolg stellt sich mal mehr, mal weniger, selten nachhaltig und häufig auch überhaupt nicht ein. Ein Grund dafür ist häufig eine diffuse Handlungspraxis, die hinter vielen der durchgeführten Stadtraumprojekte deutlich wird und gleichsam auf eine fehlende Klarheit über die notwendig zu hinterlegende Handlungstheorie im Sinne einer Klärung über ein gewinnbringendes Design für eine nachhaltige urbane Raumbindungsstärkung hinweist. Und tatsächlich bringt auch der Blick in die Forschung ein recht enttäuschendes Ergebnis zutage: Hier geraten zwar mit Blick auf die lebenspraktischen Prozesse der Raumbindungsverluste zunehmend Fragen nach den Möglichkeiten eines Aufbrechens jener Negativspirale und damit subversive Partizipationstaktiken bezogen auf den öffentlichen Raum in den Blick, doch verbleiben diese bislang eher auf der mikrostrukturellen Praxis- und damit auf der singulären Konzeptebene, ohne sich in ein modellhaftes Gesamtgefüge von qualitativ ansprechender Lebensraumschaffung und -erhaltung einzufügen, was insgesamt eher zu disharmonischem Rauschen als zu produktiver Klangbreite führt. Forschungsdisziplinen wie der Situative Urbanismus oder das Prinzip des Dérive und Détournement scheinen erfolgversprechend, doch ihr Einsatz vielmehr intuitiv und reflexartig, als reflektiert und bewusst nuanciert zu erfolgen.1 Auch das Subversive, Interventionistische hat im terminologischen Gewand der Kommunikations- und seit kurzem auch Soft Guerilla2 – und hier in den verschiedensten Formen, z.B. des Guerilla Gardenings3

1

Vgl. u.a.: Debord, Guy [(1967) 1996]: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin.bzw. Vaneigem, Raoul (1967): Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. Berlin.

2

Vgl.: Eberhardt, Anke (2011): Soft Guerilla. In: CUT – Leute machen Kleider.

3

Vgl.: Reynolds, Richard (2009): Guerilla Gardening. Ein botanisches Mani-

Nr. 6, 01/2012, München, S. 44-57. fest. Freiburg im Breisgau und Müller, Christa (Hrsg.) (2011): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München.

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oder Urban Cross Stitching – bezogen auf den Stadtraum bereits einige Jahre Konjunktur, jedoch häufig als taktisches Element des kulturräumlichen Handelns anstelle einer strategisch-theoretisierbaren Vorgehensweise im Initiieren und Gestalten von urbangesellschaftlichen Transformationen.4 Ebenso versteht sich das Erforschen städtischer Eigenlogiken als Versuch, Aufschluss über die komplexe Wirkungsweise von Städten zu erhalten, verbleibt dabei aber eher erschließend und weniger operativ.5 Auch der New Urbanism6 zeigt sich als Versuch, sich den individualräumlich entwurzelten Zustandslagen der betroffenen Menschen vor dem Hintergrund der Spätmoderne und ihrer gesellschaftsräumlichen Symptome kompensierend zu widmen. Zwar stellt er flexible, stadtplanerische Lösungen in den Vordergrund, die sich von starren architektonischen und lebensgestaltenden Konzepten abwenden und sich folglich in harmonischen Einklang mit den kontinuierlich fortlaufenden Entwicklungen und gesellschaftlichen Wandlungen bringen lassen sollen und auch kommunale Bemühungen um eine Renaissance der lokalen Eigenart sind an dieser Stelle von nicht unerheblicher Varianz zu nennen,7 doch bleibt auch in den beiden, stellvertretend für

4

Abgesehen vom Begriff des ‚Cultural Hacking‘, der sich in Beerbung des Debordschen Situationismus zwar dezidiert strategisch versteht, doch seinen Fokus hauptsächlich auf ökonomische und künstlerische Kontexte und Prozesse, die beide Bereiche zu verbinden versuchen, richtet. [vgl.: Düllo, Thomas/ Liebl, Franz (Hrsg.) (2005): Cultural Hacking. Kunst des strategischen Handelns. Wien, New York]

5

Vgl.: Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte. Frankfurt am Main.

6

Zu den wichtigsten Vertretern des New Urbanism zählt insbesondere der niederländische Architekt und Stadtplaner Rem Koolhaas, der als Mitbegründer des ‚Office for Metropolitan Architecture‘ (OMA) unter anderem in Las Vegas (Nordamerika), Rotterdam (Europa) und Fukuoka (Asien) tätig ist.

7

„Eine der Strategien besteht in der Förderung konzept- und symbolorientierter und dabei ästhetisch anspruchsvoller und auffallender Gestaltungen. Ihr Prinzip ist nicht die moderne Definition von Territorien durch Bauten und Funktionen, sondern die Erzeugung bedeutungsvoller Orte, als urban empfundener Räume und ephemer Ankerplätze für neue als zeitgemäß verstandene Identitäten. Dazu dienen in kleinerem Maßstab Kunstwerke, die besondere Orte im städtischen Raum markieren. Auch die Einführung größerer, die Aufmerksamkeit zentrierender Symbole, die ganze Stadtteile und das Bild der Stadt im öf-

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die Vielzahl an praktizierten Gestaltungsmethoden angeführten Fällen eines unklar: die Frage danach, ob und wie jene Identifizierungsangebote von den Menschen wahrgenommen und für eine sinnstiftende Raumentfaltung genutzt werden. Anders formuliert steht hinter dieser Frage die bildungs- und kulturdeterministische Frage danach, was dem menschlichen Wesen eigene Bedingungen sind, die durch jene spätmodernen Entwicklungen der Homogenisierung, Mobilität und Enträumlichung der Kommunikation unterlaufen werden und folglich, will man die identitätsbezogen negativen Folgen abfangen, eine stärkere Beachtung erfahren müssen. Diese Frage soll verbunden mit der Frage nach den Möglichkeiten einer menschen- und entfaltungsfreundlichen urbanen Raumschaffung mit der vorliegenden Arbeit eine systematische Beleuchtung und anwendungsbezogene Beantwortung erfahren. Damit möchten die hiesigen Ausführungen die bestehende Forschungslücke zu den Möglichkeiten einer nachhaltigen Raumbindungsstärkung in Städten mittels einer theoretisch fundierten und praktisch anwendbaren Systematik des erfolgreichen Raumschaffens im Sinne eines nachhaltigen Doing Urban Space schließen. Und mehr noch: Die Arbeit widmet sich mit dem Thema Raumbindungsstärkung einem – wenn man so will – Grenzund Zwischenobjekt der Wissenschaften. Über Raumschaffung zu schreiben, heißt zugleich, den Zusammenhang der Konstitution des menschlichen Selbst mit der Konstitution von Welt zu thematisieren. Oder anders formuliert: Mit dem Betrachtungsfeld des (städtischen) Raumes und seiner konstitutiven Verbindung zum Menschen lässt sich prototypisch der Prozess der Seinswerdung eines Individuums in seiner intergenerativen Charakteristik herausarbeiten und deutlich machen, dass dieser als Vorgang per se räumlich geprägt und damit in wechselseitiger Abhängigkeit von Mensch und Umwelt determiniert ist. Menschen erleben ihr Leben räumlich und erspüren ihre Spielräume aus den konstellativen Energien, die im Aufeinandertreffen von Person und Dingen, anderen Menschen, strukturierten Ar-

fentlichen Bewusstsein verschieben sollen, gehört hierher. In dieser Weise fungieren von Stararchitekten errichtete Museen oder Straßenzeilen als Attraktoren im ansonsten undifferenzierten Raum.“ [Hauser, Susanne (2007): Über Städte, Identität und Identifikation. In: Kröncke, Meike/Mey, Kerstin/ Spielmann, Yvonne (Hrsg.): Kultureller Umbau: Räume, Identitäten und Re/Präsentationen. Bielefeld, S. 37.]

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rangements, gesellschaftlichen Reglements und den in ihnen wahrnehmbaren Handlungsoptionen bestehen. Was macht den Menschen also zum Menschen? Die hier unterstellte Hypothese ist, dass es in der Summe die Räume sind, welche er konstituiert, gegen die er sich wehrt, die er erlebt und erleidet und in denen er sich handelnd tummelt. Möchte man diese Unterstellung explizieren und in ihrer Tragweite deutlich machen, wird schnell klar, dass für die Grenzobjekte Mensch und Raum in ihrem Zusammenwirken eine multidisziplinäre Herangehensweise vonnöten sein muss, um das Wechselspiel in seiner basalen Wirkungsweise zu entfalten. Philosophische, neurowissenschaftliche, pädagogische, anthropologische, kulturwissenschaftliche im Sinne von wirkungsästhetischen und phänomenologische Fragen sollen hierzu ein Zusammenspiel erzeugen, welches im Kern Aussagen erwartbar macht, die unser Sein und die Optionen unseres Werdens in ihrer systemischen Entfaltbarkeit zu solchen Größen machen, die räumlich erleb- und beschreibbar sind. Raumbildung ist performative Identitätsbildung und als solche betrifft sie ein jedes Individuum. Kurzum: Da wir alle Raumschaffer8 sind und damit zugleich kollektiv sowie individuell eine Entwicklung von der konstitutiven Bindung zur Welt hin zur Bildung des Selbst durchlaufen, sollten wir uns genau dies auch bewusst machen und in seinen Potenzialen vor Augen führen. Eben diesen hochkomplexen Prozess gilt es in der vorliegenden Arbeit als einen Beitrag zur Erschließung des Menschwerdungsprozesses zu entschlüsseln. Die Stadt als Lebensraum bietet sich dabei nicht nur aufgrund ihrer gesellschaftlichen Situation und den sich in diesem Zusammenhang stellenden Aufgaben9 als Untersuchungsfeld an, sondern sie markiert darüber hinaus einen geeigneten Ort der Entfaltung des Zusammenhangs von Mensch und Raum, gerade weil sie ein vielschichtiges Konglomerat an systemisch verzahnten Settings, d.h. den Ort mit der größtmöglichen Dichte an identifizierbaren kulturellen handlungsräumlichen Strukturierungsoptionen dar-

8

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

9

Der hier verwendete Aufgabenbegriff schließt an die Terminologisierung von Renate Girmes an, in der Aufgaben aus der Spannung von Sein und Sollen eine Lücke markieren, die qua Bearbeitung geschlossen werden kann und soll. [vgl.: Girmes, Renate (2004): [Sich] Aufgaben stellen. Professionalisierung von Bildung und Unterricht. 1. Auflage Seelze (Velber), S. 17-22]

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stellt. Als Ort der Ermöglichung verschiedenster Aufgabenbearbeitungen bringt sie den tätigen Menschen als Gestalter, Manager und (Schau)Spieler und mit ihm verschiedene Formen der räumlichen Artikulation von Selbst und Welt hervor. Doch genügt Raumschaffung allein nicht, um eine Entfaltung des Menschen in seiner Identität zu ermöglichen. Eine Bindung an geschaffene und erlebte Räume stellt den notwendigen zweiten Schritt auf dem Weg zur Menschwerdung dar, da diese im Zusammenhang mit ersterem steht. Um jenen Weg von menschlichen Raumschaffungen zu nachhaltigen Raumbindungen am Beispiel des städtischen Gesellschaftsgefüges zu beschreiten, soll zunächst im Abschnitt 2 der Arbeit aufgezeigt werden, welche neuen und veränderten Gesellschaftsbedingungen zu Raumbindungsverlusten in Städten und an Städte führen. Hierbei werden die durch Prozesse der Spät- bzw. Postmoderne angetriebenen Individualisierungsbewegungen in Abschnitt 2.1 in ihrer Grundlagenrolle für eine verstärkte und sich verstärkende Homogenisierung städtischer Lebenswelten herausgestellt. Welche konkreten lebensweltlichen Uniformisierungstendenzen differenziert werden können, wird bezugnehmend auf diese Klärungen im Abschnitt 2.2 skizziert. Auf der Basis dieses Befundes soll im nächsten Schritt, d.h. im Abschnitt 3, der Frage nach den Gründen für die Wichtigkeit von Raumbindungen für den Menschen nachgegangen werden, um die Relevanz städtischer Bezugsorte für den Menschen genauer beschreiben zu können. Dabei gerät das Individuum in Abschnitt 3.1 als raumschaffendes Wesen in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Aus neurowissenschaftlicher Sicht wird mit Eric Kandel der Aspekt der Raumwahrnehmung näher beleuchtet und aus seinen Forschungsergebnissen eine Beschreibung der Verfasstheit des räumlichen Denkens als Grundoperation des menschlichen Gehirns formuliert. Darauf basierend soll in Abschnitt 3.2 der Raumbegriff näher bestimmt werden. Hierbei werden mit dem homogenen oder absolutistischen Raum der euklidischen Geometrie und Antike in Abgrenzung zum relativistischen und relationalen Raumverständnis der Soziologie des 20. Jahrhunderts die basalen Raumvorstellungen in ihrer Anschlussfähigkeit an die räumliche Denkoperation des Menschen betrachtet, um im Anschluss daran unter Punkt 3.3 die Formen menschlicher Raumkonstruktionsweisen zu explizieren. So soll das symbiotische Verhältnis von Mensch und Raum in seiner Interdependenz vor dem Hintergrund phänomenologischer, anthro-

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pologischer, konstruktivistischer und soziologischer, hermeneutischer sowie bildungswissenschaftlicher Perspektiven in ihrem Zusammenspiel artikulierbar gemacht werden. Ferner soll gezeigt werden, dass die Gründe und Motive für das Tätigsein des Menschen im Kern die Varianten seiner Raumschaffung und damit die vom Individuum konstituierbaren Raumtypen bestimmen. Dabei geraten die menschlichen und weltlichen Bedingtheiten der Leiblichkeit, Heimatlosigkeit und Pluralität, die Hannah Arendt den Aufgaben des tätigen Menschen als Antriebsquellen voranstellt, in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie werden nacheinander transdisziplinär expliziert und damit in ihrer Bedeutung derart aufgeschlüsselt, dass nachvollziehbar zutage tritt, aus welchen Voraussetzungen menschliche Raumschaffung in welcher Weise erwächst. Der Aspekt der Leiblichkeit soll dabei vornehmlich mittels phänomenologischer, anthropologischer, und wirkungsästhetischer Zugänge entfaltet werden, während Heimatlosigkeit und Pluralität entlang psychologischer, philosophischer, raumsoziologischer, sozialgeographischer, politologischer, pragmatischer, hermeneutischer, poststrukturalistischer, bildungs- und kulturwissenschaftlicher, konstruktivistischer und strukturalistischer Betrachtungswinkel ins Visier genommen werden sollen. Ziel dieser multiperspektivischen Auseinandersetzung mit den menschlichen Bedingtheiten nach Arendt ist damit neben der beschriebenen Entfaltung der zu unterscheidenden Raumschaffungsweisen des Menschen in seinen Dimensionen vor allem auch das Deutlichmachen des Umstandes, dass der kompensatorische Umgang mit den zu Beginn konstatierten Raumbindungsverlusten als eine sich gesellschaftlich stellende Aufgabe im Umgang mit den spät- bzw. postmodernen Transformationsprozessen beschrieben werden muss, wenn wir räumlich denkende Wesen sind, die aktiv an der Schaffung von Räumen teilhaben und selbige stets ein Ergebnis der Menschen im Umgang ihrer Selbst mit der Umwelt darstellen. In diesem Zusammenhang soll auch deutlich gemacht werden, welche konkreten Qualitätsansprüche sich aus diesen Erkenntnissen und der explikativen Entfaltung der verschiedenen Raumschaffungsweisen des Menschen an gelungene städtische Räume ergeben und welcher Rolle dabei das Wohnen in seiner umfassenden Bedeutungskraft zukommt. Mit Blick auf die Ausgangsfrage nach den Möglichkeiten der urbanen Raumbindungsstärkung bietet die Aufschlüsselung der Formen des menschlichen Raumschaffens damit erwartbarerweise eine erste und grundsätzliche Antwort in Bezug auf die

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notwendig anzustrebende Verfasst- und Gemachtheit städtischer Räume mit Bindungspotenzial. Es wird in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, dass und wie genau sich die Qualität der Raumschaffung in Städten aus der Charakteristik des Wohnens des Menschen ergibt. Wie sich diese Erkenntnis in die Handlungs- und Planungspraxis umsetzen lassen kann, gerät im Abschnitt 4 der Arbeit in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Hier wird der Schlüssel zu den Fragen des möglichen ‚Wie‘ der Raumbindungsstärkung in der Medialität der Kultur des Wohnens gesehen. Dieser semiotische, an die Grundsätze des New Historicism und der Cultural Studies anschließende Ansatz versteht das Wohnen als Gefüge von Alltagspraktiken, die narrativ repräsentiert und in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit somit medial repräsentierbar sind. Wenn Raumerschließung als ein vor allem personenbezogener, geistiger Vorgang aufgefasst werden kann, der auch konstellationen- respektive aktantenbezogen zu denken ist, dann markiert dies einen gewichtigen Grund für einen genaueren Blick auf personell gebundene Raumerschließungsvorgänge, wie sie bei Michel de Certeau und Roland Lippuner im Betrachtungsmittelpunkt stehen. Ihre Artikulierbarmachung ist im Modus der praktischen Erzeugung, sprich im Gehen, immer nur augenblicklich gegeben und entzieht sich einer zeitlichen Fixierbarkeit. Die Narration kann hier als mediale Fixierungs- und damit Artikulationshilfe dienen. Deshalb soll hier auch zunächst der Zusammenhang zwischen dem bewegungsbezogenen und narrativen Raumschaffen hergestellt werden. Da Räume konstellative Handlungsergebnisse sind, stellen sie als menschliche Konstruktionsleistung Ergebnisse einer Konfiguration dar. Mit Blick auf die möglichen Typen von Raumschaffung geraten in Abschnitt 4.1 und 4.2 mit dem einheimischen Flaneur und dem nomadischen Fremden die beiden medial dominanten Narrative in den Fokus, denen durch die Art ihres Spacings und der Syntheseleistung einmal das Prinzip der Nähe und zum anderen das Prinzip der Distanz in ihrer konfigurativen Raumarbeit zugesprochen werden können. Neben den zentralen Merkmalen und der geschichtlichen Herkunft der flanerischen und nomadischen Raumerschließungsweisen wird für beide Narrative medienanalytisch herausgearbeitet, in welcher Weise sie raumschaffende Potenzialträger sein können und wie sie urbane Raumbindungen in ihrem konkreten bewegungsbezogenen Agieren aufbauen und zu festigen vermögen. So soll nicht nur sichtbar gemacht werden, für welche Raumty-

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pen der einheimische Flaneur und der nomadische Fremde aus welchen Gründen Advokaten darstellen, sondern ferner eine Präzision der Gemachtheit des entsprechenden, mit den Figuren verbundenen Raumbindungspotenzials vollzogen werden. Auf der Basis der beiden genannten KonFigurationen des nachhaltigen Raumschaffens werden hiernach in Abschnitt 4.3 die herausgearbeiteten subversiven flanerischen und nomadischen Raumerschließungsstrategien als programmatische Aktionsmöglichkeiten für eine urbane Raumbindungsstärkung subsummiert und in zwei raumkonstitutive Checklisten überführt. Diese Checklisten können als Werkzeug zur projektbasierten Erzeugung und Stärkung von Verwurzelung und Beflügelung ermöglichenden Entfaltungsräumen auf der Basis flanerischer Raumschaffung und in Bezug zur nomadischen Raumkonstitution ihre Anwendung in den unterschiedlichen Stadtplanungs- und Gestaltungsprozessen, aber auch in der Bewertung und qualitativen Ausdeutung bestehender Projekte und Aktionen finden und damit als ein erstes notwendiges Kontroll- und Planungsinstrument auf dem Weg zu einem theoretisch fundierten und damit strategisch sowie nachhaltig ausgerichteten Doing Urban Space fungieren. Im Abschnitt 5 der Arbeit wird dieser beschriebene Werkzeugcharakter der Checklisten beispielhaft angewandt und über eine Bewertung und Beschreibung dreier existierender Stadtraumprojekte in seiner analytischen Blickschärfung vorgeführt. Mit dem Fazit im Abschnitt 6 und einem forschungsbezogenen Ausblick, welcher neben einer Zusammenfassung der Wege und Möglichkeiten, die das entwickelte Raumschaffungstool bietet und auch die zuvor vollzogenen theoretischen Klärungen zur Raumbindungsstärkung reflektiert, schließt die Arbeit. Und das nicht, ohne die mit der thematischen Bearbeitung vorgenommene disziplinäre Verschränkung als Beispiel und damit als generalisierbare Chance zur produktiven Verschränkung von Bildungs- und Kulturwissenschaft im Sinne eines didaktischen Imperativs einer notwendig zu leistenden Orchestrierung von Transdisziplinarität im wissenschaftlichen Forschungsraum entlang von sich gesellschaftlichen stellenden Aufgaben respektive eines Bearbeitens von ‚matters of concern‘ anstelle bloßer ‚matters of fact‘10 auszuweisen.

10 Vgl.: Latour, Bruno (2007): Elend der Kritik: vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich (u.a.).

2. Warum Raumbindungen nachlassen Städtische Raumentwicklungen als Dezentralisierungsprozesse menschlicher Bezugsorte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen

Zeitgenössische Gesellschaften haben zunehmend damit umzugehen, dass ihnen klassische urbane Raumbindungen verloren gehen. So gehören eine zunehmende Abwanderungsrate und damit das Phänomen der ‚schrumpfenden Städte‘, Auswirkungen einer zunehmenden Globalisierung und damit verbundene Fragen von Raumzugehörigkeiten angesichts vielfach zu verzeichnender Migrationsbewegungen, wie auch verstärkt zu beobachtende Wirkungsraumverluste an homogene Gruppen zu den sichtbaren Phänomenen. Die städteplanerische und stadtpolitische Arbeit, aber auch die individuelle Verortungspraxis der betroffenen Menschen wird angesichts jener Entwicklungstendenzen, welche urbane (Lebens)Räume sowie ihre unregelmäßig wechselnden und zumeist heterogen zusammengesetzten Bezugsgruppen nur schwer in andauernde Verbindungen miteinander zu bringen vermag, vor besondere Herausforderungen gestellt. Sollen Stadtplanung und kommunale Politik den Rahmen setzen für eine erlebbare und anziehungsfähige Attraktivität urbaner Räume, so müssen sie in der Lage sein, auf jene Prozesse angemessen reagieren zu können. Doch häufig gelingt es solchen vor diesen genannten Herausforderungen entwickelten und umgesetzten Projekten nicht, die notwendigen Ziele zu erreichen. Der Grund hierfür ist, dass in den meisten Fällen klare Anknüpfungspunkte und anvisierbare Strukturen zwar bekannt sind, sich aber dennoch nicht klar

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gemacht wird, welche Aufgaben sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der verbesserungswürdigen Ausgangslage und den Zielvorstellungen im Einzelnen genau ergeben. Doch um das Programm für eine angemessene Reaktion auf jene Prozesse entwickeln und umsetzen zu können, bedarf es einer solchen Programmerstellung. Diese lässt sich wiederum nur nach einer genaueren Sichtung der bestehenden Problemlagen und ihrer Ursachen sowie einer explizit darauf aufbauenden Zielformulierung bewerkstelligen. Es muss folglich, möchte man ein passgenaues Fragenset für eine nachhaltig gehaltvolle und aussichtsreich wirksame Herstellung und Erhaltung lebenswerter Stadträume generieren, nicht nur erfasst werden, wie die Probleme en Detail aussehen, sondern auch darauf Bezug genommen werden, auf welchem gesellschaftlichen Boden jene städtepolitischen Herausforderungen wachsen. Mit letzterer Aufgabe sollen die nun folgenden Ausführungen begonnen werden. Auf diese Weise können die im Anschluss genauer ausgeführten Probleme gesellschaftlich eingeordnet und theoretisch unterlegt werden. Wenn es im Abschnitt 3 darum geht, die individuelle und kulturelle Bedeutung von Raumbindungen zu beleuchten und den vorherrschenden Gründen für den urbanen Raumbindungsverlust gegenüberzustellen, wird dieser konzeptionellen Unterlegung somit die basale Rolle zuteil.

2.1 P OSTMODERNE P ROZESSE P LURALISIERUNG

RADIKALER

Unsere Gesellschaft verändert sich täglich. Und typologisierbare Strukturen dieser Veränderung über einen längeren Zeitraum sind für die Forschung Grundbausteine zur Postulierung von so genannten Zeitenwenden. Für einen gesellschaftlichen und politischen Umbruch im Sinne einer Abkehr von alteingesessenen Traditionen wurde seit einigen Jahrhunderten immer wieder der Begriff ‚Moderne‘ und – dies semantisch verstärkend – synonym dazu der Begriff der ‚posttraditionalen Gesellschaft‘1 verwendet. An den ‚Moderne‘-Begriff bindet sich die Fokussierung auf spezielle Paradigmen, welche als programmatischer Überbau jeweils spezielle gesellschaftliche Teilbereiche strukturieren. So diente beispielsweise in der Geistesgeschich-

1

Vgl.: ebenda: 23.

W ARUM R AUMBINDUNGEN

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te die Aufklärung als Emanzipation des Geistes, während die Französische Revolution für den politischen Bereich ein ideeller Durchbruch des persönlichen Freiheitsgedankens war. Diese Konzentration ganzer Denkweisen und Leitbilder in Form einzelner ‚Metaerzählungen‘ konnte lange Zeit paradigmatisch auf das gesellschaftliche Leben einwirken. Der Siegeszug des Städtischen und mit ihm die wachsende Attraktivität des Urbanen gründen auf genau jener Entwicklungslinie und verstehen sich zugleich als Ergebnis einer zunehmenden Individualisierung und Gestaltbarkeit des eigenen Lebensentwurfes. Doch seit etwa 30 Jahren mehren sich Stimmen, die postulieren, dass sich die gesellschaftlich ausgedehnte und alteingesessene Moderne verändert habe.2 Dies thematisierend, geistert seit etwa der gleichen Zeit durch die wissenschaftliche Forschung ein Konstrukt, das jene Annahme, die zeitgenössische europäische und nordamerikanische Gesellschaft befinde sich in einem nach- bzw. spätmodernen Zustand, auf einen Begriff zu bringen versucht: die Postmoderne. Diese Bezeichnung stützt sich hierbei jedoch nicht auf einen konkreten und damit nachweisbaren Gegenstand3, sondern versteht sich vielmehr als programmatische Bündelung gesellschaftlicher Symptome, die einen Bruch mit gängigen Kategorien und Prinzipien der klassischen Moderne darstellen. Da diese Symptome einer anhaltenden Zeitenwende genau jene gesellschaftlichen Veränderungen aufgreifen, die wiederum als Gründe für die nachlassenden urbanen Raumbindungen fungieren, sollen die markantesten von ihnen im Folgenden kurz und in ihrem zum Teil großen, manchmal aber auch nur kleinen Unterschied zu solchen der Moderne skizziert werden. Die Moderne gilt als das Zeitalter festgelegter, zielbezogener Ordnungen, die den Menschen als Orientierungen bei der Gestaltung ihres Lebens dienen. Verhandelt wurden und werden diese Ordnungen auch unter dem Begriff der ‚Großen Erzählungen‘, denen jeweils eine ganz spezifische

2

Vgl. u.a.: Lyotard, Jean-François [1993 (1979)]: Das postmoderne Wissen: ein Bericht. 3. Aufl., Wien. sowie: Welsch, Wolfgang (1988): Unsere postmoderne Moderne. 2. Aufl., Weinheim.

3

Vgl.: McHale, Brian (1992): Constructing Postmodernism. London, New York. und: Zima, Peter v. (1997): Moderne-Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen, Basel.

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handlungsleitende Funktion zugeschrieben wird.4 Als Leitbild der Postmoderne gilt im Unterschied zu jenen narrativ gestützten und an paradigmatischen Leitbegriffen entfalteten Wahrheits- und Erkenntnisidealen, welche eindeutige Zuordnungen im individuellen wie gesellschaftlichen Leben möglich machen, die uneingeschränkte Selbstorientierung im Modus der Unverbindlichkeiten. Das Wahrnehmen von Kontingenz in allen Lebensbereichen kann als Resultat einer einsetzenden Reflexion über die Ideale und Leitbilder der Moderne und einem damit verbundenen Erkennen ihrer fehlenden Ordnung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge verstanden werden. Die ‚Großen Erzählungen‘ als Möglichkeiten, die Welt gemäß einer zentralen Kategorie zu erklären, kamen somit an ihr Ende und mit diesem Ende, das Lyotard aus ebenjenem Grund an die Delegitimierung von menschheitsbezogenen Wissensbeständen knüpft5, verbindet sich gleichsam die Voraussetzung für den fast schon radikalen Pluralismus der Postmoderne. Dieser Pluralismus verkörpert in sich eine permanente „Tyrannei der Möglichkeiten“6, ein steter Druck zur Selbstbestimmung, der sich, so Welsch, nicht gänzlich negativ auswirken könne. Vielmehr stelle er „eine zuinnerst positive Vision dar“7, indem er in Verbindung mit wirklicher Demokratie stehe.8 Somit stellt die Postmoderne eigentlich eine logische Folge in der Entwicklungslinie der Moderne dar. Waren es einst das individuelle Subjekt in seiner gesellschaftlichen Handlungsposition hervorbringende Erzählungen sowie der Glaube an strukturierende Elemente und dem menschlichen Streben hinterlegte beschreitbare Bahnen, so ist es jüngst die sich bestätigende Erkenntnis, dass diese nicht die für das gesamte Leben und jeden Menschen zutreffenden Leitmodelle darstellen, sondern allenfalls einige

4

Wolfgang Welsch fasst die Typen dieser Narrationen wie folgt zusammen: „Die Neuzeit bzw. Moderne hatte drei solcher Meta-Erzählungen hervorgebracht: die Emanzipation der Menschheit (in der Aufklärung), die Teleologie des Geistes (im Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (im Historizismus).“ (Welsch 1988: 32.)

5

Vgl.: Lyotard 1993 (1979): 112-122.

6

Hannah Arendt zit. in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.) (1994): Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main, S. 18.

7

Welsch 1988: 5.

8

Vgl.: ebenda.

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von vielen möglichen Entwürfen und temporär begrenzten Navigationshilfen sind. Das Individuum ermächtigt sich. In den Fokus postmoderner Wahrnehmung tritt nach der Öffnung fester und in sich geschlossener Deutungs- und Erkenntnisrahmen somit das Fragmentarische, Bruchstückhafte und Episodische. Dies bedeute, so führt auch Lyotard den Gedanken positiv fort, keinesfalls eine Abkehr von narrativen Erklärungsmodellen als kommunikative Behältnisse gesellschaftskulturellen Wissens. Vielmehr habe man damit abgeschlossen, das Heterogene auszugrenzen und begonnen, eine Vielzahl von kleinen Erzählungen aus den großen zu generieren.9 Die alleinige Existenz der ‚Großen Erzählungen‘ wurde somit ersetzt durch das temporäre Erscheinen und begrenzte Vorhandensein vieler kleinerer Narrationen als Mixturen und thematische Varianten vorhandener Erklärungsprinzipien, man könnte auch sagen, der postmoderne Bruch mit den großen Erzählungen ist damit zugleich die Fortführung der Metanarrative in Form einer – wenn man so will – alles überspannenden großen Erzählung von der Handlungsermächtigung des Menschen. Gesellschaftliche sowie politische Praxen und Denkweisen setzen sich in der postmodernen Gesellschaft aus multiplen, auch untereinander widersprüchlichen Wahrheits- und Erkenntnismodellen zusammen. Der absolute Wahrheitsanspruch wird ersetzt durch ein Möglichkeitsempfinden, der das Leben zu einer steten Gestaltungsaufgabe werden lässt. Ideen und Seinsentwürfe vermischen sich, Doppel- und Mehrfachcodierungen sind möglich. Das Bricolieren10 wird zum Handlungsprinzip, das die modernen Formen funktionaler Differenzierung ihrer Legitimierungsbasis beraubt. Aus der Einheit und ihrer holistischen Intention wird das Prinzip der in sich wandelbaren Vielfalt.11 Alles Ganzheitliche sowie die damit verbundene Vorstellung eines geradlinigen Strebens im Rahmen festgelegter Machtordnungen werden in Frage gestellt, der Zeitbezug verschiebt sich von einer Zukunftsbezogenheit hin zu einer Ausweitung der Gegenwart in ein – metaphorisch gesprochen – Gebäude unterschiedlichster, untereinander begeh-

9

Vgl. dazu: Lyotard 1993 (1979) sowie Wyss, Beat (2009): Nach den großen

10

An dieser Stelle sei auf Claude Lévi-Strauss verwiesen, der für die Kraft der

Erzählungen. Frankfurt am Main. Bricolage als strategische Handlungsform eintrat. [vgl.: Lévi-Strauss [1994 (1962)]: Das wilde Denken. 9. Aufl., Frankfurt am Main, S. 29-36.] 11

Vgl.: Welsch 1988: 63.

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und durchschreitbarer Möglichkeitsräume. Diese variantenreiche Nutzung des Jetzt verschiebt notwendigerweise die geltenden Handlungsmotive vom Drang nach Kontrolle, Festlegung und Sicherung hin zu Unver bindlichkeiten, Vagheit und – damit verbunden – einem Erfahren von Freiheit. Nach dem Verlust der Gewissheit um die Möglichkeit auf ein identitätsbezogenes Ziel hinzuarbeiten und dieses zu suchen, wird der Weg zum Ziel und es wird notwendig, unterwegs statt lediglich zielbezogen auf der Suche zu sein. In dieser Handlungsart findet sich bruchstückhaft das Prinzip des Seumeschen Verirrens wieder. Dieser Reisetopos lässt den „krumme[n] Weg [zu einem; Anm. SMG 12] Geschenk [werden; Anm. SMG], weil er wo anders hinführt“13. Von Entdeckerlust und Offenheit für das Neue geleitet, gerät Johann Gottfried Seume auf seinem legendären „Spaziergang nach Syrakus“14 zu Beginn des 19. Jahrhunderts über Umwege in die anvisierte Stadt, wodurch die beschriebene Reise erst ihre Qualität erhält. So schreibt er: „Ich verirrte mich abermals und kam, anstatt nach Syrakus, nach Lentini. Es war mir indessen nicht unlieb, die alte Stadt zu sehen, die zur Zeit der Griechen keine unbeträchtliche Rolle spielte.“15 Zudem bezeichnet er sein Verweilen in der durchstreiften Landschaft als „Belohnung“16. Dieses Lustprinzip am Unterwegs-Sein findet seine Adaption in der postmodernen Beschreibung gesellschaftlicher Vorgänge bei Zygmunt Bauman, wenn von postmodernen Gangarten und ihren Figurationen die

12

Ergänzende Anmerkungen des Autors finden sich in den entsprechenden Zitaten in eckigen Klammern mit ‚Anm. SMG‘ versehen.

13

Martin Scharfe geht in seinen Ausführungen zur Kulturgeschichte des Verirrens auf diesen Typus ein, spricht ihm seine auf Erlebnisorientierung und Abenteuergeist zurückzuführende Motivik jedoch fälschlicherweise ab, indem er diese lediglich als Vorwand zur Kaschierung von Misserfolgen verbucht. [vgl.: Scharfe, Martin (1998): Wegzeiger: zur Kulturgeschichte des Verirrens und Wegfindens. Marburg, S. 27]

14

Vgl.: Seume, Johann Gottfried (1803): Spaziergang nach Syrakus. In: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (Hrsg.): Seumes Werke in zwei Bänden. Erster Band. Berlin, Weimar 1990.

15

Ebenda: 326.

16

Ebenda: 325.

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Rede ist.17 Der Grund für dieses implizite Ideen-Recycling, übrigens auch ein postmodernes Prinzip, welches mit dem von Lévi-Strauss skizzierten Bricolieren zusammenhängt, liegt in der Verbindung postmoderner Gangarten mit den ihnen zugrunde liegenden Identitätsbezügen. Baumans Kernthese besagt, dass der Pilger, eine Figur, in der sich prototypisch alle Aspekte moderner Lebensentwürfe vereinheitlicht finden, im Zeitalter der Postmoderne abgelöst wird durch den Spaziergänger, den Vagabunden, den Touristen und den Spieler. Diese vier Figuren seien aufgrund ihrer Programmatik der Ungebundenheit und dauerhaften Selbstbestimmung parallel und gleichzeitig existierende Sinnbilder und damit Lebensstile postmodernen Lebens.18 Was eint nun aber die vier genannten Figuren postmoderner Lebensart? Zunächst folgen sie allesamt dem Ideal fragmentarischer, fluider und variabler Authentizität – im Sinne Lischkas also die Konjunktur gesellschaftsbezogener Performanz19 – und damit die Vorstellung steter Unabgeschlossenheit und Brüchigkeit des Identitätsbildungsprozesses, die dem Ausspruch Baumans zugrunde liegt: „Der Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie heißt nicht Identitätsbildung, sondern Vermeidung jeglicher Festlegung.“20 Doch kann bezweifelt werden, dass die Identitätsbildung, wie Bauman behauptet, im postmodern wahrgenommenen Leben zur marginalen Größe verkommt. Vielmehr ergeht es auch ihr wie den ‚Großen Erzählungen‘. Sie zerfällt als Großprojekt in bruchstückhafte Teilprojekte, was bedeutet, dass

17

Bauman, Zygmunt (1997): Flaneure, Spieler und Touristen: Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburg.

18

„Ich möchte behaupten, so wie der Pilger die passendste Allegorie für die moderne Lebensstrategie und ihre entmutigende Aufgabe der Identitätsbildung darstellte – so bilden der Spaziergänger, der Vagabund, der Tourist und der Spieler zusammen die Metapher für die postmoderne Strategie mit ihrer Furcht vor Gebundenheit und Festlegung.“ (ebenda: 149)

19

Gerhard Johann Lischka bezieht diesen Gedanken von der zunehmenden Wichtigkeit der Performanz in der postmodernen Gesellschaft auf die Artikulationen der zahlreichen zersplitterten und in sich fragmentarischen Weltsichten und prognostiziert, dass diese möglicherweise in späteren Epochen wie Kunststile gebündelt verhandelt werden würden. [vgl.: Lischka, Gerhard Johann (1997): Schnittstellen. Das Postmoderne Weltbild. Bern, S. 16.]

20

Bauman 1997: 146.

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sich die Bildung von Identität rollen- und situationsbezogen vollzieht, sodass man personenbezogen von diversen nebeneinander existierenden Teilidentitäten respektive im Hallschen oder Krotzschen Sinne von fragmentarischen Identitäten21 sprechen muss, deren Andeutungen und Ausprägungen sich situations- und vor allem interaktionsbezogen vollziehen. Auch hier kann wieder von einem individuellen Basteln und Bedienen aus dem gesellschaftlichen Pool an Handlungs- und Seinsmöglichkeiten, existenten Diskursen und verfügbaren Geschichten gesprochen werden.22 Und wie designt man sich sinnerfüllte Lebensbereiche und Situationen? Hier helfen recycelte Ideen und Basteleien dabei, sich den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen und Ebenen zu bedienen, die im modernen Denken differenzierte Gebiete darstellten, deren Trennung funktional begründet wurde. Zum Beispiel können nun Produkte der Hoch- und Massenoder Popkultur uneingeschränkt und ohne den bitteren Beigeschmack von differenzierungstheoretischem Verrat vermengt und ihre Elemente wild rekombiniert werden. Die daraus resultierenden Pastiche-Bildungen sind komplexe Hybridkreuzungen, in denen Zitate und Plagiate als Ingredienzien für die spezifische Würze sorgen. Diesen Patchwork-Produkten entsprechen beispielsweise vielerlei Arten von Medienprodukten und Konsumgüter sowie auch Gebäudekonstruktionen im städtischen Raum, sodass eine spät- oder postmoderne Medientheorie in diesem Sinne als inhaltliche Pastiche-Theorie zu fassen wäre, was mit den gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Cultural Studies oder in Bezug auf eine Adaption der Ideen des New Historicism kongruent gelesen werden kann. Doch zurück zum Pastiche: Heinz-Günter Vester umschreibt dieses Phänomen wie folgt:

21

Vgl. dazu: Hall, Stuart (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt am Main, S. 393-441. sowie: Krotz, Friedrich (2003): Medien als Ressource der Konstitution von Identität. Eine konzeptionelle Klärung auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus. In: Winter, Carsten/Thomas, Tanja/Hepp, Andreas (Hrsg.): Medienidentitäten. Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur. Köln, S. 27-48.

22

Vgl.: Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten und Diskurse. Reinbek bei Hamburg.

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„Das postmoderne Pastiche geht […] über das simple Zitat hinaus. Elemente aus zeitlich, räumlich oder stilistisch entlegenen Sphären werden in das postmoderne Pastiche inkorporiert.23 Bekanntes wird imitiert und aus seinen originalen Kontexten herausgelöst und spielerisch in andere Zusammenhänge implantiert. Die Sinngehalte werden ihrer Aura des Einmaligen und Authentischen24 beraubt.“25

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie basal die im Feyerabendschen Ausruf „Anything goes!“26 verankerte Einladung zur permanenten Wiederverwertung bestehender kultureller und gesellschaftlich kursierender Gedanken und Artefakte für die Beschreibung postmoderner Lebensweise ist, was im übrigen auch und ganz besonders von Belang für jede Wissenschaft und ihr spezielles, disziplinbezogenes Selbstverständnis ist, wenn es ihre Aufgabe ist, sich mit eben jenen pastichisierten Vorgängen der Lebenspraxis und dem Versuch ihrer systematischen Theoretisierung auseinanderzu-

23

So sollte – beiläufig erwähnt – auch (Weiter)Bildung in unserer Zeit funktio-

24

Dass für die Spät- bzw. Postmoderne die Gewissheit darüber laut wird, dass

nieren und angelegt sein. das Authentische verloren geht, hängt mit der Erkenntnis einer Veränderung ihres Erscheinungsmodus zusammen. In der Postmoderne kann nicht mehr von direkter Authentizität gesprochen werden. Stattdessen wird Authentizität nun als inszeniert und damit als performativer Akt verstanden. [vgl. hierzu: Düllo, Thomas (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover. Bielefeld, S. 441-469] Authentizität kann auf der Basis dieser Erkenntnis stets nur ein Abbild und damit mimetisches Vermögen einer darstellenden Kraft sein, deren Gelingen – so würden die Vertreter der ‚Cultural Studies‘ ergänzen – insbesondere vom Wahrnehmungsvorgang abhängig ist. 25

Vester, Heinz-Günter (1993): Soziologie der Postmoderne. München, S. 30.

26

Paul Feyerabend gilt als Fürsprecher für die Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen und damit als Vertreter des wissenschaftstheoretischen Relativismus. So stand sein oben erwähnter Ausspruch als programmatischer Slogan wider eine übergeordnete Wahrheit, die über allen wissenschaftlichen Denkweisen gleichermaßen existiere. Vielmehr vertrat er die Meinung, dass die den einzelnen Paradigmen zugrunde liegenden Leitbilder und Modellvorstellungen untereinander bereits auf so differenzielle Sichtweisen aufbauen, dass ihre Vergleichbarkeit unmöglich ist.

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setzen. Während für den Modernismus Entwicklung und Fortschritt in einem linearen Bewegungsverlauf charakteristisch sind, kennzeichnen den Postmodernismus „eher zyklische Bewegungsmodelle: Schleifen, Rückbindungen, Zurückwerfungen und Verwerfungen. Postmodernismus stellt Gleichzeitigkeit und Durchlässigkeit des in der Moderne Ausdifferenzierten her. Das bedeutet nicht Einebnung von Differenzen, sondern Infragestellung spezifischer Grenzziehungen.“27 Vorfindbar sind diese Liberalisierungsprozesse in allen Gesellschaftsbereichen. Das beginnt bei den Familienstrukturen und ist in Begriffen wie ‚Patchworkfamilie‘ oder ‚binukleare Familie‘ programmatisch eingeschrieben, lässt sich fortführen über Bekleidungs- und Musikstile bis hin zur Klassifizierung sozialer Schichten und Milieus, welche sich nicht mehr einfach nur an den Grenzziehungen der Moderne orientieren können, da sie in Anlehnung an Bourdieu und die von ihm postulierten ‚feinen Unterschiede‘, auf sozialstrukturell neu zu bestimmende Distinktionskriterien verweisen. So sind soziale Unterschiede jenseits von gesellschaftskulturellen Binärstrukturen auf neuen, tertiären Ebenen entstanden. Dabei wird eines sichtbar: „Deutlicher als in der Moderne tritt in der Postmoderne der Bereich zutage, wo sich Differenz- und Pastichebildung abspielen und zugleich soziale Unterschiede artikuliert werden. Dieser Bereich ist die Kultur. Die Kultur durchdringt sozusagen das Soziale, soziale Unterschiede werden kulturalisiert, drücken sich in kulturellen Mustern, Stilen und Vorlieben aus.“28

Die moderne Vorstellung von der Sozialisierung der Kultur wird somit ersetzt durch die Vorstellung von der Kulturalisierung des Sozialen.29

27

Vester 1993: 32.

28

Ebenda: 33.

29

Eben dieser Prozess der Kulturalisierung ist es, der in Verbindung steht mit der Konjunktur und stärkeren Gewichtung popkultureller Artefakte und Bedeutungsaushandlungen in der Forschung der vergangenen Jahre. [vgl. hierzu exemplarisch aus der Fülle der Literatur: Grasskamp, Walter et al. (2004): Was ist Pop? Zehn Versuche. Frankfurt am Main. und Huck, Christian/Zorn, Carsten (2007): Das Populäre der Gesellschaft: Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden.]

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„Die Vorstellung, dass Kultur den Weg der Gesellschaftsentwicklung weise oder zu weisen habe, ist aber eine modernistische Fiktion. Sie beruht auf den Träumen der modernen Kulturintelligenz. Die Postmoderne zerstört diese Träumereien, die der Selbstlegitimation der Intellektuellen dienen möchten. In der Postmoderne ist Kultur, Kommerz, Konsum und Produktion eingerissen. Daraus resultiert nicht die von den Kulturkritikern der fünfziger Jahre befürchtete Massenkultur. Ganz im Gegenteil. Pluralisierung und Diversifizierung schreiten voran, die sogenannte Masse differenziert sich in zahlreiche Zielgruppen und Marktnischen. […] Kultur, auch die sogenannte hohe, wird popularisiert. [Tatsache ist, dass die Kultur aus der sakralen Höhe herab- bzw. aus der existentiellen Tiefe heraufgekommen ist an die Oberfläche und in den Mittelpunkt des sozialen Lebens. Kultur wird kommodifiziert und kommerzialisiert, also als Ware auf Märkten gehandelt. Kultur wird im sozialen Austausch benutzt, um soziale Identität anzuzeigen, um eine soziale Position oder eine Rolle zu stilisieren. Kultur dient dem Self-Management und der Self-Promotion. Sponsoring, Werbung, Promotion gehen mit der Kultur Allianzen ein, die von wechselseitigem Interesse getragen sind.“30

Das Spiel der wechselnden Bedeutungen und Zugehörigkeiten, um individuelle, temporäre Ein- und Abgrenzungen, vollzieht sich somit über den Aktionsmodus des Kulturellen. Oder anders: Das weite Feld der Kultur wird von den gesellschaftlich Agierenden vor dem Hintergrund des skizzierten postmodernen Programmes der Variablilität und Flüchtigkeit täglich neu auf seine situationsbezogen wirksamen Bestandteile hin wie ein Warenhaus durchstreift, aus dem man sich prosumptorisch31 bedient. Dabei ist es nach wie vor relevant, Identitätsangebote zu generieren. Jedoch vollzieht sich dies mit dem Unterschied, dass es nicht ausschließlich soziale Elemente sind, die gesellschaftliche Ordnungen bestimmen. Es sind ebenso kulturelle Produkte und Erscheinungen, die im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess von Zugehörigkeiten und Bedeutungen Orientierungslinien markieren. Anders ausgedrückt: Die sozialdistinguierende Frage nach dem ‚Was‘ wird abgelöst und ersetzt durch die kultur-ästhetische Frage nach dem ‚Wie‘. In diesem Zusammenhang scheint es nicht verwunderlich, wenn bei

30

Vester 1993: 34.

31

Zum Prosumerbegriff siehe: Toffler, Alvin (1983): Die dritte Welle, Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. München.

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Norbert Bolz der Design-Begriff zur Sinngröße und Leitvokabel avanciert. Er schreibt: „Design stellt Sinn dar […]. Design verschafft und ist selbst Orientierung. Deshalb hat das Design niemals ein Sinnproblem, sondern ist seine Lösung – es zeigt, dass der Sinn kein Was, sondern eine Gegebenheitsweise ist […].“32 und endet mit der provokativen, an Marshall McLuhans These von der Formsprache der Medien – ‚The medium is the message.‘33 – erinnernde Feststellung: „Wer heute Kants Frage ‚Was ist der Mensch? ‘ beantworten will, muss Design studieren.“34 Überhaupt stellt sich die Frage nach der Formgebung von gesellschaftlich verfügbaren und individuell sinnfälligen Inhalten zunehmend und besonders dann, wenn es gilt, kulturelle Transformationen plan- und steuerbar zu machen. Das von Gerhard Schulze als zentral für gegenwärtige Lebensprozesse postulierte „Projekt des schönen Lebens“35 vollzöge sich damit über seine Formgebungsweisen in ihrer affizierenden und handlungssteuernden Kraft.

2.2 H ETEROGENISIERUNG DER INDIVIDUELLEN L EBENSWEISE ALS U NIFORMISIERUNGSMOTOR STÄDTISCHER L EBENSWELTEN Diese gesellschaftlichen Entwicklungen im Zuge der fortschreitenden Moderne respektive Postmoderne haben zu einer Dezentralisierung menschlicher Bezugsorte und einer daraus folgenden Uniformisierung städtischer Lebenswelten geführt, die Stadtplanungs- und politische Prozesse auf kommunaler und Länderebene zunehmend vor Probleme einer mangelnden Identitätsstiftung und schwindenden Bürgerbindung stehen lassen. Damit vollzieht sich die logische Konsequenz der beschriebenen postmodernen Lebensweise, die das ‚Anything-goes-Prinzip‘ um eine radikale Formel erweitert zum Prinzip des ‚Anything-goes-anywhere‘. Das Räumliche soll das pastichisierte, wandelbare Leben nicht eingrenzen. Die logische Konse-

32

Bolz, Norbert (1997): Die Sinngesellschaft. Düsseldorf, S. 232.

33

Vgl. dazu: McLuhan, Marshall (2001): Das Medium ist die Botschaft. Dres-

34

Bolz 1997: 232.

35

Schulze, Gerhard (2005): Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt am Main, New

den.

York, S. 37.

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quenz ist, dass Räume heute seit einigen Jahren uniformiert und entindividualisiert werden. Marc Augé führt in diesem Zusammenhang den viel zitierten Begriff der ‚Nicht-Orte‘ ein. Er verweist auf eine in diesen Orten vollzogene Beseitigung identifikatorischer Elemente und Ausdrucksformen, wenn er schreibt: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. Unsere Hypothese lautet nun, dass die Übermoderne Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind […].“36

Zu diesen zählt er explizit „die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die gleichfalls zum Verfall bestimmt sind“37 und visioniert eine sich zunehmend verdichtende Welt, „in der sich ein enges Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist […].“38

In Anlehnung an Michel de Certeaus handlungsorientierten Ausführungen zu Räumen und Orten sowie in Abgleich mit dem Raumbegriff MerleauPontys kommt Augé zu der Erkenntnis, dass der Nicht-Ort der prototypische Raum der Reisenden sei.39 Dies untermauert die hiesigen Proklamierungen von der Orientierung der postmodernen Lebensweise am Prinzip des Unterwegs-Seins weiter, macht deutlich, woran Mobilität und Variabilität sich auszurichten haben, welche sich wiederum u.a. in den Baumanschen Figurentypen des Touristen und Spielers personifiziert finden lassen. Auch Peter Sloterdijk hat sich mit der Entgrenzung von Räumlichkeit und

36

Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnolo-

37

Ebenda: 93.

38

Ebenda.

39

Vgl.: Augé 1994: 103.

gie der Einsamkeit. Frankfurt am Main, S. 92f.

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Verwurzelung im Zeitalter der Postmoderne auseinandergesetzt und für eine Beschreibung des zunehmenden Auseinanderdriftens beider Elemente die Pole „Orte ohne Selbst“ – semantisch mit Augés ‚Nicht-Orten‘ gleichzusetzen – und „Selbst ohne Ort“ gewählt:40 „[…] auf der einen Seite lockern moderne Gesellschaften ihre Ortsbindungen, indem große Populationen sich eine geschichtlich beispiellose Mobilität aneignen; auf der anderen Seite vermehren sich dramatisch die Zahl der Transit-Orte, zu denen für die Menschen, die sie frequentieren, kein wohnendes Verhältnis möglich ist. Somit nähern sich die globalisierenden und mobilisierenden Gesellschaften gleichzeitig sowohl dem „nomadischen“ Pol an, einem Selbst ohne Ort, als auch dem Wüstenpol, einem Ort ohne Selbst – mit einem schrumpfenden Mittelgrund auf gewachsenen Regionalkulturen und ortstreuen Zufriedenheiten.“41

Sloterdijk konstatiert in der komplementären Aufspannung des nomadischen und des Wüstenpols entlang der Achsen ‚Ort‘ und ‚Selbst‘ folglich zwei aufeinander bezogene Prozesse – die örtliche Entsinnlichung durch Etablierungen von Nicht-Orten respektive Transiträumen sowie eine sinnenbezogene Entörtlichung, die Hubertus Fischer in Zuspitzung des Lukácsschen Begriffs der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘42 als ‚mentale Obdachlosigkeit‘ bezeichnet.43 In jene eher kulturpessimistischen Umschreibungen zeit-räumlicher Transformationen lässt sich auch David Harvey einordnen, der von einer „Vernichtung des Raumes durch die Zeit“44 spricht. Anthony Giddens nimmt Bezug auf jene Entwicklung, wenn er eine

40

Vgl.: Sloterdijk, Peter (1999): Der gesprengte Behälter: Notiz über die Krise des Heimatbegriffs in der globalisierten Welt. In: Spiegel Spezial, 6/1999, S. 24-29.

41

Ebenda: 28.

42

Vgl.: Lukács, Georg (1971): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied, S. 32.

43

Vgl.: Fischer, Hubertus (2005): Heimat – was ist das? Reflexionen über einen schwierigen Begriff. In: Institut für Landschaftspflege und Naturschutz, Universität Hannover (Hrsg.): Der Heimatbegriff in der nachhaltigen Entwicklung. Inhalte, Chancen und Risiken. Weikersheim, S. 103.

44

Harvey, David (1989): The Condition of Postmodernity. Oxford, S. 205.

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zunehmende Trennung von Raum und Ort konstatiert45 und bezieht sich damit ähnlich wie Harvey auf die Entbindung der zeitlichen Interaktionskomponente von der örtlichen Präsenz. Dass unter solchen Umständen Identitäten, die – mit Stuart Hall gesprochen – „symbolisch in Raum und Zeit verortet“46 sind, einem anderen Entwicklungsprozess unterliegen, wird hier zusammen mit der Erkenntnis klar, dass vor allem der Aspekt der Heimatschaffung somit zum fortwährenden Prozess avanciert.47 Bereits in den 80er Jahren begann man, diesen in der Augéschen Beschreibung so genannter Nicht-Orte implizierten, schleichenden Prozess der ‚Homogenisierung‘ wissenschaftlich zu untersuchen.48 Dieser bezeichnet den innerstädtischen Wechsel von lokalen Einheiten, deren örtliche Verwurzelung das individuelle Stadtgesicht und seine Charakteristik prägte, hin zu einer uniformen Implementierung überregionaler und international handelnder Großunternehmen in den verschiedenen Stadtzentren z.B. in Form von ‚shopping malls‘49 und – was eine Schwächung der lokalen Kleinzellen noch verstärkt hat – die Ansammlung von Großunternehmen an urbanen Rändern zu so genannten Industriegebieten. Diese tragen der beschriebenen Tendenz Rechnung, dass konsumierbare Designs und Konsumobjekte zum anvisierten Sinnuniversum avancieren. Bolz spricht hierbei, dies unterstützend, von einem Religionsersatz, der negative Energien gewinnbringend zu kompensieren in der Lage sei.50 Doch greift eine Lob-

45

Vgl.: Giddens, Anthony (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main, S. 30.

46

Hall 1999: 426.

47

Siehe Abschnitt 3.3.2 dieser Arbeit.

48

Hier sind besonders zu nennen: Harvey, David (1989): The Condition of Postmodernity. Oxford. und Jameson, Fredric (1986): Postmoderne – zur Logik und Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek, S. 45-102. und Jameson, Fredric (1988): Das politische Unbewusste : Literatur als Symbol sozialen Handelns. Reinbek bei Hamburg.

49

Für eine gezielte Beschäftigung mit dem Phänomen der Shopping Malls sei exemplarisch verwiesen auf den Sammelband von Wehrheim, Jan (2007): Shopping Malls: soziologische Betrachtungen eines neuen Raumtyps. Wiesbaden.

50

Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest. München.

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preisung dieser enträumlichten, uniformiert gestalteten und konsumbezogen identitätsstiftenden Einheitslandschaft, wie bereits angedeutet, zu kurz. Das Tückische an der Homogenisierung formuliert Susanne Hauser so: „Die[se] Prozesse können [zwar; Anm. SMG] als urban empfundene Orte erzeugen, brauchen dazu aber nicht unbedingt eine bestimmte Stadt. Vielmehr entstehen so an den früher charakteristischen Plätzen der Städte Orte, die anderswo auch ihren Platz hätten finden können.“51 Eine „Ausprägung lokaler Besonderheiten“,52 die, wie wir im Abschnitt 3.3.2 noch sehen werden, für die Initiierung von Identifizierungsprozessen grundlegend wichtig sind, kann von solchen ‚Orte ohne Selbst‘ produzierenden, architektonischen und wirtschaftlichen Eingriffen – verharmlosend formuliert – nicht befördert werden. Sie tragen im Gegenteil weiter zu einer Nivellierung identitätsstiftender Bezugspunkte in der realräumlichen Umwelt bei, da sie nur unzureichend Gelegenheiten dazu eröffnen, sich als Individuum in seiner sozialen und personalen Wirksamkeit erfahren zu können. 2.2.1 Schrumpfende Städte Wechselseitig verbunden mit dem großwirtschaftlich gesteuerten Homogenisierungsprozess von Städten ist auch eine wachsende Mobilisierungsbereitschaft der Menschen. Die lebenslange Bindung an einen Ort respektive eine Stadt wurde abgelöst durch die Bindekraft des Arbeitsplatzes, der seit den letzten Jahren häufig zur verantwortlichen Größe für Ortswechsel und die damit verbundene Wahl von Wohnorten geworden ist. Der Verlust von Arbeitsplatzsicherheit bedingt jene in 2.1 beschriebene fragmentarische Lebensorientierung. Man muss prinzipiell immer auch einen alternativen Plan seiner Selbstverwirklichung in der Tasche haben, da jedwede Orientierung brüchig und zeitbezogen wenig stabil sein kann. Flexibilität und eine Orientierung an ortsungebundenen Bezugspunkten stehen einer ortsbezogenen Fixierung somit in erster Linie komplementär gegenüber und begünstigen, um noch einmal die Sloterdijksche Begrifflichkeit heranzuziehen, die Verbreitung der kognitiven Etablierung eines ‚Selbst ohne Ort‘. Dies begünstigt nachhaltig den Schrumpfungsprozess zahlreicher (Klein- und Mittel-) Städte besonders in wirtschaftsschwachen Gebieten und Bundesländern,

51

Hauser 2007: 34.

52

Ebenda.

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während auf der anderen Seite städtische Gebiete vorhanden sind, die permanent wachsen. So wird gemäß einer umfassenden, von der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem ‚Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung‘ (ies) an der Universität Hannover durchgeführten Bevölkerungsvorausberechnung prognostiziert, dass in Hamburg sowie den nord-westlich gelegenen Teilen Niedersachsens, Nordrhein-Westfalens und weiten Teilen Bayerns bis 2020 mit „Einwohnerzuwächsen von knapp drei Prozent“53 zu rechnen sei. Im Raum München fällt diese Zahl mit geschätzten 7-12 Prozent sogar noch größer aus. Spitzenreiter unter den wachsenden Gebieten ist interessanterweise Berlin/Brandenburg mit zum Teil auf über 12 Prozent geschätztem Bevölkerungswachstum in den nächsten 8 Jahren. Südwest-Niedersachsen und Sachsen-Anhalt hingegen zeigen wie auch Sachsen, weite Teile Mecklenburg-Vorpommerns, des Saarlandes sowie Rheinland-Pfalz und Thüringen eine entgegengesetzte Entwicklung. Besonders in den neuen Bundesländern werde mit Ausnahme von Teilen Brandenburgs und Berlin weitflächig von Bevölkerungsverlusten über 12 Prozent ausgegangen.54 Doch nicht nur solche Neuverteilungen der Bevölkerungszahlen sind von Relevanz für Veränderungen in den räumlichen Strukturen unseres Landes. Sie müssen stets auch in Abhängigkeit zur demographischen Alterung unserer Gesellschaft betrachtet werden. Die soeben angeführte Studie hat sich auch mit jenem Aspekt beschäftigt und den deutschlandweiten Altersdurchschnitt in Städten und Gemeinden untersucht. Die Ergebnisse schlagen – pointiert formuliert – folgendes zu Buche: In schrumpfenden Städten und Gemeinden steigt der Altersdurchschnitt mit dem Bevölkerungsrückgang an, während in prosperierenden Städten und Gemeinden mit Zunahme ihrer Bevölkerungsdichte gleichzeitig auch der Altersdurchschnitt sinken wird.55 Am Beispiel Sachsen-Anhalts soll im Folgenden die Charakteristik von Regionen mit erhöhtem Bevölkerungsrückgang skizziert wer-

53

Flöthmann, E.-Jürgen/Tovote, Uwe/Schleifnecker, Thomas (2006): Ein Blick in die Zukunft: Deutschlands Kommunen im Wettbewerb um Einwohner. Ergebnisse einer kleinräumigen Bevölkerungsprognose 2020. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Wegweiser demographischer Wandel 2020: Analysen und Handlungskonzepte für Städte und Gemeinden. Gütersloh, S. 14.

54

Vgl.: ebenda: 14-16. (siehe dort vor allem Abb. 2 und 3)

55

Vgl.: ebenda: 18-20.

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den. Das mitteldeutsche Bundesland beherbergt zahlreiche so genannte ‚Schrumpfende Städte‘, sodass in ihm eine immense Verringerung der Bevölkerungsdichte beobachtet werden kann, die in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach weiter ansteigen werde.56 In Anlehnung an eine von der Bertelsmann Stiftung erstellte demographiebezogene Typisierung von Städten und Kommunen mit mehr als 5000 Einwohnern57, lassen sich zahlreiche Städte und Gemeinden des Bundeslandes dem Typus 4 ‚schrumpfende und alternde Städte und Gemeinden mit hoher Abwanderung‘ zuordnen.58 Die Landeshauptstadt Magdeburg entspricht der Analyse zufolge dem Großstadttypus 3 ‚schrumpfende und alternde ostdeutsche Großstädte‘.59 Mit einem prognostizierten Bevölkerungsrückgang von etwas mehr als elf Prozent gehört sie zwar noch zu den langsamer schrumpfenden Orten im Unterschied zu Halle mit fast siebzehn Prozent Anwohnerverlust, doch ist dieser Wert im Vergleich zum

56

So könne die Einwohnerzahl in Sachsen-Anhalt bis 2020 um nochmals 500 000 Menschen sinken, da gerade junge potenzielle Eltern zu den verstärkt aus dem Lande Wegziehenden gehörten. [vgl.: URL: http://www.iba-stadtumbau. de/index.php?grundlagen; (Stand: 22.02.2008; 17:26 Uhr)].

57

Die Typisierung wurde anhand einer Clusteranalyse möglich, welche genau solche Variablen für die Klassifizierung auswählte, die eine ausgewogene Mischung aus zukunftsbezogenen Handlungsmöglichkeiten und aktuellen Lebens- und Wirtschaftlagen darstellen sollen. Zu diesen Variablen zählen: 1) die Prognose der Bevölkerungsentwicklung bis 2020, 2) das Medianalter 2020, d.h. die voraussichtliche, zukünftige Altersstruktur, 3) die aktuelle Arbeitsplatzzentralität aus dem Jahr 2003, 4) die Arbeitsplatzentwicklung zwischen 1998 bis 2003, 5) die Arbeitslosenquote aus dem Jahre 2003, 6) kommunale Steuereinnahmen pro Einwohner von 2000 bis 2003 als Indikator für den kommunalen, finanzwirtschaftlichen Spielraum, 7) das Qualifikationsniveau der Bewohner 2003 als Anzeiger der Attraktivität des Gebietes für Hochqualifizierte sowie 8) der Anteil von Mehrpersonenhaushalten mit Kindern in 2003. [vgl.: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Wegweiser demographischer Wandel 2020: Analysen und Handlungskonzepte für Städte und Gemeinden. Gütersloh 2006, S. 26f.]

58

Vgl.: ebenda: 24f.

59

Vgl.: ebenda: 41-43.

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Mittelwert 2,1 aller untersuchten Großstädte im deutschen Raum deutlich hoch.60 Kennzeichnend für Magdeburg als Stellvertreter des beschriebenen Typus ‚Schrumpfende (Groß-)Stadt‘ ist eine Vernetzung von demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen, sodass alle untersuchten acht Variablen in ihrer Ausprägung deutlich rückläufig respektive von minimaler Ausprägung sind: „Durch stark rückläufige Bevölkerungszahlen wird voraussichtlich langfristig in einigen Fällen der Großstadtcharakter verloren gehen. Hohe Wanderungsverluste in allen Altersgruppen und ein hoher und weiter stark wachsender Anteil älterer Menschen gehen dabei einher mit sehr hohen Arbeitslosenquoten und einem geringen Einkommensniveau in der Bevölkerung sowie sehr kleinen finanziellen Spielräumen der Kommune. Die Handlungsfähigkeit der Städte ist hinsichtlich der notwendigen Anpassungen an den gesellschaftlichen Wandel somit stark abhängig von neuen kreativen Ideen und externen Mitteln (Umlagen, Subventionen usw.).“61

Ferner ist für den Typus ‚Schrumpfende Stadt‘ charakteristisch, dass insbesondere die junge und – den Bewohnerrückgang nachhaltig weiter verstärkend – mehrheitlich die weibliche Bevölkerung abwandert. Hinzu kommt eine langfristig schwindende Bindung der Fachkräfte und Akademiker an jene Orte durch das Vorherrschen einer fremdbestimmten und wenig Spielraum zur Entfaltung gebenden Wirtschaftslage, denn „nahezu alle kommunalen Haushalte [dieses Typus] sind abhängig von Subventionen und dem kommunalen Finanzausgleich.“62 Dass diese Zustandsbeschreibung nicht unterschätzt werden sollte, zeigt die Tatsache, dass schrumpfende Städte und Gemeinden der beschriebenen Kategorie von allen untersuchten Gebieten den stärksten Bevölkerungsrückgang aufweisen.63

60

Vgl.: ebenda: 43.

61

Ebenda: 41.

62

Ebenda: 77.

63

Vgl.: ebenda: 75.

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2.2.2 Gentrifizierung als Prozess der Verlagerung von Raumzugehörigkeiten Neben dieser beobachtbaren Form der wirtschaftlich-demographisch determinierten Raumbindungsverluste in Städten treten auch solche Homogenisierungstendenzen auf, bei denen eine neue, zumeist statushöhere Bevölkerungsgruppe sich baugestaltlich und atmosphärisch in einen urbanen Raum einschreibt und über die wirtschaftliche und prozessuale Transformation der dortigen Lebensprozesse die vormals örtlich verankerte Bevölkerungsgruppe aus ihrem Stadtteil verdrängt. Der als Gentrifizierung bezeichnete Prozess umfasst einen „Wandel der Bevölkerungs- und Gebäudestruktur (sei es auch nur eine Modernisierung von Wohnungen)“64, welcher sich sowohl über ökonomische Erklärungsansätze65 als auch über soziologische Phasenmodelle veranschaulichen lässt. Letzteres soll auf der Basis der Ausführungen Friedrichs für die hiesigen Ausführungen der Skizzierung des Ablaufs eines prototypischen Gentrifizierungsvorganges dienlich sein: Friedrichs gliedert den Ablauf eines Gentrifizierungsprozesses in vier Phasen auf. Während in der ersten Phase der Fokus auf dem Zuzug von Pionieren66, das heißt, auf Menschen, z.B. Studenten oder Künstler mit einem im Verhältnis zur Mehrzahl der einheimischen Anwohner höheren Bildungsstatus liege, die günstige, freistehende Wohnungen beziehen und die soziale Vielfalt nicht nur bereichern sondern auch suchen, wandern in der Folgephase mit weiteren dieser Pioniere auch die so genannten Gentrifier in das Gebiet ein.67 Dies sind zumeist Paare mit höherer Schulbildung und einem höheren Einkommen. Im Unterschied zu den Pionieren ist diese Gesellschaftsgruppe risikoscheu, das heißt, sie sucht nach einer dauerhaften Wohnumgebung, in die zu investieren lohnt.68 Interessieren sich ebenjene

64

Friedrichs, Jürgen (1998): Gentrification. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.):

65

Hier lässt sich zwischen der Rent-Gap-Theorie und der Value-Gap-Theorie un-

Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen, S. 64. terscheiden. (vgl.: Friedrichs 1998: 64f.; Thomas 2008: 20f.) 66

Zum Pionierbegriff im Zusammenhang mit dem Prozess der Gentrifizierung vgl.: Holm, Andrej (2010): Wir Bleiben Alle! Gentrifizierung – Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster, S. 9f.

67

Vgl.: Friedrichs 1998: 59.

68

Vgl.: ebenda.

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Menschen für ein Gebiet, so wird die Zukunftsträchtigkeit desselben verstärkt auch von Maklern und Investoren genutzt, um Modernisierungen anzutreiben, was in der Folge zu Mietpreissteigerungen führt. Mit der Errichtung von neuen Ladenlokalen zieht das Wohngebiet zunehmend auch solche Personen an, die zum Aufsuchen der Geschäfte und Restaurants von außerhalb kommen.69 Das Stadtbild verändert sich. Dabei sind vor allem gerade durch die qua Sanierung und Modernisierung steigenden Mieten erste Verdrängungsprozesse alteingesessener Mieter beobachtbar. Die dritte Phase kann als Verstärkung der Phase zwei betrachtet werden, denn hier ziehen weitere Gentrifier in das entsprechende Gebiet, welches aufgrund seiner Aufwertung als attraktiv gelabelt und somit auch zum Gesprächsthema in den Medien geworden ist. Die sichtbaren Veränderungen vor Ort erzeugen eine diskursive Auseinandersetzung mit sozialem Konfliktpotenzial, wobei sowohl die Gentrifier als auch Rentner den wahrnehmbaren Wandel häufig als sinnvoll und wünschenswert bezeichnen, die Pioniere jedoch vor allem den Verlust der Heterogenität und Pluralität in der Erscheinung und Wirkung des urbanen Raumes kritisieren.70 Es verfestigt sich ein Kreislauf der Kapitalisierung von Raum. Mieten und Grundstückspreise steigen weiter an, was zum Wegzug von Pionieren führt und durch das Ansiedeln neuer, innovativer Geschäfte weiter Menschen aus anderen Stadtteilen anlockt. Die vierte Phase kann nun als radikalisierte dritte Phase gelesen werden. Es ziehen weitere Gentrifier zu, die Mieten steigen parallel dazu noch stärker an, das Image des Stadtteils ist überregional angesehen und führt durch seine hohen Lebenshaltungskosten zur weiteren Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung und den übriggebliebenen Pionieren. Die Bewohner des Gebietes haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits umfassend ausgetauscht. Man kann hieran gut erkennen, dass der Prozess der Gentrifizierung durch die erhöhte Aufmerksamkeit und den Zuzug der Pioniergruppe in ein Gebiet ausgelöst werden kann. Dabei wird das als Wohn- und Lebensraum dieser Gruppe gewählte Stadtgebiet automatisch aufgewertet, was den Investitionsprozess in Immobilien, Grund und Boden in Gang setzt.71 Jener

69

Vgl.: ebenda: 60.

70

Vgl.: ebenda.

71

Vgl.: ebenda: 61.

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Emergenz-Effekt72 mündet schließlich in einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, was Gentrifizierung zu einem Homogenisierungsprozess im Zusammenhang mit städtischem Raum werden lässt. Der in den 1970er Jahren erstmals in Nordamerika bzw. Kanada73 und erst in den 1980er Jahren in Westdeutschland74 beobachtete Prozess der Gentrifizierung vollzieht sich damit im Wesentlichen als eine „physischräumliche Aufwertung eines innenstadtnahen Altbauquartiers“75 durch ein Zuziehen von jungen, gebildeten, gut verdienenden Aufsteigern verbunden mit einem Verdrängen von Arbeitern, Älteren und Teilen der ausländischen Bevölkerung.76 Die Gentrifier können dabei als recht homogene, sicherheitsbedachte und wohlstandsorientierte Gruppe angesehen werden, die insgesamt einen Prozess der Ortsaufwertung in Gang setzt. Folglich lässt sich der Prozess von zwei verschiedenen Seiten betrachten: So werden durch die Modernisierung von Wohnraum die entsprechenden Stadtteile und Straßenzüge in ihrer Ästhetik und Funktionalität vor dem Verfall bewahrt. Auch steigen die städtischen (Steuer-)Einnahmen mittel- und langfristig an, wenn „statushohe Haushalte nicht aus der Stadt in das Umland abwandern“77. Die qua Karriere- und Kulturorientierung veränderten Lebensweisen jener Menschen erzeugen in der Alltagspraxis veränderte urbane Handlungsmuster und -strukturen.78 Wenngleich jene Transformationen der kulturellen Praxis reizvoll sein und anziehend wirken können, so sind sie dennoch nicht unproblematisch, vereinheitlichen sie in sich als geschlossenes Sinngefüge doch das, was als wünschens- und verachtenswert,

72

Vgl.: ebenda.

73

Vgl.: Smith, Neil/Williams, Peter (Hrsg.) (1986): Gentrification of the City.

74

Vgl.: Dangschat, Jens S./Friedrichs, Jürgen (1988): Gentrification in der inne-

Boston. ren Stadt von Hamburg. Eine empirische Untersuchung des Wandels von drei Wohnvierteln. Hamburg. 75

Thomas, Dirk (2008): Akteure der Gentrification und ihre Ortsbindung: Eine empirische Untersuchung in einem ostdeutschen Sanierungsgebiet. Magdeburg, S. 10.

76

Vgl. u.a.: Thomas 2008 und Dangschat/Blasius 1990.

77

Friedrichs 1998: 66.

78

Hier spricht Thomas mit Verweis auf Alisch/Dangschat 1996 von einer so genannten „kulturellen Umwertung“ (Thomas 2008: 13).

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was als möglich und erschwert bis gar nicht realisierbar erfahrbar wird. Negativ zu betrachten ist darüber hinaus ganz besonders die durch eine stetige Erhöhung der Mietpreise und eine Transformation von Miet- in Eigentumswohnungen angetriebene Verdrängung einkommensschwacher Haushalte aus den zentrumsnahen Gebieten, was jene Homogenisierung der Lebenswirklichkeit im betroffenen Stadtteil konzentriert.79 Dieser Vereinheitlichungsprozess wird in der Forschung gemeinhin als irreversibel betrachtet, was seine Problembehaftetheit gerade in Bezug auf die psychosozialen Folgen wie Wirkraum- und Beziehungsverlust oder soziale Exklusion der Betroffenen deutlich werden lässt.80 Auch in schrumpfenden Städten sei dieser Umstand nach Häußermann und Siebel81 zu berücksichtigen, da hier trotz eines Überangebotes an Wohnraum auch als defizitär zu bezeichnende selektionsgeprägte Quartiere entstehen können, die den Stadtraum in sich fragmentiert und in seiner Lebendigkeit gestört artikulieren. 2.2.3 Migration als Entörtlichungsphänomen Die Existenz von aus Migrationsprozessen hervorgegangenen kulturell heterogen bestückten urbanen Gebieten führt gewöhnlich zu solchen Gruppenbindungen in Stadträumen, die ihre identitätsbezogene Bindungskraft unabhängig von den räumlichen Bezügen aus ihren ethischen, religiösen und sozialen Gemeinsamkeiten generieren. Der besiedelte Lebensraum

79

Vgl.: Häußermann, Hartmut (1990): Der Einfluß von ökonomischen und sozialen Prozessen auf die Gentrification. In: Dangschat, Jens S./Blasius, Jörg (Hrsg.): Gentrification: die Aufwertung innenstadtnaher Wohnviertel. Frankfurt am Main, New York, S. 35-50. und: Kreibich, Volker (1990): Die Gefährdung preisgünstigen Wohnraums durch wohnungspolitische Rahmenbedingungen. In: Dangschat, Jens S./Blasius, Jörg (Hrsg.): Gentrification: die Aufwertung innenstadtnaher Wohnviertel. Frankfurt am Main, New York, S. 5168.

80

„So könne ein erzwungener Ortswechsel, der längere Wanderungsdistanzen bei der älteren Bewohnerschaft zur Folge haben könnte, zum zwangsläufigen Abbruch der sozialen Beziehungen beitragen.“ (Thomas 2008: 15)

81

Vgl.: Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie. Frankfurt am Main, New York.

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spielt hierbei – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle.82 In dieser Vermischung von Fremde und personenbezogener Vertrautheit tritt ein Empfinden von Heimat zum Vorschein, welches sich an dem Verlustgefühl orientiert, das die aktuelle räumliche Positionierung hervorruft. Die mit den Anderen geteilte Fremdheitserfahrung stellt somit abseits respektive anstelle der geographischen Heimat ein interpersonelles Verbundenheitsgefühl und damit eine neue sozial statt räumlich orientierte Form von Heimat her.83 Der Umstand, dass diese Form von Heimatempfinden eine Art Kompensationsreaktion gegen die wahrgenommene räumliche und zum Teil damit verbunden auch kulturelle Fremde darstellt, lässt es zu einer Abschottungsstrategie mit Verinselungscharakter werden.84 2.2.4 Enträumlichung durch Virtualisierung Mit diesem auf Tendenzen der Globalisierung zurückzuführenden Phänomen häufiger werdender Ortswechsel, sei es innerhalb eines Landes oder zwischen verschiedenen Kontinenten, geht ein vierter Aspekt einher, der die Dezentralisierung von Städten als Raum menschlicher Bezüge und Aushandlungen weiter verstärkt: die Enträumlichung von Kommunikation durch die digitalen Medien und ihre Kraft, virtuelle Räume, die zeitlich und räumlich ungebunden an ihre Nutzer existieren, aufzuspannen. „Damit [- so behauptet Martina Zschocke zu Recht -; Anm. SMG] ändert sich nicht nur die umgebende Welt, sondern auch der in ihr lebende Mensch. Kommunikation stellt nicht mehr zwangsläufig Gemeinschaft her.“85 Statt eines lokalen Bezugsnetzes, eines Kommunikationsraumes der Nähe, etablieren sich

82

Vgl.: Hauser 2007: 36.

83

Vgl.: Mitzscherlich, Beate (2000): „Heimat ist etwas, was ich mache.“: eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. 2. Aufl., Herbolzheim, S. 76f.

84

Dieser Aspekt soll in der vorliegenden Arbeit lediglich angedeutet und weniger ausführlich behandelt werden, da es vor allem um den Grundzug des sozialen Heimatstiftens jenseits des territorialen geht.

85

Zschocke, Martina (2005): Mobilität in der Postmoderne: Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland. Würzburg, S. 25.

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Vorstellungen und Ideale vom ‚global village‘86 und medialen Bezugsnetzen der variablen Ferne. Die Form des Mediums verändert – wie McLuhan zu Recht postuliert hat – das Leben der Menschen nachhaltig. Dieses neue Daseinsgefühl kann die fortschreitende Entwurzelung von Wirklichkeitsräumen weiter befördern, da die raum-zeitlichen Verhältnisse, wie sie die Medien generieren, „die Erfahrungen und Abbildungen von Nähe, Ferne und Zeitabläufen“87 zu großen Teilen verändern. „Da im hypermobilen und schnellen Hin- und Herpendeln kaum mehr Zeit für eigene Verortung besteht, übernehmen Oberflächenwerte mit Konsumcharakter zunehmend die Lebensorientierung.“88 Die Bindung an Räume erfolgt vor diesem Hintergrund nicht lebensweltorieniert, sondern vorrangig funktional zur konsumptorischen Bedürfnisbefriedigung. Identitätsbildung würde sich somit global über konsum- und güteraneignungsbezogene Sinnstiftungsaktionen vollziehen.89 Der durch jenen in der Kontinuität der Bewegung verkümmerten Platzierungsversuch gesteigerte Drang nach Konsum wird wiederum uniform und damit ortsunabhängig schnell lokalisierbar bedient durch die wirtschaftlich homogenisierten Stadtzentren und ihre mustergültige Anordnung von Einkaufszentren. Andersherum kann auch behauptet werden, dass gerade die Ähnlichkeit der Strukturen jene raumwandlerische transnationale Lebensweise ermögliche.90 An dieser Stelle der Ausführungen wird klar, dass alle vier Prozesse auf jene als postmodern zu befundenden Symptome aufbauen und in einem kreislaufartigen Prozess zueinander wirken, was dazu führt, dass sie sich wechselseitig verstärken. Im Resultat dieses Wirkungsgefüges aber wird der Stadtraum

86

Der Begriff wurde von Marshall McLuhan erstmals in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet.

87

Zschocke 2005: 25.

88

Ebenda: 30f.

89

Hier sei nochmals verwiesen auf Bolz, Norbert (2002): Das konsumistische Manifest. München. sowie auf Wöhler, Karlheinz (2001): Topophilie: Affektive Raumbindung und raumbezogene Identitätsbildung. (Materialien zur angewandten Tourismuswirtschaft 37, Neue Folge) Lüneburg.

90

Vgl.: Dabag, Mihran (2000): Genozid und weltbürgerliche Absicht. In: Bolz, Norbert/Kittler, Friedrich/Zons, Raimar (Hrsg.): Weltbürgertum und Globalisierung. München, S. 44ff.

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und auch der Mensch auf die Dauer seiner Wurzeln beraubt und verliert damit (ein Stück) seine(r) Identität.

3. Warum Raumbindungen wichtig sind Zur individuellen und kulturellen Bedeutung von Raumschaffung

Doch welcher Logik kann man folgen, will man realweltliche Zugehörigkeitsräume auch im Zeitalter der Variabilität, Multioptionalität und Instabilität herstellen und in Ihrer Wirksamkeit örtlich verankern? Um dieser Frage nachzugehen, scheint es sinnvoll, jene genannten Probleme gesellschaftlicher Strukturen in der fortschreitenden Moderne und mit ihnen die wesentlichen Punkte der Moderne-Postmoderne-Diskussion in Beziehung zu setzen mit den individuellen und kulturellen Bedeutungen, die Raumbindungen zeitunabhängig für den in der Gesellschaft verankerten Menschen besitzen und die im zunehmenden Widerstreit zu den gegenwärtigen Entwicklungen stehen. Hierbei stellt sich zunächst die Frage danach, ob denn (urbane) Raumbindungen noch immer einen besonderen Stellenwert für den Menschen der Spät- bzw. Postmoderne besitzen oder ob sie ihre Relevanz nicht im Zuge der fortschreitenden Moderne verloren haben.1 Martina Löw konstatiert in Referenz auf urbane Enträumlichungsprozesse, die auf den vorangegangenen Seiten bereits unter den Begriffen ‚Homogenisierung‘, ‚Mobilität‘, 1

Unter kulturpolitischen Gesichtspunkten haben beispielsweise die Ereignisse des 11. Septembers 2001 die Frage nach dem Zusammenhang von Identität und Raum diskursiv neu aufkommen lassen und bieten seither diversen wissenschaftlichen Bereichen Anlass zur ethnologischen, politikwissenschaftlichen oder kulturgeografischen Auseinandersetzung mit dem Raum-KulturVerhältnis.

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‚Gentrifizierung‘, ‚Schrumpfung‘ und ‚Enträumlichung der Kommunikation‘ als Symptome der fortschreitenden Moderne skizziert wurden, „dass Raum wieder als Problem wahrgenommen wird.“2 Auch Foucault betont die weiter zunehmende Relevanz des Raumes für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Beschreibung.3 Die bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vollzogene Abkehr von den raumtheoretischen Betrachtungen hat vielschichtige, vorrangig politische Ursachen, von denen wohl die geografisch untermauerten politischen Argumentationen im Zuge des Zweiten Weltkrieges am meisten zur begrifflichen Abwertung des Aspektes ‚Raum‘ im Zusammenhang mit soziologischen Gesellschaftsbezügen und seiner Tabuisierung beigetragen haben.4 Seit einigen Jahren hingegen ist vermehrt von einer Renaissance des Raumes die Rede. So kann im kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld – dies indizierend – neben dem ‚spatial turn‘, der den Raum erneut zum disziplinübergreifenden Betrachtungsgegenstand werden ließ, sogar von einer ‚topographischen Wende‘, welche seit einiger Zeit „Repräsentationsformen von Raum“5 aus vielschichtigen, interdisziplinären Zugangsweisen zu ihrem Gegenstand macht, gesprochen werden.6 Diese Entwicklung lässt sich sozialwissenschaftlich mit der Mangelhypothese von Ronald Inglehart erklären. Sie besagt, „dass diejenigen Bedürfnisse von Individuen am höchsten bewertet werden, die unbefriedigt bleiben.“7 In einer Gesellschaft,

2

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main, S. 11.

3

„Ich glaube also, dass die heutige Unruhe grundlegend den Raum betrifft – jedenfalls mehr als die Zeit.“ [Foucault, Michel [1991 (1967)]: Andere Räume. In: Wentz, Martin (Hrsg.): Stadt-Räume. Frankfurt am Main, New York, S. 66.]

4 5

Vgl.: ebenda: 11f. Günzel, Stephan (2007b): Raum – Topographie – Topologie. In: ders. (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld, S. 13.

6

Eine der aktuellsten und umfassendsten Bestandsaufnahmen zur Raumdebatte in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen liefert der Sammelband von Günzel 2007a.

7

Kranz, Ingo (2007): Die Problematik des situativen Führens auf der Grundlage hoheitlicher Gewalt unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wertewandels. o.O., S. 5.

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welche durch Individualisierungstendenzen und Enträumlichungsvorgänge gekennzeichnet ist, entstünden bei den Menschen – Ingleharts Ausführungen zufolge – automatisch dieser Gerichtetheit entgegengesetzte Ansprüche nach räumlicher Bindung und zwischenmenschlicher Gruppenzugehörigkeit.8 Mit Hall gesprochen, gerät somit im Zuge der Möglichkeit einer Abkehr vom Lokalen auch und vor allem die Option einer Relokalisierung als Kompensationsreaktion auf ebenjenen Prozess in den Handlungsmittelpunkt.9 Auf den vorangegangenen Seiten ist der Raum- und Ortsbegriff zunächst alltagssprachlich für territoriale Wohn- und Lebensbereiche verwendet worden. Es sollte hierdurch in Abschnitt 2.1 erreicht werden, einen allgemeinen Überblick über grundlegende Entwicklungen und Veränderungen des gesellschaftlichen Raumes der Spät- bzw. Postmoderne zu skizzieren, der zum einen realgesellschaftliche Stellen ausfindig macht, deren Entwicklungen sich absehbar suboptimal vollziehen werden und der zum anderen zugleich deutlich machen kann, welche Herausforderungen sich in Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Raum‘ bezogen auf unsere aktuelle Lebenssituation ergeben. Die Grundthese vom Nachlassen der Raumbindungen in unseren posttraditionalen Gesellschaften konnte durch jene Ausführungen belegt werden. Eine zweite, dieser ersten zunächst komplementär entgegenstehenden These soll nun herausgearbeitet und zur vorangegangenen in Beziehung gesetzt werden. Sie handelt von der Wichtigkeit von Orten und Räumen für menschliche Identitäts- und Sinnbildungsprozesse und versucht die Frage zu beantworten, warum es den ureigenen, menschlichen Eigenschaften entspricht, ein Heimat- und Verbundenheitsgefühl an realweltliche Handlungs- und Lebensräume zu knüpfen.

8

Laut Inglehart orientieren sich die individuellen Prioritäten eines Menschen dergestalt an seiner konkreten sozioökonomischen Umwelt, dass die empfundene Knappheit von Dingen ihren subjektiven Wert erhöhe. Das knappste Gut werde somit im Laufe der Zeit ungeachtet seiner wirtschaftlichen, sozialen oder materiellen Art zum begehrtesten Gut avancieren. [vgl.: Inglehart, Ronald (1998): Modernisierung und Postmodernisierung: kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften. Frankfurt am Main, S. 53f.]

9

Vgl.: Hall 1999: 429ff.

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3.1 M ENSCHEN DENKEN RÄUMLICH – E INE NEUROWISSENSCHAFTLICHE E RKENNTNIS Die Wiederentdeckung des Raumes und seiner Relevanz für den Menschen geht im Besonderen einher mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum menschlichen Denken. Hiernach ist das räumliche Denken die basale, zu erlernende Denkoperation des Menschen. Sie ist als Fähigkeit bereits angelegt und gehört demgemäß als kognitives Potenzial zur Grundausstattung eines jeden Individuums. Das räumliche Denken, ein Ergebnis der Informationen aller Sinnesorgane, erzeugt in seiner Permanenz ein stetig wachsendes, räumliches Gedächtnis, das „die Einspeicherung und […] [den; Anm. SMG] Abruf räumlicher Erinnerungen“10 möglich werden lässt. Eric Kandel formuliert es so: „Da wir kein Sinnesorgan haben, das für den Raum zuständig ist, ist die Repräsentation des Raumes eine im Wesentlichen kognitive Empfindungsfähigkeit: das Bindungsproblem im Großen. Das Gehirn muss den Input verschiedener Sinnesmodalitäten kombinieren und dann eine vollständige innere Repräsentation erzeugen, die sich nicht ausschließlich auf einen bestimmten Input stützt.“11

Alle dem Menschen zur Verfügung stehenden Sinne können vor diesem Hintergrund als „analytische Triumphe“12 bezeichnet werden, da selbst die vielschichtigsten Maschinen in ihrer Leistung ihr Vermögen nicht annähernd zu ersetzen in der Lage wären.13 Welche kognitive Leistung mit dem räumlichen Gedächtnis nun im Detail verbunden ist, wird deutlich, wenn man jene anhand der monosensorischen Eindrücke nur eines Sinnes nachzeichnet. Auf Studien aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aufbauend, die sich mit der Repräsentation des Tastsinns bei Säugetieren beschäftigten, wird die innere Repräsentation des Raumes seit den letzten Jahrzehnten systematisch weiter erkundet. Die in den 60er Jahren entstandene Forschungsrichtung der kognitiven Neurowis10

Kandel, Eric R. (2006): Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung

11

Ebenda: 333f.

12

Ebenda: 324.

13

Ebenda: 323.

einer neuen Wissenschaft des Geistes. München, S. 321.

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senschaft nahm sich dem Phänomen der inneren Repräsentation der äußeren Umwelt an und legte offen, „dass der Raum tatsächlich die komplexeste sensorische Repräsentation ist.“14 Mit anderen Worten: Menschen (sowie die meisten untersuchten Tiere) denken räumlich. Mithilfe jener erwähnten Studie aus den 30er Jahren konnte bereits nachgewiesen werden, dass Körperoberflächen mittels bestimmter Prinzipien im Gehirn, genauer im somasensorischen Cortex, repräsentiert werden. Zu den Prinzipien dieser Repräsentation gehörten einerseits die Systematisierung der kognitiven Abbildung nach einzelnen Körperteilen, deren topographisches Gelände seine Größenverhältnisse andererseits nach den Relevanzen der einzelnen Körperteile erlangt, da „jeder Körperteil […] proportional zu seiner Bedeutung für die Sinneswahrnehmung, nicht zu seiner Größe dargestellt“15 werde: „Daher sind Fingerspitzen und Mund, außerordentlich tastempfindliche Regionen, [beim Menschen; Anm. SMG] viel größer repräsentiert als die Haut des Rückens, die zwar ausgedehnter, aber weniger tastempfindlicher ist. Diese Verzerrung gibt die Dichte der Tastrezeptoren in verschiedenen Körperregionen wieder. Woolsey stieß später bei anderen Versuchstieren auf ähnliche Verzerrungen. Bei Kaninchen beispielsweise haben Gesicht und Nase die ausgedehntesten Repräsentationen im Gehirn, weil sie für das Tier die wichtigsten Werkzeuge zur Erkundung seiner Umgebung sind.“16

In weiteren Studien der 50er Jahre wurde zudem festgestellt, dass im somasensorischen Cortex jede Körperstelle einen eigenen Platz besitzt, der bei Berührungen stimuliert werde. Ferner verfüge jede Berührungsart, auch Submodalität genannt, über eine eigene Spur im Gehirn, die durch zu Säulen angeordnete Nervenzellen genau klassifiziert weitergeleitet werde. Auf diese Weise ist es möglich, dass jede Submodalität „getrennt analysiert, rekonstruiert und erst in späteren Stadien der Informationsverarbeitung wieder mit den anderen kombiniert“17 werde. Dass der Hippocampus, ein Teil des limbischen Systems im Gehirn, Träger des räumlichen Gedächtnisses und wie ein Muskel angelegt ist, belegen weitere Studien. So wurde das

14

Ebenda: 325.

15

Ebenda.

16

Ebenda.

17

Ebenda: 326.

50 | D OING URBAN S PACE

Gehirn von Londoner Taxifahrern, deren Straßenkenntnisse äußerst gut trainiert waren, mithilfe der funktionellen Kernspintomographie untersucht. Dabei stellte man fest, dass ihr Hippocampus größer als der Gleichaltriger in anderen Berufen war.18 Der Hippocampus muss demzufolge wie ein Muskel angelegt sein, dessen Größe abhängig von der Intensität und Häufigkeit seiner Benutzung ist. Bei häufigem Navigieren im Kopf wird dieser stimuliert und somit trainiert. Räumliches Denken kann daher im wahrsten Sinne des Wortes als ‚Denksport‘ bezeichnet werden. Jene Ausführungen zu den Erkenntnissen der räumlichen Arbeitsweise des Gehirns machen darüber hinaus folgendes deutlich: Menschen besitzen zwar die Fähigkeit, räumlich zu denken, doch muss die topographische Landkarte im Gehirn erst von Grund auf angelegt werden. „Das Gehirn zerlegt [hierzu; Anm. SMG] seine Umgebung in viele kleine, mosaikartige Felder, die einander überschneiden und alle durch Aktivität in spezifischen Zellen des Hippocampus repräsentiert werden.“19 Trotz dieser absoluten Komplexität sei noch ergänzt, dass sich „diese innere Karte des Raums“20 bei Erwachsenen bereits nach etwa 15 Minuten Präsenz an einem Ort entwickelt. Dies ist ein wichtiger Umstand, da er Rückschlüsse darauf zulässt, dass das kognitive Anlegen einer topographischen Karte und damit Prozesse der Verortung wie auch Orientierung dauerhafte Lernprozesse sind. Um die räumliche Karte im Gehirn über einen längeren Zeitraum zu stabilisieren, kommt der Aufmerksamkeit beim Anlegen der repräsentativen Raumstruktur eine bedeutende Aufgabe zu, da durch sie die Verbindung einzelner Bildkomponenten zu komplexen Gefügen und ihre Langzeitspeicherung erst möglich wird.21 Zusammenfassend kann man mit den Worten Kandels bei dem Phänomen der ‚räumlichen Karte‘ auf Basis der hier kurz skizzierten Ergebnisse von einem „neuen Repräsentationstypus“ sprechen, „der auf einer Kombination aus apriotischer Erkenntnis und Lernen beruht.“22 Die natürlich gegebene Fähigkeit zur „Bildung räumlicher Karten“23 muss vom Menschen

18

Vgl.: ebenda: 332.

19

Ebenda: 335.

20

Ebenda.

21

Vgl.: ebenda: 335-342.

22

Ebenda: 335.

23

Ebenda.

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erst in realen Umwelten erprobt und damit trainiert werden. Die von O’Keefe zu Beginn der 70er Jahre entdeckten Ortszellen im Gehirn reagieren ferner nicht im klassischen Sinne auf die Abbildung von Sinneswahrnehmungen, sondern erstellen ein räumliches Bild, das immer auch die (emotionalen) Annahmen des Subjektes berücksichtigt. Folglich – und das wird für die anschließenden Raumbetrachtungen von Relevanz sein – entspricht eine Beschäftigung mit Raum und Raum-Bildern erstens der basalen menschlichen Denkoperation und operiert zweitens stets mit menschlich gefilterten und aufmerksamkeitsbezogen selektierten Kartierungen, die demzufolge als heterogen und relational zu charakterisieren sind. „Die allgemeine Fähigkeit zur Bildung räumlicher Karten besitzt der Geist von Natur aus, nicht aber die besondere Karte.“24 Mit dieser Aussage weist Kandel auf die dritte Erkenntnis der neurowissenschaftlichen Untersuchungen hin, die kurz gesagt lautet: Räume werden konstruiert.25 Mit diesen Ergebnissen neurowissenschaftlicher Forschung im Hintergrund lässt sich nicht nur eine Beschäftigung mit ‚Raum‘ und die Konstatierung der Wichtigkeit von Raumbindungen für den Menschen legitimieren. Gleichsam lenken die Forschungserträge den Blick bei der Erfassung der semantischen Breite des Raumbegriffes auf dem Weg zur Klärung der Fragen, als was Raum phänomenologisch fungieren kann, welche Bedeutung sich für die hiesigen Ausführungen als besonders geeignet darstellt und – daraus ableitbar – aus welchen Gründen Raumbindungen für den Menschen von besonders großer Relevanz sind.

3.2 R ÄUME SIND KONSTRUIERT – A NNÄHERUNGEN AN EINEN R AUMBEGRIFF Wenden wir uns also zunächst dem Raumbegriff zu, der in wissenschaftlichen Diskursen im Wesentlichen in Referenz auf zwei miteinander konkurrierende Konzepte und einem hieraus synthetisierten dritten Konzept gebraucht wird. Zum einen kursiert, und das bereits seit der Antike, die Vor-

24 25

Ebenda. So verwendet das menschliche Gehirn allozentrische Koordinaten, die „die relative Position des Organismus zur Außenwelt und die Beziehung externer Objekte zueinander“ speichert (ebenda: 334.).

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stellung vom Raum als dreidimensionaler Behälter, der Menschen und Gegenstände einheitlich umgibt. Auf der anderen Seite existiert die weitaus jüngere Auffassung, dass Räume unterschiedlichster Art nicht per se vorhanden, sondern von Akteuren hergestellt werden müssen. Jene RaumBilder – wissenschaftlich terminologisiert als a) der homogene und damit absolutistische Raum der euklidischen Geometrie und b) der relativistische Raum in Form eines fließenden Netzwerkes respektive c) der aus beiden Typen abgeleitete relationale Raum – sollen nun in aller Kürze umrissen werden, wobei der relationale Raumbegriff, dies sei nicht zuletzt in Referenz auf die soeben beschriebenen Erkenntnisse zum räumlichen Denken angedeutet, für die vorliegende Arbeit von übergeordnetem Interesse sein wird. 3.2.1 Der homogene Raum Die euklidisch geschulte Raumwahrnehmung konstatiert einen den Menschen und die Dinge umgebenden Raum, dessen Betrachtung über einen festen Standpunkt vollzogen wird. Der Betrachter ist hier immer Teil des Raumes, d.h. vom Raum umschlossen, was den von Einstein geprägten metaphorischen Raumbegriff des Behälters evozierte. Als homogener, dreidimensional angelegter Raum führen Referenzen auf ihn stets zu perspektivischen Abbildungen und Beschreibungen, die nach ebensolchen Kriterien strukturiert sind26. In der euklidischen Geometrie, doch auch in der Malerei z.B. des Impressionismus oder Realismus fand und findet jene Raumvorstellung eine verstärkte Anwendung. Markant ist die Tatsache, dass ein absolutistisches Raumverständnis das Nebeneinander konkurrierender Raumansichten negiert. Stattdessen imaginiert es festgelegte Größen- und Längenverhältnisse. Es bestimmt darüber Lageabstände, indem es Nähen und Distanzen konkretisieren hilft. Als Teil des mentalen Programmes ist dieser absolutistische Raumbegriff in Form der Behältermetapher und einer Gewissheit darum, dass wir stets von einem Raum umgeben sind, auch heute noch charakteristisch für Alltagswahrnehmungen und dominant in den gängigen Naturwissenschaften. Auch die Sozialökologen der Chicagoer Schu-

26

Vgl.: Weibel, Peter (1995): Die virtuelle Stadt im telematischen Raum. In: Fuchs, Gotthard/Moltmann, Bernhard/Prigge, Walter (Hrsg.): Mythos Metropole. Frankfurt am Main, S. 215f.

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le27 legen Ihren Untersuchungen das Verständnis von einem Raum, der in einzelne voneinander abgrenzbare, verschieden große Behälter – auch als ‚Territorium‘ oder ‚Ort‘ betitelt, eingeteilt werden kann, zugrunde. Der dreidimensionale, homogene Behälterraum ist somit ein gängiges mentales Modell. Zurückführen lasse sich die Gewissheit ‚in einem festgelegten und abgrenzbaren Raum zu leben‘, dies subsumiert Martina Löw, auf die „praktische[…] Relevanz euklidischen Wissens, […] [die; Anm. SMG] Nivellierung der Differenz zwischen Modell und Anschauung in der schulischen Vermittlung sowie auf […] [den; Anm. SMG] Einfluss der kulturell tradierten Raumvorstellung (maßgeblich basierend auf der antiken Raumvorstellung und dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos)“28. Anhand dieser Aufzählung wird bereits deutlich, dass auch Lern- und Raumbildungsprozesse nach wie vor maßgeblich an einer Tradierung des euklidischen Raumes beteiligt sind29, wenngleich seit einiger Zeit und nicht zuletzt durch die Entwicklungen im Bereich der digitalen Informationstechnologien die Gewissheit laut wird, dass eine absolute Definition von Raum (und auch von Zeit) als gesetzte, präaktionale Größe(n) nicht als die einzig mögliche(n) Vorstellung(en) denkbar sein kann. 3.2.2 Der relativistische und der relationale Raum Mit dieser Annahme verbindet sich der Kern relativistischer Raumvorstellungen: die Konstruierbarkeit von Räumen durch unterschiedliche Handlungen. Das Bezugssystem des Menschen wird hierbei zur raumkonstituierenden Größe und hebt das in der euklidischen Raumvorstellung selbstverständliche Nebeneinander von Raum und Körper auf. Jene Gewissheit, dass Raum nicht ausschließlich euklidisch und gemäß des dreidimensionalen

27

Vgl. hierzu: Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (1994): Gemeinde- und Stadtsoziologie. In: Kerber, Harald/Schmieder, Arnold (Hrsg.): Spezielle Soziologien. Problemfelder, Forschungsbereiche, Anwendungsorientierungen. Reinbek, S. 363-387. sowie u.a.: Bulmer, Martin (1984): The Chicago School of Sociology. London.

28

Löw 2001: 78.

29

Vgl.: Kruse-Graumann, Lenelis (1974): Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie. Berlin u.a., S. 33.

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‚Ausdehnungsapriori‘ zu denken sei30, deutet sich erstmals in der abstrakten Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. So experimentierten expressionistische Künstler in ihren Werken beispielsweise mit Möglichkeiten, geistige Stimmungen und Wirkungskräfte realgesellschaftlicher Handlungen räumlich sichtbar zu machen und etablierten auf diese Weise einen bis dato ungewöhnlichen strukturellen Zugang zu den Bestandteilen des Raumes und ihren (sozial wirksamen) Verhältnissen zueinander. Auch im Dadaismus ist eine raumbezogene Emanzipation von der perspektivischen Darstellung Teil des Gestaltungsprogrammes. Die minimalisierende Vergegenständlichung und spielerische Dekonstruktion des Inhaltlichen, wie sie bei Lyonel Feininger oder Wassily Kandinsky als Stilelemente zu finden sind, erzeugen für den Beobachter Wahrnehmungsweisen, die mit dem absolutistischen Raumbegriff nicht in Einklang zu bringen sind. Auf diese Weise „erfährt die Dekonstruktion des Raums [in der zeitgenössischen Kunst; Anm. SMG] eine neue Qualität, insofern als die Gleichzeitigkeit virtueller und realer Präsenz zentrales Thema ist.“31 Dies wird vor allem auch dem Umstand gerecht, dass Raumvorstellungen die objektiven Gegebenheiten der Außenwelt mit den innersubjektiven Gestimmtheiten des Betrachters verbinden und in eine topologische Gestalt überführen. Die Notwendigkeit, beim Betrachten statt einem plötzlich viele verschiedene Standpunkte einnehmen zu können, aus deren Gesamtheit ein individuelles und gleichsam komplexes Raumverständnis konstruiert werden kann, trainiert zugleich das Vermögen, das es voraussetzt – die Fähigkeit, sich eigenständig Räume als kontingente Wahrnehmungsphänomene erschließen zu können. Der wahrgenommene Raum tritt vor diesem Hintergrund als hybrides und variables Ergebnis von Bewegung und Blickwinkel als relative Größe auf und ist damit im Unterschied zum euklidischen Raum stark von seiner individuellen Erschließung durch das Individuum respektive den in permanenter Bewegung befindlichen Lageverhältnissen von Beobachter und anderen Körpern abhängig.32 Foucault konstatiert – dies auf-

30

Vgl.: Günzel 2007: 17.

31

Löw 2001: 71.

32

An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass der genannte Aspekt der Erschließung eines Raumes durch individuelle Bewegungsabläufe und Bahnen für die Ausführungen in den Abschnitten 3.3 und 4 noch von übergeordneter Relevanz sein wird.

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greifend – dass sich „die Lagerung an die Stelle der Ausdehnung“33 setzt, „sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet“34 und sich die Rolle der Zeit im Verhältnis zum Raum zunehmend instrumentalisieren ließe, wenn er schreibt: „Die Zeit erscheint wohl nur als eine der möglichen Verteilungen zwischen den Elementen im Raum.“35 Vor diesem Hintergrund erst wird es demnach möglich, soziale Gefüge, die in ihren zeitbezogenen Abhängigkeiten und veränderlichen Wirkungsnetzen in den Raum eingeschrieben sind, sichtbar zu machen oder – mit den Wörtern von Franz Xaver Baier zur Erschließung unseres Kulturraumes – phänomenologisch unterlegt – formuliert: „Unser Lebensraum besteht nicht aus einem einzigen Raum. Vor allem nicht aus dem geometrisch-euklidischen Raum. Wir leben in einer Vielfalt unterschiedlich konstruierter Räume in denen unsere Existenz je anders da ist. Die unterschiedlichen Lebensräume bilden Zusammenhänge, die erst ein, nicht nur menschliches, Zusammenleben ermöglichen.“36

Dass Raumwahrnehmungen relativ und von den Lagebeziehungen der örtlich in Verbindung zueinander stehenden Elemente abhängig sind, jedoch gleichsam auch in vorstrukturierten Gefügen organisiert werden, die das Raumganze als synthetisierbare Einheit wahrnehm- und begreifbar werden lassen, hat Martina Löw dazu veranlasst, den relationalen Raumbegriff zu prägen. Dieser rückt den dynamischen Aspekt von Räumen in den Betrachtungsmittelpunkt und lässt deutlich werden, dass Raumschaffung nicht nur abhängig ist von den vorgefundenen Lagebeziehungen der Ortselemente, sondern diese ferner aktiv und divers zueinander in Relation gebracht werden können. Ein solches ‚Aufräumen‘, welches in Bezug auf vielerlei Motive vollzogen werden kann, lässt den Raum zu einer organischen Einheit, einem rhizomatischen Gewächs mit ausgeprägter Individualität werden. Raum kann damit stets als eine Artikulation von Wünschen, Gefühlen,

33

Foucault 1991 (1967): 66.

34

Ebenda: 67.

35

Ebenda.

36

Baier, Franz Xaver (2000): Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes. 2. Aufl., Köln, S. 7.

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Prinzipien, Körperbewegungen und Sichtweisen verstanden werden. Baier führt hierzu folgendes aus: „Man muss für Lebensräume endlich auch eine Bewegtheit annehmen wie sie in Leben und Natur ständig wirkt. Räume sind Lebewesen. Sie haben ein Raumleben und ein Haltbarkeitsdatum. Unsere Lebensräume formen sich permanent um und müssen geleistet werden. Sie müssen genährt werden, aufgezogen, gepflegt und gehalten werden. Und sie können folgedessen auch wandern, wachsen, groß werden, sich legen und auf ihre Weise wieder verschwinden. […] Lebensräume reichen durch uns, die Umgebung, die Dinge hindurch. In ihnen ist uns die allgemeine Wirklichkeit in jeweils unterschiedlichen Weisen erschlossen und sie machen so erst etwas zugänglich, betreffbar und als Lebenssituation lebbar. […] Alle Lebensbewegungen und Lebensvollzüge sind als räumliche Transformationen wirksam. Deshalb kann alles Existieren, einschließlich den von der Psychologie ins Subjekt eingeschlossenen Empfindungen und Gefühlen, als in verschiedenen Räumen und auf verschiedene Wirklichkeitsniveaus tätig erkannt werden. […] Wir leben [somit; Anm. SMG] in keinem homogenen Raum. Vielmehr wechselt je nach Lebensweise die gesamte Räumlichkeit.“37

Diese Zuschreibung transformatorischer und lebendiger Eigenschaften an Räume steht in einem direkten Zusammenhang zu ihrer Konstruierbarkeit durch den Menschen. Das räumliche Eingeschriebensein individueller Gefühlslagen und kultureller Praktiken macht sie somit zu hochindividuellen Erscheinungen, die vor diesem Begriffshintergrund nur schwer reduzierbar auf einen starren Behälter sind, der jemanden oder etwas fest umschließt. Unterstützt durch die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zur Räumlichkeit des menschlichen Denkens leuchtet schnell ein, was Baier mit seinen thesenartigen Ausführungen zur Charakteristik des Lebensraumes hervorheben möchte. Räume sind in dieser relationalen Sichtweise stets ein Ergebnis menschlicher Handlungen und Wahrnehmungsweisen. Sie sind determiniert durch die personale Individualität und in ihrer Erscheinung aufgrund dessen nicht nur höchst veränderlich, sondern auch äußerst vielschichtig und individuell. Während der relativistische Raumbegriff ein Verständnis darüber ermöglicht, dass Räume sich aus der Wahrnehmungsperspektive verschiedentlich gestalten können, klärt der relationale Raumbe-

37

Ebenda: 7f.

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griff auf dieser Basis auf, wie Räume mit den Menschen aber auch mit dinglichen Aktanten verflochten sind. Damit bildet Letzterer die Voraussetzung für die Annahme von in unserer Gesellschaft aktiv zu steuernden Raumgestaltungspraktiken, worauf in der jüngsten stadtsoziologischen Auseinandersetzung vor allem Martina Löw über den Begriff städtischer Eigenlogiken ausführlich Bezug nimmt.38 Löw betont in ihrer Raumsoziologie zudem die Relationalität von qua Handlungen hergestellten Räumen, da das Räumliche in jenen Vorgängen vornehmlich aus den in der Regel gesellschaftlich vordeterminierten Platzierungen sozialer Güter zu einem Setting resultiere. Dieses Spacing und seine Rekonstruktion über das Synthetisieren durch den menschlichen Beobachter lässt die Verbindungen der raumkonstituierenden Elemente zueinander und das daraus resultierende atmosphärische Gefüge in den Betrachtungsfokus rücken. Die dabei entstehende Raumordnung prägt das Leben und Tätigsein maßgeblich mit, wodurch es in gewisser Weise zuweilen auch behälterräumlich im Sinne einer kulturstiftenden und -repräsentierenden Ordnung wirksam ist. Damit zeigt sich gut, dass der relationale Raumbegriff nach Löw die beiden zentralen Raumkonzeptionen des homogenen und relationalen Raumes nutzt, um diese in ihrem Zusammenwirken zu explizieren. Im Kern lassen sich somit drei wesentliche Formen der Raumwahrnehmung unterscheiden. Zum einen eine mathematisch-physikalische Sicht auf den Raum als messbarer und sich in drei Dimensionen ausdehnbarer homogener Behälter, der uns alle umschließt sowie zum anderen eine relativistische Sicht, die Räume als veränderlich, da vom (Standpunkt des) Betrachter(s) abhängig, ansieht und zuletzt die Vorstellung von der Relationalität des Raumes, welche selbigen nicht als grundsätzlich gegeben, sondern herstellbare Konstruktionsleistungen des Menschen auf der Basis gesellschaftlicher Anforderungen und Geregeltheiten annimmt. Die zweite und dritte Vorstellung sieht Raum somit stets im Plural, da er als Ergebnis von Bewe-

38

Löw verwendet den Begriff der Eigenlogik analog zu den schon in Baiers Ausführungen aufgestellten Thesen einer organischen Strukturiertheit von Räumen in gezielter Bezugnahme auf urbane Räume und meint hierbei „die verborgenen Strukturen der Städte als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnkonstitution“, die im Resultat dazu führen, dass Städte getreu eines menschlichen Individuums ein spezifisches Eigenleben und eine bestimmte Persönlichkeit nach außen transportieren. (Löw 2008: 19.)

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gung und Veränderung der eigenen Position in Abgrenzung zu den Bewegungen und Veränderungen der Position anderer beschreibbar wird und als fluides und variables Netzwerk in seiner handelnden Verknüpfung mit Menschen und Dingen analog der Eigenschaften eines lebenden Organismus sichtbar ist. Wenn auch der absolutistische Raumbegriff seine spezifischen Vorzüge besitzt und zunächst in gewisser Weise näher an der alltäglichen Vorstellung von Raum ansetzt39, so werden sich die hiesigen Ausführungen auf der Grundlage der vorangegangenen Beschreibungen der relationalen Raumvorstellung anschließen. Zum einen aufgrund der unter 3.1 beschriebenen wissenschaftlichen Erkenntnis, dass menschliches Denken in räumlichen Dimensionen abläuft, ebensolche kognitiver Art hervorzubringen in der Lage ist und mentale Räume somit eine dem Menschen eigene gedankliche Sortierungshilfe zwischen machtstrukturellen Reproduktionslogiken institutionalisierter Raumgefüge und situativ entstehenden Individualräumlichkeiten darstellen, welchen gleichartige Eigenschaften wie dem Außenraum an sich zugeschrieben werden müssten. Zum anderen jedoch auch, weil die menschliche Konstruktion von weltlichen Räumen eine basale Umgangsweise mit bestimmten natürlichen und kulturellen Bedingtheiten kennzeichnet, von denen nun genauer die Rede sein wird.

39

So verweist Markus Schroer beispielsweise auf die ordnende Kraft der Behälter-Raumkonzeption, durch die es möglich werde, zwischen innen und außen, dem Eigenen und Fremden, zu unterscheiden. Ferner macht er explizit darauf aufmerksam, dass es um ein gesundes und ausgewogenes Nebeneinander beider Raumvorstellungen gehen sollte, wenn man sich umfassend mit Raumwahrnehmungen und -gestaltungen auseinandersetzen möchte [vgl.: Schroer, Markus (2006): Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt am Main, S. 179.].

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3.3 R AUMKONSTRUKTIONEN

ALS E RGEBNIS MENSCHLICHER UND WELTLICHER B EDINGTHEITEN

Der Mensch ist vom ersten Tag seines Lebens an ein (Re-)Akteur. Er muss handeln, um zu leben und tut dies über eine begrenzte Zahl von Aktionsformen. Hannah Arendt geht in ihren Ausführungen „Vita activa: Vom tätigen Leben“ diesbezüglich von drei Grundtätigkeiten des menschlichen Daseins aus und stellt sie als reaktionale Umgangsweisen mit den Grundbedingungen dar, „unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.“40 Sie unterscheidet hierbei das a) Arbeiten, b) Herstellen und c) (kommunikative, interpersonelle) Handeln im Sinne eines Handelns und Sprechens41, welche mit den menschlichen Bedingtheiten der a) Leiblichkeit und Sterblichkeit, b) Weltlichkeit, Vergänglichkeit und Heimatlosigkeit sowie c) Pluralität, Sozialität und Natalität korrespondieren. So entspricht das Arbeiten „einem reproduzierenden Tun, einem InGang-Halten des Lebens und der Lebensvollzüge“.42 Es beginnt bei der täglichen Nahrungszufuhr, der Körperpflege und setzt sich über alle menschlichen Grundbedürfnisse fort. Damit besitzt es eine prozesshafte oder kreislaufsteuernde Kraft. Vom Herstellen hingegen ist – der Arendtschen und von Renate Girmes im Kontext der Bildungsaufgabentheorie43 weitergedachten Aussagen zufolge – immer dann zu sprechen, wenn der natürlich gegebenen Vergänglichkeit im natürlichen System durch die Schaffung, den Ausbau und die Erhaltung eines beständigen kulturellen Systems eine „künstliche Welt von Dingen“44 hinzugeschaffen wird. Hierzu sind das Bauen von Häusern, die Entwicklung von Fahrzeugen oder anderen techni-

40

Arendt, Hannah [2001 (1958)]: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, S. 16.

41

Renate Girmes nimmt explizit auf diese Gestaltungstätigkeiten Bezug und bettet sie in den bildungstheoretischen Kontext explizit als Antworten auf sich gesellschaftlich stellende Aufgaben ein [vgl.: Girmes, Renate (1997): Sich zeigen und die Welt zeigen. Bildung und Erziehung in posttraditionalen Gesellschaften. Opladen, S. 35-38; Girmes 2004: 76-101 ] .

42

Girmes 2004: 80.

43

Vgl.: Girmes 1997 und Girmes 2004.

44

Arendt 2001: 16.

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schen Hilfsmitteln, aber auch das Malen von Bildern, Töpfern oder Musizieren zu zählen. Die mit jenem Inventar verbundene Schaffung und Erhaltung eines bewohnbaren Raumes entspringt aus dem Bedürfnis des Menschen, seine Existenz und Entfaltung an Gegenständen und bedeutungsbeladenen Elementen aufzuspannen, zu binden und mit eben jener Dingwelt zu verknüpfen. Hier kann sich der Mensch als Schöpfer erfahren, der den Beginn und das Ende seines Schaffensprozesses selbst bestimmt. „In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur heimatlos ist“45. Zum Aspekt der Vergänglichkeit und Heimatlosigkeit stellt das kulturelle System symbolbehafteter Akteurs- und Aktantensets somit einen weltlichkeitsbezogenen Gegenentwurf dar, in dem sich der menschliche Geist einschreiben und weit über die Dauer eines Menschenlebens fortbestehen kann. Während die kulturelle, „künstliche“ Welt das Ergebnis menschlicher Bedingtheiten und Resultat der Umgangsweisen mit der natürlichen Welt ist, bringt sie selbst durch ihre dinglichen Bestandteile und – das sei den Arendtschen Ausführungen der Vollständigkeit halber hinzugefügt – mittels ihrer geschaffenen Strukturen sowie gängigen Praxen stetig weitere Bedingungen hervor, mit denen der Mensch umzugehen und auf die er fortlaufend zu reagieren hat.46 Das Handeln und Sprechen nimmt als dritte Grundtätigkeit Bezug auf die Pluralität der Menschen und ihre Angewiesenheit auf interpersonellen Austausch für den Identitätsbildungs- und damit Selbst- respektive Fremdbestimmungsprozess. Im steten Aushandeln von Sinnkondensaten und Bedeutungszuschreibungen sorgt es für die Etablierung und den Fortbestand politischer, auf den ausgleichenden Umgang mit Interessenvielfalt gerichteter Gemeinschaften mit eigener kultureller Basis im Sinne historisch gewachsener Erinnerungen und damit einer eigenen Geschichte.47 Auf dieser Basis sei das Handeln und Sprechen das Prinzip der Kulturschaffung und damit eine exklusiv für den Menschen zutreffende Tätigkeitsform, also quasi ein menschliches Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen anderen Lebewesen, so Arendt.48 Ihren spezifischen Bezug zur Natalität besitzt das Handeln und Sprechen durch die Möglichkeit, etwas gezielt beginnen im

45

Ebenda.

46

Vgl.: Arendt 2001: 18f.

47

Vgl.: ebenda: 18.

48

Vgl.: ebenda: 33f.

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Sinne von in-Gang-setzen zu können.49 Die Fähigkeit des (Neu-)Anfangs erschließt sich somit essentiell durch die Tatsache, dass die Menschen allesamt mit ihrer Geburt unter der Bedingung aufgewachsen sind, ihr Leben zu leben oder – anders formuliert – das Buch ihres Lebens von der ersten Seite an selbst beschreiben zu müssen. Das Sprechen ist im Unterschied zum Herstellen und In-Gang-Halten durch Irreversibilität gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein in die Welt gebrachtes Wort, eine spezifische Aussage oder eine kommunikative Handlung, sind sie erst einmal vollzogen, nicht wieder zurücknehmbar sind. Stattdessen evozieren sie Reaktionen in einer unendlichen diskursiven Kette, so dass eine Endlosigkeit des Handelns und Sprechens besteht. Denken wir nun zurück an Kandel und seine neurowissenschaftlich unterfütterten Ausführungen, die veranschaulichten, dass der Vorgang der Raumschaffung und -gestaltung zum einen ein kognitiver Handlungsakt ist, der darüber hinaus lebensstrukturierenden, im Sinne von orientierungsbezogenen Zielen folgt50, dann scheint folgendes deutlich zutage zu treten: Auf der Suche nach den basalen weltlichen und menschlichen Bedingtheiten, die auf Raumkonstruktionsprozesse einwirken, müssten gerade die von Arendt als Basis der drei Grundtypen menschlicher Tätigkeit zusammengetragenen Bedingtheiten der ‚Leiblichkeit‘, ‚Heimatlosigkeit‘ und ‚Pluralität‘ prädestiniert dafür sein, auch im Zusammenhang mit dem Phänomen von Raumkonstruktionen als Basis zu fungieren. Räume sind eben ein Ergebnis menschlicher Handlungen und somit aktional, wenn man der relationalen Raumvorstellung folgt. Somit müssten sich Raumkonstruktionen auch in die drei beschriebenen Handlungstypen aufschlüsseln und auf diese Weise typologisieren lassen. Um jenem Zusammenhang nachzugehen, soll das Phänomen Raum im Folgenden wissenschaftstheoretisch genauer entlang der genannten Bedingtheiten beleuchtet werden.51

49

Arendt spricht hier auch – den Akteur in den Vordergrund stellend – von einem In-Erscheinung-Treten des Handelnden (vgl.: Arendt 2001: 250 ). Im Abschnitt 3.3.3 wird darauf noch zurückzukommen sein.

50 51

Siehe Abschnitt 3.1 dieser Arbeit. Es kann somit gleichsam vorgebeugt werden, die wissenschaftliche Raumdebatte lediglich durch das Aneinanderreihen unterschiedlicher Theorien quantitativ abzubilden. Das ist in anderen Publikationen – aus der Fülle an wissenschaftlicher Literatur zum Raumthema sei hier nur stellvertretend Löw (2001),

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Somit dienen die Arendtschen Bedingtheiten des menschlichen Lebens als Grundlage für eine Bündelung der wissenschaftlich und interdisziplinär verhandelten, raumtheoretischen Aussagen zur Konstruktion und zu Formen von Räumen, um die Wichtigkeit und Funktion von Raumbindungen für den Menschen herauszuarbeiten. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass Raumkonstruktionsvorgänge spezifische Umgangsweisen mit grundlegenden menschlichen Bedingtheiten sind, weshalb ihnen tätigkeitsbezogen ein basaler Stellenwert zukommen müsste. Die Wichtigkeit menschlicher Raumbindungen könnte auf diese Weise nicht nur nachgewiesen, sondern ferner qualitativ konkretisiert werden. Zudem bestätigte sich die Annahme der Notwendigkeit, den in Abschnitt 2.2 herausgearbeiteten nachlassenden Raumbindungen und ihren Ursachen raumgestalterisch entgegenarbeiten zu müssen und vor allem auch zu können.52 Die These von Baier,

Schroer (2006) und Dünne/Günzel (2006) genannt – hinlänglich und bereits auf hoher qualitativer Ebene geschehen. 52

Um die Frage zu klären, auf welche menschlichen Bedingtheiten Prozesse der Raumkonstruktion im Wesentlichen Bezug nehmen respektive an welchen Bedingtheiten sie sich aktional entzünden, ist es notwendig, auf viele verschiedene Vertreter und ihre raumbezogenen Ideen und Theoretisierungen zurückzugreifen, was dazu führt, dass dem in dieser Arbeit unterlegten Raumverständnis im Resultat ein themengebunden strukturiertes Potpourri an Theoriesträngen eingeflossen sein wird. Mehrheitlich auf der Grundlage des relationalen Raumbegriffs aufbauend, versteht sich die in den Ausführungen artikulierte Auswahl an Wissenschaftlern und ihrer Raumtheorien konzeptionell als Wissensbestandsrepertoire für die zu leistende Bearbeitung des Themas. Grundlage der Auseinandersetzung mit Raum ist – das sei hier nochmals betont – das Verständnis von Raum als Ergebnis eines zu leistenden Herstellungsaktes. Raum bezeichnet damit in dieser Arbeit stets eine Konstruktion, deren Merkmale an spezielle gesellschaftliche Konventionen anknüpfen respektive in die Regeln und Gesetzmäßigkeiten einer natürlichen und kulturellen Welt eingebettet sind. Dieser Konstruktionsakt entfaltet sein Wirkungspotenzial in der Folge natürlich auf seine menschliche Umwelt. Damit sind raumbezogen für die hiesigen Untersuchungen zwei Aspekte interessant: a) der räumliche Konstruktionsakt selbst und b) der Umgang mit bereits konstruierten Räumen. Sowohl die Merkmale als auch die zugrunde liegenden Konventionen für beide Vorgänge können und sollen hier entschlüsselt und theoretisiert werden.

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dass „Lebensräume ein Eigenleben führen und […] die vorherrschenden Raumtheorien lediglich Ableitungen eines lebendigen Raumgeschehens sind“,53 könnte somit gleichermaßen weiter untermauert und mit dem Ziel konkretisiert werden, deutlich zu machen, dass Räume erst jenseits des bloßen Betrachtens durch das aktive und aktivierte Individuum, durch die Aufhebung von Subjekt-Objekt-Dichotomien zustande kommen können.54 3.3.1 Leiblichkeit als Grundlage atmosphärisch gestimmter Weiteräume Wenden wir uns nun zunächst der Leiblichkeit als Grundbedingtheit menschlichen Lebens zu und rücken diese in den Fokus der raumbezogenen Betrachtungen. Was bezeichnet der Begriff Leiblichkeit? Und in welchem Verhältnis steht er zum Raum? Eine erste begriffliche Überlegung liefert Gernot Böhme, der Leib als „die Natur, die wir selbst sind“55 definiert. Die Gleichsetzung von Leib und Natur führt er explizit auf Aristoteles zurück, der vom Leib als uns gegebene Tatsache ausgeht. Damit habe er den Stellenwert einer „anthropologische[n] Konstante“.56 Diese führe wiederum zur Verantwortung für den eigenen Leib, die Böhme in Anlehnung an Heidegger und Plessner sowie mit Rückgriff auf Kierkegaard als „Selbstsorge“ bezeichnet.57 Leiblichkeit spiegelt als unmittelbares Ergebnis des Geboren-

Die Thematisierung der raumgestalterischen und -modifizierenden Kraft von menschlichen Handlungen und gegenständlichen Wirkungspotenzialen in den einzelnen Theorien bündelt sich in der hiesigen Darstellung – wie beschrieben – über die Aufgliederung weltlicher Bedingtheiten des Menschen. 53 54

Baier 2000: 9. Hier wird bewusst die Nähe zur später ausführlich zu thematisierenden Akteur-Netzwerk-Theorie und ihrer Zusammenhänge mit Raumgestaltungsprozessen bereits implizit angedeutet. Auch Baier verfolgt eine ähnliche These, wenn er schreibt: „Raum als tragendes Element erschließt sich erst, wenn der Objekt- und Gegenstandscharakter verschwindet “ (ebenda: 90).

55

Böhme, Gernot (2003): Leibsein als Aufgabe: Leibphilosophie in pragmati-

56

Ebenda: 64.

57

Vgl.: ebenda: 68-72.

scher Hinsicht. Kusterdingen, S. 63.

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seins für Böhme eine Art des immer wieder „Zur-Welt-Kommen[s]“ im Sinne eines „schwebenden Zustand[s]“58 wieder: „[…] als Erfahrung des Betroffenen bedeutet Gebürtlichkeit, dass man für sich selbst aus einem bestimmten Hintergrund heraustritt und Kontur annimmt. So gesehen ist dieser Prozess auch nicht mit der Jugend abgeschlossen, sondern kann sich über das ganze Leben hinziehen, selbst dann noch, wenn, wie wir sagten, die Möglichkeiten sich verschließen und das Aus-der-Welt-Gehen dominiert.“59

Diese Ausführungen implizieren, dass das Leben aus zahlreichen Situationen besteht, die dem Menschen die Möglichkeit zur situationsbezogenen Geburt von Teilen seines Selbst geben. In jedem dieser Momente geht mit der Erfahrung des Erscheinens von Teilen unseres Selbst eine Erfahrung von Lebendigkeit im Sinne der eigenen Einbettung in die Natur einher, da Gebürtlichkeit in all ihren Ausprägungen gemäß der Böhme‫ތ‬schen Ausführungen „Grund der eigenen Leiblichkeit“ und damit Basis unseres Naturseins sei.60 Böhme plädiert vor jenem Hintergrund für ein gebürtliches Leben, das die Dimensionen der eigenen Eingebettetheit in die Welt und damit die Leiblichkeit selbst aufmerksamer und wacher reflektiert und Änderungen als Fluss des Lebens zulässt, wenn er schreibt: „Es [geburtlich zu leben; Anm. SMG] verlangt eine Haltung zu sich selbst, in der man sich selbst kommen lassen kann und sich empfangen kann als etwas, das einem gegeben wird. In dieser Haltung wird man ein kreatives und wandlungsfähiges Leben führen. Das verlangt allerdings auch die Bereitschaft zum Abschied. Leben im Vollzug ist eben zugleich geburtliche und sterbliche Existenz, Ankommen und Gehen, die Bereitschaft, sich auf Bindungen einzulassen und die Bereitschaft, sich auch wieder zu lösen.“

61

Der Leiblichkeitsbegriff bei Böhme bezeichnet somit die individuelle, sich stets wandelbare und in sich facettenreiche Natur des Menschen in seiner Nähe zu den Elementen und als Teil der Energien dieser Welt. Er ist damit

58

Ebenda: 233.

59

Ebenda: 233.

60

Ebenda.

61

Ebenda: 233f.

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Ausdruck des menschlichen Vermögens zu Handeln, als situativ eingebettetes Wesen seiner Existenz und Form gewahr zu werden und all dies als prozesshaftes Wechselspiel unterschiedlichster Form des Angesprochenund Herausgefordertseins wahrzunehmen. Elisabeth Ströker bezeichnet Leiblichkeit, diese bei Böhme bereits angedeutete Ganzheit ebenso proklamierend, als „volle[…], konkrete[…] Subjektivität“62. Diese Bezogenheit auf das individuelle menschliche Wesen erklärt sie weiter, indem sie mit den Worten fortführt: „Das bedeutet, dass er [der Leib; Anm. SMG] primär weder als Organismus, noch als beseelter Körper aufzufassen ist. […] Der Leib ist urtümlich weder ein System von organismischen Vorgängen, noch ein Körperhaftes, dem so etwas wie Seele ‚innewohnt‘, noch eine – wie immer gefasste – ‚Einheit‘ von Körper und Seele.“63

Ströker zufolge bezeichnet Leiblichkeit eine Wesensform des Menschen, die zwar passivisch und damit präaktional vorhanden ist, sich jedoch erst im Vollzug einer Handlung repräsentiert findet, wobei hier sowohl Aktionsformen als auch eher passive Reaktionsweisen einbezogen werden müssen. Leiblichkeit zeige sich – dieser Ansicht zufolge – stets in Gestalt und als Begleitprodukt menschlicher (Re-)Aktionen, „als […] Verhalten, in dem sich […] [eine; Anm. SMG] Bezogenheit zur Umwelt auf zugleich sinnliche und sinnhafte Weise kundgibt. Leib erscheint stets als Leib nur in solchem Verhalten, mithin in einer Situation und wird als solcher aus ihr heraus unmittelbar verständlich“64. Leiblichkeit artikuliert sich für Ströker somit immer erst durch das wahrnehmende und gestalterische Tun, also im Medium der Handlung im Sinne einer entfalteten Subjektivität. Durch die Art des menschlichen Involviertseins in die das Individuum umgebenden konkreten Umwelten wird der Leib zur raumschaffenden Größe. Ströker geht hierbei von drei un-

62

Ströker, Elisabeth (1977): Philosophische Untersuchungen zum Raum. 2. Aufl., Frankfurt am Main, S. 13.

63

Ebenda: 19.

64

Ebenda.

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terschiedlichen räumlichen Ausprägungen aus und formuliert jenes beschriebene Verhältnis von Raum und Leib wie folgt65: „Begreifbar nur aus seinem Verhalten zur Welt, bietet sich der Leib in phänomenologischer Betrachtung nun in denjenigen Aspekten, in denen sich das Verstehen solchen Verhaltens differenziert nach Maßgabe verschiedener Ausprägungen seines Umweltbezugs. Es sind deren drei aufweisbar: als gestimmter Leib ist er Träger von Ausdrucksverhalten, als handelnder Leib ist er Ausgangspunkt zielgerichteter Tätigkeit, als Einheit der Sinne ist er Zentrum der Wahrnehmung. Es wird sich zeigen, dass jeder dieser Seinsweisen des Leibsubjekts eine eigene Raumstruktur entspricht […].“66

Das dreiteilige Ströker‫ތ‬sche Raumverständnis setzt sich auf dieser Basis aus einem atmosphärisch ‚gestimmten Raum‘, einem intentionalen ‚Aktionsraum‘ und einem sinnlichen ‚Anschauungsraum‘ zusammen, wobei die einzelnen Raumtypen in wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen. Die von Ströker als Voraussetzung formulierte Leiblichkeit zeigt sich hierbei als umfassendes, raumschaffendes Grundkonzept. Auch Edmund Husserl bezieht seinen Leibbegriff aus einem Zusammenhang von Handlung und Repräsentation. Deshalb spricht er auch vom so genannten fungierenden Leib. Als „Wiederaufnahme von Schopenhauers Sicht des Leibes als Korrelat des Willens“67 verstehe Husserl somit unter dem Begriff des Leibes ein erfahrbares Medium unserer Selbstbewegung.68

65

Elisabeth Ströker arbeitet in ihrer Habilitationsschrift ‚Philosophische Untersuchungen zum Raum‘ ein dreiteiliges Raumverständnis aus ‚gestimmtem Raum‘, ‚Aktionsraum‘ und ‚Anschauungsraum‘ mit wechselseitiger Bedingtheit der einzelnen Raumtypen heraus. Zur Grundlage ihrer Überlegungen zieht sie das menschliche Alltagsverständnis von ‚Raum‘ heran und behauptet, es sei zunächst einmal vorreflexiv und insofern kaum gesellschaftsbezogen respektive kulturspezifisch deutbar. Der Mensch betrachte Raum in diesem Stadium nicht relational, sondern als Behälter, also etwas ihn Umgebendes, „dass angefüllt erscheint mit den Dingen, Geschehnissen, Sachverhalten der Welt und somit als ‚Weltraum‘ schlechthin.“ (Ebenda: 17)

66

Ebenda: 19f.

67

Böhme 2003: 59.

68

Vgl.: ebenda.

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Er spricht dem Leib jedoch keine Intentionalität zu.69 Diese werde stattdessen „nur in Übertragung […] als im Leib seiende angesprochen.“70 Gernot Böhme bemüht an dieser Stelle den Vergleich solcher „leiblicher Bewegungstendenzen“ mit zielgerichteten Bewegungen des Körpers, indem er erstere begrifflich als Motionen und letztere als Intentionen fasst.71 Man könnte auch leibbezogen von Affekten sprechen, denen – wenn überhaupt – im Moment ihres Auftretens nur un- oder wenigstens unterbewusste Motive zugesprochen werden können. Da diese Unterscheidung vor Husserl noch nicht expliziert worden ist, liegt sein Hauptverdienst im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Wesen des menschlichen Leibes somit vor allem in der historisch erstmalig klar getroffenen Unterscheidung von Leib und Körper.72 Auch Max Scheler greift diese Unterscheidung auf und sieht den Leib als Ergebnis innerer und äußerer Wahrnehmungen im Unterschied zum Körper, der optisch erkennbar und haptisch lokalisierbar sei.73 Leiblichkeit ist für Scheler die Grundlage für das emotionale Ergriffensein und damit für Gefühle schlechthin. Er unterscheidet derer vier74 und macht in seinen

69

im Unterschied zu Strökers ‚handelndem Leib‘ als Grundlage für den Aktionsraum (vgl.: Ströker 1977: 54ff.)

70

Husserl, Edmund (1952): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Psychologie. Teil 2: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana Band 4, Den Haag, S. 153.

71

Vgl.: Böhme 2003: 59.

72

An dieser Stelle soll natürlich auch erwähnt werden, dass es zahlreiche Kritiken an der Husserl‫ތ‬schen Leibphänomenologie gibt und gegeben hat. Hierzu zählen beispielsweise die abgesprochene Intentionalität oder das Verhältnis von fremder und eigener Leiblichkeit, die hier jedoch aus Platzgründen und in Anbetracht der thematischen Ausrichtung der Arbeit nicht weiter ausgeführt werden sollen. Eine prägnante, aber dennoch detaillierte Übersicht hierzu bietet: Fuchs, Thomas (2000): Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart, S. 43-45.

73

Vgl.: Scheler, Max (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale

74

Scheler unterscheidet in die vier folgenden Gefühlsarten: 1. sinnliche Gefühle

Werteethik. (Gesammelte Werke Band 2) Bern, München, S. 409. wie z.B. Schmerz oder das Wohlschmecken von Speisen, 2. ganzleibliche oder Lebensgefühle wie Müdigkeit oder Vitalität, 3. seelische Gefühle wie z.B.

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Ausführungen deutlich, was in den phänomenologischen Studien bei Hermann Schmitz, wenn von Gefühlsräumlichkeit75 die Rede ist, wiederzufinden ist und von Fuchs mit den Worten treffend formuliert wird: „Es gibt […] nach Scheler keine rein seelische Selbstwahrnehmung, der dann ein leiblicher Ausdruck hinzugefügt würde. Alles Fühlen ist gebunden an das Sein des Leibes.“76 Aus den unterschiedlichen leiblichen Wahrnehmungsweisen der Umwelt und ihrer individuellen Gefühlsstruktur konstruiert Scheler den Begriff des Milieus als „natürliche Weltanschauung“77 des Individuums, welche ein Ergebnis „der leiblichen Gesamtverfassung“78 darstellt. Somit bezeichnet das Milieu bei Scheler die subjektive Sicht auf die unterschiedlichen, einen Menschen umgebenden Umwelten als Resultat objektiver und vor allem subjektiver Eindrücke und körper-geist-bezogener Verfasstheiten.79 Schließlich kann auch die gleiche Person bezogen auf eine spezifische Umwelt je nach leiblicher Verfasstheit diese unterschiedlich wahrnehmen. Folglich ist der Leib aus der Scheler‫ތ‬schen Sicht „die entscheidende Bedingung […] der Wahrnehmung der Gehalte der äußeren und der inneren Welt, auf die die Person gerichtet ist.“80 Leiblichkeit kann somit als symbiotische Schnittstelle von Außen- und Innensicht eines Menschen, als Voraussetzung für das Vermögen seiner Selbst- und Weltsicht verstanden werden. Beide Blickrichtungen – die Sicht nach innen und jene nach außen – sind hierbei jedoch auf das Engste miteinander verzahnt und bedingen sich wechselseitig. Auch Maurice Merleau-Ponty betont die beschriebene im Leiblichen verwurzelte Zweiseitigkeit, indem er den Leib in seinen Ausführungen zu

Freude oder Ärger und 4. geistige Gefühle wie Seligkeit oder Verzweiflung (vgl.: Scheler 1980: 334ff.). 75

Vgl.: Schmitz, Hermann [2005 (1969)]: Der Gefühlsraum. (System der Philo-

76

Fuchs 2000: 54.

77

Scheler 1980: 42.

sophie Band 3, Teil 2) Bonn.

78

Fuchs 2000: 55.

79

Er ist damit u.a. abzugrenzen vom Milieubegriff von Gerhard Schulze [vgl.: Schulze, Gerhard (1993): Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main, New York, S. 277ff.].

80

Fuchs 2000: 56.

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einer dritten Größe jenseits der Subjekt-Objekt-Dichotomie81 werden lässt. So schreibt Waldenfels dies aufgreifend: „Wir stehen der Welt nicht gegenüber, sondern sind aus dem ‚gleichen Stoff ‘ wie sie, unser Sehen ist ihr narzisstisch verhaftet […].“82 Eingeschrieben ist diesem Satz die Verbindung zu Böhme und seiner Beschreibung von Leiblichkeit als die Natur des Menschen, die sowohl das Selbst betrifft als auch Bestandteil aller Anderen ist. Im Unterschied zu Husserl oder Ströker83 geht Merleau-Ponty nun jedoch von einer Initialkraft des Leibes aus. So werde dieser nicht bloß durch Außeneinwirkungen affiziert, sondern er eigne sich die ihn umgebenden Einflüsse aktiv und nach eigenen Mustern an.84 Die eigene leibliche Verfassung wird beim Wahrnehmen der Außenwelt unweigerlich auf diese projiziert wie bei einer Brille, durch die die Welt sich dem Betrachter getönt in einem bestimmten Farbton darbietet. Dieser spezifische Blick auf seine Umwelt ergibt sich beim Individuum nun eben nicht nur als einfache ReizReaktion auf das Gesehene oder sinnlich Erfahrene, sondern wird über ein ganzes Set an Erfahrungen, Erinnerungen und mentalen Modellen in seiner Wahrnehmung und Ausdeutung gesteuert. Die vorhandenen kognitiven Schemata stellen ein Netz zur Filterung des sich Darbietenden bereit. Merleau-Ponty selbst formuliert die Notwendigkeit leiblicher Aktivität beim Wahrnehmungsakt so einfach wie nachvollziehbar, wenn er schreibt:

81

Braungart zeichnet in seinen Ausführungen die Entwicklung der konzeptionellen Ausrichtung Merleau-Pontys nach und kommt zu eben dem Schluss, dass seine leibbezogenen Überlegungen letztlich genau diesem Zwecke der Etablierung einer dritten Größe neben dem Ich und dem Anderen, dem Subjekt und Objekt, dienen [vgl.: Braungart, Georg (1995): Leibhafter Sinn: der andere Diskurs der Moderne. Tübingen, S. 36-52.].

82

Waldenfels, Bernhard (1987): Phänomenologie in Frankreich. Berlin, S. 200.

83

Zwar spricht Ströker auch von einer leiblichen Intentionalität, die es Menschen ermöglicht, sich im Raum handelnd in bestimmte Richtungen zu entfalten, doch unterscheidet sie diese von der leiblichen Sinnlichkeit, die der Wahrnehmung der Umgebung dient. (Ströker 1977: 54f.) Merleau-Ponty sieht beides hingegen im Zusammenhang.

84

Vgl.: Braungart 1995: 38ff. sowie: Merleau-Ponty, Maurice [1966 (1945)]: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, S. 28f.

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„Nichts im sinnlichen Anblick einer Landschaft, eines Gegenstandes, eines Körpers bestimmt dieses Seiende dazu, ‚froh‘ oder ‚traurig‘ , ‚ lebhaft‘ oder ‚eintönig‘ ,

‚elegant‘ oder ‚grob‘ auszusehen.“85 Da unsere Wahrnehmung uns jedoch Signale und Erkenntnisse in Gestalt eben dieser Kategorien liefert, könne Wahrnehmung für Merleau-Ponty nicht – wie im Empirismus der Fall – als reine Objektregistrierung verstanden werden.86 Leibliche Wahrnehmung könne für ihn jedoch auch nicht als das Gegenteil, nämlich als Ergebnis reflexiver Urteile – wie vom Intellektualismus vertreten – gelten. Hingegen ist Wahrnehmen, der MerleauPontyschen Sichtweise folgend, das Sich-Zugang-zur-Welt-Verschaffen und damit das An-der-Welt-Teilnehmen. „Der Leib ist unsere Verankerung in der Welt“87 und markiere in diesem Zusammenspiel von Individuum und Umwelt „das Mittel des Zugangs zur Welt“88. Leiblichkeit ist damit die menschliche Bedingtheit, durch welche es dem Menschen möglich wird, affiziert zu werden. Und Affizierung ermöglicht Raumschaffung im Sinne einer atmosphärischen Teilhabe und Teilnahme am In-der-Welt-Sein. Beides ist von Relevanz, wenn man Brian Massumi folgt und von einer zweifachen Affizierungslogik ausgeht, bei der der Mensch zum einen in der Lage ist, Wahrgenommenes als Impulse zu empfangen und darüber hinaus anderen selbst als Auslöser für die Affizierungen anderer gelten kann.89 Das Okkurente, also die implizite, in der sinnlichen Wahrnehmung erfassbare Potenzialität von Oberflächen, Blicken, Gesten, Wörtern, Gerüchen und anderen Erscheinungen kann vom Menschen ausgesendet und empfangen werden. Dieses energetische Kommunizieren beschreibt Massumi als hoffnungsvoll, gerade weil es ein wechselseitig aktivierender Vorgang ist.90 Das Affizierende versteht er dabei in Beerbung des Affektkonzepts von Spinoza als die „virtuelle Ko-Präsenz

85

Merleau-Ponty, Maurice 1966 (1945): 44.

86

Vgl.: ebenda.

87

Ebenda: 174.

88

Vgl.: Braungart 1995: 43.

89

Vgl.: Massumi, Brian (2010): Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen. Berlin, S. 27f.

90

Ebenda.

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des Potenzials.“91 Wir sind folglich permanent angeregt von einer Vielzahl von Phänomenen in unserer Umwelt und senden selbst vielfältige Potenzialverheißungssignale aus. Je mehr Anschlussstellen diese Daten zwischen Sender und Empfänger finden, umso aktivierender wird die Affizierung sein.92 Diese Affizierungsprozesse stellen eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung und Wahrnehmung von Atmosphären als Basis einer leiblichen Raumschaffung dar.93 Vor diesem Hintergrund bezeichnet Böhme treffend als Atmosphäre „das, was in leiblicher Anwesenheit bei Menschen und Dingen bzw. in Räumen erfahren wird“94 und somit die „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“95 umfasst. Sie wird, dies deutet sich bereits an, symbiotisch ergänzt durch die Wirkmächtigkeit der Bestandteile der hergestellten, kulturellen Welt, von der im folgenden Abschnitt 3.3.2 genauer die Rede sein wird. Atmosphärische Räume sind somit, dies sei den nachfolgenden Ausführungen an dieser Stelle schon einmal vorweggenommen, stets das Ergebnis eines zwischenmenschlichen oder aber hybriden Settings aus menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten im Latourschen Sinne96 und seiner Affizierungslogik. Somit stellen atmosphärische Räume selbst Aktanten dar, die in Inter-

91 92

Ebenda: 29. Girmes verhandelt diese handlungsauslösende Affizierungsbreite von Gegenständen in situativen Kontexten als Aktivierungspotenzial, das als Gesamtheit der in Bezug auf einen Gegenstand vom Subjekt wahrgenommenen Gelegenheiten zu etwas beschrieben wird (vgl.: Girmes 2004: 146.) .

93

So beschreibt auch Ströker den Raumkonstitutionsvorgang des Menschen als einen doppelt gerichteten Affizierungsprozess: „Ontologisch hat das Räumlich-sein des Leibsubjekts einen doppelten Aspekt: es ist einerseits Gerichtetsein auf ein Dort, ist aber zugleich auch Sichbefinden bei einem Dort, ein Ausgesetztsein.“ (Ströker 1977: 67.)

94

Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre: Essays zu einer neuen Ästhetik. Frank-

95

Ebenda: 34.

furt am Main , S. 30. 96

Zum Begriff des nicht-menschlichen Wesens siehe: Latour, Bruno (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main.

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passion mit dem Menschen auf das Individuum Einfluss zu nehmen in der Lage sind.97 Max Scheler fasst den Zusammenhang von Leib und Wahrnehmung in Relation zu Merleau-Ponty etwas weiter, indem er jene beschriebene Abhängigkeit der Wahrnehmungen von der Leiblichkeit durch den Aspekt der Personalität relativiert. Für Scheler ist die Sicht auf die Welt gemäß der individuellen Ansprüche und Erfahrungen, intentionalen Akzentuierungen, mentalen Eigenschaften sowie im Besonderen durch „das Wissen um die Vermitteltheit der Wahrnehmung durch die Perspektive des Leibes“98 reflektiert und im Bewusstsein als nicht absolut sondern veränderlich und damit als relative Größe verankert. Der Phänomenologe und Philosoph Hermann Schmitz geht ebenfalls von einem präaktionalen Vorhandensein der Leiblichkeit beim Menschen aus. Zwar bezieht er sich in seiner phänomenologischen Herangehensweise explizit auf Husserl, doch im Gegensatz zu ihm und auch entgegen den Ströker‫ތ‬schen Ausführungen ist der Leib für Schmitz nicht die entfaltete Subjektivität des Handelnden in repräsentativer Manier, sondern – eher den Scheler‫ތ‬schen Überlegungen und den Ausführungen Merleau-Pontys entsprechend – Bestimmungsgröße sowohl für alle körperlich-initiierten Bewegungen, als auch für die Wahrnehmung äußerer, körperexterner Einflüsse und ihrer Affizierungskraft. Auf diese Weise konstituiert die Leiblichkeit menschliche Raumwahrnehmung und beeinflusst die Konstruktion räumlicher Vorstellungen.99 Auch Merleau-Ponty konstatiert, dass Leiblichkeit die Basis von Raumkonstruktionen darstelle und sich das Imaginieren von Räumen auf der Basis leiblicher Erfahrungen und Empfindungen vollziehe.100 Schmitz spricht in diesem Zusammenhang vom leiblichen Raum als Ergebnis der basalen Wirkung von Leiblichkeit auf die Präsenz und Wahrnehmung von Räumlichkeit für den Menschen und erweitert auf diese Weise den Scheler‫ތ‬schen Gedanken von der an die Leiblichkeit gekoppelten

97

Vgl.: Busch, Kathrin (2007): Hybride. Der Raum als Aktant. In: Kröncke, Meike/ Mey, Kerstin/ Spielmann, Yvonne (Hrsg.): Kultureller Umbau: Räume, Identitäten und Re/Präsentationen. Bielefeld, S. 22.

98

Fuchs 2000: 56.

99

Vgl.: Schmitz, Hermann [2005 (1967)]: Der leibliche Raum. (System der Philosophie Band 3, Teil 1) Bonn, S. XVI.

100 Vgl.: Merleau-Ponty, Maurice 1966 (1945): 171f.

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menschlichen Wahrnehmung, den Merleau-Ponty in ähnlicher, wenngleich zaghafterer Weise bereits artikulierte. Zu betonen bleibt, dass MerleauPonty den Leib in seiner doppelten Intentionalität beschreibt: zum einen als weltbezogenes Erschließungswerkzeug und zum anderen als „Ausdrucksraum des Ichs“101. So fungiert der Leib in der Funktion des selbstbezogenen Ausdrucksraumes als Möglichkeitsraum der Artikulation individueller Seinsweisen, während er bezogen auf seine welterschließende Kraft das basale Medium zur Teilnahme am Anderen darstellt. „Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen.“102 heißt es bei Merleau-Ponty. Körpersprache deutet er in diesem Zusammenhang als leibliche Gebärde und stellt damit gleichsam den Leib als Kommunikationsmedium dar. Dies knüpft wiederum an die doppelte Affizierungslogik bei Massumi an, bei der der Mensch sowohl Empfänger als auch Sender von leiblichen Affizierungen ist. Der wirkungsbezogene Leibbegriff Strökers und Husserls kann auf dieser Basis vom, wie Böhme ihn nennt, pathetischen Leibbegriff103 Hermann Schmitz‘ unterschieden werden. Schmitz definiert Leiblichkeit dabei wie folgt: „Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist. Seelisch ist, was ortlos ist.“104 Hier wird der Grad der Umfasstheit des Leiblichen deutlich. Eine leibliche Erfahrung ist, der Schmitz‫ތ‬schen Überlegung zufolge, stets an einen konkreten Ort respektive Körper und einen uneingeschränkten Gegenwartsbezug gebunden. „So ist das Hier für jeden jeweils unverwechselbar als der absolute Ort bestimmt, wo er sich selbst spürt, während alle anderen Orte einem vieldeutigen Anderswo und Irgendwo angehören. Der absolute Ort, wo jemand sich leiblich findet, ist für ihn primär nie ‚irgendwo‘, d.h. vieldeutig und genauerer Besinnung bedürftig, sondern er ist die ohne Rücksicht auf Lagen und Abstände zu anderen Orten eindeutig bestimmte Quelle aller Lokalisierung, die bei den Umgebungsdingen erst durch deren Bindung an den eigenen ausgezeichneten Ort möglich wird.“105

101 Braungart 1995: 46. 102 Merleau-Ponty, Maurice 1966 (1945): 220. 103 Vgl.: Böhme 2003: 59. 104 Schmitz, Hermann [2005 (1965)]: Der Leib. (System der Philosophie Band 2, Teil 1) Bonn, S. 6. 105 Schmitz 2005 (1967): 13.

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Damit erschließt sich Leiblichkeit am eindringlichsten gekoppelt an die Erfahrung primitiver Gegenwart106 unter anderem als intensivste Weise, affiziert zu sein. Böhme reflektiert die von Schmitz beschriebene Leiblichkeit, dies aufgreifend, als charakterisiert durch „Erfahrungen der Selbstgegebenheit“107 respektive als „räumlich ausgedehnte[s] Spüren“108 des Selbst. Während sich insgesamt ausgesprochen wenige (Raum-)Theoretiker explizit mit dem affektbasierten Zusammenspiel von Leib und Raum beschäftigt haben – Scheler deutet die Bezüge von Leib und Umgebungswahrnehmung zwar an, führt sie aber nicht raumbezogen aus –, widmet Hermann Schmitz in seinen phänomenologischen Ausführungen dem leiblichen Raum eine besonders große Beachtung. Den Leib als raumerschließende und raumschaffende Größe anzusehen, bedeute für ihn, „das leibliche Befinden und Verhalten als Quelle der Raumerfahrung zu nützen und die daran abgelesenen Kategorien für ein möglichst grundsätzliches und weitgespanntes Verständnis der Phänomene der Räumlichkeit einzusetzen.“109 Damit vertritt er im Gegensatz zu Kant die auch von Scheler vertretene These, dass das leibliche Empfinden des Menschen den äußeren Raum konstituiere und der Mensch somit einen inneren Raum beherberge, dessen Ausstrahlung auf die Umgebung stets in Abhängigkeit von der Beschaffenheit des leiblichen Befindens beschreibbar sei.110 Für Schmitz ist der Raum ein leibliches Phänomen, gleichwohl der Schall und Schmerz111, da ihr Vorhandensein nicht negiert werden könne. Auch Licht, Druck und Farbe sowie gustische Geschmacks- oder Duftnoten sind hier ergänzbar.112 Darü-

106 Schmitz verwendet den Begriff der primitiven Gegenwart, um einen Zustand zu artikulieren, in dem der Mensch der leiblichen Betroffenheit vollends ausgesetzt sei. Er grenzt ihn vom Phänomen der entfalteten Gegenwart ab, das durch eine Losgelöstheit des Menschen von leiblicher Betroffenheit gekennzeichnet sei (vgl.: ebenda: 10-18.). Auch Böhme weist auf den unmittelbaren Zusammenhang von leiblichem Spüren und primitiver Gegenwart (vgl.: Böhme 2003: 61). 107 Böhme 2003: 60. 108 Ebenda. 109 Schmitz 2005 (1967): XVI. 110 Vgl.: ebenda. 111 Vgl.: ebenda: 2. 112 Vgl.: ebenda.

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ber hinaus ordnet Schmitz auch das Erinnerte als leibliches Phänomen ein.113 Kurzum: Alles, was affiziert, ist leiblich gebunden. Räumlichkeit bietet dem Leib eine Erfahrungs- und Artikulationsebene. Es ist ihm Entfaltungsmedium aufgrund seines Weitecharakters. „Wo keine Weite ist, da ist kein Raum, und wo kein Raum, keine Weite.“114 Somit kann festgehalten werden, dass für Schmitz Räumlichkeit nur durch Leiblichkeit in seinen entfaltungsschaffenden Grundzügen erfahrbar werden kann und dass die Art und Weise, in der die erfahrene Räumlichkeit sich manifestiert, in den Merkmalen des Raumes und ihrer Nähe zu denen des Leibes begründet liegen muss. Eines davon stelle, laut Schmitz, die Weite dar.115 Diese muss stets leibbezogen hergestellt werden respektive ergibt sich immer erst in Folge einer leiblich gesteuerten Umgebungsentfaltung.116 Ferner fügt Schmitz der Weite die Richtung und Örtlichkeit hinzu, indem er allen dreien die schon angedeutete und begrifflich in der Äußerung leiblicher Raum kondensierte Doppelfunktion attestiert, wenn er schreibt: „Das in den Ausdruck ‚leiblicher Raum‘ investierte Programm, die Räumlichkeit aus der Leiblichkeit zu begreifen, wirkt vielleicht etwas phantastisch und verwegen; ich glaube aber, dass dieser Anschein nicht zu Recht besteht. Örtlichkeit, Weite und

113 Das Erinnerte soll in den hiesigen Ausführungen an späterer Stelle, nämlich wenn es um den raumschaffenden Umgang mit der menschlichen Bedingtheit der Heimatlosigkeit geht, eine übergeordnete Rolle spielen. Deshalb sei es an dieser Stelle der Vollständigkeit halber nur kurz erwähnt. 114 Ebenda: 7f. 115 „Weite ist in der Tat ein Urphänomen sowohl der Leiblichkeit als auch der Räumlichkeit. Hier verschmelzen leibliche und außenräumliche Weite offenkundig zu einer einzigen. Daher kann der Mensch den Raum selbst, auch den leeren (‚die Luft‘) zwischen den Gegenständen, ‚mit dem ganzen Körper‘ fühlen und begreifen.“ (Ebenda: 35) 116 Zur Illustration dieser Aussage führt Schmitz ein Beispiel aus psychologischen Studien zum Ertasten als Wahrnehmungsleistung heran, in der bildhaft deutlich wird, dass das Ertasten eines unbekannten Gegenstandes gleichsam auch die den Tastkörper umschließende Umgebung verändert. Ist der Gegenstand noch unerkannt, fühlt sich der Raum dichter und verstellter an als nach dem Erkennen. Die Gewissheit um den Gegenstand weite im selben Zuge den angrenzenden Raum (vgl.: Hippius 1934 zitiert in: ebenda: 37f.).

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Richtung haben sich […] als Grundzüge des Leiblichen erwiesen, und sie bestimmen ebenso die Struktur des leiblichen Raumes.“117

Die Ausführungen von Schmitz (ebenso die Ausführungen Strökers und mindestens auch Schelers) legen zusammen mit den Überlegungen Massumis zur menschlichen Affizierung den Befund nahe, dass sich das leibliche Befinden räumlich verhält. Es strebt aus der Enge in die Weite, wodurch Schmitz die Weite als das Grundelement des leiblichen Raumes und damit als raumgebend bestimmen kann. Dies meint im Wesentlichen, dass der leiblich affizierte Mensch zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart wechselt, wobei der Affekt das Subjekt dazu anregt und mitunter auch ermächtigt, entfaltend tätig zu werden.118 Raumerfahrungen sind insofern häufig an die Vorgänge der leiblichen Empfindung und deren Motorik gebunden. So kann der Kandel‫ތ‬schen These vom räumlichen Denken die Schmitz‫ތ‬sche These vom räumlichen Empfinden ergänzend hinzugefügt werden. Dass sich das Empfinden von Weiteräumen und dessen Aufschließen, wie von Schmitz beschrieben, über die phänomenalen Volumina von Schall oder Gerüchen vollziehen kann, soll nun anhand der semiologischen Analyse eines Werbespots des Unternehmens Ballantine‘s119 exemplifiziert werden. Den Schmitz‫ތ‬schen und von Massumi zur leiblichen Affizierung getätigten Ausführungen werden zur Analyse des Werbefilmes auch einige Überlegungen von Scheler, Ströker, Bollnow und Erwin Strauss zur Thematik beigefügt, um das Verhältnis von Raum und Leiblichkeit exemplarisch sichtbar werden zu lassen. Der Spot vollzieht auf der narrativen Bildebene eine Visualisierung genau jenes von Schmitz beschriebenen Weiteraumes verbunden mit symbolischen wie auch indexikalischen Rückschlüssen auf den Zusammenhang zur leiblichen Verfasstheit der Protagonisten. Doch zunächst zum Inhalt: Zu Beginn kann der Rezipient gelegte Kabelläufe von einem Wohnhaus abwärts durch Straßenabflüsse in den städti-

117 Ebenda: 30. 118 Dies ist gemäß der Theorie der Bildungsaufgaben von Girmes in dreierlei Weise vorstellbar: erschließend, gestaltend und reflexiv (vgl.: Girmes 2004) . 119 Vgl.: Ballantine’s (2007): Leave an Impression. o.O.

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schen Untergrund mittels einer Kamerafahrt entlang der Kabelspur beobachten. Am Ende der Spur eröffnet sich dem Betrachter in der grottenähnlichen Kanalisation mit Verliescharakter ein Sessel mit Tisch und Plattenspieler, auf den ein junger Mann vorsichtig eine Vinylscheibe auflegt. Es wird deutlich: Die Kabel fungieren als Stromzufuhr für den Plattenspieler. Eine Stehlampe auf dem Tisch spendet der Szenerie warmes Licht und lässt die an sich nass-kalt anmutende, verlassende Umgebung zu einem positiv wirkenden Rückzugsort werden. In diesem Refugium der Stille setzen nach dem Aufsetzen der Plattennadel auf die Scheibe mit der Arie ‚Ne Andro Lontana‘ aus der Oper ‚La Wally‘ von Alfredo Catalani melodische Klänge voller Harmonie und Tiefgang ein, die nun für die Dauer des Stücks durch die gewaltigen Bogengänge des Untergrundes schallen. Das Fundament wirkt hierbei schallintensivierend und dient der Melodie somit als Trägerund Verstärkermedium. Der junge Mann lehnt sich zurück in seinen Sessel und genießt inmitten der Steingemäuer sichtbar den ihn umschließenden Tonraum, während die Reise des Schalls ihren Lauf nimmt. Durch Abwasserkanäle und Abflüsse, Lüftungs- und Aufzugschächte gelangt die Melodie, getragen durch eine helle Sopranstimme, aus dem Untergrund an die Oberfläche und damit in das öffentliche und private Leben verschiedenster Menschen. Allen ist eines gemeinsam: Sie können sich dem Schall und der Tonalität nicht entziehen. Vielmehr werden sie von den Klängen – mit Schmitz gesprochen – umspült und ganz in sie eingebettet. Dies ist der Moment, in dem „sich akustisch reiner Weiteraum präsentiert, namentlich, wenn jemand ganz im Schall untertaucht, so dass ihn dieser, peinlich oder erhebend, umhüllt und leiblich spürbar durchdringt und der Betroffene sich, hingerissen oder abwehrend, diesem erschütternden Eingriff zeitweise nicht entziehen kann.“120 Jener Weiteraum, ermöglicht und getragen durch das leibliche Spüren mittels Tonalität, realisiert auf diese Weise ein unmittelbares Sich-Spüren121 der Individuen. Dieses vollzieht sich in zwei wesentlichen Schritten: Nach einer ersten Irritation bezüglich der Ursache und Quelle des Musikstücks sorgt die auf die einzelnen Personen treffende Schallflut für eine angenehme leibliche Betroffenheit. Die tonale Ergriffenheit führt im Zusammenspiel mit der menschlichen Leiblichkeit zu einem Gefühl temporärer räumlicher Entfaltung. Die entspannende

120 Schmitz 2005 (1967): 48f. 121 Vgl.: Böhme 2003: 60.

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Affizierungskraft der Musik wird deutlich. Schmitz zitiert diesbezüglich Géza Révész, der zur Voluminosität des Schalls schreibt: „Er begrenzt den Raum nicht, er schließt ihn nicht ab, gliedert ihn nicht, bleibt aber doch […] raumerfüllend, ohne raumhaft zu sein.“122 Die akustische Raumfüllung, Bollnow spricht hier von präsentischen Räumen123, verleiht den unterschiedlichen dargestellten Situationen ihren je eigenen Charakter respektive eine spezifische Atmosphäre. Der Atmosphären-Begriff taucht auch bei Schmitz im Zusammenhang mit affektiver Betroffenheit auf. Er schreibt Gefühlen stark wirkende Initialkräfte für das Entstehen und Ausbreiten von Atmosphären zu, wenn er sagt: „Gefühle als Atmosphären sind stets durchdringende und ergreifende Mächte“124. Daran schließt auch die bereits weiter oben in dieser Arbeit erwähnte Atmosphären-Definition Gernot Böhmes an. Erinnernd sei sie hier nochmals angeführt: „Atmosphären sind offenbar das, was in leiblicher Anwesenheit bei Menschen und Dingen bzw. in Räumen erfahren wird.“125 Dass Atmosphären stets das Ergebnis eines empfindenden Leibsubjekts und den Einflüssen und Wirkkräften der umgebenden, konstruierten Umwelt sind126 und sich im wechselseitigen Verhältnis von leiblicher Verfasstheit und den Affizierungsmöglichkeiten und Aktivierungspotenzialen der Menschen und Dinge im Raum ergeben127, untermauert der Spot anhand unterschiedlicher Settings: Ein Mann, der gerade ein Wannenbad nehmen möchte, lehnt sich umso entspannter in die Keramikform, während andernorts eine Vorsprechprobe ihre Unterbrechung findet. Szenenwechsel: In einem Schwimmbecken übt eine Wasserballmannschaft, deren Mitspieler selbst durch das kühle Nass die aus dem Abfluss ertönende Musik wahrnehmen. In einer anderen Sequenz wird der via Kopfhörer und MP3-Player manuell inszenierte Musik-

122 Révész, Gesa zitiert bei: Schmitz, Hermann 2005 (1967): 50. 123 Vgl.: Bollnow, Otto Friedrich [2004 (1963)]: Mensch und Raum. 10. Aufl., Stuttgart, S. 243-248. 124 Schmitz 2005 (1969): 127 125 Böhme 1995: 30. 126 Auch Bollnow geht auf den Stimmungscharakter von Räumen und ihrer Verbindung zu menschlichen Eigenschaften ein. Hierbei verwendet er den Stimmungsbegriff gemäß der Heidegger‫ތ‬schen Semantik analog zum Atmosphärenbegriff von Böhme [vgl.: Bollnow 2004 (1963): 231.]. 127 Vgl.: Abschnitt 3.3.2 dieser Arbeit.

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genuss einer jungen Frau, die in einem Lüftungsrohr auf einem öffentlichen Platz ihren Rückzugsort gefunden hat, beendet und durch die raumerfüllende Arie ersetzt.128 Die Stimmung der Frau ist sichtbar entspannt und genießend. Auch die Situation in einem öffentlichen Fahrstuhl wird durch die im Schacht ertönenden Klänge harmonisiert und sogar tendenziell amourösromantisch aufgeladen. Der Schall verbreitet sich weiter und ist längst nicht mehr nur am Boden zu hören. Selbst ein Arbeiter auf einem Hochhausgerüst lehnt sich, geschafft von der Arbeit, genussvoll und den Feierabend regelrecht auf ihn einströmen merkend mit Blick auf sein Tagewerk zurück.129 Noch etwas höher sitzt eine junge Frau über den Dächern der Stadt und taucht in entspannter Körperhaltung in die musikalische Tönung der Stadtsilhouette ein. Mit Blick auf den urbanen Raum und einem erneut romantisierenden Element des Sonnenunterganges, der die Stadt in ein rötliches Licht färbt, erschließt sich auch dem Betrachter die musikalische Wirkung auf den Raum in seiner harmonisierenden Vollendung.130 Der Raum ist somit durch die Musik und ihre leibliche Berührungskraft verändert worden respektive erst durch die Arie zu eben jenem geworden. Bevor ihn die Klänge durchzogen und füllten, war er leerer und potenziell enger respektive angefüllt mit anderen leiblichen Phänomenen. Durch die Ausdehnung der Musik in die unterschiedlichen, menschlich spezifisch erfahrenen Räume konnte eine beinahe schon interventionistische Umcodierung der Raumwirkung und ihrer Ausdehnung erreicht werden. Diese Umwertung ist rein leiblich bedingt, affektiv unterstützt und damit an den Menschen und seine wahrnehmende Präsenz gebunden.131 Folglich kann die musikalische Ausdehnung als Unterstützung einer leiblich gespür-

128 Vgl.: Ballantine’s 2007: timecode: 00:00:31 und timecode: 00:00:42. 129 Vgl.: ebenda: timecode: 00:01:21 und timecode: 00:01:27. 130 Zur Verknüpfung von leiblicher Weiteerfahrung und atmosphärischer Füllung vgl.: ebenda: timecode: 00:01:29. 131 Ich verwende hier den Begriff der wahrnehmenden Präsenz, weil die Umwertung nicht ausschließlich an eine körperliche Orts-Anwesenheit gebunden ist. Wie erklärte sich sonst die Tatsache, dass die Rezipienten des Spots, körperlich an ganz anderen Orten befindlich, die atmosphärische Umdeutung dennoch bemerken und bis zu einem gewissen Grade mit- respektive nachvollziehen können.

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ten Ausdehnung gesehen und die räumliche Klangfüllung in Beziehung zu einem ergriffenen Empfinden132 gesetzt werden. Die bildsprachliche Umsetzung dieses Prozesses der leiblichen Weiteerfahrung und ihre Verknüpfung mit dem atmosphärischen Erfülltheitsgefühl durch die affektive Betroffenheit der Subjekte bringt die zuvor angedeuteten Prinzipien der Raumweite und Raumfülle zum Ausdruck. So entspricht die Reihenfolge der Situationendarstellungen einer geographisch aufsteigenden Richtung. Von bodennahen hin zu bodenfernen Örtlichkeiten nimmt der Abstand zur unterirdisch gelegenen Tonquelle mit jeder Szene des Spots zu. Dieser Anstieg entspricht der Visualisierung von Weite insofern, als dass mit zunehmender Höhe auch die räumliche Begrenztheit in den dargestellten Szenen abnimmt. Markieren die Wannenszene, das Wasserballtraining im Schwimmbecken, die Aufzugssituation oder die Einigelung in den Lüftungsschacht relativ kleine räumliche Gegenden, so sind gerade in den beiden letzten Szenen keine eng umschlossenen Gegenden mehr sichtbar. Stattdessen stellen diese nicht eng begrenzten Örtlichkeiten eine Projektion des inneren, leiblichen Empfindens auf die äußere Ebene dar.133 Ferner rekurriert die Lageerhöhung auf die metaphorische Positionierung des Freuden- und Glücksgefühls.134 Mit Schmitz gesprochen, ließe sich dieser räumliche Bezug zum Glücksempfinden wie folgt beschreiben:

132 Schmitz spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten affektiven Betroffensein, das sich stets durch ein Gefühl der Überwältigung einstelle und somit dessen Preisgabe erzwinge, wodurch es wenigstens kurzfristig Besitz vom Betroffenen erzwinge [vgl.: Schmitz 2005 (1969): 141]. 133 Hier sei noch einmal an die Formulierung Baiers erinnert, dass „[a]lle Lebensbewegungen und Lebensvollzüge […] als räumliche Transformationen wirksam“ seien. Baier schlussfolgert daraus, dass „Phänomene wie Angst, Freude, Hoffnung, Glück, Erinnern, Vorstellen, Zuneigen, Abneigen, Ausstehen, Aushalten, usw. Bewegungen unseres gesamten Lebensraumes sind. Deshalb sind Angst und Freude nicht bloß subjektive Gefühle, sondern wirkliches Engerund Weiterwerden, Dunkler-, Schwerer-, Dichter-, Heller-, Leichter-, und Klarerwerden unseres gesamten Lebensraumes.“ (Baier 2000: 8) Im beschriebenen Spot erfährt jener Zusammenhang seine gestalterische Umsetzung. 134 Den Implikationen, welche unseren gebräuchlichsten Metapherntypen zugrunde liegen, hat sich die semantische Forschung zugewandt und festgestellt, dass Grundmuster einer metaphorischen Zustandsbeschreibung existieren, denen

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„Man könnte an die Rede der Physiker von einem Schwerefeld der Erde mit hinabziehender Gravitationsrichtung anknüpfend, von einem ‚Leichtigkeitsfeld‘ mit aufstrebender, emportragender Tendenz sprechen, in das der Mensch – natürlich nicht in der physikalischen, aber in der anschaulich-phänomenalen Welt, wie sie ihm selbst gegeben ist – durch seine Freude hineingerät“135.

Dieses erhebende Gefühl, jener emotionale Auftrieb, wird von Schmitz mit dem Atmosphärischen in Verbindung gebracht. Leibbezogen geht der Freudenvorgang einher mit einer leiblichen Weitung, die sich durch ein Gefühl des Entlastetseins, man könnte auch von auftriebgebendem Affiziertsein sprechen, spürbar macht. „Die Atmosphäre, in die das leibliche Befinden [der Freude; Anm. SMG] eingebettet ist, […] ist ein Kraftfeld geworden, dessen Vectoren nach oben gerichtet sind, so dass der Aufschwung dem Leibe nicht mehr nur anheimgestellt ist, sondern schon geschenkt wird, wenn dieser sich den Impulsen des Feldes überlässt. […] Die reine Freude hebt […] den Leib, den sie als Atmosphäre trägt und emporführt, nicht so stark ab, sondern umgreift ihn ganzheitlich mit seiner Umgebung zusammen und stiftet dadurch eine sympathetische Verbundenheit beider Seiten, ein überallher und überallhin ausstrahlendes Mitschwingen des Subjekts und der Objekte mit einander […]“136.

Diese beschriebene leiblich empfundene und atmosphärisch ausstrahlende Leichtigkeit137 wird als Resultat auf das leibliche Empfinden der Musikklänge und ihr Hervorrufen affektiver Betroffenheit in die motivische und

wir uns intuitiv bedienen. Zu solchen Mustern gehören beispielsweise die Lagezuschreibungen: oben ist gut / unten ist schlecht, die auch den hiesigen leiblichen Empfindungen eingeschrieben sind [vgl. u.a. und besonders: Lakoff, George/Johnson, Mark (2011): Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 7. Aufl., Heidelberg.] . 135 Schmitz 2005 (1969): 116. 136 Ebenda: 119f. 137 Bollnow spricht hier in Referenz auf Binswanger (1933) vom Charakter der optimistischen Welt, die „den Menschen nicht beengt“, sondern in der „die Dinge vielmehr dem Menschen ‚Raum geben‘, und dieser sich ungehindert bewegen kann.“ [Bollnow 2004 (1963): 240]

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kompositorische Darstellung der einzelnen Szenerien symbolhaft inkarniert. Darüber hinaus mischt sich in das Gefühl der Erhebung und Losgelöstheit die Grundstimmung von angenehmer Schwere. Leichtigkeit und Schwere – zwei an sich komplementäre Empfindungsgrößen – gehen in vorliegendem Beispiel eine symbiotische Beziehung ein. Die beschriebene Weiteerfahrung wird nämlich durch das sie begleitende Wonneempfinden in keiner Weise geschmälert. Vielmehr sorgt das durch die Wonne hervorgerufene Empfinden der Eingebettetheit zu einer Vertiefung des Weiteempfindens, in dem der spürende Leib ganz und gar einzutauchen in der Lage wäre. Auch dieses Empfinden lässt sich an den Protagonisten des Spots deutlich erkennen. Sie alle lassen ihre Blicke schweifen, schauen umher und erfahren die beschriebene Weite. Das affizierende Potenzial der Freude besteht in diesem Zusammenhang also gerade in der Weitung des eigenen Wirkradius und im intensivierten Gewahrwerden seines Selbst. Massumi spricht in diesem Zusammenhang von einer Intensivierung des eigenen Existenzvermögens.138 Er sagt: „Der freudvolle Moment ist die Kopräsenz dieser Potenziale, im Kontext des körperlichen Werdens.“139 Wenngleich der Körperbegriff hier natürlich viel zu kurz greift und stattdessen durch die Semantik des Leiblichen ersetzt werden müsste, wird in dieser Aussage deutlich gemacht, dass freudvolles Erleben auf das Engste mit einer Weitung der eigenen Wirkmächtigkeit, mit einem Gefühl der Anregung zum entfaltenden Tätigsein zusammenhängt. Das den suchenden Blicken angeschlossene Zurücklehnen, z.B. des Mannes in der Badewanne, der jungen Frau im Lüftungsschacht oder eines Malers auf dem Gerüst, kann als Indiz auf ein Eintauchen in das Wahrgenommene gedeutet werden.140 Somit findet sich der freudvollen, weitendaktivierenden Affizierung im vorliegenden Fall eine weitere Anregung zur Seite gestellt – das Kontemplation auslösende Wonneempfinden. Schmitz spricht davon, dass das Gefühl der Wonne „von hingegebener

138 Vgl.: Massumi 2010: 66. 139 Ebenda. 140 Zu den akustischen Weiteerfahrungen im Werbespot und deren zunächst irritierendes Erleben vgl.: Ballantine’s 2007: timecode: 00:00:28; timecode: 00:00:36; timecode: 00:00:41; timecode: 00:00:56; timecode: 00:01:10; timecode: 00:01:17.

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Eingebundenheit in die Atmosphäre eines Gefühls abhängt“141. Auch kann hier mit Plessner argumentiert werden, der mit der zentrischen Form des Seins auf ein ebensolches „Sich-Tragen-Lassen“ von der Welt und ihrer Erscheinung im Gegensatz zu einer exzentrischen Seinsweise des „SichBehauptens“ referiert.142 Das Zusammenspiel beider Atmosphären, ausgelöst durch die Arie, lässt die starke emotionale und leibliche Betroffenheit der akustisch umspülten Menschen deutlich zutage treten: einerseits schafft die Musik einen Weiteraum, der über die mittels freudigem Empfinden ausgelöste freie, aufwärts gerichtete Entfaltung leiblich erfahrbar wird. Andererseits bewirkt das ästhetische und affektiv aufgeladene Potenzial des Musikstücks die Empfindung von Tiefe in diesem Weiteraum als wohliges Eingebettetsein in die basale, raumerfüllende Klangkraft der Tonalität.143 Ausgehend von einer leiblichen Betroffenheit, welche die Arie durch ihren raumerfüllenden Klang ausstrahlt, und die sich in leiblicher Weise an absoluten Orten verkörpert findet, wird diese durch die emotionale Kraft der Musik „in eine ganzheitliche Atmosphäre verwandelt“144 und damit zum Gefühl, das sich ausgehend von der Intervention des Klanges in die Alltagssituation weiteräumlich ergießen kann.145 Somit tritt deutlich zutage, dass die leibliche im Sinne einer affektiven Betroffenheit sich räumlich vollzieht. Zu betonen sei darüber hinaus noch, dass – und das konnte mithilfe des Beispielspots gezeigt werden – „Gefühle […] stets an leibliche Regungen gebunden und von diesen vermittelt“146 sind. Es kann somit der Schmitz‫ތ‬schen These zugestimmt werden, dass „die Ergriffenheit durch ein

141 Schmitz 2005 (1969): 124. 142 Vgl.: Plessner, Helmut (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin. Und darauf bezugnehmend: Fuchs 2000: 48f. 143 Jene tonal hervorgerufene Eingebettetheit gehört in der Tat zu den basalen Empfindungsmustern. Man denke nur an Einschlaflieder für Babys und Kleinkinder, die durch die beruhigende Wirkung des Klanges so erfolgversprechend sind. Ferner sind Stimmen und Geräusche bereits von ungeborenen Kindern im Bauch der Mutter zu hören. Auch der Herzschlag der Mutter begleitet das Kind stets in den Monaten vor seiner Geburt. 144 Schmitz 2005 (1969): 151. 145 Vgl.: ebenda. 146 Ebenda: 153.

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Gefühl […] immer leiblich“147 ist. Hier geht Schmitz mit Scheler d’accord, der ebenfalls von Leiblichkeit als Basis für emotionale Ergriffenheit spricht.148 Übertragen auf die hiesigen Überlegungen zur Verbindung von Leiblichkeit und Räumlichkeit ließe sich schlussfolgern, dass Bindungen an Räume, die, der Schmitz‫ތ‬schen und Scheler‫ތ‬schen Überlegungen folgend, Produkte leibbezogener Erfahrungen sind, sich maßgeblich über ihre Verbindung mit affektiven Betroffenheiten steuern lassen. Somit stellen Raumbindungen aus leibbezogener Sicht nicht nur affektgeladene Beziehungen des Menschen zu gegenständlichen Teilen und anderen Menschen seiner Umwelt dar, sondern sind, schließt man sich dem von Schmitz geprägten Leiblichkeitsbegriff an, immer auch ganz individuelle Ergebnisse eines betroffenen Sich-Spürens149 im Sinne einer umweltbezogen realisierbaren Selbstvergewisserungserfahrung150. Diese wird möglich durch eine Nutzung der umgebenden Elemente und Menschen sowohl als Quellen wie auch als Projektionsflächen eigener Befindlichkeiten. Das Stimmungshafte wird somit getreu der Heidegger‫ތ‬schen Begriffsverwendung151 zum Schnittpunkt von Subjekt und Objekt, von Mensch und Dingwelt, und damit – wie Bollnow treffend formuliert – „zum Schlüsselphänomen für das Verständnis des gelebten Raums“152 – ein Raum, der aktivierend aber auch hemmend, der beflügelnd aber auch erniedrigend wirken kann. Abschließend seien noch Erwin Straus und seine leibanthropologischen Studien erwähnt. Wie Scheler und Schmitz verbindet Straus mit der Leiblichkeit das Vermögen doppelseitiger Wahrnehmung. In Korrespondenz mit den ihnen zugrunde liegenden Wahrnehmungsformen des Erkennens und Erleidens unterscheidet auch er zwei unterschiedliche Arten der Raumwahrnehmung. „Das eine hebt das Was des Gegebenen hervor, das andere das Wie des Gegebenseins; das eine ist gegenständliches Wahrnehmen, das

147 Ebenda. 148 Vgl.: Scheler 1980: 166. 149 Vgl.: Böhme 2003: 61. 150 Vgl.: ebenda: 62. 151 Vgl.: Heidegger, Martin [2001 (1927)]: Sein und Zeit. 18. Aufl., unveränd. Nachdr. der 15., an Hand der Gesamtausg. durchges. Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handex. des Autors im Anh., Tübingen, S. 134ff. 152 Bollnow 2004: 231.

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andere eher zuständliches Empfinden“153. Diese beiden Wahrnehmungsformen münden nun in ein jeweils spezifisches räumliches Erleben der Welt, deren Verhältnis Straus wie folgt umschreibt: „Der Raum des Empfindens verhält sich zum Raum der Wahrnehmung wie die Landschaft zur Geographie.“154 Das bedeutet, dass die sich leiblich vollziehende affektive Betroffenheit das Zentrum für die menschliche Umweltwahrnehmung markiert und diese landschaftlich imaginiert, da die Betroffenheit als absoluter Ausgangspunkt für empfundene Nähen und Fernen fungiert. In der Konstituierung der an das leibliche Vermögen des Gerichtet-Seins155 geknüpften Landschaft vollzieht sich somit gemäß der Schmitz‫ތ‬schen Kategorisierung leiblicher Räume eine Verschmelzung von Weite- und Richtungsraum. Nähe und Ferne können demgemäß als Resultate der menschlichen Beweglichkeit und damit im Löw‫ތ‬schen Sinne als relational angesehen werden; die Landschaft entspräche vor diesem Hintergrund der veränderlichen (Gefühls-)Wahrnehmung der um und durch uns aufgespannten Welt. Ihre Veränderlichkeit und Subjektivität deutet sich bereits durch die Anbindung an permanente, menschliche Bewegung an, wird bei Straus jedoch begrifflich weitaus konturierter formuliert, indem er hier vom „Werden“156 des Menschen spricht. An dieser Stelle wird ein direkter Bezug zu Böhmes Leibbegriff deutlich. Wir erinnern uns, dass er Leiblichkeit mit dem Vermögen des ‚geburtlichen Lebens‘, einem sich immer wieder neu Erlebens und Kennenlernens, in Beziehung setzt. Straus referiert indirekt auf eben jenen Aspekt, indem er Raumempfindungen und -wahrnehmungen explizit an das entwicklungsverhaftete Subjekt und seine wachsende Individualität als Prozess bindet. „Der geographische Raum hingegen abstrahiert vom leiblichen Zentrum; es bildet in ihm nur noch eine Position unter vielen. Die Punkte dieses Raumes stehen in vertauschbaren, nicht mehr gerichteten Relationen zueinander.“157

153 Vgl.: Straus, Erwin (1960): Psychologie der menschlichen Welt. Berlin, Göttingen, Heidelberg, S. 151 bei: Fuchs 2000: 59. 154 Straus, Erwin (1956): Vom Sinn der Sinne. 2. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg, S. 335. 155 Vgl.: Fuchs 2000: 62. 156 Straus 1956: 366. 157 Fuchs 2000: 61.

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Somit ist der ‚geographische Raum‘ in Übereinstimmung mit den Schmitz‫ތ‬schen Erläuterungen, in denen der ‚Ortsraum‘ in etwa das explikatorische Pendant darstellt, eher das Ergebnis der Verhältnisse der zahlreichen vorhandenen ‚landschaftlichen Räume‘ (bei Schmitz: ‚Weiteräume‘ und deren Richtungscharaktere), die als Koordinaten relative, zumeist kulturell determinierte und als solche synthetisierbare Ortsgrößen bilden. Bezeichnet Straus dies auch zum Teil mit anderen Termini, so können doch zusammenfassend Weite, Richtung und Örtlichkeit als die drei Hauptmerkmale von Leib und Raum definiert werden.158 Das atmosphärische Raumschaffen bringt damit die dingliche Umwelt mit den Gefühlen des Menschen und seinen mentalen Aktanten in einen wechselseitigen Zusammenhang. Diese von Franz Xaver Baier als Lebensräumlichkeit respektive gelebter Raum159 bezeichnete Symbiose ist ein zentrales Handlungsund Wahrnehmungsergebnis, welches das Leben als Entwicklungsprozess entscheidend mitstrukturiert und damit in großem Maße auch die auf menschliches Handeln einwirkende Voraussetzung respektive Handlungen auslösende Bedingtheit darstellt. Erinnern wir uns noch einmal an die Grundtätigkeiten der ‚Vita activa‘ bei Hannah Arendt und ihre Daseinsgebundenheit an die menschlichen Bedingtheiten des Lebens. Leiblichkeit stand hier in enger Verknüpfung mit der Grundtätigkeit des Arbeitens – von Girmes ergänzt um die Begriffe des In-Gang-Haltens und der Reproduktion.160 Was folgt daraus nun aber bezogen auf den Raum? Der Zusammenhang von Leiblichkeit als basaler Bedingtheit menschlichen Lebens mit der Grundtätigkeit und Bildungsaufgabe des Arbeitens ließe sich vor dem Hintergrund leiblicher Affizierung als Basis für das tätige In-Gang-Halten von Lebenstätigkeiten im Allgemeinen raumbezogen legitimieren, wenn man in Beerbung der Schmitz‫ތ‬schen Klassifizierung dem räumlichen Prinzip der Ausdehnung das leibliche Prinzip der Entfaltung äquivalent entgegensetzt. Entfaltung kann hier qualitativ im Sinne eines selbst-, welt- und beziehungswirksamen Tätigseins verstanden werden und fungiert in diesem Sinne als stetes Wahrnehmen, Schaffen und Erhalten eines individuellen aber auch kollektiven Handlungsspielraumes.

158 Vgl.: Schmitz, Hermann [1988 (1967)]: Der leibliche Raum. (System der Philosophie Band 3, Teil 1) 2. Aufl., Bonn, S. 42-47. 159 Vgl.: Baier 2000: 8f. 160 Vgl.: Girmes 2004: 84f.

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Dieser sei, Massumi zufolge, affektiv und damit situativ gekoppelt, was den Affekt selber zum Hoffnungsträger für die Permanenz von menschlicher Entwicklung und für die Freisetzung von situativer Potenz mache.161 Empfundene Handlungsspielräume können so als dichte Konstellationen affektiv verbundener Wahrnehmungselemente beschrieben werden. Sie lassen Handlungsoptionen aufscheinen, geben aktionale Impulse und können somit als atmosphärisch empfundene Freiheits- und Ermächtigungsräume auf der Basis spezifischer Handlungspotenziale bezeichnet werden. Anhand des analysierten Werbespots konnte exemplarisch klar gemacht werden, wie Affizierungen über leibliche Betroffenheiten zu einer Wahrnehmung von situativer Potenzialität über das Gefühl der Weite führen.162 Raumtheorie sei auf Grundlage dieser Verknüpfung von Leib und Umwelt der Zielstellung verpflichtet, „die je nach Leibweise [und affektiver Potenz der Situation; Anm. SMG] anders strukturierte Raumhabe des Subjekts als Leibsubjekt aufzuweisen und zur Darstellung zu bringen.“163 Das ist zugleich ein Plädoyer für eine Topologie von Atmosphären, die jedoch – das hat beispielsweise auch Martin Peschken in seinen Ausführungen zum atmosphärischen Gehalt von Leere im städtischen Raum konstatiert164 – aufgrund des subjektiven und flüchtigen Wesens von Atmosphären ein schwieriges Unterfangen darstellt, denn da sich Leiblichkeit und ihr Verhältnis zur Art und Weise menschlicher Herstellung und Erfahrung von Raum nur im repräsentativen Modus artikuliert, besteht die Schwierigkeit der Betrachtung des gestimmten respektive Weiteraumes in seiner oft nicht dinghaft greifbaren Existenz. Zwar beeinflusst die bauliche Gestaltung und damit der Ort, in dem sich das Individuum eingelassen findet, die atmosphärischen Wirkungsmöglichkeiten, doch vollzieht sich eine leibliche

161 Vgl.: Massumi 2010: 29. 162 Natürlich besteht dieser Zusammenhang auch bezogen auf verengende affektive Raumwirkungen, die hier jedoch aus Gründen des Umfangs nicht weiter thematisiert werden sollen. 163 Ströker 1977, S. 20f. 164 Vgl.: Peschken, Martin (2009): Blühende Steintäler, ausgetrocknete Flussläufe. Überlegungen zu Atmosphären städtischer Straßen. In: Geschke, Sandra Maria (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden, S. 244.

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Affiziertheit eben immer auch zu großen Teilen über emotionale Reize, die spezielle Elemente in der wahrgenommenen Umgebung evozieren. Dieser sinnliche Schaffungsprozess von Raum ist damit attributiv in speziell ästhetischen Kategorien beschreibbar: etwas kann beengend oder frei, drückend oder fröhlich, geheimnisvoll oder einladend wirken und lässt das leiblich affizierte Subjekt damit Hektik oder Entspannung, Traurigkeit oder Freude, Angst oder Euphorie, Einsamkeit oder Geborgenheit empfinden. Wie wir auf den vorangegangenen Seiten gesehen haben, können – mit Schmitz formuliert – leibbezogene Erfahrungen Weiteräume aufschließen, deren atmosphärischer Gehalt sich entlang ihres Aktivierungspotenzials entzündet. und in ihrer Gerichtetheit zu Richtungsräumen führen. Elisabeth Ströker verfolgt eine ähnliche Perspektive. Sie beschreibt, dass das leibliche Ausdrucksverhalten den ‚gestimmten Raum‘ und damit einen atmosphärischen Raum konstituiere, der ein kommunikativer Spiegel subjektiver Empfindungen sei. Auf diese Weise ist sein Erscheinen nicht territorial bestimmbar, sondern vielmehr an die Anwesenheit des empfindenden Subjektes geknüpft.165 Seine Ausprägung entspricht somit leiblichen Betroffenheiten als Ergebnis von räumlich situierten Kommunikationsgehalten und ist von subjektivem Charakter.166 In dieser affizierten Weise befindet sich der Mensch damit – folgt man der begrifflichen Differenzierung von Deleuze und Guattari – vor allem in glatten und eher zweitrangig in gekerbten

165 Ströker beschreibt das Wesen des ‚gestimmten Raumes‘ als „das ‚Atmosphärische‘, vom gestimmten Wesen in einer eigenen Unmittelbarkeit gewahrt.“ (Ebenda: 22) 166 Ströker beschreibt den erwähnten ‚gestimmten Raum‘ als Kommunikationsraum und knüpft damit den Umgang mit ihm an Aspekte der Sozialität des Menschen. Neben dem ‚gestimmten Raum‘ existieren für Ströker noch der ‚Aktionsraum‘ und der ‚Wahrnehmungsraum‘. Der ‚Aktionsraum‘ ist wie der Schmitz‫ތ‬sche ‚Richtungsraum‘ durch seine Intentionalität gekennzeichnet und an konkrete Handlungen geknüpft, während der ‚Wahrnehmungsraum‘ in einigen Punkten mit dem ‚Ortsraum‘ bei Schmitz korrespondiert und somit eher der Orientierung im Dickicht der Richtungsvielfalten dienlich ist. Beide, Schmitz wie auch Ströker, führen die Möglichkeit ihrer Konstruktion jedoch in allen Fällen auf die menschliche Leiblichkeit zurück.

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Räumen.167 Der glatte Raum ist der sich ungerichtet erstreckende Weiteraum, der keine logischen, orientierungsstiftenden Abfolgen in sich trägt und sich als Ergebnis eines leiblich ergriffenen Individuums um dasselbe aufspannt. Ungeachtet tatsächlicher Abstände wird der Raum hier gemäß einer Metrik der Affiziertheiten wahrnehmend vermessen. Der gekerbte Raum hingegen ist durch die strukturelle und damit (geo-)metrische Vermessung der Weite gekennzeichnet. Es ist – mit Schmitz gesprochen – die Übersetzung der Weiteräumlichkeit in eine Richtungs- und damit Ortsräumlichkeit mittels Einschnitten, Schranken, Windungen und damit optisch erschließbaren territorialen Gliederungselementen. Die topologische Kraft des glatten Raumes lässt hingegen das zum Vorschein kommen, was in der leiblich affizierten Wahrnehmung von Welt als Grundmerkmal von Weiteräumlichkeit fungiert: das sich ständig Wendende, Transformierende, die räumliche Paradoxie und (geo)metrische Abstraktion – allesamt Charakteristika, die nicht euklidisch oder gar in diachroner Reihung fassbar sind168 und gerade aus diesem Grund mit den in Abschnitt 3.1 beschriebenen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zur mentalen Raumkonstitution korrespondieren. Leiblichkeit kann somit, zusammenfassend formuliert, als Grundbedingung subjektiver Raumempfindungen identifiziert werden. Sie ist dafür verantwortlich – das konnten die vorangegangenen Ausführungen und hier speziell die phänomenologisch orientierten Betrachtungen zeigen –, dass Menschen in der Lage sind, Räume selbstbezogen zu erfahren und aus ihrer leiblichen Affiziertheit heraus zu entfalten, in deren Zuge sie emotionale Bezugnahmen zu ihrer Umwelt aufbauen, über die sie sich kontinuierlich selbst erleben und ihre variablen Zustandslagen projiziert und damit repräsentiert finden. Lebensgestaltung ließe sich vor diesem Hintergrund vor allem unter Bezug auf die phänomenologischen Theoriebezüge räumlich rekonstruieren. Es besteht somit nicht nur eine Verbindung zwischen der Leiblichkeit des Menschen und seiner Involviertheit in den Raum, sondern ebenso zwischen den individuell wahrgenommenen Raumatmosphären eines Men-

167 Vgl.: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Das Glatte und das Gekerbte. In: dies.: Tausend Plateaus. Berlin, S. 657-693. 168 Frahm, Laura (2010): Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld, S. 104.

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schen und seiner Selbst- und Weltwahrnehmung. Die Leiblichkeit führt zu affizierten Betroffenheiten und ermöglicht in der Folge die von Kathrin Busch als Interpassion bezeichnete Interaktion des Raumes mit dem Subjekt als Hybridwerdung qua Atmosphären.169 Der Begriff der Interpassion bezeichnet dabei das „Eintauchen in den Raum“.170 Dieser immersive Prozess erfolgt analog zu kommunikativen Interaktionsstrukturen und ist somit gekennzeichnet durch einen Wechsel von Aktivität und Passivität zwischen Mensch, Dingwelt und Raum. In dieser Eigenart ist der Raum ein Aktant, der mit dem Menschen die unterschiedlichsten Beziehungen eingehen kann. Die Bedingtheit der menschlichen Leiblichkeit ermöglicht somit eine selbstbezogene Form der Raumkonstruktion, die sich über die eigene Person als Wahrnehmungszentrum vollzieht. Anders formuliert, ließe sich sagen, dass über die leibliche Verfasstheit des Menschen die Selbstbezüglichkeiten an Prozessen der Raumkonstruktion erklärbar gemacht werden können. In die andere Richtung gedacht, lässt sich aber auch und vor allem betonen, dass die menschliche Bedingtheit der Leiblichkeit dazu führt, dass Räume als atmosphärische Gestimmtheiten nur dann wahrgenommen werden können, wenn etwas oder jemand das wahrnehmende Subjekt affiziert. Der Affekt wird somit zur Grundvoraussetzung für jedwede Form einer vom Menschen herstellbaren räumlichen Bindung. Das hat interessante Auswirkungen auf die nun in den Fokus der Betrachtungen rückenden weiteren Bedingtheiten des Menschen in ihrer raumkonstituierenden Kraft. 3.3.2 Heimatlosigkeit als Motor der Herstellung und Gestaltung von kulturellen Identitätsräumen Heimatlosigkeit als zweite Bedingtheit, der sich alle Menschen neben der Leiblichkeit ausgesetzt finden, hat im Vergleich zur Leiblichkeit einen weiteren motivationalen Einfluss auf die Konstruktionsweise von Raum.

169 Vgl.: Busch 2007: 13-27. 170 Jameson, Fredric (1986): Postmoderne – zur Logik und Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek, S. 88.

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Zum einen ist auch sie beeinflusst durch Leiblichkeit, sodass sie schlichtweg passiert und oft gar nicht verhindert werden kann,171 zum anderen sind Prozesse der Raumkonstruktion, welche aus der Triebfeder menschlicher Heimatlosigkeit entstehen, aber auch intentionaler bestimmt und werden auf diese Weise im Wesentlichen scheinbar reflektierter vollzogen. Geht es bei leiblich gesteuerten Raumschaffungsvorgängen sowohl um das unmittelbare Erfahren des Selbst als auch von selbstbezüglichen Gestimmtheiten in der wahrgenommenen Umgebung, folgt aus dem empfundenen Zustand der Heimatlosigkeit mit Blick auf das Ziel der Heimatschaffung zunächst eine eher materiell und körperorientiert vollzogene Form der Raumkonstruktion. Es geht hier um das (sich) Einrichten (in) der Umwelt mit dem Ziel, sich und seinen Mitmenschen (sowie den nachfolgenden Generationen) eine beständige Welt, einen Zugehörigkeitsraum, zu schaffen. Dass diese hergestellte kulturelle Welt wiederum einen direkten Einfluss auf die leibliche Raumwahrnehmung ausübt und somit auch der Atmosphärenbegriff in unmittelbarem Zusammenhang mit dem leiblichen und auf die Kompensation von Heimatlosigkeit gerichteten Raumkonstruieren steht, leuchtet schnell ein. So spricht Bollnow beispielsweise davon, dass Heimat ein „Verhältnis-Begriff“ sei, der sich erst in individueller Beziehung eines Menschen zu seiner Umwelt beschreiben ließe.172 Auch der Architekt Arno Lederer behauptet: „Heimat lässt sich im Regelfall, in wel-

171 Es sei an dieser Stelle nochmals explizit darauf hingewiesen, dass nicht alle leiblich hergeleiteten Raumtheorien von einer ausschließlich passiven Affiziertheit des Leibes als Grundlage der Raumempfindungen ausgehen. Ströker legt zum Beispiel dar, dass die Erzeugung des Aktionsraumes durch Intentionalität gekennzeichnet ist (vgl.: Ströker 1977: 24). Auch Schmitz verfolgt mit seiner Unterscheidung von Weite-, Richtungs- und Ortsraum eine Raumtypologisierung mit wachsender Intentionalität des Akteurs. Die hiesigen Ausführungen zur Raumkonstruktion durch Leiblichkeit beziehen sich auf dieser Klärungsbasis im Ströker‫ތ‬schen Sinne auf den ‚gestimmten Raum‘, im Schmitz‫ތ‬schen Sinne auf den Weiteraum. 172 Vgl.: Bollnow, Otto Friedrich (1935): Der Mensch und seine Heimat. Unter: http://otto-friedrich-bollnow.de/doc/Heimat.pdf, S. 2. [Stand: 13.04.09; 11.42 Uhr].

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cher Form auch immer, an einem räumlichen Gegenstand festmachen.“173 Somit spielt das Affiziert-Sein in seiner gestaltlichen, aber ganz besonders auch zeitlichen Weise (im Sinne einer identitätsstiftenden Geschichtlichkeit) eine Rolle. Wie genau, soll ein näherer Blick auf den Vorgang räumlicher Heimatschaffung nun explizieren: Das Leben des Menschen materialisiert sich in kulturellen Welten, die als menschliche Konstruktionen ein Pendant zur unberechenbaren und vergänglichen natürlichen Welt darstellen und ihr Beständigkeit und Sicherheit entgegensetzen sollen. Ihr Gehalt sind in einem weiten Sinne neben mentalen Aktanten und Menschen vor allem Gebrauchsgegenstände, die, so Hannah Arendt, „die eigentliche menschliche Heimat“174 darstellen. Da die Bestandteile der kulturellen Welt, dieser Natur zweiter Ordnung, im Wesentlichen keine Verbrauchs-, sondern Gebrauchsgüter darstellen und von den nachwachsenden Generationen zur Sicherung ihrer Haltbarkeit je nach Gegenstandstyp lediglich in Bestand und Funktion gehalten werden müssen, kann die hergestellte Welt als stabile und relativ beständige Umwelt bezeichnet werden.175 Arendt schreibt diesen „Weltdingen“ vor jenem Hintergrund die Aufgabe zu, „menschliches Leben zu stabilisieren“ und ihm entgegen der permanenten Veränderung der Natur eine Beständigkeit entgegenzusetzen, „die sich daraus herleitet, daß [beispielsweise; Anm. SMG] der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleich bleibender Vertrautheit entgegenstehen.“176 Das charakteristische Merkmal der hergestellten Welt ist folglich ihre verdinglichte Beständigkeit, denn jede Form der Herstellung von materiellen Gütern erschafft Welt. Auf diese Weise ist der Mensch in seiner Rolle als „Homo faber“ eine Schöpfergestalt.177 Ohne die uns umgebende kulturelle Welt, ohne Häuser und Kleidung, ohne Möbel und Werkzeuge wären wir der Unbestimmtheit der natürlichen Welt vollkommen schutzlos ausge-

173 Lederer, Arno (2009): Heimat bauen. In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung, Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 14. 174 Arendt 2001: 161. 175 Vgl.: ebenda: 162. 176 Ebenda. 177 Vgl.: ebenda: 165.

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setzt. Alain de Botton verweist im Zusammenhang mit der Beschreibung des Daheimseins auf jenen Aspekt, wenn er konstatiert: „Im psychologischen wie im psychischen Sinne brauchen wir ein Zuhause als Kompensation für unsere Verletzlichkeit.“178 Was uns als verletzliche Wesen damit an den Dingen auf der Erde affiziert, ist die Aussicht darauf, sich über ihre Aneignung im Gebrauch oder ihr Herstellen Sicherheit und Schutz, aber vor allem auch eine Artikulation von Teilen des eigenen Selbst zu schaffen. Somit ist der Raumschaffungsprozess, den die Bedingtheit der Heimatlosigkeit hervorbringt, ein diese Bedingtheit selbst kompensierender Vorgang, der sich auf die manuelle Gestaltung der Außenwelt bezieht. Dies ist natürlich, wie schon erwähnt, nicht ohne die leibbezogene Rückwirkung der Umweltgestalt auf das Individuum zu denken, denn jede Form gestalteter Welt wirkt auf uns als leibliche Wesen ein. Ein Marktplatz im Stil der klassischen europäischen Stadt wirkt durch seine Umschlossenheit und die temporäre Füllung mit Marktständen und Menschen unterschiedlichster Art anders als ein einsames Holzhaus an einem verschneiten Berghang, zu dem nur ein schmaler Pfad durch einen Nadelwald führt. Auch wirken großflächige Industriebrachen, deren Gelände menschenleer und mit Unkraut überwuchert sind, in einer bestimmten Weise, die der einer Reihenhaussiedlung mit eng aneinander hochgezogenen Wohnstätten für Familien zunächst nicht identisch sein wird. Hier kommt wieder die emotionale Gestimmtheit ins Visier, denn die Kompensation von Heimatlosigkeit mündet in Heimatschaffung und von dieser ist letztlich erst zu sprechen, wenn sie ein Beständigkeits- und damit Sicherheitsgefühl respektive die Möglichkeit zur leiblichen Entfaltung179 in Raum und Zeit180 hervorrufen kann. Damit

178 De Botton, Alain (2008): Glück und Architektur. Von der schwierigen Kunst, daheim zu Hause zu sein. 4. Aufl., Frankfurt am Main, S. 107. 179 im Sinne der bereits im Abschnitt 3.3.1 beschriebenen grundsätzlichen Handlungsermächtigung sowie der Erzeugung von Sicherheit und Vertrautheit „durch die der Mensch sich […] geborgen fühlt“ (Bollnow 1935: 4). 180 Die leibliche Entfaltung in Raum und Zeit meint neben einer durch Affizierung hervorgerufenen atmosphärischen Gestimmtheit, die die wahrgenommene Umwelt in einem situationsbezogen konsistenten Relationengefüge erscheinen lässt auch seine relative Dauerhaftigkeit. Diese ist durch eine Lebenspraxis mit den umgebenden Menschen, Dingen und anderen Elementen gekennzeichnet, welche qua wiederkehrender Erfahrung ihrer Affizierungspotenziale zugleich

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ist Heimat als empfundenes Ergebnis eines materiellen Sich-in-der-WeltEinrichtens nicht losgelöst von menschlicher Leiblichkeit betrachtbar. Vor diesem Erkenntnishintergrund lässt sich auch die Begriffsbestimmung des Heimatphänomens bei Martin Hecht verstehen, wenn er subsumiert: „Heimat ist ein Ort nur dann, wenn er ein Gefühl der Vertrautheit auslöst. Sie ist, wie Hermann Bausinger sagt, nicht nur die Basis, sondern das Wesen der Identität. Heimat zu haben, ist ein Gemütszustand und genauso, keine zu haben.“181

Heimatschaffung und Identitätsbildung bedingen sich folglich wechselseitig und sind das Ergebnis einer subjektiven, emotionalen Bindungsleistung. Dabei werden hergestellte Räume zu Charakter formenden Aktanten für den Menschen, zu „Visionen unserer selbst“182 gemäß eines „psychischen Abguss[es]“183, mittels derer wir in die Lage versetzt werden, Teile unserer komplexen Persönlichkeit abzurufen und auszuleben. Der nachhaltig erfolgreiche Umgang des Menschen mit Heimatlosigkeit erfolgt vor diesem Hintergrund nicht zuletzt auch zum Zwecke der Konstruktion atmosphärisch gestimmter Räume, deren Wahrnehmungen sich leibbezogen vollziehen lassen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Behauptung Sloterdijks verstehen, Architektur, sprich gebaute Welt, sei ein Spiel mit Immersionen zum Zwecke der Verräumlichung von Bildern.184 Dieses Eintauchen in gebaute Welt stellt zugleich ein sich den räumlichen Wirkungen Ausliefern dar, dessen Vollzug und Effekt erst durch Alternativen im Sinne von einem

eine narrative Spur, eine gemeinsame Geschichte, eine identifikatorische Verbindung herzustellen in der Lage ist. Jene in diesem Zusammenhang stattfindenden Bedeutungsaufladungen sind vielschichtig und in sich komplex. Der dritte Körper (Theweleit 2008) oder das Kollektiv respektive Akteur-Netzwerk (Latour 2000: 211ff.), welches sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Akteure ergibt, ist das Ergebnis einer prozesshaft und rhizomatisch gewachsenen gemeinsamen Geschichte von in Interaktionen entäußerten Sinnhaftigkeiten. 181 Hecht, Martin (2000): Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation. Leipzig, S. 16. 182 De Botton 2008: 107. 183 Ebenda. 184 Vgl.: Sloterdijk, Peter (2006): Architektur als Immersionskunst. In: archplus 178, S. 58-61.

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„Immersionswechsel“185 reflektierbar werden kann. Kathrin Busch, die ebenfalls auf Sloterdijk und seine These der Immersionskraft von Architektur Bezug nimmt, fasst diesen Gedanken zusammen mit der Schlussfolgerung: „Da das Bewohnen von Räumen bedeutet, ihren Atmosphären ausgeliefert zu sein, entgeht man ihnen nur, indem man Gegenräume wählt.“186 Heimatliche Räume könnten auf der Basis dieser Überlegungen als solche Räume bezeichnet werden, die eine angenehme, weitende, Möglichkeiten des eigenen Tätigseins evozierende Affiziertheit auf den Menschen ausüben und demzufolge Sicherheit oder stärkende Selbstbezüglichkeit(en) ausstrahlen. Damit wäre ‚Heimat‘ nicht nur Ziel eines Umgangs mit Teilen der Welt als lose räumliche Strukturen sondern vor allem ein psychologisches Phänomen, welches – da Menschen räumlich denkende Wesen sind – im Zusammenhang mit der mentalen Konstruktion und emotionalen Aneignung von Räumen steht. Heimat verbindet den beschriebenen Zusammenhang von Mensch und hergestellter Welt, von Selbstvergewisserung durch Schöpferkraft, und fasst den angedeuteten Vorgang begrifflich, dass Raumschaffung und -aneignung mit der Entwicklung und Spiegelung von Identitätsentwürfen verbunden ist. Räumliche Spezifika und Eigendynamiken lassen den Menschen nicht unberührt. Genau so, wie hergestellte Räume menschengemacht sind, steckt in den atmosphärischen Gestimmtheiten eine Energie, die menschliche Identitäten beeinflusst. Räume wirken somit auf das Selbstverständnis des Menschen zurück. Damit ist Heimatschaffung – im Sinne eines Sich-in-die-Umwelt-Einschreibens – letztlich auch die Gestaltung und Externalisierung einer menschlichen Innenwelt durch die Schaffung und Strukturierung ihrer umweltbezogenen Außenwelt. Hier kommt der spät- respektive postmoderne Umstand zum Tragen, dass Menschen ihre Identität nicht als festen Kern besitzen, sondern diese im Laufe ihres Lebens selbst erschaffen, konturieren und somit permanent daran arbeiten müssen. Das bedeutet auch, dass Identitäten in heutigen gesellschaftlichen Kontexten nie abgeschlossen und starr, sondern fragmentiert und lebendig, zuweilen in sich sogar recht widersprüchlich sind respektive sogar sein sollen.187 Wenn der Umgang mit Heimatlosigkeit in Heimatschaffung

185 Ebenda: 58. 186 Busch 2007: 25. 187 Vgl.: Hall 1999: 395f.

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mündet und diese wiederum in engem Zusammenhang zur menschlichen Identitätsbildung steht, dann gilt das soeben für die Identität Postulierte auch uneingeschränkt für den Prozess des Heimatschaffens. Heimatlosigkeit kompensierende Raumschaffungsprozesse avancieren damit zu fortwährend zu leistenden, selbstbezogenen Angelegenheiten im Dienste der eigenen Selbstwerdung und machen deutlich, dass „gelingende Identität raumabhängig“188 und mit dem Eintritt in die Spät- bzw. Postmoderne als dauerhafter, nicht abgeschlossener Prozess zu denken ist. So ist auch das Wohnen und die Einrichtung ihrer vier Wände für die meisten Menschen weit mehr als nur ein zweckmäßiges, am Funktionswert ausgerichtetes Möblieren und es wird schnell klar, dass Selbstwerdung unabhängig von den Bedingungen der Globalisierung stets mit Weltschaffung einhergeht. Der in dieser Arbeit und auch in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen vollzogene Gebrauch des Heimatbegriffes lässt sich hiernach als Sehnsucht des Menschen nach emotionaler Zugehörigkeit und Einverleibung der Sinnuniversen kultureller Güter lesen und verstehen.189 Doch Heimat macht sich bei weitem nicht nur an der Herstellung und Aneignung einer Dingwelt fest. Ein wesentlicher Bestandteil des Heimatgefühls wird evoziert durch zwischenmenschliche Kontakte190. Diese geben

188 Wöhler 2001: 10. 189 Selbstverständlich empfiehlt es sich, den Gebrauch des Heimatbegriffes auch unter Bezugnahme auf den vielschichtigen und mittlerweile bereits betagten Heimatdiskurs zu vollziehen. Durch konjunkturelle Hochphasen des Begriffsgebrauchs, gleichwohl aber auch durch rezessive Phasen seiner Abwertung gekennzeichnet, fand der Heimatbegriff mit den unterschiedlichsten semantischen Bezügen Verwendung. Seine differenzierte und komplexe Verwendungsgeschichte – einmal kommt er vor als territorialer, geografischer Begriff und dann findet der Terminus Verwendung in seiner sozialen, beziehungsbezogenen Determiniertheit – knüpft sich häufig an die Bewertung gesellschaftlicher und damit überindividueller Kontexte, in denen das Wort gebraucht wurde und wird. Es ist zu beobachten, dass sich Teile der Bewertung des kulturellen Gefüges jeweils auf die zeitbezogen kursierende Bedeutung des Heimatbegriffs übertragen haben. Damit ist Heimat eine kulturell determinierte Idee im gesellschaftlichen Raum, die sich äußerst vielschichtig artikulieren lässt. 190 bzw. Kontakte zu Lebewesen allgemein

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ebensolche Sicherheit und sind gleichermaßen konstitutiv für Identitätsbildungsprozesse beim Individuum.191 Gewöhnlich schreiben sich jene Interaktionen doch im Folgenden wieder konkreten Dingen oder auch ganzen Orten ein, die sodann als Erlebnisspeicher fungieren und die Stelle nach Beendigung des Austauschs zu einem Bezugsort werden lassen, der die gewesene Situation in ihrer Gegenständlichkeit für den Wiederkehrenden präsent hält. Hier wird bereits deutlich: In Beziehung zu Dingen zu treten, unterscheidet sich von solchen zu Menschen durch ihre geringere Flüchtigkeit. Wenn Arendt von der Stabilisierung menschlichen Lebens durch die Dingwelt spricht, wird genau dies deutlich. Ein Haus oder Tor, eine Straße oder ein Bild – all diese Gegenstände können auch nach Auflösung von sozialen Beziehungen noch stellvertretend für das Heimatgefüge und die persönlichen Kontakte vor Ort stehen. Sie kondensieren die Erlebnisse der betreffenden Personen, fungieren so als Gefühlsspeicher, denen die Emotionen und Geschichten an längst vergangene Zeiten zum Abruf qua sinnlicher Wahrnehmung bei (Wieder-)Entdeckung eingeschrieben sind.192 Den Zusammenhang von Dingwelt, Erlebnis und Heimatempfinden begründet Bollnow in ganz ähnlicher Weise, wenn er schreibt, dass „an jedem einzelnen Ding, jedem Baum, jedem Haus usw., das im Aufbau der Heimat seine Stelle bekommt, […] das Erlebnis [haftet], durch das es einmal wichtig geworden ist, und es […] von diesem bestimmten Ereignis nicht abzulösen [ist; Anm. SMG], ohne das Ganze der Heimat in ein bloßes Nebeneinander zusammenhangloser Dinge aufzulösen.“193 Die Dinge treten vor diesem Hintergrund als Aktanten auf, die eine semantische Stellvertreterfunktion für den heimatlichen Bedeutungsraum innehaben, der durch seine räumlich ungebundene Vergegenwärtigung via Aktant letztlich ortsunabhängig ent-

191 Da jedoch Interaktionen im Wesentlichen aus den Tätigkeiten des Handelns und Sprechens erwachsen, welche wiederum eine Umgangsweise mit der menschlichen Bedingtheit der Pluralität darstellen, liegt diesen Aktionen ein weiteres Raumherstellungspotenzial zugrunde, auf das im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen wird. 192 Nicht zuletzt auf dieser Basis erklären sich museale Räumlichkeiten, welche ihr Erinnerungspotenzial an vergangene Ereignisse und Epochen an Ausstellungsexponaten, denen der Charakter des Authentischen und damit eine Zeitzeugenatmosphäre innewohnen, festmachen. 193 Bollnow 1935: 3.

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faltet werden kann. Damit wird das Ding an sich zum erlebnisbezogen affizierenden Element – und das dauerhaft. Mit Blick auf das bereits Explizierte kann geschlussfolgert werden, dass sich der Terminus ‚Heimat‘ besonders durch seinen Motivreichtum auszeichnet. Er wird folglich als Kennzeichnung einer subjektbezogenen Zugehörigkeit verwendet, die entweder territorialer, nationaler oder sozialer – in jedem Fall aber emotionaler – Art ist. Die Emotionalisierung des Heimatbegriffes erfolgt dabei häufig über eine Verlusterfahrung räumlicher und/oder sozialer Zugehörigkeiten. So genannte ‚Gegenerfahrungen‘ wie Fremd- oder Isoliertheit, Aufbruch oder Vertreibung führen, wie Mitzscherlich eingängig erläutert, häufig erst zu einer Generierung von Heimatbildern.194 Und dann nicht selten zu solchen verklärter Art, die an romantisierende Beschreibungen der bäuerlichen Lebensweise im Zuge der Industrialisierung erinnern.195 Diese melancholische Ummantelung des als ‚Heimat‘ Imaginierten wird subsumiert unter dem Konzept des bürgerlichen Heimatbildes und ist, raumbezogen betrachtet, ein interessantes Phänomen. Augenscheinlich ist Heimat hier ein Entwurf der Vorstellung und Erinnerung, ein Projekt der Identitätssuche, ausgelöst durch die kulturelle Welt und deren Sinnhaftigkeit in Rückschau auf die Hybridisierung ihrer Bestandteile mit dem Menschen. Heimat wird damit in dieser semantischen

194 „Heimat ist immer Gegenbegriff zu Fremde.“ [Bausinger, Hermann (1984): Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Heimat heute. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, S. 12] 195 Mitzscherlich 2000: 44. (Mit zunehmender Industrialisierung und als Ergebnis eines gewandelten Naturverständnis erfuhr die ‚Heimat‘ seit der Renaissance im europäischen Raum eine semantische Aufladung als romantisierende Beschreibung der bäuerlichen Lebensweise. Diese kompensatorische Gegenbildentwicklung hatte zum Ziel, den Missständen der Gegenwart ein Sehnsuchtsbild, eine nostalgische Fiktion entgegenzuhalten, die mit Natürlichkeit und Freiheit assoziiert werden konnte. Der Naturraum fungierte hier als Gegenbild zum Kulturraum. Er wurde als Raum der individuellen Entfaltung, des authentischen Lebens, verklärt, der die Individualität vor der Härte gesellschaftlicher Vermassung zu bewahren versprach. Die reale Härte des bäuerlichen Lebens als Pendant zur städtisch-industrialisierten Lebensweise wurde hierbei jedoch komplett ausgeblendet.)

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Facettierung zur emotionalen Bewertungsgröße der Hybridwerdung einer Person mit Teilen seiner spezifischen Umwelt erhoben. Der heimatliche Raum ist die qualitative Projektierung genau jenes organischen Hybrids analog zum soziologischen Identitätskonzept196, welches Identität als Verbindung menschlicher Binnenverfassung und dem weltlichen Außen ansieht, und stellt somit eine Exemplifizierung der Baier‫ތ‬schen Behauptung, dass sich Raum (nur) als Binnenverfassung erschließen lasse, dar.197 Die Entscheidung, sich im Zusammenhang mit dem heimatbezogenen Begriff des Wohnens, auf den noch einzugehen sein wird, an der Differenz von Innen und Außen zu orientieren198, wird durch das Paradigma des Inside-Out, einem der zentralsten Paradigmen der Moderne, die ihre Explizierung im soziologischen oder architektonischen Bereich in einer steten Auseinandersetzung mit Formen und Möglichkeiten der Repräsentation des Außen im Innen und einer Übertragung des Innen auf das Außen vollziehen, legitimiert.199 Dieser Gedanke revolutionierte bereits im 19. Jahrhundert die bür-

196 Wenn man vom Heimatschaffen als Identitätsstiftungsprozess ausgeht, dann wird die Doppelseitigkeit jenes Vorgangs deutlich, denn über heimatliche Räume im Sinne von Identitätsräumen werden „sowohl die Subjekte als auch die kulturellen Welten, die sie bewohnen“ stabilisiert (Hall 1999: 395). 197 Vgl.: Baier 2000: 90. 198 Auch die von November 2008 bis April 2009 im Kunstmuseum Wolfsburg stattgefundene Ausstellung „Interieur/Exterieur. Wohnen in der Kunst. Von der Interieurmalerei der Romantik zum Wohndesign der Zukunft“ beschäftigte sich mit genau diesem Wechselwirkungsverhältnis und seiner Umsetzung in der bildenden Kunst und dem Wohndesign. Konstatiert wurde hierbei, dass seit dem Beginn der Moderne eine Entwicklung zu verzeichnen sei, die das Wohnen zwischen Cocooning und Entgrenzung als zunehmende Öffnung des Interieurs hin zur Außenwelt verstehen lässt [vgl.: Brüderlin, Markus (2008): Einführung InterieurExterieur. Die moderne Seele und ihre Suche nach der idealen Behausung. In: Brüderlin, Markus/Lütgens, Annelie (Hrsg.): Interieur Exterieur. Wohnen in der Kunst. Ostfildern, S. 14f.]. 199 Auch in philosophischen Diskursen legte diese Dichotomie und die ihr innewohnende Spannung verschiedentlich Grundsteine für Denkfiguren, welche sich ganz besonders für qualitativ hochwertige urbane Raumplanungs- und -gestaltungsprozesse eignen und die im Abschnitt vier dieser Arbeit detailliert herausgearbeitet werden sollen.

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gerliche Gesellschaft, als Siegmund Freud im Zuge der Entwicklung seiner Psychoanalyse „das Interieur der Wohnung zum Exterieur der Seele“200 erklärte. Auch in Zeiten des Biedermeiers keimte der gedankliche Kern dieser Begriffsverwendung auf. Hier galt Heimat als nicht-öffentliche beziehungsweise als unpolitische Sphäre und der Rückzug in den Privatraum als Einigelung vor der Außenwelt – ein Gedanke, welcher in den 1990er Jahren seine begriffliche Renaissance als ‚Cocooning‘201 erleben sollte.202 Auch die architektonische Arbeit von Adolf Loos orientierte sich intuitiv an der Körperlichkeit von Gebäuden und ihrer leiblichen Wirkung respektive an der ‚Interpassion‘ des gebauten Raumes als Aktant auf den bzw. mit dem Menschen.203 Loos verstand das Bewohnen eines Hauses durch einen Menschen analog zum Bewohnen des Leibes durch die Seele.204 Getreu der diversen menschlichen Seinsweisen und Gemütstiefen wurden Zimmer mit unterschiedlich hohen Decken konstruiert. Ferner wurden Nischen und Treppen eingefügt, die eine Erschließung des Gebäudes je nach Anliegen und Verfassung auf die verschiedensten Wege und Weisen möglich machen sollten. Ein solcher Raumplan, der im übertragenen Sinne die innere Verwinkelung des Leibes zu materialisieren versuchte, war zur damaligen Zeit eine komplette Innovation. Ziel war keine künstlerische Überhöhung der Architektur, sondern eine lebensnahe Einbindung ihrer Existenz durch eine Orientierung an den individuellen, leiblichen Bedürfnissen ihrer Bewohner205, die das Haus – mit Bollnow gesprochen – als Erweiterung des

200 Brüderlin 2008: 16. 201 Faith Popcorn prägte diesen Begriff zu Beginn der 1990er Jahre. [vgl.: Popcorn, Faith (1992): Der Popcorn Report : Trends für die Zukunft. München, S. 39-46.] 202 Die Gründe für eine solche Eingrenzung des Heimatraumes sieht Mitzscherlich in Anlehnung an Bausinger in der gescheiterten frühbürgerlichen Revolution und des hierdurch „zurückgebliebenen politischen Einfluß[es] des Bürgertums.“ (Mitzscherlich 2000: 36) Die Überzeugung, lediglich im Privatraum abseits der Öffentlichkeit nach eigenen Bestimmungen und Entscheidungen leben zu können, führte zu jenem Rückzug aus dem öffentlichen Leben. 203 Vgl.: Busch 2007: 13-27. 204 Vgl.: Brüderlin 2008: 16. 205 Vgl.: ebenda.

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Leibes versteht.206 Somit zeigt sich, dass die Qualität von gelungener Architektur nicht zuletzt auch in einer Stimmigkeit von externalisiertem Innen und internalisiertem Außen, also in der materiell-affizierbaren Repräsentationsfähigkeit menschlicher Gestimmtheiten und Bedürfnisorientierungen verwurzelt liegt.207 Hier tritt deutlich zutage, dass Heimatschaffung mit dem Bewohnen einer Umwelt einhergeht. Dieses Bewohnen wiederum greift nun logischerweise zu kurz, wenn man es lediglich auf den Innenbereich bezogen denkt. Gerade auch auf den Außenbereich übertragen, kristallisiert sich heraus, was Heimatschaffung bedeutet: gestaltendes Tun im und mit dem Raum sowie dessen Bewertung.208 Dabei hat „gebaute Heimat […] viel mit Freiheit und Spielraum zu tun. Sie erlaubt dem Menschen ein Mitwirken“209, welches abhängig von den Möglichkeiten, die die bauliche Struktur zulässt, den Grad der „lebendigen Auseinandersetzung mit der sozialen und baulichen Umwelt“210 bestimmt. Folglich transportiert sich über den Heimatbegriff neben einer territorialen Ortsbezüglichkeit vornehmlich die emotionale und aktionale Personenbezüglichkeit in Form der subjektiv gefärbten Wahrnehmung und gestalterischen Aneignung der eigenen Umwelt mit. Schließlich ist ein Ort nicht für jeden dort lebenden Menschen qua Ansiedelung auch heimatliche Verwurzelung. Mitzscherlich spricht vor diesem Hintergrund, wie bereits erwähnt, von Heimat als psychologischem Phänomen, welches sich aus drei Dimensionen zusammensetzt: Subjektivität, Ambivalenz und Funktionalität.211

206 Vgl.: Bollnow 2004 (1963): 292. 207 Vgl.: Flagge, Ingeborg (2009): Gute Architektur – Identität – Heimat. In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung, Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 70. 208 Bereits an diesem Punkt sei auf die Wichtigkeit von Narrationen als Produkte der Versinnbildlichung des Umwelt-Mensch-Gefüges, welche im Abschnitt 4 detaillierter betrachtet werden, hingewiesen. 209 Flagge 2009: 70. 210 Prof. Hartmut Häußermann zitiert bei: Deimer, Josef (2009): Stadt als Heimat. In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung, Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer BadenWürttemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 60. 211 Vgl.: Mitzscherlich 2000: 44.

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‚Subjektivität‘ meint, dass ein personales Heimatverständnis stets individuell generiert werde und dabei sowohl von den subjektiven Bedürfnissen ausgehe, die eine Person an eine Umgebung habe, als auch von ihren Fähigkeiten getragen werde, diese Bedürfnisse in jener Umgebung zu realisieren.212 ‚Ambivalenz‘ bezieht sich hingegen auf die in Umgebungen eingeschriebenen Möglichkeiten zur Realisierung von menschlichen Bedürfnissen und gleichzeitig auch auf solche Elemente, die einer Bedürfnisbefriedigung entgegenwirken. An konkreten Orten sind stets beide Aspekte wirksam, vergleichbar mit der Art und Weise des individuellen AffiziertWerden-Könnens und den Möglichkeiten des Affizierens von etwas oder jemandem als zusammengehörige Vorgänge. Ob ein Ort als heimatlich empfunden werde oder nicht, hänge nun also vom Individuum und hier genau davon ab, welche Aspekte es im Hinblick auf seine Werteorientierung als besonders wichtig erachte.213 Die ‚Funktionalität‘, welche dem Heimatbegriff semantisch eingeschrieben ist, umfasst seine gesellschaftliche oder kulturelle Determiniertheit, das heißt, sie sagt aus, dass jeder Mensch in seiner Vorstellung von Heimat zu gewissen Teilen immer schon extern durch seine Sozialisation, gesellschaftliche Anforderungen und damit verbundene kulturelle Prägungen beeinflusst wird. Das, was wir als Heimat für uns bezeichnen können, ist somit keine bloße subjektive und autonom gefasste Entscheidung, sondern stets auch partiell ein Ergebnis unserer sozialisatorischen Einbindung in die hergestellte Welt. Damit führt die Frage nach Heimat ähnlich der Kulturfrage in eine Art Paradoxie, die Siegfried J. Schmidt bezogen auf die Kultur wie folgt formuliert hat und die sich auch in Teilen auf die Betrachtung von Heimat übertragen lässt:

212 Vgl.: ebenda: 44f. Das folgende Beispiel soll dies illustrieren: Ist man ein theaterbegeisterter Mensch, so würde man sich eher einem Ort zugehörig fühlen, der einem die Möglichkeit gibt, Konzerte und Schauspiele zu besuchen. Kann man dafür jedoch nicht so viel Geld ausgeben, wie für die Theaterkarten verlangt wird, so erschöpft sich die Bedürfnisbefriedigung bereits aufgrund der eigenen finanziellen Möglichkeiten. Dies wiederum wirkt sich nachteilig auf die Raumbindungen im Sinne eines heimatlichen Zugehörigkeitsempfindens aus und segregiert auf diese Weise ganze Bevölkerungsschichten. 213 Vgl.: ebenda.

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„In Bezug auf die Reflexion über diese Themen kommen wir sozusagen immer schon zu spät, weil immer schon vorausgesetzt ist, was Thema ist, und investiert wird, was untersucht werden soll: Kognition, Kommunikation und Kultur.“214

Es kann somit festgehalten werden, dass Heimat ein multidimensionaler Begriff ist, dessen Betrachtung eine Auseinandersetzung mit der emotionalen, aktionalen und kulturellen Kraft von Räumen als Hybride von Menschund-Ding-Vereinigungen bedarf. Wie bereits angedeutet, verläuft somit in jenen Räumen kein einseitig vom gestaltenden Subjekt zur gestalteten Objektwelt beschreibbares dichotomes Machtgefälle. Dass auch die Dingwelt etwas mit dem Menschen macht und sie dabei verändert, ist seit einigen Jahrzehnten in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter vor allem in der transdisziplinär ausgerichteten Akteur-Netzwerk-Theorie in den Fokus der Betrachtungen gerückt. „Dinge dringen so tief in unser Leben ein, daß man behaupten darf, es lebe sich durch sie. Wir lernen unentwegt von ihnen.“215 Diese Sätze von Gert Selle, der sich in den 1990er Jahren gezielt mit der Kraft und dem Einfluss der Dingwelt auseinandergesetzt hat, machen deutlich, dass das Entstehen von als heimatlich empfundenen Räumen mittels konkreter Gegenstände im beschriebenen Sinne folglich verhindert, zugelassen oder sogar begünstigt werden kann. Da die Möglichkeiten der leiblichen Ergriffenheit durch die materialisierte Welt als wahrgenommene Umwelt natürlich eingeschränkt und von ihr beeinflusst werden, können Erkenntnisse über die kulturelle Welt und ihren Einfluss auf dinggesteuerte Raumkonstruktionen – so die These – auch im Rückblick auf leibbezogene Raumwahrnehmungen und -konstruktionen fruchtbar gemacht werden. Nicht zuletzt verwies schon Böhme in seiner bereits erwähnten Definition des Atmosphärischen auf diese Zweiseitigkeit jenseits der Subjekt-Objekt-Achse.216 So lassen der Gemütszustand und die leibliche Verfassung eines Menschen immer nur bestimmte Raumwahrnehmungen zu, gleichsam evozieren

214 Schmidt, Siegfried J. (2000): Kultur und die große Fiktionsmaschine Gesellschaft. In: Düllo, Thomas et. al. (Hrsg.): Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster, S. 101. 215 Selle 1997: 9. 216 Vgl.: Böhme 1995: 34.

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aber auch die Dinge in ihrer Umwelt nicht alle Formen von Empfindungen, sondern schränken diese durch ihre Art und Weise bereits ein. „Der Bestand der Dinge um uns herum scheint den eigenen Bestand, die momentane, immer gefährdete, eingebildete Subjekt-Identität, das Bewusstsein einmal und nur so auf der Welt zu sein, zu garantieren. Nichts ist beständiger, nichts gefährdeter als die Vorstellung vom unverwechselbaren Ich, das sein ››eigenes Leben‹‹ führt, obwohl […] es ››eigenes Leben‹‹ im objektiven Sinne nicht gibt. Aber das ist der Blick, mit dem die Gegenstände in ihrer unmittelbaren Bedeutung gemessen, persönlich angeeignet und in die Biographie oder die Fiktion vom eigenen Leben integriert werden, um eben diese lebenswichtige Illusion aufrechtzuerhalten.“217

Selle beschreibt hier den Umgang des Menschen mit den Elementen der von ihm geschaffenen und stets neu bespielten kulturellen Welt als Konsumprozess, in dessen Zuge Ware und Inventar kulturell institutionalisierter Bereiche, die wie Warenhäuser fungieren, über persönliche Aneignungsvorgänge zur Artikulation des Individuellen benutzt werden. Eben jener Prozess der Schaffung eines eigenen Sinnuniversums, von ihm als Set von „Bindungsobjekte[n]“ beschrieben, „die mit biographischer Bedeutungsmasse aufgeladen […]“218 sind, ermöglicht es den Menschen auf der Basis des gleichen kulturellen und natürlichen Weltbestands ihre je eigenen Lebensräume zu generieren und damit ihre Heimatlosigkeit zu kompensieren.219 Medial verdichtet werden diese Bedeutungsaufladungen, wie wir später noch sehen werden, über Narrationen, die ebenfalls in besonderem Maße den Gehalt und die innere Struktur einer Kultur prägen und repräsentieren. Auch umgekehrt legt die vorhandene materielle Welt die Möglichkeiten der menschlichen Heimatschaffung fest, indem die den Dingen eingeschriebenen Programmatiken den Spielraum der Aneignung durch den Menschen einschränken. Zwar kann ich einen Tisch nicht nur zum Essen, Abstellen von Gegenständen oder als Schreibunterlage nutzen. Ich kann auch auf ihn steigen oder ihn als Sitzfläche benutzen, mit ihm Türen verbarrikadieren oder mich unter ihm verstecken. Doch sind mit seinen Merk-

217 Selle 1997: 94. 218 Ebenda: 94f. 219 Vgl. hierzu die Ausführungen von Beck/Beck-Gernsheim (1994).

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malen gleichzeitig auch seine Nutzungsmöglichkeiten begrenzt. In diesem Sinne eröffnen die Handlungsskripte, welche den Dingen eingeschrieben sind, eine begrenzte Anzahl an Handlungsoptionen, die wie Leerstellen im rahmentheoretischen respektive auch rezeptionsästhetischen Sinne zu lesen sind.220 Der Umgang mit hergestellter Welt ist dabei im Wesentlichen nichts anderes als eine permanente Umsetzung solcher Frames. Innovatives Handeln, z. B. im Zusammenhang mit der Umfunktionierung von Gegenständen, wäre darüber hinaus ein Erweitern des Skripts respektive ein erweitertes Wahrnehmen der qua Form vermittelten Potenzialität der Dinge. Beides – die Realisierung und Ausweitung von Handlungsskripten – kann als die essentielle Arbeit an und mit der kulturellen Welt bezeichnet werden.221 Auch ein Blick auf die Existenz von Dingen und deren Gebrauchsmuster verrät viel über die Beschaffenheit der kulturellen Welt eines Menschen. Man denke nur an den Stellenwert von Autos in unserer Gesellschaft. Oder an das Aktantenarrangement von Schrankwand, Sofa und Fernseher auf Fernsehschrank in deutschen Wohnzimmern. Hineinsozialisiert in eine solche kulturelle Welt bedeutet Heimat eben auch bezogen auf das Autofahren ein Sich-Entfalten im Unterwegs-Sein oder das einigelnde Zuschauen beim

220 Das Rahmenkonzept geht von der Annahme aus, dass eine sinnbezogene Deutung von Objekten und Ereignissen durch ein Repertoire an Mustern ermöglicht wird, welches sich ein Mensch im Laufe des Lebens durch seine gesellschaftliche Einbindung aneignet. Die Rezeptionsästhetik ihrerseits bezieht Leerstellen auf die vom Leser zu füllenden Aspekte in einer Erzählung zum Zwecke seiner Aktivierung [vgl.: Goffmann, Erving (2008): RahmenAnalyse: ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. 1. Aufl. (Nachdruck), Frankfurt am Main. und: Iser, Wolfgang (1994): Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl., München.] . 221 Handlungsanalysen wären in diesem Zusammenhang Rahmenanalysen, in denen Deutungsmuster von Welt an die Oberfläche gehoben werden können, die gezielte Aufschlüsse darüber geben können, wie die Kultur des Menschen als formenhafte Affizierungslandschaft strukturiert ist. [vgl.: Donati, Paolo R. (2001): Die Rahmenanalyse politischer Diskurse. In: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöfer, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen, S. 162 und: Massumi 2010.]

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Leben der Anderen im Fernsehprozess. In einer Welt, in der andere Aktanten existierten oder stark gemacht würden, veränderten sich mit den Aktionsoptionen folglich auch die Erlebnisqualitäten und das damit verbundene Heimatgefühl. Der Raum, in dem wir uns heimisch und damit sinnhaft verwurzelt und handlungsfähig fühlen, ist folglich in seiner Struktur ein Konglomerat aus Akteur-Netzwerken. So bildet nicht nur die Leiblichkeit die Grundlage für die Konstruktion atmosphärischer Weiteräume, sondern führt zusammen mit der Heimatlosigkeit zu einer spezifisch atmosphärischen Raumkonstruktion – dem kulturellen Raum als Raum der emotionalen und identifikatorischen Verwurzelung eines Menschen. Dieser ist in seinen Teilstrukturen stets gesellschaftlich vordeterminiert, will sagen, die vorfindbaren Arrangements sind als bestimmte Settings aufgrund ihrer zu großen Teilen konventionalisierten Bestandteile identifizierbar. So plädiert Martina Löw im Zuge ihrer Begriffsbestimmung von ‚Raum‘ als eine Bezeichnung für eine soziale Akteurskonstellation, die gemäß ihrer im Zuge der Erstellung vollzogenen Handlungen und ihrer örtlichen Bezugnahme auf natürliche und künstliche Gegenstände beschreibbar ist, im Unterschied zu Bourdieu vollständig dafür, institutionalisierte Räume bzw. Orte im steten Zusammenhang mit dem Sozialen wahrzunehmen.222 Hierbei definiert sie Raum als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“223. Dieser von Löw als ‚Spacing‘ bezeichnete Prozess wird um einen weiteren raumkonstituierenden Akt ergänzt: die ‚Syntheseleistung‘. Unter vorstrukturierten Bedingungen, wie z.B. gesellschaftlichen Raumvorstellungen oder einem geschlechts- und kulturspezifischen Habitus, werden hierbei Menschen und Gegenstände sowie symbolische Elemente durch Wahrnehmungs-, Imaginations- und Erinnerungsvorgänge zu einheitlichen Räumen zusammengefasst.224 Mit dieser Zweiteilung beerbt sie die Erkenntnisse Dieter Läpples, der ebenfalls explizit betonte, dass Räume das abstrakte „Resultat menschlicher Syntheseleistungen“, d.h. einer multiörtlichen Bezugnahme und zeitunabhängigen mentalen Verbindung einzelner Orte miteinander seien.225 Sie sind damit das Resultat von

222 Vgl.: Löw 200: 152-230. 223 Ebenda: 224. 224 Vgl.: ebenda: 160. 225 Hier das komplette Zitat: „ ‚Raum‘ ist also nicht etwas unmittelbar gegebenes und wahrnehmbares, sondern ergibt sich erst als Resultat menschlicher Syn-

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Atmosphären, die der Löwschen Definition folgend, als Ergebnisse der „Wahrnehmung von Wechselwirkungen zwischen Menschen oder/ und aus der Außenwirkung sozialer Güter im Arrangement“226 entstehen. Beide Vorgänge – das Spacing und auch die Syntheseleistung – vollziehen sich im Alltag zumeist routinisiert durch das ‚praktische Bewusstsein‘, von dem Löw in Bezug auf Giddens im Unterschied zum ‚diskursiven Bewusstsein‘ spricht.227 Wir alle sind mithilfe unseres praktischen Bewusstseins, welches uns im Schüppelschen Sinne das ‚implizite Wissen‘228 über gesellschaftlich tradierte und konventionalisierte räumliche Strukturen und Ordnungen bereitstellt, in der Lage, in Analogie zu uns umgebenden räumlichen Strukturen ebensolche zu reproduzieren. Im privaten Lebensbereich kann man dies sehr anschaulich an der Grundstücksgestaltung sowie an der Einrichtung von Wohnungen und Häusern erkennen. Hier erfolgt eine Auswahl und Anordnung der immer gleichen Elemente nach einer vielfältigen, aber endlichen Variantenzahl. Auf einem Grundstück wird gemeinhin ein Haus gebaut, an das sich eine Unterstellmöglichkeit für das Auto sowie

theseleistung, als eine Art Synopsis der einzelnen ‚Orte‘, durch die das örtlich Getrennte in einen simultanen Zusammenhang, in ein räumliches Bezugssystem gebracht wird.“ Läpple, Dieter (1992): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, Hartmut et al. (Hrsg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen. 2. Aufl., Pfaffenweiler, S. 202. 226 Ebenda: 205. 227 „Die Konstitution von Raum geschieht in der Regel aus einem praktischen Bewusstsein heraus, das zeigt sich besonders darin, dass Menschen sich selten darüber verständigen, wie sie Räume schaffen. […] auf Nachfrage oder in reflexiven Kontexten kann ein Teil des Wissens um Räume, welches im Alltag durch das praktische Bewusstsein gesteuert wird, in ein diskursives Bewusstsein überführt werden. Unter Reflexivität verstehe ich demnach, mit Bezug auf Giddens, sowohl des steuernden Einfluss, den Handelnde auf ihr Leben nehmen, als auch deren Fähigkeit, die Gründe ihres Handelns zu erläutern. […] Auch für die Konstitution von Räumen gilt demnach, was zum Beispiel für die empirische Forschung ganz wesentlich ist, dass Menschen in der Lage sind, zu verstehen und zu erklären, wie sie Räume schaffen.“ (Löw 2001: 161f.) 228 Vgl.: Schüppel, Jürgen (1996): Wissensmanagement. Organisatorisches Lernen im Spannungsfeld von Wissens- und Lernbarrieren. Wiesbaden, S. 196ff.

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im vorderen Bereich ein Vorgarten und im hinteren, zumeist uneinsehbaren Bereich ein zum Vorgarten proportional größerer Garten anschließt. Auch die Inneneinrichtung folgt stereotypen Verräumlichungsmustern, welche Löw beispielhaft anhand des Wohnzimmers unter Bezugnahme auf Untersuchungen der Fächergruppe Designwissenschaft der Hochschule der Künste Berlin wie folgt – auch im Hinblick auf schichtspezifische Einschreibungen – darstellt: „Die Konstitution von Raum geschieht über die Auswahl und Platzierung der sozialen Güter. Die Autorinnen der Fächergruppe Designwissenschaft verweisen darauf, dass die Arrangements den Katalogen der Möbelhäuser gleichen. Das Wohnzimmer wird zum Raum durch die wiederkehrende Konstellation aus Couchgarnitur, -tisch und Schrankwand. Sie sind demzufolge institutionalisiert und werden in Routinen reproduziert. In der immer gleichen Konstitution des Raums ‚Wohnzimmer‘ verwirklichen sich räumliche Strukturen, Regeln und Anordnungen abhängig von den Ressourcen. Der Vergleich zur Mittelschicht zeigt, dass dort einzelne Objekte nicht in Schrankwänden eingeordnet, sondern für sich platziert und damit in die Raumkonstitution stärker einbezogen werden. Die Mittelschicht konstituiert Wohnraum im Unterschied zur proletarischen Schicht durch freie Wände, große Bilder, große Pflanzen etc.“229

Vor diesem exemplarisch illustrierten Hintergrund sowie den zuvor skizzierten zirkulierenden Wissensbeständen, denen das Löwsche Raumkonzept Anknüpfungsstellen liefert, wird deutlich, was sich mit dem ‚(An)Ordnungs‘-Gedanken verbindet, nämlich eine Vorstellung von Raum als Ergebnis des Arrangierens und In-Beziehung-Bringens von Elementen in der Welt sowie die daraus resultierende „gegenseitige Bedingtheit von Handeln und Struktur“230, welche explizit Giddens Begriff der ‚Dualität von Struktur und Handeln‘ aufgreift. Dahinter steckt die Gewissheit, dass über individuelles Handeln hinaus bestehende Spacings und Syntheseleistungen institutionalisierte Räume schaffen, sobald sie zu genormten Spacings und Syntheseleistungen werden. Diese stete Wiederaufnahme und Neuinterpretation bei annähernd gleichen (An)Ordnungselementen stellt somit – luhmannsch-systemisch gedacht – die autopoietische Handlungsgrundlage

229 Vgl.: Löw 2001: 169f. 230 Ebenda: 171.

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für gesellschaftliche Teilsysteme verschiedenster Arten auf der Basis einer habituell geprägten Artikulation dar. Vor dem Hintergrund, dass jene gesellschaftskulturell wirksamen Räume eine bestimmte Zeitstruktur innehaben, mit der eine filterähnliche Inklusions- und Exklusionssystematik verbunden ist, sind es eben jene Faktoren, die bei Löw latent eine Rolle spielen, wenn sie konstatiert: „[Kulturelle; Anm. SMG] Räume werden im Handeln geschaffen, indem Objekte und Menschen synthetisiert und relational angeordnet werden. Dabei findet der Handlungsvollzug in vorarrangierten Räumen statt und geschieht im alltäglichen Handeln im Rückgriff auf institutionalisierte (An)Ordnungen und räumliche Strukturen.“231

Die Grundstrukturen solcher vorstrukturierten und gesellschaftlich tradierten Räume setzen sich wie Stereotype im kulturellen Gedächtnis ab und ermöglichen respektive erleichtern Verortungsleistungen in der gesellschaftlichen Welt. Kommt man nun noch einmal auf die Verbindung von Atmosphärenwahrnehmung und Raumerschließung zurück, so kann darauf hingewiesen werden, dass Spacingprozessen nicht selten eine bewusste, zuweilen aber auch unbewusste Inszenierungsarbeit innewohnt, deren Zweck es ist, Syntheseleistungen beim Lesen realweltlicher Settings zu beeinflussen. Dieses Platzieren von Gegenständen und Menschen, welche für die Assoziation von bestimmten Atmosphären eine Indikatorfunktion besitzen, wird im öffentlichen, kulturellen Raum an vielen Stellen betrieben. Und es sind insbesondere institutionalisierte Räume und deren prototypische Strukturen, an denen sich bei der In-Szene-Setzung, d.h. dem Spacingprozess, orientiert wird. So verfolgen Einrichtungsbeispiele von Wohnräumen in Möbelhäusern ebenjenen Effekt, wenn sie mit gesellschaftlich kursierenden Wunschmustern von Wohnatmosphären spielen und diese herzustellen versuchen. Die Auswahl und Zusammenstellung von Wohnwand, Couchtisch, Teppich, Fernseher und Liegewiese anheimelnd bestückt mit Teelichtern, Vorhängen und Bildern verheißt ‚Gemütlichkeit‘ als Schlagwort eines positiven Wohngefühls. Auch in Straßencafés findet eine Adaption des Wohnzimmergefühls im Arrangement der Tische und Stühle vor einer vom öffentlichen Leben bespielten Straßen-Bühne statt.

231 Ebenda: 204.

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Beide Räume tragen einen heterotopen Charakter232 und können auf dieser Basis in ihrer atmosphärischen Aussagekraft als gesellschaftstypische und zeitbezogene Raum-Bilder gelesen, aber eben auch inszeniert werden.233 In unserem speziellen Falle fungiert das Einrichtungszimmer im Möbelhaus als Abbild gesellschaftlich (und damit auch historisch) gewachsener Spacingprozesse, dessen kaufanregende Aufladung im funktionsbezogenen Sinne durch die Herstellung von Behaglichkeit und seine paradoxerweise dennoch bestehende Unbewohnbarkeit besteht. Es geht mehr um das Anschauen und Imaginieren als um das Eintreten und Bewohnen. Das Straßencafé wiederum greift auch auf den exklusiven Wohnraum zurück, stellt ihn jedoch in den öffentlichen Raum und öffnet somit seine Zugänglichkeit. Diese Erweiterung des privaträumlichen Wohnens hinein in den urbanen Außenraum bei gleichzeitiger Selektion durch den vorgeschriebenen Konsum von Speisen und Getränken, die im Café angeboten werden, strukturiert ihn anders als den Ausstellungsbereich im Möbelhaus. Demgemäß kann festgehalten werden, dass sich das Herstellen und Gestalten der eigenen gegenständlichen Umwelt trotz individueller Ansprüche in der Regel bestehenden Konventionen und Mustern verhaftet sieht, sodass die im Raumschaffungsprozess strukturierte Dingwelt aufgrund ihrer kulturellen Determiniertheit zu einem gewissen Grade immer auch für Außenstehende lesbar bleibt. Das heimatliche Gefühl, welches sich bezogen auf die bearbeitete gegenständliche Welt einstellen kann, ist nicht selten Ergebnis genau jenes erfolgreichen Wechselspiels von gesellschaftlicher Passung und individueller Note, welches auch im Zuge der Identitätsbildung zwischen Ich und Welt einen steten Balanceakt darstellt.234 Als Zusammenspiel der Menschen in Form ihrer kulturellen Leistungen und ihrer sozialen sowie „emotionalen Bindungen in dem von […] [ihnen]

232 Vgl.: Foucault 1991 (1967): 65-72. 233 Vgl. zum Encoding/Decoding-Modell nach Stuart Hall: Hepp, Andreas (2010): Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Aufl., Wiesbaden, S. 114ff. 234 Vgl.: Luckmann, Thomas (1979): Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hrsg.): Identität. München, S. 293-313.

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bewohnten Raum“235 definiert Ronald Olomski den Heimatbegriff. In den hiesigen Ausführungen soll dies sowie die beschriebene emotionalkognitive und dingbezogene Komponente der heimatlichen Raumbindung aufgenommen werden und ein entfaltungsbezogener Heimatbegriff als Synonym zum kulturellen Zugehörigkeitsraum seine Anwendung finden. Dies bedeutet, dass Heimat in der vorliegenden Arbeit als Raum zur menschlichen Entfaltung beschrieben und in dieser begrifflichen Bedeutung getreu dem Ausspruch: „Heimat ist da, wo ich handlungsfähig bin“236 verwendet wird. Heimat wäre somit ein Ergebnis der wechselseitigen Einflussnahme von Umgebung und Mensch aufeinander, ein kontinuierliches Sich-indie-Umwelt-Einschreiben und Von-der-Umgebung-Beschrieben-Werden. Handlungsfähigkeit meint dann, dass ein Mensch das vorgefundene Setting als aktivierend empfindet, darin tätig wird sowie in und mit der gegebenen Räumlichkeit Erlebnisse sammelt und dadurch eine identifikatorische Verbundenheit mit der Umgebung aufbaut, welche ihn wiederum zu weiteren Handlungen inspiriert. Dabei wird deutlich, dass das, was ein Mensch als Heimat bezeichnet, vor allem immer ein relationaler Raum ist. Er ist es deshalb, weil er entstanden ist durch die Tatkraft der Person, er ist Ergebnis seiner Handlungen – eine Wirkungsstätte sozusagen. Heimaträume können somit als Resultate individueller Handlungs- und Entfaltungsbiographien verstanden werden. Sie stellen quasi deren Verortungen dar. Überall dort, wo Menschen sich in ihrer Wirksamkeit entfaltend erprobt haben und handlungsfähig geworden sind, werden sie sich auch heimatlich verorten.237 Wie

235 Olomski, Ronald (2005): Naturschutz und Landschaftspflege am Beispiel des Moorschutzes. In: NHB Niedersächsischer Heimatbund e.V. (Hrsg): Zukunft – Heimat – Niedersachsen: 100 Jahre Niedersächsischer Heimatbund. Delmenhorst [u.a.], S. 171. 236 Kirsch-Stracke, Roswitha/von Haaren, Christina (2005): Einführung und Überblick. In: Institut für Landschaftspflege und Naturschutz, Universität Hannover (Hrsg.): Der Heimatbegriff in der nachhaltigen Entwicklung: Inhalte, Chancen und Risiken. (Symposium am 5. und 6. November 2004 in Hannover) Weikersheim, S. 1. 237 Häußermann spitzt diese Erkenntnis sogar noch zu, indem er formuliert: „Heimat ist allein dort, wo ich positive Erinnerungen und Erlebnisse verbinden kann. Heimat heißt Anerkennung und Respekt.“ [Häußermann, Hartmut (2009): Städte oder Heimat? In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung,

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relationale Räume im Allgemeinen, so sind Heimaträume damit auch zeitliche Phänomene. Sie wachsen und erweitern sich, sie schrumpfen und wechseln ihre Größe. Sie sind nicht einfach interpersonell übertragbar, weil sie an das spezifische Individuum gebunden sind. Dieses aktive Heimatverständnis fragt weniger nach dem Produkt, dem heimatlichen Raum, als nach seiner Herstellung und der Arbeit an seiner Erhaltung, dem Vorgang des Heimatschaffens und ist damit wieder eng an die von Massumi beschriebene Affizierungsweise des Menschen gebunden. Die Heimatlichkeit von Räumen soll damit als Qualitätsgröße und Anzeiger für den Umfang an aktivierungsförderlichem Affizierungspotenzial verstanden werden, das vom Menschen durch die Menschen und Dinge in ihrer Umgebung wahrgenommen werden kann. Auf diese Weise sind heimatliche Räume handlungsermutigend und hoffnungsvoll, da sich in ihnen ein Vertrauen auf Bewegung und Veränderung, auf das individuelle Sein im schöpferischen Werden begründbar artikulieren lässt. Damit wird das Heimatschaffen zu einer kulturellen Praxis erhoben, die das Wechselwirkungsverhältnis von Mensch und Dingwelt, von Innen und Außen, von Atmosphäre und Identität, von Erscheinung und Erinnerung, von Form und Bedeutung beschreibt und in ihrer Binarität hierdurch explizit zeichenhafte Züge erhält – die Heimat als Symbol, als dritter Wert238, als Ergebnis der Interaktion von Person und Umwelt, als kommunikativer Akt zwischen Akteur(en) und Aktant(en) sozusagen. Beheimatung präsentiert sich auf diese Weise als die sich raumbezogen dauerhaft stellende Aufgabe, welche im räumlichen Bewohnen ihre konkrete Handlungsentsprechung für den Menschen findet und soll damit nicht als bloße auf Vergangenes bezogene örtliche Verhaftung und Verlusterfahrung in den hiesigen Ausführungen verstanden werden. Vielmehr soll an dieser Stelle ganz explizit für eine handlungsbezogene Aufbrechung der Semantik des Heimatbegriffes plädiert werden, die deutlich zum Ausdruck bringt, dass räumliche Verwurzelungsprozesse ganz primär an die Möglichkeiten sich tätig zu erproben gebunden ist. Damit sind heimatlich empfundene Räume das Ergebnis zweier zeitlich aufeinander folgender Affizierungs-

Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 39.] 238 Vgl.: Baecker, Dirk (2000): Wozu Kultur? Berlin, S. 106.

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prozesse – zunächst einer Affiziertheit durch die Umwelt im aktivierenden Sinne, die Lust auf das Sich-in-die-Welt-Einschreiben und die hergestellte Welt damit zum Produkt und Komplizen der eigenen Lebenswirklichkeit macht. Gleichzeitig aber auch dadurch, dass uns die Welt, in die wir uns eingeschrieben haben, als Sprechende entgegentritt, indem dem Menschen seine dinglichen Einschreibungen und mit ihnen die gemachten Wirksamkeitserfahrungen beim Anblick einer vertrauten Umgebung als biografische Erlebnisspeicher reflektierend affizieren. Beide Affizierungsweisen finden sich in ihrer Wechselwirkung bei Franz Hessel artikuliert, wenn er schreibt: „Nur was uns anschaut, sehen wir“239. Die Umwelt muss uns affizieren, damit wir sie uns zu eigen machen können, doch gleichzeitig sind es gerade die Dinge, die wir uns handelnd angeeignet haben, welche bedeutungskonstitutiv und beständig Kontakt zu uns aufnehmen können und uns mit vertrauten Augen anblicken. Kommen wir noch einmal zurück zur Verbindung von Beheimatung und Wohnen. Das Wohnen kennzeichnet für Bollnow das räumliche Grundbedürfnis des Menschen und entspricht seinem „ursprüngliche[n] Verhältnis zum Raum“240. In seinen anthropologischen Ausführungen spricht er unter Bezugnahme auf phänomenologische Betrachtungsweisen auch von einer räumlichen Inkarnation des Menschen in dreierlei Form – erstens in seinen eigenen Leib, zweitens in sein Haus und drittens in seine Umwelt im Ganzen.241 Diese natürliche Eingebundenheit des Menschen in den Raum stellt dabei, so Bollnow, die Grundlage für seine gefühlte Geborgenheit als Basisraumempfindung dar. Hier scheint ein Unterschied zur von Arendt konstatierten Heimatlosigkeit als räumlicher Grundbedingtheit feststellbar, der sich jedoch bei näherem Betrachten auflösen lässt. Während Arendt eine Errichtung von kulturellen Räumen als Resultat der Kompensation mangelnder Schutzfähigkeit des natürlichen Raumes für den Menschen ansieht, scheint Bollnow davon auszugehen, dass das menschliche Leben mit einer umhegten und beschützten Raumempfindung, nicht zuletzt versinnbildlicht durch die Wiege und den mütterlichen Schoß, startet. Das In-die-Welt-Geworfen-Sein wird somit nicht a priori gestellt. Es

239 Hessel, Franz (1988): Vorschule des Journalismus. In: ders.: Nachfeier. Berlin, S. 85. 240 Bollnow 2004 (1963): 304. 241 Vgl.: ebenda: 285-306.

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schließt sich erst in zweiter Instanz an, wenn es für das Individuum, in der Regel an der Schwelle zum Erwachsensein, zur Aufgabe wird, das Elternhaus zu verlassen und sich selbst beispielsweise in einer eigenen Wohnung und/oder einer anderen Stadt räumlich zu verwurzeln. Hier setzt für Bollnow das an, was er unter einem aktiven Bewohnen der Welt versteht. Es geht qualitativ einher mit der Familiengründung, sprich der Schaffung gemeinsamer Räume mit den Menschen, die man liebt. Dies ist für ihn Heimat.242 Für Arendt steht die Heimatlosigkeit, wie eingangs beschrieben, grundsätzlich als menschliche Bedingtheit an der Basis des Lebens. Betrachtet man jedoch die Abhängigkeit des Menschen von der hergestellten, baulichen Welt, so wird schnell deutlich, dass außerhalb des mütterlichen Schoßes Architektur und soziale Räume das In-die-Welt-Geworfen-Sein des Menschen abfedern, indem sie Sicherheits- und Schutz-, aber auch Entfaltungsräume möglich machen. Die Familiengründung, von Bollnow als der sekundäre Raumschaffungsprozess beschrieben, stellt dabei jedoch das Fundament für die nachwachsende Generation dar und baut somit auf einer Art Heimatschaffung auf. Erst sie macht das Gefühl des Kindes als in-denRaum-eingebettet möglich und ist ihm folglich als fürsorgender Akt vorgeschaltet. Man kann somit sagen, dass sich die Ausführungen Arendts und Bollnows keinesfalls widersprechen, da sie jeweils an unterschiedlichen Stellen ansetzen, wenn Sie über Heimatschaffung sprechen. Während Arendt auf die grundsätzliche Bedingtheit der Heimatlosigkeit als Triebfeder heimatlicher Raumschaffung aufmerksam macht, steht für Bollnow in anthropologischer Manier die Lebensspanne des Menschen im Vordergrund, auf deren Grundlage sich Heimatschaffung als Aufgabe zur Kompensation von Heimatlosigkeit gewöhnlich erst jenseits der familiären Grundstrukturen stellt, in die man hineingeboren und in denen man aufgewachsen ist. In der Wichtigkeit des Prozesses sind sich beide jedoch durchaus einig. Mit Heimatschaffung im Sinne einer Herstellung und Sicherung von kultureller, gebauter Welt verbindet sich für beide demgemäß ein dem Menschen innewohnendes Streben nach Geborgenheit, Schutz und materialisierter Zugehörigkeit. Die von Josef Deimer verwandte Beschreibung von Heimat greift dies und die von Bollnow eingebrachte Überlegung, dass wir im Zuge dieser Heimatschaffung aufgrund unserer familiären Eingebettetheit schon mit einem gewissen Verständnis von Heimat ausge-

242 Vgl.: ebenda: 264f.

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stattet sind, auf und stellt einen logischen Zusammenhang dieser beiden Aspekte dar: „Heimat [ist; Anm. SMG] ein Spielraum für das eigene Leben […], der aus dem Urvertrauen gewachsen ist und sich in der Ausweitung dieser Vertrautheit erschließt.“243

Kommen wir nun noch einmal darauf zu sprechen, was es bedeutet, von einem aktiven Heimatverständnis auszugehen. Bezugnehmend auf Hermann Bausinger, der vor nunmehr 25 Jahren das nachfolgende, normativ zu verstehende Heimatkonzept als zeitgemäß anführt, können entlang seiner Ausführungen die zentralen Aspekte verdeutlicht werden: „Heimat ist nicht mehr Gegenstand passiven Gefühls, sondern Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzung; Heimat kann nicht ohne weiteres auf größere staatliche Gebilde bezogen werden, sondern betrifft die unmittelbare Umgebung; Heimat erscheint gelöst von nur-ländlichen Assoziationen und präsentiert sich als urbane Möglichkeit; Heimat ist nichts, das sich konsumieren läßt, sondern sie wird aktiv angeeignet. Heimat hat, wie in der ursprünglich-konkreten Bedeutung des Wortes, wieder sehr viel mit Alltag und alltäglichen Lebensmöglichkeiten zu tun.“244

Für Bausinger stellt sich Heimat folglich als bewegliche, im kontinuierlichen Wandel befindliche Größe dar. Dies ist insofern besonders interessant, weil seine Definition ohne weiteres als Rehabilitierungsbeitrag des zuweilen recht unglücklich und ideologisch verfärbt verwendeten Begriffs verstanden werden kann. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen beugt die Verknüpfung von Heimat mit räumlicher Unmittelbarkeit seiner nationalen, staatlichen Verwendung vor. Ferner erweist sich die Postulierung einer aktiven Aneignung von Heimat als Gegenentwurf zu so genannten gebürtlichen Heimatvorstellungen und auch die Bezeichnung von Heimat als „ur-

243 Deimer, Josef (2009): Stadt als Heimat. In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung, Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 58. 244 Bausinger 1984: 23f.

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bane Möglichkeit“245 öffnet den Blick aus der nostalgisch-verklärten Rückgewandtheit hin zu einer Zukunftsorientierung, die zugleich deutlich macht, dass Heimatschaffung eine Form der Entfaltung des Menschen in heterogenen Gefügen bedeutet und keine spießige Engstirnigkeit, die das Andere ausgrenzt. Dies lässt Heimatschaffung zum immerwährenden Prozess der Aushandlung und Verwirklichung von vielfältigen Entfaltungschancen werden. Das Produkt dieser Gestaltungsaufgabe – die Heimat selbst – wird damit zu einem geistigen Ort. Und zwar deshalb, weil sich hergestellte Welt besonders im städtischen Kontext als Handlungsraum zur Erprobung, Beseitigung, Verteidigung, Optimierung und Bewährung menschlicher Bedürfnisse sowie sozialer Angelegenheiten für jeden Akteur in Teilen individuell präsentiert. Die verräumlichte Heimat ist in diesem Sinne ein Medium, welches Gewordenheit, Sein und Möglichkeiten des Werdens materialisiert artikulierbar macht. Dies verläuft gemeinhin über Narrationen, welche sowohl individueller als auch gruppenspezifischer Art sein können und spezielle Identifikationen mit gebauten Räumen durch eine Verbindung von beispielsweise architektonischer Gestalt und personenbezogenen Gefühlssowie Erlebnisgehalten darstellen. Die artikulierte Heimat ist somit eine narrative Sinnzuschreibung. Sie ist auf diese Weise ein Möglichkeitsraum und ergibt sich formal, das heißt gestaltbezogen, aus der baulichen und sozialen Umwelt, wird jedoch inhaltlich ganz individuell mit Sinn und Erlebnissen einer speziellen Person gefüllt. Die Erzählung vereinigt als Ergebnis dieser Liaison von Mensch und Dingwelt somit das weltliche Außen mit dem menschlichen Innen. Sie greift das Aktivierungspotenzial eines Settings energetisch auf und entfaltet es relational. Sie spielt mit den leiblichen Affiziertheiten des Menschen durch seine Umgebung246, seiner Selbsterfahrung im Tätigsein mit den Dingen und seiner emotionalen Ergriffenheit beim Wirken im hergestellten Raum. Damit wird klar, dass sich in solchen, narrativ artikulierten, heimatlichen Räumen die Zeitebenen vermischen und sich ein Konglomerat an Selbstbezüglichkeiten, die sich an und mit der Welt entfalten, im Sinne eines Treffpunktes von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet, wie es auch in jedem Menschen und seiner Identitätsvorstellung von der eigenen Person präsent und wirksam ist. Der aktive

245 Ebenda. 246 Hier sei auf den vorangegangenen Abschnitt 3.3.1 zur menschlichen Raumkonstruktion durch Leiblichkeit verwiesen.

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Umgang mit hergestellter Welt ist damit in hohem Maße ein Prozess der Selbsterprobung und Selbstwerdung. Würden wir in anderen Häusern, Straßen, Städten leben, wären wir andere Menschen. Diese narrative In-Erscheinung-Bringung des heimatlichen Raumes verdeutlicht beispielsweise auch der literarische Text „Randerscheinungen“ von Klaus Böldl. Hierin beschreibt der Erzähler die Rückkehr in den Wohnort seiner Kindheit und die beim Spazieren mit Blick auf die gebaute Welt auftretenden Erinnerungen. Charakteristisch ist auch bei ihm die Vermischung mehrerer Zeitebenen beim Wahrnehmen seiner Umwelt und es tritt nur allzu deutlich zutage, dass sich das heimatliche Raumempfinden aus der Verbindung von gegenständlicher Umgebung und den Erlebnissen, welche den Dingen eingeschrieben zu sein scheinen, ergibt. Die Tatsache, dass der durchschrittene Raum zugleich ein geburtlich vorbestimmter Bezugsort für den Erzähler ist, spielt dabei – wenn überhaupt – ausschließlich sekundär eine Rolle. Und es wird deutlich gemacht, dass der Betrachter losgelöst von der entsprechenden Umwelt jenes narrativ entfaltete Empfindungsset nicht annähernd deutlich hervorrufen könnte: „[…] [A]ls ich […] auf einem Weg ging, an dem ein wasserarmer Mühlbach entlanglief, hatte ich die Empfindung, eine meiner frühesten Erinnerungen überhaupt in die Wirklichkeit zurückübersetzt zu finden. Nicht dass ich mich an den Verlauf dieses Weges erinnert hätte oder gar daran, dass er zu einem Gasthaus führte. Und der Bach, der da ganz am Grunde meines Bewusstseins vor sich hinplätscherte, […] war in meiner Frühgeschichte noch kein Mühlbach gewesen, noch nicht einmal tatsächlich ein Bach, sondern ein Glucksen und Schäumen neben dem Weg, […] der schon nach ein paar Metern mitten hinein ins Vergessen zielte. Jetzt strotzte der Bach vor Wirklichkeit, und das deutlichste Zeichen seiner Hineingehörigkeit in die Gegenwart war vielleicht der ungute gelbliche Schaum, der sich um die aus dem Wasser herausragenden Steine gesammelt hatte. Trotzdem erkannte ich dieses Wasser ebenso wie die weit ausladenden Laubmassen über mir und den graustaubigen Gehweg vor mir als geisterhaften Widerschein einer lange verschütteten Kindheitserinnerung. Es sind wahrscheinlich gerade diese abseitigen, niemandem sonst etwas bedeutenden Plätze, an Ortsrändern, an Bahndämmen oder Fabrikzäunen, die plötzlich durchlässig und durchsichtig werden können für die Vergangenheit, in mysti-

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schen Momenten, wie diesmal, sogar bis auf den Grund aller Erinnerung hinunter. […]“247

Der hier beschriebene Blick auf die Welt ist ein zweifacher, in wechselnder Weise sich ergänzender. Zum einen nimmt der Erzähler natürlich das gegenwärtige Setting, welches sich um ihn herum vorfinden lässt, in seiner aktuellen Erscheinung wahr. Gleichzeitig jedoch werden diese Wahrnehmungen durchmischt und verwoben mit seinen qua Betrachtung der Umwelt wachgerufenen Erinnerungen und Emotionen. Vergangenheit und Gegenwart bilden somit für den Erzähler in der wahrgenommenen Welt eine Einheit. Die Optik des dinghaften Jetzt oszilliert über der aktionalen und sinnlichen Eingebundenheit in das Vergangene als impulsgebendes, affizierendes Brennglas, wartend auf den Blick des Betrachters, der im gesichteten Gegenstand einen Teil seiner eigenen Biografie unmittelbar erkennt. Die Elemente der wahrgenommenen Welt zeigen sich in einer existentiellen Bedeutsamkeit, sprich in ihrer atmosphärischen Erscheinung.248 Hier tritt deutlich zutage, dass Heimat sich im Gewordensein, aber auch mit Blick auf die Vergangenheit zu ergeben scheint. Die Wahrnehmung des Ortes als heimatlicher Raum ist an Erlebnisse gebunden, die die objektivsachliche Betrachtung der Umwelt verändern, ihr ein ‚selbstgemachtes Gesicht‘ verleihen, welches der Akteur, an den die Erlebnisse geknüpft sind, entdecken kann. Dabei finden sich die Erinnerungen an bestimmte Momente, Gespräche, Gefühle und Erfahrungen eingespeichert in den Dingen. Der gegenständliche Raum ist damit mehr als ein rein gegenständlicher Raum. Er wird als kultureller Raum zum Träger vielfältiger, personalisierter Gegenständlichkeiten. Für den Betroffenen bedeutet dies ein (ein)heimisch werden im Raum durch die enge Verzahnung respektive das Verschmelzen der weltlichen Gegebenheiten mit seiner eigenen, innerlich repräsentierten Geschichte zu einer unauflöslichen Einheit. Somit ist Heimat – trotz ihres Bezuges zur Vergangenheit – keinesfalls etwas darin Verhaftendes. Vielmehr verbindet sich das den Dingen Eingeschriebene im Modus der Erinnerung mit dem Jetzt und der Zukunft im Gewordensein und Werden des Er-

247 Böldl, Klaus (2004): Randerscheinungen. In: Gropp, Petra/Hosemann, Jürgen/ Opitz, Günther/Vogel, Oliver (Hrsg.): Neues aus der Heimat! Literarische Streifzüge durch die Gegenwart. Frankfurt am Main, S. 47f. 248 Vgl.: Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. München, Wien, S. 152.

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zählers. Die Umwelt, in der er sich als tätiges Wesen erproben konnte, hat ihn in seinem Wesen, seinem Sein beeinflusst. Dies tritt immer dann besonders deutlich zutage, wenn die Person zuvor eine Zeit lang örtlich abwesend und in anderen gegenständlichen Welten aktiv war. Die Rückkehr in vertraute Gefilde ruft dann unweigerlich – wie auch im herangezogenen Textbeispiel von Böldl der Fall – das ganze Sinnuniversum des heimatlichen Raumes und mit ihm bis dato stillschweigend ruhende Gefühle an die Gedankenoberfläche. Doch auch umgekehrt verändern wir täglich durch unser Tun und Lassen die Umwelt (auch für unsere Mitmenschen) weiter, denn das SichEinschreiben in die Welt lässt ihre kommunizierten und wahrgenommenen Bedeutungsgehalte variieren. Das über Narrationen im kulturellen, kollektiven Gedächtnis verankerte Wissen lässt uns Orte und ihre Geschichte mit anderen Augen sehen. So machen sich die Bedeutungen von Plätzen, Häusern, ja sogar von ganzen Städten nicht selten am Wirken berühmter Persönlichkeiten fest, was wiederum auch für touristische Vermarktungsprozesse nutzbar gemacht wird. Hierbei ist es jedoch wichtig, nicht ausschließlich das Vergangene aufrecht zu erhalten, sondern es in seiner Kraft für die Gegenwart und die Zukunft aufzuschließen – ein essentieller Aspekt für städtische Planungsprozesse und urbane Identität im Unterschied zu bloßer Imagebildung.249 Es ist deutlich geworden, dass Heimatschaffung und Identitätsbildung zwei eng miteinander verzahnte Vorgänge sind. Die in Identifikationsprozessen vollzogene Zeitvermischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist auch für heimatliche Räume charakteristisch. Im gegenwärtigen Moment kulminiert das Gewesene mit dem Kommenden, so dass beide Gerichtetheiten das Jetzt in wechselvollem Treiben beeinflussen. Heimatschaffung erschöpft sich somit nicht in der weltlichen und seelischen Gewordenheit, sondern erhält ihre Attraktivität auch durch Möglichkeiten des weltlichen und geistigen Werdens, welche im kulturellen Sein denkbar erscheinen. Erinnerung und Projizierung verheiraten sich damit kontinuierlich im Seinsmoment. Vor diesem Hintergrund kann man mit den Wörtern

249 Vgl.: Beucker, Nicolas (2003): Public Design: Möglichkeiten urbaner Identität. Vortrag vom 14. 02. 2003 gehalten auf der Messe Public Design in Düsseldorf. S. 3-8. URL: http://www.coin-strategies.com/Bilder/pdf/beucker_ public_design_2003.pdf; [Stand: 14.04.2008; 10:57 Uhr].

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Alexander Wetzigs subsumieren, dass „die Botschaft von der gebauten Heimat […] die Botschaft von der Stadt im Wandel“250 ist. Damit wendet sich der aktive Heimatbegriff nicht von seinem ländlich-ruralen Gestus der Familiarität, Gemeinschaft und Nähe ab, sondern er erweitert den Aspekt angestrebter Verwirklichung und Entfaltung durch die Möglichkeit der urbanen Vielfalt, innerhalb derer die freiheitliche Positionierung und Verortung weitaus facettenreicher und demokratischer251 denkbar wird. Die Überwindung von Anonymität im Zeitalter der Globalisierung kann aufgrund der menschlichen Sehnsucht nach einem Leben jenseits von zwischenmenschlicher Entfremdung nicht mehr als unlösbare Aufgabe betrachtet werden, sondern stellt eher dessen logische und nicht vermeidbare Folge dar. So schlussfolgert auch Häußermann: „Die Großstadtkultur insgesamt ist kein Gegenbegriff und auch kein Gegenentwurf zur Heimat. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie, anders als es durch bestimmte folkloristische Traditionen zum Ausdruck kommt, eben keine Kultur der Ausgrenzung ist. Großstadtkultur bedeutet, dass jeder einzelne ihrer Bürger als gleichberechtigt angesehen und respektiert wird. Die fairen Chancen zur Entfaltung der Persönlichkeit und die Vielfalt von Möglichkeiten, die sich zum aktiven Eingreifen und Mitwirken bieten, das ist Heimat.“252

Fasst man Heimat vor dem auf den letzten Seiten ausführlich dargelegten Begriffshintergrund als Resultat immerwährender Aktivität zusammen, die sich durch Bedeutungsaushandlungen im sinnstiftenden Tun mit der eigenen hergestellten Welt bestimmt, fällt die Erweiterung des ländlich-

250 Wetzig, Alexander (2009): Heimat bauen. Einführung. In: Stadt Ulm, Fachbereich Stadtentwicklung, Bau und Umwelt, Bürgermeister Alexander Wetzig in Zusammenarbeit mit der Architekturkammer Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat bauen. Ulm, S. 10. 251 Dieser Gedanke beerbt die Simmel‫ތ‬sche These, dass Anonymität die Voraussetzung für Freiheit sei und setzt der kulturpessimistischen Sicht auf (Groß-) Städte damit ein wichtiges Argument entgegen. [vgl.: Simmel, Georg [2010 (1903)]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Kimmich, Dorothee/ Schahadat, Schamma/Hauschild, Thomas (Hrsg.): Kulturtheorie. Bielefeld, S. 241-253. 252 Häußermann 2009: 39.

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verklärten und auch bürgerlichen Heimatverständnis hin zum urbanen Heimatbegriff leicht. Es wird nun möglich, Heimatschaffung in ihren Potenzialen zu begreifen. Als melancholisch-nostalgische Rückgewandtheit entzieht sich Heimat stets ihrer Verantwortung und damit ihrer eigentlich möglichen Rolle für den Menschen. Versteht man sie jedoch als aktiven, lebensbiografischen Prozess der Auseinandersetzung und Erprobung des Selbst mit und an der Umgebung, verliert sie ihren verklärten, bitter-süßen utopischen Beigeschmack. Sie wird stattdessen zu einer verantwortungsvollen Aufgabe, die Welt mit Bedeutungen aufzuladen, um gleichzeitig selbstbezogene Identitätsarbeit zu leisten. Somit ist deutlich geworden, dass der Umgang mit Heimatlosigkeit in einen basalen Raumschaffungsprozess mündet, der als Beheimatung beziehungsweise Heimatschaffung bezeichnet werden kann. Für diesen Vorgang ist charakteristisch, dass er untrennbar mit der Herstellung eines kulturellen Gefüges im Sinne einer Interaktion mit der Dingwelt verbunden ist. Heimatlich empfundene Räume sind Hybride mit hohem Affizierungsgrad und folglich stets an ein tätiges Wesen geknüpft, das sich in Beziehung zu seiner gegenständlichen Umgebung setzt. Beheimatungen sind aus jenen Aktivitäten des Menschen geborene Raumschaffungsprozesse, die sich immer dann einstellen, wenn der Mensch sich in seiner Tatkraft an, in und mit seiner gegenständlichen Umwelt entfaltend erproben kann. Als lebenslange Aufgabe, der sich jedes Individuum stellen muss, wird der unmittelbare Zusammenhang von Heimatschaffung und Identitätsbildung deutlich. Das Sich-in-den-Raum-Einschreiben und Vom-Raum-Beschrieben-Werden begründet die hochgradige Individualität von heimatlichen Räumen, welche in ihrer narrativen Repräsentation notwendigerweise zu geistigen Orten mit realräumlicher Entsprechung werden müssen. Die aus der aktiven Aneignung resultierende Liaison von weltlicher Gestalt und mentalen Gehalten im Sinne kognitiver Sinnzuschreibungen macht die bilaterale Zeichenhaftigkeit des Raumtypus sichtbar, dessen Gestaltungsweisen lediglich in der Kombination der aktanteninhärenten Handlungsskripte mit den Verfasstheiten respektive mentalen Modellen der Akteure begrenzt sind.

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3.3.3 Pluralität als Basis kommunikativer Erscheinungsräume Neben dem beschriebenen Raumschaffungsvorgang der Beheimatung auf der Basis menschlicher Heimatlosigkeit kann eine weitere Konstruktionsweise von Räumen unterschieden werden, welche sich auf den Umgang mit der menschlichen Bedingtheit der Pluralität auf der Basis seiner Leiblichkeit zurückführen lässt. „[D]ie Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“253, erzeugt laut Arendt die Möglichund Notwendigkeit des kommunikativen Handelns. „Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“254

Vielfalt wird somit zum Motor und zur Quelle von Aktionen im Sinne von Aushandlungsprozessen spezieller Bedürfnisse und Interessenlagen. Damit ist (sprachliches) Handeln stets an die Präsenz von Mitmenschen gebunden und als Raumschaffungsprozess folglich im besten Sinne des Wortes ein inter-aktionaler Vorgang: „So wie das Herstellen der Umgebung der Natur bedarf, die es mit Material versorgt, und einer Umwelt, in der das Fertigfabrikat zur Geltung kommen kann, so bedarf das Handeln und Sprechen der Mitwelt, an die es sich richtet. Das Herstellen vollzieht sich in und für die Welt, mit deren dinglichen Bestand es in ständigem Kontakt bleibt; das Handeln und Sprechen vollzieht sich in dem Bezugsgewebe zwischen den Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenem entstanden ist, und muß mit ihm in ständigem Kontakt bleiben.“255

Gerade der abschließende Aspekt ist bemerkenswert. Arendt behauptet, dass Handeln sich niemals isoliert von einer Person allein vollziehen könne. Es beginne erst im sozialen Raum zu existieren, wobei es ihn gleichsam in-

253 Arendt 2001: 17. 254 Ebenda. 255 Ebenda: 234.

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stalliere. Der Handlungssinn, seine Bedeutung, kann somit als gesellschaftskonstituierend beschrieben werden.256 Damit gebraucht Arendt ihren Handlungsbegriff analog zum Max Weberschen Begriff des sozialen Handelns257, hinter dem sich die These verbirgt, dass „andere [Menschen; Anm. SMG] im thematischen Kern oder zumindest im thematischen Feld des Entwurfs [einer als sozial zu bezeichnenden Handlung; Anm. SMG] auftreten.“258 Auch bei Alfred Schütz findet sich dieser Gedanke artikuliert: „Als Mensch unter Menschen lebe ich mit diesen. Ich finde Mitmenschen in meiner Umwelt vor und meine Erlebnisse von ihrem Dasein und Sosein gehören zum Jetzt und So meiner Dauer, wie meine Erlebnisse von der Welt, die mich in diesem Jetzt so umgibt, überhaupt.“259

Die Umgangsweise mit menschlicher Vielfalt bringt somit – wie Arendt es formuliert – einen Raum, „ein räumliches Zwischen“260, hervor, zu dessen Merkmalen eine territoriale Ungebundenheit261 sowie das Voreinander-inErscheinung-Treten von Menschen gehöre.262 Dieses Erscheinen meint, als individueller Teil der menschlichen Pluralität seine Ziele und Motivationen im kulturellen Raum zu artikulieren und damit einen wechselseitigen Aushandlungsprozess mit dem Anderen zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist Pluralität der Schlüssel zur Etablierung eines politischen Raumes, den

256 Vgl.: Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1994): Strukturen der Lebenswelt. Bd. 2, 3. Aufl., Frankfurt am Main, S. 98. 257 Vgl. dazu: Weber, Max [1972 (1922)]: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausg., 5. Aufl. (besorgt v. Johannes Winckelmann), Tübingen [Nachdruck 2009]. 258 Schütz/Luckmann 1994: 99. 259 Schütz, Alfred (1991): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. 5. Aufl., Frankfurt am Main, S. 199. 260 Arendt 2001: 250. 261 Mit dieser Eigenschaft ist die Tatsache verbunden, dass gesellschaftliches Handeln auch mittelbar vollzogen werden kann, d.h. es ist nicht notwendig, dass die Mitmenschen, auf die es sich richtet, „zur Zeit des Entwurfs in der Reichweite des Handelnden“ sind. (Schütz/Luckmann 1994: 101) 262 Vgl.: Arendt 2001: 250.

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Arendt mit Bezug auf die griechische Polis als Grundlage zur gleichzeitigen Teilhabe mehrerer Menschen am öffentlichen Leben skizziert.263 Doch macht sich Pluralität bei weitem nicht nur daran fest, dass sich das einzelne Individuum von seinem Gegenüber unterscheidet. Es kann ebenso – darauf weisen nicht nur Begriffe wie etwa der der ‚Multioptionsgesellschaft‘264 hin – mehr denn je eine intrasubjektive Pluralität konstatiert werden, denn „[i]n allen kultivierten Köpfen“ existieren „die verschiedensten Ideen und die gegensätzlichsten Lebens- und Erkenntnisprinzipien frei nebeneinander.“265 Wolfgang Welsch, der bei seiner ausführlichen Betrachtung von Pluralität vor allem das gesellschaftliche Angebot an Lebensentwürfen und Seinsweisen, an Stilen und Ideologien im Blick hat, sieht in genau jener permanent nebeneinander existierenden Vielfalt die Quelle für gesellschaftliche Systemausdifferenzierungen und eigene Identitätsbasteleien. Die stets und ständig vorfindbare Vielfalt an Möglichkeiten lässt, das wurde bereits im Abschnitt 2.1 dieser Arbeit erläutert, biografische und ästhetische Brüche sowie Neu- bzw. Rekombinationen bestehender Werte und situativer, aber auch dinglicher Energien an die Stelle linearer Entwicklungen treten. Der damit verbundenen Fragilität und Unbeständigkeit kann auf Dauer nur erfolgreich mit Offenheit begegnet werden. Der Hang zum Freien und Unverbindlichen wird gesellschaftlich stark gemacht, während viele Antworten nach dem Richtigen und nachhaltig Besten auf lange Sicht unbeantwortet bleiben müssen. In solch einer Gesellschaft geht es grundlegend darum, diese Brüchigkeit und Vielfältigkeiten nicht nur auszuhalten, sondern sie für sich und seine Umwelt nutzbar zu machen. So findet sich in den Ausführungen von Welsch die Forderung wieder, dass wir uns bewusst werden müssen, dass es zur Hauptaufgabe unserer Gesellschaft geworden ist, mit Pluralität umzugehen, denn unsere als Post- respektive Spätmoderne bezeichnete Gesellschaft sei vor diesem Hintergrund ein kulturelles Gefüge der radikalen Pluralität, das sich aus der modernen Verheißung eines Grundkonsenses gelöst habe und seine strukturelle Ordnung, bestehend aus kontingenten Kopplungen und perspektivisch gefällten Entscheidungen, fortan von jedem Menschen sozial teilnehmend sowie kommunizierend be-

263 Vgl.: ebenda: 241-251. 264 Vgl.: Gross, Peter (2005): Die Multioptionsgesellschaft. Erstausgabe, 1. Aufl. (Nachdruck), Frankfurt am Main. 265 Valéry, Paul (1957): La crise de l’esprit. OEvres, 1, Paris, S. 992.

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spielt sowie modifiziert und damit in Teilen aufgelöst oder aber gefestigt werden könne.266 Eine Demokratisierung von Entfaltungsmöglichkeiten sozusagen. Dies erfordert ein Umdenken in den Köpfen der Akteure, eine Einsicht in die Vielheit aller Motive und Orientierungen, die es tagtäglich bezogen auf die Mitwelt, aber auch innerindividuell zu verhandeln gilt. Während Arendt und daran anschließend Girmes uns die Tätigkeiten des Teilnehmens und des Handelns und Sprechens als Aktionsweisen im Umgang mit der intersozialen Vielfalt vorschlagen, spricht Welsch hier, und es klingt wie eine implizite Bestätigung jener Ausführungen, von der aisthetischen Kompetenz267 (oder auch Wahrnehmungsfähigkeit) sowie dem an Vielheit und Relativität orientierten Aushandeln268, welche ihre flexible Stabilität beide gleichermaßen aus einer situativen Kooperationsorientierung erhalten.269 Das Demokratieprinzip, welches auf der Basis von Verständigungen und Berücksichtigungen vielfältiger Meinungen fußt, werde hierdurch nicht gefährdet, sondern vielmehr intensiviert.270 Welsch sieht Pluralität somit nicht nur als menschliche Bedingtheit an. Er konstatiert, dass ihre verstärkte gesellschaftliche, also zwischenmenschliche und intrapersonale Existenz dazu geführt habe, dass wir uns nicht mehr im Zeitalter der klassischen Moderne befinden.271 Dies stellt für ihn eine chancen-

266 Vgl.: Welsch 1988: 24-28; 61-67. 267 Vgl.: ebenda: 61f. 268 Vgl.: ebenda: 63-67. 269 Gleichzeitig geht er jedoch, den Ausführungen Arendts ähnlich, kaum auf Strategien im Umgang mit intrasubjektiver Pluralität ein. Während dies bei Arendt damit erklärt werden kann, dass ihr Fokus generalistischer und nicht explizit auf der postmodernen Gesellschaftsform lag, bleibt Welsch diese Ausführungen aufgrund seiner Perspektivierung schlichtweg schuldig. 270 Vgl.: Welsch 1988: 57f. Ob es auch Kompetenzen gibt, die den Umgang mit innersubjektiver Pluralität fruchtbar für den Demokratisierungsprozess machen könnten, klärt er, wie bereits in der vorangegangenen Fußnote erwähnt, nicht. Denkbar wäre dies natürlich und vorstellbar könnten hier Aspekte wie Selbstbewusstsein, innere Ruhe und Postheroismus sein. 271 Diese These ließe sich auch mit Mashall McLuhans Medientheorie stützen, der die Aufgabe des postmodernen Zeitalters synonym zum Eintritt in das virtuelle Medienzeitalter, als Renaissance des Bildes als Leitmedium bei gleichzeitiger Verbindung seiner Potenz mit den Errungenschaften der Linearität und Strin-

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reiche Entwicklung dar, da sich die Rolle und der gesellschaftliche Stellenwert von Pluralität bedeutungsbezogen verdreifacht habe: Sie sei fortan nicht mehr nur menschliche Bedingtheit und Voraussetzung spät- bzw. postmoderner Gesellschaften272, sondern könne darüber hinaus, weil sie einen sozial umsichtigen und die eigenen Gedanken relativierenden Umgang notwendig mache, als ein politischer und ethischer Wert, als gesellschaftliche Orientierungsgröße, bezeichnet werden. Drittens sei sie somit gleichzeitig auch ein wichtiger Bestandteil der spätmodernen Gesellschaftsprogrammatik, da der Umgang mit ihr sich jedem Menschen als immerwährende Aufgabe stelle.273 Der Arendtschen These, dass der aus dem Umgang mit Pluralität entspringende Raumtypus stets einen politischen Charakter habe, kann man vor diesem Hintergrund uneingeschränkt zustimmen, verweist das Politische doch auf ein örtliches Miteinander274 von Menschen mit verschiedenen

genz von geschriebener Sprache sieht. Jene Herausforderung markiert für ihn die Demokratisierungschance der Postmoderne [vgl.: McLuhan, Marshall (2001): Das Medium ist die Botschaft. Dresden.] . 272 Pluralität bildet laut Welsch den Kern dessen, was als Zeitenwende im Fortgang der klassischen Moderne angesehen und mit Begriffen wie Spätmoderne, Postmoderne oder auch Zweite Moderne von eben jener abzugrenzen versucht wird. Somit werde der Umgang mit ihr ferner zu einem zentralen programmatischen Element spätmoderner Gesellschaften. (Vgl.: ebenda: 34-43.) 273 Vgl.: ebenda: 23. 274 Erscheinungsräume sind politische Räume, die auf einer gemeinsamen Semantik, der so genannten ‚verräumlichten Semantik‘ beruhen. Diese setzt einen „gemeinsam geteilten Wahrnehmungskontext“ [Miggelbrink, Judith (2005): Die (Un-)Ordnung des Raumes. Bemerkungen zum Wandel geographischer Raumkonzepte im ausgehenden 20.Jahrhundert. In: Geppert, Alexander C.T./ Jensen, Uffa/Weinhold, Jörn (Hrsg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld, S. 90.] der anwesenden Personen voraus, welche den Beobachter einschließt und deshalb von Elena Esposito auch als „Semantik der Einschließung“ bezeichnet wird. [Esposito, Elena (2002): Virtualisierung und Divination. Formen der Räumlichkeit der Kommunikation. In: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hrsg.): Raum – Wissen – Macht. Frankfurt am Main, S. 38.] Eine sich im Zuge der Virtualisierung vollziehende Entörtlichung von Kommunikationsräumen lässt verstärkt ‚kontext-

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Interessen, die sich in ihrem gemeinsamen Wirken einigen und ihre unterschiedlichen Positionen zugunsten einer für alle tragbaren Entscheidung aushandeln müssen.275 Somit kann man – getreu der Ausführungen Arendts – den Umgang mit Pluralität276 und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen als die für politische Räume zentralen Konstitutionselemente festhalten. In der politikwissenschaftlichen Forschung findet sich die menschliche Bedingtheit der Pluralität unter dem Begriff des ‚Pluralismus‘ als systemischer Gegenpol zum Partikularismus oder zu totalitären Ideologien beheimatet.277 Bestandteile pluralistischer Systeme sind dabei – grob zusammengefasst – die Freiheit des Einzelnen zur Vertretung eigener Interessen und Meinungen, Toleranz im Sinne einer Rücksichtnahme auf die Interessen und Ansichten des Anderen sowie das Subsidiaritätsprinzip. Diese Ingre-

lose Semantiken‘ in den Vordergrund treten, die unabhängig von der räumlichen Nähe der Gesprächsteilnehmer verstanden werden können. Dies setzt im Zuge der Globalisierung bereits automatisiert vollzogene Modifikationen im kommunikativen Feld voraus, die auf trotz örtlicher Distanz geteilte Symbolsysteme referieren und eine Interessenaushandlung auch ohne Face-to-FaceKommunikation möglich machen. 275 Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was das Politische sei, stößt man auf viele verschiedene Definitionen. Trotz ihrer zuweilen unterschiedlichen Fokussierung lassen sich ihre Gemeinsamkeiten in einem Definitionsangebot von Thomas Meyer finden, der in seinem Werk neben dieser basalen Begriffsbestimmung eine ebenso kompakte und anschauliche Zusammenschau zum Gegenstand des Politischen geliefert hat: „Politik ist die Gesamtheit der Aktivitäten zur Vorbereitung und zur Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher und/oder am Gemeinwohl orientierter und der ganzen Gesellschaft zugutekommender Entscheidungen.“ [Meyer, Thomas (2003): Was ist Politik? 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Opladen, S. 41.] 276 im Sinne einer Koexistenz diverser Interessen, Meinungen und Lebensstile, die es in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften zu erhalten gilt 277 Darüber hinaus existieren auch Pluralismusbegriffe in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, so z.B. in der Philosophie und der Theologie, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll.

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dienzien lassen den Stellenwert des Pluralismus278 für eine freie Gesellschaftsordnung deutlich werden und zeigen, dass ohne sie selbst eine Demokratie nicht allen Minderheiten wichtige Lebensgestaltungsfreiheiten garantieren könnte. Demzufolge ist die Qualität einer freiheitlich orientierten Gesellschaftsordnung, wie Welsch konstatiert, maßgeblich vom Umgang mit Pluralität abhängig, der in der von Arendt beschriebenen Weise zu jenem wechselseitigen Aushandlungsprozess durch das Voreinanderhandelnd-in-Erscheinung-Treten gekennzeichnet ist. Dieser ‚Erscheinungsraum‘ ist jedoch aus sich heraus nicht dauerhaft existent. Er ist nur solange vorhanden, wie die Menschen, deren Konstruktionsleistung er ist, jene Tätigkeiten ausführen, durch die er entstand, d.h. in einem steten kommunikativen Austausch miteinander bleiben. Somit besitzt jede Gruppe von Menschen das Potenzial zur Etablierung eines Erscheinungsraumes, seine Installierung jedoch wird nicht schon durch die bloße Anwesenheit der Personen vollzogen.279 Damit ist der öffentliche Raum in seiner Existenz als ein solcher Erscheinungsraum ein menschliches Werk, der die Sinnhaftigkeit der hergestellten Dingwelt tradiert und damit seine Beständigkeit dauerhaft sichert, was seine elementare Wichtigkeit für das menschliche (Zusammen)Leben markiert. Für Arendt sind Erscheinungsräume somit zugleich Räume der Gemeinschaft, denn der aushandelnde Umgang mit Pluralität ist es, der einen so genannten öffentlichen Raum im Sinne einer zwischenmenschlichen, diskursiven Organisationsstruktur erst hervorzubringen vermag.280 Diskurse stellen eine Form kommunikativen Handelns dar und da ein diskursiver Umgang mit Pluralität den Weg für gesellschaftlich notwendige Interessenausgleiche darstellt, können die meisten Erscheinungsräume auch als Diskursräume bezeichnet werden. Diskursräume vor allem deshalb, weil die interpersonale Affizierung, welche das Sich-Aufeinander-Beziehen und das Gefühl der Involviertheit sich an einem Gegenstand bzw. einer thematischen Substanz entzünden muss. Habermas, der den Diskursbegriff in die

278 Vgl. beispielsweise Ernst Fraenkels Pluralismustheorie [Fraenkel, Ernst (1964): Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. In: Gesammelte Schriften. Band 5: Demokratie und Pluralismus. (herausgegeben von Alexander v. Brünneck) Baden-Baden 2007, 256-280.] 279 Vgl.: Arendt 2001: 251. 280 Vgl.: ebenda: 249f.

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neuere Philosophie einführte, sieht das Wesen jener kommunikativen Handlungsform in einer sprachlichen „Überprüfung und Einlösung lebensweltlich problematischer (oder problematisierter) Geltungsansprüche.“281 Dies würde bedeuten, dass Diskurse Anzeichen gestörter „lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten, Einverständnisse, Hintergrundübereinstimmungen und fraglos funktionierender Mechanismen des Abgleichs und der Koordination intersubjektiven Handelns sozialer Aktoren“282 seien und ein gesellschaftliches Miteinander des Konsenses und der kollektiven Akzeptanz von geteilter Welt den ‚Normalfall‘ darstelle. Hier polarisiert Habermas jedoch zu stark. Er koppelt Diskurse gänzlich ab von gemeinschaftlicher Lebenswelt, während diese auf zweifache Weise gesellschaftlich positionierbar sind. Einerseits konstituiert sich erst im Diskursraum Gemeinsinn, der sich anders zwar als der Prozess der gegenstandsbezogenen Herstellung eines kulturellen Raumes gegen die weltliche Entfremdung der Menschen richtet, im Kern jedoch ebenso eine Artikulationsebene eigener Identitätsentwürfe erst möglich macht. Hier kann Diskurs- und Erscheinungsraum synonym gefasst werden und es wird deutlich, aus welchem Grund Erscheinungsräume als freiheitlich beschrieben werden. Arendt weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Exponieren und Tauschen von Waren als Produkte des Herstellens nicht erfolgreich ohne das Handeln und Sprechen ablaufen könne.283 Damit kann die qua Pluralität zu leistende Aufgabe der Konstruktion eines Erscheinungsraumes als basaler Vorgang für die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Gemeinschaft und damit auch einer individuellen wie kollektiven Identität angesehen werden. Diese ist mit Sinnkonstitution verbunden, welche sich wiederum bewusstseinsbezogen immer in Bezug auf und in Abhängigkeit von Menschen und/oder Dingen vollzieht. Bewusstsein ist somit, „für sich allein genommen, nichts; es ist immer Bewußtsein von etwas.“284 Auch in und mit Diskursen finden Positi-

281 Apel, Karl-Otto/Niquet, Marcel (2002): Diskursethik und Diskursanthropologie: Aachener Vorlesungen. Freiburg (Breisgau), München, S. 241. 282 Ebenda. 283 Vgl.: Arendt 2001: 263-270. 284 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1995): Modernität, Pluralismus und Sinnkrise – Welcher Grundbedarf an Orientierung ist für den Menschen zu befriedigen? In: Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen. Gütersloh, S. 11.

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onierungen statt, deren Bezüge sprachlich miteinander verhandelt werden. Andererseits – und das hatte Habermas nicht im Blick – sind Diskurse durch den irreversiblen Charakter der Sprache anschlussfähig. Sie bilden, das haben wir soeben gesehen, folglich den programmatischen Mittelpunkt politisch strukturierter gesellschaftlicher (Teil-)Systeme und sind damit nicht ausschließlich Elemente der Reflexion zwischenmenschlicher Lebenswelt, sondern – wie Apel und Niquet es formulieren – „selbst in die Kernstrukturen der Horizonte und Kontexte der Lebenswelt eingewandert“285. Besonders wenn man davon ausgeht, dass Diskursräume stets einen politischen Charakter haben, kann man diese zweite Diskursfunktion und -position nicht negieren oder als abgetrennt von ersterer verstehen. Kurzum: Da jeglicher zwischenmenschlicher Austausch auf einem Umgang mit Pluralität, der politischen Kernaufgabe, basiert, erzeugt er einen politischen Raum. Somit können alle interaktionalen Räume als politisch bezeichnet werden. Wenn nun aber alles im sozialen Raum zugleich auch politischer Raum ist, so sind auch Diskurse Bestandteil jeglicher Form sozialen Miteinanders und damit des alltäglichen, menschlichen Lebens. Apel und Niquet machen genau jene These, dass Diskurse zum ‚Normalfall‘ zwischenmenschlichen Lebens gehören, stark. Ihre Ausführungen lesen sich als Bestätigungen der Tatsache, dass Interaktionen auf Vielheiten und Aushandlungen basieren, wenngleich sie das Wort ‚Pluralität‘ nicht gebrauchen. „Diskurse beruhen selbst auf Gewißheiten und fraglos geteilten Vorannahmen: Sie sind Teil des ‚menschlichen Lebens‘ und ebenfalls Teil der ‚Form‘ desselben unter der Hinsicht einer in diese eingelassenen, jeweils präsenten Möglichkeit der kritischbestätigenden Prüfung. Die Engführung des Verhältnisses von Diskurs und ‚menschlichem Leben‘ beruht auf einer grundfalschen Konzeption des Diskurses als einer Art ‚problematisiertem Schattenbild des Lebens‘ genauso wie auf einem – sit venia verbo – lebensfundamentalistischem Zerrbild der ‚Diskursferne‘ der menschlichen ‚Primärexistenz‘ in der a-diskursiven Geborgenheit einer ‚tragenden‘ Lebenswelt.“286

285 Apel/Niquet 2002: 243. 286 Ebenda: 246.

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Gerade mit dem abschließenden Satz machen sie auf den Umstand aufmerksam, dass die konsensuelle Geborgenheit in der sozialen Welt nicht a priori vorhanden ist und lediglich punktuell über Un- und Missverständnisse Erschütterungen erleidet, welche diskursiv zu reparieren sind. Vielmehr findet sich der Mensch, dies unterliegt den Ausführungen Apels und Niquets implizit, unter Menschen per se in einer vieldeutigen, durch Kontengenz bestimmten Welt wieder, deren Aneignungs- und Lebensreichtum durch die Pluralität der Erdenbürger handelnd genutzt und damit kontinuierlich (re)produziert wird. Für den Menschen bedeutet dies also keineswegs die Garantie eines Lebens in verständnisvoller Eintracht mit seinem Gegenüber, weil nie sichergestellt sein kann, dass ihre Intentionen sich decken bzw. miteinander vereinbar sind. Genau dieser Umstand – und mit ihm der bereits erwähnte Aspekt der Identitätsbildung durch Interaktion mit dem Anderen – macht kommunikativen Austausch, auch im Sinne einer diskursiven Verhandlung, notwendig. Erst hierüber können sich beispielsweise Gruppen bilden, die sich durch ein gemeinsames respektive gemeinschaftliches Interesse definieren und das Individuum in der Umsetzung seiner Motivstruktur stärken. Siegfried J. Schmidt sieht in genau diesem Austauschprozess die basalen Kreislaufkraft des Kultursystems, die in ihrer Folge aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Menschen mit ihren je eigenen Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen über fiktive Kommunalisierungen die Schaffung und Stabilisierung von Wirklichkeitsmodellen befördert.287 Die Gemeinschaft als Produkt des handelnden Umgangs mit Pluralität besteht aus Individuen mit einem Gedächtnis. Und auch der Gemeinschaft an sich kann ein so genanntes kollektives Gedächtnis288 zugesprochen wer-

287 Vgl.: Schmidt 2000: 104f. (Auf den Schmidt‫ތ‬schen Kommunikationskreislauf kultureller Systeme wird in Abschnitt 4.3 dieser Arbeit nochmals und dann etwas ausführlicher eingegangen.) 288 Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses siehe: Assmann, Jan (1999): Kollektives und kulturelles Gedächtnis: Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung. In: Borsdorf, Ulrich /Grütter, Heinrich Theodor (Hrsg.): Orte der Erinnerung: Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt am Main u.a., S. 13-32. und Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: eine Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart

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den, das den Erscheinungs- bzw. Diskursraum stetig beeinflusst, sich in ihm repräsentiert und welches anhand konkreter Handlungsanlässe kontinuierlich weiter wächst. Damit bleibt der Umgang mit Pluralität im Unterschied zum Umgang mit Heimatlosigkeit eine weitaus folgenreichere Aufgabe. In ihm wird das überindividuell fortgesetzt, was mittels der Heimatschaffung personenbezogen begonnen hat. Die Etablierung von Ritualen, von wiederkehrenden kollektiv begangenen Ereignissen in gesellschaftlichen Räumen, ist auf eine ebensolche Verbindung von hergestellter Welt und ihrer In-Erscheinung-Bringung durch Kommunikation zurückzuführen. Damit zeigt sich, dass ein Gemeinschaftsempfinden durchaus eine Entsprechung im gegenständlichen Raum haben kann, nicht aber auf Dauer existent wäre, ohne gleichzeitig auch auf einem kommunikativ geschaffenen Erscheinungsraum zu fußen. Die politische Kommunikations- respektive Medienwirkungsforschung hat sich in diesem Zusammenhang mit dem Einfluss der Massenmedien auf die öffentliche Meinung beschäftigt und attestiert ihnen eine so genannte Agenda-Setting- und Priming-Funktion.289 Dahinter verbirgt sich – dies sei hier nur schlaglichtartig angeführt – die über zahlreiche empirische Studien gewonnene Erkenntnis, dass die Medien zwar keinen starken Einfluss darauf haben, was die Bevölkerung denkt, andererseits jedoch erheblich darauf einwirken können, womit sich das Publikum gedanklich auseinandersetzt. „Mit anderen Worten, die Massenmedien bestimmen durch Publikationshäufigkeit und Aufmachung mit, welche Probleme in einer Gesellschaft als besonders wichtig und daher lösungsbedürftig angesehen werden und welche Probleme vernachlässigt werden.“290 Dies ist umso stärker der Fall,

u.a., sowie: Assmann, Aleida (2010): Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 5., durchgesehene Aufl., München. 289 Vgl.: Bonfadelli (2004), Jäckel (2005), Rössler (1997), Sarcinelli et al. (1998), Schenk (2002) und Dörner (1995). Einführend ist zu diesem Thema aus der Vielzahl der wissenschaftlichen Betrachtungen der nachfolgende Aufsatz zu empfehlen: Brettschneider, Frank (1994): Agenda-Setting. Forschungsstand und politische Konsequenzen. In: Jäckel, Michael/Winterhoff-Spurk, Peter (Hrsg.): Politik und Medien: Analysen zur Entwicklung der politischen Kommunikation. Berlin, S. 211-229. 290 Brettschneider 1994: 225.

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„je weniger die Bevölkerung die Realität direkt wahrnehmen kann“291. Aus diesem Grund greift das Agenda-Setting verstärkt im Kontext der Vermittlung überregionaler politischer Inhalte, z.B. bei Bundestagswahlkämpfen, was sich natürlich auch die Parteien und ihre politischen Akteure zunutze machen. So wird darauf geachtet, genau das zur Sprache zu bringen, was auch in Erscheinung treten soll, denn die bewusste Ansprache bestimmter Themen durch beispielsweise öffentlichkeitswirksame Personen oder generell eine häufigere Berichterstattung in den Medien führt dazu, die angesprochenen Elemente durch ihre diskursive Präsenz als übergeordnet relevant wahrzunehmen. Man kann die These, dass vorrangig das präsent ist, worüber man spricht, sehr gut auf die zuvor herausgearbeitete These vom kommunikativen Erscheinungsraum übertragen. Mit der Agenda-Setting-Theorie wird folglich eine Strategie zur bewussten Steuerung dessen beschrieben, was Arendt die Etablierung eines Erscheinungsraumes und Apel/Niquet die Schaffung eines Diskursraumes nennen würden. Damit wäre das AgendaSetting weit mehr als nur ein taktisches Element zur Beeinflussung der öffentlichen Themen-Aufmerksamkeit – nämlich zudem auch ein Raumschaffungsvorgang, zu dessen Merkmalen es zählt, den diskursiven Inhalt der öffentlichen Auseinandersetzung zu beeinflussen. Wie bereits erwähnt, erzeugt der Umgang des Menschen mit Pluralität über den Erscheinungsraum einen politischen Raum par excellence. Das Politische spannt sich hierbei, das ist mehrfach betont worden, – den Arendtschen Ausführungen zufolge – immer dort räumlich auf, wo es gilt, unterschiedliche Meinungen und Interessen miteinander zielbezogen und gerichtet zu verhandeln. So legt auch Girmes vor diesem Hintergrund dar, dass das Politische im Arendtschen Sinne zum einen eine an menschliche Handlungen gebundene Erscheinung ist, die sich gleichzeitig aber zusätzlich durch ihre Raumhaftigkeit auszeichnet: „[D]er Sinn von Politik liegt – folgt man Hannah Arendt – immer schon darin, das “Dazwischen“ der Menschen, die alle verschieden (Pluralität) und frei sind, zu erhalten als einen Ort ihres Sich-einander-Zeigens und Mit-einander-Austauschens. Diesem Sinn entspricht das Ziel politischen Handelns, nämlich einen Raum zu schaffen und genauso wesentlich: auch zu erhalten, innerhalb dessen sich Menschen als ver-

291 Ebenda.

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schiedene frei begegnen können. Diesem Ziel entsprechend – so kann man formulieren – konstituiert die Organisationsform einer demokratischen Gesellschaft einen politischen Raum, in dem sich freie gleiche, potentiell urteilsfähige Menschen zur Gestaltung des sie miteinander beschäftigenden Weltgeschehens begegnen und sich austauschen.“292

Dieser Austausch muss, wie schon angedeutet, kommunikativ verlaufen, das heißt, den Menschen ist es ausschließlich über ein körper- und verbalsprachliches Sich-Öffnen sowie Teilnehmen am Anderen möglich, sich selbst, ihre Mitmenschen, Ereignisse, Gedanken oder Dinge themenbezogen in Erscheinung zu bringen und damit in Kontextbezügen sinnhaft zu verankern. Erst die sprachliche Auseinandersetzung ermöglicht somit das gemeinsame Strukturieren des öffentlichen Raumes. Erscheinungsräume schaffen, verändern und erhalten in diesem Sinne folglich die latenten Ordnungen und Bedeutungsgefüge eines kulturellen Raumes293. Es wurde in diesem Zusammenhang auf den vergangenen Seiten bereits darauf hingewiesen, dass Erscheinungsräume auch als Diskursräume beschrieben werden können. Doch welcher Gehalt verbirgt sich nun hinter der Synonymsetzung des Erscheinungsraumes mit dem Diskursraum? Nach Siegfried Jäger, der sich an den poststrukturalistisch diskursanalytischen Arbeiten Foucaults294 orientiert, lassen sich ‚Diskurse‘ metaphorisch „als Fluß von Wis-

292 Girmes, Renate (1997): Sich zeigen und die Welt zeigen. Bildung und Erziehung in posttraditionalen Gesellschaften. Opladen, S. 74. 293 „Das Moment des Unbedingten kann immer nur im politischen Streit und in der Sprache, die wir hier und heute sprechen, festgehalten werden. Moderne Demokratie ist genau in dem Sinne ››Regierung durch Diskussion‹‹, daß alle Ordnung allein aus Verständigungsprozessen hervorgeht und von deren wechselvollem Gelingen abhängig ist.“ [Brunkhorst, Hauke (1994): Demokratie und Differenz. Vom klassischen zum modernen Begriff des Politischen. Frankfurt am Main, S. 11] 294 Der Diskursbegriff und mit ihm die noch recht junge Methode der Diskursanalyse – man spricht erst seit etwas mehr als vierzig Jahren von jenem wissenschaftlichen Untersuchungsfeld – sind ein alles andere als genau abgestecktes Feld innerhalb der Kommunikationswissenschaften. Dies liegt in den unterschiedlichen Wurzeln der Diskurstheorie begründet. Im Wesentlichen kann man hierbei von zwei großen Traditionsfeldern sprechen – auf der einen Seite

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sen durch die Zeit, der sich eindämmen, stauen, umleiten lässt wie jeder andere Fluss oder Bach auch“,295 beschreiben. Diskurse sind folglich in sich und untereinander bewegliche Kommunikationsrahmen mit relationalem Charakter sowie zeitlicher Dauer und erzeugen damit Historizität.296 Als Ergebnis sprachlicher Handlungen im weiteren Sinne stellen sie Sinngewebe dar, die eingebettet in ihren gesellschaftlichen, kulturellen und somit auch sprachlichen Zeitzusammenhang eine Diagnose über das zeitbezogen fluktuierende und damit gesellschaftliche Denkstrukturen durchziehende Wissen möglich machen. Sie „üben als ‚Träger‘ von [diesem] (jeweils gültigem) ‚Wissen‘ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie Verhalten und (andere) Diskurse induzieren. Sie tragen damit zur Strukturierung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei.“297 Verbunden mit der beschriebenen Agenda-Setting-Theorie heißt dies, dass man auch dann einen guten Eindruck von den vorherrschenden Machtstrukturen erhalten kann, wenn man danach fragt, was aus den gesellschaftlichen Diskursen

die ‚amerikanisch-pragmatische‘ und auf der anderen Seite die ‚französische‘ respektive ‚poststrukturalistische‘ Ausrichtung. Während erstere auf alltägliche Kommunikationssituationen blickt und hierbei jene im Hintergrund der Interaktionen fungierenden Regelwerke aufzuzeigen beabsichtigt, operiert die französische und poststrukturalistische Tradition stärker auf dem Gebiet der politischen Ideologien. [vgl.: Angermüller, Johannes (2001): Diskursanalyse: Strömungen, Tendenzen, Perspektiven: Eine Einführung. In: Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina/Nonhoff, Martin (Hrsg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Hamburg, S. 7.] Auch die Diskursanalyse in Frankreich lässt sich wiederum auf zwei Wurzeln zurückführen: die systemlinguistische und die ideologiekritische. Erstere bezieht sich auf die Ausführungen Harris’, wohingegen sich in die Zweitere die Gedanken Althussers und Foucaults einordnen lassen. 295 Jäger, Siegfried (1994): Text- und Diskursanalyse: Eine Anleitung zur Analyse politischer Texte. 5. Aufl., Duisburg, S. 5. 296 So spricht z.B. Jäger davon, dass „Diskurse […] eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft haben.“ (ebenda.) 297 Jäger, Siegfried (2005): Diskurs als „Fluß von Wissen durch die Zeit“. Ein transdisziplinäres politisches Konzept. In: Aptum: Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. 01/2005, S. 56.

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konsequent ausgeklammert wird.298 Dies stellt in Mediendemokratien häufig zugleich einen blinden Fleck dar, weil das Nicht-Gesagte oft das öffentlich Nicht-Bekannte markiert. Diskurs- respektive Erscheinungsräume sind stets als komplexe Settings von Wirklichkeits(an)sichten, als Deutungsräume des Realen zu verstehen. In ihnen vollzieht sich – konstruktivistisch gesprochen – eine permanente Aushandlung von Meinungen und Blicken auf die Welt299, denn „wir [können; Anm. SMG] der Wirklichkeit keine Wahrheiten entnehmen […], […] [sondern; Anm. SMG] sie mit Wörtern und Begriffen immer nur deuten“.300 Vor dem Hintergrund der menschlichen Vielfalt, ihrer Pluralität, wird es damit „immer einen Kampf um unterschiedliche Deutungen geben“.301 Inwiefern dieser ‚Kampf‘ zu einer sachlichen, fairen und für alle Seiten gewinnbringenden Auseinandersetzung führt und nicht vom Sieges- und Konkurrenzgedanken allein getragen wird, hängt hierbei von den kommunikativen Handlungen und ihrer Kontextualisierung, sprich vom Typ des Umgangs mit Pluralität, ab. Erinnern wir uns zurück an die ausgeführte Dreibezüglichkeit des Pluralitätsbegriffs in spät- bzw. postmodernen Gesellschaften, welche Wolfgang Welsch herausgearbeitet hatte, so hieße das, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Pluralität als menschliche Bedingtheit zuvorderst am Grad und der Qualität ihrer Aufrechterhaltung gemessen werden kann. Pluralität als Voraussetzung und Ziel gewinnbringender zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen erfordert sodann eine umfassende multikulturalistische Einstellung – von Charles Taylor et al. in Grundzügen als Praktik aktiver sozialer Anerkennung302 beschrieben, „da eben erst hier jenes Bewußtsein entstehen kann, die ‚anderen‘ jenseits aller Konfliktlagen nicht nur als existent, sondern darüber hinaus als in einem

298 Auf bildlicher Ebene findet sich diese Herangehensweise an die machtstrukturelle Betrachtung medialer Artikulationen in der Imagineering-Forschung wieder [vgl.: Holert, Tom (2000): Imagineering: visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit. Köln.]. 299 und damit eine Zustandsschaffung. 300 Jäger 2005: 53. 301 Ebenda . 302 Vgl.: Taylor, Charles et al. (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main.

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bestimmten Sinne wertvoll zu begreifen.“303 Ihre Dauerhaftigkeit gewinnt jene Praktik aufgrund der Permanenz, mit der sich die Relevanz des Umgangs mit Pluralität den Menschen auf der Welt und damit in ihrem täglichen Leben stellt. Mit Gregor Matjan gesprochen, verkörpert „Pluralität kein statisches, sondern ein dynamisches Konzept […], das niemals in einen idealen Endzustand mündet“304. Der Umgang mit dem Vielfältigen und Anderen ist somit eine sich dauerhaft dem Menschen stellende Aufgabe, deren Praktiken vor dem Ziel ihrer Erhaltung an der soeben beschriebenen Kontur gewinnen.305 Fasst man nun zirkulierendes und in Bewegung befindliches Wissen bzw. Meinungsaustausch zwischen Menschen als Kerngehalte des Erscheinungsraumes, so müsste sich auch jeder Diskurs an jener beschriebenen Qualität messen und bewerten lassen. Doch was leisten Diskurse dann konkret? Foucault, erster pragmatischer Diskurstheoretiker und prominentester Vertreter der poststrukturalistischen Diskurstheorie,306 verortet den Machthandlungsbezug und damit die Intentionen von Diskursen vorrangig außerhalb der Sprache. Mit Martin Wengeler gesprochen, „geht [es; Anm. SMG] ihm um das, was nicht gesagt worden ist oder werden konnte, um die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was gesagt wurde [und; Anm. SMG]

303 Matjan, Gregor (1998): Auseinandersetzung mit der Vielfalt. Politische Kultur und Lebensstile in pluralistischen Gesellschaften. Frankfurt am Main, New York, S. 80f. 304 Ebenda: 83. 305 Das hat Auswirkungen auf die Codierung von öffentlichen Räumen, wobei eine wirtschaftliche Codierung dem Anspruch an eine freiheitliche Teilhabe und Teilnahme nur unzureichend entsprechend kann [vgl.: Pickett, Kate/Wilkinson, Richard: (2010): Gleichheit ist Glück: warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. 3., erw. Aufl., Berlin 2010 und: Holm, Andrej (2011): Berlin: Was hat der Milchschaum mit der Verdrängung zu tun? S. 1; unter: URL: http://www.freitag.de/community/blogs/andrej-holm/berlin-was-hat-der-milch schaum-mitder-verdraengung-zu-tun; [Stand: 25.01.2011; 19:22 Uhr]. 306 Im Wesentlichen ist das Feld der Diskurstheorie in zwei große Traditionsfeldern aufzuteilen – auf der einen Seite die ‚amerikanisch-pragmatische‘ und auf der anderen Seite die ‚französische‘ respektive ‚poststrukturalistische‘ Ausrichtung (vgl.: Angermüller 2001: 7).

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warum etwas so gesagt wurde, wie es gesagt wurde“.307 Damit geraten für Foucault all jene Regeln ins diskursorientierte Betrachtungszentrum, die der Sprache vorgeschaltet sind, sie rahmen und – mehr noch – sie in ihrer konkret realisierten Form erzeugen.308 Foucault selbst stellt mit seinem Verständnis von Diskurs somit keine direkte Verbindung zwischen Sprache und ihrem Handlungscharakter her. Für ihn bedeutet eine Untersuchung der sprachlichen Seite von Diskursen im Wesentlichen, auf die Menge an Realisierungsmöglichkeiten im vorstrukturierten System einzugehen. Nicht das Konkrete, aus dem situativen Einzelfall entspringende Sprachstück wird auf seine Wirkungen hin untersucht, sondern die im Hintergrund des Systems

307 Wengeler, Martin (2003): Topos und Diskurs: Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). Tübingen, S. 83. 308 Foucault formuliert dies folgendermaßen: „Die von der Sprachanalyse hinsichtlich eines beliebigen diskursiven Faktums gestellte Frage ist stets: gemäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden? Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle? […] Auf jeden Fall handelt es sich um die Rekonstruktion eines anderen Diskurses, um das Wiederfinden des stummen, murmelnden, unerschöpflichen Sprechens, das von innen die Stimme belebt, die man hört, um die Wiederherstellung des kleinen und unsichtbaren Textes, der den Zwischenraum der geschriebenen Zeilen durchläuft und sie manchmal umstößt. Die Analyse des Denkens ist stets allegorisch im Verhältnis zu dem Diskurs, den sie benutzt. Ihre Frage ist unweigerlich: was wurde in dem, was gesagt worden ist, wirklich gesagt? Die Analyse des diskursiven Feldes ist völlig andersorientiert; es handelt sich darum, die Aussage in der Enge und Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen; die Bedingungen ihrer Existenz zu bestimmen, auf das Genaueste ihre Grenzen zu fixieren, ihre Korrelation mit den anderen Aussagen aufzustellen, die mit ihm verbunden sein können, zu zeigen, welche anderen Formen der Äußerung sie ausschließt. Man sucht unterhalb dessen, was manifestiert ist, nicht das halbverschwiegene Geschwätz des anderen Diskurses; man muss zeigen, warum er nicht anders sein konnte als er war.“ [Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. 1. Aufl., Frankfurt am Main, S. 42f.]

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fungierende Kultur per se als wirkungsträchtiger Grundbaustein des themengebundenen Wissenstransfers verstanden.309 Das ist insofern problematisch, da Kultur nie losgelöst von Sprache als semiotischer Träger von sozial konventionalisierten Bedeutungen für das, was in und um uns herum existiert, gedacht werden kann. Bei Foucault wird die Sprache in ihrer Diskursrolle als eher dezentrales Phänomen betrachtetet, was sich in der wissenschaftlichen Forschung verschiedentlich kritisiert310 und zugunsten der folgenden These erweitert findet: Beide Seiten – die sprachliche und die außersprachliche Handlungsebene – können als diskursrelevant und damit als Determinanten des Erscheinungsraumes beschrieben werden. Dies legitimiert eine In-Beziehung-Setzung von Diskurs und kommunikativem Erscheinungsraum, da hier die Wichtigkeit des Sprachäußerungsprozesses für den Transport von Gedanken und Erkenntnissen, gesellschaftlich relevanten Ansichten und Einstellungen, verbunden mit der lebendigen Entwicklung einer bestimmten kulturellen Praxis analog zum Kern des bei Arendt beschriebenen Erscheinungsraumes, unweigerlich in den Vordergrund rückt.311 Dies unterstützend, schreibt Utz Maas: Diskurs stehe „für eine sprachliche Formation als Korrelat zu einer ihrerseits sozialgeschichtlich zu definierenden gesellschaftlichen Praxis“.312 Eine solche ‚Formation‘ zu analysieren, bedeute, die Regeln zu fassen, „die einen bestimmten Diskurs konstituieren“.313 Hier wird deutlich, dass Diskurse als geronnene und implizit in der Summe ihrer sprachlichen Bestandteile verborgene Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft gelesen werden können. Die Diskurs- wie auch eine Erscheinungsraumanalyse wären somit neben einer Analyse sprachlicher Referenzen eben auch immer die damit verbundene Deutlichmachung gesellschaftlicher Kontextbezüge in ihrer kommunikativen Aus-

309 Vgl.: Wengeler 2003: 82f. 310 So z.B. bei Wengeler 2003 311 Dass dies nicht in erster Linie der Foucault‫ތ‬schen Denklinie entstammt, sondern eher einer Adaption aus Michel Foucaults Diskursbegriff und seinen den Wissenschaftsdisziplinen zugrunde liegenden Betrachtungswinkeln, wurde auf den vorangehenden Zeilen deutlich gemacht. 312 Maas, Utz (1984): Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus. Opladen, S. 18. 313 Ebenda: 18f.

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prägung.314 Ansätze für diese Zweiseitigkeit lassen sich nun wiederum sogar bereits im Foucaultschen Aspekt der ‚diskursiven Praxis‘, mit dem ebenfalls auf jenen Zusammenhang von sprachlichen Äußerungen im situativen Kontext einer Zirkulation gesellschaftlichen Wissens hingewiesen wird, zaghaft angedeutet finden. So liest sich auch Foucaults Diskursbegriff letztlich entgegen seiner im Vorfeld explizit proklamierten Dominanz der Rahmenbedingungen für Sprachhandlungsprozesse gegenüber den Sprachhandlungen selber als durchaus binäre Vorstellung von Diskursräumen, wenn er diese als Produkt von Aussagen versteht, denen formal Regeln unterliegen und die inhaltlich auf andere Äußerungen referieren.315 Die sprachlich-diskursiven Äußerungsakte stellen das Grundgerüst eines Diskursraumes dar. Sie ergeben sich auf der Grundlage eines speziellen Themas und fungieren dabei wie das Mobiliar des diskursiven Raumes, ähnlich der Gegenstände im kulturellen Raum. So kann man (artikulierte) Gedanken als mentale Aktanten analog zu dinglichen Aktanten im gegenständlichen Raum bezeichnen. Das sich gegenseitig via Kommunikation zur Erscheinung Verhelfen führt er nicht explizit als Besonderheit des Diskursraumes an. Implizit könnte man bei ihm jedoch durchaus Rückschlüsse darauf finden, da auch er davon ausgeht, dass Artikulationen und auch artikulative Rahmenbedingungen Botschaften sind, die nicht nur etwas über bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse in sich transportieren und sichtbar machen, sondern überdies ebenfalls immer etwas über den Kommunikator aussagen. Paolo R. Donati begreift Diskurse in diesem Zusammenhang „als ‚sprachliche Ereignisse‘ […], als eine Handlung, durch die ideelle und symbolische Konstrukte in der sozialen Welt aktualisiert und ‚realisiert‘ werden.“316 Dieses handlungsträchtige Zusammenspiel von Sprache und gesellschaftlichen Situationen sorgt dafür, dass dem Aspekt des kommunikativen Austauschs unter dem Label seiner sozialen Einbettung in die Ent-

314 was, nebenbei bemerkt, das Forschungsfeld der Cultural Studies zu einem nahezu ausnahmslos diskursiven Bereich macht. 315 Vgl.: Wengeler 2003: 78. 316 Donati, Paolo R. (2001): Die Rahmenanalyse politischer Diskurse. In: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd.1: Theorien und Methoden. Opladen, S. 147.

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wicklung von Gesellschaft kulturelle Kraft beigemessen wird. Diskurse gelten vor diesem Hintergrund somit nicht mehr nur als Oberbegriff zwischenmenschlicher Diskussion im räumlichen Vakuum, sondern darüber hinaus im Besonderen als ein Ventil der (Wieder-)Herstellung, Neujustierung und Aufrechterhaltung von Gesellschaft durch die akteurbezogenen (Sprach)Handlungen.317 Man könnte folglich zugespitzt sagen: Ohne Diskurs- respektive Erscheinungsräume ist keine Gesellschaft, kein soziokultureller Raum denkbar. Prinzipiell fällt auf, dass die Analyse solcher Sprachhandlungseinheiten einen wertvollen Beitrag für den Bereich der ‚Tiefensemantik‘318, wie Busse und Teubert ihn nennen, leisten kann. Schließlich gehe es hier speziell darum, das Implizite an inhaltlichen Äußerungen aufzudecken und nachzuweisen319, was nicht zuletzt wieder eine vertraute Nähe zur französischen Diskurstradition aufweist. An dieser Stelle knüpft Busse explizit an Foucault an, indem er die Sinnfälligkeit hervorhebt, von miteinander verwobenen Wissenssystemen zu sprechen, welche sich auf jedwede Kommunikationshandlung auswirken, gleichgültig, ob sie latent im Hintergrund des Sprechanlasses fungieren und nicht320 zur Sprache kommen, oder in die Äußerung andeutungsweise mit einfließen. Dies bedeutet, dass die analytische Betrachtung von Diskursen die systemische Komplexität kultureller Räume über das Sichtbarmachen des Zusammenspiels gesellschaftlicher Teilsysteme deutlich machen kann. Der Unterschied zu Foucault bestünde,

317 Vgl.: ebenda. 318 Vgl.: Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang (1994): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Teubert, Wolfgang (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen, S. 14ff. 319 Busse und Teubert formulieren dazu: „Argumentationsanalyse (meist unter Verwendung des Toulmin-Schemas) soll die impliziten inhaltlichen Voraussetzungen explizit machen, die einzelne Textaussagen oder Aussagefolgen in ihrer gegebenen (semantischen, inhaltlichen) Form überhaupt erst möglich gemacht haben, bzw. die überhaupt erst vorauszusetzen sind, damit etwa eine bestimmte Aussagefolge in einem Text eine innere semantische Kohärenz gewinnt.“ (Busse/Teubert 1994: 23.) 320 weder explizit noch implizit

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so Wengeler, in der Auffassung Busses von „Diskursanalyse als historische Wissensanalyse“321, was bedeute, dass er im Unterschied zu Foucault die sprachliche Kommunikation als den „eigentliche[n] Ort der Erscheinung und damit der intersubjektiven Geltendmachung des Wissens“322 sehe, denn die Möglichkeit der intersubjektiven Vermittlung einer Erkenntnis und ihre daraus folgende gesellschaftliche Konstitution könne erst nach ihrer Artikulation gewährleistet werden.323 Dieser kurze Exkurs in die Grundlagen strukturalistischer und historischer Diskurstheorie sollte deutlich machen, dass diskursive Prozesse dynamisch und intern aufeinander bezogen sind. Ihre Gehalte sind sprachliche Handlungen, deren semiotische Gegebenheiten in ihrer intra- und interreferenziellen Aussagekraft entschlüsselt werden können. Damit ergeben sie die selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe, die Geertz als Illustration zur Beschreibung von Kultur verwendet.324 Ferner ist zu beachten, dass nicht nur die einzelnen Äußerungen aus sich heraus ein diskursbestimmendes Potenzial besitzen, sondern auch gesellschaftlich kursierende Einstellungen und Energien auf diese Äußerungen einwirken und sie in ihrem Stellenwert respektive ihrer Platzierung im diskursiven Raum determinieren. Je nach Sprachhandlungsgestus und Sprechakten sowie in Abhängigkeit der verwendeten Begriffe und Symbole lassen sich somit spezifische Dinge, Meinungen, Menschen und Sichtweisen auf völlig unterschiedliche Weise in Erscheinung bringen. Die Atmosphäre des Erscheinungsraumes ist folglich abhängig von seiner diskursiven Gestalt. Und diese ergibt sich wiederum aus den verschiedenen Bedeutungsträgern und ihrem kommunikativen Zusammenspiel als komplexer Prozess realer und mentaler Sinn-Affizierungen. Neben der materialisierten, hergestellten Welt stellt dieser Raum somit die soziale, interaktionistische Seite von Kultur dar. Im Unterschied zur hergestellten Dingwelt ist der geäußerte Kommunikationsgehalt irreversibel. Einen heimatlichen Entfaltungsraum kann man an einer bestimmten Stelle abbrechen und an derselben Stelle oder einem anderen Ort in gleicher

321 Wengeler 2003: 85. 322 Ebenda. 323 Vgl.: ebenda. 324 Vgl.: Geertz, Clifford (1991): Dichte Beschreibung Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 2. Aufl., Frankfurt am Main, S. 9.

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oder ähnlicher Weise neu errichten. So erklärt sich beispielsweise die Entrümpelung und Neumöblierung einer Wohnung, der Umzug in ein neues Haus, eine neue Stadt oder gar ein neues Land. Auch der Wechsel eines Modestils signalisiert potenziell neue mentale Beheimatungen. Natürlich fließt das Gewesene nicht selten auch materiell in die Neubeheimatung ein, zwingend notwendig ist dies für den Prozess jedoch nicht. Beim menschlichen Umgang mit Pluralität ist das anders, denn das in Erscheinungsräumen (diskursiv) verhandelte ist weitaus mächtiger. Wolfgang Welsch spricht zum Beispiel davon, dass „[m]enschliches Leben […] sich stets im Vorletzten und Pluralen“325 vollziehe. Hiermit spielt er auf genau jene Besonderheit an, denn das sozial Kommunizierte lässt sich nicht zurücknehmen. Gesagt ist gesagt. Das Artikulierte ist somit immer Anknüpfungspunkt für ein Weiteres. Man muss stets mit der Kenntnis des Eingebrachten weitermachen, es zu vergessen schützt in keinem Fall vor dem Erinnern. Diese auch schon von Arendt oder Gadamer postulierte Unendlichkeit von Gesprächen326 lässt Erscheinungsräume im Unterschied zu kulturell hergestellten Räumen – dies sei nochmals hervorgehoben – in gewisser Weise folgenreicher erscheinen. Ihre nachhaltige Lebendigkeit setzt demzufolge ein besonders verantwortungsvolles Miteinander voraus. Auch auf die Etablierung von kulturell hergestellten Räumen wirken sie unterstützend ein, denn diese werden, wie bereits erwähnt, für Gemeinschaften erst in Erscheinungsräumen haltbar und als sinndurchzogen erfahren. An dieser Stelle verbindet sich die als heimatlich empfundene Raumkonstruktion mit dem der Pluralität entspringenden Erscheinungsraum. Erstere nimmt hierbei den ästhetisch-formorientierten Platz ein, letztere den inhaltlich-semantischen. Bollnow legt genau jene Verbindung beider Raumtypen dar, wenn er davon spricht, dass Heimat mit dem Terminus der ‚Lebensräumlichkeit‘ korrespondiere und etabliert in diesem Zusammenhang den „Raum des menschlichen Zusammenlebens“327 als Begrifflichkeit. Er verweist darauf, dass Menschen einen eigenen Anspruch auf Lebensraum haben und sich

325 Welsch 1988: 67. 326 Vgl.: Arendt 1981 (1958): 226. und: Di Cesare, Donatella (2007): Das unendliche Gespräch. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung. (GW 1, 387-441) In: Figal, Günter (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Berlin, S. 189. 327 Bollnow 2004 (1963): 256.

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dieses begrenzte Gut stets teilen müssten, was – unterstützt durch die Pluralität ihrer Wesen und Begehren – in der Regel zu einem Kampf um Raumzugehörigkeiten führen müsse.328 Diese Rivalität werde einzig im „Raum des liebenden Zusammenlebens“329 aufgelöst. Bollnow beschreibt hiermit unter Bezugnahme auf Binswanger einen theoretischen Prototyp für ein räumlich gelungenes gesellschaftliches Miteinander und führt sein Potenzial auf eine optimale Verbindung von Nähe und Distanz zurück. Im kollektiven Handeln erzeugen die Akteure hier einen gemeinsamen Raum, der die Handlungsmöglichkeiten jedes Beteiligten erweitert statt sie zu Gunsten eines Beteiligten für alle übrigen einzuschränken. Über die Handlung des Teilnehmens an den Verfasstheiten der Anderen entsteht „gemeinsamer Raum“330, in dem die Handlungskraft „des einen erst die Arbeit des anderen möglich macht.“331 Eine Form der qualitativen Raumvermehrung332 ersetzt somit die der Rivalität entspringende quantitative Beanspruchung von Raum. Die gemeinsame Sinnschaffung durch kommunikativen Austausch erzeugt einen gelebten sozialen Raum der Bedeutungen, welcher bei Henri Lefebvre, wie auch schon in den Ausführungen Arendts, als freiheitlich bezeichnet wird.333 Den freiheitlichen Kern dieser räumlichen Seinsweise beschreibt Bollnow wie folgt: „In jeder menschlichen Arbeitsgemeinschaft, in jedem Kollegium (das Wort im weitesten Verstande genommen) gilt dieser Zusammenhang: Wo der Geist der Feindschaft, des Mißtrauens und der Rivalität herrscht, da steht in der Tat jeder dem andern im Wege, und jeder fürchtet, daß der andre ihn in den Schatten stellt, daß er ihm Raum, Arbeit, Erfolg oder sonst etwas fortnimmt. Wo sich aber das Zusammenleben vernünftig gestaltet, es braucht nicht einmal besondere Freundschaft oder Sympathie zu sein, da ist nicht nur von keiner wechselseitigen Beengung der Mitarbeiter die Rede, sondern da kommt es im Gegenteil zu einer wechselseitigen Steige-

328 „Der eine kann nur Raum gewinnen, indem er diesen dem andern wegnimmt.“ [Bollnow 2004 (1963): 257.] 329 Vgl.: ebenda: 257ff. 330 Ebenda: 269. 331 Ebenda. 332 In jenem von Bollnow beschriebenen Raumtypus ist die aktionale Summe tatsächlich mehr als das Zusammennehmen der einzelnen Handlungsanteile. 333 Vgl.: Lefebvre, Henri [1991 (1974)]: The Production of Space. Oxford, S. 137.

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rung. Der Erfolg des einen schafft zugleich neue Möglichkeiten der Leistung für den andern. Hier gilt wirklich, daß die gemeinsame Arbeit einen Lebensraum schafft, der größer ist als die Summe der einzelnen Lebensräume. Die Zusammenarbeit schafft wirklich neuen Lebensraum.“334

Bollnow skizziert hier äußerst bildhaft, dass echtes Zusammenleben raumschaffend wirkt. Diese Qualität fußt auf dem Umgang mit und der Konzentration auf solche Medien des Reichtums, die nicht durch Knappheit gekennzeichnet sind, sondern deren Austausch zu einem kontinuierlichen, unendlichen Zuwachs führt – Wissen und Aufmerksamkeit.335 So impliziert der von Bollnow explizierte Raumtypus, systemisch gesprochen, eine Handlungsprogrammatik, die Investitionen in die beschriebenen, expandierenden Medien zu ihrem Kern macht, statt einen Verbleib der lebensräumlichen Seinsweise im monetär an Ressourcenknappheit orientierten Haben zu proklamieren. Er verwendet zwar den ungenauen Begriff des ‚vernünftig gestalteten Zusammenlebens‘, der recht vage daherkommt, doch schnell wird klar, dass sich dahinter eine Existenzweise verbirgt, die Erich Fromm in seinem Werk ‚Haben oder Sein‘ unter dem ‚Sein‘ versteht. Diese ist nicht orientiert am Anhäufen von Besitz und Eigentum beziehungsweise daran, eigene Meinungen und Machtansprüche durchzusetzen, sondern versteht sich als Öffnung für den Fluss des Lebens, besteht in der Akzeptanz sozialer Vielfalt und der lebendigen Produktivität, dem das eigene Ich nicht im Weg steht. Nur auf diese Weise werde es möglich, gemeinsam zu denken und „sich voll auf den anderen und dessen Ideen ein[zu]stellen.“ Der Mensch „gebiert [nämlich normalerweise erst dann; Anm. SMG] neue Ideen, […] [wenn; Anm. SMG] er nichts festzuhalten trachtet.“336 Eng damit verbunden ist auch ein Teilnehmen am Gegenüber, ein Sich-

334 Bollnow 2004 (1963): 270. 335 Zur energetischen Kraft des Wissens sei verwiesen auf Richard Buckminster Fuller, während die Aufmerksamkeit und ihr Vergleich mit dem Geld im Mittelpunkt der Betrachtungen bei Georg Franck steht [vgl.: Fuller, Richard Buckminster (2008): Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. (herausgegeben von Joachim Krausse) Hamburg, S. 83ff.. und: Franck, Georg (2007): Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München.]. 336 Fromm, Erich [2009 (1979)]: Haben oder Sein. 36. Aufl., München, S. 51.

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Hineinversetzen in seine Motive und Bedürfnisse, welches dem Menschen ermöglicht, die Welt und auch sich selbst aus anderen Augen wahrzunehmen. Gleichzeitig ist eine solche Spiegelung des Anderen durch die eigene Person und umgekehrt die Spiegelung des Selbst im Anderen ein identitätsstiftender Prozess337, der es möglich macht, ein Bild der eigenen Person, eine Vorstellung davon, wie man wahrgenommen wird, im Selbst zu erzeugen und sich in der Interaktion in Relation zum Anderen erfahren zu können, was sich wiederum in der von Arendt übernommenen Begrifflichkeit vom ‚Erscheinungsraum‘ impliziert findet. Vor jenem Hintergrund lässt sich auch mit Hans-Georg Gadamer argumentieren, dass jedes Verstehen einem Auslegungsprozess unterworfen ist und damit die Quelle eines Sich-selbst-Verstehens darstellt. Der von Heidegger maßgeblich beeinflusste Philosoph zählte den Abgleich der individuellen, pluralen ‚Horizonte‘ der Gesprächspartner zur grundlegenden Voraussetzung für gelungene Kommunikation. Dieser führe in ein so genanntes hermeneutisches Verstehen, von Gadamer mit dem Begriff des ‚hermeneutischen Zirkels‘ beschrieben, welches sich einzig über die Sprache, den situativen Austausch, vollzöge.338 Zu seinen Kernthesen gehört in diesem Zusammenhang, „daß die im Verstehen geschehene Verschmelzung der Horizonte die eigentliche Leistung der Sprache ist.“339 Gadamer setzt sich somit zunächst mit dem Charakter von Gesprächen auseinander, um seine Ausführungen daran anschließend vorrangig auf die Interpretation literarischer Texte zu beziehen. Dies zeigt die basale (Erschließungs-)Kraft kommunikativer, verbal-diskursiver Aushandlungsprozesse sehr deutlich. Der Verstehensprozess ist ein an Sprache gebundener Vorgang und der Mensch besitzt eben aufgrund seiner Sprachlichkeit das Potenzial zum Verständnis. Gadamer macht hierbei auf eine für die hiesigen Ausführungen äußerst wichtige Charakteristik des Verstehensprozesses aufmerksam: „Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichausspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in

337 Vgl.: Krotz 2003: 34ff. 338 „So gehört zu jedem echten Gespräch, dass man auf den anderen eingeht”. [Gadamer, Hans-Georg (1960): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen, S. 389.] 339 Gadamer 1960: 359.

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der man nicht bleibt, was man war.“340 Dies bedeutet, dass im Dialog die Sprechenden zu einer dritten Einheit verschmelzen, einem ‚tertium datur kommunicare‘ sozusagen, der beide Parteien nachhaltig beeinflusst und verändert aus dem Gespräch entlässt. Gadamer umschreibt dieses gemeinsame Dritte mit der Herausbildung einer gemeinsamen Sprache durch „[d]ie Verständigung über die Sache, die im Gespräch zustande kommen soll“.341 Mit Arendt und Welsch im Hintergrund lassen sich die Ausführungen Gadamers nun auch als Beschreibung einer zwischenmenschlichen, durch Sprache vollzogenen Raumschaffung lesen. Die dialogische Einheit zwischen den Sprechenden wäre demnach der Erscheinungs- bzw. Diskursraum, in dem neben der pluralen Welt und den Dingen, über die man sich unterhält, auch die teilnehmenden Persönlichkeiten in ihrer Vielfalt sprachlich einfließen und in Erscheinung treten können. Auch Böhmes Atmosphärenbegriff als „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“342 ließe sich hier anbringen. In sprachlichen Interaktionen wirkt diese geteilte Wirklichkeit, diese affizierende Gestimmtheit des Dazwischen, genauso stark wie beim Betrachten von Architektur oder beim Hören von Musik. Nicht umsonst spricht man zuweilen von ‚dicker Luft‘ oder einer unangenehmen Stimmung, welche in Gesprächsrunden über das Gesagte hinaus und damit gewissermaßen zwischen den Sätzen für alle Anwesenden erfahrbar scheint. Somit könnte man schlussfolgern, dass in Analogie zu Gadamer die Sprache das Bindeglied respektive das ‚Schmiermittel‘ zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen menschlicher Innen- und Außenwelt darstellt. „Es ist die Sprache, die diese Gemeinsamkeit der Weltorientierung ständig aufbaut und trägt. Miteinandersprechen ist nicht primär Sich-miteinander-Auseinandersetzen. Es scheint mir bezeichnend für Spannungen innerhalb der Moderne, daß sie diese Wendung unserer Sprache so liebt. Miteinanderreden ist auch nicht primär Aneinandervorbeireden. Im Miteinanderreden baut sich vielmehr ein gemeinsamer Aspekt des Beredeten auf. Das macht die eigentliche Wirklichkeit menschlicher Kommunikation aus, daß das Gespräch nicht die Meinung des einen gegen die Meinung des anderen durchsetzt oder die Meinung des einen zu der Meinung des ande-

340 Ebenda: 360. 341 Ebenda. 342 Wie im Abschnitt 3.3.1 dieser Arbeit beschrieben, vgl.: Böhme 1995: 34.

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ren wie in einer Addition hinzufügt. Das Gespräch verwandelt beide. Ein gelungenes Gespräch ist von der Art, daß man nicht wieder zurückfallen kann in den Dissensus, aus dem es sich entzündete. Gemeinsamkeit, die so sehr gemeinsam ist, daß sie nicht mehr mein Meinen und dein Meinen ist, sondern gemeinsame Ausgelegtheit der Welt, macht erst sittliche und soziale Solidarität möglich. Was Recht ist und als Recht gilt, verlangt seinem Wesen nach die Gemeinsamkeit, die sich im SichVerstehen der Menschen errichtet. Gemeinsames Meinen baut sich in der Tat ständig im Miteinandersprechen auf und sinkt dann zurück in die Stille des Einverständnisses und des Selbstverständlichen. Aus diesem Grunde scheint mir die Behauptung gerechtfertigt, daß alle außerverbalen Formen des Verstehens zurückzielen auf das Verstehen, das sich im Sprechen und Miteinandersprechen ausbreitet. […] Es ist daher auch ein schwerer Irrtum, wenn jemand meint, daß die Universalität des Verstehens, von der ich hier ausgehe und die ich glaubhaft zu machen suche, etwa eine besondere harmonisierende oder konservative Grundhaltung zu unserer gesellschaftlichen Welt einschließe. Die Fügungen und Ordnungen unserer Welt ›verstehen‹, uns miteinander in dieser Welt verstehen, setzt ganz gewiß ebensoviel Kritik und Bekämpfung von Erstarrtem oder einem Fremdgewordenen voraus wie Anerkennung oder Verteidigung bestehender Ordnungen.“343

Der Unterschied zu Arendt und Welsch besteht nun bei Gadamer darin, dass er das Verstehen nicht als Teil einer empathischen Leistung, sondern es stets als „in der Sache“ begründet sieht: „Verstehen, was einer sagt, ist […], sich in der Sache Verständigen und nicht: sich in einen anderen Versetzen und seine Erlebnisse Nachvollziehen.“344 Für Gadamer ist kommunikatives Aushandeln, die Frage nach dem ‚Warum‘ und damit auch Verstehen an ein rationales Denkgerüst geknüpft.345 Die Linearität von Sichtweise und Ursache findet sich seinen Ausführungen als Grundprinzip „der Dialektik von Frage und Antwort“346 eingewebt. Die Andersartigkeit des Gesprächspartners und dessen Kontexterweiterung zu den begrenzten eigenen Perspektiven werden somit für ihn beispielsweise damit begründet,

343 Gadamer, Hans-Georg (1997): Gadamer-Lesebuch. (herausgegeben von Jean Grondin) Tübingen, S. 75. 344 Gadamer 1960: 361. 345 „Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser schon mitbestimmt.“ (Ebenda: 253) 346 Ebenda: 373.

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dass sich andere Menschen andere Fragen stellen. Ihre „Meinung[en] verstehen heißt, sie als Antwort auf […] [solche; Anm. SMG] Frage[n] [zu; Anm. SMG] verstehen“347, die man sich selbst bislang nicht in dieser Weise oder aber mit anderem Ziel gestellt hat. Damit wird deutlich, dass und weshalb für Gadamer „Verstehen schon Auslegen ist“348. Es bewegt sich stets innerhalb eines begrenzten Horizonts als hermeneutischem Rahmen, innerhalb dessen die eigene Begrenztheit und deren Positionierungen miteinander rational abgeglichen werden.349 Dieser wechselseitige Aushandlungsprozess erzeugt die von Gadamer mit dem hermeneutischen Zirkel beschriebene kommunikative Bewegung, in der nicht klar zwischen Fakten und Hypothesen getrennt werden könne.350 Auch wenn Gadamer dies nicht in vollem Umfang mitberücksichtigt hat und die von ihm konstatierte Linearität in der kommunikativen Verständigung zugunsten einer relationalen Auffassung von kommunikativen Aushandlungsvorgängen zu relativieren wäre, so besteht sein Verdienst – auch für die hiesige Untersuchung der auf der Basis des Umgangs mit Pluralität vollzogenen Diskursraumschaffung – doch vor allem darin, den kommunikativen Austausch als Grundlage für Verstehensprozesse ausgewiesen und die übergeordnete Rolle der Sprache351 für die menschliche Sinn- und damit auch Weltkonstruktion herausgestellt zu haben. Die Gadamer‫ތ‬schen Ausführungen von der Unmöglichkeit, sich lediglich objektiv ins kommunikative Spiel zu bringen,352 lassen sich auch durch

347 Ebenda: 357. 348 Ebenda: 373. 349 Vgl.: ebenda. 350 Vgl.: Stegmüller, Wolfgang (1996): Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten. Der sogenannte Zirkel des Verstehens. Darmstadt, S. 86. 351 für Dialoge in Schrift und gesprochener Sprache 352 Ein jeder Gesprächsteilnehmer begegnet der sprachlichen Aushandlung mit Vorannahmen, die im Gesprächsverlauf miteinander abgeglichen und zu einer gemeinsamen Wirklichkeit verknüpft werden können. Da scheint doch die Frage nach dem Verbleib der interaktionalen Empathie zum Teil bereits latent beantwortet zu sein. Zwar möchte Gadamer diesen Aspekt ganz explizit ausgeschlossen wissen, aber es lässt sich dennoch in sein Theoriegerüst hineindenken, wenn man davon ausgeht, dass auch Einfühlungsvermögen über beste-

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die Gedanken Arendts unterstützen. Sie spricht beim Handeln und Sprechen von einem gewissen Mehrwert, der in der „unwillkürlich-zusätzlichen Enthüllung des Wer des Handelns und Sprechens einen so integrierenden Bestandteil […], auch des objektivsten, Miteinanderseins“353 bildet. Kommunikationen artikulieren für sie Interessen, d.h. explizite, aber ganz besonders auch implizite Mitteilungen von Dingen und Einstellungen, welche Menschen miteinander verbindet oder auch trennt.354 Dies bedeutet, dass

hende Vorannahmen operiert, die in den Gesprächsablauf einfließen und diesen strukturieren können. Wenn ich beispielsweise um die Gestimmtheit und den Charakter meines Gesprächspartners aus einem Vorgespräch weiß, dann ermöglicht mir dieses Wissen, Vorannahmen des anstehenden Gesprächsablaufs zu machen und Reaktionen meines Gegenübers hypothetisch zu antizipieren. Diese Vorbelastetheit liegt zwar nicht ausschließlich in der zu verhandelnden Sache, kann aber in den seltensten Fällen in toto von ihr abgekoppelt werden. Interessanterweise bestreitet Gadamer dies ebenfalls in keiner Weise, so dass auch Empathie durchaus dabei helfen kann, den Verstehensprozess in kommunikativen Interaktionsprozessen voranzutreiben. Etwas zur Sprache bringen meint für ihn folglich gerade das Umformulieren, mit den eigenen Wörtern Wiedergeben und das Abgleichen von Ideen und Begriffen im Dialog. Gadamer führt hierzu aus: „Die eigenen Begriffe bei der Auslegung vermeiden zu wollen, ist nicht nur unmöglich, sondern offenbarer Widersinn. Auslegen heißt gerade: die eigenen Vorbegriffe mit ins Spiel bringen, damit die Meinung des Textes für uns wirklich zum Sprechen gebracht wird.” (Gadamer 1960: 374f.) Was Gadamer hier für die hermeneutische Textanalyse formuliert, trifft – dies sei nochmals explizit hervorgehoben – ebenso auch auf Gesprächssituationen und ihre Gestaltung zu. Der befruchtende Umgang mit Pluralität versteht sich vor diesem Hintergrund als ein Verhandeln von Bedeutungen über die Sprache und Gadamers Zeilen als Ermunterung zur Nutzung ihrer individuellen, an die Persönlichkeit der Sprechenden gebundenen Spielräume. Dass die Folgenhaftigkeit dieses Sich-kommunikativ-in-Erscheinung-Bringens sich in einer aus Erfahrungen zusammengestellten Voreingenommenheit gegenüber speziellen Themen, Situationen oder Personen niederschlägt, welche ebenso zu einem Teil des hermeneutischen Zirkels wird, kann allein aus unserer eigenen Alltagserfahrung heraus nur schwerlich negiert werden. 353 Arendt 2001: 224. 354 Vgl.: ebenda.

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neben Sachbotschaften eben immer auch Beziehungsbotschaften, Appelle oder Selbstoffenbarungen mitgeäußert werden. Die Schulz von Thunschen Vier-Ohren355, mit denen man das Gesagte hören kann, stellen hier ebenso eine Theoretisierung und Modellierung dieses Umstandes dar, wie dies zum Beispiel auch beim Bühlerschen Organon-Modell356 der Fall ist. Raumbezogen betrachtet, kann man somit schlussfolgern, dass kommunikationsorientierte Sprachtheorien in aller Regel Aufschluss geben können über die Struktur der vermittelten Einzelgehalte des Erscheinungs- bzw. Diskursraumes, während Diskurstheorien und Diskursanalysemethoden die inhaltlich-semantische Erschließung der Einzelgehalte in ihrem Gesamtgefüge möglich machen. Alles Handeln im Diskursraum ist ferner nicht voraussetzungs- und bezugslos möglich. Es ist – mit Arendt gesprochen – eingebettet in ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“,357 das allen Kommunikationsaktionen vorausgeht und in diese folglich stets auf vielfältige Weise mit einfließt. Diese kontextuelle Abhängigkeit des Einzelnen von seiner Umwelt und deren Konstellationen macht die Besonderheit des biografischen Lebensvollzugs aus. Sie ist der Grund für spannende Geschichten, für Tragödien, aber auch für Glücksstories, deren Abläufe sich erst im Nachhinein narrativ rekonstruieren lassen: „Weil dies Bezugsgewebe mit den zahllosen, einander widerstrebenden Absichten und Zwecken, die in ihm zur Geltung kommen, immer schon da war, bevor das Handeln überhaupt zum Zug kommt, kann der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit verwirklichen; aber nur weil Handeln darin besteht, den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat, kann es mit der gleichen Selbstverständlichkeit Geschichten hervorbringen, mit der das Herstellen Dinge und Gegenstände hervorbringt. Das ursprünglichste Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und

355 Vgl.: Schulz von Thun, Friedemann (1998): Miteinander reden 3. Das ‚Innere Team‘ und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek. 356 Vgl.: Bühler, Karl [1999(1934)]: Sprachtheorie: die Darstellungsfunktion der Sprache. 3., ungekürzte Aufl., Stuttgart. 357 Arendt 2001: 226.

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Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden.“358

Somit kann festgehalten werden, dass Erscheinungs- bzw. Diskursräume in zweifacher Weise auftreten können. Zum einen in Form von flexiblen Diskursräumen der alltäglichen Aushandlung von Welt-, Selbst- und Fremdbezügen. Diese sind durch in Gänze nicht vorhersagbare Dynamiken gekennzeichnet und können damit als hochkomplexe Relationengefüge mit eigenen Affizierungs- und Wirkungspotenzen gelten. In ihnen können alle Zeitbezüge miteinander im Zusammenhang verhandelt werden, wenngleich eine starke Gegenwartsbezüglichkeit vorherrschend ist. Darüber hinaus existiert eine symbolische Form des Erscheinungsraumes, dessen Kern in der narrativen Rekonstruktion von Gewesenem besteht. Besonders im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ritualen treten diese auf Selbstvergewisserung und nicht selten auch Genuss359 ausgerichteten Erscheinungsräume regelmäßig auf und sichern durch das von Gadamer postulierte ‚Sprechen einer gemeinsamen Sprache‘ u.a. eine Stabilisierung kollektiver Identitäten. Sämtliche Formen von Festen können als Anlass zur Errichtung solcher Erscheinungsräume angesehen werden. Familiär, örtlich oder auch national fixierte Festkulturen erscheinen vor diesem Hintergrund als Andockstellen an Gemeinschaftlichkeit, als Möglichkeiten der interaktionalen Sich-in-Erscheinung-Bringung und Positionierung im Gesamtgefüge, welche vom Gefühl getragen ist, als Teil des großen Ganzen in selbigem aufzugehen. Die häufig in diesem Zusammenhang gemeinsam vollzogene Rückbesinnung auf Vergangenes im Sinne einer kontinuierlichen Festschreibung der eigenen kollektiven Geschichte bzw. Gewordenheit kann dabei – gekoppelt an bestimmte Orte der hergestellten Welt – zugleich auch eine Herstellung und Verfestigung von heimatlichen Räumen nach sich ziehen. 360 Auch Aktanten beziehungsweise Set-

358 Ebenda. 359 durch soziale Unterhaltung 360 Solche Erscheinungsräume werden beispielsweise auch in der gut funktionierenden Fankurve des Heimatfußballvereins, auf gelungenen Festivals und Konzerten oder bei guten wissenschaftlichen Fachtagungen erzeugt. Damit dient die Erscheinungsräumlichkeit solchen Anlässen und Events nicht nur als Ziel, sondern gleichzeitig auch als Bewertungskriterium ihrer Qualität.

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tingarrangements können vor diesem Erkenntnishintergrund die Entstehung von kommunikativen Erscheinungsräumen begünstigen oder hemmen. Auf den vorangegangenen Seiten konnte dargelegt werden, dass der Umgang mit den drei basalen menschlichen Bedingtheiten zu drei unterschiedlichen, aber dennoch eng miteinander verwobenen konstruierten Räumen führt. Somit kann die These, dass Menschen basal raumschaffende Wesen sind, neben den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen Kandels auch durch die soeben durchgeführten existenzphilosophischen Betrachtungen grundlegender menschlicher Voraussetzungen argumentativ gestützt und in Bezug auf das Wie der Raumschaffung triadisch konkretisiert werden. Es konnte gezeigt werden, dass sich die konstatierte Relationalität von Raum bestätigen lässt, da sich – mit Benno Werlen gesprochen – „sowohl die Bedeutungen von Orten als auch die Räumlichkeit von Gegebenheiten handlungstheoretisch betrachtet […] nur in Bezug auf und als Folge von Tätigkeiten“361 erschließen und aufschlüsseln lässt, welche wiederum – und das hatte Werlen nicht im Blick – immer das Ergebnis eines zielgesteuerten Umgangs mit menschlichen und weltlichen Bedingtheiten darstellen. Raumkonstruktionen sind somit das Resultat des menschlichen Umgangs mit seiner Leiblichkeit, Heimatlosigkeit und Pluralität. Dabei werden atmosphärisch gestimmte Weiteräume rezeptiv in-Gang-haltend über Affizierungen konstruiert. Auf der Basis der Leiblichkeit und Emotionalität des Menschen ist es ihm möglich, sinnliche Wahrnehmungen zur Entfaltung seines Selbst in und mit der Umgebung zu nutzen. Die vorhandenen, als ansprechend wahrgenommenen Elemente werden auf der Basis ihrer Potenzialsprachen in ein konfiguratives Zusammenspiel gebracht, das räumlich synthetisiert wird. Kulturelle, ‚heimatliche‘ Identitätsräume im Sinne einer gegenständlichen, Schutz gebenden Welt werden damit herstellend durch die Schaffung einer „Beziehung zwischen sozialkulturellen und physisch-materiellen Gegebenheiten“362 konstruiert, wobei die Heimatlosigkeit und Verletzlichkeit des Menschen den Motor jenes

361 Werlen, Benno (2003): Kulturelle Räumlichkeit: Bedingung, Element und Medium der Praxis. In: Hauser-Schäublin, Brigitta/Dickhardt, Michael (Hrsg.): Kulturelle Räume – Räumliche Kultur. Zur Neubestimmung des Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien menschlicher Praxis. Münster (u.a.), S. 5. 362 Ebenda: 7.

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Herstellens und Verbindens mit der Dingwelt darstellt. Kommunikative Erscheinungsräume werden schließlich durch Sprache, also eher handelnd und sprechend über eine Relationierung des Thematisierten konstruiert.363 Das Auseinandersetzen mit dem Anderen und das Darstellen der eigenen Sichtweisen und Persönlichkeit vollzieht sich diskursiv und narrativ aufgrund der Verschiedenheit aller Individuen und der Notwendigkeit, eben diesen Umstand vergemeinschaftend zu nutzen. Die durch das leibliche Empfinden erzeugten atmosphärischen Gestimmtheiten haben sowohl auf die Herstellung heimatlicher Räume als auch auf die Schaffung kommunikativer Erscheinungsräume starken Einfluss, da – wie auf den vorangegangenen Seiten deutlich gemacht – in beiden Fällen immer auch das Affizieren und Affiziert-Werden Teil des Raumschaffungsvorgangs ist. Damit kann das Vermögen zur Herstellung atmosphärischer Weiteräume als die menschliche Grundform der Raumwahrnehmung und -herstellung betrachtet werden, die sich im Prozess der kulturell-dinglichen Beheimatung und sozial-kommunikativen In-Erscheinung-Bringung auf zwei spezifische Weisen artikulieren lässt respektive beide Raumschaffungsweisen entscheidend mitstrukturiert, denn ohne leibliche Affizierung können keine Räume als solche entstehen und sich ebenso keine Raumbindungen ergeben. Alle drei Aktionsprozesse sind dabei diverse Formen einer menschlichen Entäußerung des Selbst364 und lassen sich subsumieren unter der Handlung des (Be)Wohnens, eine – wenn man so will – Meta-Bildungsaufgabe des Menschen in seiner Rolle als kulturelles und kulturschaffendes Wesen. Die nachfolgende Übersicht fasst dies abschließend noch einmal zusammen. Sie orientiert sich dabei an den Dimensionen gesellschaftlicher Systeme, wie sie von Renate Girmes entwickelt wurden.365 Die Programmatik – das auch für Luhmann oder Siegfried J. Schmidt zentrale Operationszentrum von

363 Die Girmes‫ތ‬schen Bildungsaufgaben werden hierbei zu Tätigkeiten der Raumerschließung. 364 Vgl.: Hohmann, Rainer (2005): Was heißt in der Geschichte stehen? Eine Studie zum Verhältnis von Geschichte und Menschsein. Stuttgart, S. 90. 365 Vgl.: Girmes, Renate (2009): Herausfordernde Aufgaben im Unterricht. Vorschlag für eine bildungstheoretische Grundlegung. In: Feindt, Andreas/Elsenbars, Volker/Schreiner, Peter/Schöll, Albrecht (Hrsg.): Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Befunde und Perspektiven. Münster, S. 99-116, bes. S. 103.

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Systemen – bildet hier den Kern der entfaltbaren Systemdimensionen. Sie ist das Resultat der in diesem Kapitel beschriebenen Spannung von menschlichen Bedingtheiten und daraus resultierenden Zielen bzw. Handlungsorientierungen. Ihr Ergebnis sind die in der Übersicht links oben aufgelisteten Raumtypen, welche wiederum mehr oder minder automatisch mithilfe eines bestimmten Repertoires, einem medialen und methodischen ‚Werkzeugkoffer‘, erzeugt werden können: Abbildung 1: Dimensionen einer handlungsbasierten Raumtypologie als Ansatz zu einer Theorie des Ganzheitlichen Wohnens366 Konstruierte Räume als Ergebnis menschlicher Handlungen

(Ziel-)Setzungen als angestrebte Umgangsweisen

1) atmosphärisch gestimmte Weiteräume 2) kulturelle, ‚heimatliche‘ Identitätsräume 3) kommunikative Erscheinungsräume der a) alltäglichen Aushandlung von Selbst-, Sach- und Fremdbezügen und der b) symbolisch-narrativen Rekonstruktion von Gewesenem

1) Genuss; Selbst- und Welterfahrung 2) Sicherheit; Beständigkeit; Identität 3) Gemeinschaft; Teilhabe; strukturelle Ordnung; Identität

Handlungsprogrammatik eines ganzheitlichen (Be)Wohnens 1) sich leiblich entfalten 2) der Welt und sich Gestalt verleihen 3) sich, die Welt und Andere(s) kommunikativ in Erscheinung bringen

Menschliche Bedingtheiten als basale Voraussetzungen 1) Leiblichkeit und Emotionalität 2) Heimatlosigkeit 3) Pluralität und Sozialität

Konfigurierende Elemente als Repertoire 1) Ton, Schall, Licht, Geruch, Form etc. sowie Körper und Sinne als Affizierungselemente 2) Dinge (Materie); narrative Symboliken 3) Diskurse und Geschichten

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Trias der qua menschlicher Handlung konstruierten Räume häufig im Zusammenhang wirkt und hierbei unter wechselseitiger Verstärkung der einzelnen Raumtypen so genannte Mischräume hervorbringt. Beispielsweise dienen Gegenstände in kulturellen Räumen häufig als Anlass zur Kommunikation und damit für die Errichtung eines materiell an den kulturellen Raum geknüpften Erscheinungsraumes. 366 Eigene Darstellung auf der Basis der Dimensionen eines Handlungskreises im Anschluss an Girmes 2004 und Girmes 2009.

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Die Möglichkeit der gegenständlichen Welt, den Menschen leiblich zu affizieren, geht einher mit dem Affizierungspotenzial, welches auch Menschen unter- und miteinander spüren können und was sowohl den kulturellen, heimatlichen Identitätsraum als auch den kommunikativen Erscheinungsraum im qualitativen Sinne an die Existenz eines atmosphärisch gestimmten leiblichen Raumes bindet. So sorgen zum Beispiel bequeme Sitzoder Liegemöbel für eine Vernetzung von kulturellem, heimatlichem Raum mit einem atmosphärisch gestimmten Weiteraum oder ein inspirierendes Gespräch für das Empfinden atmosphärischer Dichte zur leiblichen Entfaltung als Basis zur Etablierung des kommunikativen Erscheinungsraumes zwischen den Kommunikatoren. Der Kommunikationsgehalt des ‚gestimmten Raumes‘ ergibt sich hierbei in seiner Ausdruckshaftigkeit auf das so genannte „Erlebnisich“367 und teilt sich ihm folglich über bestimmte kompositorische Aussagen mit. Deshalb verwendet man beispielsweise die auch von Ströker in diesem Zusammenhang angeführte Wendung vom Raum, der einen ‚anspricht‘368. ‚Gestimmte Räume‘ können somit auch als sinnliche Kommunikationsräume bezeichnet werden. Überhaupt manifestiert sich das Wohnen in genau jener Wechselwirkung von atmosphärischer Selbstbezüglichkeit und materialisierter, sozialer Funktionalität. Es erschöpft sich nicht in der bloßen Nutzbarkeit der räumlichen Umwelt. Vielmehr spannt es sich über dieser Nutzbarkeit als quantitativ-pragmatischer Größe in Form eines qualitativ aufgeladenen Raumes auf, der Behaglichkeit und Rückzug als Entfaltungspotenziale besitzt und erfahrbar macht. Wohn-Räume – und zwar Wohn-Räume im weitesten Sinne des Wortes – können damit als hybride Räume bezeichnet werden, deren binärer Charakter Jürgen Hasse am Beispiel der Wohnung als „dinglicher Raum der Konsistenz“ und „atmosphärischer Raum der Insistenz“ beschreibt.369 „Zwar erfüllt der Raum der Wohnung praktische Zwecke, indem uns die Dinge in ihm zu Diensten sind und der ganze Raum uns Platz gibt, den die täglichen Verrichtungen des Lebens beanspruchen. Gleichwohl ist derselbe Raum zuerst ein mit Vi-

367 Ströker 1977: 23. 368 Vgl.: ebenda. 369 Hasse, Jürgen (2009): Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft. Bielefeld, S. 14.

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talqualitäten aufgeladener ‚Herumraum‘ – ein zwischen Weite und Enge empfundener leiblicher Raum.“370

Auf der Basis der vorangegangenen Ausführungen in der vorliegenden Arbeit erklärt sich, über die kurzen Ausführungen von Hasse hinausgehend, nun gut, dass jene räumliche Bewohnbarkeit sich tatsächlich aus einer Verschmelzung verschiedener Raumschaffungsweisen ergibt. Sie wird immer dann möglich sein, wenn es gelingt, Genuss und Selbsterfahrung sinnlich zu erleben, dabei gleichzeitig seine Ideen und schöpferischen Kräfte in die Welt zu bringen sowie – die Ausführungen Hasses erweiternd – Teil einer sozial-kommunikativen Gemeinschaft zu sein. Das Wohnen wird damit zu einer Aufgabe, die das gestalterische Tun des Menschen in seiner dreifachen Ausprägung bündelt und stellt somit eine Art Verknüpfungsarbeit der drei räumlichen Ausprägungen jener Tätigkeiten dar, wobei jede einzelne Tätigkeit ihren spezifischen Beitrag zum Wohnen leistet.

3.4 Z WISCHENFAZIT : W OHNEN ALS RAUMBEZOGEN BASALE B ILDUNGSAUFGABE IM Z EITALTER DER FORTGESCHRITTENEN M ODERNE In Rückschau auf die vorangegangenen Kapitel lässt sich festhalten, dass Räume das Resultat von Konstellationen sind. Sie sind in ihrer relationalen Bedeutung eine basal menschliche Konstruktionsleistung. Grundsätzlich können in Bezug zu den Gegebenheiten, mit denen Menschen umgehen müssen, drei unterschiedliche Raumtypen hergestellt werden – der atmosphärisch gestimmte Weiteraum, heimatliche Identitätsräume sowie kommunikative Erscheinungsräume. Alle zusammen ermöglichen dem Menschen, seinen Bedingungen entsprechend wohnhaft auf der Welt zu werden, d.h. sich räumlich zu entfalten. Der Zusammenhang zwischen Mensch und Raum ist damit – dies haben die hiesigen Ausführungen bereits beleuchtet – ein zutiefst basaler.371 Raum wird in diesem Zusammenhang als die menschenfreundlichere Bezugsgrö-

370 Ebenda. 371 Auch bei Bollnow kann man dies sehr ausführlich lesen [vgl.: Bollnow 2004 (1963): besonders S. 285-305.].

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ße im Unterschied zur Zeitkategorie beschrieben, da sie nicht von Flüchtigkeit und Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Auf diese Weise kann der Mensch nicht in der Zeit, wohl aber im Raum das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gewinnen.372 Die menschliche Räumlichkeit und der Umgang mit ihr tragen die unterschiedlichsten Facetten und setzen sich demgemäß aus den verschiedensten Tätigkeiten zusammen. Bündeln lässt sich dieses Konglomerat an Aktionen in der Tätigkeit des ‚Wohnens‘. Diese trägt auch für Bollnow einen grundlegenderen Charakter, denn sie bezeichnet für ihn, „nicht nur […] das Bewohnen eines Hauses […], sondern das Verhältnis des Menschen zum Raum, die Befindlichkeit im Raum im ganzen“.373 So findet sich im Bollnow‫ތ‬schen Wohn-Begriff ebenso eine dreiteilige Aufgabe verankert, die ihm gleichsam eine dreiteilige Struktur verleiht. Vor dem genaueren Blick auf diese triadische Struktur lohnt es, auf den grundlegenden Begriffsstamm zu schauen. Hierbei fällt auf, dass das Wohnen bei Bollnow auf das Engste mit dem menschlichen Eigenraum in Verbindung gebracht wird. So wird der lebendige Eigenraumbesitz als Bewohnen, die lebendige Eigenraumnutzung als Wohnen bezeichnet – Ersteres die Perspektive des Habens, Zweiteres den Seins-Aspekt betonend.374 Sich bei Bollnow mit den Formen des Wohnens im Einzelnen auseinanderzusetzen, führt somit zunächst über die Formen des so genannten Eigenraums: „In dem Überblick über den Gebietsumfang des Wortes „wohnen“ hatten sich drei Formen eines solchen Eigenraums herausgehoben: 1. der Raum des eignen Leibes, 2. der Raum des eignen Hauses, 3. der umschließende Raum überhaupt. Dabei ist unter Haus im allgemeinen Sinn jeder über den Leib hinausgehende abgeschlossene Eigenbereich verstanden, in dem sich der Mensch aufhalten und mit Sicherheit bewegen kann. Ferner ist unter „Raum überhaupt“ jeder umfassende Raum gemeint, der nicht mehr durch eine erkennbare Grenze als ein Innenraum von dem Außenraum unterschieden ist.“375

372 Bollnow bezieht sich hier auf Merleau-Ponty, der in der Auseinandersetzung mit dem Leib als den unmittelbarsten Raum des Menschen von der basalen Tätigkeit des Wohnens als den generellen Aktionsmodus des Menschen im Raum spricht (vgl.: ebenda: 280f.). 373 Ebenda: 277. 374 Ebenda: 286. 375 Ebenda.

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Es ist dem Menschen also möglich, sich in dreierlei Weise räumlich zu entfalten, da er in dreifacher Art räumlich in etwas inkarniert376 sei – einmal in sich selbst und damit in seinen körperlichen Innenraum, dann in seinen eigenen vier Wänden, sprich dem gebauten, architektonischen Innenraum und letztlich auch in den öffentlichen (Außen-)Raum vor seiner Haustür. Der alltagssprachliche Gebrauch des Wortes „Wohnen“ wird dabei im klassischen Sinne am ehesten mit dem zweiten Eigenraumtypus, dem Haus oder – man beachte den Wortstamm – der Wohnung, in Verbindung gebracht. Interessant ist, dass Bollnow hier eine Erweiterung des Wohnens vornimmt und die zwei übrigen genannten Bereiche zur Tätigkeit hinzuzählt. Insgesamt lassen sich die drei von Bollnow skizzierten Eigenräume passgenau auf die drei Typen menschlicher Raumschaffung übertragen. Den Leib bewohnen ließe sich folglich mittels atmosphärisch gestimmter Weiteräume. Das Haus bzw. die Wohnung zu bewohnen, wird erst möglich über die Existenz einer dinghaft hergestellten Welt und die Bewohnbarkeit des öffentlichen (Außen-)Raumes ist an die kommunikative Errichtung so genannter Diskurs- respektive Erscheinungsräume gebunden. Verkürzt gesagt: Ohne sinnliche Wahrnehmung ist keine leibliche Entfaltung, ohne die Gestaltung der Dingwelt keine häusliche Entfaltung und ohne Kommunikation kein öffentlicher Entfaltungsraum denkbar. Bollnow spricht bezogen auf den eigenen Körper von einer Wohnung, mit der man unlösbar verbunden ist und setzt das Haus dazu in eine analoge, erweiternde Beziehung, indem er konstatiert, dass dieses „doch in einer gewissen Hinsicht als […] [erweiterter] Leib […], mit dem sich der Mensch in einer ähnlichen Weise identifiziert und durch den er sich entsprechend in einen größeren Umraum einordnet“377, gelten könne. Zwar ist das Haus verlassbar und nicht untrennbar mit der Person verwachsen, doch wird es ebenso als zum Menschen gehörend wahrgenommen und demgemäß materiell bestückt bzw. in seinen Kapazitäten genutzt. „Das Haus wird durch diese enge Verbundenheit zum Ausdruck seines Wesens“378 und dient damit einer direkten Identifikation. Vor diesem Hintergrund ließen sich auch

376 Bollnow erklärt dieses Phänomen unter Bezugnahme auf Gabriel Marcel als durch etwas räumlich verankert sein. Damit stellt der Inkarnationsbegriff für ihn eine anthropologische Beschreibungsgröße dar (vgl.: ebenda: 291) . 377 Ebenda: 292. 378 Ebenda: 293.

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die Dinge der eigenen Umgebung als Verlängerungen und Projektionsflächen des Selbst verstehen, was als Erkenntnis beispielsweise in der Konsumforschung längst dienstbar gemacht wird. Bollnow spricht beispielsweise davon, dass „der Mensch nur in der Einheit mit einem konkreten Raum ein bestimmtes Wesen gewinnt.“379 Wie der eigene Körper so hat auch das Bewohnen eines Raumes, Appartements oder Hauses Auswirkungen auf das Selbstbild des inkarnierten, darin lebenden Menschen. Die atmosphärischen Gestimmtheiten färben sozusagen ab auf seine psychische und auch physische Befindlichkeit. Sie formen seinen Charakter, indem sie bestimmte Eigenschaften verstärken und andere Wesenszüge hemmen. Die Möblierung und auch die Außendekoration sind dabei vergleichbar mit Kleidungsstücken, die diese Wirkungen noch verstärken oder aber auch ausgleichen können. Das sich Einrichten in den eigenen vier Wänden hat somit etwas mit dem sich Einrichten im eigenen Körper gemeinsam. Die Kollektivbildung von gebautem Innenraum und Bewohner zeigt, dass der Wohnraum ein Aktant mit eigenen Inskriptionen ist und dem Menschen jeweils bestimmte Möglichkeiten seiner körperlichen und seelischen Entfaltung ermöglichen hilft. So wie ein Körper mit seiner Größe und Statur, den Proportionen oder der Haarfarbe gewisse Vorgaben mit sich bringt, haben auch Häuser und Innenräume ihre ganz spezifische Physiognomie, die als Formaspekte das Einrichten und die Möglichkeiten ihrer Nutzung determinieren. Was Bollnow hier implizit unterstellt, aber nicht explizit sagen konnte, ist auf den vorangegangenen Seiten dieser Arbeit beschrieben. Er unterstellt dem Menschen, wenn er von drei Eigenraumtypen spricht, eine dreifache räumliche Eingebettetheit in die Welt. Was er damit, also über seine These, der Mensch sei auf dreifache Weise in den Raum inkarniert, jedoch eigentlich ausdrückt, ist die menschliche Fähigkeit, in dreifacher Weise Räume zu schaffen, die ihn handelnd mit der Welt verbinden – einmal leiblich sein individuelles System in-Gang-haltend, dann Welt herstellend und sozial kommunizierend. Das von Bollnow über seinen Begriff des Wohnens entworfene Verhältnis von Mensch und Raum weist somit bereits jene beschriebene Dreiteiligkeit auf, grenzt diese dabei aber auf das als passiv von ihm ausgedrückte Inkarniertsein ein.380

379 Ebenda: 295. 380 Somit verstehen sich die hiesigen Ausführungen auch als ein Beitrag zur Wohnphilosophie Bollnows im Sinne einer Erweiterung dieser in Richtung der

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Geht man davon aus, dass in der Bollnow‫ތ‬schen Dreiteiligkeit des Wohnens jede nachfolgende Wohnformerweiterung ihre vorangehende mit einschließt, also, dass an das erfolgreiche Inkarniert-Sein in das Haus auch ein Inkarniert-Sein in den Körper gebunden ist und beide Aspekte in ein erfolgreiches Inkarniert-Sein in den öffentlichen Raum maßgeblich mit einfließen, dann ließe sich sagen, dass urbane Räume einerseits als Prototypen öffentlicher Räume auf ein dreifaches Inkarniert-Sein ihrer Nutzer referieren, gleichzeitig aber auch das Ergebnis der aktiven Umgangsweise mit ihren basalen menschlichen Bedingtheiten, also ein rhizomatisches Konglomerat aus den drei beschriebenen Raumkonstruktionsformen sind. StadtRäume können folglich als Räume mit einer komplexen, aktiv und rezeptiv wirksamen triadisch strukturierten Wohnräumlichkeit beschrieben werden, auf die einzugehen und die zu berücksichtigen ist, wenn man Stadtgestaltung und -planung nachhaltig vollziehen und Raumbindungen langfristig stärken möchte. Auch bei Heidegger lassen sich Rückschlüsse auf ein aktives Wohnverständnis finden. Er betrachtet Wohnen als bewusst praktizierte Raumhandlung, wenn er sagt: „Mensch sein, heißt […] wohnen.“381 Wir haben festgestellt, dass die Grundständigkeit des Wohnens darauf zurückgeführt werden kann, dass es eine Tätigkeit darstellt, die ihre Komplexität aus der Kombination dreier gestaltender Bildungsaufgaben in ihrer jeweiligen Raumschaffungskraft erhält. Diese gewinnbringend zu vollziehen, bedeutet nicht zuletzt, sich der Permanenz ihrer Durchführung bewusst zu werden. Nach Bollnow steht dem Bewohnen eines Ortes nämlich ein komplementärer Zustand entgegen – das Geworfensein in die Welt, welchem man nur durch jene aktive, dreiteilige Raumschaffungsarbeit entgegenwirken könne: „Mit dem Wohnen ist ja auf jeden Fall eine Befindlichkeit im Raum gemeint, die der der Geworfenheit grundsätzlich entgegengesetzt ist; denn Wohnen heißt doch: nicht mehr an eine beliebige Stelle eines fremden Mediums ausgesetzt sein, sondern geborgen sein im Schutz des Hauses. Dass der Mensch das Wohnen aber erst lernen

aktiven räumlichen Konstruktions- und Gestaltungskraft des Menschen als wohnendes Wesen. 381 Heidegger, Martin (1951): Bauen Wohnen Denken. In: ders. (2000): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt am Main, S. 149.

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müsse, kann nur so verstanden werden, dass er durch seine Anstrengung im Verlauf einer vielleicht unvermeidbaren, auf jeden Fall aber unheilvollen Entwicklung eingetretenen Zustand des Geworfen-seins in den des Wohnens verwandeln müsse.“382

Was Bollnow hier andeutet, hat für unsere weiteren Raumbetrachtungen weit reichende Folgen. Spricht er zu Beginn davon, dass mit dem ‚In-dieWelt-Geworfensein‘ eine dem Wohnen entgegenzusetzende Gegebenheit existiert, kann das ‚Wohnen‘ nicht als eine ebensolche angesehen werden. ‚Wohnen‘ muss man demzufolge herstellen und über bestimmte Tätigkeiten fortlaufend in-Gang-halten. Wenn dem Individuum aufgrund des notwendigen Umgangs mit seinen menschlichen Bedingtheiten eine beschriebene dreifache Raumschaffungspotenz zugesprochen werden kann, dann liegen in den Programmatiken jener drei Raumschaffungsvorgänge genau jene das Wohnen ausmachende Tätigkeiten verankert. Damit ist das Wohnen keine Voraussetzung, sondern eine menschlich anzustrebende Qualität. Gleichsam jedoch ist der Beginn eines Menschenlebens, wie bereits in Abschnitt 3.2 dieser Arbeit angeführt, in der Regel nicht durch ein räumliches ‚In-die-Welt-Geworfensein‘ gekennzeichnet. Bollnow selbst verweist hierzu auf Bachelard, der in Bezug auf das privaträumlich geschützt-umschlossene Wohnen schreibt: „Das Leben beginnt gut, es beginnt umschlossen, umhegt, ganz warm im Schoße des Hauses“.383 Daraus folgt, dass die Erfahrung des ‚Geworfenseins‘ eine nachgestellte, als defizitär empfundene Erfahrung ist und sich „die Verfassung des Menschen selber […] im Wohnen manifestiert.“384 Mit anderen Worten erwächst aus der Emotionalität und Sozialität des Menschen der Hang nach Verwurzelung und Zugehörigkeit, die sich im weitesten Sinne stets gebunden an einen Raum, ob landschaftlicher, häuslicher oder leiblicher Art, vollzieht. Das ‚Be-Wohnen‘ des Raumes im Sinne eines in den Raum eingeschriebenen Selbstausdruckes und die Möglichkeit zu dessen Kultivierung im Sinne einer demokratischen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit stellt somit eine anzustrebende Zielstellung im privaten sowie vor allem im öffentlichen Raum dar. Das Raumgefühl in Zeiten zunehmender Dezentralisierung bei stetem Fortscheiten der Homogenisierung von öffent-

382 Bollnow 2004 (1963): 276. 383 Bachelard, Gaston (1992): Poetik des Raumes. Frankfurt am Main, S. 39. 384 Bollnow 2004 (1963): 276.

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lichen Räumen und einer Verlagerung der Ausübung sozialer Aktionen in virtuelle Räume bewegt sich jedoch entgegengesetzt zum zuvor Beschriebenen. Lokale Entwurzelungen lassen den Raum vor der eigenen Haustür zunehmend als fremd bzw. bedrängend erscheinen und die eigene Rolle wird zunehmend als sinnentleert und überflüssig wahrgenommen. Mit der Inglehart‫ތ‬schen Mangelhypothese argumentiert, müsste das Bedürfnis nach lokaler Verwurzelung in Anbetracht jener entgegengesetzten Entwicklung wieder ansteigen.385 Und es kann festgehalten werden, dass sich das Wohnen in seiner beschriebenen Komplexität nicht in entörtlichten Welten realisieren lässt. Vielmehr stellt der Blick auf die Qualität(en) des Wohnens und eine Beschäftigung mit jener Tätigkeit aus diesem Grund genau den entscheidenden Schlüssel dar, um dem eingangs beschriebenen Nachlassen der Raumbindungen – langfristig gesehen – eine wirksame Herangehensweise entgegenzustellen. Da erstaunt es umso mehr, dass in der Forschung jene Verantwortlichkeitsfrage für die Qualität des Wohnens nicht mit einem Blick auf die Tätigkeit des Wohnens selber zu beantworten versucht wird.386 Jürgen Hasse führt diese stiefmütterliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wohnen darauf zurück, dass diese Tätigkeit sich nach mehrheitlicher Ansicht ohne Reflexion vollziehe. Sie gehöre damit sozusagen zu den automatisiert durchgeführten Handlungen, denen „keine programmatisch explizit definierten Gründe“387 vorangestellt seien. Und genau hier liegt der Trugschluss. Mit Blick auf die entwickelte Programmatik des (Be)Wohnens zeigt sich deutlich, dass das Wohnen als ein durchaus hochreflektierbarer und auf basale menschliche Bedingtheiten zurückführbarer Komplex von Handlung anzusehen ist. Ein Ort kann nur für jene Menschen zum Lebens-Raum werden, die ihn ‚bewohnen‘ können. Doch wie genau lässt sich jenes dreifache ‚Bewohnen‘ kultivieren? Ausgehend von der ohne personales Zutun gegebenen Heimatlosigkeit des Menschen388 und seiner Sozialität erwächst der Zusammen-

385 Vgl.: Inglehart 1998: 53f. 386 Das sieht man schon allein an der erstaunlichen Übersichtlichkeit der jüngeren wissenschaftlichen Literatur, welche explizit die Tätigkeit des Wohnens zu ihrem zentralen Gegenstand macht (vgl.: Biella 1998; Flagge 2002; Hasse 2009). 387 Hasse 2009: 15. 388 Gemeint ist damit die schon im Abschnitt 3.3.2 mit Bezugnahme auf Arendt skizzierte Tatsache, dass der Mensch ein verletzbares Mangelwesen ist und

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hang von Raum und Beziehung. „So gesehen ist das Territorium der Grund, auf dem sich Individuen in ihren Beziehungen und Bindungen bewegen, aber auch ein Objekt der Orientierung und Anpassung.“389 Simmel führt in diesem Zusammenhang aus: „Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen, so erfüllt eben jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eigenen Platz, und zwischen diesen und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt. Natürlich ruht dies nur auf dem Doppelsinn des Zwischen: dass eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine, in dem einen und dem andern immanent stattfindende Bewegung oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des räumlichen Dazwischentretens stattfinde.“390

Raumbindungen sind folglich Ergebnisse von Inter-esse im wörtlichen Sinne – eine Folge des Dazwischenseins von Mensch und Dingen. LebensRäume konstituieren sich demgemäß vor allem durch Affizierungen, die soziale (aber auch gegenständliche) Bindungen hervorrufen und verstricken sich auf diese Weise lebensbiografisch äußerst eng mit der Identitätsentwicklung und dem Erhalt bzw. dem Wandel selbiger. Der Bildung von Identität kann hierbei ein besonderer Platz eingeräumt werden, da diese per se eine raumabhängige Größe ist. So definiert Wolfgang Berg in Anlehnung an Keupp und an seine Bezüge zu Erikson Identität wie folgt: „Identität lebt […] von einem Subjekt, das sich um sein Selbst- und Weltverständnis zu kümmern hat, sich selbst verorten muss und dabei der Zustimmung anderer, der sozialen Anerkennung bedarf.“391 Damit ist Identitätsbildung sehr stark gebunden an eine Erschließung des Selbst durch eine Erschließung des Raumes, einer Positionierung des Selbst im erschlossenen Raum sowie einer Raum-Schaffung und Raum-

sich zum Schutz seines Leibes einen Raum der Zugehörigkeit mit Schutz und Sicherheit stiftenden Dingen schaffen muss. 389 Berg, Wolfgang (2001): Identitätspolitik: Europäische Identität und Landesbewusstsein in Sachsen-Anhalt. Aachen, S. 57. 390 Simmel, Georg (1908): Soziologie. Berlin, S. 616. 391 Ebenda: 11.

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Gestaltung durch das Selbst in Interaktion mit Anderen. In den drei beschriebenen Raumschaffungsweisen vollziehen sich genau jene Vorgänge. In diesem Sinne kann das Bewohnen der Welt, was all diese Handlungen beinhaltet, als die basale Raum- und Identitätsbildungspraktik angesehen werden, die es zur nachhaltigen Stärkung von Lebensqualität in Städten anzustreben gilt, denn in ihr verkörpert sich ein Mix aus den unterschiedlichsten Bildungsaufgaben des Menschen. Heidegger bezeichnet das Wohnen somit völlig zu Recht als „Grundzug des Seins“.392 Erinnern wir uns an die Dimensionen des menschlichen Raumschaffens, so konstituieren sich atmosphärisch gestimmte Weiteräume durch Töne, Schall, Licht oder Gerüche in ihrer leiblichen Wirkung auf den Menschen. Kulturelle, ‚heimatliche‘ Identitätsräume konstituieren sich durch in die Dingwelt eingeschriebene narrative Symboliken und kommunikative Erscheinungsräume entstehen über sprachlich verhandelte Geschichten und Diskurse. Heidegger konstatiert: „Das Wohnen ist […] immer schon in Aufenthalt bei den Dingen.“393 Das heißt, es gibt zumeist eine Dingwelt bzw. auch Interaktionspartner, die erst eine Korrespondenz im Sinne eines identitätsstiftenden Austauschs und eine Aneignung von Teilen der Umgebung für das Individuum qua Affizierung ermöglichen. Ohne diese Bezugsgrößen, also auch ohne einen hergestellten Bezug zu Personen und Gegenständen an einem bestimmten Ort, können wir diesen folglich nicht bewohnen. Kurzum: Ohne handlungsermächtigende Affizierung ist auch kein Bewohnen der Welt möglich. Genau dies ist der entscheidende Punkt im Zusammenhang mit aktuellen Stadtschrumpfungs- und Raumbindungsverlustprozessen. Diese führen uns fehl- oder ungenutzte Raumschaffungsanregungen vor Augen respektive legen die Aufgabe offen, die verfügbaren Potenziale miteinander so zu kombinieren, dass sie ein lebensräumliches Setting artikulieren, in dem sich das Wohnen in seiner triadischen Qualität von Selbstwahrnehmung, Beziehungsstiftung und Weltgestaltung lustvoll vollziehen lässt. Raumbindungsverluste lassen damit vor allem auf nicht vollzogene oder aber fehlgeschlagene Bezüge eines Menschen zu Menschen und Dingen an bestimmten Orten schließen. Sie sind ein Zeichen für nicht vollzogenes oder unterbroche-

392 Heidegger 1951: 155. 393 Heidegger 2001 (1927): 145.

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nes Sich Einschreiben in eine Umgebung und dafür, dass mögliche Anschlussfähigkeiten nicht als solche wahrgenommen und genutzt werden. Das bedeutet, Raumbindungsverluste zeigen an, dass einer Umgebung ein relationales, vom Menschen und den Dingen ausgehendes, kultiviertes Affizierungs- und damit Bezugsgefüge im Sinne eines Ermächtigungsspielraumes fehlt oder aber abhanden gekommen ist. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Auswirkungen des modernen Städtebaus auf den Menschen wird diese anzustrebende Qualität eines solchen relationsreichen Bezugsgefüges unter dem Begriff der ‚Urbanität‘ gefasst. Feldtkeller konstatiert in diesem Zusammenhang eine direkte Korrelation zwischen der baulichen Gestalt einer Stadt und ihren gesellschaftlichen, sozialen Impulsen,394 was inhaltlich an die etwa zeitgleich formulierte Sennett‫ތ‬sche „Fleisch und Stein“-Metapher395 erinnert. Beide betonen eine problematische Stadtentwicklung in der fortgeschrittenen Moderne, die Sennett als „sinnliche Verarmung“396 geprägt durch zunehmende „Dumpfheit, Monotonie und taktile Sterilität“397 beschreibt und Feldtkeller beispielsweise unter einer „Tendenz zum Gleichmacherischen“398 subsumiert. Der Wohnraum wird ins Innere verkleinert, öffentliche Plätze sind vielmehr Stätten des Konsums als solche der leiblichen, heimatlichen oder kommunikativen Entfaltung. Ihre antreibende, affizierende Kraft lässt sie im direkten Wortsinne anspruchslos für den Menschen erscheinen. Mit einem einfachen Beispiel illustriert Feldtkeller seine These: „Befremdet stellen immer mehr Menschen fest, dass nach Geschäftsschluß in den Stadtquartieren die Straßen aussterben, niemand mehr unterwegs ist, Unsicherheit und Angst sich breitmachen – mit dem Effekt, daß es zur guten Norm gehört, die privaten Rückzugsbereiche, also Wohnungen und Betriebe, aber auch die eigenen Autos als gut gesicherte und teilweise sogar bewachte Festungen innerhalb einer un-

394 Vgl.: Feldtkeller, Andreas (1995): Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. 2. Aufl., Frankfurt am Main, New York. 395 Vgl.: Sennett, Richard (1995): Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Berlin. 396 Ebenda: 21. 397 Ebenda. 398 Feldtkeller (1995): 17.

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sicheren, brutalen und chaotischen Außenwelt zu betrachten. Die Unwirtlichkeit breitet sich immer weiter aus; das Städtische degeneriert zur bloßen Simulation.“399

Den öffentlichen Raum aufzugeben, kann in diesem Sinne als Aufgeben der städtischen Lebensqualität gedeutet werden. Die Vorschläge und Ausführungen, die Feldtkeller daraufhin in seinem Buch zur Kompensation dieses Zustands macht, orientieren sich vor allem an der Stadtgestalt und fokussieren somit auf „das räumlich-bauliche Gefüge und dessen Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen in der Stadt.“400 Damit macht er Urbanität zu einem architektonisch erzielbaren bzw. förderbaren Ziel, welches für die hiesigen Ausführungen – allerdings im Zusammenhang mit der sozialen Komponente – synonym zur Qualität des Wohnens gesehen werden kann. Für Feldtkeller ist und bleibt Urbanität Utopie, weil sie immer das zu Erreichende ist und eine Zielorientierung definiert, die sich an der Optimierung bestehender Verhältnisse, gleich ihrer bereits vorhandenen Qualität, messen lasse.401 Damit nimmt er explizit Bezug auf Lefèbvre und seine Vorstellung von dem, was eine verstädterte Gesellschaft antreiben solle.402 Das Besondere nun ist, dass das Urbane – und damit auch das Wohnen im öffentlichen Raum – keine durchgängig vorhandene und fest zu installierende Aktionalität darstellen können. Vielmehr ist es immer das Ergebnis einer Schaffung von Konstellationen, von bestimmten Settings, und damit artikulierte Wirklichkeit.403 Getreu eines Rezeptes gibt es Zutaten, die jene Artikulation begünstigen und andere, die sie hemmen bzw. sicher verhindern werden. Während Feldtkellers Weg zur Beschreibung dieser urbanitätsartikulierenden Ingredienzen vornehmlich auf Aspekte der Stadtgestalt fokussiert, sollen auf den nachfolgenden Seiten eher akteurs- und damit hand-

399 Ebenda: 18. 400 Ebenda: 21. 401 Vgl.: ebenda: 35. 402 Vgl.: Lefèbvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte. München, S. 23 403 Der Begriff der Artikulation hat in der Akteur-Netzwerk-Theorie eine umfassende Bedeutung erlangt, die hier zur semantischen Grundlage genommen werden soll. So spricht beispielsweise Bruno Latour davon, dass sich Realitäten durch das Zusammenbringen bestimmter Größen bzw. Aktanten z.B. in Experimenten sichtbar machen lassen. Dies versteht er als Artikulationsprozess (vgl.: Latour 2000: 172ff.).

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lungsbezogene Strategien in den Fokus rücken. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen vollzieht sich das Wohnen als Ergebnis eines dreifachen Raumherstellungsprozesses niemals losgelöst vom Menschen. Damit ist es gelebte Praxis und nur als solche existent. Zum anderen sind auch in diesem akteursbezogenen Betrachtungswinkel auf das ganzheitliche Wohnen die Aspekte der Stadtgestalt und dinglichen Materialität integriert, wenn man bedenkt, dass gegenständliche Elemente und deren Wirkungen erst wirksam im Kollektiv mit dem Menschen als raumschaffendem und wohnendem Wesen werden.

4. Wie sich Raumbindungen stärken lassen Narrative Figuren und ihre Raumerschließungspraktiken als Wegweiser zur Herstellung und Förderung urbaner Raumbindungen

Mittels der im vorangegangenen Kapitel entwickelten, handlungsbasierten Raumtypologie konnte gezeigt werden, dass der menschliche Umgang mit seinen eigenen Bedingtheiten drei Raumformen erzeugt, welche in ihrer Synthese das Hervorbringen, was man als Qualitätsanspruch des Wohnens – genauer des Bewohnens eines öffentlichen Stadtraums, einem Raum, in dem es um den Umgang mit Leiblichkeit, Verletzbarkeit und Pluralität geht – bezeichnen kann. Damit konnte nicht nur die Komplexität, welche hinter dem Begriff der Urbanität aktional verborgen liegt, herausgearbeitet werden. Es konnte ebenso der zentrale Stellenwert einer personenbezogen gedachten Raumerschließung betont und damit eine Bestätigung sowie Stärkung relationaler Raumvorstellungen in ihrer Wirksamkeit für Stadtplanungsprozesse erzielt werden. Raumschaffung als geistigen Vorgang, gleichzeitig aber auch konstellationen- bzw. aktantenbezogen zu denken, schließt damit an die soziologische Raumtheorie Löws an, möchte aber gleichsam Raumschaffungsvorgänge mit Lippuner und de Certeau als fortlaufend vollzogene Alltagspraktiken verstehen, die sich wiederum an die kultur- und medienwissenschaftliche Topologieforschung anbinden lassen. Letztere vereint nutzbare Grundannahmen, um Räume hinsichtlich ihrer konstitutiven Momente zu beschreiben, welche wiederum für die „Be-

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schreibung kultureller, sozialer und mediengebundener Räumlichkeit“1 verwendet werden. Raumstrukturen werden hier analog zu Netzwerkstrukturen hinsichtlich ihrer Wirkungsweisen und konfigurativen Gemachtheiten betrachtet. Immanente Verhältnismäßigkeiten können so erspürt und in ihrer Wirkmächtigkeit sichtbar gemacht werden. Für die hier verfolgte Fragestellung nach den Möglichkeiten einer gelungenen Stadträumlichkeit, sprich der Frage danach, wie urbane Raumbindungen nachhaltig gestärkt werden können, rücken somit zunächst die Personen und dinglichen Elemente in ihrer Affizierungsfähigkeit im Sinne einer aktionalen Raumschaffungspotenz und Relation zueinander in den Vordergrund. Damit sind es schließlich über die Akteure die akteursgebundenen Praktiken, welche von übergeordnetem Interesse für relationale, handlungsgebundene Räumlichkeit sein müssen. De Certeaus Fürsprache an die Signifikanz urbaner Praktiken aufgreifend,2 soll hier die These vertreten werden, dass sich Tätigkeiten, die Wohn-Räume und damit nachhaltige Raumbindungen erzeugen, nur schwer über eine kartographische respektive konzeptionelle Theoretisierung generieren lassen, da diese sich wie ein Raster auf in sich nicht zu vereinheitlichende, rhizomatische Stadtraumrelationen legen würde und sich dabei der Mikroebenenpluralität des Alltagslebens verschließt. Topologische Raummuster verwahren sich dem kartografischen Blick. Gerade das, was urbane Lebensraumqualität ausmacht, ist als Ergebnis einer motionalen (bewegungsbezogenen) relationalen „losen Kopplung von Elementen“3 nur von innen heraus, also in ihrer artikulativen Unmittelbarkeit lesbar. Natürlich greift die von Bourdieu in seiner Theorie der sozialen Gesellschaft konstatierte klassen- und schichtenbezogene Sozialraumstruktur stellenweise in diese Variabilität ein.4 Bourdieu geht davon aus, dass die zur Raumherstellung herangezogenen subjektbezogenen Aktivitäten durch ihre habituelle Verhaftung zu Räumen mit spezifischem Ortscharakter, d.h. eigenen gesell-

1

Günzel 2007b: 13.

2

Vgl.: De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Berlin, S. 179-187.

3

Ebenda: 218.

4

Vgl.: Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und ‚Klassen‘. In: ders.: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main, S. 7-46.

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schaftlichen Logiken,5 führen und Öffentlichkeit damit sozial klassifizierbar sei.6 Bezugnehmend auf die von Girmes herausgearbeiteten Dimensionen räumlicher Settings7 könnte man sagen, dass jene von Bourdieu beschriebene Ortscharakteristik stets gespeist ist aus den sozialgesellschaftlichen Systemlogiken, welche als Formate in einem Setting die habituelle Norm bestimmen und entsprechende Handlungsdifferenzen erst sichtbar werden lassen. Damit verbundene Konventionen schreiben sich in die Gehalte von Settings ein und beeinflussen zudem, welche Aspekte ins Spiel gebracht und welche von den Akteuren außen vor gelassen werden. Jene Aktionalität zirkuliert fortan in jenen Räumen analog zu einer Systemprogrammatik, welche die Autopoiesis und damit Stabilität des Konstellationengefüges über eine Drinnen-Draußen-Dichotomie markiert. Man sollte diese Statik und Möglichkeit der territorialen Abgrenzung, welche die Vielfältigkeit der Raumerzeugung durch Bewegungen zugunsten einer sozialgesellschaftlichen Begrenztheit bestehender Örtlichkeiten relativiert, zwar nicht negieren, doch auch nicht zur dominanten Größe erheben, sind es doch gerade subversive, nicht eindeutig zuordbare Bewegungsmomente, welche die Markanz und den Charakter urbaner Räume getreu der von Bae-

5

Vgl.: Wacquant, Loïc D.J. (1996): Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus. In: Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Loïc D.J. (Hrsg.): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main, S. 37.

6

Vgl.: Lippuner, Roland (2007): Sozialer Raum und Praktiken. Elemente sozialwissenschaftlicher Topologie bei Pierre Bourdieu und Michel de Certeau. In: Günzel, Stephan (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kulturund Medienwissenschaften. Bielefeld, S. 269.

7

Konkrete Räume bzw. Settings als Ergebnisse kultürlich hergestellter Welt stellen ein zentrales Handlungsfeld im Odyssees End®-Modell von Renate Girmes dar – ein Modell zur topologischen Vermessung menschlicher Artikulationsweisen. Zu den fünf Settingdimensionen nach Girmes gehören der Gehalt, die Gestalt, die Impulse und Formate sowie die Inszenierung einer konkreten Räumlichkeit [vgl.: Girmes, Renate (2008): Fluss in der Stadt – ein Entwicklungspotenzial? In: Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 (Hrsg.): Leben an und mit der Elbe. Kongress Netzwerk Elbe. Magdeburg 2009, S. 157-164.].

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cker postulierten Erzeugung dritter Werte8 in kulturellen Handlungsgefügen sichtbar werden lassen. Erwartbare Handlungen mischen sich im Urbanen stets mit dem Unerwarteten, in dem sich Potenzialität im von Massumi beschriebenen Sinne einer Affizierung9 und eines Zurückgeworfenseins auf zu entfaltende situativ energetische Konstellationen mittransportiert.10 Öffentliche Räume sind damit immer Ergebnisse unterschiedlichster (Aus-) Handlungsvorgänge und somit fluiden Aktionsmomenten entspringende Folgen – im qualitativ besten Fall wirksam als Möglichkeitsräume, die die in ihnen lebenden Menschen freiheitlich zu ermächtigen in der Lage sind. Überhaupt sorgt die Stadt als Ort der Pluralität in ihrer Heterogenität für eine erhöhte Möglichkeit zur Affizierung, besonders dann, wenn man von Schrumpfenden Städten und Zwischenstädten ausgeht, in denen das durch Wegzug oder Häuserleerstand respektive Brachenvermehrung und Renaturierung veränderte Spacing Brüche und folglich Irritationen in der Raumwahrnehmung erzeugt.11 Ihren Impulscharakter, das heißt, das energetische Potenzial dieser Irritationen zu erspüren, sich davon affizieren zu lassen, kann Spielräume erzeugen, die ein sinnliches Erprobungsfeld für den Menschen und damit die Möglichkeit, sich in den Ort raumschaffend einzuschreiben, darstellen. Das ist aber nur in Bewegung, also über aktives Spacing, möglich. Mit de Certeau gesprochen, bestimmen „die Umgangsweisen mit dem Raum [aber auch seine Herstellungsformen; Anm. SMG] […] die determinierenden Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens“.12

8

Vgl.: Baecker 2000: 106.

9

Vgl.: Massumi 2010: 27f.

10

Dies lässt sich zusammendenken mit Hermann Schmitz‫ ތ‬Konzept der entfalteten und primitiven Gegenwart, da auch letztere sich in ihren zusammengefalteten Dimensionen von Hier, Jetzt, Dieses, Dort und Dasein über plötzliche Affiziertheit begründet sieht.

11

Lucius Burkhardt spricht in diesem Zusammenhang von Brachen als postmoderne Landschaften, die als „Zone der nicht-logischen Anordnung von Einzelheiten in der neuen stadtländlichen Ausbreitungszone“ die narrative Ordnung des räumlichen Gefüges irritieren und damit die Lesbarkeit stören [Burkhardt, Lucius (2006): Warum ist die Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. (herausgegeben von Markus Ritter und Martin Schmitz) Hannover, S. 105.].

12

De Certeau 1988: 187.

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Raum ist damit entgegen des volumenbezogenen Platzschaffens13 vor allem im Prozess zu denken als Bezugssystem, welches sich aus personenbezogenen Handlungen im Sinne eines umfassenden Bewegungsbegriffs14 und damit verbundenen Sinnzuschreibungen ergibt. „Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten.“15 Mit dieser de Certeau‫ތ‬schen These rücken die Permanenz und auch die Zerbrechlichkeit raumschaffender Vorgänge in den Fokus. Der leibliche, also gedankliche und körperliche Bewegungsaspekt wird zum zentralen Moment der relationalen Raumerzeugung, was sich im deutschen Sprachgebrauch noch im Tätigkeitswort des ‚Spazierens‘ wiederfinden lässt.16 Doch wie gelangt man in diese Ebene der Praktiken? Und wie wird es möglich, das dort spezifisch Vorgefundene als Grundlage für dann doch wieder generalisierbare Raumwirkungen aufschließbar zu machen? Eine Hilfestellung bietet die Möglichkeit, Alltagsräume analog zu Alltagsgegenständen als kulturelle Produkte zu begreifen, die polyvalente Lebensäußerungen transportieren.17 Im Unterschied zu den Alltagsdingen, denen aufgrund ihrer körperlich außersubjektiven Lage eine Objekt- und damit Partnerrolle zum Akteur zugeschrieben werden kann,18 verschmelzen Alltagsräume mit dem Menschen, weil sie Teil des erlebenden Subjektes

13 14

Vgl.: Günzel 2007: 25. Bewegungen sollen hier im weiten Sinne verstanden werden als ortsveränderliche Vorgänge, wobei dieser Begriff semantisch durchaus wortwörtlich zu nehmen sein kann, da mit ihm die doppelte Charakteristik des Bewegens zum Ausdruck kommt – einmal die Gebundenheit an das Gehen als ortsverbindende Handlung und zum anderen die räumliche Entwicklungskraft, die solche Aktionen im Resultat hervorbringen können.

15 16

De Certeau 1988: 188. Aus diesem Grund spricht Günzel davon, dass für de Certeau Orte ein Resultat spatiierender Praktiken seien (vgl.: ebenda.).

17

Alltagsräume mit Alltagsdingen zu vergleichen, bedeutet, analog zur ‚Material Culture‘ mit einer Art ‚Spacial Culture‘ einen weiteren inhaltlichen Strang anwendungsorientierter kulturwissenschaftlicher Betrachtungen zu konstatieren.

18

Vgl.: Ruppert, Wolfgang (1993): Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. In: ders. (Hrsg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Frankfurt am Main, S. 17.

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aufgrund seiner Leiblichkeit sind. Beschreibt Utz Jeggle Alltagsdinge als „materialisierte Ergebnisse menschlichen Schaffens“,19 so lassen sich Alltagsräume als atmosphärische, gehalt- und gestaltvolle Ergebnisse menschlichen Tätigseins umschreiben. Beiden Bestimmungen ist der Fokus auf das menschliche Handlungsmoment gemein. Sie betonen, dass Dinge und Räume des täglichen Lebens sich nicht nur stofflich bzw. gestaltbezogenörtlich materialisieren, sondern sich vor allem über die ihnen zugrunde liegenden Praktiken, gemäß der Redewendung vom Weg als dem eigentlichen Ziel, realisieren.20 Damit haben Alltagsräume den Stellenwert topologischer Aktionsfelder inne, die in Anlehnung an Elias21 auf kulturell geltende Muster der rituellen Distanzierung und Annäherung,22 sprich dem Umgang mit der sozialen Umwelt, verweisen. So könnte man sagen: Anhand der Potenzialität der Handlungsräume, durch die man sich täglich bewegt, respektive die man in seiner Lebenspraxis mitkonstruiert, ergibt sich die empfundene Vorstellung des städtischen Lebenswerts. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch und gerade Medienprodukte, die narrativ eine räumliche Struktur artikulieren, als Repräsentanten vorherrschender gesellschaftlicher Strukturen, unterstellt man der Narration die Erzeugung einer relationalen Handlungstextur. Der New Historicism23 macht diese mediale Verdichtungskraft stark, wenn er als wissenschaftliche Strömung die kulturellen Energien fokussiert, die narrativen Medienpro-

19

Jeggle, Utz (1983): Umgang mit Sachen. In: Köstlin, Konrad/Bausinger, Hermann (Hrsg.): Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauchs. 23. Deutscher Volkskunde-Kongress in Regensburg vom 6. bis 11. Oktober 1981 (Regensburger Schriften zur Volkskunde 1). Regensburg, S. 11.

20

Roger Cartier betont dies in historischer Blickrichtung bei der Rekonstruktion von gelebter Wirklichkeit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten, wenn er davon spricht, dass „die historischen Objektivationen in all ihrer Wandelbarkeit als Korrelate von Praktiken zu erkennen“ seien. (Roger Cartier zit. in: Ruppert 1993: 18)

21

Vgl.: Elias, Norbert (2003): Engagement und Distanzierung. Frankfurt am

22

Vgl.: Ruppert 1993: 19f.

23

Der New Historicism entwickelte sich in den 1980er Jahren an der University

Main.

of Berkeley als Gegenbewegung zum New Criticism der 1930er Jahre, der später in den Poststrukturalismus mündete.

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dukten innewohnen. Dabei besteht die Grundannahme jener Disziplin in der kulturellen Eingebundenheit von Medientexten, deren (bild)sprachliche und inhaltliche Elemente die diskursiven Gehalte des kulturellen Raums spiegeln und somit Teile des kulturellen Textes respektive des gesellschaftlichen Handlungsgewebes repräsentieren. Mediale Produkte sind somit energetisch entsprechend den Gestimmt- und Beschaffenheiten des kulturellen Raums, in dem sie entstehen, aufgeladen.24 Und das unabhängig davon, wie subjektiv das Geschriebene auch sein mag. Will man einen kulturellen Raum entschlüsseln, dann böte sich demzufolge vor allem eine Entschlüsselung seiner medialen Produkte als Verdichtungen der ihnen zugrundeliegenden Handlungsweisen an. Diese Idee des kulturellen Materialismus25 versteht damit vor allem narrative Medienprodukte als kulturräumliche Wissensspeicher, sodass davon auszugehen ist, dass über sie auch eine Antwort auf unsere Frage nach den Tätigkeiten eines gelungenen Wohnens im öffentlichen Stadtraum und damit auch eine Antwort darauf, was leibliche, dingliche und soziale Entfaltung im Stadtraum bedeutet, zu finden sei. Es bleibt festzuhalten: Alltagsräume sind das Ergebnis von habituell determinierten und situativ evozierten Praktiken vor Ort. Sie lassen sich weder theoretisch rekonstruieren, noch sollten sie in ihrer Rolle für eine gelungene Urbanität vernachlässigt werden. Vielmehr gilt es, will man das Bewohnen städtischer Räume stärken respektive gar erst ermöglichen, die diesbezüglich relevanten Praktiken zu rekonstruieren, sie zu typologisieren und so mögliche Formen ihrer Aktivierung bzw. Herausforderung zu finden. Der Weg zur Charakteristik gelungener, hochpotenter öffentlicher Räume führt folglich über das Wesen der Alltagspraktiken, aus denen sie entspringen. De Certeaus Behauptung, dass Praktiken nicht kartographierbar seien und man ihnen einzig auf ‚unterer Ebene‘, also mitten im Mikrokosmos der gelebten Praxis, auf die Spur kommen könne, erzeugt in gewisser Weise das Problem der Kleinteiligkeit. Setzt man punktuell in der Realität an, läuft man Gefahr, andere wichtige Aspekte ihrer Ausprägung zu vernachlässigen. Will man dennoch der These Rechnung tragen, dass Rekonstruk-

24

Stephen Greenblatt spricht hier von ‚social energy‘ [vgl.: Greenblatt, Stephen (1990): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin, S. 23.].

25

Vgl.: Williams, Ramond (1991): The Sociology of Culture. Chicago.

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tionen der Raumschaffung nur personenbezogen sinnvoll sind, heißt es nach Formaten zu suchen, die jene Praktiken und die durch sie eröffneten Räume artikulierbar machen. Das Format der Narration bietet sich hier aus den zwei beschriebenen Gründen an: Zum einen deshalb, weil Raumschaffung, Raumaneignung und damit auch das Wohnen im öffentlichen Raum Vorgänge sind, die aus der über geistige und körperliche Bewegungsweisen vollzogenen Verknüpfung von Selbst und Welt heraus ausgelöst und in Form einer narrativen mentalen Repräsentation mit Sinn erfüllt und für die persönliche Identitätsarbeit aufgeschlossen werden. Narrationen sind damit ein grundsätzliches Mittel der innersubjektiven Selbstverortung. Zum anderen aber auch aus dem intersubjektiven Grunde, dass gerade über das Format der Narration Repräsentationen kulturell-gesellschaftlicher Identitätsund Bedeutungsentwürfe überindividuell transportiert und reflektierbar gemacht werden können. Die Narration ist damit eine Artikulationsform kulturräumlicher Bedeutungsgewebe in ihrer pointierten, fokussierten, nicht generalisierten, aber als Episode repräsentationsfähigen Verdichtung. Auch Ruppert argumentiert in gleicher Weise, wenn er konstatiert, dass „kulturelle Deutungs-, Geschmacks- und Wahrnehmungsmuster […] im Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation und in den alltäglichen Praktiken [über Dinge und folglich auch Medienprodukte; Anm. SMG] wirksam werden“26, während Müller-Funk das Erzählen direkt zur kulturübergreifenden Initialpraktik für die Konstitution und Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Sinngefügen erhebt und damit seinen Stellenwert als relationale Vermessungstätigkeit für die Bewegung durch die Welt deutlich macht. Damit erscheint es folgerichtig, dass die Flüchtigkeit der bewegungsbezogenen Raumaufspannung durch ein narratives Relationengefüge eingefangen und sinnhaft artikulierbar gemacht werden kann. Das Erzählen wird vor diesem Hintergrund zu einem Sichtbarmachen der inhaltlichen Seite des Gehens, dessen Struktur sich phänomenologisch rekonstruieren lässt. Richtet man also den Betrachtungsfokus auf narrative Formate personell gebundener Raumerschließungsvorgänge, dann bleibt man im gleichen Modus, in dem sich das Wohnen selbst vollzieht – im Modus der Bewegung von Körper und Geist. Hiermit rücken alle narrativen Medienformate in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Speziell mit ihnen scheint es möglich, auf der Mikroebene der Praktiken zu bleiben, aber gleichzeitig durch

26

Ruppert 1993: 22.

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die mediale Verdichtung generalisierbare Aussagen und Rückschlüsse auf Möglichkeiten der gezielten Initiierung und Steuerung von kulturellen Praktiken der Raumbindungsförderung und -erhaltung zu treffen, weil in ihnen relevante Aspekte der gelebten Wirklichkeit und deren Sinnkondensate als verallgemeinerbare Größen erwartbar enthalten sind. Als ästhetische Objektivationen von Ideen und Gehalten, die einen bestimmten Zeitbezug widerspiegeln, lassen sich narrative Medienbeispiele somit wunderbar raumbezogen nutzbar machen. Literarische und bildbasierte Medienprodukte als Quellen für die Rekonstruktion von Raumerschließungsweisen zu verwenden, die einem gelungenen Wohnen in städtischen Räumen analog zu den hiesigen Ausführungen in Abschnitt 3 der Arbeit entsprechen, entspringt somit dem Wesen narrativer Medien, wie sie Christian Jäger und Erhard Schütz am Beispiel der Literatur – und man könnte hier immer auch visuelle und audio-visuelle Medien ergänzen – treffend formulieren: „Literatur ist nicht primär charakterisiert durch die Stellung eines Problems, wie dies für theoretische Diskurse zutrifft, sondern behandelt die formale Gestaltung einer Wirklichkeitswahrnehmung, sei dies eine innere oder eine äußere. Insofern ist das Symptom, das Literatur indiziert, nicht als zeitliche Verschiebung einer Problemstellung aufzufassen, vielmehr stiftet oder erfordert sie Anschlüsse an theoretische Diskurse, die die Problematiken artikulieren, welche dem Text vorhergehen oder von diesem aufgerufen werden. Letzteres verweist auf die Produktivität der Verschränkung von theoretischen Diskursen mit literarischen: Aus und in dieser Begegnung ergibt sich für die Theorie eine der Möglichkeiten ihrer Innovation, da sie im literarischen Text das zu finden vermag, was sich dem begrifflichen Instrumentarium bisher entzogen hat und was der Reflexion neue Konzepte abnötigt.“27

Narrative Medienprodukte können somit über ihren ästhetischen Gehalt eine Artikulation für konzeptuelle ‚blinde Flecken‘ in der raumwissenschaftlichen Forschung bereitstellen und folglich in Dienst genommen werden für eine auf Unmittelbarkeit und räumliche Nähe ausgerichtete konstruktive Rekonstruktion raumschaffender und urbanitätsstiftender Praktiken. Urbanität als räumliches Ergebnis eines Wechselspiels von Bewegungsweisen, von Nähe und Distanz, findet sich demnach eingeschrieben in medial ver-

27

Jäger, Christian/Schütz, Erhard (1999): Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wiesbaden, S. 17.

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dichtete Alltagspraktiken narrativer Figuren. Diese sollen deshalb nachfolgend als Ankerpunkte zur relationalen Raumerschließung dienen, weil sie erzählend ihre Verbindungen zu anderen personellen, gegenständlichen und abstrakten Elementen der Welt und damit die raumstrukturierenden Elemente in ihren Beziehungen zueinander offenlegen. Damit werden sie zu zentralen epistemologischen Figuren für die Rekonstruktion und konzeptuelle (Neu-)Justierung urbaner Raumgestaltung (und ihrer wissenschaftlichen Konzeptionierung) im Sinne und Dienste „eines neuen (partizipativen) Urbanismus, einer Stadtplanung ‚von unten‘, einer beiläufigen Stadtplanung sozusagen.“28 Nun mag sich noch die Frage nach der Validität solch individueller Artikulationsprodukte stellen. Dazu lässt sich folgendes sagen: Gerade ihre Subjektivität verleiht ihnen den Anspruch von Erfahrungsfülle. Ihre Sinnlichkeit, die sich ihre eigene Formsprache sucht und das Unmittelbare im Angesicht der Welt abseits bestehender Konventionen mit einer kritischen, nicht trotz sondern weil unvoreingenommenen Haltung zu erfassen vermag, machen sie zu glaubhaften Sinnstiftern. Auch Schlögel plädiert für eine Hinwendung zum subjektiv Erlebten und begrifflich nicht überformten Wahrgenommenen als Ausgangspunkt für räumliche Erkenntnisgewinne mit theoretischem Geltungsanspruch. Den solch einer Positionierung anhaftenden Willkürcharakter entlarvt er als vom Mainstream respektive fachspezifischen Vertretern gestreuten Vorwurf, den Dingen und dem Situativen in der Welt per se zu misstrauen und dem Begriff, sprich dem geistigen Produkt, eine Vormachtstellung einzuräumen. Vor diesem Hintergrund, vor dem „die Erkenntnis der Feind der Anschauung“29 ist, bleibe in der Dichotomie die notwendige Verbindung von Begriff und Anschauung verpönt, wenngleich das eine nicht ohne das andere glaubhaft existieren könne.30 Eine Hinwendung zum Situativen, zum Episodischen, zum narrativen objet trouvé kann mit diesem Dualismus produktiv brechen. Das Episodische,

28

Voggenreiter, Sabine (2010): Die Renaissance der „flânerie“. In: von Keitz, Kay/Voggenreiter, Sabine (Hrsg.): En passant. Reisen durch urbane Räume: Perspektiven einer anderen Art der Stadtwahrnehmung. Berlin, S. 12.

29

Schlögel, Karl (2007): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. 2. Aufl., Frankfurt am Main, S. 269.

30

Vgl.: ebenda: 269ff.

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dessen literarischer Ursprung in der Anekdote31 liegt, trägt keinen Ausschließlichkeitscharakter und ist gerade deshalb repräsentativ für die Lebenswirklichkeit, auf die es referiert. Es ist ferner subjektiv, weil es seine Stärke aus der atmosphärischen Gestimmtheit der Situation, aus einer perspektivischen Verdichtung lebensräumlicher Komplexität gewinnt. Und es ist bildsprachlich. Dieser letzte Aspekt ist alles andere als marginal für den hier verfolgten Anspruch, Raumerschließungsprozesse medial zu rekonstruieren. Bereits de Certeau konstatiert einen engen Zusammenhang von Bewegen und Sprechen. Beides sind für ihn Artikulationsvorgänge. Bewegung artikuliert Raum, während Sprechakte Gedanken, Meinungen und damit geistige Gehalte äußern. „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist.“32 De Certeau hat die dreifache Funktion, welche die „immateriellen Äußerungen von Fußgängern“33 haben, in Analogie zum klassischen Sprechakt wie folgt zusammengefasst: Diese bestünden erstens in der „Aneignung des topografischen Systems“, vollzögen zweitens „eine räumliche Realisierung des Ortes“ und drittens „die Beziehung zwischen unterschiedlichen Positionen.“34 Damit ließe sich, so resümiert Herold, der „Prozess des zu-Fuß-Gehens“ bei de Certeau als ein „bewusst-unbewusster Akt der Raumaneignung (als Lebensraum) ‚von unten‘ bezeichnen“,35 den Symboliken und kulturelle Gepflogenheiten ebenso beeinflussen wie individuell-persönliche Aspekte der Raumaneignung und -wahrnehmung. Dieser Vorgang verläuft selektiv, das heißt, durch die verwendete Gangart und auch durch die auf dem Weg benutzten und angesteuerten, aber ebenso unberücksichtigten Dinge und Menschen sowie seine seelische Gestimmtheit und seine Gedankenwelt erzeugt der Gehende spezifische Bewegungsfor-

31

Greenblatt verstand die Anekdote als Ursprung einer „Poetik der Kultur“, die Synonym zum New-Historicism-Begriff auf den reziproken Charakter von Medientexten und Kultur aufmerksam machen sollte [vgl.: Baßler, Moritz (2003): New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Nünning, Ansgar und Vera (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar, S. 144f.].

32

De Certeau 1988: 189.

33

Herold 2007: 28.

34

De Certeau 1988: 189.

35

Herold 2007: 29.

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men durch den Raum und damit unterschiedliche Aneignungsweisen desselben.36 Er schafft auf diese Weise durch seine konkreten Raumäußerungen Gegenwärtigkeiten, erzeugt dabei Diskontinuitäten, indem er beispielsweise bestimmte Plätze meidet und andere zweckentfremdet und „macht aus der Umgebung“ durch die einzelnen hörbaren Schritte gleichzeitig „etwas Organisch-Bewegliches, eine Abfolge von phatischen topoi.“37 Diese von de Certeau als Merkmale der Fußgängeräußerungen aufgeführten Aspekte sind Ergebnisse des sich bewegenden Menschen und existieren nicht per se. Ihr Dasein wird im Akt des Gehens stets neu – wenn auch in Bezug auf Vorangegangenes und erwartbar Nachfolgendes – aktualisiert. In ihrem Variantenreichtum und ihrer Ausprägungsweise vergleicht er sie mit literarischen Stilfiguren, die eine „Rhetorik des Gehens“38 erzeugen. Interessant an dieser Rhetorik bei de Certeau ist vor allem, dass er sich auf zwei von Augoyard als raumwirksam identifizierte räumliche Stilfiguren bezieht: die Synekdoche und das Asyndeton.39 Diese beiden Stilmittel konstatiert er in Beerbung der Augoyardschen Ausführungen als zentrale und einander komplementär entgegengesetzte Geh-Figuren. Artikuliert man über die Synekdoche eine größere Einheit mittels einer begrifflichen Reduktion auf einen Teil des ganzen Gemeinten, so besteht das Wesen des Asyndetons im elliptischen Weglassen von Verbindungen und Teilbeständen. Räumlich gesprochen, dehnt die Synekdoche „ein Raumelement aus, damit es die Rolle eines ‚Mehr‘ (eines Ganzen) spielen und sich an die Stelle des ganzen Raumes setzen kann“40 während das Asyndeton bewusst „Lücken im räumlichen Kontinuum“41 durch eine Weglassung schafft und

36

Die Erfahrbarkeit von Raum ist – das wurde in Abschnitt 3 deutlich gemacht – an leibliche Ergriffenheit, also sinnliche und körperliche Bezugnahmen, gebunden. Sie kann nicht rein wissenschaftlich rekonstruiert werden. Die Vermittlung von Raumeindrücken lässt sich folglich über sinnenhafte, spaziierende Bewegungsweisen und ihre Beschreibungen bestmöglich realisieren.

37

De Certeau 1988: 191. Vielleicht ist es gerade die zentrale Aufgabe der Stadtplaner, ebendiese Rhetorik zu reflektieren und Angebote für ihre Ausprägung zu schaffen.

38

Ebenda: 192.

39

Vgl.: ebenda: 194-197.

40

Ebenda: 195.

41

Ebenda.

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nur spezifisch ausgewählte Relikte beibehält. Man könnte sagen, dass hier eine produktive Zerstörung durch affizierungsbasierte In-Frage-Stellung alteingesessener Konstellationen evoziert wird, während beim Verdichten von Details ebendiese auf ihren räumlichen Wirkungs- und Symbolcharakter hin in den ebenfalls affizierungsbasierten Fokus geraten sollen. Man kann somit im Ergebnis – die Begriffe von de Certeau aufgreifend – von vergrößerten Singularitäten im Gegensatz zu voneinander getrennten Inseln als Affizierungsergebnisse sprechen.42 Jene aus diesen Schrumpfungs- und Ausdehnungsprozessen resultierenden Settings bilden mit ihrem Zeichenund Symbolgehalt den subjektiven Text eines städtischen Raumes im Sinne einer ‚mental map‘, einer kognitiven Kartierung, die eben nicht eine 1-zu-1Beziehung des örtlich verfügbaren darstellt. Während de Certeau behauptet, dieser akteursspezifische Raum könne nicht „in Bildern festgehalten noch […] in einem Text umschrieben werden“,43 haben wir über die Aussagen von Jäger und Schütz44 bereits eine gegensätzliche Sicht erläutert bekommen, derer sich anzuschließen für die hiesigen Ausführungen durchaus sinnhaft erscheint. Diese Position setzt jedoch voraus, dass das Spazieren bewusst vollzogen, also der Raum bedacht und aufmerksam er-gangen wird. Hierfür bietet sich vor allem die literarische Figur des Flaneurs an, dem durch seine physische und gedankliche Bewegungsweise, seinem detektivisch genauen Blick, das Vermögen, den öffentlichen Raum lesen zu können, zugesprochen wird. So schreibt Franz Hessel beispielsweise: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenstern, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.“ 45

Durch ein aufmerksames und bewusstes Sich-treiben-Lassen durch städtische Gegenden soll ihr Bedeutungsgewebe erschlossen und in seiner Verknüpftheit entwirrt werden. Dabei werden die Relationen zwischen den Dingen und Menschen sichtbar gemacht als Bestandteile des hergestellten

42

Vgl.: ebenda.

43

Ebenda.

44

Vgl.: Jäger/Schütz 1999: 17.

45

Hessel, Franz (2007): Ein Flaneur in Berlin. Berlin, S. 103.

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Raumes. Die Übersetzung dieses Textes einer Stadt in den literarischen Text des Flaneurs kann somit als Form urbaner Raumerschließung betrachtet werden. Dabei ermöglicht die flanerische Bewegungsform eine besondere Erkenntnisform, die im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden soll. Durch die Transformation realräumlicher Gegebenheiten in narrative Strukturen wird es möglich, Rückschlüsse auf jene Raumschaffungspraktiken zu erlangen, welche ‚on the ground‘ und damit nach de Certeau eigentlich nicht fixierbar sind. Doch weshalb geht de Certeau von einer NichtFixierbarkeit dieser Motionen aus, während es doch naheliegt ebenjene medial zu artikulieren? Die Ursache liegt in der Umfasstheit, die räumliche Praktiken in der Betrachtung de Certeaus haben. Für ihn bestehen diese vorrangig aus der physischen Bewegung durch ein Gelände. Dies greift jedoch insgesamt zu kurz, denn räumliche Praktiken sind – wie sprachliche Zeichen auch – durch eine zunächst binäre Struktur gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass der bewegliche Körper durch seinen Gehrhythmus und Bewegungsverlauf einen hodologischen Raum konstituiert respektive bestehende Wegeräume über die Art und Weise seines Begehens kontinuierlich aktualisiert.46 Gleichzeitig geschieht diese Raumschaffung aber auch und vor allem psychisch, das heißt, die Bewegung ist gedanklich gesteuert, erzeugt aber wiederum bestimmte Gedanken aus der Bewegung und den sich durch sie darbietenden Raumelementen. Thomas Bernhard schreibt in einer seiner Erzählungen: „Wir (müssen) gehen, um denken zu können“47 Und weiter: „Wenn wir gehen, […] kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung. […] Wir gehen mit unseren Beinen, sagen wir, und denken mit unserem Kopf. Wir könnten aber auch sagen, wir gehen mit unserem Kopf.“48 In der reisenden Bewegung findet sich jene dichotome Verbindung par excellence wieder. Beispielsweise konstatiert Balász, dass der „Zustand des Reisens […] ein innerer Zustand“49 sei, der im veränderten Verhalten zur Außenwelt seine artikulative Ebene finde.50 Man könnte sagen, dass die Markanz der reisen-

46

Vgl.: Bollnow 2004 (1963): 195ff.

47

Bernhard, Thomas (1971): Gehen. Frankfurt am Main, S. 85.

48

Ebenda: 88.

49

Balász, Béla (2002): Reisen. In: ders.: Ein Baedecker der Seele und andere Feuilletons. Berlin, S. 94.

50

Vgl.: ebenda.

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den Bewegung in der Verbindung von Gehen und Denken liegt. Doch was ist eine explizit reisende Bewegung? Reisen im Sinne eines Umherwandelns und Durchstreifens von Welt kann per se als Raumschaffungsvorgang bezeichnet werden, weil es durch einen permanenten Abgleich der reisenden Person mit seiner Umwelt gekennzeichnet ist. Das Durchqueren unbekannter, aber auch bekannter Gegenden, das Eintauchen in diese Welten lässt ebendiese zu Erfahrungsräumen werden, an und in denen der Reisende sich erkundend abarbeiten kann. Dabei stellt er Relationen zwischen den wahrgenommenen Dingen und Menschen her, er rekonstruiert die Gemachtheit kultureller System- und Sinngefüge, indem er sich ein räumliches Bild von ihnen macht. Dieses Bild, sprich der hergestellte Raum, ist stets subjektiv von den Erfahrungen, Sichtweisen und Verfasstheiten des Reisenden beeinflusst und kann introspektive Impulse auslösen, das heißt, solch ein Abgleich zwischen Welt und Individuum führt identitätsbezogen zwangsläufig zu Prozessen der Auseinandersetzung des Reisenden mit sich selbst durch die wahrgenommene und erlebte Welt. Reisen ist somit ein identitätsstiftender Aushandlungsprozess von Erwartungen und Erlebnissen – letztlich ein Resultat von Erprobungen, wie es einem er-gehen kann. Dabei lässt sich ergänzen, dass die reisende Bewegung nicht nur eine Verbindung von Gehen und Denken ist, sondern ferner ergänzt wird durch das sinnliche Wahrnehmen, wobei neben dem Riechen, Hören, Fühlen und Schmecken, vor allem das Sehen von übergeordneter Relevanz zu sein scheint. „Man muss nur zu beobachten wissen, ansonsten bleibt die Welt stumm und bedeutungslos. Der Blick hingegen bringt sie zum Sprechen.“51 Jede Reise ist damit zugleich eine Wahrnehmungsschule. Sie ist gesteuert von der „Eingebung des Augenblicks“,52 bietet permanent die Möglichkeit, durch eine ent-rückte Sicht auf die Umgebung Vertrautes in scheinbar Unbekanntem oder Fremdes in alltäglichen Selbstverständlichkeiten zu erkennen. Der Schritt, der Blick und der Gedanke können somit als drei zentrale Elemente der menschlichen Raumschaffung bezeichnet werden. Und eine Fixierung von Raumschaffungspraktiken kann nur dann als eine solche an-

51

Stiegler, Bernd (2010): Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Rei-

52

Vgl.: Mangin, Arthur (1889): Voyage scientifique autour de ma chambre. Pa-

sen im und um das Zimmer herum. Frankfurt am Main, 65. ris, S. 28.

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gesehen werden, wenn sie eben jene drei Aspekte berücksichtigen und zu verbinden in der Lage ist. Wenn wir vor diesem Hintergrund zurückkommen zu de Certeau und seiner Behauptung, dass sich die Praktiken der Raumherstellung einer Fixierung versperren, dann wird klar, weshalb er seine Behauptung aufstellte. Denn wenn man, wie de Certeau dies getan hat, den Fokus vor allem auf den physischen Aspekt der Bewegung legt, dann lässt sich dieser tatsächlich nicht in der Weise medial festhalten, wie dies der Fall ist, wenn man das Zusammenspiel des physischen mit dem psychischen Bewegungsablauf und seiner sinnlichen Stimulanz artikulieren möchte. Somit kann festgehalten werden: Die drei beschriebenen Raumschaffungsweisen des Menschen besitzen allesamt eine senso-psycho-physische Tertiärstruktur. Wenn man so will, gibt es eine Körpersprache der Raumschaffung, welche durch die mentale Raumschaffungsebene gefüttert und ergänzt wird. Unsere Bewegungen durch einen Raum schaffen nicht allein unsere mentalen Landkarten. Auch unsere mentalen Landkarten beeinflussen im Sinne imaginärer Geographien53 die Art unserer raumaufspannenden Bewegungsweisen.54 Unsere Sinne, allen voran der Blick, sind dabei das Portal der Verbindung zwischen Gedanke und Bewegung. Sie setzen beides in Gang und vermitteln aktiv wie auch passiv in unerschütterlicher Permanenz zwischen ihnen. Folglich ist Raumschaffung – in Rückgriff und Bezugnahme auf die phänomenologische Sichtweise Schmitz‘ – immer an eine sensuelle Affiziertheit des Menschen gebunden. Mediale Produkte besitzen vor diesem Hintergrund dann einen topologischen Gehalt, wenn sie das Zusammenspiel der geistigen und physischen Bewegung sinnlich deutlich machen können. Raumschaffung ist Kulturschaffung. Und Kulturschaffung ist nicht nur ein grundlegend semiotischer, sondern kann maßgeblich auch als ein narrativer Vorgang bezeichnet werden.55 Hayden White bezeichnet Erzählen als „panglobal fact of culture“,56

53

Zum Begriff der ‚imaginären Geographien‘ siehe u.a.: Gregory, Derek (1994): Geographical imaginations. Cambridge u.a.. und: Urry, John (1995): Consuming places. London u.a..

54

Bei Bollnow findet sich diese Korrelation beispielsweise im Typus des gestimmten Raumes, bei Schmitz in begrifflicher Form des Gefühlsraumes wieder [vgl.: Bollnow 2004 (1963): 229-243. und: Schmitz 2005 (1969)].

55

Vgl.: Müller-Funk 2008.

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wobei dem Erzählen insoweit Raumschaffungsqualitäten zugesprochen werden können, als dass es ein Relation-zur-Welt-Einnehmen über die Vermittlung von Wahrnehmungs- und Deutungsabfolgen in ihrer sinnlichen Erscheinung bedeutet.57 Im Grunde tragen Raumschaffungsvorgänge per se einen narrativen Gehalt in sich, wenn man davon ausgeht, dass RaumSchaffung ein (bedeutungs-)konstitutiver Akt des Menschen und damit stets handlungsbasiert ist, denn auch Narrationen sind das Ergebnis der Relationierung von sinnstiftenden und -vermittelnden Handlungsstrukturen. Die Textur einer Kultur kann sich damit in zweierlei Weise artikulieren – einmal in Form der Erzählungen, die als bedeutungstragende Aktionseinheiten zu diskursiven und interdiskursiven Textkorpora einer Gemeinschaft gehören und zum anderen über die Handlungsräume58, welche, in Anlehnung an die von Bollnow kommunizierte Begrifflichkeit, die Weiten und Grenzen der Wirksamkeit menschlichen Tuns in einer Gesellschaft repräsentieren. Die raum-zeitliche und damit archivarische Kraft der ersteren kann zur Artikulation und komplexen Betrachtung der zweiten nutzbar gemacht werden, weil die Grundelemente beider miteinander kompatibel sind. Damit ist die reisende Bewegung wie auch das Erzählen eine raumschaffende Kulturtechnik und Geh-Figuren markieren wie mediale Narrative die Schnittstellen zwischen Idee und Materie, zwischen Inhalt und Struktur. Bereits Max Jammer sprach, Newtons bewegungsbezogene Thesen aufgreifend, davon, dass die Bewegung das zentrale Mittel sei, durch das „der

56

White, Hayden (1981): The Value of Narrativity in the Representation of Reality. In: Mitchell, William J. Thomas (Hrsg.): On Narrative. Chicago, S. 1.

57

Dass dem Narrativen eine besondere Artikulationskraft für die Generierung urbaner Räume zukommen muss, scheint auch eine logische Folge aus den Untersuchungen der Bedeutung des örtlich Lokalen von Richard Wohl und Anselm Strauss zu sein, die in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Anlehnung an die Grundsätze der Chicagoer Schule herausfanden, dass Stadtbilder und urbane Charakteristika ein Bewusstseinsprodukt sind, also im menschlichen Kopf entstehen [vgl.: Wohl, R. Richard/Strauss, Anselm L. (1958): Symbolic Representation in the Urban Milieu. In: American Journal of Sociologie 63, S. 523-532.].

58

Vgl.: Bollnow 2004 (1963): 202-213.

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Raum sich erforschen läßt.“59 Als Artikulationsweise kultureller Seins- und Lebensformen kann das Gehen wie auch das Erzählen als Form ästhetischer Praxis verstanden werden. Gleichzeitig ist das Gehen im Modus der reisenden Bewegung Schlüssel zu einer neuen „Form von Stadtforschung: […] Stadtforschung ‚von unten‘.“60 Es umfasst das Gewahr-Werden von atmosphärischen Gestimmtheiten in der Verbindung von Akteur und Umwelt, von Welt und Mensch. Beide Ebenen gehen in der Wahrnehmung des Reisenden eine Liaison ein, welche im Ergebnis aus den erhaltenen Aussichten Einsichten werden lässt und umgekehrt.61 Das Gehen in Form der reisenden Bewegung und seine ästhetische Verarbeitung in narrativen Medienformaten erzeugt und artikuliert relationale Räume mit topologischem Charakter. Der Raum und seine Beschaffenheiten werden hierbei selbst zum narrativen Inhalt des Medienprodukts, beeinflusst und in ihrer performativen Erscheinung erzeugt durch die Art und Weise des Mediums62 und der jeweiligen Geh-Figur.63 Somit kreieren die im Modus der Narration versprach- und verbildlichten Körper-, Geist- und

59

Jammer, Max [1980 (1954)]: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. 2. Aufl., Darmstadt, S. 112f.

60

Voggenreiter 2010: 12.

61

„‚Wahrnehmung‘ ist hier vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weitreichenden Sinn von ‚Gewahrwerden‘ zu verstehen. Dieser bezieht sich auf ein Erfassen von Sachverhalten, das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden ist.“ [Weisshaar, Bertram (2010): Gehen, um zu verstehen. Spaziergangswissenschaft. In: von Keitz, Kay/Voggenreiter, Sabine (Hrsg.): En passant. Reisen durch urbane Räume: Perspektiven einer anderen Art der Stadtwahrnehmung. Berlin, S. 75.]

62

Von Frahm wird dieser Aspekt, „dass der filmische Raum – im Vergleich etwa zum literarischen, zum malerischen oder auch zum poetischen Raum – immer schon und notwendigerweise eine andere Art von Räumlichkeit generiert“, als die mediale Ebene der filmischen Raumproduktion bezeichnet. Die beiden übrigen sind die dispositive und die modale Ebene [Frahm, Laura (2010): Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld, S. 118.].

63

Ersteres beleuchtet Frahm sehr ausführlich und weist dabei nach, dass filmische Räume ein Zusammenspiel aus relationalen und topologischen Räumen sind, die nicht mit den klassischen Koordinaten euklidischer Räume beschreibbar gemacht werden können (vgl.: ebenda).

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Sinnes-Bewegungen ein topologisches Raumgefüge im Sinne einer Sichtbarmachung der qualitativen Raumbeziehungen, die ein Mensch mit sich und seiner Umwelt eingehen kann.64

4.1 D ER

EINHEIMISCHE F LANEUR ALS AKTIVIERTER SUBVERSIVER H EIMATKUNDLER „Er liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut. Und wenn er wieder wegblickt von den Gegenständen, dann sagen ihm auch die Gesichter der […] vorübergehenden

Menschen

mit

einmal

mehr.“65

Weshalb die narrative Geh-Figur des Flaneurs und die poetische Übersetzung seiner Bewegungsspiele Aufschluss gibt über den Raum, der sich durch ihn und seine Gangart erschließt, konnte auf den vorangegangenen Seiten bereits andeutungsweise geklärt werden. Wie genau sich dieser Raumerschließungsprozess nun aber in seiner flanerischen Spezifik vollzieht, soll nachfolgend in den Betrachtungsfokus rücken. Als memorierendes Schlendern beschrieben,66 sind der Aspekt der Entschleunigung und der Blick auf Details für den Flaneur Anlass zur Erinnerung und Reflexion. „Intensity of experience, openness to coincidence, a

64

Solch ein Verständnis von Topologie findet sich in ersten Ansätzen bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Johann Benedict Listing wieder [vgl.: Listing, Johann Benedict (1847): Vorstudien zur Topologie. In: Göttinger Studien 2. o. O., S. 811-875.].

65

Hessel, Franz (1932): Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen. In: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 200: Der Flaneur und die Memoiren der Augenblicke. 45. Jg., Band 4/2000, S. 47.

66

Walter Benjamin prägte den Ausdruck des Memorierens im Schlendern zur Beschreibung der Handlungskraft der Flaneurfigur Franz Hessels [vgl.: Benjamin, Walter (1980): Gesammelte Schriften. Band III. Herausgegeben von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt am Main, S. 194.].

188 | D OING URBAN S PACE

dread of all intention: these are all characteristics in many descriptions of flânerie.“67 Dieses Verhalten macht den Flaneur zu einem subversiven Taktiker, der sich ungleich zur zielgerichtet beschleunigenden Masse verhält. Karl Schlögel formuliert jene Verbindung von Langsamkeit und Genauigkeit wie folgt: „Man muß sich zurücklehnen können, um zu sehen. Man muß im Fluß stehenbleiben können, um schärfer zu sehen.“68 Hier wird deutlich, dass über den „gedehnten Blick“69 eine dauernde Anverwandlung des sinnlichen Eindrucks erzeugt wird, die einen Bezug zum Augoyardschen Stilmittel der Synekdoche hat. Ausgelöst wird der Prozess der minutiösen Erfassung durch ein Perplex-Sein der Aufmerksamkeit, man könnte mit Massumi auch von einer situativ-sinnlichen Affizierung des Leibes sprechen. „Die Perplexion ist das Gefäß für die Mannigfaltigkeit der Erfahrung, die wir mit dem gedehnten Blick machen und machen müssen. Die Perplexion ist das allmähliche Vertrautwerden mit der uns melancholisch stimmenden Zumutung, dass wir immer nur Splitter und Bruchstücke von etwas verstehen.“70

Weil vor allem der offene, (unter)suchende kindliche Blick zu einer Gedehntheit im von Genazino beschriebenen Sinne neigt, wird diese Analogie auf den nachfolgenden Seiten noch einen zentralen Stellenwert für die genauere Betrachtung der Charakteristik flanerischer Raumaufspannungsprozesse einnehmen. Jene ihn auslösende Irritation ermöglicht die Weitung des Blickes im Sinne einer sympraktischen Betrachteraktivierung und zeugt damit vom Potenzial der Situation. Über die narrative Übersetzung dieses Vorganges geschieht nun etwas Interessantes: Die synthetisierende Raumwahrnehmung wird transformiert in ein sprach-bildliches Narrationsgefüge und mit ihm artikuliert sich der so hergestellte Raum als ein Topologischer in seinen Relationen. Die flanerische Raumerschließung kann somit als du-

67

Leslie, Esther (2002): Flâneurs in Paris and Berlin. In: Koshar, Rudy (Hrsg.): Histories of leisure. Oxford, S. 62.

68

Schlögel 2007: 274.

69

Dieser Begriff wurde geprägt von Wilhelm Genazino, Schriftsteller und Verfasser literarischer Texte, in denen die Protagonisten sich flanerisch durch ihre Orte bewegen [vgl.: Genazino (2007): Der gedehnte Blick. München.].

70

Genazino 2007: 51

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aler Prozess angesehen werden, der sich stets zwischen Wahrnehmung und Reflexion aufspannt. Matthias Keidel formuliert diese Verbindung wie folgt: „Die Art und Weise, wie der Wechsel zwischen Wahrnehmung und Reflexion jeweils motiviert wird, ist bestimmend für verschiedene Arten flanierenden Denkens, das jeweils direkt oder indirekt mit einer Gehbewegung des Autors zusammenhängt – der Gedankengang wird also im wörtlichen Sinne von den Füßen strukturiert. Motivation dieser Texte ist kein philosophisch systematisches Denken, sondern der unmittelbare Sinneseindruck, die Reaktion des Autor-Subjekts auf den Wahrnehmungskontext der Großstadt und die damit verbundenen ‚Denk-Anreize‘.“71

Bezugnehmend auf die bereits erläuterte senso-psycho-physische Tertiärstruktur der reisenden Bewegung lässt sich folglich auch in der flanerischen Raumerschließung eine solche rekonstruieren. Über die Bewegung des Flaneurs wirken Elemente in seiner Umwelt als direkte, gedankensteuernde Affizierungen. Diese nimmt er über seine Sinne auf, was wiederum beeinflusst durch seine Gedanken, Erinnerungen und Gefühle geschieht und sich gleichsam auf die Gestimmtheit des räumlich Wahrgenommenen und damit auch wieder auf die flanerische Bewegung in Richtung und Geschwindigkeit auswirkt. Die nachfolgende Abbildung fasst jene Wechselwirkungen beim flanerischen Reisen durch eine Umgebung zusammen und artikuliert die Wirkungsweise jener qua Bewegung, sinnlicher Wahrnehmung und Gedanken raumkonstituierenden Taktik:

71

Keidel, Matthias (2006): Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg, S. 12.

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Abbildung 2: Flanerische Raumschaffung als triadischer Affizierungskomplex72

Wahrnehmung (sensuell)

Affizierung durch die gebaute Welt und die Perspektive sowie Geschwindigkeit

Affizierung durch die gebaute Welt und die eigenen Gedanken, Erkenntnisse und Erinnerungen

Bewegungsweise (physisch)

Reflexion (psychisch)

Affizierung durch die Perspektive sowie Geschwindigkeit und die eigenen Gedanken, Erkenntnisse und Erinnerungen

4.1.1 Herkunft und Merkmale flanerischer Raumerschließung Dass die flanerische Raumerschließung auf der Basis ihres beschriebenen Prozessablaufs als eine mediale Artikulationsweise der Konstitution von gesellschaftlichem Raum beschrieben werden kann, ist auf den vorangegangenen Seiten in ersten Zügen deutlich geworden. Welchen Ursprungs die Flanerie jedoch ist und welche Merkmale sie als Raumerschließungspraktik für sich beansprucht, soll nachfolgend erläutert werden. Die Geh-Figur des Flaneurs wird in der wissenschaftlichen Forschung gemeinhin als literarische Figur verstanden und ist als solche ein journalistisches Produkt der 30er bis 50er Jahre des 19. Jahrhunderts.73 Auf den Pa72

eigene Darstellung

73

Bereits in den 1820er Jahren, bevor die Journalisten als detektivische Beobachter des täglichen Lebens die literarische Flaneurfigur hervorbrachten, hatte das Flanieren eine gesellschaftliche Rolle in Frankreich inne. Als eher

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riser Boulevards bot sich den beruflich Schreibenden aufgrund des dort florierenden Alltagslebens die Möglichkeit, schnell und unkompliziert an aktuelle Themen zu gelangen und diese unbemerkt zu recherchieren. Als schlendernder Müßiggänger getarnt, stellte er nicht nur einen Opponenten zum von Terminen getriebenen Großstädter dar, sondern besaß zugleich einen daraus resultierenden distanzierteren Blick auf die Geschäftigkeit des urbanen Lebens. Jene Materialbeschaffungsweise führte auch zu einem veränderten Schreibstil, der nun gekennzeichnet war durch eine bewegliche Perspektive der Beobachter, die als Teil der Menschenmenge wesentlich näher am Geschehen teilhatten, eine dabei bewusst in Kauf genommene Zufälligkeit in der Wahl der thematisierten Aspekte sowie „die Möglichkeit, den Prozeß der Textentstehung und die subjektive Wahrnehmung der Großstadtphänomene mit zu thematisieren.“74 Diese Aspekte machen deutlich, dass das Flanieren im hier verwendeten Bedeutungsrahmen „die künstlerische Verarbeitung der städtischen Erlebniswelt“75 im Modus der entschleunigten Bewegung darstellt. Der Verdienst der literarischen Flaneurfigur liegt dabei also vor allem in der kommentierten Stadtbeobachtung, in der Kultivierung von Raumwahrnehmung anstelle einer bloßen Selbstinszenierung, wie dies noch beim flanierenden Adel ein paar Jahrzehnte zuvor der Fall gewesen war. Der Zusammenhang von Gedanke und Bewegung ist hier offensichtlich, steuert doch der Gang die wahrzunehmenden Einflüsse und ihre assoziative Wirkung. Jeder flanerische Spaziergang erzeugt demnach einen ei-

politische Erscheinung diente sie damals der stilisierten Selbstdarstellung des politisch entmachteten Adels. Durch den kultivierten Müßiggang machten sie die Straße zu ihrem Präsentationsraum, der aktional gefüllt mit Gesten und Praktiken der Dekadenz Abgrenzung und Differenzierung zur Großstadt- und Arbeitermasse symbolisieren sollte. Darin besteht auch gleichzeitig der große Unterschied zwischen dem flanierenden Adel und dem literarischen Flaneur: Die einen Müßiggänger wollten Aufmerksamkeit erzeugen und von anderen beobachtet werden, während die arbeitenden Journalisten nicht ins Blickfeld geraten, sondern selbst Beobachter sein wollten (vgl.: Keidel 2006: 13-17.). 74

Keidel 2006: 15.

75

Ebenda: 16.

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genen Raum76 gerade so vielfältig, wie das Zusammentreffen von Welt und Mensch Impulse hervorzubringen in der Lage ist. Die zunehmende Vervielfältigung der literarischen Verwendungsarten der Flaneurfigur gab ihrer Potenzialität Recht. Baudelaire übertrug beispielsweise die Prosaform der flanerischen Texte auf die Lyrik, Großstadtromane77 verwenden die Flanerie als Stadtraumerschließungsmittel und Randfiguren des urbanen Raumes treten gleichsam den durch veränderte Stadtplanungen und Stadtumgestaltungen hervorgerufenen Verlusterfahrungen verstärkt in den Fokus der literarischen Flanerie, die damit zum Ausdrucksmittel der Empfindungen wird, welche aus der Konfrontation des (modernen) Menschen mit den Auswirkungen gesellschaftsbezogener Transformationen (der Moderne) resultieren.78 Oder wie Esther Leslie es formuliert: „His [the flâneurs; Anm. SMG] existence is inseparable from the changes in urban public space“79. Diese Bedingtheit lässt den Flaneur in gewisser Weise zu einer Figur der Tradierung von Beständigkeit werden. Er ist in diesem Kontext ein Wandler zwischen den Welten – zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen alt und neu, zwischen gestern, heute und morgen. In seine narrativen Raumaufspannungen integriert er somit die Zeit als Faktor der Bestimmung des Wahrgenommenen. Damit ist er keine entzeitlichte Größe und gewinnt seine Wahrnehmungsreflexion aus der für Identifikationsprozesse grundlegenden Erkenntnis, dass räumlich-gesellschaftliche Artikulationsbedingungen einer zeitlich rekonstruierbaren Transformation unterliegen.80

76

Und zwar – getreu der doppelten Gerichtetheit von Affizierungen – einen Raum in zweifacher Hinsicht – einmal als realisierte Gebrauchswirklichkeit durch das Hindurchbewegen und zum anderen die Vorstellung von Raum als individuelles Ergebnis. Ersteres entspricht dabei der menschlichen Fähigkeit andere zu affizieren, letzteres dem Vermögen, selbst affiziert zu werden.

77

Zu nennen wären hier beispielsweise Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘ oder Rilkes ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘.

78

Vgl.: Keidel 2006: 18.

79

Leslie 2002: 62.

80

Dass eine vergleichbare Flaneurfigur in Deutschland nur in Ansätzen und mit Beginn des 20. Jahrhunderts auch wesentlich später vorzufinden war, mag in ebenjener Funktion der Spiegelung gesellschaftsräumlicher Modernisierungsprozesse und der Tatsache begründet liegen, dass es – wie Keidel anführt – in

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4.1.2 Spatiierende Raumaufspannungen in der Literatur bei Franz Hessel und Arthur Eloesser Während die literarische Flanerie in ihrer narrativen Umsetzung ein äußerst facettenreiches Spektrum eröffnet,81 soll für die hiesigen Ausführungen eine Beschränkung auf die Figur des einheimischen Flaneurs bei Arthur Eloesser und Franz Hessel erfolgen. Beide stellen den örtlich Verwurzelten in den Mittelpunkt ihrer Texte, verstehen ihre Flaneurfigur damit als Heimatkundler und werden aus diesem Grund in der Rezeption ihrer Texte in einen wirkungsbezogenen Zusammenhang gestellt.82 Das unterscheidet sie beispielsweise von der literarischen Figur des Flaneurs bei Siegfried Kracauer, die eher gegenwartsbezogen, gesellschaftsanalytisch und mit meinungskritischem Blick ihre Umwelt betrachtet.83 „Kracauers Flaneur ist in seiner Funktion auf den Modernisierungsprozeß bezogen: Er ist der Inspizient von dessen sozialen, politischen, aber auch historischen Konsequenzen.“84 Auch Walter Benjamins Flaneurfigur fokussiert weniger auf identitätsstiftende Zeit-Spuren des Vergangenen im sich wandelnden Stadtraum als vielmehr auf das kreativ-assoziative Potenzial der Straße. Das aufmerksame Durchstreifen urbaner Gegenden setzt er lebendigen Gedankengängen, einer beweglichen Gegenwart des Geistes, synonym und ergeht

Deutschland im 19. Jahrhundert kein vergleichbares urbanes Zentrum wie Paris oder London gegeben habe (vgl.: ebenda: 21). 81

Für einen umfassenden Überblick über die Bandbreite der literarischen Fla-

82

Vgl.: Neumeyer, Harald (1999): Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne.

neurfiguren siehe u.a.: Keidel 2006; Neumeyer 1999 und Köhn 1989. Würzburg, S. 298-302. 83

Eine Ausnahme stellt die Betrachtung der Straßen von Paris dar. Hier assoziiert Kracauers Flaneur verstärkt Gewordenheit und erinnert sich entlang der Spuren des Gewesenen [vgl.: Kracauer, Siegfried (1992): Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken. Leipzig, S. 49] Im Berlin der Modernisierungswellen verbleibt er hingegen im Gegenwärtigen und bringt damit das Verlorensein der Geschichte jener Stadt kritisch zum Ausdruck [vgl.: Kracauer, Siegfried (1990): Straße ohne Erinnerung. Schriften. (herausgegeben von Inka Mülder-Bach) Bd. 5.3 Frankfurt am Main, S. 173.].

84

Neumeyer 1999: 341.

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sich dabei wortwörtlich in immer neuen Gedankenverbindungen, die seine Umwelt in ihm hervorruft: „Gegenstände der Erfahrung des flanierenden Denkens sind [bei Benjamin; Anm. SMG] zuallererst Aktivitätsformen der Synthetizismen des Bewußtseins selbst: schreiben, lesen, träumen, lieben, erkennen, trauern, sprechen, sich waschen, essen, sich ängstigen, sich erinnern. Doch werden diese Erfahrungsformen nicht psychologisch gedeutet, sondern jeweils in ihrer empirischen Gestalt als Handlungen, Gesten, äußeres leibbezogenes Geschehen.“85

Hessel, der seine Raum- und Gesellschaftsstudien neben Paris auch und vor allem in Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchführte, betont in der narrativen Raumaufspannung seiner Texte eher den Aspekt der Wahrnehmung denn der Reflexion, was seine Beschreibungen verhältnismäßig werturteils- und kritikfrei erscheinen lässt. Er „reflektiert das Gesehene lediglich in der Art der Zusammenstellung und Anordnung der Beobachtungen“,86 was ihm in der wissenschaftlichen Forschung gemeinhin kritisch zulasten gelegt wird87, für den Raumaufspannungsprozess und seine Qualität jedoch eine günstige Bedingung darstellt. Zum anderen versteht er sich selbst dezidiert als Heimatkundler.88 Neumeyer unterstellt dem Hessel‫ތ‬schen Flaneur auf dieser Basis im Kern zwei zeitlich orientierte Aufgaben: Erstens Erinnerungsarbeit in Bezug auf die Vergangenheit der Stadt, in der der Flaneur lebt und zweitens eine prognostische Analyse im Hinblick auf ihre erwartbare Zukunft.89

85

Köhn, Eckhardt (1989): Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs von 1830 bis 1933. Berlin, S. 208f.

86 87

Keidel 2006: 29. Vgl.: Schneider, Christiane (1996): Von der Schildkröte zur Datenautobahn. Verlaufsformen und Funktionen des Flaneurs. In: Döring, Jörg/Jäger, Christian/ Wegmann, Thomas (Hrsg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen, S. 155f. oder: Neumeyer, Harald (1999): Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg, S. 311. sowie: Keidel 2006: 29f.

88

Vgl.: Hessel, Franz [1984 (1929)]: Ein Flaneur in Berlin. Berlin, S. 9.

89

Vgl.: ebenda: 297.

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Im Kontext hergestellter Welt ist die Tradierung von Sinnspuren und Bedeutungsgeweben an die Aufrechterhaltung des Gebauten oder aber – im Falle seines Verschwindens – an die narrative oder diskursive In-Erscheinung-Bringung durch Kommunikationsformen und -medien gebunden. Am leichtesten ist dies durch den kundigen Einheimischen zu realisieren, der die Gewordenheit eines Ortes anders als der Fremde erinnern und artikulieren kann. Dieser Rolle sieht sich auch der Hessel‫ތ‬sche Flaneur verpflichtet, wenn er sich in seinen Streifzügen durch ein Berlin der ständigen Veränderung begibt: „Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan. Ich muß eine Art Heimatkunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist“90.

Auffällig ist hier die Anspielung Hessels an die bereits von Karl Scheffler konstatierte Schicksalshaftigkeit Berlins, welche darin bestehe, dass jene Stadt dazu verdammt sei, „immerfort zu werden und niemals zu sein.“91 Als zutiefst transformatorische Stadt sei ihre Wesenhaftigkeit der Wandel, was sie wiederum in gewisser Weise zu einer „seelenlosen Stadt“92 werden lasse. Was Scheffler in seinen Ausführungen ergebnishaft formuliert, ist der Hessel‫ތ‬schen Flaneurfigur Anlass „zur Bewältigung dieses Befundes“, denn er macht sich auf, „das Sein- und Sinndefizit“ dadurch zu überwinden, „daß er sich der Vergangenheit der Metropole zuwendet.“93 Er versteht seine Heimatkunde, das Rekonstruieren von Erinnerungen und Gewordenheiten, damit als identitätsstiftenden Beitrag für eine ortsräumliche Verwurzelung und einen zukunftsgerichteten Umgang mit städtischem Wandel. Auf der Suche nach dem Gewordenen begegnet ihm die Vergangenheit spurenhaft in Form von vielsagenden Elementen in der hergestellten Welt. Das regelmäßige Herumschlendern hält diese zeitliche Vielschichtigkeit wach und macht deutlich, dass heimatliche Identitätsräume in ihrer Konstitution vielschichtige Zeiten-Räume sind. Ihr regelmäßiges Erschließen ist –

90

Hessel 1984 (1929): 12.

91

Scheffler, Karl [1989 (1910)]: Berlin – ein Stadtschicksal. Berlin, S. 219.

92

Ebenda: 218.

93

Neumeyer 1999: 299.

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wieder in Rückgriff auf den Schefflerschen Schicksalstopos urbaner Wandlungspermanenz – immer dann umso wichtiger, je offensichtlicher sich Veränderungen in den städtischen Raum einschreiben. Waren es zu Schefflers und auch Hessels Lebzeiten vorrangig die im Zuge der fortschreitenden Moderne und ihrer technologischen Entwicklungen vollzogenen städtebaulichen Umstrukturierungen Berlins durch den Stadtbaurat Martin Wagner, so sehen wir uns heutzutage – das ist im Abschnitt 2 dieser Arbeit herausgearbeitet worden – erneut mit Städten konfrontiert, die sich wandeln, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert haben. Wenn auch die Gründe und Auswüchse dieser Veränderungsprozesse zwischen den 1910er/1920er und 2010er Jahren stark variieren mögen, so ist doch der Anspruch im gewinnbringenden Umgang mit diesen Transformationsprozessen vergleichbar geblieben. Der beispielsweise durch Neu- aber auch Rückbau veränderten Stadtphysiognomie ist nicht selten „eine Leere an vergangener Zeit“94 eigen. Dort, wo die Stadt selbst keine Vergangenheit mehr gespeichert hat, könne der Flaneur – so schlussfolgert Neumeyer – Abhilfe schaffen, denn „[a]ls einer, der in dieser Stadt aufgewachsen ist, weiß der Flaneur, was sich an den Orten, an denen er jetzt vorbeistreift, einst befand und was er dort einst erlebte. So kommt es dem Flaneur zu, die Leere mittels Erinnerungen zu füllen“95 und sie somit in ihrer atmosphärischen Dichte in Erscheinung zu bringen. Diese sinnstiftende Arbeit am gesellschaftlichen Transformationsprozess betont die (Wieder-)Aneignung der Stadt als Heimatraum über die Suche nach den Spuren des Vergangenen vor Ort. Der einheimische Flaneur ist hier vor allem Archäologe statt Geologe, der „nach den ‚verschütteten Resten‘ der Vergangenheit“96 sucht. Sein Erkundungsgestus ist – mit Benjamin gesprochen – ein „Memorieren[…] im Schlendern“97, welcher den städtischen Raum als einen Raum mit Geschichte und damit entlang seiner identitätsstiftenden Spuren aufspannen will. „Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Moti-

94

Ebenda: 301.

95

Ebenda.

96

Ebenda.

97

Benjamin 1980: 194.

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ve dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, der Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt.“98

In diesem Sinne ist das flanerische Raumaufspannen für den Einheimischen zugleich auch ein Wandeln durch die eigene Entwicklungs- und Erlebnisgeschichte, wenngleich hier der Vorwurf Neumeyers nicht unberücksichtigt gelassen werden soll, dass auch der Hessel‫ތ‬sche Flaneur einige Informationen nicht ganz ohne ein zusätzliches Quellenstudium aus der Stadt herauslesen kann.99 In der Kombination dieses Zusatzwissens mit seiner eigenen Ortsbiografie schränkt dies seine Raumaufspannungsleistung, entgegen der Annahmen Neumeyers, jedoch in keiner Weise ein. Schließlich verbindet der Hessel‫ތ‬sche Flaneur das Entfalten seines individuellen heimatlichen Erfahrungsraumes mit den örtlichen Einschreibungen anderer Menschen sowie den weit vor seine Lebenszeit zurückreichenden Anekdoten und stellt das eine dabei jeweils in den argumentativ stützenden Dienst des anderen. Die dingliche Welt wird ihm auf diese Weise nicht nur Zeugnis seiner Vergangenheit und Auslöser seiner Erinnerungen, sie stellt sich zudem als Speicher fremder Geschichten und zirkulierender Energien dar, wie auch im nachfolgenden Textauszug von Hessel deutlich wird: „Ich suche nach dem bärtigen Apoll unseres Kinderspielplatzes. Von dem habe ich übrigens inzwischen geleint, daß er aus dem achtzehnten Jahrhundert ist, ursprünglich vor dem Potsdamer Stadtschloß, dann vor dem Brandenburger Tor stand. Er kommt sogar im Baedeker vor, wenn auch nur kleingedruckt.“100

Die Relevanz der im bärtigen Apoll materialisierten Kindheitserinnerung wird unterfüttert mit Zusatzinformationen zum gewählten Gegenstand, die das Bedeutungsgewebe seiner gesellschaftlichen Geschichten mit den Fäden der eigenen Lebensgeschichte verbinden und letztere somit aus ihrer Singularität heraus gewichtiger machen sollen. In den meisten der beschriebenen Punkte findet die Hessel‫ތ‬sche Flaneurfigur in der Flaneurfigur bei Arthur Eloesser einen Verbündeten. Auch

98

Ebenda.

99

Vgl.: Neumeyer 1999: 307-311.

100 Hessel 1984 (1929): 160.

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Eloesser greift – etwa eine Dekade vor den Arbeiten Hessels – die von Scheffler postulierte Gefahr beim Verlorengehen der Geschichte einer Stadt für die heimatliche Identifikation mit ihr auf und macht sie so zum Anlass für seine Erinnerungsgänge. „In der Jugend habe ich zu meiner Vaterstadt keine besonders zärtliche Neigung aufgebracht – ich fand die Welt überall schöner, wärmer, liebenswürdiger; zu einer Heimat wurde mir Berlin erst, als es anfing, mir verloren zu gehen in dem unaufhörlichen Zufluß neuer Bevölkerung, als es ohne Erinnerung, ohne Überlieferung, ohne Verpflichtung gegen das Gestrige in den Tag hinein zu leben begann […]. Gerade weil ich mit meinen neuen Landsleuten von überall her nur wenig von ihren Befriedigungen und Begeisterungen teilen konnte, fand ich meine Heimat erst wieder, indem ich nach ihren spärlichen, von einem rücksichtslosen Fortschritt verschütteten Resten suchte. Aber ich fand nicht nur die Straße meiner Jugend – denn irgendwo muß man ja geboren sein –, sondern ich glaubte auch den Anfang eines Weges in die Zukunft zu erkennen.“101

Dieser Weg in die Zukunft stellt das Flanieren bei Eloesser ebenso wie bei Hessel als hoffnungsvolle Tätigkeit dar, die den via Bewegung, dingliche Affizierungen und gedankliche Rekonstruktionen erzeugten Raum zu einem bedeutungsvollen Gefüge von identitätsstiftenden Akteur-Netzwerken macht und damit nachhaltig an den Akteur bindet – auch wenn die ursprünglichen menschlichen Beziehungen, Gegenstände, Häuser, Brücken und Straßenzüge einer städtischen Entwicklungen und damit der Zeit bereits zum Opfer fielen. So macht sich auch der Flaneur bei Eloesser das zunutze, was ihn als Einheimischen privilegiert, nämlich „die sichtbaren Zeugen der Vergangenheit als Anlaß für Erinnerungen [zu nehmen; Anm. SMG], die den Zeugen das hinzufügen, was an ihnen selbst nicht mehr sichtbar ist.“102 So erinnert er sich beispielsweise an den ‚Kolonnadengarten‘, der sich in Berlin einst dort befand, wo heute der Bahnhof Alexanderplatz ist. Eingeschrieben ist diesem Ort eine freundliche Atmosphäre, ein heimatliches, leicht sentimentales Wohlgefühl, welches sich aus den dort gemachten Er-

101 Eloesser, Arthur [1987 (1919)]: Die Straße meiner Kindheit. Berliner Skizzen. Berlin, S. 7. 102 Neumeyer 1999: 302.

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lebnissen speist, die nun vor dem Auge des Lesers narrativ entfaltet werden: „Damals wohnte man überhaupt noch um den Alexanderplatz herum, das ehemalige Glacis der ehemaligen Festung Berlin, und wenn unsere Eltern sich etwas Besonderes antun wollten, so gingen sie an den ersten warmen Frühlingsabenden in die „Kolonnaden“, um dort zeitgemäße Spargel und Krebse zu essen. Das war die höchste kulinarische Ausschweifung, die sich der achtbare Bürger in der Öffentlichkeit, wenigstens wenn er mit seiner Frau auftrat, erlauben durfte. […] Also, wo heute der Bahnhof Alexanderplatz steht, habe ich meinen ersten Krebs, habe ich ihn wenigstens beinahe gegessen. Als ich meine Eltern dorthin irgendeine Botschaft zu überbringen hatte, fand ich sie gerade bei dieser angenehmen Beschäftigung. Ein Krebs war noch übrig, den mir mein Vater zurechtmachte, indem er mir gleichzeitig die überaus sinnreiche Einteilung des trotz allen Hummern und Langusten feinstsaftigen Krustentieres in Scheren, Schwanz und Bauch auseinandersetzte. […] [D]er Krebs empfahl sich vom Teller, und wenn mich das bißchen Sand schließlich auch nicht gestört hätte, als Sohn achtbarer Eltern begriff ich doch, daß ich nicht von der Erde essen durfte, und mußte verzichten. Jedesmal aber, wenn ich über den Alexanderplatz fahre, […] überkommt mich die wehmütige Erinnerung […]. Später habe ich noch viele Krebse gegessen, […] aber dieser ungegessene muß doch der schönste gewesen sein.“103

Hier wird deutlich, dass der erinnerte und noch in der Gegenwart durchschimmernde Raum ein heimatlicher Raum mit atmosphärischer Dichte ist, der seine Kraft aus der situativen Gestimmtheit des rekapitulierten Erlebnisses und der in diesem Zusammenhang empfundenen Gefühlsräumlichkeit erhält. Diese emotionale Bindung an den beschriebenen Raum bleibt unabhängig von der veränderten Gestalt des Ortes und der vergangenen Zeit bestehen. Sie verleiht dem Platz einen Mehrwert, eine qualitative Nuance im Sinne einer ortsspezifischen „Topophilie“.104 Diese von Bachelard beschriebene Liebe zum Raum vollzieht sich als eine Wertschätzung der räumlichen Affizierungen. Geschätzte Räume sind solche Räume, die anziehend auf den betreffenden Akteur wirken, da sie nicht als Behälterraum

103 Eloesser 1987 (1919): 100f. 104 Bachelard, Gaston [1987 (1957)]: Poetik des Raumes. Frankfurt am Main, S. 25.

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erlebt, sondern als persönlich bedeutungsvoll erfahren werden.105 Dies geschieht immer dann, wenn Räume handlungsermächtigend wirken, wenn sie aktivieren und somit die Möglichkeit zur Aneignung „und dabei Bedeutungen für das Identitätserleben (= Sinnbildung)“106 bieten. In diesem Zusammenhang konstituiert die „Raumbezogenheit der Liebe […] durch die Bewegung der positiven Zuwendung auf die erlebte oder auch imaginierte Welt […] den Raum – sie ist ein “innerer Akt“, der seinen Gegenstand selbst erzeugt“.107 Die individuell konstruierte Ortsidentität und die Subjektidentität des konstruierenden Akteurs sind auf diese Weise aneinander geknüpft und bedingen sich somit wechselseitig. Die emotionale Verflechtung mit öffentlichen Räumen stabilisiert Individuen, da sie sich in Teilen ihrer Selbst zeitlos verwurzelt und verortet fühlen können. „Andererseits wird über Ortsidentität Liebe an die (räumliche Verfasstheit der) Gesellschaft zurückverbunden, indem vornehmlich über Heimatliebe gesellschaftliche Strukturen und Werte stabilisiert werden.“108 Damit kann vor allem das Wohnen subjektbezogen, aber auch gesellschaftsbezogen als emotional-räumliche BeSINNungsaufgabe verstanden werden, in der sich die Topophilie in ihrer Interdependenz zwischen Individuum, Raum und Gesellschaft verkörpert findet. Wohnräume sind dabei immer erlebte Entfaltungsräume. Sie unterliegen als Gefühlsräume einer starken Subjektivität der Wahrnehmung, da sie – wie Bachelard dies umschreibt – „mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft“109 über ihr reales Dasein hinaus erlebt werden. Dem Erinnern kommt damit die Funktion als eine der wesentlichsten BeSINNungstätigkeiten zu und es wird deutlich, dass gerade die literarische Figur des einheimischen Flaneurs mit ihren subversiven Taktiken der Raumkonstitution nachvollziehbar vorführt, wie sich die Schaffung atmosphärisch geliebter Räume vollziehen kann.

105 Ebenda. 106 Wöhler 2001: 4. 107 Ebenda: 5. [Wöhler verweist im Zusammenhang mit der individuellen Raumschaffung als ‚inneren Akt‘ auf: Merleau-Ponty, Maurice 1966 (1945): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, S. 430ff.] 108 Ebenda: 4. 109 Bachelard 1987 (1957): 25.

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Insgesamt kommt der Straße als Ort urbaner Öffentlichkeit und geliebter Wohn-Raum bei Eloesser und Hessel eine Schlüsselrolle zu. Eloesser macht in seinen flanerischen Betrachtungen des Berliner Straßenraumes deutlich, dass die Intensität städtischer Raumbindungen in engem Zusammenhang mit der Art und Intensität der Straßennutzung steht. So führt er beispielsweise aus, dass in seiner Kindheit ihm und seinen Freunden der Straßenraum ein Erkundungs- und Spielraum war, den es spielerisch und mit aller Kraft vor Kindern aus anderen Straßen zu verteidigen galt.110 Diese Explikation knüpft ganz nah an Bachelard und seine Ausführungen zur Topophilie an, in denen es primär darum gehen solle, „den menschlichen Wert der Besitzräume zu bestimmen, der gegen feindliche Kräfte verteidigten Räume, der geliebten Räume.“111 Dabei kann vor allem die tätige Anwesenheit auf der heimischen Straße als Voraussetzung angesehen werden, aus selbiger die Bandbreite an Affizierungen und damit das Handlungspotenzial auszuschöpfen und sich somit emotional in diese einzuschreiben. Der von Eloesser beobachtete Modernisierungsboom wird vor diesem Hintergrund nun in zwei Richtungen gedeutet. Auf der einen Seite verbindet sich mit dem wachsenden Tempo auf den Straßen „eine kolossale Energie“,112 auf der anderen Seite beraube diese die Straße jedoch um jene Geschäftigkeit, die sich nicht an Geschwindigkeit und Transithaftigkeit bemisst. „Sie [die Straße; Anm. SMG] bedeutet für uns immer mehr die Verpflichtung zur Bewegung, zum Weitergehen auch ohne Schutzmannsgebot als die Gelegenheit zum neugierigen Aufenthalt, zur Zerstreuung, zur kostenlosen Unterhaltung.“113

Straßen, die lediglich dem Zwecke des Transportes dienen, können keine identitätsstiftenden Bindungen hervorrufen. Sie können keine beglückenden, keine verteidigten, keine geliebten Räume werden. Ihre NichtÖrtlichkeit114 bietet keine Ansatzpunkte zur Identifikation. Für den Flaneur bei Eloesser kommt hier noch ein weiterer Aspekt der straßenräumlichen

110 Vgl.: Eloesser 1987 (1919): 15-17. 111 Bachelard 1987 (1957): 25. 112 Eloesser 1987 (1919): 33. 113 Ebenda. 114 Vgl.: Augé 1994: 92.

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Erzeugung von Verbundenheit hinzu: die sinnliche Affizierungskraft. Uniforme Straßen, die dem Auge, dem Ohr oder der Nase gleichförmige Reize übermitteln, machen sich unkenntlich und austauschbar. Ein spezifischer Geruch, optische Besonderheiten oder markante Geräusche erzeugen urbane Raumqualitäten, die den Wiedererkennungs-Wert und damit die charaktervolle Atmosphäre115 städtischer Orte bestimmen. Das ‚Nosing Around‘116 des Flaneurs und seine Relevanz für die zu betreibende Heimatkunde findet sich somit sprichwörtlich auch bei Eloesser wieder, wenn er schreibt: „Nach einer intensiven Prüfung meines Bewußtseins habe ich endlich herausbekommen, was diese Straße mich am meisten entbehren läßt. Sie hat keinen entschiedenen Geruch, die Nase findet hier keine Heimat, und sie ist doch eigentlich das Organ der Treue, der unvergänglichen, unwillkürlichsten Veränderung.“117

Dies zeigt sehr deutlich, dass die Straße nur dann zu einem bindungsreichen und geliebten Raum werden kann, wenn sie Charakter hat und lebendig ist, wenn sie als Ort der Öffentlichkeit fungiert, an dem es möglich ist, tätig zu sein und sich im alltäglichen Handeln in jener Umgebung einzuschreiben und diese und sich selbst dabei zu entfalten. Auch Jane Jacobs definiert mit ihrer Forderung „Augen auf die Straße“118 eine ähnliche These als Prämisse für eine nachhaltige städtische Lebendigkeit. Sie spricht von einer symbiotischen Beziehung von Mensch und Raum, von Geschäftigkeit und Sicherheit, die auch die Charakteristik geliebter Räume kennzeichnet. „Die Sicherheit auf der Straße ist genau dort am besten und am selbstverständlichsten, hat genau dort den geringsten Anklang an Feindseligkeit oder Verdächtigung, wo die Menschen die Straße freiwillig benutzen und genießen und sich normalerweise kaum bewußt sind, daß sie sie dabei auch beaufsichtigen“119.

115 Vgl.: Eloesser 1987 (1919): 67. 116 Dieser Begriff stammt vom Hauptvertreter und Begründer der ‚Chicago School of Sociology‘, Robert E. Park. 117 Eloesser 1987 (1919): 67. 118 Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Frankfurt am Main, S. 32. 119 Ebenda: 33.

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Die aktionale Bindung an die Straße schafft demnach eine Verantwortung für sie. Die Wertschätzung der eigenen Entfaltungsmöglichkeit vor der Haustür und ihre aktive Wahrnehmung setzen einen Kreislauf der Selbstregulation in Gange, der die Lebendigkeit des urbanen Raumes aufrecht zu erhalten in der Lage ist. So subsummiert auch Feldtkeller bezugnehmend auf die Ausführungen Jacobs‘: „Wo sich An-Wohner und andere An-Grenzer für ihre Straße zuständig fühlen, installieren sie zugleich ein soziales Netz, das auch öffentliche Sicherheit gewährleistet.“120

Auch hier wird das Wohnen wieder gemäß dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Sinne als ganzheitliche, raumschaffende Aufgabe verstanden, die neben anderen Funktionen vor allem auch „ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des öffentlichen Raums ist“.121 Das Zusammenspiel von hergestellter und sozialer Welt, zwischen der Stadtgestalt und ihren Handlungsimpulsen, gerät in den Fokus. Je homogener die gebaute Welt im urbanen Raum ist und je monotoner Straßenzüge erscheinen, denen ausschließlich die ungehinderte Transportfunktion eingeschrieben ist, desto unmenschlicher wird das Leben in ihnen sein. Erst „the city’s old and unplanned messiness“122 macht wirkliche zwischenmenschliche Kontakte möglich. Das Unfertige aktiviert zum Beteiligen, das Andere ermöglicht Abgrenzung und damit Identifikation in einem Raum der Vielschichtigkeit. Erst dies schafft die Bedingungen für Menschen, sich aktional und emotional mit dem städtischen Raum und auch mit der kulturellen Gemeinschaft in ihr zu verbinden. Der einheimische Flaneur nimmt jene Aufgabe ernst, da er seine Augen auf die Straße richtet und sie aufmerksam ins Visier (auch seiner Erinnerungen) nimmt. Er liefert auf diese Weise seinen individuellen und nachahmenswerten Beitrag zur Rekonstruktion und Anregung von örtlichen Verwurzelungen, zur Schaffung und Erhaltung von geliebten Räumen in der Stadt.

120 Feldtkeller 1995: 64. 121 Ebenda: 63. 122 Zukin, Sharon (2010): Naked City. The Death and Life of Authentic Urban Places. Oxford, S. 12.

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Der einheimische Flaneur in den Texten von Eloesser und Hessel führt dem Leser vor Augen, dass und wie städtische Räume über sinnliche Affizierungen, gesteuert durch körperliche und gedankliche Bewegungen, entstehen. Dabei kommt den in der Beobachtung der gebauten und gelebten Wirklichkeit auf der Straße aufgespürten atmosphärischen Stimmungen sowie den hierbei wachgerufenen Erinnerungen eine zentrale Rolle zu. Es werden jene Orte zu geliebten Räumen, die – wie beschrieben – in einer Beziehung mit dem Flaneur stehen, das heißt, in die sich der Beobachtende handelnd einschreiben konnte und kann. Damit geraten besonders solche Dimensionen von Urbanität in den Mittelpunkt der Betrachtungen, die sich nicht an der bloßen Stadtgestalt festmachen lassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde auf das besondere Potenzial des einheimischen Flaneurs fokussiert. Sharon Zukin fasst jene stadtdeterminierenden Aspekte unter dem Begriff der ‚Authentizität eines Ortes‘ zusammen. Diese „Seele der Stadt“ kann „in vielen gentrifizierten und runderneuerten Stadtteilen“123 verlorengehen, da mit dem wirtschaftlichen und städtebaulichen Wandel zumeist eine Verdrängung ortseinheimischer Menschen einhergehe. „Während einige die Klagen über das Verschwinden gewachsener Strukturen als unverhohlene Nostalgie zurückweisen und auf die Normalität eines immerwährenden Wandels in den Städten“124 fokussieren, sehe Zukin darin das eigentlich Problem. Andrej Holm summiert es in Bezug auf Zukin wie folgt: „Die ursprüngliche Authentizität eines Viertels ist dabei keineswegs an die Gruppen gebunden, die am längsten im Gebiet wohnen, sondern wird von Zukin als ein moralisches Recht auf Stadt verstanden, es den Bewohner/innen zu ermöglichen, an ihrem Wohnort Wurzeln zu schlagen. Es ist das Recht einen Raum zu bewohnen und zu gestalten und nicht nur als ein Erlebnis zu konsumieren. Authentizität ist in diesem Sinne eine täglich erfüllte Erwartung, dass die Nachbar/innen und die Gebäude und Geschäfte die mich heute umgeben, auch morgen noch hier sind. Städte – so Zukin – verlieren ihre Seele, wenn diese Kontinuität gebrochen wird.“125

Der Begriff der Authentizität ist hierbei natürlich nicht unproblematisch. In der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung der letzten 15 Jahre

123 Holm 2011: 1. 124 Ebenda. 125 Ebenda: 3. sowie: vgl.: Zukin 2010: 6.

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zunehmend unter Generalverdacht stehend,126 wird dieser auch bei Zukin nicht unreflektiert in die Ausführungen eingebunden. So schreibt sie selbst: „To speak of a city being authentic at all may seem absurd.”127 Doch mit Blick auf die veränderte Referenz dieser Qualität kann auch ihre Verwendung zugunsten einer lebens- und im de Certeau‫ތ‬schen Sinne alltagspraktischen Größe relativiert werden, denn „[t]he concept has migrated from a quality of people to a quality of things, and most recently to a quality of experiences.“128 Vor diesem Hintergrund kann, laut Zukin, immer dann von authentischen Städten gesprochen werden, wenn in ihnen ihre spezifische Geschichte, die Erfahrung des Ursprünglichen, möglich wird. Der Aspekt des Traditionellen spielt, wie wir gesehen haben, auch für den einheimischen Flaneur eine wichtige Rolle. Wie Zukin macht auch er die Bedeutungstiefe und damit die Unverfälschtheit eines Ortes über das Erleben von Ursprünglichkeit fest. Zukin spricht davon, dass diese wahrnehmbare Unverfälschtheit ein äußerst kraftvolles Werkzeug sei, dessen Kraft sich weniger aus finanziellen Ressourcen denn aus der Dichte und Heterogenität kultureller Bedeutungsgefüge und den zirkulierenden Energien in ihrer tagtäglichen Artikulation speise.129 Fußt die unverwechselbare Atmosphäre auf jenen Verwurzelungen, dann ist der einheimische Flaneur als Spurensucher ein Seismograph ihrer Intensität. Die Straße ist der Ort, an dem der Grad jener urbanen Authentizität im Zukin‫ތ‬schen Sinne spür- und erfassbar wird. Und so, wie es nicht die eine Form städtischer Ursprünglichkeit geben kann, artikuliert sich das Traditionelle, die urbane Lebendigkeit, vielschichtig zumeist jenseits der großen Boulevards und Hauptstraßen.

126 Vgl. aus der Vielzahl an Bezugstexten z.B.: Lethen, Helmut (1996): Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Literatur und Kulturwissenschaften – Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek, S. 205-231.; Fischer-Lichte, Erika/Pflug, Isabel (Hrsg.) (2000): Inszenierung von Authentizität. Tübingen und Basel.; Düllo, Thomas (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover. Bielefeld. 127 Zukin 2010: 2. 128 Ebenda: 3. 129 Ebenda: 3f.

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„Die Straße lässt ihre älteren Zeiten durchschimmern durch die Schicht Gegenwart. Was kann man da alles erleben! Nicht etwa an den offiziell historischen Stellen, nein, irgendwo in ganz ruhmloser Gegend.“130

Diese unscheinbaren Stellen und Straßen einer Stadt bergen vor allem für Hessels Flaneur gleichzeitig das umfassende Potenzial an atmosphärischer Dichte. Folglich durchstreift er die Stadt vor allem mit einer Affinität zu den ‚heimlichen‘ Orten. Der Topos des ‚Heimlichen‘ trägt hier eine doppelte Bedeutung.131 Er steht sowohl für versteckte Plätze, die sich dem Auge des touristischen und vor allem motorisierten Stadterkunders verschließen, als auch für die heimeligen Orte, die Orte der Gemütlichkeit, deren atmosphärischer Gehalt daraus resultiert, dass sie Erfahrungsräume und damit vertrautes, bezugsreiches Gefilde für den einheimischen Flaneur darstellen. Diese Besonderheit der Fokussierung wird am deutlichsten im zugleich längsten Kapitel des Stadtbuches von Hessel.132 Es trägt den Titel ‚Rundfahrt‘ und beschreibt den einheimischen Flaneur als Passagier in einem Bus voller Touristen, die eine Stadtrundfahrt unternehmen. Der Flaneur wird hier zum Fahrgast und macht damit sogleich auf den Mangel des motorisierten Erkundens von Stadt aufmerksam, den Hessel wie folgt artikuliert: „Unser Wagen fährt zu eilig, um alles anzusehen, wir müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die nahen Gassen am Fluß verschieben.“133

Das heimliche Berlin134 kann folglich auf diese Weise nicht erschlossen werden. Die zahlreichen nicht-offiziellen, aber für Hessel umso wichtigeren Plätze und Stellen der Stadt, die zu den eigentlichen „Berliner Sehenswür-

130 Hessel 1932: 49. 131 Vgl.: Neumeyer 1999: 306. 132 Es umfasst in etwa ein Drittel des Gesamtumfanges von „Ein Flaneur in Berlin“. 133 Hessel 1984 (1929): 74. 134 „Heimliches Berlin“ lautet auch ein Roman Hessels, der sich eben jener Streifzüge durch unbekannte und scheinbar unbedeutsame Gegenden dieser Stadt bedient [vgl.: Hessel, Franz [1982 (1927)]: Heimliches Berlin, Frankfurt am Main.].

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digkeit[en], die kein Reisebuch verzeichnet“135 gehören, „kann man so im Vorbeifahren nicht sehen“.136 Diese heißt es folglich zu Fuß aufzusuchen. Sie zeigen sich nur dem kundigen Auge und dem entschleunigten Gang. Die heimliche Stadt markiert damit die eigentliche Stadt, den Raum der städtischen Eigenlogiken137 und der urbanen Individualität. Das, was eine Stadt räumlich ist, wird sie aufgrund der Bezüge und Erfahrungen, die die Menschen in ihr sehen und mit ihr verbinden. Das Spezifische an einer Stadt erschließt sich damit für Hessel nicht aus den Reiseführern, die vielmehr analog zu der von de Certeau beschriebenen kartographischen Perspektive den Blick auf das tatsächlich Stattfindende verstellen. De Certeaus Fürsprache an eine Betrachtung der Alltagspraktiken, der Taktiken und Strategien im Bewegen durch eine Stadt stimmt auch Hessel zu. Im Grunde plädiert sein Flaneur für genau das gleiche, für eine Hinwendung zu den „despised everyday structures“,138 wenn er sagt: „Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang vorbehalten bleiben.“139

Im Zusammenwirken von leiblich erfassbarer Gestimmtheit und heimatlich-verhafteter Kundigkeit artikuliert sich dem aufmerksamen, entschleunigten Spaziergänger der städtische Raum in seiner atmosphärischen Dichte und Selbstbezüglichkeit. Die Leistung des einheimischen Flaneurs besteht genau darin, diese sichtbar machen zu können. Er ist damit ein kompetenter Raumaufspanner, der die atmosphärische Dichte heimatlicher Identitätsräume und mit ihnen den Grad der Ursprünglichkeit urbaner Plätze narrativ entfaltet. Mit Löw gesprochen, ist er somit in der Lage, die „eigenlogi-

135 Hessel 1984 (1929): 102. 136 Ebenda: 128. 137 „Mit Eigenlogik sind die verborgenen Strukturen der Städte als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnkonstitution gemeint.“ (Löw 2008: 19.) 138 Leslie 2002: 62. 139 Hessel 1984 (1929): 120.

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sche[n] Strukturen einer Stadt aus ortsbezogenen Praktiken“140 zu rekonstruieren und damit das spezifisch Lokale, ihre heimlichen und doch eigentlichen urbanen Räume sichtbar werden zu lassen. Erzähltechnisch lassen sich hier deutliche Rückschlüsse zur vorsokratischen, antiken Philosophie ziehen, die den „Vorgang des Sehens als Modell für das Erkennen“141 proklamierte. Dieser Prozess vollzieht sich bei Hessel als ein dezidiert genussvoller.142 Das kann deshalb gelingen, weil sich für den einheimischen Flaneur, dem die durchstreiften Orte heimatlich angeeignete und damit erlebnishaft vertraute Orte sind, das Wohnen auch bewusst im öffentlichen Raum wider einer „ängstlichen Versteifung im Gehäuse“143 vollzieht. Er reflektiert über das flanerische Raumaufspannen zugleich sein Inkarniertsein in die Plätze vor seiner eigenen Haustür. Dieses erhält seine Signifikanz durch eine „besondre Innigkeit des Verhältnisses […], mit der etwas Seelisches oder Geistiges in etwas Räumlichem gewissermaßen eingeschmolzen ist.“144 Erst durch die Verbundenheit mit dem Ort und das Ablegen der Fremdheit kann dieser dem Flaneur zu einem heimatlichen Raum werden, von dem er sich getragen fühlen kann.145 Auf diese Weise wird die Straße zu einer Wohnung für den Flaneur und „he is as much at home among the façades of houses as a citizen is in his four walls.“146 Doch anstatt sich, wie bei Scheffler und Eloesser der Fall, vor allem in der Rückschau auf Gewesenes buchstäblich zu ergehen, synthetisiert

140 Löw 2008: 30. 141 Luther, Wilhelm (1966): Wahrheit, Licht und Erkenntnis in der griechischen Philosophie bis Demokrit. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 10, S. 13. 142 Köhn bezeichnet in seinen Ausführungen das Flanieren bei Hessel als eine „erzählende[…] Lehre des Genusses“ und verweist hiermit auf die bewusste Verarbeitung der sinnlichen Affizierungsmomente als Kernprozess der flanerischen Narration und Raumaufspannung (Köhn 1989: 176.). 143 Bollnow 2004 (1963): 309. 144 Ebenda: 281. 145 Das Bewohnen wird für Bollnow erst dann möglich, wenn „der Mensch sich ursprünglich nicht als ein Fremder im Raum als in einem ihm fremden Element befindet, sondern sich mit ihm verbunden, mit dem Raum verschmolzen und so von ihm getragen fühlt.“ (ebenda: 303.) 146 Benjamin, Walter (2006): The writer of modern life: essays on Charles Baudelaire. Cambridge, S. 37.

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Hessels Flaneur stets Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seiner narrativen Artikulation von Raum miteinander. Dies lässt sich im Kurzprosaband ‚Ein Flaneur in Berlin‘ bereits über die Abfolge der Texte verdeutlichen. Jörg Plath konstatiert hier eine Aufteilung in einen zukunftsorientierten, gegenwarts- und vergangenheitsbezogenen Teil, der den Flaneur vor allem deshalb zum Heimatkundler werden lässt, da er als Schwellenkundiger147 „im Neuesten der gesellschaftlichen Zirkulation […] das Alte, in der Moderne die Antike“148 finde. Im Sinne Dirk Baeckers könnte man hier auch von einem Identifizieren dritter Werte sprechen, die als Ergebnisse gesellschaftlichen Wandels Rückschlüsse auf die Art und Weise der in jenem Zuge ablaufenden Transformationsprozesse zulassen. Damit konstituiert der Flaneur bei Hessel urbane Räume, in denen sich „Stadt- als Wohngeschichte und die eigene Lebensgeschichte“149 ineinander verschränken. Dieses Konglomerat an Zeit- und Bezugsebenen schafft einen synekdochisch und asyndetisch geformten Raum der Bedeutungen und Sinngewebe. Der Flaneur synthetisiert den Raum vor allem über das Nichtbeachten scheinbarer Kernaspekte der Umgebung und fokussiert stattdessen auf singuläre Marginalien. Diese Verborgenheiten und Heimlichkeiten dienen als Affizierungs- und damit als Ausgangspunkte für die ‘GedankenGänge‘ ins Charakteristische. Ihre energetische Kraft, sprich die in ihnen zirkulierende Energie, lässt das Aufspüren von latenten kulturellen Verfasstheiten möglich werden. Dem Flaneur offenbart sich im Partikularen die Narration des dahinterliegenden Relationengefüges, weil er die scheinbaren Nebensächlichkeiten zu den zentralen Größen seiner Raumaufspannung macht. So zum Beispiel auch im nachfolgenden Textauszug. Dieser entstammt dem ersten Feuilleton des Werkes ‚Ein Flaneur in Berlin‘ und trägt den Titel ‚Der Verdächtige‘:150

147 Diesen Begriff verwandte Walter Benjamin, um die spezifische Kompetenz der Hessel‫ތ‬sche Flaneurfigur zu beschreiben (Walter Benjamin zitiert in: Plath 1994: 95.). 148 Plath 1994: 101. 149 Ebenda: 104. 150 Hessel beschreibt hier die Wirkung des Flaneurs auf seine Umwelt und umgekehrt.

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„Die Fenster sind alle kahl. Nur an einem im vorletzten Stockwerk sind Gardinen, da hängt ein Vogelbauer, und wenn die Geige von Herzen schluchzt und der Leierkasten dröhnend jammert, fängt der Kanarienvogel zu schlagen an als die einzige Stimme der stumm schauenden Fensterreihen. Das ist schön.“151

Die beiläufige Situation artikuliert als Symptom die immanente Prozesslogik und schreibt sich somit induktiv als atmosphärische Gestimmtheit in die Raumbeschreibung und das mentale Bild von einer Umgebung ein. Hessels Artikulation eines Berliner Innenhofes voller monotoner, aber gleichzeitig kontemplativer Einsamkeit – einem scheinbar leeren Raum voller atmosphärischer Dichte – gelingt vor allem über die Fokussierung auf den Gegensatz von dominierender Leere der kahlen Fenster und partieller, fast schon romantisierter Belebtheit des Raumes durch den Gesang des Kanarienvogels am Fenster des einzigen bewohnten Zimmers im vorletzten Stock. Wie ein Sinnbild der Hoffnung, des flüchtigen und stillen Glücks im grauen Alltag, entfaltet sich durch die minutiöse Wahrnehmung des Flanierenden der begangene Raum als Refugium des Brüchigen. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen erzeugt Lebendigkeit und lässt genau das in Erscheinung treten, was ansonsten eher latent zwischen den Dingen und gleichsam un-fassbar scheint. Vor diesem Hintergrund ist „Wahrnehmung […] ein aktives Hervorbringen von Welt“152 und damit – mit Merleau-Ponty gesprochen – leiblich inszeniert.153 Dass dieses aktive Hervorbringen im entscheidenden Maße von der sensomotorischen Kompetenz, also unseren Bewegungen abhängt, hat schon Jean Piaget herausgefunden.154 Der Flaneur macht in diesem Zusammenhang nur allzu gut deutlich, was es heißt, wenn Maturana sagt: „Wir sehen mit unseren Beinen.“155

151 Hessel 1984 (1929): 9. 152 Baier 2000: 27. 153 Vgl.: Merleau-Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. (herausgegeben von Claude Lefort) München, S. 23f. 154 Piaget hat in diesem Zusammenhang nachgewiesen, dass Kinder ihre Welt vor allem durch die Bewegungen beim Spielen wahrnehmen. 155 Foerster, Heinz von (1992): Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen? In: Gumin, Heinz/Meier, Heinrich (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus. München, S. 76. [Heinz von Foerster nimmt hier das Zitat von Humberto Maturana auf. Für weitere Ausführungen von Maturana zu diesem

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Denn erst durch seine spezifische Form der entschleunigten, ungerichteten und ziellosen Bewegungen provoziert er permanente Wahrnehmungsänderungen, welche wiederum erst das Wahr-nehmen, Be-greifen und Verstehen der Umgebung und ihrer relationalen Bestandteile ermöglichen156 und mit der „Zeit für den Augenblick“157 die Möglichkeit zur ästhetischen Wahrnehmung eröffnen. Martin Seel beschreibt jene Form der Welterschließung als intentionsbezogen ungesteuert und zugleich erfahrungsoffen. „In einer Situation, in der ästhetische Wahrnehmung wachgerufen wird, treten wir aus einer allein funktionalen Orientierung heraus. Wir sind nicht länger darauf fixiert (oder nicht länger allein darauf fixiert), was wir in dieser Situation erkennend und handelnd erreichen können. Wir begegnen dem, was unseren Sinnen und unserer Imagination hier und jetzt entgegenkommt, um dieser Begegnung willen. Dies ist einer der Gründe dafür, warum ästhetische Aufmerksamkeit eine Form des Gewahrseins darstellt, die aus der menschlichen Lebensform nicht wegzudenken ist. Denn ohne diese Bewusstseinsmöglichkeit hätten die Menschen ein weit geringeres Gespür für die Gegenwart des Lebens.“158

In Bezug auf Karl Heinz Bohrer zeichne sich diese Wahrnehmungsweise in ihrer packenden Kraft vor allem dadurch aus, dass sie in ihrem Gegenwartsbezug159 für den Betrachtenden Lebensmöglichkeiten aufschließbar

Aspekt siehe: Maturana, Humberto (1985a): Biologie der Sprache: die Epistemologie der Realität. In: ders.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. 2. Aufl., Braunschweig, Wiesbaden, S. 236-271. und: Maturana, Humberto (1985b): Die Organisation des Lebendigen: eine Theorie der lebendigen Organisation. In: ders.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, S. 138-156.] 156 Vgl.: Feucht, Karsten (2004): „Gespräche bauen“ – Innovatives Tourismuskonzept gestaltet Landschaft. In: Jöchner, Cornelia/Wagner, Kirsten (Hrsg.): Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt. 9. Jg., Heft 1. Unter: URL: http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/wolke/ deu/Themen/041/Feucht/ feucht.htm#_ftn3; [Stand: 14.02.2011; 13:34 Uhr]. 157 Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. München, Wien, S. 44. 158 Ebenda: 44f. 159 Vgl.: Bohrer, Karl Heinz (1994): Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt am Main.

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mache, was im Wesentlichen dem Aspekt der Hoffnung bei Massumi entspricht, welche sich durch das situative Affizierungspotenzial des Betrachteten bei Betrachtenden einstelle160 und sich in einem „Gebanntsein durch und eine[r] Konzentration auf das Erscheinende“161 äußere. „Ästhetische Wahrnehmung ist [damit; Anm. SMG] ein Spiel, das wir spielen und das mit uns gespielt wird.“162 Das literarische Flanieren als Form der ästhetischen Wahrnehmung zu definieren, ist somit vor allem deshalb möglich, weil auch hier der Prozess der Erscheinungen der hergestellten Welt auf den Betrachter als sinnlicher Wahrnehmungsvorgang163 narrativ entfaltet wird. Außerdem ist die ästhetische Wahrnehmung des einheimischen Flaneurs in hohem Maße korresponsiv, das heißt, an die individuelle Lebenssituation und die gemachten Erfahrungen des Betrachters gebunden.164 Beides verbindet sich in der Betrachtung zu einer Einheit, in der die Anteile zwischen lebenssituativ und gegenwartsorientiert je nach Affizierungskraft der Elemente in einer Umgebung variieren. Das entschleunigte Memorieren kann damit als ein wahrnehmendes Nachspüren dessen verstanden werden, „wie es ist, oder wie es war, oder wie es sein könnte, hier und jetzt, da und dort (gewesen) zu sein.“165 Ferner treibt der entschleunigte Bewegungsmodus, welcher „in Opposition zu seiner Umgebung und ihren kapitalistischen Prinzipien“166 steht, die Wahrnehmung des flanierenden Einheimischen vor allem deshalb an, weil er dem gewohnten Bewegungsbild der übrigen Stadtmenschen widerspricht und so die entrückte, ästhetische Erscheinung ihrer automatisierten Ab-Läufe erst möglich macht. „Die hurtigen, straffen Großstadtmädchen mit den unersättlich offenen Mündern werden ungehalten, wenn meine Blicke sich des längeren auf ihren segelnden Schultern und schwebenden Wangen niederlassen. Nicht als ob sie überhaupt etwas dage-

160 Vgl.: Massumi 2010: 27. 161 Seel 2000: 65. 162 Ebenda. 163 Vgl.: ebenda: 147. 164 Vgl.: ebenda: 153f. 165 Potdevin, Arndt (1998): Franz Hessel und die Neue Sachlichkeit. In: Sprengel, Peter (Hrsg.): Berlin-Flaneure. Stadt-Lektüren in Roman und Feuilleton 19101930. Berlin, S. 106. 166 Ebenda.

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gen hätten, angesehen zu werden. Aber dieser Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie.“167

Der einheimische Flaneur ist damit ein Raumaufspanner mit der von Sartre begrifflich gefassten ‚engagierten Erkenntnis‘,168 die als situationsbezogene und subjektdeterminierte Erschließungsweise auch synonym gesetzt werden kann mit Louis de Broglies Begriff des ‚Beobachters‘, der die Erfahrung mit der situativen Begrenztheit „als die Wahl eines Bezugspunktes zur Welt“169 verbindet.170 Dem Hessel‫ތ‬schen Flaneur ist in seiner Oppositionshaltung zum Geschwindigkeits- und Konsumleben damit das genussvolle Sein wichtiger als das flüchtige Haben.171 Getreu dem Motto „Genieße froh, was Du nicht hast“172 ist es die Freude am Aufspannen eines leiblichen Erfahrungsraumes, die Motor und Triebfeder seiner Streifzüge durch die Straßen ist. Diese Markanz in der Raumaufspannung lässt gleichzeitig zwei zentrale Rückschlüsse auf den urbanen Beheimatungsprozess in seiner Komplexität zu. Mit Löw gesprochen, synthetisiert der Hessel‫ތ‬sche Flaneur Räume über zwei Affizierungs- bzw. Wahrnehmungstaktiken,173 die aus der

167 Hessel 1984 (1929): 7. 168 Vgl.: Sartre, Jean-Paul (1993): Das Sein und das Nichts. 10. Auflage, Hamburg, S. 547. 169 Ebenda: 162. 170 Vgl.: Dandyk, Alfred (2002): Unaufrichtigkeit: die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte. Würzburg, S. 162. 171 Vgl. zur Differenz von Haben und Sein: Fromm 2009 (1979). 172 Dieser Ausspruch entstammt einer der Hauptfiguren des Hessel‫ތ‬schen Werkes ‚Heimliches Berlin‘ und steht für eine Lebensphilosophie, die das NichtBesitzen als einzige Möglichkeit für das Erleben unverbindlicher Freiheiten zum anzustrebenden Ziel macht: „Das Leben ist überall für dich da, gratis zu jeder Tageszeit, nur laß dich nicht ein, genieße alles, besitze nichts, Besitz beraubt.“ [Hessel 1982 (1927): 100.] 173 In der breiten Forschungsliteratur zur Flaneurfigur des Franz Hessel finden sich die hier explizierten narrativen Techniken und Topoi neben weiteren bereits ausführlich dargelegt. Aus diesem Grund und in Anbetracht des inhaltlichen Fokus dieser Arbeit soll hier nur das für die hiesigen Ausführungen wichtige herausgearbeitet und für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema auf

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senso-psycho-physischen Tertiärstruktur seiner reisenden Bewegung entspringen: Zum einen über die Verbindung unterschiedlicher Zeitebenen und zum anderen über die Fokussierung auf Singularitäten. Gerade die von Geschwindigkeit und Veränderung geprägte Stadt ist in ihrer Prozesshaftigkeit voller Affizierungen für ihn. Das Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart fasziniert den Flaneur und motiviert seine Wahrnehmungsschule. Bei Eva Banchelli wird diese urbane Zeitvermischung wie folgt beschrieben: „In der städtischen Zeit bewegt es sich wie in einem mehrschichtigen simultanen Raum: das Heute überlagert das Gestern, Spuren der Vergangenheit ragen vielfältig in die Oberfläche des Gegenwärtigen hinein und werfen das Licht der Vergänglichkeit auf eine Jetzt-Zeit, die ihrerseits ständig im Begriff ist, von der Zukunft eingeholt zu werden.“174

Der einheimische Flaneur ist damit affiziert von zahlreichen (Zeit)Aspekten zugleich. Er ist einerseits euphorisiert vom Wandel, von der Veränderung und der rhythmischen Bewegung im Stadtbild. Andererseits stimmt es ihn nachdenklich, dass sich im Bestehenden immer auch das Abwesende symbolisch inkarniert und davon zeugt, dass auch zukünftig das Gegenwärtige vergangen sein wird. Der urbane Raum wird durch diese Zeitebenensimultanz aufgespannt und artikuliert. Der Verdienst des Flaneurs besteht dabei vor allem in der Entfaltung jener Vielzeitigkeit. Die Dinge schauen ihn vertrauter und damit in Bezug auf ihre Vergangen- und Gewordenheit beredter an als den örtlich Fremden.175 So wundert es nicht, dass auch Hes-

folgende Werke verwiesen werden: Zauner-Schneider 2006; Opitz/Plath 1997; Plath 1994. 174 Banchelli, Eva (1997): Zwischen Erinnerung und Entdeckung. Strategien der Großstadterfahrung bei Franz Hessel. In: Opitz, Michael/Plath, Jörg (Hrsg.): Genieße froh, was du nicht hast. Der Flaneur Franz Hessel. Würzburg, S. 105f. 175 Die Orientierung Franz Hessels an Arthur Eloesser und Karl Scheffler, die ihre aus der Bewegung geschöpften Wahrnehmungen Berlins ebenso wertfrei und mit dem Ziel verfassten, Kontinuität im narrativen Modus in einer Stadt zu installieren, die sich stets im Wandel befindet, kann somit auch intentional verglichen werden [vgl.: Scheffler, Karl (1910): Berlin, ein Stadtschicksal. Berlin, S. 267.].

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sel in seinen Texten nicht selten deutlich macht, dass der entschleunigte Raumwandler seiner Feuilletonprosa in den Spuren des Stadttextes auch Spuren seiner eigenen Kindheit liest. Doch er liest hierbei nicht nur die hervorgerufene spezifische Erinnerung aus der Situation. Er thematisiert zudem die affizierende Kraft, die ihn beim gedehnten Blick auf seine Umgebung und ihre Bestandteile erfasst. Damit leben die Rückbezüge des Hessel‫ތ‬schen Flaneurs vor allem „von der in der Kindheit möglichen Erfahrung“,176 welche wiederum als umfängliche Affizierungserlebnisse dem Gestern verhaftet und im örtlichen Heute nicht mit dem flüchtigen, oberflächlichen Blick des Eilenden sichtbar sind. Die durch seine Umgebung hervorgerufene Gedankenaffizierung ist damit Teil der Hessel‫ތ‬schen Heimatkunde. Sie orientiert sich an der „Totalität des Eindrucks“177 und der narrativen Vermittlung ihrer (auch zeitlichen) Entfaltungskraft, welche für ihn am besten über „die Qualitäten der kindlichen Wahrnehmung“,178 über eine Auskostung des ersten Eindrucks, artikulierbar gemacht werden kann. So schreibt er beispielsweise: „Aquarium – da fällt mir das frühere ein, das in der Seitenstraße der Linden lag. Ein sehr alter Onkel hatte in der Nähe seine Garçonnière und nahm mich kleinen Jungen ein paarmal mit in das Haus, in dem die Tiere des Meeres wohnen. Und gerade da, wo die Tiefseefische zwischen Algen und Korallen, Tierpflanzen und Pflanzentieren des seimig quellenden Meeresgrundes schwammen, war ein Büfett für die Besucher eingerichtet. Und da aß ich mit Schauer eine unterseeische Schinkenstulle, und der Onkel trank Bier, das hinter seinem Glase wallte wie der Met, den Thorr bei den Riesen aus dem Weltmeer ausgeschenkt bekommt. Während dies alte Wassertierreich etwas Höhlenhaftes, Irrgartenähnliches hatte mit Überraschungen und Abenteuern wie das ‚Tierleben‘ seines Begründers Brehm, ist das heutige hier am Zoo ein aufrechtes, übersichtlich gegliedertes Gebäude, dessen Stockwerke ungefähr den drei Elementen Wasser, Erde und Luft entsprechen: Erdgeschoß Aquarium, erster Stock Terrarium, zweiter Insektarium.“179

176 Plath 1994: 113. 177 Potdevin 1998: 111. 178 Ebenda. 179 Hessel 1984 (1929): 140f.

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Es ist bereits angeklungen, dass das Vorhaben der Rekonstruktion einer heimatlichen Umgebung für Hessel nicht allein mit dem zumeist verklärenden Blick auf die Spuren der Vergangenheit in der gebauten Welt zu leisten ist. Vielmehr solle ergänzend auch auf die Spuren der Zukunft, auf die Indizien der aktuell stattfindenden Veränderung geschaut werden. Dies ist für Hessel immer dann umso notwendiger, wenn städtische Umstrukturierungsprozesse das urbane Bild prägen.180 In Bezug auf das Berlin der 1920er Jahre, einer konsumbezogenen und architektonischen Produktionsstätte der Moderne, trifft dies für ihn in besonderem Maße zu. Hessels Anspruch an den Flaneur, mit seiner Raumaufspannung zugleich eine Art Heimatkunde zu betreiben, lässt uns erinnern an den prozesshaften Heimatbegriff von Bausinger, verstanden als Prozess der Aktivierung zur praktischen Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Umgebung.181 Es geht hier um das Sich-Einlassen auf die Eindrücke der Umgebung. Durch das Affiziert-Werden von jenen Eindrücken eröffnet sich dem Flaneur ein Gewahrwerden der Stadt als Raum alltäglicher Lebensoptionen, in dem es erst möglich wird, sich zu verwurzeln. So ist das Assoziieren bereits gemachter Erfahrungen mit den Dingen vor Ort immer auch ein Versuch, zu überprüfen, ob diese auch heute noch oder wieder Aktivierungsmöglichkeiten zum Tätigwerden in und mit der vorgefundenen Umgebung bieten können. Damit dienen seine Streifzüge immer auch als Versuche der Herstellung von Offenheit im möglichst unmittelbaren Sich-Einlassen auf die Stadt als Ort der Veränderung und sein narratives Memorieren als Unterfangen, „sich seines Ortes in der Welt zu versichern“.182 Jörg Plath konstatiert in diesem Zusammenhang bezogen auf die Hessel‫ތ‬sche Flaneurfigur: „Wie dem Kind soll die Stadt in ihrer synthetisierten Einheit dem Flaneur “Heimat“ werden.“183 Und der gedehnte Blick ermöglicht Hessels Flaneur hierbei, seine städtische Umgebung in ihrer permanenten Bewegung als „ein riesiges Magazin von Ersten Blicken“184 zu erfassen und damit das Momenthafte in der ständigen Wandlung respektive

180 Vgl.: ebenda: 12. 181 Vgl.: Bausinger 1984: 23f. 182 Ebenda: 68. 183 Plath, Jörg (1994): Liebhaber der Großstadt: ästhetische Konzeptionen im Werk Franz Hessels. Paderborn, S. 93. 184 Banchelli 1997: 112.

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als Indikator für den Wandel des Lebens festzuhalten. Er schreibt selbst: „Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden…“185 Auf diese Weise ist es ihm möglich, die Beschaffenheit und das relationale Wesen der Elemente in seiner Gegend zu erschließen. Oder mit den Wörtern Keidels gesprochen: „Den Dingen soll Zeit gelassen werden, ihre eigene Wirkung zu entfalten, die normalerweise von der Sichtweise des Betrachters sofort kategorisiert, in ein bestehendes Muster eingeordnet wird.“186

So betreibt der Hessel‫ތ‬sche Flaneur seine Raumaufspannung über eine interessante Verbindung von atmosphärisch gestimmtem Weiteraum, der ihm Anlass und Ergebnis seiner Affizierungen ist, heimatlichem Identitätsraum als zeitlich simultane Umgebung erinnerter Erlebnisse und ihrer Erscheinungsmöglichkeiten in Gegenwart und Zukunft, sowie kommunikativem Erscheinungsraum als Ergebnis seiner narrativen Verdichtung der in Kombination von Erinnerung und erworbenem Wissen flanerisch erschlossenen Umgebung. Ganz gleich ob Hessels Flaneur per pedes oder motorisiert seine Bahnen durch seinen Wohnort, das Berlin der Jahrhundertwende, zieht, er nimmt das Partikuläre, die scheinbare Nebensächlichkeit in den Fokus seines gedehnten Blickes, studiert es en détail und tritt mit ihm in einen Dialog. Dieser Dialog vollzieht sich, wie auch bei Eloesser, zunächst über das sich unmittelbar Affizieren-Lassen gefolgt von einem assoziativrekonstruierenden Gedanken-Gang, in dem das Beobachtete, die „Ästhetik des Marginalen“187, in seiner semantischen Potenz und dem relationalen Stellenwert bezogen auf die Umgebung und den Beobachter zeitlich befragt wird und ihm im Gegenzug auch scheinbar Vergessenes über die eigene Vergangenheit und das individuelle Wesen der Umgebung wie auch der eigenen Person offenbart. Das wird deshalb möglich, weil der Flaneur geduldig ist. Er wartet ab, blendet aus und zoomt hinein in die Mikrostrukturen des Anvisierten. Der Einheimische, der durch seine Vertrautheit mit dem

185 Hessel 1984 (1929): 7. 186 Keidel 2006: 30. 187 Ebenda: 34.

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Ort einen zeitlich kundigeren Gesprächspartner für die gebaute Umgebung darstellt, und die damit verbundene ‚engagierte Erkenntnis‘ des Flaneurs in Hessels Texten sind somit weit mehr als die von Hessel selbst proklamierte rezeptive „Lektüre der Straße“.188 Sie markieren eine aktive, raumschaffende Handlung, die nicht das Rekonstruieren von Dingbedeutungen in ihrem relationalen Zusammenspiel zum Ziel hat, es aber gerade deshalb schafft, eine Umgebung als erlebten Raum narrativ zu konstituieren, weil durch den offenen Blick und die ziellose Bewegung die Elemente an einem Ort in ihrer atmosphärischen Gestimmtheit zum Sprechen und die kulturelle Gewordenheit beziehungsweise individuelle und gesellschaftliche Bedeutung jenes Stücks gebauter Welt in Erscheinung gebracht und damit weiter tradiert werden kann. Die von ihm dabei ins Visier genommenen, zumeist dinglichen Elemente werden durch die Form seiner Wahrnehmung, die das Spiel der Objekterscheinungen aufnimmt und narrativ expliziert, zu ästhetischen Gegenständen, an denen „Anschein, Vorschein, selbständiger Schein sowie Imagination und Repräsentation“189 in ihrer dinglichen Präsenz sichtbar werden. 4.1.3 Flanerisches Wahrnehmen als Heimatstiftung bei Ruth Beckermann Dass und auf welche Weise vor allem der einheimische Flaneur in der Lage ist, den Zusammenhang von Wohnen und öffentlichem Raum deutlich zu machen, haben die vorangegangenen Seiten expliziert. Die Art der flanerischen Raumaufspannung artikuliert sich jedoch nicht nur schriftlich, sondern auch filmisch. Ein Beispiel hierfür liefert uns Ruth Beckermann mit ihrem Dokumentarfilm ‚Homemad(e)‘, für den die österreichische Autorin sich im Jahre 2000 auf eine einjährige Entdeckungsreise durch ihre eigene Heimatstraße, die Marc-Aurél-Straße in Wien, machte und diese als räumlichen Mikrokosmos durch Gespräche mit den Geschäftsinhabern und Anwohnern erschließen wollte. Auch hier finden wir die zentralen Elemente des einheimischen Flaneurs wieder. So nimmt sich Beckermann auf der Spurensuche nach der Eigenlogik ihrer Straße Zeit. Sie agiert entschleunigt, hört zu und lässt die Akteure des Straßenbildes ausführlich zu Wort kom-

188 Hessel 1984 (1929): 145. 189 Seel 2000: 100.

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men. Ferner wendet sie sich auf diese Weise einem heimlichen Ort Wiens zu, der ihr zugleich heimelig ist. Diese Fokussierung auf eine Nebenstraße Wiens, die weder am Stadtrand, noch im Zentrum gelegen ist, und ihre Protagonisten rückt das Marginale, die scheinbare Alltäglichkeit, die zugleich Repräsentant der stadträumlichen Eigenlogik ist, in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Außerdem befindet sich die Marc-Aurél-Straße zur Zeit des Filmdrehs in einem signifikanten Wandel, den die Autorin selbst wie folgt beschreibt: „Ich habe ja schon 1986 in meinem Film "Die papierne Brücke" hier gedreht und damals gesagt, das Textilviertel stirbt langsam aus. Die Kinder der Eigentümer übernehmen die Geschäfte nicht mehr, sie wandern aus. Schon die ältere Generation hat sich kaum aus Wienern zusammengesetzt, das waren Osteuropäer, die nach dem Krieg hier hängen geblieben sind. Als ich den Film eingereicht habe, war nur noch ein Textilhändler übrig, der Herr Doft, und gegenüber seinem Geschäft gab es mittlerweile bereits seit 13 Jahren ein Caféhaus, von dem sogar Wolfram Siebeck schrieb, es sei ein altes Caféhaus. Es hat wohl diesen Charakter, aber eigentlich ist [sic!] ein ganz normales Wiener Café. Dort hat sich ein Biotop errichtet; heute schauen wir ja so zurück auf die legendäre Zeit des Cafehauses, jene von Peter Altenberg, Alfred Polgar, u.s.w. - aber damals sind die wahrscheinlich auch genauso da gesessen und haben Schmäh geführt wie jetzt die Elfriede Gerstl oder der Franz Schuh: Diese Mischung aus dem Caféhaus, seinen Stammgästen und eben dem letzten jüdischen Textilhändler sowie dem iranischen Besitzer eines Hotels, die wollte ich über ein Jahr hindurch filmen.“190

Auch Beckermann verfolgt somit das Ziel, über die mediale Erschließung jener Straße das Markante ihres Lebensraumes zur Zeit eines möglichen gesellschaftlichen Wendepunktes narrativ zu entfalten. Die vielen kleinen Geschichten der befragten Menschen sollen wie ein Flickenteppich zusammengenommen die in sich vielschichtige, zuweilen natürlich auch widersprüchliche Geschichte der Straße ergeben. Dabei spielt das Caféhaus eine

190 Beckermann, Ruth/Kamalzadeh, Dominik (o.J.):Reflexionen vom Fensterplatz der Weltgeschichte. Ruth Beckermann im Gespräch über homemad(e). URL: http://www.ruthbeckermann.com/texts/homemade/txt.php?lang=de; 07.03.2011; 13:45 Uhr].

[Stand:

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zentrale Rolle im Film. Für Beckermann ist es das flanerische Zentrum ihrer Studien, es ist der „wichtigste Ort“191 der Straße. „Als ich "homemad(e)" zu drehen begonnen habe, habe ich mir die Leute viel mehr in Bewegung vorgestellt - und habe dann entdeckt, dass in Wien Flanieren viel eher im Caféhaus zu sitzen bedeutet: Alles ist hier eben ein wenig statischer.“192

Sie passt ihre Bewegung, ihr offenes Herumhören und -schauen, das ziellose Spurensammeln damit den ortsspezifischen Alltagspraktiken an. Das unterscheidet sie vom Hessel‫ތ‬schen oder auch vom Eloesser‫ތ‬schen Flaneur, die sich beide durch ihr entschleunigtes Bewegen vorrangig in Oppositionshaltung zu den übrigen Fußgängern befinden. Und auch der Fokus Beckermanns ist different. So eröffnet sie ihren Film aus dem Off selbst mit den folgenden Sätzen, während die Filmaufnahmen die Geschäftigkeit auf der Marc-Aurél-Straße am Vormittag eines Wochentages einfangen und das Gesagte illustrieren: „Es gibt vieles in meiner Straße. Zwei Zeitungsredaktionen, einen Kindergarten, vier Restaurants, ein Hotel, ein Bordell, zwei Textilgeschäfte (en gros). Es gibt Kopfsteinpflaster, Bäume und Autos. Es gibt den kleinsten Kreisverkehr der Stadt, seit neuestem gibt es auch Internet- und Handygeschäfte. Es gibt viel zu viel, um alles zu zeigen und schließlich kann sich jeder vorstellen, wie so eine Straße im ältesten Teil von Wien aussieht. Was mich interessiert, sind die Menschen, die diskutieren und gestikulieren und intrigieren und studieren und einfach nur vorbeispazieren. Sie mag ich filmieren.“193

Es sind folglich die Gespräche der Menschen vor Ort, ihre eigenen Geschichten und Gedanken, die sie mit dem Ort verbinden, welche in den Mittelpunkt der Kameraflaneurin gelangen sollen. Damit verbindet der Film das raumliebende Potenzial der einzelnen Einheimischen und zeichnet so aus den verschiedenen Bedeutungshorizonten eine Motivkette von Möglichkeiten der Verwurzelung mit einem Ort. Diese ist nicht wie etwa in den Texten Eloessers oder Hessels durch die Assoziationen des Flaneurs selber

191 Beckermann, Ruth (2001): Homemad(e). Wien, timecode: 00:09:54. 192 Beckermann/Kamalzadeh (o.J.): o.S. 193 Beckermann 2001: timecode: 00:07:44-00:08:30.

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strukturiert, sondern ergibt sich durch die Ausführungen der Protagonisten in ihrer Vielfalt. Das Flanieren von Beckermann ist damit ein reines Wahrnehmen ohne eigenen kritischen Kommentar und ohne eigene Reflexion. Die unterschiedlichen Statements der Erzählenden fordern den Rezipienten in ihrer Fragmenthaftigkeit dazu auf, an den Sichtweisen der Einheimischen zu partizipieren, selbstständig Verbindungen zu ziehen und so die Eigenlogik des Raumes zu erschließen. Somit ist „die produktionsästhetische Bedeutung der Blicke und des Schauens“194 bei Beckermann mindestens ebenso stark ausgeprägt, wie dies etwa bei Wilhelm Genazino195 und seinen literarischen Flaneurfiguren der Fall ist. Die Affizierungen des Flaneurs durch die Menschen in seiner Umgebung sind beiden die Grundlage für die von ihnen konstituierten Räume. Hier zeigt sich eine Analogie zum Hessel‫ތ‬schen Flaneur. Dieser betont in seinen Ausführungen trotz seiner persönlichen Sicht stets die Varianten der Bedeutung und Impulskraft der durchstreiften Umgebung für den Menschen an sich. Häufig besonders für den heranwachsenden Menschen, das Kind. Beckermann leistet etwas ähnliches, wenngleich der Weg sich von Hessel unterscheidet. Sie lässt die zentralen Figuren der betrachteten Straße zu Wort kommen und hört sich ihre ortsbezogenen Geschichten an. Der in diesem Zusammenhang entstehende Erscheinungsraum, also das, worüber gesprochen und was dabei fokussiert und entfaltet wird, macht für Beckermann den eigentlichen Straßenraum, den energetischen Gehalt der Marc-Aurél-Straße aus. Dabei ist die gebaute Welt der Bürgersteige und Geschäfte für sie wie auch für Hessel mehr als nur Kulisse und Mittel zum Zweck. Sie ist die Form, in der sich das Erscheinungsräumliche ergießt. Sie ist Anlass für Rekapitulation und Rekonstruktionen von Veränderungen. Sie ist Zeichen des Neuen und Bewahrer von Tradition. Doch wie lässt sich dieses minutiös aufgespannte Mosaik an Raumbindungen und Verwurzelungen bei Beckermann skizzieren? Vielleicht am besten, indem man die nachfolgende Aussage eines Protagonisten des Filmes näher betrachtet.

194 Jung, Werner (2004): „Umhergehen und Zeitverschwenden“ Skizze zu einer literarischen Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Arnold, Heinz Ludwig: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 162, Wilhelm Genazino, Heft 4/2004, München, S. 66. 195 Vgl. z.B. Genazinos Romane ‚Abschaffel‘, ‚Die Liebesblödigkeit‘ oder ‚Ein Regenschirm für diesen Tag‘.

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„Die Marc-Aurél-Straße ist in einer Stadt das, was ein Dorf ist. Man könnte eine Stadt wahrscheinlich kaum aushalten. Denn städtisch zu leben, das hieße, unkonzentriert zu sein, ständig assoziativ zu sein, sich permanent entäußern zu können, ständig aufmerksam zu sein und daher gibt es in diesen Städten, die ja auch nicht mehr – um es mit einer schiefen Metapher zu sagen – die ja auch nicht mehr das Gelbe vom Ei sind, aber um diese Städte auszuhalten – das Gelbe vom Ei sind sie deshalb nicht mehr, weil die Städte nicht mehr die zentralen Metropolen der Welt darstellen. Das hat sich schon verlagert durch andere Herrschaftstechniken usw. – aber immerhin existieren die Städte noch, oder zumindest die Kulissen früherer Bedeutungen von Städten existieren noch. Und damit man das aushält, schaffen sich die Leute in allen Städten der Welt wahrscheinlich Dörfer. Und wer halt Pech hat, gehört zu keinem Dorf in der Stadt. Und wer halt Glück hat, der gehört doch zu einen Dorf.“196

Was hier vor allem zum Ausdruck kommt, ist die positive Kraft von Überschaubarkeit, von den imaginären Geographien, durch die vor allem der einheimische Flaneur von der Blasiertheit des Großstädters, hervorgerufen durch stete Reizüberflutung, abzugrenzen ist. Er versteht sich als Teil einer Quartiersgemeinschaft, welche er einerseits benötigt, um seine Straßenstudien zu betreiben, andererseits aber auch erst durch seine narrative Raumaufspannung artikulierbar macht. Dieser Orientierung sehen sich nicht nur die Texte Hessels und Eloessers, sondern auch das Filmieren Beckermanns verpflichtet. Erst in der Beredtheit der materiellen Welt kann sich Raumbindung zeigen und episodisch gerahmte Überschaubarkeit stellt hierin eine Grundbedingtheit für ästhetische Wahrnehmung und gezielte Affizierung der als Sicherheit empfundenen Beständigkeit dar. Beckermanns Reise vor die eigene Haustür ist dabei jedoch im Unterschied zu Hessel oder Eloesser weitaus politischer. So kommen bei ihr vor allem auch zentrale Motive für die Nutzung des öffentlichen Raumes zum Vorschein und mit ihnen gleichsam auch zur Sprache, dass kommunikative Erscheinungsräume, also ein Inkarniertsein in den öffentlichen Raum tägliche Arbeit und keine Selbstverständlichkeit sind. So sollte mit dem Film auch die diskursive Verhandlung eines parallel stattgefundenen politischen Umbruchs auf Regierungsebene des Landes mit dem möglichen erlebnisräumlichen Umbruch auf der Straße und im Caféhaus sowie seine Auswir-

196 Beckermann 2001: timecode 00:36:39 – 00:38:15.

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kungen auf den heimatlichen Identitätsraum gespiegelt werden. Dabei ist gerade die Wahl des Caféhauses als spezifischer Stadtraum, als prototypischer, gesellschaftlicher Großraum im Kleinen, von übergeordneter Bedeutung, stellt es doch kulturhistorisch den städtischen „Ort der Freiheit und der freien Begegnung“197 und damit einen klassischen Öffentlichkeitsraum dar. „Dieser Ort der Freiheit und der Begegnung, dessen Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft nicht oft genug unterstrichen werden kann, ist auch ein Ort der freien Diskussion, an dem grundsätzlich eine offene Gesprächssituation herrscht, und an dem sich, ebenso wie in den Salons, jedoch ohne deren Zwänge, das Gespräch um des Gesprächs willen und der Konversationsaustausch zur hauptsächlichen Aktivität entwickeln.“198

Das dortige Nebeneinander von politischen, wirtschaftlichen, poetischen und ethischen Fragen macht das Caféhaus zu einem zentralen Ort städtischer Diskurse, welchen man in Europa bereits seit dem 18. Jahrhundert zum Informieren und Informiertwerden aufsuchte. Beckermanns Wahl, sich vor allem dort die Geschichten der Anwohner der Marc-Aurél-Straße erzählen zu lassen, kann vor diesem Hintergrund als gelungene Wahl identifiziert werden, die es ermöglicht, das ‚Filmieren‘ im Ergebnis als eine teilnehmende Beobachtung und ferner als ersten Schritt auf dem Weg zu einer ‚Dichten Beschreibung‘ nach Geertz, deren Vervollständigung sympraktisch evoziert wird, d.h. von der Rezipientenbeteiligung abhängig ist, zu deuten. Das mediale Ergebnis zeigt dabei vor allem, dass sich hinter dem Raumaufspannungsprinzip des einheimischen Flaneurs nicht nur ein singuläres Ins-Benehmen-Setzen einer Person mit seiner bewohnten Umwelt verbergen muss, sondern darüber hinaus auch das Zusammentragen verschiedener lokal verortbarer Akteur-Netzwerke Aufschluss und Ansatzpunkte für die Motive und Antriebskräfte der örtlichen Verwurzelung im

197 François, Etienne (1994): Das Kaffeehaus. In: Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Orte des Alltags: Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. München, S. 113. 198 Ebenda.

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Sinne einer Erschließung der entsprechenden Lokal-Topophilie zu geben vermag.

4.2 D ER NOMADISCHE F REMDE I NTERVENTIONSFIGUR

ALS

4.2.1 Merkmale nomadischer Raumerschließung im Wandel der Zeiten „ ‚[…] [E]r soll ein luftiger Vogel sein.‘ – ‚O ja‘, sagte ich hastig‚ ein Vogel, der aus dem Käfig ausreißt, sobald er nur kann, und lustig singt, wenn er wieder in der Freiheit ist.“199

Stellt der einheimische Flaneur eine literarische Figur der Moderne dar, die sich in ihrer Existenz und Raumaufspannungsweise der Beharrlichkeit und dem Festhalten des Beständigen im Prozess des städtischen Wandels verschrieben sieht, so heißt es nun im Sinne einer Verbindung der Eliasschen Dichotomisierung von Engagement und Distanzierung seinen produktiven Gegenpart ins Visier zu nehmen. Hier kann insbesondere der Nomade als eine Figur der Innovation, der Irritation und damit als Transformationsinitiator angesehen werden. Seine Wurzeln liegen zwar weit in der Vormoderne, doch seit etwa 30 Jahren wird er darüber hinaus auch als die postmoderne Denkfigur schlechthin angesehen. Diese zweifache Verortung ist dabei vor allem bedingt durch den gesellschaftlichen Stellenwert und die Instrumentalisierung des menschlichen Mobilseins. Ursprünglich galten Nomaden als unzivilisiert und anarchisch. Sie stellten als wohnsitzlos Umherschweifende, die „sich […] jeglichem Zugriff [zu; Anm. SMG] entziehen“

199 Eichendorff, Joseph von [(1926) 1975]: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: ders.: Werke in einen Band. (herausgegeben von den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) 3. Aufl., Berlin, Weimar, S. 268.

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schienen, „für den Sesshaften eine Provokation“200 dar. Ihren Ursprung erhielt diese Sichtweise gesellschaftlich durch den Städtebau und die Nationalstaatlichkeit, welche die Bürgerfigur in ihrer örtlichen Fixiertheit und Kontrollierbarkeit hervorbrachten201 und den örtlich Ungebundenen zu einer unkalkulierbaren Gegenfigur zum gehorsamen und unterwürfigen Ortsansässigen werden ließen. Gleichzeitig erschien er in seiner Rastlosigkeit gerade auch verheißungsvoll. Jene semantische Janusköpfigkeit des Nomaden lässt sich rasch verstehen, wenn man bedenkt, dass Mobilität stets dazu diente, „sich den Zumutungen von Herrschaft und Kontrolle zu entziehen.“202 So kann er einerseits als Störfaktor in einem geregelten Umfeld wahrgenommen werden, der bestehende Grenzen unterläuft, missachtet und damit die öffentliche Ordnung stört. Andererseits zeigt er der konformen Masse durch seine Unangepasstheit ein Jenseits von Gleichartigkeit und Homogenität, was nicht zuletzt der Grund dafür ist, dass seit Jahrhunderten „das Unterwegssein und die Beweglichkeit auch massenkulturell als Gegenbild zur Kultur der Sesshaftigkeit in Anschlag gebracht werden.“203 Mit der Figur des Fremden verbinden sich somit unterschiedliche Projektionen, darunter Freund und Feind, das Eigene und das Andere sowie das Unheimliche, weil Unkalkulierbare. Der Andere kann uns in seiner differenzierenden Vielfalt damit als Spiegel zur Selbsterkenntnis, Fenster zur Welt, aber auch als dichter Nebel des Uneindeutigen erscheinen.204

200 Schroer, Markus (2006): Mobilität ohne Grenzen? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit. In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald (Hrsg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden: Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden, S. 116. 201 Vgl.: ebenda. 202 Ebenda: 117. 203 Ebenda. (Schroer verweist hier auf Homers Odyssee, den Bildungsroman oder das Road-Movie als Medienformate, welche sich dem Unterwegs-Sein als kulturellem Muster zur Thematisierung menschlicher Entwicklungsprozesse widmen.) 204 Vgl.: Bielefeld, Ulrich (2001): Exklusive Gesellschaft und inklusive Demokratie. Zur gesellschaftlichen Stellung und Problematisierung des Fremden. In: Janz, Rolf-Peter (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt am Main, S. 22.

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Und weil die technische und informationstechnologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte uns mittlerweile so ortsunabhängig wie nie zuvor gemacht hat, verbindet sich mit dem Nomaden heutzutage eine für viele von uns realisierbare Vorstellung von Flexibilität, Freiheit205 und Erfahrungsreichtum, die mittlerweile aber zugleich auch zum gesellschaftlichen Anspruch an den tätigen Menschen avanciert ist. So lassen sich beispielsweise Baumans These des chronischen Unterwegs-Seins in der Postmoderne206 und Schroers Postulierung eines gesellschaftlichen Übergangs „von einer sesshaften in eine nomadische bzw. neonomadische Ära“207 als Äußerungen vor jenem beschriebenen Hintergrund verstehen. Der nomadische Weltenbummler, der sich durch sein Umtreiben im steten Prozess des Erfahrungen-Sammelns208 befindet, lässt den Stubenhocker, den örtlich Fixierten, dabei zunehmend „als in seinen Erfahrungsmöglichkeiten eingeschränkt, langweilig und auch ein wenig tumb“209 erscheinen. Bedenkt man dabei auch, dass zu einem der grundlegenden Merkmale des Nomaden das Umgehen mit den „Gegebenheiten zyklischer Opportunitäten“210 zählt, welche er als Figur des gelebten Wandels nicht nur nutzt, sondern gleichsam durch sein Tun evoziert, dann lässt sich schnell nachvollziehen, dass jene Geh-Figur auch als Bildungsfigur angesehen werden kann. Damit ist der Nomade in der aktuellen Diskussion, folgt man Schroer, „zur positiv besetzten Leitfigur einer Gesellschaft avanciert, in der Mobilität als einer

205 Der facettenreiche Aspekt der Freiheit wird hier als zentrales Motiv des Menschen bedient und an räumliche Ungebundenheit geknüpft (vgl.: Zschocke, Martina (2005): Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland. Würzburg, S. 35.). 206 Vgl.: Bauman 1997: 397. 207 Schroer 2006: 115. 208 Zschocke spricht hier im Detail von einem Gefühlesammeln, welches als Folge einer „hedonistisch orientierte[n] Gesellschaft“ den Menschen zu Erfahrungskonsumenten macht, die sich und die Welt vielfältig und ohne Festlegungszwang erleben wollen (Zschocke 2005: 36). 209 Schroer 2006: 115. 210 Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald/Schnettler, Bernt (2006): Unterwegs-Sein – zur Einleitung. In: In: Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald (Hrsg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden: Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden, S. 11.

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der höchsten Werte gehandelt wird und das Mobilsein zu einer sozialen Norm geworden ist.“211 So attestiert Karl Schlögel beispielsweise in Beerbung der Ausführungen Villém Flussers den Migranten in einer Gesellschaft eine grundlegend wichtige Entwicklungsfunktion, die sie auf das gesamte soziale Gefüge ausüben, in dem sie sich bewegen. Sie seien die Pioniere des Neuen, die Vorhut einer zukünftigen Selbstverständlichkeit, „die Avantgarde der Innovation“.212 Das Nomadische erhält hier seine spezifische Wertigkeit in Bezug auf die Varianz der Eindrücke, die der Sesshafte so nicht mitbringen kann, aber auch bezogen auf das Unkonventionelle im Handeln, was sich durch die gesammelten Alternativen im (Re-)Agieren speist. Sie lassen den Nomaden durch seine ureigene Distanz im Blick zu einem kompetenten Problemlöser in Situationen werden, die für den Einheimischen eingefahren ritualisiert und nicht veränderbar erscheinen.213 Der Nomade bewegt sich folglich anders durch einen Ort als der einheimische Flaneur. Raum organisiert er vornehmlich als glatten Raum im Deleuze‫ތ‬schen Sinne.214 Auch er ist ein subversiver Taktiker, doch stehen bei ihm nicht die bewegungsbezogenen Aspekte der Be- und Entschleunigung im Sinne einer erfahrungsbehafteten Synthetisierung des Raumes im Mittelpunkt, sondern das Spiel mit dem Vorhandenen im Sinne eines unkonventionellen Spacings im für andere vordeterminierten Raum. Er entzieht sich damit auch dem Fluss, den alltäglichen und eingespielten Vor-Gängen, indem sein Blick auf das Andere fokussiert oder Bestehendes neu miteinander zusammengebracht wird. Kurzum: Den Nomaden affizieren die Dinge anders als den einheimischen Flaneur, da er in der Regel nicht der kultürlichen Gemeinschaft des Ortes angehört, an dem er sich temporär aufhält.

211 Schroer 2006: 118. 212 Schlögel, Karl (2005): Nomadentum als Chance. Agenten der Modernisierung. URL:

http://www.dradio.de/dlr/sendungen/feuilleton/346094/;

09.03.2011;

17.26 Uhr. 213 Hier kann auf die Geschichte Edgar Allen Poes der ‚Fischer im Mahlstrom‘ verwiesen werden, in der es ebenso um die Notwendigkeit von Distanz für ein gewinnbringendes Engagement geht. Norbert Elias greift diese Dichotomie ebenso wie jene Geschichte in seinem Werk ‚Engagement und Distanzierung‘ auf (vgl.: Elias 2003). 214 Zu den Merkmalen und dem Verhältnis von glattem und gekerbtem Raum siehe Abschnitt 3.3.1 dieser Arbeit bzw. vgl.: Deleuze/Guattari 1996: 657-693.

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Sein Spacing ist folglich nicht per se den ausgesprochen oder latent geltenden Regeln verhaftet und kann daher auch als subversiv respektive subkulturell beschrieben werden, da er mit den Konventionsregeln bricht, indem er sie überformt. Gerade diese interventionistische Kraft lässt Neujustierungen zu, sie evoziert auch bei Einheimischen neue Wahrnehmungen und Ein-Sichten und macht ein differentes Synthetisieren möglich. Der distanzierte Blick auf etwas,215 die fremde Wahrnehmung und daraus entstehende Handlungen evozieren und initiieren Irritationen für die Reflexion von ritualisierten Handlungsabläufen und konventionellen Spacings bei den einheimischen Akteuren. Ihre Aufmerksamkeit wird durch das nomadische Gegenspacing verschoben respektive neu konfiguriert, denn für den umherstreifenden Fremden ist der vorgefundene Ort Spielraum und das Tätigsein in ihm ein Erfahren von Wirksamkeit immer im Wissen um die eigene Nicht-Verwurzelung. In diesem Sinne lässt er sich durch seine subversive Aktionalität und den unkonventionellen Blick auch als Entwicklungshelfer wider eingefahrene alltägliche Spacing- und Synthetisierungsprozesse begreifen. Dabei operiert er analog zum Flaneur, wenn auch etwas anders strukturiert, im Modus der ästhetischen Wahrnehmung, welche sein Synthetisieren speist. Und sein interventionistisches Eingreifen lässt sich als solches auch reformulieren, denn – mit Seel gesprochen – sind „das erste, was zusammenbricht, wenn wir unser Leben ändern (müssen), die alten ästhetischen Korrespondenzen“.216 So knüpfen seine verändernden Eingriffe zwar ganz realweltlich an den Anordnungen der sozialen Güter einer Umgebung an, verstehen sich jedoch im Wesentlichen als eine Transformation der mit jener Anordnung verbundenen atmosphärischen Verheißung, denn „[i]mmer zeigt sich das Atmosphärische […] aus einer Korrespondenz zwischen – längerfristigen oder augenblicklichen – Lebensvorstellungen und Lebenserwartungen und dem, wie eine Situation – längerfristig oder augen-

215 Wolfgang Ullrich beschreibt den Blick und seine Priorisierung in Beerbung der von Lessing in seinem Werk ‚Emilia Galotti‘ vollzogenen Ausführungen zum künstlerischen Genie als das entscheidende Charakteristikum, durch welches sich der ästhetisch Schaffende „von anderen Menschen unterscheidet.“ [Ullrich, Wolfgang (2005): Ohne Hände und auf kurzem Weg: Wie aus Künstlern „Cultural Hacker“ werden. In: Düllo, Thomas/Liebl, Franz (Hrsg.): Cultural Hacking. Kunst des Strategischen Handelns. Wien, S. 333] 216 Seel, Martin (1991): Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main, S. 241.

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blicklich – im Licht dieser Dispositionen erscheint.“.217 Damit vollzieht sich der nomadische Raumschaffungsprozess nicht selten tatsächlich als ein Gegenspacing zum Vormodell, welches an den atmosphärischen Korrespondenzen ansetzt und versucht diese durch eine Verschiebung bisheriger Relationen zu verändern. Realweltliche Entsprechungen dieser subversiven Inkarniertheit in den öffentlichen Raum lassen sich beispielsweise in der Subkultur des Punks und ihren stilisierten Spacingprozessen finden. So verschwimmen hier die Differenzen von öffentlich und privat218 – die Wohnung wird zur Straße, zum öffentlichen Platz,219 während auf der anderen Seite die Straße zum Wohnzimmer umgenutzt wird. Die Praktizierung dieses erweiterten Wohnens geht einher mit einer multifunktionalen Nutzung von Dingen, die auch und gerade entgegen ihres Ursprungszwecks dekontextualisiert eingesetzt werden. So versteht sich die Anordnung der sozialen Güter durch den Punk als Spiel mit kulturellen Bedeutungszuschreibungen und gesellschaftlichen Regelbrüchen sowie als Evozierung des Schocks der Norm-Abweichung, welches Scheuring wie folgt in seiner pionierhaften Aktualität zusammenfasst: „Das Eigentümliche des Punk lag darin, all diese Elemente verschiedener Herkunft [z.B. zerrissene Kleidung und Sicherheitsnadeln, Ketten, und nietenbesetzte Lederjacken] – letztendlich in einer Weise, die man heute ‘postmodern‘ nennt – aus ihrem Zusammenhang zu reißen und aufsehenerregend neu zu kombinieren.“220

217 Seel 2000: 153f. 218 was bereits deutlich wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Hausbesetzerbewegung in Berlin Kreuzberg Ende der 1970er Jahre als Beginn der Punkszene verhandelt wird. 219 Vgl.: Andritzki, Michael (1999): Balance zwischen Heim und Welt. Wohnweisen und Lebensstile von 1945 bis heute. In: Flagge, Ingeborg (Hrsg.): Geschichte des Wohnens. Teil 5: Von 1945 bis heute: Aufbau – Neubau – Umbau. Stuttgart, S. 654ff. 220 Scheuring, Dirk (1986): Warum John Travolta recht hatte. Überleben … Verzeihung! … Über Leben und Sterben der Jugendmode. In: Bucher, Willi/Pohl, Klaus (Hrsg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert. Darmstadt/ Neuwied, S. 157.

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Ein weiteres Feld, welches in ebenjenem Sinne als Spielwiese des Gegenspacings gedeutet werden kann, sind die subversiven Kommunikationstaktiken von Street Artists. Ihr Eingreifen in den öffentlichen Raum mittels Stencils, Paste-ups, Cut-outs, Murals und anderen Ausdrucksformen kann semiotisch gesehen als interventiver Beitrag respektive kritische Stellungnahme zu den geltenden Regeln und gesellschaftlichen Praxen städtischer Räume und gesellschaftlicher Machtgefüge verstanden werden, welche auf Missstände und Alternativen aufmerksam machen möchte, nicht selten aber auch vornehmlich einer aufmerksamkeitsstiftenden Selbstdarstellung der entsprechenden Künstler dienen soll.221 Ein solches Platzieren von Aussagen, die die Selbstverständlichkeit städtischer Abläufe und Zugehörigkeiten interrupieren, lässt das „ungebundene[…], kreative[…] Potenzial“222 der betroffenen Orte aufscheinen und Street Art somit als politisierenden Blicköffner für den ansonsten unkritischen Blick des in die Selbstverständlichkeit von alltäglichen Handlungsroutinen verstrickten Raumdurchschreiters avancieren, denn „[d]ie Beweggründe von StreetArtisten für ihr Schaffen beziehen sich auf Medienkritik, Konsumkritik oder politische Interessen.“223 So bietet dieses künstlerische Aktions- und Kommunikationsform – mit Kai Jakob gesprochen – eine Alternative zu den Überzeugungen und Systemlogiken, welche „die Mainstreamkultur dem Bürger aufzwingen will“224 und verliert damit vor dem Hintergrund ihrer Raumschaffungspotenz auch den zuweilen von der öffentlichen Hand betonten negativen Beigeschmack des Zweckentfremdens von Häuserwänden, Straßenschildern und Bordsteinen zugunsten einer Schaffung von Urbanität durch die bewusste Artikulation einer Alternative und der damit verbundenen Konstitution kommunikativer Erscheinungsräume. Ist der einheimische Flaneur durch seine Raumaufspannungen rezeptiv und erinnernd in der Lage, städtische Eigenlogiken zu rekonstruieren, so interveniert der nomadische Fremde somit in ebendiese (pro)aktiv und impul-

221 Vgl.: Jakob, Kai (2009): Street Art. Kreativer Aufstand einer Zeichenkultur im urbanen Zwischenraum. In: Geschke, Sandra Maria (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden, S. 89. 222 Jakob, Kai (2008): Street Art in Berlin. 2. Aufl., Berlin, S. 13. 223 Jakob 2009: 88. 224 Ebenda.

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siv. Dies hat zur Folge, dass er über die Form seiner Raumaufspannung die narrative Figur der Tradierung von Lebendigkeit und Veränderung darstellt, während der einheimische Flaneur als Figur der Tradierung von Beständigkeit seinen narrativen Gegenpart markiert. Hilft die Figur des einheimischen Flaneurs dabei, das von Bollnow für das Wohnen als zentral beschriebene Inkarniertsein in etwas respektive die Bachelardsche Raumliebe transparent zu machen, so stellt das nomadische Narrativ vor allem ein Modell für das Bollnow‫ތ‬sche Bewohnen des öffentlichen Raumes dar, da es die Furcht vor dem Unbekannten nicht besitzt. Die fruchtbringende Interdependenz beider Narrative tritt nun offensichtlich zutage: Der einheimische Flaneur benötigt das Unbekannte, Neue und Irritierende, um das Vertraute zu erinnern und wertzuschätzen und der nomadische Fremde irritiert erst inmitten von selbstverständlichen Abläufen, die durch sein Intervenieren für den Routinierten aus ihrer zumeist unreflektierten Existenz sichtbar und damit konstruktiv bearbeitbar gemacht werden können. Beide Narrative führen uns in ihrer jeweils fokussierten Raumaufspannung das vor Augen, was Massumi mit der Idee des „Laufens als kontrolliertes Fallen“225 anspricht: „Man bewegt sich vorwärts, indem man mit den Beschränkungen spielt, nicht indem man sie vermeidet. Es gibt eine Offenheit in der Bewegung, auch wenn man den Beschränkungen nicht entkommen kann.“226 Will sagen, es kommt auf die Balance an, in der den Verwurzelungen und Innovationen in Städten wortwörtlich Raum gegeben wird. Oder mit Zukin gesprochen: „Reinventing authenticity begins with creating an image to connect an aesthetic view of origins and a social view of new beginnings.“227

Die Erkenntnis, dass unsere Räume ihren Bindungscharakter aus genau dieser Spannung von Verwurzelung und Beflügelung, von Beständigkeit und Innovation, von Vertrautheit und Fremdartigkeiten erhalten, markiert gleichsam eine Grundbedingung für Urbanität, denn „[s]tädtische Öffentlichkeit kann nur entstehen, wo das Fremde, das Unerwartete und sogar das

225 Massumi 2010: 35. 226 Ebenda. 227 Zukin 2010: 234.

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Spektakuläre und Abenteuerliche zur Selbstverständlichkeit gehört“228 und es dennoch möglich bleibt, die Gewordenheiten des spezifischen kulturellen Raumes in ihren Erscheinungsweisen in der alltäglichen Lebenspraxis lebendig zu halten. Diese Verbindung, welche bereits von den Griechen in der Antike als solche erkannt wurde,229 erzeuge, so Zukin, ein Gefühl städtischer Authentizität und mit ihm auch den besonderen, individuellen Reiz urbaner Gegenden, denn „authenticity begins as an aesthetic category”230. Dies wiederum bedeutet vor allem, dass urbane Authentizität an ihr sinnliches aber auch an ihr atmosphärisches Erscheinen geknüpft ist. Mit Martin Seel gesprochen, nehmen Lebensumgebungen und Lebensverhältnisse durch sinnlich erfassbare Objektivierungen, wie beispielsweise eine bestimmte Architektur, Kleidung, Gestik, Straßenbeläge, musikalische Klänge oder Gerüche, „einen Charakter an, der an ihnen nicht allein zur Erscheinung kommt, sondern den sie allein in dieser Fülle ihres Erscheinens haben. Das bloße Erscheinen verwandelt sich hierbei in ein atmosphärisch artikuliertes Erscheinen“,231 welches sich „als ein sinnlich-emotionales Gewahrsein existentieller Korrespondenzen“232 verstehen lässt. Es gibt folglich zwei Möglichkeiten, eine Atmosphäre spürbar zu erleben: Einmal in ihrer affizierenden Kraft, also in der unmittelbaren Wirkung auf den Betrachten-

228 Feldtkeller 1995: 61. 229 Vgl.: Blok, Josine H.: Fremde Frauen als Gegenbilder. Über die Amazonen. In: Janz, Rolf-Peter (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt am Main, S. 84-106. Der Aufsatz beschäftigt sich mit den griechischen Stadtmythen, die davon erzählen, „daß die griechischen Neuankömmlinge die lokale Bevölkerung nicht unterwerfen, sondern deren Identität respektieren. Diese wird von einer mit der Region zwar verbundenen Amazone repräsentiert, die aber als Fremde einst selbst „von woanders“ gekommen war. Als eine den Männern ebenbürtige Frau vermag sie aber zugleich auch die griechische Poliswelt zu repräsentieren. So lassen die amazonischen Stadtmythen erkennen, daß die nichtgriechische Bevölkerung als fremd wahrgenommen, zugleich aber als unverzichtbarer Teil des Eigenen anerkannt wird“. [Janz, Rolf-Peter (2001): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt am Main, S. 12.] 230 Zukin 2010: 244. 231 Seel 2000: 152. 232 Ebenda: 153.

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den oder aber in der bewussten Wahrnehmung der Relationen in ihrer affizierenden Wirkung. Ersteres vielleicht eher eine Form des Erfahrens primitiver Gegenwart, während letzteres der entfalteten Gegenwart im Sinne einer reflektierten Sicht auf ein wirkungsvolles oder aber auch wirkungsloses Setting entsprechen könnte. Der nomadische Fremde ist, wie auch der einheimische Flaneur, in der Lage, beide Wahrnehmungsweisen konstruktiv miteinander zu verbinden. Affiziert von den Elementen in ihrer Umgebung, wird ihre Wirkung von beiden Figuren zugleich artikulierbar gemacht und so eine Kalkulierbarkeit jener zunächst vermeintlich nicht steuerbaren atmosphärischen Gestimmtheit erzeugt. Dieses Sichtbarmachen der Erscheinungsweisen von urbanen Spacings lässt ihre Vorgehensweise zu gewinnbringenden Strategien einer raumbindungsstärkenden Stadtplanung avancieren und sie selbst damit zu kompetenten narrativen Figuren der Raumaufspannung im Sinne von Figurationen des konfigurativen Raumschaffens weit über ihr taktisches Potenzial werden. Während der einheimische Flaneur hierzu die BeSINNungsstrategie des Erinnerns und Tradierens im Sinne eines „aesthetic view of origins“233 zurate zieht, setzt der nomadische Fremde eher an den sozialen Gefügen einer Umgebung an – dem von Zukin als „social view of new beginnings“234 beschriebenen Aspekt bei der Erhaltung und Schaffung urbaner Authentizität. Hier geht es vor allem um die Aktivierung von Menschen und die Auseinandersetzung mit ihren Bedürfnissen im Sinne einer gesteuerten Bewahrung sozialer Vielfalt respektive des Arendtschen Handelns und Sprechens, denn städtische Authentizität ist laut Zukin nur dann gewährleistet, wenn urbane Räume politische Orte der Pluralität sein können. „[W]e cannot limit our efforts to buildings; we must reach a new understanding of the authentic city in terms of people. Authenticity is nearly always used as a level of cultural power for a group to claim space and take it away from others without direct confrontation, with the help of the state and elected officials and the persuasion of the media and consumer culture. We can turn this lever in the direction of democracy, however, by creating new forms of public-private stewardship that gives residents, workers, and small business owners, as well as buildings and districts, a right

233 Zukin 2010: 234. 234 Ebenda.

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to put down roots and remain in place. This would strike a balance between a city’s origins and its new beginnings; this would restore a city’s soul.”235

Erinnern wir uns zurück, dass das Wohnen als komplexe Aufgabe des Menschen sich über drei Raumschaffungsweisen realisieren lässt, so richtet sich der Fokus hier verstärkt auf den dritten Typ der relationalen Raumkonstitution, der Schaffung kommunikativer Erscheinungsräume auf der Basis der Pluralität in und zwischen den Menschen und damit die Möglichkeit, gezielt Neuanfänge machen zu können.236 Der Nomade evoziert, in diesem Dienst stehend, als raumaufspannendes Narrativ situative Begegnungen mit dem Anderen respektive dem Neuen. Er ermöglicht über die Erfahrung von Differenz und Ähnlichkeit, von Fremdheit und Vertrautheit das Erlebnis von Öffentlichkeit. In diesem Sinne kann er in Teilen auch mit dem von Sennett beschriebenen Public Man237 verglichen werden, dessen Performance sich an der Symbolik des Theaters238 als für alle Städter lesbaren Code orientiert, um etwas oder jemanden (z.B. sich selbst) darzustellen respektive in Szene zu setzen. Wird für den einheimischen Flaneur die Straße zu einem offenen Buch mit den unterschiedlichsten Texturen, aus denen man eigene Erfahrungen und Erinnerungen herauslesen kann, so stellen städtische Orte für den nomadischen Fremden Kulissen dar, die als Bühnen bespielt und auf diese Weise in ihrer atmosphärischen Erscheinung räumlich konstituiert werden können. Der Aspekt des Spiels erlangt hierbei eine herausragende Wichtigkeit, stellt es doch nach Huizinga diejenige kulturdeterminierende Aktionsweise des Menschen mit der höchsten Affizierungskraft für Spieler und Zuschauer gleichermaßen dar.239 Dieser spielerische Umgang mit dem Neuen, mit unbekannten Gegebenheiten und Regeln, ergibt sich beim Nomaden, wie bereits erwähnt, zunächst auf der Basis sei-

235 Zukin 2010: 246. 236 Vgl.: Arendt [1981 (1958)]: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München , S. 166f. 237 Vgl.: Sennett, Richard [1986 (1977)]: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, S. 224f. 238 Hier verwendet Sennett den Begriff des „theatrum mundi“ (Sennett 1998: 92). 239 Vgl.: Huizinga, Johan (1956): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek, S. 50. sowie: Pfaller, Robert (2002): Die Illusion der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt am Main, S. 93.

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nes distanzierten Blickes und einer damit häufig einhergehenden Unbelastetheit bezogen auf die Verfasstheit der gesellschaftlichen Räume, in die er sich hineinbewegt. Anders formuliert: Für ihn kann sich die vorgefundene Welt noch als Spielraum zur (Selbst-)Erfahrung darstellen, während sie dem Einheimischen in seiner Involviertheit im Korsett des terminierten Alltags zumeist als nüchterne Wirklichkeit entgegenblickt. Indem der Nomade seine Sicht auf die Umwelt spielerisch vorführt, also handelnd artikuliert, ermöglicht er dem Einheimischen jedoch eine ebensolche Distanzierung, indem er ihn entweder zum Zuschauer ober aber direkt zum Mitakteur macht. Huizinga spricht davon, dass in einem Spiel die (An)Teilnehmenden „außer sich“240 geraten können, was diese Distanzierung von einer in anderen Situationen eingenommenen Sichtweise sehr gut markiert. Damit ermöglicht es ein Sich Öffnen für andere Perspektiven, eine Horizonterweiterung und Prioritätenverschiebung – kurzum: eine Transformation gesellschaftlicher Positionierungen und kultureller Gefüge. Das (Schau-)Spiel als „Ursprung aller Kultur“241 schafft Gemeinschaft242 durch ein intensives, leibliches Erleben von Emotionen und Sozialität sowie durch die Initiierung von ästhetischer Wahrnehmung des atmosphärischen Erscheinens der Welt. In seiner Ereignishaftigkeit erzeugt es – im Schmitz‫ތ‬schen Sinne – Gefühlsräume aus der Intensität der Affizierungen, indem es Variationen relationaler Zusammenhänge erfahrbar macht. Jene Affizierungen beziehen sich dabei vor allem auf den Reiz des Als-ob. „Das Spiel befriedigt zum Beispiel unerfüllbare Wünsche „durch Fiktion“, insofern es solche Wünsche als befriedigt darstellt und vergessen läßt, daß diese Darstellung (und folglich auch die Befriedigung) bloß fiktiv ist.“243 Dabei ist es möglich, dass auch reale Lebenssituationen, im Lichte des Spiels wahrgenommen, ihren immersiven Reiz offenbaren und besonders stark affizieren. „Wenn jemand bloß meint, etwas wäre ein Spiel, so genügt dieses vermeintliche „Wissen“ um den Spiel-Charakter der Situation, um Begeisterung und Spielfreude aufkommen zu lassen. Das „Wissen“ kann illusorisch sein; die verkannte Wirklichkeit wird schon aufgrund der bloßen Einbildung solchen Wissens

240 Huizinga 1956: 21. 241 Vgl.: ebenda: 27ff. 242 Huizinga spricht selbst davon, dass durch das Spiel „Gemeinschaftsverbände ins Leben“ gerufen werden (ebenda: 20). 243 Pfaller 2002: 114.

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als Spiel erfahren.“244 Somit lässt sich der Spielende gerade nicht als ein oberflächlicher Spaßvogel bezeichnen, der nichts ernst nimmt, sondern vielmehr als ein engagierter Akteur identifizieren, der sich mitreißen lässt und auch andere(s) durch sein Tun in Bewegung versetzen kann.245 Implizit referiert jene Interaktion und damit aktionale Diffusion zwischen den mentalen Modellen der Einheimischen und der Fremden auf die Leitdifferenz unserer Gesellschaft, nämlich die Dichotomie von ‚drinnen vs. draußen’, das moderne Paradigma des Inside-Out.246 Wenn von der Dialektik der Zugehörigkeit und Abgrenzung die Rede ist, so impliziert dies per se das Vorhandensein diverser Grenzen als Markierungshelfer jener Zweiseitigkeit. Solche Grenzen können unter anderem territorialer, sozialer, kultureller, aber auch mentaler Art sein. Ihre Einhaltungen respektive Überschreitungen regeln latent die gesellschaftlichen Spielregeln, ordnen sie doch den Akteuren entlang ihrer Bestimmungsgrößen Rollen zu, die sie im Gesamtgefüge positionieren. Da nun der Nomade wie auch der einheimische Flaneur urbane Grenzgänger sind, lohnt ein genauerer Blick auf die Spezifik der nomadischen Raumaufspannung, ihre medialen Wurzeln und ihre damit einhergehende politische Kraft, um weitere Erkenntnisse über das Potenzial der städtischen Raumbindungsstärkung durch den nomadischen Fremden zu erhalten. 4.2.2 Herkunft und Ausprägungen des Nomadischen als subversive Strategie zur Konstitution kommunikativer Erscheinungsräume Ebenso wie ihr flanerisches Pendant stellt die nomadische Raumerschließung eine mediale Artikulationsweise der Konstitution von gesellschaftlichem Raum dar. Der Flaneur wurde bereits als eine literarische Figur expliziert und auch für den Nomaden lässt sich rekonstruieren, dass er ein mediales Narrativ markiert, dessen Wurzeln jedoch wesentlich weiter zurück in die literarische Vergangenheit ragen. So erscheint der Nicht-Sesshafte als Geh-Figur in unterschiedlichen Variationen vornehmlich in narrativen Formaten wie dem Bildungsroman und 244 Ebenda: 115. 245 Vgl.: Huizinga 1956: 196. 246 Vgl.: Brüderlin 2008: 14.

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dem Road-Movie – zwei Medienformate, deren Inhalte sehr eng mit dem Aspekt der Bewegung verbunden sind. Im Bildungsroman beispielsweise geht es um ein Tätigsein einer zentralen Figur in unterschiedlichen Umgebungen. Die Thematisierung seines Wirksamwerdens an verschiedenen Settings expliziert zugleich die Entwicklung des Protagonisten und die Tatsache, dass dieser Prozess stets in Abhängigkeit zu den Umwelten geschieht, in denen er sich bewegt. Damit kann dem Bildungsroman eine „Zwischenstellung zwischen Figuren- und Raumroman“247 zugesprochen werden. Er erzählt die Entwicklung eines Protagonisten „im Vollzug der Aneignung und vielfach damit zugleich Umgestaltung einer als naturwüchsig verworfenen zu einer vernünftig geordneten sozialen Wirklichkeit“ und verbindet diesen Anspruch nicht selten mit einer „Entdeckungsreise in unbekannte oder exot. Gegenden“.248 Damit ist der Bildungsroman eine epische Form der Artikulation des Prozesses „der inneren Formung des Helden durch die kulturelle u. personale Umwelt. In der Auseinandersetzung mit der Welt entfaltet sich also der Held im Sinne einer Entelechie“,249 wobei ganz besonders der Einfluss bestehender Kulturgefüge und objektiver Kulturgüter250 auf das Individuum und seine Selbstwerdung thematisiert wird. Karl Morgenstern, auf den der Begriff ‚Bildungsroman‘ zurückgeht, formuliert die terminologische Bedeutung wie folgt: Bildungsroman „wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweytens aber auch, weil er gerade durch diese Dar-

247 Jürgen Jacobs (1972): Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München, S. 271 248 Träger, Christine (1986): Bildungsroman. In: Träger, Claus (Hrsg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Leipzig, S. 70. 249 Seidler, Herbert (1966): Bildungsroman. In: Rüdiger, Horst/ Koppen, Erwin (Hrsg.): Kleines literarisches Lexikon. 3. Sachbegriffe. 4., neu bearb. u. stark erw. Aufl., Bern, S. 51. 250 Vgl.: Wilpert, Gero von (1989): Bildungsroman. In: ders.: Sachwörterbuch der Literatur. 7., verb. u. erw. Aufl., Stuttgart, S. 103.

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stellung des Lesers Bildung, in weiterm Umfange als jede andere Art des Romans, fördert.“

251

Damit führt die narrative Entfaltung des Individuierungsprozesses zugleich das eigene Eingebundensein und damit verbundene Anpassungs- sowie Emanzipationsprozesse des Subjekts im kulturellen Raum mit seinen Objektivationen vor und macht auf diese Weise deutlich, dass individuelle, aber auch gesellschaftliche Entwicklung von ebendieser durch Bewegung gekennzeichneten Involviertheit abhängig ist. Anders herum könnte man auch formulieren: Ohne Bewegung, keine Entwicklung. Oder etwas erweiterter: Ohne Begegnung mit der Welt, keine Begegnung mit sich selbst. Auch das Road-Movie ist ein Filmgenre, das sich durch die Bewegungsweisen seiner Figuren definiert. Die Straße gerät hier – wie schon in den Feuilletontexten des einheimischen Flaneurs bei Eloesser und Hessel – zum Ausgangs- und Bezugspunkt des Plots. Natürlich stets in Bezug zu den Protagonisten, für die ihre eigene Reise ein Mittel ist, Vielfalt und Andersartigkeit zu erleben und sich damit letztlich selbst identifizieren und positionieren zu können. Damit ist sowohl der Bildungsroman als auch das RoadMovie in erster Linie ein Genre der introspektiven Begegnung mit der Welt, einer Begegnung, die Aufschluss über die innere Verfasstheit des Protagonisten geben soll. Zwar verläuft im Straßenfilm die Struktur der Handlung und der reisenden Bewegung nicht doppelzyklisch, wie dies etwa beim mittelalterlichen Artusroman oder den Irrfahrten des Odysseus der Fall ist, doch kann auch dem Road-Movie ein dominanter Erlebnischarakter zugesprochen werden, der direkte Bezüge zu den aventûren beispielsweise eines Iwein oder Êrec besitzt. Der große Unterschied hier: Während im Artusroman oder bei Odysseus die erfolgreiche Bewältigung der Abenteuer die Voraussetzung zur Rückkehr und damit Zielerreichung darstellt252, geht es im Straßenfilm zunächst einmal vorrangig um das Unterwegs-Sein an sich. Mit diesem ‚On

251 Karl Morgenstern (1820) zitiert in: Best, Otto F. [(1973) 1991]: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. überarbeitete und erweiterte Aufl., Frankfurt am Main, S. 67. 252 In der Artusforschung wird hier von der sogenannten Doppelwegstruktur gesprochen. [vgl.: Fromm, Hans: (1989): Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen, S.122.]

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the road‘-Gefühl als antreibende Verheißung lassen sich immer auch gesellschaftskulturelle Rekonstruktionen verbinden, denn aus welchem Grund und zu welchem Preis der Aufbruch geschieht, kann je nach gesellschaftlicher Lage sehr unterschiedlich sein. So findet sich beispielsweise genderbezogen in den Road-Movies der Nachkriegszeit nicht selten „der Zusammenbruch der Familie durch die Destabilisierung des männlichen Subjekts“253 thematisiert. Frauenfiguren stehen dagegen erst seit den 1990er Jahren und dabei auch noch immer äußerst selten im filmischen Mittelpunkt des Genres. Filme wie ‚Thelma und Louise‘ oder ‚Bandits‘ markieren hier zwei der wenigen Ausnahmen. Grundsätzlich speist sich die Motivation für den Aufbruch ins Ungewisse, folgt man Bernd Kiefers diesbezüglicher Zusammenfassung, aus zwei Quellen: Einmal der verklärten Sehnsucht nach Weite und einem Jenseits von heimatlicher Normalität, wie sie in der deutschen Romantik zum Tragen komme, sowie zum anderen aus dem antipodischen Wunsch zur Flucht vor einer in ihrer Permanenz erfahrenen Heimatlosigkeit, die ihre Wurzeln eher in der amerikanischen Tradition habe.254 Der nomadische Fremde wäre in dieser zweifachen Verwurzelung entweder als ein Narrativ des romantischen Individualismus oder aber als Figur des Reisenden im Sinne eines ‚American Ramblings‘255 vorstell- und identifizierbar. Schaut man sich die romantische Weitesehnsucht an, die sich stets recht eng an das Reisen in unbekannte Gefilde koppelt, so findet sie sich heute eingeschrieben als romantischer Individualismus in verschiedenen Alternativkulturen wieder.256 Beispielsweise eint die Bohème des 19. und 20. Jahr-

253 Grob, Norbert/Klein, Thomas (2006): Das wahre Leben ist anderswo … Road Movies als Genre des Aufbruchs. In: dies. (Hrsg.): Road Movies. Mainz, S. 18. und vgl.: Cohan, Steven / Hark, Ina Rae (1997): Introduction. In: dies. (Hrsg.): The Road Movie Book. London, S. 2f. 254 Vgl.: Kiefer, Bernd (2006): Die Flucht vor der Heimatlosigkeit. Sieben Zündkerzen für eine Reise durch die Vorgeschichte der Road Movies. In: Grob, Norbert/ Klein, Thomas (Hrsg.): Road Movies. Mainz, S. 40f. 255 Kiefer beschreibt die Übersetzung des Wortes ‚to ramble‘ mit: „immer auf der Flucht sein vor dem andämmernden Gefühl, keine Wurzeln schlagen zu können.“ (Kiefer 2006: 41) 256 Undine Eberlein hat in diesem Zusammenhang den Begriff des ‚romantischen Individualismus‘ geprägt, der als Sinnstiftungsqualität Identitätsbildungspro-

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hunderts und ihre Renaissance (als digitale Bohème oder Bricoleure in der fortgeschrittenen respektive ausgehenden Erlebnisgesellschaft) zur Jahrtausendwende eine „anti-institutionelle und anti-normative Haltung“, die sich vor allem „auf das persönliche Leben“257 beziehe. „Spontaneität und Unverbindlichkeit kennzeichnen die privaten Beziehungen: nichts soll sich verfestigen, alles von der Hingabe an den unmittelbaren Augenblick leben. Die Selbstfindung als Verwirklichung einer im Inneren vermuteten Wahrheit wird als unendlicher Prozeß, als eine „Reise mit unbestimmten Ziel“ vorgestellt“.258 Für den romantischen Individualisten stellt sich die Welt als „ein Terrain sozialer Experimente“259 dar, die es zu erproben gilt. Hierzu sind Veränderungen und Wandlungen notwendig und folglich essentiell in die Bewältigung sich stellender Herausforderungen einkalkuliert. Grundzüge dieser Lebenseinstellung lassen sich auf den romantischen Helden zurückführen. So wandern die reisenden Protagonisten George Gordon Byrons aus dem 19. Jahrhundert als ruhelose Gemüter umher, denen jede neue Erfahrung nur wieder Anlass zum Weiterziehen ist.260 Eichendorffs Werke, darunter seine Novelle ‚Aus dem Leben eines Taugenichts‘ oder Teile seiner Lyrik wie ‚Die zwei Gesellen‘ und ‚Der Einsiedler‘, operieren als wohl bekannteste Texte über Lebenswanderschaften und Fernweh, in denen das Reisen zugleich Freiheit und Selbsterfahrung bedeutet. Aus diesem Grund sollen die hiesigen Ausführungen zur romantischen Weitesehnsucht sich vorrangig auf Eichendorff und seine Texte in ihrer symbolischen und motivischen Gemachtheit beziehen.

zesse der Moderne und Spätmoderne beschreibbar machen soll und seine Wurzeln vor allem in der Romantik hat [vgl.: Eberlein, Undine (2000): Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt am Main.]. 257 Eberlein 2000: 286. 258 Ebenda. 259 Ebenda: 14. 260 Diese Charakteristika ließen den literarischen Prototyp des rebellischen ‚Byronic Hero‘ als Form des umherziehenden Einzelgängers entstehen, der mit dem romantischen Helden, unter anderem auch in die bildlichen Darstellungen Caspar David Friedrichs Einzug gehalten hat.

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Der besondere Reiz des Unterwegs-Seins liegt hier in der Möglichkeit „unaufhörlicher Veränderung“,261 die durch Einsamkeit und Abkehr vom Vertrauten ebenso wie durch Hinwendung zum Unbekannten und Abenteuerlust gekennzeichnet ist. In diesen Erscheinungsweisen artikuliert sich die nomadische Existenz in ihrer Einzelgängermentalität. Die gesteigerte Introvertiertheit kompensiert den vergleichsweise gering ausgeprägten sozialen Bezug zu anderen Menschen. So kommentiert auch Gerhard Bauer den Zusammenhang zwischen Mobilität und Reflexionsphilosophie im ausgeführten Sinne, wenn er schreibt: „[…] [A]uffällig ist es schon, dass die Flucht ins eigene Innere umso beliebter und umso ertragreicher wird, je weniger die Leute auf ihren Stühlen – „hinterm Ofen“, hieß es polemisch – festsaßen. In der deutschen wie der europäischen Romantik wurden komplette „Welten“ in der Phantasie oder in den unerschöpflichen Unterhaltungen der einsamen Seele mit sich selbst aufgebaut, ein bisschen unheimlich, aber umso faszinierender.“262 Der nomadische Fremde ist in diesem Zuge getragen von der Multioptionalität der Erkenntnisse. Er ergeht sich in Gedankenspielen, die von seiner physischen Bewegung gesteuert werden können und spielt dabei im Wesentlichen mit Kontingenz-Erfahrungen, welche das Aufbrechen und Neujustieren von Meinungen und Ansichten erleichtern.263 So hat er als vagabundierende Exklusionsfigur mit seiner Abkehr von der Nähe zu anderen Menschen zugleich eine Hinwendung zur Beweglichkeit seiner Gedanken und Schritte erwirkt, die in einem Auszug aus dem Gedicht ‚Der Vagabund‘ von Emma Kann wie folgt deutlich gemacht wird. „[...] Ein hoher Berg, ein grünes Feld, Ein schöner Blick sind meine Welt.

261 Binneberg, Kurt (1998): Lektürehilfen Lyrik der Romantik. Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig, S. 102. 262 Bauer, Gerhard (2007): Sesshaftigkeitsphobien und ihre unerlässliche Dialektik. In: Fähnders, Walter (Hrsg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen, S. 19. 263 Jene Neuperspektivierung von eingefahrenen Sichtweisen auf die Welt, den Anderen und sich selbst führt Gerhard Bauer auch als das Kernmotiv des Dadaismus an und macht jene Kunstrichtung damit zu einer Artikulationsform für gedankliche Beweglichkeit (vgl.: ebenda: 24.).

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Doch ein Ziel hat auch meine Fahrt: Die Freiheit, die mein Geist sich wahrt.“264

Die im vorliegenden lyrischen Text dem verwurzelten Dasein gegenübergestellte Lebensweise der Vagabondage wird vor allem aufgrund ihrer allumfassenden Bewegungsfreundlichkeit gepriesen. Als das besonders Reizvolle hervorgehoben wird dabei die im Zusammenhang mit der Agilität des Körpers hervorgerufene und in Gang gehaltene geistige Mobilität beim steten Umherwandeln durch unbekannte Gefilde. Gerade das Veränderliche wird somit zur Inspirationsquelle erhoben. In der Bejahung von Wandlung und Erneuerung zeigt sich für die Autorin somit gleichsam der Motor für Entwicklung. Oder mit Lynch gesprochen: „Eine Landschaft, in der jeder Stein eine Geschichte erzählt, macht die Erfindung neuer Geschichten schwierig.“265 Die Umtriebigkeit des Geistes ist es, die hier als wertzuschätzende und anzustrebende Qualität verlautbart und in Anhängigkeit zur sich wandelnden Umwelt dargestellt wird. An der hier beschriebenen, geistigen Freiheit lässt uns auch Eichendorff mittels verschiedener Figuren – der Taugenichts gehört hier wohl zur Bekanntesten – teilhaben. Sie begegnen uns in seinen Texten als „Einzelgänger aus einem Gemisch von Unbekümmertheit, Daseinslust und unbestimmter Sehnsucht, auch wohl von frommer Gottergebenheit, am allerwenigsten aber beseelt von bürgerlichem Fürsorgesinn oder gar sozialem Betätigungsdrang.“266 Ihre Wanderschaft, die „Abkehr von dem Gewohnten und sogar die damit verbundenen Gefahren“267 werden als entwicklungsrelevant und erstrebenswert für die Betreffenden dargestellt. Dies kommt in

264 Kann, Emma (1940): Der Vagabund. In: dies. (1998): Mnemosyne. Klagenfurt 24, S. 15. 265 Lynch, Kevin [2001(1959)]: Das Bild der Stadt. Basel, Boston, Berlin, S. 16. 266 Lämmert, Eberhard (1989): Eichendorffs Wandel unter den Deutschen. Überlegungen zur Wirkungsgeschichte seiner Dichtung. In: Steffen, Hans (Hrsg.): Die deutsche Romantik: Poetik, Formen und Motive. 4. Aufl., Göttingen, S. 224. 267 Nattermann, Isabell (1995): Die Lieder Eichendorffs und die Haiku Bashǀs. In: Gössmann, Wilhelm/Hollender, Christoph (Hrsg.): Joseph von Eichendorff; seine literarische und kulturelle Bedeutung. Paderborn, München, Wien, Zürich, S. 70.

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Eichendorffs Novelle an vielen Stellen zum Ausdruck. Der nachfolgende Textauszug versteht sich hier als repräsentatives Beispiel: „‚Wahrhaftig‘, rief der Waldhornist mit leuchtenden Augen aus, ‚laß die andern nur ihre Kompendien repetieren, wir studieren unterdes in dem großen Bilderbuche, das der liebe Gott uns draußen aufgeschlagen hat!‘“268

Selbsterfahrung durch Welterleben geraten hier in den Fokus. Die besondere Faszination ihrer Lebensweise und ihres emotionalen Strebens beruht vornehmlich darauf, dass die Eichendorff‫ތ‬schen Wanderfiguren als Projektionsflächen fungieren für die geheimen Wünsche der Bürger getreu einer bis heute andauernden Verklärtheit in der Wahrnehmung von Fremde und Exotik, von Urlaub und Ausstieg aus dem Alltagstrott, die sich in erlebnisgesellschaftlich orientierten Fernsehformaten wie ‚Goodbye Deutschland! Die Auswanderer‘ auch aktuell noch großer Beliebtheit erfreuen. Vor diesem Hintergrund liest sich Lämmerts Beschreibung der auf die Wanderfiguren Eichendorffs projizierten Sehnsuchts- und Hoffnungsmotive nach wie vor aktuell, weil gleichsam zutreffend auf jegliche bis in die heutige Zeit mit der romantischen Weitesehnsucht spielenden narrativen Formate: „Wehmütig erfahrene Einsamkeit und gleichwohl geheime Sehnsucht nach unausgeschöpften Erlebnismöglichkeiten, lockende Ungebundenheit vom trägen Einerlei der Erwerbs- und Sorgepflicht, die Fata Morgana eines ewigen Sonntags: Hier ereignen sich die geheimen Wunschträume des sozial Gebundenen, hier begegnet der zu geregelter Arbeit, weil zu ständigem Erwerb Verpflichtete den ihm vom Leben nicht verstatteten Außerordentlichkeiten […].“269

Wandern geht in dieser romantischen Perspektive demzufolge einher mit primärer Absichtslosigkeit und Offenheit für das Neue. Es besteht somit geradezu in der Herausforderung des Unbekannten und dem Provozieren von Ereignissen, versteht man sie im Sinne Derridas als Situationen, in denen

268 Eichendorff [1975(1926)]: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: ders.: Werke in einen Band. (herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) 3. Aufl., Berlin, Weimar, S. 264. 269 Lämmert 1989: 224.

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sich das Unerwartete und damit als unmöglich Begriffene artikuliert.270 Interessant ist hier vor allem, dass aus dem Motiv nach sozialer Abkehr, welches die romantische Weitesehnsucht nährt und ihr Erstreben herausfordert, in der ereignisoffenen und -herausfordernden Performanz des nomadischen Fremden eine durchaus soziale, gemeinschaftsfördernde Wirkung beschreibbar wird, die mit dem beweglichen Geist aber auch mit dem bereits herausgearbeiteten Gegenspacing seiner Figur und dem damit konstituierten Raum zusammenhängt. Denn dieser ist im Gegensatz zu den auf Einsamkeit und Selbst- in Welterfahrung ausgerichteten Motiven des Nomaden zugleich ein Spielraum auch für diejenigen Menschen, für die er in ihren konventionellen Alltagsräumen ereignishaft eintritt und damit eine Zäsur, einen Bruch mit dem Erwarteten darstellt und eine Öffnung des begrenzten, eingefahrenen Denkens evoziert. Dieses interventionistische Eindringen in bestehende Strukturgefüge beschreibt Derrida als Heimsuchung einerseits, in der sich andererseits aber auch bereits immer schon der Aspekt der Wiederkehr zeige.271 Aus dieser Verbindung von Einzigartigkeit und Wiederholbarkeit entsteht – wortwörtlich genommen – das Potenzial der Situation, welches Massumi als hoffnungsvollen Beweglichkeitsspielraum, weil durch die Wechselwirkung von Affizierbarkeit und Affizierung hervorgerufen, beschreibt.272 Man könnte somit sagen, dass das Erzeugen unerwarteter Begegnungen zugleich ein Errichten offener Situationen ist, das Handlungs-

270 Derrida spricht ferner davon, dass zu den Merkmalen der Ereignishaftigkeit zudem seine Nicht-Voraussagbarkeit gehöre und markiert damit in gewisser Weise gleichsam das interventionistische Moment, welches jeder Begegnung mit dem Unerwarteten innewohnt [vgl.: Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin, S. 35]. 271 „Wenn ich einen Besucher willkommen heiße, einen unerwarteten Besucher zumal, muss das jedes Mal eine einzigartige Erfahrung sein, sonst ist es kein unvorhersehbares, singuläres und unersetzliches Ereignis. Gleichzeitig muss aber noch auf der Schwelle des Hauses und schon bei der Ankunft des Unersetzlichen die Wiederholung vorausgesetzt sein. ‚Ich heiße dich willkommen‘ bedeutet: ‚Ich werde dich wieder willkommen heißen.‘ Wenn ich jemanden willkommen heiße, indem ich sage ‚Nun ja, für diesmal kannst du bleiben, aber …‘, dann passt das nicht. Das Versprechen der Wiederholung muss schon in den ersten Worten enthalten sein“ (ebenda: 39). 272 Vgl.: Massumi 2010: 27-30.

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spielräume im Sinne von Rekonfigurationen bestehender sozialer Prozessabläufe ermöglicht.273 In diesem Sinne ist der Gedanke des Ausbrechens aus eingefahrenen Strukturen und Denkschemata gerade in multioptionalen Gesellschaftslagen ein willkommenes Anliegen, das neben der individuellen stets eine kollektive Funktion beanspruchen kann. Die ereignishaft eintretende Einzelerfahrung macht damit die Möglichkeit ihrer Verstetigung im Sinne eines neuen Anfangs möglich. So, wie die literarische Figur des Flaneurs ihre Raumerschließungsweise mithilfe einer sprachlichen Explizierung der Verbindung von Ergangenem und Erdachten vollzieht, kann auch die raumschaffende Kraft des nomadischen Fremden auf seine sprachbildliche Poetik und Verbalsynthese des erschlossenen und imaginierten Raumes zurückgeführt werden. Adorno, der Eichendorff nicht als „Dichter der Heimat, sondern […] des Heimwehs“274 bezeichnete, machte auf die Sprachsymbolik seiner Werke und das mögliche, dahinterliegende Prinzip aufmerksam. Er beschreibt die mit den Sprachbildern Eichendorffs hergestellte Welt als zweite Natur, „in der die vergegenständlichte, dem Subjekt verlorene diesem wiederkehrt als beseelte“.275 Ferner verweist diese Form der poetischen Imagination der Außenwelt im Inneren des Reisenden auf seine Introvertiertheit, die den Antrieb zum Reisen liefert, während das treibende Moment, nämlich die Suche nach dem Vorgestellten, aufgrund seiner semantischen Verknüpftheit mit der Gefühlswelt des Sehnenden uneingelöst bleiben muss. Der Abgleich des vor dem inneren Auge Phantasierten mit dem in der Wirklichkeit Vorgefundenen hält die Sehnsucht aber gerade deshalb wach, weil sie unbefriedigt bleibt. Das lyrische Ich Eichendorffs artikuliert folglich in seinen Werken sprachlich weit mehr und gleichzeitig auch wesentlich weniger als die Umwelt, auf die es sich bezieht. Weit mehr deshalb, weil es in die Versprachlichung seine eigene Gestimmtheit einfließen lässt und den erzeugten Raum somit als Gefühlsraum dokumentiert. Und wesentlich weniger aus dem gleichen Grund, denn die Verbindung von Gefühlswelt und Außenräumlichkeit lässt das Skizzierte stets in einem bestimmten Licht er-

273 Vgl.: ebenda: 32. 274 Adorno, Theodor W. (1990): Zum Gedächtnis Eichendorffs. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. (hrsg. von Rolf Tiedemann) 3. Aufl., Frankfurt am Main, S. 73. 275 Ebenda: 84.

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scheinen, welches nur eine mögliche Facette seiner Wirkungs- und Wahrnehmungsvielfalt realisiert. Jene Oszillation des Vorgestellten mit den weltlichen Entsprechungen vollzieht sich über das sprachlich erzeugte „Schwebende allegorischer Momente“.276 Da die Versprachlichung nur durch lautliche Nachahmung respektive Übersetzung funktioniert und keine Eins-zueins-Abbildung beanspruchen kann, verbleibt diese imaginär und damit eine Projektionsleistung.277 Doch dieser Befund wird durch eine andere Einlösung kompensiert. Denn was über die Sprache Eichendorffs vor allem deutlich wird, schließt an das bereits beschriebene Ereignishafte der offenen Wahrnehmung des Fernen und des Neuen (auch im Vertrauten) an. So erzeugt er mit seiner Bildsprache nicht nur einen atmosphärisch gestimmten (Gefühls-)Raum, sondern zugleich die Artikulation der Beweglichkeitsspielräume, die sich ihm in der Vorstellung von der ersehnten Außenwelt zeigen. Richard Alewyn erläutert diesen Konnex mit Bezugnahme auf die zentralen Motive in den Werken Eichendorffs wie folgt: „Wenn man fragt, was diese Begriffe [z.B. Sommermorgen, Vögel, Nachtigallen, Ströme, Wolken, Schiffe, Eisenhämmer] gemeinsam haben, dann entdeckt man, daß es sich entweder um Dinge handelt, die sich in Bewegung befinden, oder aber – und dies in der Mehrzahl – um Dinge, die nicht sichtbar und greifbar werden und damit überhaupt nicht Teile der Landschaft bilden. Was von ihnen in die Landschaft eintritt, sind vielmehr die Bewegungen, die von ihnen ausgehen, Bewegungen, deren sprachlicher Ausdruck die verbalen Satzteile sind.“278

Damit wird der nomadische Fremde in der romantischen Tradition bei Eichendorff zu einer Figur der Artikulation von Bewegungsspielräumlichkeit im Massumischen Sinne erhoben, gerade weil er zwischen seiner inneren Gestimmtheit sowie der äußeren Umwelt vermittelnd auftritt. Er bewerk-

276 Ebenda: 82. 277 Vgl.: Öhlschläger, Claudia (1999): Die Macht der Bilder. Zur Poetologie des Imaginären in Joseph von Eichendorffs Die Zauberer im Herbste. In: Neumann, Gerhard/Oesterle, Günter (Hrsg.): Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg, S. 280ff. 278 Alewyn, Richard (1960): Eine Landschaft Eichendorffs. In: Stöcklein, Paul (Hrsg.): Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie. München, S. 30f.

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stelligt dies, indem er – wie Albrecht Koschorke dies als Merkmal für die romantische Literatur279 schlechthin konstatiert – „zwischen den Bildbereichen der realen Motorik im Raum und der Motorik der Affekte einen semantischen Austausch her[stellt], indem […] die topographischen Zeichenordnungen der Empirie und der Gefühlswelt des Schweifens durch eine ‚Seelenlandschaft‘“280 zusammengezogen werden. Der von Eichendorff artikulierte Raum ist demnach durch zweierlei charakterisierbar: Er ist ein offener Raum und „vermittelt das Gefühl der Freiheit“.281 Als lebensräumlicher Prototyp für stete Veränderungen wird beispielsweise „die Bewegung der Tageszeit als eine räumliche Bewegung“282 präsentiert. Und zwar immer in einer Umgebung, die konkret expliziert, in ihrer Erscheinung jedoch durch einen stereotypen Charakter gekennzeichnet ist. Auf diese Weise kann uns der Autor poetisch vor Augen führen, dass die Begeisterung und das Streben des lyrischen Ichs im Kern um die Erfahrung und Erhaltung von Bewegungsräumlichkeit drehen. Mittels der stark verbal ausgerichteten Sprache lassen sich die generaltopologisch verwendeten Subjekte somit vor allem in ihrer atmosphärischen Wirksamkeit erschließen. In der beschriebenen Umwelt wird damit – so Alewyn – „die Emanzipation der Bewegung vom Körper“283 möglich. Ferner hat er herausgefunden, dass bei Eichendorff vor allem „die Verben des Klingens und Leuchtens die Mehrheit bilden“ und mit weiteren verwendeten Tätigkeitswörtern „der räumlichen Bewegung“284 kombiniert werden. Das Ergebnis sind Wortgruppen wie „Geht

279 Auch für die romantische Malerei kann dies Geltung beanspruchen. So kann beispielsweise in den Bildern Kaspar David Friedrichs jene Verbindung von persönlicher Innenwelt und vorgefundener Außenräumlichkeit ebenfalls als die entscheidende atmosphärische Bildwirkungsquelle beschrieben werden. 280 Koschorke, Albrecht (1990): Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main, S. 193f. 281 Alewyn 1960: 23. 282 Ebenda: 26. 283 Ebenda: 31. (Alewyn belegt seine These im Anschluss an die zitierte Textstelle sehr detailliert anhand eines Eichendorff-Textauszuges, den er nach dem Verhältnis von Prädikat und Subjekt und seinen semantischen Folgewirkungen betrachtet.) 284 Ebenda: 35.

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ein Klingen in den Lüften“285 oder „Rauscht erwachend Wald und Hügel“,286 die die Werke Eichendorffs zu Beispielen für die aus Bewegungen erzeugte Lebensräumlichkeit Baiers mit ihrem relationalen Charakter machen. Das zentrale Element der durch Bewegung erzeugten Weite schafft in seiner Darstellung bei Eichendorff folglich die atmosphärische Gestimmtheit der Umgebung und macht dabei das Grundprinzip des immer wieder aufs Neue Reizvollen am Wandel und der kontinuierlichen Veränderung des Lebens deutlich. Damit eröffnet uns der Blick auf die symbolische Gemachtheit seiner Texte zugleich eine Erschließungshilfe bei der Beschreibung der nomadischen Raumkonstitution als subversiven Vorgang einer Eröffnung von Bewegungsspielräumen und hilft zu erklären, was ein Prozess des Gegenspacings bedeutet und wie dieser sich vollziehen lässt. Neben dem Konzept des romantischen Individualismus als Quelle für eine mediale Raumaufspannungsweise des wandernden Fremden im RoadMovie wurde bereits das Prinzip des ‚American Ramblings‘ genannt. Letzteres hat einen direkten Bezug zur Vagabondage – einer Raumaufspannungsweise, die „überhistorisch zum Träger für eine elementare Verlusterfahrung werden kann“287, weil sie ein Hadern mit der Heimatlosigkeit als grundständiges Existenzgefühl und somit das komplette Gegenteil zur Weitesehnsucht der Romantik beschreibt. Entgegen der deutsch-romantischen Tradition, in der es um den auf den vorangegangenen Seiten beschriebenen Ausbruch aus den Fängen der Normalität des Alltags geht und Heimat semantisch liiert mit dem Aspekt der Enge und entfaltungshemmender Begrenztheit ist, flieht der Heimatlose „vor dem andämmernden Gefühl, [erst gar; Anm. SMG] keine Wurzeln schlagen zu können.“288 Die Verbindung

285 Eichendorff, Joseph von [(1848) 1975]: Der Freiheit Wiederkehr. In: ders.: Werke in einen Band. (herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) 3. Aufl., Berlin, Weimar, S. 81. 286 Eichendorff, Joseph von [(o.J.) 1975]: Der Morgen. In: ders.: Werke in einen Band. (herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar) 3. Aufl., Berlin, Weimar, S. 41. 287 Fähnders, Walter (2007): Vagabondage und Vagabundenliteratur. In: ders. (Hrsg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen, S. 53. 288 Kiefer 2006: 41.

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dieser reisenden Zerstreuung mit der nostalgischen Melancholie über das aus Befreiung und Neubeginn motivierte Settlement, gehört zur Geschichte der USA und damit auch zum dort vorherrschenden mentalen Programm von Heimat als Phantasmagorie. Eingeschrieben findet es sich als Freiheitstopos und Lebensgefühl unter anderem in den Medienprodukten, die wir gemeinhin als traditionell amerikanisch bezeichnen: So lässt sich neben dem Road-Movie als spezifisches Film-Genre auch die Musikrichtung des Blues auf jene Ursprünge zurückführen. Kiefer nennt in seinen Ausführungen neben Robert Johnson, Bob Dylan oder Jack Kerouac auch Hank Williams und Woody Guthrie, denen es als Songwriter und Vertreter einer Nation gelang, dem zentralen Gründungsmotiv des andauernden Umherschweifens im US-amerikanischen Raum eine weit über diesen Raum hinausreichende Sprache zu geben.289 Das Motiv selber kann als bedeutungskonstitutive Folge einer Nation angesehen werden, die sich gerade Freiheit und Unabhängigkeit auf die Fahnen geschrieben hat – also vorrangig auf dem Prinzip der Innovation und weniger auf dem der Beständigkeit aufbaut. Dies könne, folgt man Gert Raeithel, beispielsweise daraus resultieren, dass der Amerikaner Mobilität und Weite im Sinne einer aktiven und persönlichen Erfahrung der Sesshaftigkeit und rezeptiver Objektnähe vorziehe.290 „Schwache Bindungen an Personen und Dinge seien das Grundcharakteristikum der nordamerikanischen Kultur als Konsequenz der Tatsache, dass Amerika ein Land der Einwanderer und der Wanderer im Land sei.“291 Damit wird die Bewegung, das Transitorische, zum zentralen, anknüpfungs- und affizierungsreichsten Moment der Identifikation und Identitätsstiftung und das Road-Movie in zweierlei Weise zum medialen Prototyp des räumlichen Selbstverständnisses zahlreicher US-Amerikaner. Zum einen spiegelt und prägt es das Selbstverständnis einer Bevölkerung, zum anderen aber auch ihr daraus resultierendes Bild von Amerika. So schlussfolgert Kiefer weiter, dass mit dem Road-Movie vor allem deutlich gemacht werden könne, dass Amerika eher als Mythos und damit als mentale Orientierung, denn als absoluter Bezugspunkt in der Außenwelt fungiere. Vor allem die Bewerbung des Filmes ‚Easy Rider‘ bringe diese utopische

289 Vgl.: ebenda. 290 Vgl.: Raeithel, Gert (1987): Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Band 1, Weinheim, S. 2. 291 Kiefer 2006: 42f.

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Verheißung von der Heimat Amerika mit dem Satz „A man went looking for America and couldn’t find it anywhere“. deutlich auf den Punkt.292 So, wie sich die Weite in der Romantik als Projektionsfläche für das Unerfüllte und sehnsuchtsvoll Angestrebte ihrem Erreichen widersetzt, so behauptet sich die Vorstellung von heimatlicher Verwurzelung und Ursprünglichkeit als Trugschluss und unerreichbares Ideal für den ramblin‘ man als Prototyp im Land der Einwanderer. Medienfiguren wie der ‚Marlboro-Mann‘ oder klassische Westernhelden markieren vor jenem semantischen Hintergrund zumeist Einzelgänger, die ihre Erfüllung in der selbstbestimmten Einsamkeit und Weite, auf der steten Durchreise suchen. Sie stehen damit symbolisch für ein Leben in Bewegung – anders motiviert als der romantische Sehnsuchtswanderer, aber dennoch gleichsam osmotisch in der Verbindung von Mensch und Welt – ob nun in der poetischen Einverleibung der Naturbewegungen in Eichendorffs Lyrik oder im Rausch der Geschwindigkeit auf dem Highway in Kerouacs ‚On the road‘.293 Die Ereignishaftigkeit des Road-Movies und romantischen Vorläufer liegt folglich in der Einbindung so genannter Schock-Momente294, den Momenten des Unvorhersehbaren, in der elektrisierenden Kraft des fast surrealen Aufeinandertreffens von Gegensätzen, welche der nomadische Fremde evoziert.295 Mit dieser narrativen Figur verbindet sich folglich die Verheißung einer Ereignishaftigkeit, die den Bruch mit dem konventionell Eingespielten provoziert und durch das Perpetuieren in bestehende Systemlogiken gezielt Innovationen initiiert. Das Prinzip hierbei ist der entfremdete, distanzierte Blick auf das für andere Alltägliche, was die Verbindung

292 Vgl.: ebenda: 41. 293 Vgl.: ebenda: 45ff. 294 Walter Delabar spricht von Wahrnehmungsschocks, die sich aus dem Prozess gesellschaftlicher Modernisierung ergeben. Für die hiesigen Ausführungen können seine Ausführungen erweiternd verstanden werden, wenngleich der Fokus in dieser Arbeit eher auf die Rolle von Wahrnehmungsschocks für Systemneukonfigurationen und veränderte Spacings eingegangen werden soll [vgl.: Delabar, Walter (2007): Effekte der Modernisierung. Individualisierung, Prekarisierung, Migration und Nomadisierung. In: Fähnders, Walter (Hrsg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen, S. 120ff.]. 295 Vgl.: Kiefer 2006: 49.

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und zugleich die Trennlinie des nomadischen Fremden zum einheimischen Flaneur zutage treten lässt, der ebenfalls das Alltägliche, allerdings das für ihn Alltägliche in den ebenfalls entrückten, aber in Summe eher biografisch involvierten Blick zu nehmen versucht. In seiner nuancierten Betrachtung erschafft dieser eine Reflexion des ästhetischen Erscheinens von bekannter Welt. Damit stellt der nomadische Protagonist in medialen Erzählungen stets ein subversives, transformatorisches Narrativ dar. Seine introspektiv motivierte Fort-Bewegung führt somit in den meisten Fällen zur außengerichteten In-Bewegung-Setzung seiner Umwelt. Beispiele für diese raumaufspannende Erzählfigur lassen sich viele finden. Anhand eines Werbespots der Firma ‚Levi‘s®‘296 soll nun die Charakteristik des Nomaden und sein raumkonstitutives Gegenspacing exemplarisch rekonstruiert und erläutert werden. Zu Beginn des Spots zeigt sich dem Betrachter die Straße einer suburban anmutenden Reihenhaussiedlung. Die Abschottung der Anwohner und ihr Rückzug in das eigene, in sich geschlossene Sinnuniversum werden durch eine systemische Störung offensichtlich gemacht. Ein Fremder dringt in diesen Raum ein. So präsentiert sich die Vorstadt, welche als Handlungsraum dient, zu Beginn des Spots im Modus einer heilen, wenngleich in Förmlichkeit gekleideten Abschottungsgegend gehoben lebender, randstädtischer Privatheiten.297 Die transportierte Idylle, in der alles seinen Platz hat, deutet auf Monotonie und damit Fragilität hin. Diese Starre, das Nicht-Inkarniertsein der Anwohner in den öffentlichen Raum vor ihrer eigenen Haustür, wird zum Ausgangspunkt des Spots stilisiert, indem ein junger Eisverkäufer mit seinem alten Eiswagen in diesen Raum eindringt und so Verunsicherung, Aufregung sowie in der Folge Kommunikation jenseits beziehungsweise innerhalb der alteingesessenen Rahmen und damit ungeachtet der konventionell gesetzten Grenzen provoziert. Dabei erzeugt das Verhalten des nomadischen Fremden ein ereignishaftes Gegenspacing. Seine Lässigkeit evoziert den Bruch mit dem Verschlossenen. Seine subversive Musikinterpretation – er spielt das USamerikanische Volkslied ‚Jankee Doodle Dandee‘ im Jimi-Hendrix-Stil –

296 Vgl.: Levi Strauss & Co. (2005): Levi’s®501®Jeans mit Anti-Form. o.O. 297 Zur Irritation der (sub-)urbanen Abschottung als wirksame Affizierung der Anwohner vgl.: Levi Strauss & Co. 2005: timecode: 00:00:03.

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erzählt eine Befreiungsgeschichte über die Neuinterpretation des Traditionellen und damit eine Emanzipation bestehender Deutungsgrenzen298 und fordert gleichsam dazu auf, sich von dieser affizierend einnehmen und im Sinne einer leiblich wahrnehmbaren Weiteräumlichkeit produktiv anstecken zu lassen.299 Dass hier die Musik ganz besonders gut dafür geeignet ist, die hinter ihren Grundstücksgrenzen verweilenden Menschen auf die Straße zu locken, lässt sich gut in Rückgriff auf den von Peschken erläuterten Unterschied von atmosphärischer Leere und atmosphärischer Dichte erklären.300 So erzeugt der musizierende Eismann qua rhythmischer Tonalität nicht nur eine auf die Straße gerichtete Aufmerksamkeit der Anwohner, sondern zusammen mit ihr auch ein Gefühl räumlicher Weite und Entspannung. Diese Gefühlsräumlichkeit codiert die zuvor empfundene Nicht-Örtlichkeit der Straße um und macht sie attraktiv für die Bewohner, da sie ihr durch die erzeugte atmosphärische Gestimmtheit einen Gehalt im Sinne einer atmosphärischen Dichte verleiht. Die musikalische Befreiungsgeschichte überschreibt die von Abkehr, Abschottung und Unsicherheit zeugende Geschichte der Straße über einen Rückgriff auf den amerikanischen, dem Road-Movie eingeschriebenen Freiheitstopos mit einer narrativen Verheißung von Abenteuerlust und Unkonventionalität – einmal durch die Wahl des Volksliedes selber und zum anderen durch seine ungewöhnliche Interpretation durch den Spieler. Die nomadische Mobilität des Eismannes ist,

298 Zum Prozess des Erzeugens eines atmosphärisch dichten Raumes über affizierende Entschleunigungsakkorde vgl.: Levi Strauss & Co. 2005: timecode: 00:00:05-00:00:08. 299 Jene Ausdeutung der Ausdrucksbewegung des im Spot präsentierten Musizierens impliziert eine Bejahung der Lehre von den ‚Pathosformeln‘ und deutet an, dass sie auch auf Gesten des Authentischen applizierbar sind. Somit kann von der Hypothese ausgegangen werden, dass es kulturelle Präsentationsformen gebe, welche über ihre Darstellungsart den symbolischen Pathos des Authentischen tradierten [zu den Warburg‫ތ‬schen Pathosformeln siehe: Warburg, Aby (2008): Gesammelte Schriften : Studienausgabe. (herausgegeben v. Horst Bredekamp) Abt. 2 = Bd. 2: Der Bilderatlas Mnemosyne, hrsg. von Martin Warnke unter Mitarbeit von Claudia Brink, 3., gegenüber der 2. unveränderte Aufl., Berlin.]. 300 Vgl.: Peschken 2009: 240ff..

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das wird nun deutlich, doppelt konnotiert, denn sie „ist mithin nicht allein – wie etwa bei Gruppen hochspezialisierter Hirten oder auch bei Ranchern – das Kennzeichen einer beruflichen Existenz, vielmehr führt sie zu einer eigenständigen kulturellen Daseinsform.“301 So geht der Protagonist des Spots zunächst ganz in seiner musikalischen Performanz auf, wird auf diese Weise zum Hersteller einer akustischen Weiteräumlichkeit, die qua leiblicher Affizierung kommunizieren muss, was verbal an den räumlichen Systemlogiken gescheitert wäre, stelle man sich alternativ zum Beispiel ein schlichtes Rufen als Aufmerksammachung vor. Kurzum: Der nomadische Fremde irritiert, indem er die Impulskraft der gemiedenen Straße umcodiert und so Angebote für ein leibliches Inkarniertsein in den Außenraum macht. Die Straße wird zur Bühne stilisiert und somit wieder zu dem öffentlichen Raum, welcher eine permanente Aufmerksamkeitsbündelung erfährt. Die über musikalische Affizierung initiierte Eröffnung eines Beweglichkeitsspielraumes ermöglicht der Straße, ihre Urbanität zu entfalten, denn: „Nicht in erster Linie die Beziehungen der an einer Straße Wohnenden untereinander spielen hier [im öffentlichen Raum der Straße] die entscheidende Rolle, sondern der Bezug der Wohnenden zur Straße, zu dem Welttheater, das sich draußen abspielt, und umgekehrt der Bezug der Passanten auf der Straße – gerade auch der Fremden – zur Wohnsphäre, die sich in und hinter den Wohnungsfenstern abbildet.“302

Der Eismann verkörpert den emanzipatorischen Eindringling auf der öffentlichen Bühne der Straße, welcher aus der Fremde kommend, nicht nur Eis in die Vorstadt bringt. Er installiert in jenem Raum, der sich dem Betrachter zu Beginn des Spots voller fast schon lynchhafter303 Dramatik präsentiert, ein kommunikatives Sicherheitsnetz,304 indem er über die Dienstleistung

301 Toral-Niehoff, Isabel (2002): Der Nomade. In: Horn, Eva/Kaufmann, Stefan/Bröckling, Ulrich (Hrsg.): Grenzverletzer. Berlin, S. 80. 302 Feldtkeller 1995: 63. 303 bezogen auf die atmosphärischen Gestimmtheiten der Fotografien von David Lynch 304 „In Wirklichkeit sind die Leute, die ein Auge auf die Straße haben – und deren Räume sich folgerichtig auf die Straße orientieren –, nicht nur die jeweiligen Anwohner eines Straßenabschnitts, sondern auch andere Personen mit einem

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des Eisverkaufs und des Musikmachens bei den Anwohnern Genuss und damit eine sozial gemeinschaftlich bestimmte, örtliche Verhaftung über ein Erleben von Rückzug, Wohlfühlen und Sicherheit jenseits von individueller Abschottung schafft.305 So zeigt der Spot gegen Ende und damit im Anschluss an die ersten, beschriebenen Einstellungen kontemplativ im Eisund Musikhörgenuss vertiefte Menschen, die stillschweigend und harmonisch im Umfeld des Eismannes verharren.306 Der zuvor ausschließlich observierend genutzte Freiraum Straße kann nun mithilfe der urbanen Elemente des Erlebnishaften, sprich des Straßenmusikers, der gleichsam Eismann ist, in einen Erlebnisraum verwandelt werden. Es erfolgt hierbei eine Belebung des öffentlichen Raumes durch die Herstellung von Öffentlichkeit – eine der Verschlossenheit der Privatheit entgegengerichtete Handlungsstrategie. Zuvor räumlich über ihre Grundstücksgrenzen abgeschottete Nachbarn werden über das ‚Welttheater‘ auf der Straße aus ihrer sozialen Separation heraus in echte soziale Beziehungen zueinander gebracht. In der vom Eismann auf der Straße gelebten Verheißung eines ‚free life in slow motion‘, welche neben seiner eigenen musikalischen Entschleunigungsakkorde auch filmsprachlich durch eine komplett verlangsamte Darstellung der Situation im Spot untermauert wird, artikuliert sich gleichsam das subversive Mobilitätsversprechen, welches eingebettet in die verspießte Vorstadt mit den in ihr kondensierten Abschottungstaktiken eine besondere Klarheit erfährt. Dabei ist zu vermuten, dass sich der inszenierte Authentizitätsgrad durch die Fremdheit des Eismannes und seine spezielle Eindringungstaktik maßgeblich erhöht. Das Musizieren und die damit in den öffentlichen Raum von Verschlossenheit gebrachte gutmütige Offenheit erinnert dabei an den europäischen Mythos vom ‚edlen Wilden‘ – jenen von den Zwängen gesellschaftlicher Begrenzungen unbelasteten und

ähnlichen, vielleicht noch innigeren Verhältnis zu ihrer Straße [...]. Wo sich An-Wohner und andere An-Grenzer für ihre Straße zuständig fühlen, installieren sie zugleich ein soziales Netz, das auch öffentliche Sicherheit gewährleistet.“ (Feldkeller 1995: 64) 305 „Die Sicherheit auf der Straße ist genau dort am besten und am selbstverständlichsten, [...], wo Menschen die Straße freiwillig benutzen und genießen und sich normalerweise kaum bewusst sind, dass sie sie dabei auch beaufsichtigen...“ (Jacobs 63: 33 zit. bei: ebenda: 65). 306 Vgl.: Levi Strauss & Co. 2005: timecode: 00:00:20.

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damit gesellschaftlich unverdorbenen Naturmenschen, dessen Vitalität und Spontaneität Lebensfreude und ungezwungene Geselligkeit hervorbringt.307 Das Spiel mit der Gitarre und den geltenden Konventionen erinnert an das kindliche Spiel mit dem, was, gesellschaftlich platziert, durch Variation in immer neue Kontexte mit immer anderen Wirkungen gestellt wird. Denken wir an Huizinga und die von ihm beschriebene kulturschaffende Rolle des Spiels, so kann man den vorliegenden Spot als Illustration genau jenes Vorganges sehen, den Entwicklungen in kulturellen Gefügen durchlaufen: Eine Generierung des Neuen als dritter Wert – wie Dirk Baecker sagen würde – durch die improvisatorische, gegen den Mainstream laufende Verbindung bereits bestehender Elemente. Der Eismann nutzt die Straße entgegen der dort zuvor üblichen Nutzungsweisen als Aufenthaltsort und sein Musizieren sowie das Angebot an Eis lassen auch die Anwohner die kontemplativen Potenziale ihres Straßenraumes erkennen und in Anspruch nehmen. Die ungewöhnliche Verbindung von im Einzelnen vertrauten Elementen schafft einen örtlichen Erlebniswert, welcher durch die Handlungen des Protagonisten, sprich sein Musizieren und Eisverkaufen, und den davon angelockten Anwohnern einen Raum konstituiert, der urbane Qualitäten besitzt und einen hohen Entfaltungswert für die Akteure hat. Der nomadische Fremde wird somit als authentischer Freiheitskämpfer inszeniert, der im Vorstadtbereich mit urbanen Erlebniselementen ein Epizentrum der Unabhängigkeit und sozialen Entfaltung errichtet. Ferner verkörpert der Protagonist des Spots über die bereits beschriebenen nomadischen Attribute der vitalen Ungezwungenheit und Anti-Sesshaftigkeit das romantische Bild vom Reisenden. Die „emotional belebende Kraft einer Reise“308 transportiert sich hier assoziativ über einen gewissen Anti-Luxus, welcher sich über die Komponenten ‚altes Auto‘ und ‚Gitarre‘ in Richtung Abenteuerreise verdichtet. Die Straße wird damit zum Pfad und der Rasen zur Lagerstätte. Die hierbei implizite Annäherung an die Natur evoziert gleichsam eine Annäherung des Akteurs an seine persönliche Authentizität,309 da

307 Vgl.: Frenzel, Elisabeth (1992): Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4., überarbeitete und ergänzte Aufl., Stuttgart, S. 830ff. 308 Illouz, Eva (2003): Konsum der Romantik: Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Frankfurt am Main, S. 135 309 Gleiches gilt für seine Mitakteure.

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eine Bezugnahme auf das Natürliche zumeist mir einer Ich-Regenerierung in Verbindung gebracht wird.310 Denken wir an die Spezifik der romantischen Lyrik Eichendorffs als Ausdruck (s)einer Seelenlandschaft, so lässt sich auch im vorliegenden Beispiel eine solche symbolische Verdichtung von der Wahrnehmung der Umwelt durch den Eismann und seiner inneren Gestimmtheit über die Art und Weise seines Musizierens erkennen. Der dargebotene Song wird damit stilisierter Ausdruck und Angebot einer Raumwahrnehmung, die alternativ zu jener der Anwohner in den Raum als Affizierungsangebot und damit als formengebundenes atmosphärisches Potenzial gebracht wird. Ein romantischer Augenblick etwa? In gewisser Weise sicherlich, zumindest in der Hinsicht, dass eine Emanzipation vom suburbanen Einkapseln, vom Vereinzeln und Abschotten und damit eine urbane Renaturierung,311 im Sinne einer Rekultivierung des öffentlichen Raumes im Werbespot dargestellt wird. Der beschriebene Erlebnisraum trägt Züge einer vom Misstrauen entfesselten Lagerfeuerromantik, welche gemeinschaftsfördernd wirkt.312 So beerbt die Romantisierung des Nomaden zum großzügigen, freien, ursprünglichen Gutmenschen schließlich eine implizit mitzudenkende und auf zivilisationskritische Ausführungen der Antike, des 14. und 20. Jahrhunderts zurückführbare Negierung des sesshaften und räumlich verschlossenen Lebens, welche im Beispielspot ihre bildhafte Artikulation findet.313

310 „Solche mentalen Bilder zehren von der romantischen Utopie und rekapitulieren sie, denn sowohl von der romantischen Liebe wie von der Natur glaubt man, sie würden die authentischsten Teile unseres Ichs darstellen, und zwar im Gegensatz zur Nichtauthentizität des städtischen Lebens (also dem üblichen Ort, an dem Romantik mit Luxus assoziiert wird).“ (Illouz 2003: 138) 311 versteht man die Kultur als die Natur des Menschen 312 Vgl.: Levi Strauss & Co. 2005: timecode: 00:00:20. 313 So sind bei Herodot, Ibn Khaldun, Joseph Roth, Gilles Deleuze, Félix Guattari und Vilém Fusser Ausführungen zum Nomadischen und den Vorzügen des Beweglichen nachzulesen (vgl.: Toral-Niehoff 2002: 82-85), die das Sesshafte abwertend und als inhumanes Verhalten beäugen. Mit Joseph Roth gesprochen: „Der Mensch ist kein Baum […] Der Mensch ist eben keine Eiche. Die Eiche ist gefangen, und der Mensch ist frei. […] Das Wandern ist kein Fluch, sondern ein Segen.“ [Roth in Westermann, Klaus (1991): Joseph Roth. Werke. Teil 3: Das journalistische Werk 1929-1939. Köln, S. 532]

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Denn erst in eben solch einem nach innen gekehrten und nach außen observierten, homogenisierten Vorstadtraum erhält der beschriebene Protagonist besonders viel Aufmerksamkeit. Die Fremdheit erhöht sein Heldenpotenzial im Unterschied zum hinlänglich Bekannten, das sich innerhalb der alteingesessenen Grenzen zuhauf wieder finden lässt. Er wird zu einem „Sinnbild subversiver Freiheit“314 und der Reiz des Fremden damit zu einem bewunderten Innovationsimpuls. Nicht auszuschließen, dass die Bewunderung des Eismannes bis hin zu einer Glorifizierung stilisiert wird, da er potenziell die geheimen Wünsche seiner Klientel verkörpert. Diese Gleichdenker bilden seinen identifikatorischen Anker, „während eine ortsgebundene Verwurzelung infolge der mobilen Lebensweise kaum möglich ist.“315 Somit wird die Vorstadt im Spot zur Kulisse der Dichotomie ‚ruralurban‘. Beide Mentalitäten vermengen sich an der Schnittstelle ‚Straße‘ zu einer theatralen Szenerie, deren Requisiten das Authentische als Assoziationswert inmitten jener binären Raumkonnotationen akteurbezogen hervorzubringen vermögen. Das Randstädtische avanciert somit durch das romantische Element der Renaturierung, welches hier im Sinne einer urbanen Renaturierung zu verstehen ist, Hand in Hand mit seinem nomadischen Eindringling zur Authentizitätsoase, dem die homogenisierte Örtlichkeit und damit das Massenräumliche inszeniert als großer, kommerzieller, inauthentischer Themenpark gegenübersteht.316 Das Besondere daran: Es geht daraus resultierend im Spot nicht um eine Radikalisierung der Echtheitsverkündung. Vielmehr ergibt sie sich aus ihrer glaubhaften Ein-

314 Toral-Niehoff 2002: 82. 315 Ebenda: 85. 316 Denkt man sich den Eiswagen in den Stadtraum hinein, so wäre eine dort errichtete Entschleunigungsoase ein Inselphänomen im urbanen Durchlauferhitzer menschlicher Handlungskraft. Das Authentizitätsversprechen ergäbe sich hier aus der Dichotomie ‚schnell-langsam‘, wie dies beim einheimischen Flaneur gelebte Praxis seiner Raumkonstitution ist, und nicht aus der Gegenüberstellung der gelebten Mentalitätsvarianten ‚offen-geschlossen‘. Eine Verheißung von urbaner Renaturierung hätte in diesem Setting wohl eher mit dem Vorwurf der maskenhaften und damit hochgradig inszenierten Authentizität zu kämpfen.

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bindung in das Vorstädtische.317 Sie überzeichnet quasi das Entschleunigte, die persönliche Entfaltungsnische vor den Toren hemmungslos einkaufswütiger Shoppingmall-Tore und füllt es an mit dem städtischem Hang nach persönlicher Entfaltung. Jene sinnbildliche Karikatur eines emanzipatorischen Individualisten verweist auf das Paradoxon von im Überfluss gelebter Andersartigkeit als Gleichförmigkeitsmotor innerhalb homogenisierter Stadträume. Dort wäre der Straßenmusiker potentiell nur einer unter vielen. Dort hätte seine Performance wahrscheinlich nur einen Platz in der Masse und würde damit selbst zu einem Massenphänomen werden.318 In der gewählten Kulisse steht ihr die Bühnenposition offen und damit eine glaubhafte Erfolgsgeschichte ihrer identitätsstiftenden319 Entfaltung, weil sie es vermag, den dort vorgefundenen Ort in seiner Gleichförmigkeit aufzudecken und seine Handlungslogik mit dem Ziel zu irritieren, ihn als kommunikativen Erscheinungsraum zu rekultivieren und damit in Richtung eines individuellen Entfaltungsraumes umzucodieren. Der als Kernmythos der Marke ‚Levi’s®‘ geltende Grundsatz, ArbeiterHosen anzubieten, deren Funktion darin besteht, über die konventionellen Grenzen hinaus den Radius persönlicher Freiheit zu vergrößern,320 lässt sich folglich auch im vorliegenden Beispiel zeitbezogen interpretiert wieder finden. Dabei lässt der Begriff ‚Anti-Form‘ neben produktbezogenen Rückschlüssen auf die Optik und Gestalt der beworbenen Jeans auch Assoziationen zu, welche eine semantische Nähe vom Begriff ‚Anti-Form‘ zur ‚AntiNorm‘ evozieren. Die Jeans wird zur Requisite der nomadisch aufgeladenen Spiele-Kulisse und demgemäß zum Inszenierungselement eines subversiven Gegenspacings, welches sich an der Verheißung persönlicher Entfaltung als Beitrag zu einer interessenbasierten Vergemeinschaftung jenseits bestehender Nutzungsweisen von öffentlichem Raum respektive eingefahrenen Verhaltensweisen an und auf der Straße orientiert. So verweist auch der Produktname auf die beschriebene Emanzipationskraft im Spot

317 So wirkt der Eiswagen im Rand- bzw. Zwischenstädtischen weniger inszeniert als im Stadtraum. 318 da die Simmel‫ތ‬sche Blasiertheit als Resultat einer gesteigerten Performativität in Großstädten wesentlich stärker ausgeprägt ist. 319 im Sinne einer Erzeugung von Identität durch Differenz 320 Vgl.: Horx, Matthias (1995): Markenkult: wie Waren zu Ikonen werden. Düsseldorf, S. 137.

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und damit auf einen Bruch mit dem Konventionellen, an dem sich das Andere – wie beschrieben – glaubhaft inszeniert entzündet. Ferner führen der ebenfalls dargestellte, vermengende Bruch mit urbanen und ruralen Elementen sowie die In-Dienst-Stellung des Städtischen zur Verstärkung von Natürlichkeit im Resultat zu jener Authentizitätsinszenierung, welche ihre Glaubhaftigkeit aus eben diesem räumlichen Komplementärkonstrukt erhält. Das nomadische Zwischen-den-Grenzen-Leben lässt sich darauf beziehen. ‚Back to the roots‘ – in diesem Sinne vielleicht als Ausdruck einer zunehmenden Bodenständigkeit durch leidenschaftlich-lustvollen Quergang und dabei notwendige Subversion,321 die durch ihre Betonung auf Vielheit statt Monopositionen, Prozesshaftigkeit statt Statik und Wissensvermehrung statt -selektion neben Raum für die eigene Entfaltung auch (respektive gerade) Platz für gemeinschaftliche Weiterentwicklung jenseits eingeschlichener Grenzen (und Leitdifferenzen)322 lässt. Beweglich zu sein, kann dabei als die Grundvoraussetzung zur Entwicklung und dem Lebendighalten von sozialen Gefügen verstanden werden. Vom nomadischen Fremden kann man hierbei lernen, dass jenes Beweglichsein zuweilen eine „Gleichgültigkeit gegenüber territorialen Grenzen“ bedeuten muss und dass es durchaus sinnvoll sein kann, sie (die Grenzen) dabei „mehr oder minder regelmäßig [zu] überschreiten.“323 Somit markiert die narrative Figur des nomadischen Fremden und damit auch der im Beispielspot musizierende Eismann in unserer modernen Gesell-

321 Isabel Toral-Niehoff setzt dem Vorwurf, dass das Nomadische „eine anachronistische Figur“ sei, folgendes – zu Recht – entgegen: „Das Nomadische aber bricht aus allen Fugen der Postmoderne hervor: als emanzipatorisches Symbol für die Überschreitung nationaler, ethnischer und kultureller Identitätsgrenzen, als entsicherte – elitäre oder pauperisierte – Existenzweise unter dem Diktat einer neoliberalen Ökonomie, als Signal für die Wiederkehr vagabundierender Gewalt nach dem Zerfall nationaler und internationaler Regimes.“ (ToralNiehoff 2002: 96f.) 322 im Sinne der Foucaultschen Imperative zur ‚Einführung in das nichtfaschistische Leben‘ [vgl.: Foucault, Michel (2003): Der Anti-Ödipus – Eine Einführung in eine neue Lebenskunst. In: Defert, Daniel/Ewald, François/ Lagrange, Jacques (Hrsg.): Michel Foucault. Dits et Ecrits. Schriften Band 3, 1976-1979, Frankfurt am Main, S. 176-180.]. 323 Toral-Niehoff 2002: 81.

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schaft „gleichermaßen die Subversion wie die Unabschließbarkeit […] [gesellschaftlicher; Anm. SMG] Ordnung und Verortung.“324

4.3 S UBVERSIVE FLANERISCHE UND NOMADISCHE R AUMERSCHLIESSUNGSSTRATEGIEN ALS PROGRAMMATISCHE A KTIONSMÖGLICHKEITEN FÜR URBANE R AUMBINDUNGSSTÄRKUNG Auf den vorangegangenen Seiten ist auf der Grundlage der theoretischen Erkenntnis einer dreifach entfaltbaren Raumschaffungspotenz des Menschen als Basis seiner Wohnhaftwerdung auf der Welt der Frage nachgegangen worden, wie eine Rekonstruktion der damit verbundenen Raumkonstitutionsprozesse und ihrer Nutzbarmachung für eine nachhaltige Stärkung und Kräftigung urbaner Raumbindungen gelingen kann. In Erweiterung der Ausführungen de Certeaus konnte gezeigt werden, dass hierzu ein Blick auf die konkreten Situationen gerichtet werden muss, in denen Räume qua Handlungen durch die Bewegungen der einzelnen Akteure erzeugt werden, gleichsam aber auch beachtet werden muss, dass Raumkonstitutionsprozesse einer Synthese aus physischer Bewegung, psychischen Gedankengängen und leiblicher Wahrnehmung entspringen und folglich alle drei Aspekte im affizierungsbezogenen Zusammenhang zu denken sind. Somit kann festgehalten werden, dass der atmosphärisch gestimmte Weiteraum, in dem der Aspekt der Affizierung des und durch den Menschen in das Zentrum rückt, nicht nur einer der drei durch den Menschen herstellbaren Raumtypen, sondern vielmehr zugleich Voraussetzung und Begleitprodukt der beiden anderen Raumtypen ist. Die Erkenntnis der triadischen Raumkonstitution hat darüber hinaus eine zweite Konsequenz: Sie lässt das bloße Beobachten von Menschen und ihren Bewegungen durch ihre Umgebungen nicht aussichtsreich genug erscheinen. Die Ausführungen in dieser Arbeit haben auf der Basis dessen gezeigt, dass es sich anbietet, den Blick auf narrative Medienformate zu lenken, mit denen es möglich wird, die sensopsycho-physische Struktur des Doing Space im urbanen Raum nachzuvollziehen, will man Raumschaffungsvorgänge rekonstruieren. Gemäß der triadischen Struktur des menschlichen Wohnens, in der sich leibliche Ent324 Ebenda.

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faltung mit einer privaträumlichen und öffentlichkeitswirksamen Entfaltung verbinden, haben sich zwei Perspektiven ergeben, die als Narrative dominant für die mediale Raumerschließung sind – der einheimische Flaneur und der nomadische Fremde. In ihnen finden sich einmal das Näheprinzip und einmal das Distanzprinzip verkörperlicht. Es geht um die Dichotomie von Innen und Außen, um Beheimatung und Entgrenzung, um Tradition und Innovation, um Beständigkeit und Varianz als Leitdimensionen eines leiblichen Inkarniertseins in private und öffentliche Räume. Während der einheimische Flaneur uns Strategien des Aufschließens einer vertraut gewordenen und mit dem Menschen aktional verschmolzenen Welt vor Augen führt, zeigt der nomadische Fremde die Notwendigkeit auf, sich dem Unbekannten auch ohne Rückzugsschutz zu stellen, um Wirksamkeiten und soziale Momente im entwicklungsförderlichen Sinne auch jenseits des Vertrauten zu finden. Ersterer macht damit exemplarisch deutlich, nach welchen Prinzipien und Impulsen Menschen bewusst und unbewusst vorgehen, wenn sie eine Gegend als vertrauten Raum synthetisierend erschließen und welche Ansprüche erfüllt sein müssen, damit sich die vorhandene Bindung an den entsprechenden Raum, sprich die Topophilie, entfalten kann. Er wird damit zum Advokaten des hergestellten und damit als heimatlich empfindbaren Identitätsraumes. Der nomadische Blick und daraus resultierende Handlungen hingegen konstituieren Räume ungeachtet und damit nicht selten quer zu ihren üblichen Wahrnehmungsweisen. Hierdurch kommen das kreative Potenzial, Transformationsoptionen und mit ihnen der Beweglichkeitsspielraum eines Ortes räumlich über unkonventionelle und subversive (Gegen-)Spacingprozesse zum Vorschein. Der nomadische Fremde kann damit vor allem als Advokat und Figuration des kommunikativen Erscheinungsraumes in seiner politischen Kraft gelten. Vor dem Hintergrund der Frage, wie im Zeitalter nachlassender Raumbindungen urbane Raumbindungen gefördert und nachhaltig gestärkt werden können, geben beide Narrative durch ihre Raumerschließungsstrategien somit eine je eigene Antwort, die zusammengenommen entscheidende und gleichsam vielschichtige Lösungen zum konstitutiven Umgang mit dem Ausgangsproblem liefern können. Denn beide tragen der von Stéphane Hessel proklamierten, aus freier Überzeugung begründeten Widerständigkeit des Menschen, der Fähigkeit sich zu empören und durch jene Affizierung Engagement zu entwickeln, Rechnung. Die Relevanz und Notwendig-

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keit dazu begründet der Sohn des Literaten Franz Hessel und Mitbegründer der UN-Menschenrechtscharta in einer Weise, die einmal mehr verstehen lässt, weshalb nicht nur der nomadische Fremde, sondern auch der einheimische Flaneur eine entscheidende Figur für einen verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichem Raum darstellt: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“325

Besteht der Widerstand beim nomadischen Fremden im Opponieren gegen das immer Gleiche und die verfestigten Strukturen, welche den Raum für produktive Affizierungen und die Möglichkeiten zu lustvollem Quergang minimieren, so setzt sich der einheimische Flaneur für die Bewahrung des Gewordenen als identifikatorische Ankerpunkte und ihre Daseinsberechtigung im gesellschaftlichen Wandel ein. Auch Bollnow hat diese Zweiseitigkeit und die Sinnfälligkeit ihrer Verwirklichung bereits erkannt. So betont er zum einen die Relevanz des Vertrauten für die Fähigkeit des Menschen, einen öffentlichen Raum zu bewohnen, führt aber zugleich auch aus, dass sich dieses nicht von allein sondern vielmehr im Aushalten der Spannung zwischen einer mitunter bedrohlich wirkenden Unbestimmtheit fremder Außenräume und eben jener Geborgenheit vertrauter Räume vollziehe.326 Es kann somit geschlussfolgert werden, dass mit den beiden in dieser Arbeit betrachteten urbanen Erzählfiguren der von Zukin zur Voraussetzung für urbane Lebensqualität erhobene Anspruch, „to connect an aesthetic view of origins and a social view of new beginnings“,327 seine mediale Artikulation findet und mit ihnen somit die zwei basalen urbanen Raumschaffungsprinzipien imperativisch zutage treten, derer sich Stadtplaner und alle anderen Verantwortlichen auf der öffentlichen politischen, kommunalen und Länderebene für die Konzeptionierung und Durchführung von Stadtentwicklungsprozessen und damit verbundenen Projekten als qualitative Messgrundlage bewusst sein müssen:

325 Hessel, Stéphane (2011): Empört euch! Berlin, S. 21. 326 Vgl.: Bollnow 2004 (1963): 310. 327 Zukin 2010: 234.

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1. Lebe (mit) deine(n) Wurzeln! 2. Sei offen für das Neue! Dass diese hinter den Imperativen stehenden Figuren Produkte narrativer Medienformate sind, ist damit zugleich ein Plädoyer für eine stärkere Fokussierung der städte- und damit lebensplanerisch Verantwortlichen auf populäre Medienformate wie den Roman, den Spiel- und Dokumentarfilm oder den Werbespot. Für die Planung konkreter Stadtraumprojekte und -interventionen kann nun die Kraft der narrativen Verdichtung in besonderer Weise nutzbar gemacht werden. Stellt sie über den flanerischen und nomadischen Modus einen für andere nachvollziehbaren Prozess der Konstitutionsweisen von Raum als relationaler Einheit dar, so kann die Anwendung und Übertragung ihrer Figurationen auf die Aktivierung und Optimierung urbaner Orte in ihrer raumbindenden Kraft förderlich wirken. Für den Umsetzungsprozess ist hierbei eines von entscheidender Bedeutung: Wenn man davon ausgeht, dass die Wirkungsstärke einer narrativen oder modellhaften Verdichtung – mit Lévi-Strauss gesprochen – „aus einer Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses“328 resultiere, dann muss also die Idee und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente klar sein, damit das Raum-Projekt in gewünschter Weise affiziert. Das bedeutet: Dem komprimierten Modell geht „die Erkenntnis des Ganzen der der Teile voraus.“329 Indem der Prozess der Raumerschließung versprachbildlicht wird, konstituiert sich „eine wirkliche Erfahrung über das Objekt.“330 Das könnte für die Stadtplanung bedeuten, dass diese bestehende oder aber anvisierte Projekte im öffentlichen Raum mittels einer raumkonstitutiven Checkliste dahingehend überprüft, ob sie überhaupt raumbindungsfördernd und damit stadtentwicklungsförderlich sind, entsprechend einer ausführlichen Klärung der Fragen, 1) welcher Strategie sich das einzelne Projekt bedient, das heißt, ob es eher auf Beständigkeit und Tradition oder aber auf Innovation und (subversive) Transformation ausgerichtet ist. 2) wie die dem Projekt hinterlegte Strategie zur gelungenen Raumbindungsstärkung im konkreten Fall umgesetzt wurde oder werden soll.

328 Lévi-Strauss 1994 (1962): 37. 329 Ebenda. 330 Ebenda: 38.

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Im nachfolgenden letzten inhaltlichen Abschnitt der Arbeit soll dies exemplarisch für drei verschiedene, bereits konzeptionierte und zum Teil durchgeführte Stadtraumprojekte expliziert werden. Damit wird gezeigt, dass die in dieser Arbeit entwickelte Antwort auf die Frage, wie städtische Raumbindungen nachhaltig stabilisiert und gestärkt werden können, in der Konsequenz zugleich ein Werkzeug bereitstellt, welches eine sichere Bewertung bestehender, aber auch neu zu entwickelnder Stadtprojekte im Hinblick auf ihr Raumbindungspotenzial liefern und damit einem bislang vorrangig intuitiv nachgegangenen Wirksamkeitsgefühl eine theoretische Fundierung bieten kann. Doch zuvor gilt es, die zwei genannten raumkonstitutiven Prüfaspekte zur Generierung jener Checkliste analog eines Kriterien- und Bewertungskatalogs zu entschlüsseln. Dass der Aspekt der Raumbindungsförderlichkeit im Sinne eines Stadtentwicklungspotenzials zunächst einmal die Frage zur Folge hat, welcher raumkonstitutiven Strategie sich das einzelne Projekt genau bedient, begründet sich im Wesentlichen aus der in dieser Arbeit herausgestellten Erkenntnis einer dreifachen Raumschaffungsfähigkeit des Menschen, die jeweils auf unterschiedliche Ziele ausgerichtet ist. Folglich ließe sich hier in erster Instanz auch fragen: Was für ein Raumtyp soll mit dem Projekt/der Inszenierungsidee konstituiert werden? Wie im Abschnitt 3.3 der Arbeit herausgearbeitet wurde, sind mit dem atmosphärisch gestimmten Weiteraum, dem kulturellen, heimatlichen Identitätsraum und dem kommunikativen Erscheinungsraum drei Raumtypen in Reinform denkbar, von denen allerdings der atmosphärisch gestimmte Weiteraum, da er leibbezogen konstituiert wird und durch seine atmosphärische Erscheinung eine Affizierungskraft besitzt, die zugleich phänomenologische und ästhetische Dimensionen beansprucht, stets in den beiden anderen Raumtypen Eingang finden muss. Somit bleiben, bezogen auf urbane Settings, der kulturelle, heimatliche Identitätsraum sowie der kommunikative Erscheinungsraum zwei mögliche, anvisierbare Zielräume, deren Merkmale im ersteren Fall Sicherheit, Beständigkeit und Identität durch eine erlebnisbasierte Aneignung der materiellen Umwelt sowie eine handlungsbasierte Einschreibung in ebendiese darstellen. Für den kommunikativen Erscheinungsraum gelten vor allem soziale Gemeinschaft, Teilhabe und eine Erfahrung von Vielfalt als Zielgrößen, die über das Aufeinandertreffen mit dem beziehungsweise den Anderen ereignishaft und dabei mitunter spiele-

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risch initiiert werden müssen. Die beiden narrativen Geh-Figuren des einheimischen Flaneurs und des nomadischen Fremden haben uns deutlich gemacht, auf welche Aspekte und Prozessdynamiken es bei der Konstitution des heimatlichen Identitätsraumes und des kommunikativen Erscheinungsraumes ankommt. Somit richtet sich der Fokus im Folgenden auf die genaue Strategie, mit der der Raum konstituiert werden soll und damit auf die Frage: Wie erfolgt die Umsetzung der dem Projekt/der Inszenierungsidee hinterlegten Strategie zur gelungenen Raumbindungsstärkung? Hier helfen uns ganz besonders die Abschnitte 4.1 und 4.2 der Arbeit, in denen auf das Doing (Urban) Space der beiden raumschaffenden Narrative eingegangen worden ist, wenn es gilt, die Übertragung dessen, was der einheimische Flaneur und der nomadische Fremde zur Herstellung ihres Raumes tun, in und auf die projektbezogene Inszenierung zu vollziehen. Zu diesem Zweck sind diverse Teilfragen denkbar, die sich gemäß der entsprechenden Raumschaffungsweise voneinander unterscheiden und den Erschließungssprozess (re-)konstruktiv begleiten helfen. Ein erstes Erschließen der atmosphärischen Gestimmtheiten im Sinne des für das Projekt gewählten Ortes unterscheidet sinnvollerweise noch nicht zwischen der Wahrnehmung der ortskundigen und ortsunkundigen Personen. Vielmehr fragt man hier nach der konkreten Impulskraft des Raumes auf der Basis seiner Gestalt und einer damit verbundenen Bedeutungszuschreibung. Dass in vielen Fällen neben der Bedeutungszuschreibung durch diese Frage auch eine Explizierung der eingeschriebenen Bedeutungen und damit des Aneignungsverhältnisses zwischen Mensch und hergestellter Welt erfolgen könnte, hängt mit der Tatsache zusammen, dass es unter eine heterogenen Gruppe von Menschen immer auch solche Personen geben wird, die eine oder verschiedene persönliche Beziehungen mit der Umgebung besitzen. Wichtig ist jedoch, in dieser ersten Erschließungsphase noch keine Vorauswahl der Wahrnehmungsangebote zu treffen, sondern vielmehr die Vielfalt der Ortswirkung so gut wie möglich herauszufinden. Dies kann gelingen, indem sich der handlungsermächtigenden Kraft des Raumes zugewandt wird und die konkreten Handlungen in ihrer Häufigkeit und qualitativen Ausprägung mittels Befragungen oder einer teilnehmenden Beobachtung erkundet werden. Auch die Frage danach, was über den gewählten Ort bekannt ist und über welche Zusammenhänge er in der Presse oder in Filmen sowie Romanen erwähnt wird, kann hier Rückschlüsse auf mögliche Einstellungen zur Umgebung liefern. Es können

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Planskizzen getreu des methodischen Ansatzes von Kevin Lynch zur Explizierung der Lesbarkeit einer Stadt angefertigt werden, die jene Unterschiede in der Wahrnehmung eines Ortes und damit seine unterschiedlichen Raumcharaktere zum Vorschein bringen.331 Der für ein Stadtprojekt ins Visier genommene Ort kann so in Form einer Affizierungslandschaft entfaltet werden, die deutlich macht, welche Aspekte und Elemente wie mit den dort befindlichen Menschen interagieren und – in Rückgriff auf Kathrin Busch – interpassionistisch wirken können. Hier gerät nun vor allem der Ortskundige in den Blick, denn ihm wird vor allem eine Verbundenheit mit dem Ort und damit eine Wahrnehmung desselben als heimatlichen Identitätsraum zugeschrieben. In einem zweiten Schritt sollten deshalb besonders die Planskizzen der Einheimischen im Hinblick auf bestimmte Aspekte betrachtet werden. Da es bei der Raumkonstitution des einheimischen Flaneurs vor allem um das Synthetisieren im Löwschen Sinne geht, erscheint es sinnvoll genau zu rekonstruieren, wie die entsprechende, im und mit dem Projekt fokussierte Umgebung für den Einheimischen gelesen wird. Hierbei kann eine Bezugnahme auf Lynchs Ausführungen nicht nur dabei helfen, Rückschlüsse auf den hodologischen Raum der Anwohner zu erhalten, sondern zudem die relevanten Elemente in der Umgebung durch ihre Markierung als Merkzeichen oder Brennpunkte und Grenzen oder Wege in der von Einheimischen anzufertigenden Planskizze zu identifizieren, welche für die Synthese des Raumes als einen angeeigneten Handlungsraum in den Beispielen notwendig erscheinen. Da der Ortskundige sich bereits häufig in der entsprechenden Gegend aufgehalten hat beziehungsweise aufhält, ist es erwartbar, dass nicht zwangsläufig all die für den Fremden auffälligen Dinge in den Fokus der Wahrnehmung rücken, sondern vermeintlich Unscheinbares hervorgehoben wird. Marginalitäten geraten somit nicht selten in den Mittelpunkt. Außerdem erzeugt gerade der womöglich von den offiziellen Wegen

331 Lynch hat in seiner qualitativen Studie Anwohner diverser US-amerikanischer Städte wie Detroit oder Boston gebeten, ihr Bild von der jeweiligen Stadt mittels einer Planskizze festzuhalten. Diese Methode erläutert und wertet der Autor in seinem Buch aus, weshalb an dieser Stelle für eine weitere Beschäftigung mit diesem Werkzeug darauf verwiesen werden soll [vgl.: Lynch 2001 (1959)].

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abweichende ausgezeichnete Weg332 der Einheimischen veränderte Bezugspunkte und Affizierungsoptionen, die die Synthese des bekannten Raumes über die Zeit immer weiter von der konventionellen Lesart entfernen können und gerade deshalb äußerst deutlich zutage befördern können, woran sich gestaltbezogen die bedeutungsbezogene Verbindung mit dem Ort festmacht. Auch können hier in Interviews erfragte bildhafte Repräsentationen der Empfindungen und metaphorische Imaginationen im Zusammenhang mit der Umgebung die Form der Heimaträumlichkeit als Gesamtheit vieler einzelner Erlebnisse und Erfahrungen sichtbar werden lassen. Das hierbei erzeugte Raumbild transportiert eine eigene Rhythmik und erfährt in der Kontinuität diverser Aspekte seine innere Geschlossenheit und Stabilität. Dies kann im Ergebnis eine Form der Eigenlogik eines Raumes markieren, die normalerweise leiblich erfahrbar ist, sich dabei aber eher selten sprachlich artikulierbar über die Personen in ihrer atmosphärischen Gestalt ergießt. Die zu klärende Frage im nächsten Schritt müsste demzufolge dahinführen, wie dieser als in sich geschlossene, sinnhafte und mit dem Selbst verschmolzene Raum sich auch für andere Menschen derart artikulieren kann. Es geht dabei um die In-Erscheinung-Bringung der affizierenden Elemente in ihrer Wirksamkeit, um die erweiterte Affizierbarmachung der Umgebung durch eine für den Fremden plausible narrative Translation der eigenen Affizierung und ihrer Gründe. Hier sind medial viele Möglichkeiten denkbar. Wichtig ist dabei vor allem, dass der Adressat, der Ortsunkundige, bewegt und emotional aufgeschlossen wird für die zu transportierende Raumerfahrung. Da sich Raumbindungen äußerst vielschichtig entfalten können, ist auch ihre Artikulation keinesfalls einheitlich darlegbar. Hier hängt die Inszenierungsweise zum einen sehr stark von den Dimensionen des Settings ab, welches den Handlungsraum markieren soll, kann aber auch je nach den Dimensionen, aus denen die Affizierungen sich vorrangig speisen, variieren.333

332 Der ausgezeichnete Weg wird von Bollnow unter Bezugnahme auf Lewin als der unter bestimmten Gesichtspunkten geeignete und damit genommene Weg beschrieben [vgl.: Bollnow 2004 (1963): 196]. 333 So gibt die besondere Geschichte, welche eine Person mit einem Platz in seiner Stadt verbindet andere narrative Anschlüsse als eine vorrangige Affizierung durch die gebaute Struktur oder geographische Lage eines Ortsteils.

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Zur projektbezogenen Übertragung des Raumerschließungsvorganges durch den einheimischen Flaneur können in Bezug auf seine Raumkonstitution zusammenfassend folgende Fragen hilfreich und vor dem Hintergrund der beschriebenen Vierschrittigkeit in der Genese prozessstrukturierend sein: 1)

Umfassende Rekonstruktion des Raumbildes ortskundiger und ortsunkundiger Personen:

• • • •

Was wird in der gewählten Umgebung getan? Warum? Was wird dort nicht (mehr) gemacht? Warum? Für wen ist der Ort wie lesbar? Zu welcher Handlung/welchen Handlungen hat/haben die Elemente in der Umgebung ermächtigt? Für welche identitätsstiftenden, entwicklungsförderlichen, sinnbildenden Erlebnisse hat die Umgebung Personen in der Vergangenheit und Gegenwart Raum gegeben? Für wen fungierte die Umgebung bezogen worauf als Rückzugsraum/Refugium?





2)

Redescription der Syntheseleistung des einheimischen Raumnutzers:

• • • •

Als was erscheint dem Anwohner/dem Einheimischen, der Ort? Welche Gedanken ruft er hervor? Was fesselt das Auge, jedoch nicht auf den ersten Blick? Welche Dinge, Gebäude, Personen affizieren den Anwohner, den mit dem Ort Verbundenen?

3)

Erschließung der durch den Ortskundigen hergestellten Heimaträumlichkeit bzw. der Raumbindungen durch die Rekonstruktion seiner Affiziertheit durch und seine Einschreibung in Elemente des gewählten Ortes:



Welche Gründe hat diese Affizierung bzw. könnte diese Affizierung haben? Welche (persönlich bedeutungsvollen) Geschichten sind in die Umgebung eingeschrieben?



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• • • • • • • • • •

Wie lassen sich diese (persönlich bedeutungsvollen) Geschichten explizieren? Wie hängen diese Geschichten gegebenenfalls miteinander zusammen? Lässt sich aus den Geschichten eine Systemlogik rekonstruieren, die die Umgebung zu einer räumlichen Einheit formt? Woran zeigt sich diese Einheit atmosphärisch bzw. phänomenologisch? Was kennzeichnet die Rhythmik der gewählten und betrachteten Umgebung? Was ist das Heimelige am gewählten Ort? Wodurch bietet der Ort Stabilität und Sicherheit? Wo zeigen sich in der gewählten Umgebung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Lassen sie sich verbinden, verknüpfen, versöhnen?

4)

Generierung einer Inszenierungsstrategie zur Translation der erschlossenen Raumbindung an den Ortsfremden beziehungsweise nicht mit dem Ort Verbundenen:



Anhand welcher Spuren kann das Nicht-mehr-Sichtbare wieder sichtbar gemacht werden? Wie können die für Nicht-Einheimische bzw. Nicht-Kundige stummen Zeugen, die materielle Welt, zum Sprechen gebracht werden? Welche Artikulationsmedien eignen sich dafür? Wie kann sich der Artikulationsvorgang konkret vollziehen? Welche Marginalitäten und Aspekte geraten wofür in den Mittelpunkt?

• • • •

Es tritt deutlich zutage, dass die Schaffung von Heimaträumen in der Stadtprojektarbeit zur Stärkung urbaner Raumbindungen ein Artikulationsprozess bestehender Raumbindungen ist, der sich wiederum als Narrationsprozess vollzieht. Der Grund hierfür ist ganz einfach: Da die (Re-)Konstruktion eines Ortes als Beständigkeits- und damit als identitätsstiftender Heimatraum an die Einschreibung von Menschen in ebendiesen und damit an die in den Dingen eingespeicherten Erlebnisse gebunden ist,

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muss hier zuallererst eine Artikulation genau jener Verbindung zwischen Mensch und Dingwelt, ein Ausdruck für das Verhältnis von hergestellter Welt und ihrer empfundenen und erlebten Impulskraft, angestrebt werden. Dabei hat der einheimische Flaneur mit seiner Raumkonstitution gezeigt, dass es aussichtsreich ist, auch und gerade scheinbare Nebensächlichkeiten bezogen auf ihre personenbezogene semantische Aufladung in den Fokus zu nehmen und nicht an der Oberfläche der Settinggestalt in ihrer Lesbarkeit für die Lektüre der zirkulierenden Energien des gewählten Ortes verhaftet zu bleiben (vgl. Schritt 2). Überhaupt benötigt man für ein auf Heimaträumlichkeit ausgerichtetes Doing Urban Space das Wissen der Ortskundigen, der Einheimischen selbst. Um das Beständige eines Ortes auch räumlich zu artikulieren, ist hier eine inszenatorische Übersetzungsleistung das inhaltliche Kernstück der Projektkonzeption und -durchführung, die den Transfer der im Einheimischen befindlichen Heimatraumvorstellung zum örtlich Unkundigen übernimmt (vgl. Schritt 4). Ihr Gelingen entscheidet dabei über den Erfolg des Projektes. Das Prinzip der Narration gelangt bei der Umsetzung strategisch in den Mittelpunkt der Betrachtungen (vgl. Schritt 3). Das hängt vor allem damit zusammen, dass im Prozess der projektbezogenen Raumschaffung auch der Nicht-Kundige qua physischer Bewegung durch die Umgebung ziehen kann, ihm aber die Verbindung dieses Spazierens mit der psychischen Bewegung des Einheimischen durch den Raum fehlt und die Wahrnehmung ihn mitunter zu ganz anderen Einschätzungen, entsprechend seines eigenen inneren Vorstellungsschatzes und biografischen Entwicklungsverlaufs, bringen wird. Die Narration fungiert hier als sinnenbezogenes, assoziatives Brennglas und eröffnet dem Nicht-Kundigen die Möglichkeit, den durchschrittenen, anonymen Ort, der für ihn zunächst keine Geschichte(n) erzählt, als einen gesprächigen Raum mit Tradition wahrzunehmen. Es geht folglich um das Gesprächigmachen einer Umgebung und ihrer Bedeutung für in ihr tätige Menschen.334 Dass es hierbei einfacher ist, die Affizierung(en), die der Raum auf den Einheimischen ausübt, mitzuerleben, wenn die Einstellungen und Biografien zwischen den Personen sich ähneln, scheint plausibel und macht gleichzeitig

334 Hier sei nochmals auf die von Lucius Burckhardt beschriebene fehlende Geschwätzigkeit postmoderner, urbaner Landschaften, hingewiesen, an der auch das beschriebene Gesprächigmachen des Ortes und seiner räumlichen Affizierungskraft ansetzen soll (vgl.: Burkhardt 2006: 105.).

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klar, dass trotz der narrativen Vermittlung der individuellen Raumbindungsgehalte die Raumbildung im Gegenüber nicht komplett beeinflussbar sein wird. Gleichermaßen ist aber auch erwartbar, dass die Vergegenwärtigung der Raumbindungen, die der Einheimische zu einem Ort besitzt, häufig erlebnishafte Gemeinplätze bedient, die viele Menschen selbst, eben nur an respektive mit anderen Orten besitzen. Somit sind sie an das Erleben Anderer anknüpfungsfähig und können in ihrer affizierenden, handlungsermächtigenden Kraft von örtlich Fremden erfasst werden. Für den Einheimischen selber bewirkt die Explizierung seiner mit einem Ort empfundenen Heimaträumlichkeit ebenfalls eine Raumbindungsverstärkung, da die eigene Einschreibung in eine Stelle, einen Platz, bei ihrer reflektierten Vergegenwärtigung noch bewusster zum Vorschein kommen wird und eine zuweilen als primitive Gegenwart empfundene Immersion in die atmosphärische Dichte des Raumes durch seine reflektierte Entfaltung in eine entfaltete Gegenwart überführt werden kann. Somit kann geschlussfolgert werden, dass sich urbane Raumbindungen über die Artikulation der Heimaträumlichkeit von einzelnen Orten sowohl für den fremden Besucher durch das Gefühl der Anschlussfähigkeit des Explizierten an eigene biografische Erlebnisse und Raumerfahrungen als auch für neue, noch nicht derart in den öffentlichen Raum eingeschriebene Anwohner sowie für den Einheimischen selbst verstärken lassen. Dabei kommt der Arbeit mit den Dingbedeutungen, der Rekonstruktion des Kollektivs von Menschen und Gegenständen, eine besonders herausragende Rolle zu. Das hängt mit einer Materialität der Kommunikation, die es in den Narrationsprozess mit einzukalkulieren gilt, zusammen. Und da ist es gar nicht so anders als in einer sich festigenden Freundschaft oder zwischenmenschlichen Beziehung. Hier geht es schließlich auch darum, Vertrautheit zu erlangen, indem man die Geschichten des Anderen erschließt, selber Teil der aktuellen Geschichten im Leben dieser Person wird und Spuren all dieser narrativen Biografiebausteine dinglich verankert findet. Die Form wird somit zum Affizierungspunkt für den Gehalt. Zur Raumbindungsstärkung in Städten bedarf es damit einer Sicht- und Nachvollziehbarmachung der Artikulation jener Verbindung von gebauter Welt und den menschlichen Erlebnissen und Bedeutungskonstitutionen, die sich mit ihr zu einem heimatlichen Wirkungsraum synthetisiert haben. Neben dem Erzeugen eines heimatlichen Identitätsraumes kann auch die Konstitution kommunikativer Erscheinungsräume für gestärkte Raum-

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bindungen in Städten sorgen, wie anhand der medialen Geh-Figur des nomadischen Fremden gezeigt werden konnte. Welche Fragen gestellt werden sollten, um Stadtraumprojekte auf diese Weise zu konfigurieren, soll nun in den Betrachtungsmittelpunkt rücken. Zunächst einmal muss bei der Installierung kommunikativer Erscheinungsräume beachtet werden, dass sie ihre Impulskraft entlang eines Bruches mit dem Konventionellen entfalten und dies genau deshalb geschehen kann, weil die ereignishafte Irritation stets den Beigeschmack eines Aufbruchs mit situativer Offenheit innehat, welche die Menschen diskursiv zu affizieren in der Lage ist. Nur das Dissensuelle, die Sichtbarmachung von Andersartigkeit, kann polarisieren. Das Konsensuelle, häufig in Gestalt des immer Gleichen, macht kommunikativ träge. Und wenn man davon ausgeht, dass die Raumbindungskraft von Orten des Austauschs und der Zusammenkunft die menschliche Lernlust und identitätsstiftende Selbst- sowie Fremderfahrung bedient, so wird nachvollziehbar, dass Weiterentwicklung und Persönlichkeitsbildung in eben solchen kontingenzbehafteten Räumen erst realisierbar werden. Nicht zuletzt deshalb sprechen Vertreter des Symbolischen Interaktionismus in Bezug auf den Prozess der Identitätsbildung von einem Dualen, bei der der Eigendarstellung des Individuums der gleiche Stellenwert eingeräumt wird, wie der Spiegelung seiner Wirkung durch den Gegenüber.335 Identität wird damit zu einer interaktiven Zielgröße, einem Ergebnis von Kommunikation. Die ereignishaft stattfindende Begegnung mit dem Fremden kann somit als zentral für die Identitätsbildung identifiziert werden. Diese Ausgangssituation, welche die zentrale Antriebskraft für den nomadischen Fremden darstellt, wurde in ihrer Signifikanz bereits im Abschnitt 4.2 dieser Arbeit ausführlich und beispielhaft als Gegenspacingprozess expliziert. Der zugrunde liegende Ort wird dabei in seiner Erscheinung unabhängig von dort bereits bestehenden und etablierten Nutzungs- und Aneignungspraktiken spontan und spielerisch umgedeutet und damit in seiner potenziellen Rolle – um mit dem Vokabular der Cultural Studies zu arbeiten – gegen den Strich gelesen.336 Und da

335 Vgl.: Krotz 2003: 34ff. 336 In der Disziplin der Cultural Studies werden Medienprodukte dann und deshalb als politisch beschrieben, weil mit und in ihnen unterschiedliche Lesarten der präsentierten Situation bzw. des dargebotenen Aspektes möglich sind. Neben der konventionellen Lesart, die mit den postulierten Machtansprüchen

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ein Ort, mit fremden Augen betrachtet, zum Teil wesentlich besser in seinem Qualitätspotenzial erfassbar werden kann, soll diese produktive Distanzierung für das hiesige Unterfangen in eine steuerbare Strategie überführt werden. Verbunden damit, bleibt zunächst die Frage zu klären, wie man Rückschlüsse auf mögliche Gegenspacingoptionen erhalten kann, ohne stets den ortsunkundigen Projektspieler mitdenken zu müssen. Eine mögliche Lösung bietet uns erneut Kevin Lynch mit seinen Planskizzen. Geht man davon aus, dass mit der Explizierung des Raumbildes durch den einheimischen Akteur ein Ort in seiner gängigen Lesart artikulierbar gemacht wird, so kann das unangepasste Vorgehen sich häufig aus der gewöhnlichen Nutzungsweise des Ortes generieren lassen. Dabei sind es gerade die außer Acht gelassenen Elemente respektive die Art der Nutzung von als zentral empfundenen Bestandteilen der Umgebung, welche dem Raum seine spezifische Couleur verleihen. Geht es nun um ein Umdeuten dieser eingefahrenen Raumnutzung, so verbindet sich damit folglich ein Ermöglichen anderer Tätigkeiten in dem Raum, als bislang dort stattfinden. Dies kann zum Beispiel bedeuten, man möchte einen kaum genutzten Innenstadtbereich reaktivieren oder den von einer homogenen Gruppe überfrequentierten Platz einer breiteren Nutzergruppe zuführen. An den soeben genannten Beispielen wird deutlich, dass im Groben zwei Formen der Neujustierung von Raumnutzungen im Sinne einer Etablierung kommunikativer Erscheinungsräume denkbar wären, die sich zum einen an der Hilfe zur Rückeroberung von durch Raumbindungsverlusten geprägten Ortsbezügen durch Wiederaneignung ausrichten oder aber an der Erweiterung eines nur eingeschränkt genutzten Ortes in seiner Raumbindungskraft durch strategische Öffnung orientieren. Geraten nun im Hinblick auf die Analyse bestehender Planskizzen, beobachteter Raumerschließungen im täglichen Tun oder spontaner Wirkungseinschätzung durch befragte Personen Elemente in den Blick, die als Hebel für eine Umjustierung der Spacingkraft des Raumes fungieren könnten, dann gilt es im Folgenden, die angestrebte Neuaufstellung zu fokussieren. Dabei gelangen Fragen nach dem veränderten Zusammenspiel der Be-

konform geht, lässt sich hierbei immer auch eine oder verschiedentliche Lesarten gegen den Strich vornehmen, die eher den kritischen Gegenpol zu ersterer markieren [vgl. z.B.: Morley, David (1992): Television, audiences, and cultural studies. London (u.a.), S. 118.].

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standteile des Raumes und nach der Form der spielerischen Irritation in den Mittelpunkt, was nicht selten zu einer Frage nach den Möglichkeiten einer Intervention in bestehende Raumnutzungsstrukturen führen wird. Dass solch ein Dazwischenkommen realexperimentellen337 Charakter hat, scheint einleuchtend, hat aber auch zur Folge, dass der spielerische Gestus der interventionistischen Inszenierung besonderes Augenmerk verdienen sollte und räumlich unbelastete Personen als Pioniere das veränderte Spacing anleiten oder aber zumindest begleiten sollten. Dies wiederum lässt die Vermutung zu, dass gerade (Theater-)Künstler und freischaffende Schauspieler, Sänger oder Tänzer aussichtsreich zu zentralen Akteuren in jenem Prozess werden können, da vor allem diese Personengruppe beide Aspekte ereignishaft in Einklang zu bringen versteht. Letztlich ist hier der Versuch einer ansprechenden Inszenierung zur Generierung von örtlicher Authentizität erster Ordnung338 dergestalt zu vollziehen, dass das hergestellte Erlebnis als in seiner ortsbezogenen Konstruktion wahrhaftig und leiblich affizierend wahrgenommen werden kann. Dabei sollte auf die performative Umsetzung, das Diskursive und den Aspekt der Narration in der Schaffung von Räumen kommunikativer Entfaltung geachtet werden. Letztlich vollzieht sich dieser Prozess der Installierung eines Erscheinungsraumes in Bezugnahme auf den Kreislauf der Kulturschaffung, wie er bei Siegfried J. Schmidt verhandelt wird, denn Schmidt versteht Kultur vor allem als permanenten Aushandlungsprozess, zu dessen Grundvoraussetzung kommunizierende Individuen gehören.339

337 Vgl.: Groß, Matthias/Hoffmann-Riem, Holger/Krohn, Wolfgang (Hrsg.) (2005): Realexperimente: ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld. 338 Zu der Unterscheidung von Inszenierungen 1. und 2. Ordnung vgl.: Düllo, Thomas (2011): Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover. Bielefeld, S. 441-469. 339 Schmidt 2000: 104f..

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Abbildung 3: Kultur als Kommunikationskreislauf nach S. J. Schmidt340

Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen

Interaktionsgemeinschaften mit Wirklichkeitsmodellen und soziale Konstruktionen von Wissensordnungen mit binärem Charakter

Fiktionen und fiktive Kommunalisierungen

Kommunikation

Auf dieser Basis geraten nun im Wesentlichen vier Schritte in den Blick, die in kulturellen Räumen ständig und in unzähliger Häufigkeit ablaufen. Zunächst begegnet ein Mensch anderen Menschen, nach Schmidt, stets situativ in Form von implizit vorhandenen Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen.341 Diese erzeugen in der Summe bezogen auf das Miteinander implizite Überzeugen, welche in Form von fiktiven Kommunalisierungen in den Kommunikationsprozess Einzug halten.342 Über den Austausch werden diese Annahmen geprüft, bestätigt, aber natürlich mitunter auch revidiert. All jene, die dabei feststellen, dass ihre Bedeutungskonstruktionen in ähnlicher Weise ablaufen und auf analoge Verständnisse und Annahmen von Weltgefügen und personalen Verfasstheiten hinweisen, bilden durch den Austausch dieser Gleichgestimmtheit Interak340 Eigene Darstellung der Schmidt‫ތ‬schen Ausführungen basierend auf: ebenda. 341 Vgl.: ebenda: 104. 342 Vgl.: ebenda.

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tionsgemeinschaften mit einem passfähigen Wirklichkeitsmodell.343 Dieses wird in der Folge die weiteren Erwartungserwartungen und Unterstellungsunterstellungen in neuen Situationen beeinflussen und zu gleichen oder ganz anderen Erfahrungen im Austausch mit anderen Menschen führen. Mit der wachsenden Häufigkeit des Durchlaufens dieses zyklischen Prozesses wird das entstehende Wirklichkeitsmodell somit immer differenzierter und in der Rigorosität seiner Positionen nicht selten auch relativierter. Was Schmidt damit aber zugleich auch deutlich macht, ist die Voreingenommenheit, mit der Individuen sich gewöhnlich in öffentlichen Räumen bewegen und diese durch ihr Handeln und Sprechen erzeugen. Gerade in bekannten Räumen haben sich bezogen auf das Handlungsrepertoire einer Person somit über die Zeit viele Restriktionen im mentalen Programm festsetzen können, die ein freies und unkonventionelles Handeln behindern oder gar völlig aus dem Fokus rücken können. Das subversive Agieren des nomadischen Fremden kann vor diesem Hintergrund seine emanzipatorische Wirkung dann entfalten, wenn es gelingt, über die Affizierung des in Konventionen verstrickten Gegenübers Stimmen in ihm zu aktivieren, die das Wirklichkeitsmodell in der Aushandlung produktiv und erweiternd zu bereichern vermögen. Gelingt das tatsächlich, so ist dies möglicherweise der Ausweg aus dem Teufelskreis einer sich vormals verstärkenden Gleichförmigkeit in der Nutzung und Meidung öffentlicher Plätze, denn das als befreiend empfundene Erleben des Selbst mit Anderen in veränderten raumbezogenen Bewegungen und Handlungen erzeugt in der Konsequenz eine veränderte Wiederbegegnung mit dem Ort und seinen Nutzern in der Zukunft. Kann hier anknüpfend an das vollzogene Gegenspacing auch wieder eine handlungsermächtigende Situation hergestellt werden, die den Raum als kommunikativen Erscheinungsraum in seiner entfaltenden Kraft für den Einzelnen in der Gemeinschaft erfahrbar macht, dann ist erwartbar, dass sich bezogen auf die Wahrnehmung des Ortes ein neues Bild und mit ihm ein verändertes Wirklichkeitsmodell in den Akteuren festigt. Das veränderte Agieren wird somit zur Gewohnheit, die erweiterte Nutzung des Ortes und seine Erfahrbarkeit als kommunikativ qualitätsvoller Raum ist erfolgreich vollzogen. Damit dies allerdings funktioniert, bedarf es neben den formalen, primären Gelegenheiten zum veränderten oder überhaupt erst InErscheinung-Treten der Menschen an einem Ort inhaltliche Impulse, die

343 Vgl.: ebenda: 104f.

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das Aufeinandertreffen der Personen als Anlass zu kommunikativem Austausch wahrnehmbar machen. Wie in Abschnitt 3.3.3 dieser Arbeit beschrieben, kann der Marktplatz der Polis nach Hannah Arendt als Prototyp des kommunikativen Erscheinungsraumes bezeichnet werden. Seine Verfasstheit macht ihn zu einem Setting, in dem zahlreiche Möglichkeiten der Einbringung des Selbst in den performativen Handlungsprozess vor Ort existieren und gerade die Lust auf das Heterogene und die Freude an der Vielfalt zur Triebfeder für den Besuch und die Einschreibung in den Raum werden. Stand bei der Generierung von heimatlichen Identitätsräumen der Aspekt der Narration im Vordergrund, so gerät hier zusätzlich das Diskursive, sprich die interkationenbasierte Aushandlung, in den Betrachtungsfokus. Wir erinnern uns, dass gerade durch den Diskurs in der Auseinandersetzung zu einer Sache, nach Gadamer, eine gemeinsame Wirklichkeit erzeugt wird, die allein im Aushandeln und Sich-Entäußern zu bestimmten Themen, also einzig in der artikulierenden Begegnung mit dem Anderen, begründet ist.344 Jedwede Teilnahme an solchen Kommunikationsanlässen schafft damit eine Erweiterung des Selbst durch das Zusammentreffen der eigenen Weltsicht und Überzeugungen mit denen anderer Menschen. Nicht selten werden, das wurde ebenfalls im Abschnitt 3.3.3 dieser Arbeit herausgestellt, gerade gemeinsame Erlebnisse einer Gemeinschaft narrativ zur Basis für eine diskursive Auseinandersetzung verwendet, um eine kollektive, alle affizierende Ausgangsbasis für den Austausch zu haben, was nicht selten zu öffentlichen Festen und feierlichen Zusammenkünften führt. Hier bleibt für die Schaffung von kommunikativ entfaltend wirkenden Räumen die Aufgabe, das Begegnen mit dem Anderen, dem Unbekannten, zu einer kalkulierbaren Erfahrung werden zu lassen, die es zugleich ermöglicht, selbst als Individuum sichtbar und verschiedenartig gespiegelt zu werden. Die Vorgangsweisen, welche für die projektbasierte Erzeugung kommunikativer Erscheinungsräume zur urbanen Raumbindungsstärkung vonnöten sind, lassen sich damit zusammenfassend über die folgenden Fragenpäckchen erschließend, gestaltend und reflexiv begleiten:

344 Vgl.: Gadamer 1997: 75.

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1)

Erschließung der defizitären Nutzung des betreffenden Ortes durch einen Vergleich der Raumwahrnehmung Einheimischer und Ortsunkundiger:



Wo sind blinde Flecken in der Raumnutzung durch Einheimische identifizierbar? Was kommt im Alltag hierbei zu kurz? Was fällt dem Ortsunkundigen sofort auf? Welche Wirkungen hat die Umgebung für Fremde? Wozu regt sie an, was verhindert sie, was bewirkt sie atmosphärisch?

• • • • 2)

Identifikation möglicher Aspekte, die den defizitären Nutzungsprozess transformieren, und der Möglichkeiten, das bestehende Spacing zu verändern:



Welche Bestandteile des Raumes scheinen ausschlaggebend für die bisherige, suboptimale Nutzung? Wie können diese als Elemente des räumlichen Gesamtgefüges im Zusammenspiel mit anderen Elementen umorganisiert werden? Was stellt in der gewählten Umgebung einen Bruch mit dem Konventionellen dar? Wie kann Öffentlichkeit hergestellt werden? Was treibt die Menschen zusammen? Worüber kann ein (regelmäßiger) Austausch erzielt werden? Was können die Teilnehmenden hierbei von sich und der Welt in Erscheinung bringen?

• • • • • •

3)

Umsetzung und Stabilisierung des konzeptionierten Gegenspacings:

• • •

Was ist das Andersartige, das Öffentlichkeit herstellen soll? Mit welchem Ereignis soll konkret interveniert werden? Wer initiiert den Bruch mit der konventionell eingeschriebenen Raumnutzung ereignishaft? Wie kann eine größtmögliche Interaktionsvielfalt erzeugt werden? Welche Rolle haben öffentliche Instanzen, die regionale Presse, Verwaltungsinstitutionen, Händler, Künstler und Interessengruppen kurzund langfristig dabei?

• •

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• • •

Wie kann das hier inszenierte Zusammentreffen in eine angenehme Regelmäßigkeit überführt werden? Was sollte dazu im Kern am Setting verändert werden? Welche Aspekte bedürfen keiner Veränderung?

Es war bereits auf den vorangegangenen Seiten davon die Rede, dass zum Abschluss dieser Arbeit der nun entwickelte Fragenkatalog mit seiner dahinter liegenden Strategie eines lenkbaren Doing Urban Space nicht nur dazu dienen soll, in Planung befindliche, stadträumliche Projekte fundierter anzugehen, sondern ebenso auch bereits bestehende Projekte entsprechend ihrer Raumbindungsqualität bewerten und einschätzen zu können. Anhand dreier Stadtraumprojekte, welche allesamt bereits durchgeführt worden sind, soll dies nun beispielhaft gezeigt werden.

5. Urbane Entfaltungsräume in der Praxis Beispiele gelungener Stadtprojektkonzepte zur nachhaltigen Raumbindungsstärkung

5.1 D ER PERSONALISIERTE F LANEUR : D AS ‚B UDDY G UIDE ‘-P ROJEKT IM R UHRGEBIET Das erste Projekt, welches unter Bezugnahme auf die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse zur urbanen Raumbindungsstärkung und ihrer projektbasierten Umsetzung eingeschätzt werden soll, ist das Projekt ‚BuddyGuide – Your travelling Companion‘, welches im Zeitraum von August 2005 bis zum Frühjahr 2008 im Ruhrgebiet, speziell in Essen, geplant und in einer ersten Pilotrunde auch durchgeführt wurde. Ursprünglich sollte es im Zuge der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Ruhr.2010 als orientierungsstiftende Dienstleistung eingeführt und hiernach europaweit ausgedehnt werden, was leider zum damaligen Zeitpunkt scheiterte. Nichtsdestotrotz soll die mit dem Projekt verbundene Form der personenbasierten Stadt- und Straßenerschließung in ihrer Konzeption nachfolgend genauer betrachtet werden. Inhaltlich verbirgt sich hinter dem Label ‚BuddyGuide – Your Travelling Companion‘ die Idee eines Netzwerkes an Menschen, die als Ortsansässige und damit einheimische Stadtführer nach thematischen Interessen gebucht werden können und getreu ihres Persönlichkeitsprofils Besucher in individuellen Erkundungstouren durch ihr jeweiliges Stadtgebiet führen. Auf der Basis dessen verbindet sich mit dem gewählten Projekt der Anspruch einer Translation individueller Raumaneignungsgeschichten, die

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für den Ortsunkundigen den besuchten Raum als narrativen Kulturraum mit spezifischen in die Umgebung eingeschriebenen Bedeutungen erscheinen und ihn damit zu einem lesbaren Sinngefüge werden lassen. Martin Mangold, der die BuddyGuide GbR zusammen mit Anja Soeder und Norwin Kandera inhaltlich und strukturell entwickelte, sieht die Kernidee des Projektes in der „persönliche[n] Begegnung zwischen Bewohnern und Besuchern vor dem Hintergrund der Kulturhauptstadt, die in einem dialoghaften Erkunden des Ruhrgebietes und seiner Straßen ein außergewöhnliches Erlebnis bilden soll.“1 Für ihn geht es vor allem um die Initiierung von „kulturellem Austausch und […] einer Verständigung über fremde Wertesysteme“,2 welche sowohl für den Besucher als auch für den Einheimischen „ein neues Bewusstsein für die eigene Identität und den eigenen Lebensraum“3 erzeugen soll. Mit Blick auf die hier vollzogene, dem Konzept zugrunde liegende Raumerschließungsstrategie lässt sich zweifelsfrei von einer flanerischen Raumkonstruktion sprechen. Das vom Bewohner Erlebte und ihn Faszinierende steht dabei im Verhältnis zu seinem eigenen Persönlichkeitsprofil, welches auf dem eigens für die Buchung der Buddies eingerichteten Internetportal eingesehen werden kann. So kann der Interessent in Abgleich mit seinen eigenen Interessen denjenigen Menschen auswählen, der sich von der Umgebung erwartbar ähnlich affizieren lässt und dem Besucher damit eine anschlussfähige Synthese des unbekannten Raumes vorschlägt. Insgesamt kann die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Reisebegleiter damit auch als eine Bandbreite an möglichen Synthetisierungen eines Stadtraumes gelesen werden, die die gewählte Umgebung durch eine differente Fokussierung auf ihre Bestandteile verschiedentlich dechiffriert. Erwartbar ist hierbei vor allem das Vermitteln eines subjektiven Raumbildes mitsamt seiner Merkzeichen und Grenzbereiche, das in der Regel vom standardisierten Syntheseangebot

1

Mangold, Martin (2009): Buddy Guide – Your travelling Companion. Ein Projekt zur Ermöglichung von Orientierung im kulturellen Raum in Essen. In: Geschke, Sandra Maria (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden, S. 258.

2

Ebenda.

3

Ebenda.

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konventioneller Reiseführer abweichen wird und gerade deshalb das Gefühl einer authentischen Raumerfahrung mit an die Narration von Erlebnissen gebundenem Affizierungs- und damit Bindungscharakter erzeugen kann. Wenn auch das Projekt selbst vorläufig scheiterte, so hat sich doch das Grundprinzip bereits vielerorts etabliert.4 Beispielsweise konnten Studieninteressierte zu den Campus Days 2011 an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg studienfachbezogene Reiseleiter buchen, die interessenbasierte Touren über das Universitätsgelände anboten.5 Dabei ist vom Prinzip her eine gleichartig, mit individuellen (Studien-)Erfahrungen gespickte Tour anvisiert worden, die zugleich ein spezifisches Syntheseangebot zu dem für den Nachfragenden unbekannten Ort macht. Durch eine beschleunigte Orientierungsschaffung kann so für den Ortsunkundigen eine hürdenfreiere Eingewöhnung in die neue Umgebung erfolgen, welche die Person langfristig zu einer sichereren Raumbindung führen kann, da sie bereits von Beginn an durch ihr Umfeld stabilisiert wurde. Frustration und einem daraus resultierenden Einkapseln kann somit durch eine geführte Raumerschließung vorgebeugt werden. Dem Individuum werden dabei Deutungsangebote an die Hand gegeben, welche das Bedeutungsgefüge, in dem es sich bewegt, sichtbar werden lassen und sortieren helfen können. Das Kennenlernen einer Person knüpft sich damit ganz eng an das Kennenlernen einer Umgebung. Dies ist ein weiterer Aspekt, der die Projektidee aussichtsreich erscheinen lässt, denn das Schaffen von sozialen Bindungen an einem Ort bewirkt dort gleichsam eine räumliche Bindungsstärkung. Das bereits explizierte Heimatverständnis von Bausinger versteht eine emotionale Verbundenheit mit den Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eines Ortes als Voraussetzung dafür, dass Menschen diesen attraktiv finden können. Genau dies macht sich das BuddyGuide-Projekt zunutze, indem die impliziten, lebensläufig erschlossenen Möglichkeiten des aktionalen Eingeschriebenseins in die gezeigte Umgebung durch den Einheimischen

4

Neben den vergleichbaren Exempeln, kann jedoch auch festgestellt werden, dass häufig themengebundene Stadttouren angeboten werden, die nicht an den Reiseleiterprofilen ausgerichtet sind und hierdurch mitunter auch an Raumbindungspotenzial einbüßen. Vgl.: URL: http://www.videobustour.de/ [Stand: 24.01.2012; 15:04 Uhr].

5

Vgl.: URL: http://www.reisebuero-fernost.net/ [Stand: 24.01.2012; 15:02 Uhr].

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Buddy mittels der Guided Tour narrativ für den Ortsfremden übersetzt werden. Dies ermöglicht eine Artikulation und – im besten Falle – auch einen interpersonalen Transfer bestehender Raumbindungsweisen. Bezugnehmend auf die beschriebene Vierschrittigkeit in der Projektkonzeptionierung und Projektrekonstruktion lässt sich feststellen, dass solch ein Projekt für genau diejenigen Orte erfolgversprechend sein kann, bei denen sich die Raumbilder der ortskundigen und ortsunkundigen Menschen stark voneinander unterscheiden Um dies herauszufinden, böte sich Schritt 1, also die an Lynch und Löw orientierte Rekonstruktion der Lesbarkeit und Synthese der Umgebung, an. Gesetzt den Fall, man stellt eine entsprechende Divergenz der Wahrnehmung fest und möchte die Sicht der Einheimischen für die Ortsfremden besser zugänglich machen, richtet sich nun das Augenmerk auf die hierfür auszuwählenden Personen. Hier darf und sollte die vorhandene Raumbindungsvielfalt nicht zugunsten eines einheitlichen Wahrnehmungsbildes reduziert werden. Somit muss die Zusammenstellung der Buddies und die Aufstellung ihrer Interessenprofile mit einer Redescription der jeweiligen, mit dem Profil verbundenen Syntheseleistungen einhergehen (vgl.: Schritt 2). Erwartbar sollte hier differenziert werden im Hinblick auf das Alter, das Geschlecht, das Milieu, aber auch ganz speziell bezogen auf individuelle Hobbies oder Lebenssituationen kann hier ein Special Interest-Bereich Stadttouren für Fußballfans, Gärtnerfreunde, frisch Verliebte, junge Eltern oder Nähbegeisterte anbieten. Wie genau die jeweiligen Touren konzeptioniert und vermarktet werden können, ergibt sich in einer Kombination aus Schritt 3 und 4. Zunächst sollte die räumliche Synthese des jeweiligen Buddies in Bezug auf die genaue kombinatorische Wahrnehmung der Elemente in seiner Umgebung klar sein. Dann kann über die narrative Inszenierung der Vermittlung jener Heimaträumlichkeit nachgedacht werden. Gehen wir zum Beispiel davon aus, dass eine junge Mutter, Mitte dreißig, die beruflich als Assistentin der Geschäftsführung in einem mittelgroßen Verlag arbeitet und in ihrer Freizeit gern kreativ mit Nadel, Faden, Schere und Stoffen umgeht, als Buddy eine Stadtteiltour für HobbyschneiderInnen und kreative Köpfe anbieten möchte, dann müsste man zunächst einmal erschließen, welche Anlaufstellen vor dem Hintergrund ihres Hobbies ortsbezogen relevant sein könnten. Hierbei geht man zunächst von den regelmäßig besuchten Geschäften oder Plätzen aus und versucht in einem Gespräch die hinter dem Besuch liegenden Motive zu explizieren. Dabei darf nicht das komplexe Profil des Buddies vernachläs-

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IN DER

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sigt werden. So ist unsere Beispielfrau berufstätige Mutter, was auf ein geringes Zeitbudget und ein besonderes Augenmerk auf nachwuchsaffines Gestalten deuten könnte. Bei der Wahl ihrer Lieblingsorte sollten diverse Aspekte klar kommunizierbar sein: Geht es um die Materialien, die man in Laden X bekommt oder doch eher um den Verkäufer, der immer eine spannende Geschichte erzählen kann? Ist das Café Y entspannender Treffpunkt junger Eltern, oder kann man hier einfach nur den besten Käsekuchen der Stadt essen? Sind die Geschäfte auf der Straße Z perfekt für Schnäppchenjäger oder kann man hier vor allem die trendigsten Bewohner der Stadt flanieren sehen? Ferner sollte stets nach Anekdoten im Zusammenhang mit dem, was der Person bereits vor Ort passiert ist, gefragt werden, um eine episodische Narration zu erstellen. Ist es vielleicht das große Warenhaus mit der riesigen Stoffeabteilung oder eher der kleine Handarbeitsladen mit der individuellen Beratung und den kleinen Tipps beim Kauf von Nähzubehör, der vor sechs Monaten die entscheidende Idee auf der Suche nach einem Hochzeitsgeschenk für die beste Freundin gab? Gibt es eventuell ein gemütliches Näh-Café in der Umgebung oder einen kontemplativen Ort, an dem der Blick auf spazierende Menschen oder tobende Kinder bei der Findung von Ideen regelmäßig inspirierend wirkt? Existiert vor Ort ein Wochenmarkt, auf dem es die Möglichkeit gibt, Selbstgemachtes anzuschauen oder selber anzubieten? Diese Auflistung lebt folglich von einer Mischung aus individuellen Geschichten der gewählten Person sowie aus erwartbaren Gemeinplätzen, die im Zusammenhang mit dem Themenfeld nicht außen vor gelassen werden sollten. Auch sollte gerade auf einen spannenden Mix geachtet werden, der die explizierten Motive – in unserem Fall bezogen auf die Verbindung: Frau, berufstätig, jung, Mutter, Hobbyschneiderin – vielfältig bedient. Es wird deutlich, dass es für eine Vermittlung der Beheimatung einer Person in einer Umgebung nötig ist, ihre Handlungsräumlichkeit narrativ, also episodisch, zu entfalten.6 Beim gemeinsamen Durchschreiten

6

Der touristische Fremde oder neu Zugezogene hätte so die Möglichkeit, seine eigenen Interessensprofile mit denen der Buddies anzugleichen und je nach Affizierungsvorliebe einen entsprechenden Partner herauszufiltern. Dies könnte technisch in der Vermarktung des Konzeptes mittels einer Checkliste bzw. eines Fragensets unterstützt werden, das auf der Internetseite analog zu den strategischen Werkzeugen einer Online-Partnervermittlung ein Matching zwischen Interessent und Anbieter durchführt.

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des Ortes kann so die im Einheimischen angelegte triadische Raumverbindung von Wahrnehmung, Schritt und Gedanke narrativ übersetzt und im Gegenüber verankert werden. Die mikrostrukturelle, taktische Raumschaffung – wie de Certeau sie nannte – kann so ihrer Unartikulierbarkeit enthoben und auch für andere raumbindungsstärkend nachvollziehbar gemacht werden.

5.2 ‚AUF DIE P LÄTZE !‘: N OMADISCH INITIIERTE E ROBERUNGEN DES ÖFFENTLICHEN R AUMES DURCH K UNST UND K ULTUR Im Zusammenhang mit der Explizierung von Schritten zur Konfiguration von Stadtprojekten, die das Raumschaffungspotenzial des nomadischen Fremden zur Grundlage ihrer anvisierten Raumbindungsstärkung haben, war auf den vorangegangenen Seiten bereits davon die Rede, dass diese vor allem zum Zwecke der strategischen Öffnung für zusätzliche Nutzergruppen beziehungsweise einer Rückeroberung für jene Menschen eingesetzt werden können, die sich durch eine etablierte Praxis an einem öffentlichen Ort von ebendiesem ausgeschlossen fühlen. Letzteres war auch die Motivation für das nun in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückende Projekt mit dem Titel ‚Auf die Plätze! Eroberung des öffentlichen Raumes durch Kunst und Kultur‘. Die Stadt Halberstadt initiierte diesen Aktionsabend am 14.09.2007 in Reaktion auf vorangegangene gewaltsame Übergriffe einer Gruppe radikaler Jugendlicher gegen eine Gruppe junger Schauspieler vom Nordharzer Städtebundtheater, dem Theaterverbund der Harzregion. Mit diesem Ereignis wurde diskursiv zur Sprache gebracht, dass der öffentliche Raum vor der eigenen Haustür von zahlreichen Bürgern an zentralen, öffentlichen Plätzen in den Abendstunden nur mit Einschränkungen als individueller Bewegungsfreiraum genutzt wurde, was bereits die defizitäre Einbindung der betreffenden Orte in den Lebensalltag markiert und damit zugleich eine grundsätzliche Formulierung des zu bearbeitenden Raumnutzungsproblems darstellt. So formuliert auch André Bücker, damaliger Intendant des Theaterverbundes, den gedanklichen Schritt, durch das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger und vereinzelte Gewalttaten zunächst festzustellen, „dass es halt Or-

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te gibt, die besetzt sind oder die man persönlich sozusagen mit der Schere im Kopf schon für besetzt erklärt und deshalb sie meidet“ als Ausgangspunkt für das stadtweite Projekt, denn „da war dann einfach der Schluss zu sagen, na ja, dann müssen wir da hin. Dann müssen wir genau da ansetzen, wo das Problem ist und das sind dann die Orte.“7 Diese Überlegung expliziert bereits Schritt zwei auf dem Weg zu einem raumbindungsstärkenden Doing Urban Space, nämlich die Identifikation von Aspekten, die den defizitären Nutzungsprozess transformieren und das bestehende Spacing verändern können. Für den vorliegenden Fall bedeutete eine Auseinandersetzung mit dieser Frage im Wesentlichen die Klärung von Formen der Ermöglichung von sozial förderlichen, öffentlichkeitsschaffenden Settings, die entgegen der bisherigen Situation die Menschen anlocken und zum Aufenthalt einladen. Jene Angebote für ein leibliches Inkarniertsein in den Außenraum, die – wie in dieser Arbeit herausgestellt worden ist – sehr eng an das Schaffen von als wahrhaftig und leiblich affizierend wahrgenommenen Erlebniswerten geknüpft sind und idealerweise einen künstlerisch, spielerischen Gehalt besitzen sollten, wurden in einer Weise, welche sehr nah an dem hier entwickelten Konzept des Doing Urban Space8 anknüpfbar sind, entwickelt. So baute das Projekt zunächst auf eine ehrenamtliche Zusammenarbeit zahlreicher Kulturinstitutionen, Verbände, Bürgerinitiativen und Parteien der Stadt Halberstadt und des Landes Sachsen-Anhalts mit dem Ziel auf, an genau den als auf Exklusion ausgerichtet identifizierten Plätzen kostenfreie und für alle Interessierten zugängliche, künstlerische Angebote zu bieten, die an jenen Stellen eine atmosphärische Dichte und damit Urbanität zu einer Tageszeit herstellen sollten, die ansonsten vor Ort ein komplett anderes Spacing jenseits von Offenheit und angenehmer Eingebundenheit erzeugt (vgl.: Schritt 3). Es lässt sich also gut erkennen, dass der Anspruch des Projektes eine Umcodierung der Wahrnehmung und Nutzung diverser öffentlicher Plätze jener Stadt durch ein ereignishaft inszeniertes Netz an ortsbezogenen Gegenspacings zum Aufbrechen alteingesessener Nutzungsmuster jener Plätze getreu der Feldtkellerschen These war, dass „[z]um Besten der Stadt […] in Zukunft nicht die Macht der Massenmedien, sondern ihre kulturelle Verknüpfung mit der unmittelbaren,

7

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:10:0000:10:20.

8

wenn auch ohne Kenntnis von diesem Projekt

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sinnlichen Kommunikation“9 zur Wiederbelebung des öffentlichen Raumes gehört. Bücker schätzt den Erfolg dieses Vorhabens der Belebung jener „unmittelbaren, sinnlichen Kommunikation“10 dabei rückblickend wie folgt ein: „Das hat, glaub ich, einfach wirklich stattgefunden, dadurch, dass sich Leute begegnet sind, dass sie in eine andere Stimmung versetzt worden sind, äh, also diese Plätze und diese Orte, diese Straßen, diese Wege, die wir alle kennen, völlig anders wahrgenommen haben, weil sie auf einmal auf ihnen unterwegs waren und bewusst auf ihnen unterwegs waren. Und so ist eben genau das entstanden, äh, Kommunikation. Miteinander sprechen, sich begegnen, auch sozusagen sich als Gruppe zu fühlen an diesem Tag. Es ist ja etwas ganz anderes, als wenn man völlig individualisiert seiner Wege geht, die alltäglich notwendig sind, zu den alltäglichen Verrichtungen oder ob man sozusagen zu einem bestimmten Zweck kommt, ähm, bewusster unterwegs ist und damit auch offener ist für etwas. Ja, das ist ja hochinteressant an der ganzen Geschichte.“11

Das Potenzial gefühlter Vergemeinschaftung und die damit verbundene Etablierung eines kommunikativen Erscheinungsraumes wurden hier als erreichte Zielgrößen und damit auch als qualitative Ansprüche definiert. Auch Urbanität, die sich aus der Beschreibung des Miteinanders an jenem Abend begrifflich herleiten lässt, war damit erklärtes und erreichtes Ergebnis des Projektes. Zur Umsetzung dieser Idee eines multilokalen Gegenspacings lässt sich folgendes zusammenfassen: Von 19.00 Uhr bis in die Nacht hinein wurde am entsprechenden Tag gezielt auf eine Belebung der zentralen Plätze Halberstadts „mit Kunst und Kultur“12 gesetzt. Diese damit evozierte strategische Öffnung der bürgerbezogenen Raumwahrnehmung kann als ästhetischer Anspruch an die Spacingangebote verstanden werden, welche an jenem Abend gemacht wurden. Dabei muss vor allem

9

Feldtkeller 1995: 151f.

10

Ebenda: 152.

11

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:08:17-

12

Programm zur Veranstaltung ‚Auf die Plätze! Eroberung des öffentlichen

00:09:12. Raumes durch Kunst und Kultur‘ unter: URL: http://www.halberstadt.de/ media/pdf/kultur/programm_.pdf; S. 2 [Stand: 17.08.2011; 14:48 Uhr].

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auf die herausragende Rolle der Kunst, die auch bereits im Abschnitt 4.2.2 dieser Arbeit als taktische Maßnahme des nomadischen Fremden am Beispiel des Levis-Spots expliziert wurde, eingegangen werden. Analog zur durch den Eismann im Werbespot errichteten Entfaltungsoase inmitten vormaliger Nicht-Örtlichkeit lassen sich auch die Spacings der einzelnen Stationen beim ‚Auf die Plätze!‘-Event lesen. Ähnlich wie der Gitarre spielende Fremde im Clip wurden auch durch die einzelnen Bühnen und Aktionen an den unterschiedlichen Plätzen der Stadt Inseln der Gemeinschaft nach dem Prinzip der Herstellung von Weiteräumlichkeit über die sinnliche Erzeugung atmosphärischer Dichte installiert. So konnte man inmitten der Stadtplantage, einer großen, zentrumsnahen Parkanlage, einem Ballettstück mit ruhiger Musik und zurückhaltender, auch die Bäume im Umfeld inszenierender Lichttechnik beiwohnen, auf dem Bahnhofsvorplatz diversen kleineren Lesungen lauschen, oder aber vor dem leer stehenden Klubhaus eine Filmvorführung begleiten. Vor einem der städtischen Gymnasien spielte das Jugendblasorchester der Stadt, auf einer weiteren innerstädtischen Grünfläche wurde ‚Der zerbrochene Krug‘ und auf dem Fischmarkt im Stadtzentrum ein Sinfoniekonzert mit Blick auf die beleuchtete Sakraltopographie der Stadt aufgeführt. Das künstlerische Repertoire war somit breit aufgestellt und die Wahl der Stücke stand weniger in inhaltlicher Relation zu den jeweiligen Aufführungsorten, sondern ließ sich „eher im Sinne einer dramaturgischen Setzung für gewisse Orte für einen Gesamtweg“13 verstehen, der dem Zuschauer Gelegenheit dazu geben sollte, anstatt seiner monotonen Alltagsrolle selber die Erquicklichkeit des Wanderns im Sinne der romantischen Tradition als Verbindung von Ziel- und Wahrnehmungsoffenheit im Besuchen und Erlaufen der einzelnen Stationen zu erfahren. Diese Stationen fungieren dabei in ihrem Zusammenspiel als artikulierbar gemachte Seelenlandschaft, die das Potenzial der Örtlichkeiten für künstlerische und damit gedankliche Entfaltung, für Kontingenzerfahrungen im öffentlichen Raum im Unterschied zur bisherigen Erscheinung über das Schaffen von Affizierungsmöglichkeiten durch strategisch gesetzte Perturbationsmomente ermöglichen. Die durch die diversen Gegenspacings der Künstler in ihrer Funktion als nomadische Fremde erzeugten Spielräume, treten nun für die Anwohner

13

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:15:5800:16:03.

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des Ortes, welche sich mit ihren konventionellen Alltagsnutzungen durch den Raum bewegen, ereignishaft in dieselben ein und erzeugen eine produktive Distanzierung durch jenen Bruch mit dem Geläufigen. Da die Angebote sinnlich, spielerisch, irritierend und in ihrer Gemachtheit somit affizierend sind, tragen sie ein kulturschaffendes Potenzial, indem sie situative Offenheit erzeugen. Die Besucher der Aufführungen werden dabei ganz unversehens selbst zu Teilen der Inszenierung, weil sie mit ihrer Präsenz vor Ort den dort geschaffenen Raum mitbestimmen. Bücker drückt diese unbewusste Partizipation an der Inszenierung wie folgt aus: „Die gehen vielleicht nur raus, um etwas zu sehen, was dort geboten wird, sind aber gleichzeitig Akteure, dadurch, dass sie die Orte beleben, die Orte verändern, und, ähm, ja, und dadurch wird das Ganze, die ganze Inszenierung wieder authentisch, sag ich mal.“14 Damit kommt das von Jane Jacobs postulierte genussvolle und freiwillige Teilnehmen am öffentlichen Leben vor der eigenen Haustür als Garant für Sicherheit15 auf öffentlichen Plätzen auch hier sehr deutlich zum Tragen als Weg zu einer urbanen Stadtlandschaft mit hohem Lebenswert, welches der damalige Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters prägnant zusammenfasst mit den Wörtern: „Viel hilft viel. Viele Menschen auf der Straße machen das ganze sicher.“16 Der Einsatz von künstlerischen Ausdrucksformen beim betrachteten Stadtprojekt ‚Auf die Plätze!‘ arbeitet wie auch und vor allem der Titel mit semantisch angebundenen Verheißungen von Befreiung, Spiel, Einsatzfreude und einem Impuls für den neuen Anfang. Während der Titel vor allem aufgrund seiner assoziativen Nähe zum Wettkampf- und Sportbereich für jeden in seinem Aufforderungsgehalt zu Ende formulierbar ist17 und einen positiven, aktivierenden Gehalt transportiert,18 sind die künstlerischen Ausdrucksformen vor Ort in ihrer Bedeutung interpretativ ausdeutbar und bieten damit die Möglichkeit zur Anregung des Geistes und zur Weitung

14

Ebenda: timecode: 00:04:18-00:04:37.

15

Vgl.: Jacobs 1963: 33.

16

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:27:35-

17

„[J]eder kann sozusagen den Satz zu Ende bilden: Auf die Plätze, fertig, los!“

00:27:40. (Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:17:2000:17:23.) 18

Vgl.: ebenda: timecode: 00:17:26-00:17:28.

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der An-Sichten. Es soll ermöglicht werden, wieder anzufangen, die gemiedenen und damit für die persönliche Wahrnehmung der Bewohner verloren gegangene Bindungskraft an die öffentlichen Plätze zu erleben. In diesem Sinne kann der Wirkmechanismus von Kunst als strategischer Öffner für die öffentliche Raumbindungsoptimierung gut aus seiner Doppelfunktion von kommentierter Weltsicht auf der inhaltlichen Seite und Ästhetisierung der Wahrnehmung auf formaler Seite im betrachteten Projekt seinen Einsatz finden. Auch Bücker spielt auf diese duale Funktion von Kunst an, wenn er sagt: „Ich glaube, das Theater hat immer als Aufgabe die Sichtbarmachung von Zusammenhängen.“19 Das Wort ‚Zusammenhänge‘ bildet diese Zweiseitigkeit von ästhetischer Form und kommentierendem Inhalt sehr gelungen ab. Kunst als Artikulationsmittel der Bedeutungsgewebe unserer Gesellschaft zu betrachten, heißt damit auch zugleich, sie als Sichtbarmacher von bestehenden oder aber neuen Spacings und Syntheseleistungen deshalb ereignishaft einsetzen zu können, weil durch ihre affizierende Kraft – wir denken an Massumis Theorie der Affizierung – Bewegungsspielräume erzeugt werden, die relational lesbar sind und damit konstellative Verschiebungen in ihrer Alternativkraft zum Bestehenden wahrnehm- und nachvollziehbar machen können. Dass das wiederum einen hochgradig politischen Charakter hat, zeigt sich darin, dass hier ganz besonders gut ein Darstellen und Nebeneinandertreten von Diversität erfolgen kann, also dass dem Anderen qua Performance die Möglichkeit zur Teilnahme am Diskurs und damit ein Sichtbarwerden im Arendtschen Sinne ermöglicht wird, was im vorliegenden Projekt ja per se das Basisanliegen im Hinblick auf die Rückeroberung der öffentlichen Plätze innerhalb der Stadt war. Das Prinzip des nomadischen Fremden, einen Raum über die spielerische Konstellierung von Settingelementen für den mit dem Ort Vertrauten ereignishaft zu inszenieren, bedeutet damit allem voran, einen neuen Anfang im Umgang und der Wahrnehmung eines Ortes für die betreffenden Personen möglich zu machen. Dass das Sichtbarmachen und Verschieben von Konstellationen indes am besten gelingt, wenn die Aufmerksamkeit geschärft und im Austausch lebendig gehalten wird, beziehungsweise wenn es – mit Bücker gesprochen – um „das klare Herausarbeiten von Fragen, von – also weniger das Antwortengeben, […] [sondern um; Anm. SMG] das klare Herausarbeiten von

19

Ebenda: timecode: 00:05:10-00:05:16.

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Fragen, um Problematiken deutlich zu machen, um Bewusstsein zu schaffen, um Sensibilität zu schaffen für etwas“20 geht, zeigen auch die Resonanzen im Anschluss an den Projektabend. So liest man auf der Internetseite des Nordharzer Städtebundtheaters in zahlreichen Pressestimmen und Leserbriefen umfänglich positive Einschätzungen des Aktionstages21 und auch Bücker berichtet vom überwiegend begeisterten Feedback der Bürger und ebenso der teilnehmenden Künstler: „Und die Menschen haben an dem Abend die Stadt auch wirklich ganz neu erlebt, ganz viele davon. Und das das ist schon toll. Und es hatte ja wirklich eine unglaublich schöne Atmosphäre hier an dem Abend, wo alle, also inklusive mir und auch den Leuten, die hier, die Kollegen, die schon so lange da sind, sagen: ‚Das haben wir hier noch überhaupt nicht erlebt.‘ Ja. Das ist schon verrückt.“22

Die Irritation, die Perplexität, das Verrücken des scheinbar Selbstverständlichen konnte somit neben dem sinnlichen Angesprochensein eine Affiziertheit des Geistes und damit ein Beweglichwerden der eigenen Gedanken und Positionierungen schaffen – im mentalen wie im realen Raum. Was das abendliche und nächtliche Stadtbild an vielen Stellen zuvor grundsätzlich prägte – eine unangenehme, atmosphärische Leere, die den öffentlichen Raum zu einem gemiedenen Raum und die urbane Aufgabe einer Teilhabe am Stadtbild zu einer als unangenehm empfundenen Aufgabe machte23 – konnte somit erfolgreich gewendet werden. Die Aufforderung zum Auf-die-Plätze-Kommen, also als Bürger der Stadt wieder Teil seiner Öffentlichkeit zu werden, hätten die Bürger ohne jene Gegenspacingangebote schwer – vor allem aufgrund ihrer mentalen Modelle bezogen auf die Wahrnehmung des öffentlichen Raumes am Abend – aus sich selbst heraus realisieren können. Impulsgeber und Antriebsfeder waren somit neben den engagierten städtischen Institutionen und Vereinen vor allem die

20

Ebenda: timecode: 00:05:17-00:05:38.

21

Vgl.: http://www.harztheater.de/aufdieplaetze [Stand: 06.09.2011; 13:27 Uhr].

22

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:15:00-

23

Vgl.: Bücker, André / Henke, Andreas: AUF DIE PLÄTZE! - Aufruf von

00:15:20. Oberbürgermeister und Intendant. Unter: URL: http://www.halberstadt.de/de/ startseite/index.php?cid=104140003617 [Stand: 17.08.2011; 13:12 Uhr].

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eingesetzten Künstler mit ihren Programmen, die die Aufgabe, zivilgesellschaftliches Engagement durch eine Nutzung der öffentlichen Räume zu stärken, für den Bürger zu einer angenehmen Erfahrung haben werden lassen, indem ihr ereignishaftes Gegenspacing situative Offenheit und damit vor allem wieder ein Gefühl für die Vielfalt des öffentlichen Stadtraumes beim Durchqueren seiner Plätze hervorbringen konnte. Neben den bereits genannten künstlerischen Interventionen soll noch eine gegenständliche Installation im öffentlichen Raum nicht unerwähnt bleiben. So platzierte der Bildhauer Daniel Priese zur Materialisierung der diskursiven Kommunikation zum Thema Demokratie einen Stein der Erinnerung an jene Stelle, die Tatort der gewaltsamen Übergriffe auf die Ensemblemitglieder der Theaters und damit Auslöser für die Entscheidung zur Durchführung des Aktionsabends war. Dieser Stein verblieb auch Tage nach dem Event an jener Stelle mit dem Ziel, das örtliche Spacing in zweierlei Weise nachhaltig zu verändern: Einmal, zum Zwecke der Mahnung in Bezug auf den Übergriff, zum anderen jedoch auch und vor allem als Memorierobjekt zur dinglichen Konservierung der Atmosphäre des Veranstaltungsabends, welches durch seine Beständigkeit auch nach Abzug der Künstler und dem Einzug des Alltags vor Ort in Bezug auf das Gewesene affizierend spricht und damit eine mögliche Variante im Umgang mit einer Erhöhung der Nachhaltigkeit solch eines Gegenspacing-Projektes getreu des dritten Schrittes in der Projektkonzeptionierung und -rekonstruktion im nomadischen Modus darstellt. Das Projektziel, sprich „eine Rückeroberung des öffentlichen Raums unter Einbeziehung aller demokratische[r] Kräfte mit den Mitteln von Kunst und Kultur“24 konnte folglich aussichtsreich anvisiert werden, da die zentralen Schritte eines nomadisch strukturierten Doing Urban SpaceKonzepts zur Raumbindungsstärkung – wenn auch unbewusst und in Unkenntnis der zugrundeliegenden Theorien – zur Anwendung gebracht wurden. So wurde nach einem auf der Basis der Raumnutzung der Bewohner des Ortes konstatierten öffentlichen Wirkraumverlusts unter Mitwirkung künstlerischer Institutionen und Gruppen ein Gegenspacingkonzept erarbeitet, welches die Raumbindung an gerade jenen öffentlichen Plätzen stärken sollte, von denen sich die Bürger zunehmend selbstverständlich abkehrten. Hierbei nicht ausschließlich auf ein punktuelles Bespielen eines solchen Platzes zu setzen, sondern alle entsprechend atmosphärisch leeren Räume

24

Ebenda.

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ereignishaft in ihrer Wahrnehmung umzucodieren, kann vor dem Hintergrund des Ziels einer nachhaltigen Entfaltung von Urbanität als besonders sinnvoll bewertet werden. So multipliziert sich das an sich singuläre Gegenspacing durch die tagesgleiche Präsenz an den unterschiedlichen Orten in der Wahrnehmung der Zuschauer zu einer gesamträumlichen Erfahrung ihrer Stadt als lebendige, offene und pulsierende Stadt, was wiederrum nicht nur die einzelnen Räume in ihrer Synthetisierung verändert, sondern darüber hinaus auch beim Betreten und Genießen der verschiedenen Settings das veränderte Verhalten an den vormals gemiedenen Orten einstudieren hilft. Man könnte auch von einem erlebnishaft gesteuerten Lernprozess im situativ offenen Neu-Erschließen von eigentlich bereits (vor-)urteilsbehafteten Plätzen sprechen, der zugleich dabei helfen kann, die eigene Stadt von einer neuen und freiheitlicheren Seite zu sehen. Denken wir an den Kreislauf der Kommunikation als Modell von Kultur bei S. J. Schmidt25, dann kann gerade diese Rekursivität in der positiven Erfahrung von eigentlich als negativ abgestempelten Orten auch eine stärkere diskursive Kraft entwickeln. Hier geraten vor allem wieder die Bürger in den Mittelpunkt, da ihre Bewegung durch den Raum und das damit verbundene Aufeinandertreffen der Menschen an den unterschiedlichsten Stellen in einer Phase ihrer produktiven Distanzierung von den ursprünglichen mentalen Modellen sich besonders leicht in ihre Interaktion einbinden lässt. Schließlich ist ein Gegenspacing ein Ereignis und Ereignisse können an sich als diskursfreundliche Elemente in der öffentlichen Kommunikation angesehen werden. Ein Konglomerat an Gegenspacings bedeutet nun ein ganzes Gemengelage an Ereignissen, die ein umso stärkeres Diskurspotenzial besitzen, deren thematische Einheit im Ganzen aber auch ein Aufeinanderbeziehen und damit die Kommunikation der Menschen untereinander erleichtert, was maßgeblich zu einer Stabilisierung des konzeptionierten Gegenspacingkomplexes beitragen kann. Auch die Vielfalt der beteiligten Akteure kann für den Betrachter „[d]as Potential einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft“26 nicht nur sichtbar, sondern auch erlebbar machen.

25

Vgl.: Schmidt 2000: 104f..

26

Bücker, André / Henke, Andreas: AUF DIE PLÄTZE! - Aufruf von Oberbürgermeister und Intendant. Unter: URL: http://www.halberstadt.de/de/startseite/ index.php?cid=104140003617 [Stand: 17.08.2011; 13:12 Uhr].

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Damit bleibt die Frage nach dem Pioniercharakter des beschriebenen Projektes für andere und ähnliche Anlässe. Bücker beispielsweise nimmt den Erfolg des Projektes zur Grundlage für Überlegungen zur Neustrukturierung der städtischen Festkultur und damit für den Anstoß eines öffentlichen Diskurses über die im öffentlichen Raum gemeinsam begangenen, performativ inszenierten Ritualräume: „Aber, was man zum Beispiel machen könnte, was auch ganz interessant wäre, zu sagen, okay, was ist denn das gewesen an diesem 14.? Und es hat so viele Leute begeistert. Wollen wir nicht eigentlich unsere Festkultur mal ein bisschen überdenken? Also, brauchen wir ein Altstadtfest in der und der Form, wie es hier ist, oder brauchen wir nicht eigentlich was ganz anderes? Oder wollen wir nicht eigentlich so was irgendwie zur Institution machen oder ausbauen oder in irgendeiner Form verändern? Weil, Wiederholung ist da immer so das Problem. Ne, das kriegt man nicht hin, da muss man sich sehr genau überlegen, äh, in was für einer Form man vielleicht ein ähnliches Konzept institutionalisieren kann. Wäre auch eine Aufgabe. Ja?! Darüber nachzudenken.“27

Ferner ließe sich darüber nachdenken, ob die mit dem Projekt vollzogene Form des rekursiven Lernens durch ereignishafte Gegenspacingprozesse, die vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Intention und inhaltlichen Verbindung temporär oder aber lokal verschiedentlich auftreten, nicht auch in anderen Zusammenhängen fruchtbar gemacht und zur strategischen Anwendung gebracht werden kann. In dieser Betrachtung lässt sich durchaus zeigen, dass es lohnt, nomadische Raumerschließungsprinzipien zur Grundlage für Stadtprojekte zu nehmen, die entlang der bürgerbezogen konventionellen Sicht auf die öffentlichen Plätze einer Stadt situative Offenheit herausfordern und im Spiel mit den Bewegungsspielräumen, die sich daraus ergeben, Diskurse in Gang setzen und damit auch langfristig für kulturelle Transformationen entgegen eingefahrener Gewohnheiten sorgen können.

27

Interview mit André Bücker. Halberstadt, 19.09.2007, timecode: 00:25:5700:26:49.

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5.3 F LANEUR MEETS N OMADE : D AS H ALBERSTÄDTER ‚V ORLESEPICKNICK ‘ ALS NARRATIVE U MCODIERUNG EINER B RACHFLÄCHE AN DER S CHNITTSTELLE ZWISCHEN FLANERISCHER UND NOMADISCHER R AUMERSCHLIESSUNG Selbstverständlich lassen sich nicht nur solche Projekte finden und planen, welche sich entweder die Taktiken der flanerischen oder aber nomadischen Raumschaffung zum Vorbild für jene durch sie anvisierte strategische Raumbindungsstärkung machen. Stattdessen existieren natürlich auch solche Herangehensweisen an die Verknüpfung von Mensch und Ort, die sich durch eine Verzahnung beider Techniken auszeichnen. Ein solches hybrides Projekt soll den Abschluss der in dieser Arbeit explizierten städtischen Aktionen bilden. Im Zuge der IBA 2010 Sachsen-Anhalt hat sich neben 18 weiteren schrumpfenden Städten auch Halberstadt mit seinem Bevölkerungsrückgang beschäftigt und sich Gedanken zu einem nachhaltig gewinnbringenden Umgang mit den Grenzen des eigenen Wachstums gemacht. Für die Vorharzstadt war dieses Vorhaben konkret mit einem Fokussieren auf den Aspekt der Leere verbunden, welches im Slogan ‚Kultivierung der Leere‘ seine positivistische Programmatik finden sollte. Im Rahmen der IBA wurden vor diesem Hintergrund zahlreiche Aktionen geplant, die im Ganzen in einen ‚Trainingspfad des Sehens‘ münden sollten, welcher „unterschiedliche Formen und Wahrnehmungen leerer Räume in Halberstadts Kernstadt“28 erlebbar machen will. Dementsprechend fanden jene Projekte an solchen Plätzen statt, die ihrer ursprünglichen Funktion beraubt und umfunktioniert wurden oder aber als solche bereits gänzlich brach lagen. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung zum Thema ‚Ästhetik der Leere‘, konzipiert von Martin Peschken und im Jahre 2007 durchgeführt im leer stehenden Städtischen Hallenbad, wurden jene Orte und die dabei auftretenden Formen der Leere interdisziplinär und begriffssemantisch unter die 28

Heilmeyer, Florian (2010): Halberstadt: Kultivierung der Leere. In: Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010: Weniger ist Zukunft. 19 Städte – 19 Themen. Berlin, S. 624.

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Lupe genommen.29 Auffällig dabei ist, dass hier ein an sich negativer, da mit Stillstand und Wachstumslosigkeit konnotierter Begriff in seiner Bedeutung erweitert, weil ins Schöpferische gewendet und als dynamisch und befreiend dargestellt wird.30 Jene Auseinandersetzung mit einem für die Stadt, welche im Zweiten Weltkrieg zu über 80% zerstört wurde und deren erhaltene Altstadt der sozialistischen Stadtentwicklung fast auch noch zum Opfer fiel, charakteristischen Element ihrer Selbstwahrnehmung setzt somit an zwei basalen Identifikationspunkten an – an der Verlust markierenden Leere im Sinne eines Fehlens von vormaligen Identifikationspunkten wie dem Gebäude- und Gassenkomplex Abtshof in der Altstadt, aber auch an der durch erhabene Leere gekennzeichneten Existenz markanter städtischer Identifikationsorte wie dem Domplatz. Beide Aspekte sollen mit so genannten ‚Picknicken‘ im Sinne von geplanten Zusammenkünften der Bürger und anderen Stadtrauminteressierten in einen produktiven Dialog gebracht werden und als gleichermaßen spannende Ausgangspunkte für eine gemeinschafts- und raumbindungsstiftende Vergewisserung der Potenziale der Stadt ins bürgerliche Bewusstsein gerückt werden. „Leere ist eine unglaubliche Ressource. Man braucht das leere Blatt, um mit etwas Neuem anzufangen. […] Leere stellt uns Fragen, nach dem, was diese Orte einmal waren, nach ihrer Geschichte und nach unseren Wünschen für ihre Zukunft.“31 Peschken artikuliert hier die Basisüberlegung, auf welche die Aktionen an den einzelnen Stationen auf dem ‚Trainingspfad des Sehens‘ fußen sollten. Es ging ihm und den übrigen beteiligten Akteuren darum, die dortige Leere zu „besetzen, aus der Alltagswahrnehmung herauszunehmen und eine Sensibilität dafür zu entwickeln“32 mit dem Ziel, „die Bewohner für ihre städtischen Räume und gerade für die Spezifika ihrer Problemstellen zu sensibilisieren. Hierdurch soll ein Bewusstsein der Vorstellungen von einer le-

29

Daraus hervorgegangen ist ein Heft, welches die Ausstellung und damit auch das Grundkonzept Halberstadts im Umgang mit dem Aspekt der Leere dokumentiert: Peschken, Martin (2007): Ästhetik der Leere. Dessau.

30 31

Vgl.: ebenda: 21. Dr. Martin Peschken und Detlef Weitz im Interview (2010): Wir haben den kreativen Ansatz gesucht. In: Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Internationale Bauausstellung Stadtumbau 2010. Halberstadt. Halberstadt, S. 6.

32

Ebenda.

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benswerten Stadt geschaffen und dazu angeregt werden, die je persönlichen mit anderen Bildern und Werten zu konfrontieren und vor allem im Rahmen der gemeinsamen Lebenswelt zu diskutieren.“33 Auf der Basis der hiesigen Raumschaffungspraktiken lässt sich dieses Anliegen sowohl mit der Synthetisierungspraxis des einheimischen Flaneurs als auch mit dem interventionistischen (Gegen-)Spacing des nomadischen Fremden erfolgversprechend beantworten. Ob und inwiefern dies im betreffenden Fall konkret geschehen ist, soll nun am Beispiel des ‚Vorlesepicknicks‘ am Abtshof, welches stellvertretend und exemplarisch für die verschiedenen Stationen auf dem ‚Trainingspfad des Sehens‘ ausgewählt wurde, eingeschätzt werden.34 Zunächst fällt die gewählte Begegnungsform des Picknicks auf. Dieses gesellige Beisammensein trägt neben einer familiären immer auch eine improvisatorische Note, ähnlich wie die Orte, an denen sie stattfinden sollen, da auch diese zumeist mit persönlichen Erinnerungen der einheimischen Teilnehmer verbunden sind, in ihrer Leere jedoch der Improvisation aller zur Schaffung einer Lagerfeuersituation bedürfen. Das auf diese Weise hergestellte Spacing ist temporärer Art, also nur solange existent, wie auch die Aktion und vor allem die Anwesenheit der Teilnehmer andauern. Damit dient es als ereignishafte Anregung zu einer veränderten Sichtweise auf den bespielten Ort respektive macht es sich zum Ziel, die Aufmerksamkeit auf ebenjene Plätze und ihr Aktivierungspotenzial zu fokussieren, denen in der üblichen Alltagswahrnehmung eher eine atmosphärische Leere zugesprochen wird. Bezogen auf den Abtshof bedeutet dies, jene dort existierende Leere, welche „im Unterschied zum städtischen Platz hier keine wahrnehmbare Raumfigur [bildet] und […] sich atmosphärisch kaum anders als negativ beschreiben“35 lässt, zunächst erst einmal einzugrenzen und damit ins Verhältnis zur räumlichen Umgebung zu setzen. Der Platz, welcher sich im

33

Peschken 2009: 247.

34

Zu den Stationen gehörten u.a. das ‚Vorlesepicknick‘ am Abtshof, der ‚Badgang‘ in der Städtischen Badeanstalt im Zusammenhang mit der Einweihung der ‚Sehbrücke‘ zwischen Martinikirche und Domhang, das Filmpicknick am Heine-Platz sowie das ‚HörenSehen – Klangpicknick‘ auf dem Domplatz.

35

Peschken 2009: 250.

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Zentrum der Halberstädter Altstadt befindet und als bebaute Fläche nicht dem Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg, sondern der unentschiedenen und fehlstrukturierten stadtplanerischen Arbeit im Laufe der DDR kurz vor der Wiedervereinigung zum Opfer fiel, dient seit jeher zunehmend als Nicht-Ort, der höchstens zum schnellen Durchschreiten aus Zeitgründen oder aber als Abladestelle für Müll und Parkfläche für die Autos der angrenzend wohnenden und arbeitenden Menschen genutzt wird. Die in einem ersten Schritt im Zuge der Projektumsetzung vor Ort vorgenommene Rasterstrukturierung, welcher eine Befreiung des Geländes von Autos und Abfall vorangegangen war, zeigte damit erstmals die Dimensionen des Platzes in ihrer Gesamtheit. Zur Schaffung von Aufmerksamkeit und produktiver Irritation wurde das Gelände hiernach mit vereinzelten Baulampen versehen, was gezielt und erfolgreich Spekulationen bei den Anwohnern über mögliche anvisierte Umnutzungen hervorbringen sollte.36 Dies allein kann vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Einheimischen mittels der vollzogenen Raumkartierung ihrer unreflektierten Syntheseleistung bezogen auf den Abtshof nun einer ungewohnten und damit veränderten Wahrnehmung desselben gegenüberstehen, bereits als ein erster Schritt hin zu einer Neujustierung in der mentalen Ortsrepräsentanz gesehen werden. Entsprechend der entwickelten Impulse auf dem Weg zu einer urbanen Raumbindungsstärkung kann hier folglich vermutet werden, dass sowohl aus der flanerischen und nomadischen Strategie geschöpft werden müsste, wenn ein Nachdenken und offenes Wahrnehmen der Gegebenheiten des zu fokussierenden Platzes und damit eine Auseinandersetzung zum Stellenwert des Ortes für die dort lebenden Menschen in Gang gesetzt werden soll. Ihren Höhepunkt sollte diese Anregung zum offenen Raumwahrnehmen mit dem bereits erwähnten ‚Vorlesepicknick‘ am 09.05.2007 erhalten. Schauspieler des Nordharzer Städtebundtheaters verlasen hier verteilt auf die gesamte Brachenfläche Textcollagen von Architekten, Philosophen und Literaten, schlüpften dabei in verschiedene Rollen, wie z.B. der Augenzeuge, der Reisende, der Einsame oder der Flaneur und artikulierten über ihre Zeilen je unterschiedliche Sichtweisen und Positionen zum „Verhältnis von Dichte und Leere, Fülle und Abwesenheit, Enge und Freiheit auf emotiona-

36

Vgl.: Mertens, Henry (2007): Kultivierung der Leere. IBA-Thema Halberstadt. (im Auftrag der IBA Stadtumbau 2010), timecode: 00:02:25-00:02:58.

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ler und intellektueller Ebene.“37 Die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger konnten nun sowohl das Gelände im direkten Wortsinne ‚besetzen‘, indem sie „mit Decken und Stühlen in Gruppen um die über den Abtshof verteilten Vorleser herum“38 saßen, oder aber durch den gesamten Raum von Vorleser zu Vorleser, von Sichtweise zu Sichtweise spazierten. Das auf diese Weise entweder punktuelle Neuerfahren von Raum und Raumwahrnehmung oder das vielseitig relationale Erleben des Raumes über sein physisches und gedankliches Durchschreiten sollte den Teilnehmenden leiblich affizierend deutlich machen, „wie sehr das eigene Verhalten und aktive Teilhabe den Charakter eines Ortes prägen“39 und in der Konsequenz erst das hervorbringen, was als der entsprechende Raum vorstell- und beschreibbar wird. So sollten die Bewohner der Stadt in diesem Zusammenhang auch und vor allem dazu angeregt werden, sich offene und vielschichtige Gedanken über den zukünftigen Nutzen und denkbare Nutzungsweisen des Geländes zu machen. Wenn man von einer zuvor eher transitorischen Nutzung des Geländes als Nicht-Ort ausgehen konnte, so bestand die Aufgabe des ereignishaften Zusammenkommens beim Vorlesepicknick damit vorrangig aus der Schaffung von vorstellbaren und gezielt auch heterogenen Anschlussfähigkeiten an den Raum. Die literarischen Textauszüge sollten hierbei Auslöser jener Alternativen Gedankengänge sein und als Beispiele für vollzogene narrative Raumschaffung wie Brillen die eigene Wahrnehmung des besetzten Geländes für die Teilnehmer bereichern. Das dabei bewusste Erzeugen von Kontingenzerfahrungen, welches die triadische Struktur der Raumerschließung – den Zusammenhang von Schritt, Gedanke und Blick – nutzt, wird gleichsam anschlussfähiger an die Adressaten und ihr Doing Space. Aufgrund der unterschiedlichen Erinnerungen und Verbindungen der teilnehmenden Menschen an und mit dem Ort, kann und sollte dies zugleich bedeuten können, sowohl an vormalige, mit der Zeit vergessene Raumbindungen anzuknüpfen als auch Gelegenheiten dafür zu geben, das Gelände erstmals als atmosphärisch dichten Raum zu erspüren. Das Ergebnis der ersten Befragung zu den vorstellbaren Nutzungsideen fiel dementsprechend heterogen aus und zahlreiche Ideen kamen zur Spra-

37

Peschken 2009: 254.

38

Ebenda.

39

Ebenda: 255.

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che, was auf das Gelingen einer Öffnung des Blickes und des Geistes in Bezug auf einen ansonsten als unbedeutend eingeschätzten beziehungsweise gänzlich unbedachten Platz schließen lässt, aber zugleich auch deutlich machte, dass die Assoziationen insgesamt noch sehr diffus und oberflächlich waren.40 Diese erwartbare und in das Konzept einkalkulierte Unschärfe in der Raumwahrnehmung kann zugleich als Vorbereitung auf das ereignishafte (Gegen-)Spacing gesehen werden, welches sich die bereits erwähnten Rollenbilder vom Flaneur, Augenzeuge oder Architekten zunutze macht, um den Beteiligten eine Wahrnehmungsbrille und damit einen Orientierungsfokus für den Blick auf das Gelände anzubieten. Welcher Art diese Weitung des gedanklichen Blickes ist – ob hier die eigenen Erinnerungen an die Gestimmtheiten des Ortes vor seiner baulichen Entleerung einfließen, oder ob das Neue, Andere in den Blick gerät – die vorgelesenen Texte können in ihrer Rolle als narrative Raumaufschließer für das beschriebene Projekt entweder als Anschlussstellen für vormalige, ortsbezogene Raumbindungskonzepte oder aber auch als Anstifter für einen neuen Bezug zum Gelände gesehen werden. Sie werden damit in einer doppelten Hinsicht als (kon)figurative Auslöser verschiedenster Raumschaffungsprozesse eingesetzt – einmal als Bezugsetzer für die mit dem Ort und seinem Erleben verbundenen Erinnerungen und damit als Artikulationsmedien einer atmosphärischen Dichte der Beständigkeit und Tradition, zum anderen aber auch als Ermöglicher von Kontingenzerfahrungen in der Wahrnehmung des Ortes als ein Konglomerat an verschiedenen, vorstellbaren Räumen und damit als Artikulationsmedien für eine freiheitliche Raumschaffung jenseits des Gewesenen. Dass auf beide Richtungen Wert gelegt wird, zeugt von der Qualität des Projektes, denn gerade wenn es um die In-Gang-Setzung eines Diskurses zur Nutzung öffentlicher Stadträume geht, sollten in Beerbung der Schaffung städtischer Authentizität nach Zukin beide Perspektiven ihre Berücksichtigung finden.41 Mit Blick auf die explizierten Konzeptschritte des flanerischen und nomadischen Doing Urban Space-Konzeptes lässt sich das ‚Vorlesepicknick‘ in

40

Vgl.: Interview mit einigen Halberstädtern zu den Ideen für eine Umnutzung des Abtshofes in der filmischen Dokumentation zum Vorlesepicknick in: Mertens 2007: timecode: 00:04:29-00:05:09.

41

Vgl.: Zukin 2010: 234.

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der Tat als aussichtsreicher Hybrid rekonstruieren: Die Entleerung und anschließende Rasterung des Geländes sollte sowohl eine Impulskraft für die Erschließung der defizitären Nutzungsweisen im Sinne einer Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes der geländebezogenen Raumbindung sein, als auch den Bürgern dabei helfen, das örtliche Transformationspotenzial im Sinne denkbarer Soll- bzw. Könnte-Optionen für das Areal zu identifizieren. Ersteres entspräche dem Schritt 1 in beiden Konzeptionen, letzteres eher dem zweiten Schritt 2 des nomadischen Doing Urban Space im Sinne einer Fokussierung auf die raumbindungshemmenden Elemente vor Ort und einer strategischen Umjustierung ihrer Wirkkraft entsprechend, aber zugleich auch den Schritt 2 des flanerischen Raumschaffens aufgreifend, eine Identifizierung der synthetisierenden Affizierungskräfte für den einheimischen Raumnutzer. So können die folgenden beiden Fragen im Zentrum der Vorlesepicknick-Aktion stehen: 1) Welche bestehenden Bindungen an den Raum können wie aktiviert werden? und 2) Welche neuartigen Bindungen an den Raum können wie initiiert werden? Dabei operiert das Projekt immer zwischen zwei Ebenen – einmal stets in Bezug auf den leeren Raum an sich, dem mit den gewählten Textfiguren je unterschiedliche Formen der (Kon)Figuration und wahrnehmenden Aneignung im Sinne von relationalen Syntheseleistungen quasi zur anschlussfähigen Sicht auf den Ort und seiner Atmosphäre angeboten werden und einmal in Bezug auf den konkreten Raum auf dem Gelände Abtshof, welcher durch das reale Besetzen des Platzes in Form eines Gegenspacings der Teilnehmer über das Picknick neuartig erfahren wird.

6. Verwurzeln und Beflügeln Mit konfigurativer Raumschaffung zur gezielten Raumbindungsstärkung

An dieser Stelle lässt sich auf der Basis des in der vorliegenden Arbeit Herausgestellten und Entwickelten ein optimistisches Fazit ziehen: Urbane Raumbindungen kann man gezielt stärken, indem man Menschen Gelegenheiten gibt, sich ihrer ortsbezogenen Geschichte zu vergewissern und damit die Aneignungsprozesse an eine Gegend bewusst und erfahrbar zu machen. Raumbindungsstärkungen lassen sich in produktiver Ergänzung dazu ebenfalls hervorrufen, wenn Orte nicht nur auf Traditionen aufbauen, sondern darüber hinaus auch Raum für Veränderung und Improvisation, für spielerisches Austesten und das vermeintlich Fremde geben. Eine Umgebung kann genau dann zu einem geliebten Raum werden, wenn man sich in ihn auf ganz vielfältige Weisen einschreiben und Phasen der Interpassion im Sinne eines sozioräumlichen Kollektivs erleben kann. Dies setzt voraus, dass man städtische Orte als atmosphärisch dichte Erlebnis- und Spielräume, dass man Gegenden und Plätze als energetische Affizierungslandschaften betrachtet und sie somit auf das durch die Formensprache ihrer Bestandteile artikulierte Aktionspotenzial hin untersucht und konfiguriert. Dabei kann hervorgehoben werden, dass Raumbindungen als Ergebnis der Möglichkeiten einer menschlichen Umgebung verstanden werden können, das Individuum erstens überhaupt aktivierend zu affizieren und ihm zweitens entweder ein Verwurzeln oder aber (beziehungsweise und) ein Beflügeln zu ermöglichen. Kurzum: Was zur Stärkung von Raumbindungen notwendig ist, lässt sich ableiten aus den menschlichen Raumschaffungsvorgängen als

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Prozess des Aufeinanderbeziehens von unterschiedlichen Personen mit dem individuellen, wahrnehmenden Selbst und der gegenständlichen Welt. Da also Räume in ihrer Verwobenheit mit dem Menschen das Menschsein prägen und mitbestimmen, können sie als Erziehungsaktanten identifiziert werden, die im Sinne Herbarts auf die Entfaltung der Potenziale des Menschen hin ausgerichtet und somit der Ausbildung und Festigung einer „Vielseitigkeit des Interesses“1 zuträglich sein sollten. Die Ausführungen in dieser Arbeit verstehen sich damit auch als wichtige Erschließungshilfe, das Potenzial der raumgebundenen Charakterbildung des Menschen – auch und vor allem im Sinne einer handlungsorientierten Raum(bildungs)theorie – erforschen zu helfen. Es wird deutlich, dass uns der einheimische Flaneur und der nomadische Fremde je differente Möglichkeiten eines Selbstverständnisses durch ihre spezifischen Arten der Welterschließung vor Augen führen, die beide gleichsam als notwendig für den Prozess der Menschwerdung angesehen werden können. Flaneur zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang damit vor allem das Synchronisieren von Historizität und Diachronizität hin zu einer zeitlichen Dimension von atmosphärischer Wahrnehmung zu vollziehen. Das Flanerische markiert damit gleichsam die räumliche Repräsentanz und Entfaltung der Memorier- und Tradierfähigkeit des Menschen. Die Dimensionen des Gewesenen spannen hierbei den Spielraum der Gegenwart auf. In der flanerischen Sicht offenbart sich die Gewissheit darüber, dass alles eine Geschichte hat und auch die Gegenwart in der Zukunft Geschichte sein wird. So spricht die energetisch aufgeladene Dingwelt mit dem Betrachter über ihre eingeschriebenen Erlebnisse als materialisierte Erfahrung von Selbst und Welt. Diese zeitunterlegte Dimension von Entwicklung und Entfaltung erweitert der nomadische Fremde als Improvisateur 2. Ordnung2 durch einen aktional-interventionistischen Ein-

1

Herbart, Johann Friedrich [1983 (1806)]: Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet. 6., durchgesehene und verbesserte Aufl., Bochum, S. 69ff.

2

Dabei soll der Improvisationsbegriff in Anlehnung an Christopher Dell als ein Terminus verstanden werden, der in vier unterschiedlichen Ebenen denkbar ist. Die Improvisation zweiter Ordnung bezeichnet die vierte und damit umfänglichste Ebene und kann damit als ein prozesshaftes und selbstreflexives Konstellieren von Elementen in ihrer situativen Kombinatorik zur artikulativen Strukturgebung und damit einer Freisetzung von Wirkungsoptionen verstanden

V ERWURZELN UND B EFLÜGELN | 305

griff in die vorhandenen Elemente seiner gegenwärtigen Umgebung. Ihre Neukonstellierung und wechselseitige Relationierung erzeugen strukturelle (Um-)Ordnungen, deren Brüche mit den Strukturen des Gewordenen deshalb Potenzial haben, weil über sie Kontingenzerfahrungen erzeugt werden können, die als Alternativen zum Gewohnten Ermöglichungen und damit eine Verheißung von steuerbarer Veränderung artikulieren helfen. Es bleibt festzuhalten, dass sich die Praxis der Raumbildung somit als Praxis der Konstellierung und konstruktivistischen Relationenbildung verstehen lassen kann, die in engstem Zusammenhang mit der menschlichen Entwicklung steht. So wie unsere menschliche Entwicklung sich vielschichtig vollzieht, verläuft auch das Raumschaffen auf unterschiedliche Weisen. Wir sind immer einmal Fremde und Vertraute in den Umgebungen, die wir erleben. Beide Positionen erzeugen aus den als konstellativ erfahrenen Elementen der Umwelt ein differentes Synthetisieren und Aktivieren. Raum entfaltet sich damit entsprechend seiner (kon)figurativen Aufschließung. Je nach Fokus eröffnen sich andere Spielräume – dem einheimischen Flaneur die historisch eingeschriebenen Energien, dem nomadischen Fremden die qua Formangebot und eigener Gestimmtheit atmosphärisch erscheinenden Entfaltungsoptionen, die assoziativ frei, lediglich beeinflusst durch seine eigene Gewordenheit und damit unabhängig von der vorausgegangenen Aneignungspraxis des Ortes und seiner Akteure im improvisatorischen Aufeinanderbeziehen der Umgebungselemente aufscheinen. Wir alle changieren zwischen diesen Wahrnehmungsweisen und (Kon)Figurationen einer Umgebung, die uns qua situativer Affizierung kontinuierlich Impulse zum Tun und Lassen und damit zur Schaffung von strukturellen Handlungsformen geben. Aus diesem rekonstruktiverschließenden Aufspannen des menschlichen Raumschaffens wird deutlich, dass es einerseits um die Relevanz des Erinnerns und Bewahrens, andererseits aber auch um die Notwendigkeit des Anfangen-Könnens im Sinne einer öffnenden Initiierung von Veränderung geht. Individuen müssen beides tun, damit sich ihre Menschwerdung getreu eines entfaltungsförderlichen Bildungsprozesses vollziehen kann. Wenn nun also Menschwerdung

werden, die sich mit der „Ordnung von Ordnung“ im Sinne einer „Organisation von Unordnung“ befasst [Dell, Christopher (2011): RePlayCity: Improvisation als urbane Praxis. Berlin, S. 152. vgl. ergänzend dazu auch: ebenda: 139150.].

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untrennbar mit dem Raumschaffen verknüpft ist, dann stellt eine Raumschaffungstypologie, wie sie in dieser Arbeit entfaltet worden ist, zugleich immer auch ein Angebot zur Typologie der Bildung des entfalteten Selbst dar. Man könnte sagen: Die Konfiguration des Raumes und die Figuration des Selbst sind wechselseitig miteinander verzahnt. Räume, wie sie in dieser Arbeit verstanden und erläutert worden sind, artikulieren sich als menschlich konstruierte Ergebnisse von konstellativen Wahrnehmungen, die an ein Tätigsein gebunden und atmosphärisch durch die Leiblichkeit des Individuums erfahrbar sind. Sowohl Anthropologen als auch Phänomenologen, Soziologen und Neurowissenschaftler sind sich einig: Menschen (er)leben ihre Erfahrungen räumlich. Sei es das von Hermann Schmitz beschriebene Grundverhältnis von Weite und Enge, welches die räumlichen Wahrnehmungen des Menschen strukturiert und steuert,3 oder das von Bollnow konstatierte, zwischen einem In-die-Welt-Geworfensein und einem weltlich Eingebettetsein beschreibbare Inkarniertheitsverhältnis des Selbst zu seiner Umwelt4 – immer zeigt sich, dass Raum haben und Raum geben zentrale, identitätsdeterminierende Lebenswerte des Menschen sind. Es zeigt sich damit aber vor allem auch, dass der Rolle des Wohnens eine Schlüsselrolle im Zusammenhang mit der Verknüpfung von Raum- und Personenbildung zukommen muss. Wie auf den vorangegangenen Seiten beschrieben, müsste ein Raumcurriculum, welches Raumschaffung als Bildungsprozess versteht, in erster Linie ein Wohncurriculum sein, das seinen Umfang und seine Bestandteile entlang der in dieser Arbeit herausgestellten Raumschaffungsweisen des Menschen rahmt. Dafür gilt es vor allem, das monodimensionale Tätigkeitsverständnis, welches das Wohnen lediglich als ein Sich-Einrichten und Leben in den eigenen vier Wänden versteht, hin zum ganzheitlichen Wohnen als selbstbezogenes, weltbezogenes und interpersonales Sein und Werden, das sich richten kann auf den eigenen Leib, das gegenständliche Umfeld und die Begegnung mit anderen Menschen, im Heidegger‫ތ‬schen und Bollnow‫ތ‬schen Sinne zu erweitern.5 Es gilt dabei, im Wechselspiel von Verwurzelungen und beflügelndem Tätigsein wohnhaft zu werden über die Ausübung der unterschiedli-

3

Vgl.: Schmitz, Hermann (2007): Der Leib, der Raum und die Gefühle. Biele-

4

Vgl.: Bollnow 2004 (1963): 271-310.

5

Vgl.: ebenda sowie: Heidegger 1951: 149.

feld und Locarno, S. 18ff.

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chen Raumschaffungsweisen, derer man sich als stadtverantwortliche Akteure für ein reflektiertes und ermöglichendes Handeln bewusst sein sollte. Das bedeutet konkret für Stadtplaner, aber auch für jeden Bürger und weitere, berufliche Agenten im Stadtgestaltungsprozess, das Erkennen der Potenziale einer Umgebung in latente und explizit kommunizierte, in modular nutzbare und damit Handlungsmöglichkeiten eröffnende Strukturangebote sowie -impulse und damit in eine strategisch-entwickelbare Dimension zu überführen, ohne ihr eine ganzheitlich festgeschriebene und einheitliche Funktionsorientierung aufzudrücken. Diese Formangebote mit freiheitstiftender Nutzungskontingenz – bei Christopher Dell mit dem Terminus der Ermöglichungsarchitektur beschreiben6 – sind gemäß der Bedingungen der Möglichkeit einer Entfaltung von atmosphärisch gestimmten Weiteräumen in Form von heimatlichen Identitäts- und kommunikativen Erscheinungsräumen zu denken. Das ist eine durchaus noch offene Aufgabe, zu der die vorliegende Arbeit erste und grundlegend wichtige Denkbewegungen und Handlungsimpulse dergestalt liefern konnte, dass mit ihr menschlich konstituierte Räume als Medium für Zugehörigkeiten und Erfahrungen zu ihrer gezielten Rekonstruktionserschließung aus ihrem Konstitutionsprozess enthoben und medial fassbar gemacht worden sind. Es ist dabei herausgearbeitet worden, dass und warum diese Explizierung des ansonsten implizit Verlaufenden im Modus des Narrativen besonders gut möglich ist. Als Artikulations- und damit auch Rekonstruktionsbasis für Raumschaffung ermöglicht dieser, den explizit gemachten Raumkonstitutionsvorgang in seinen Folgen zu verdeutlichen und damit die auslösenden Effekte seines Vollzuges nicht nur herleitbar, sondern darüber hinaus auch strategisch generierbar zu machen. Damit zeigt sich deutlich, dass die Frage nach dem ‚Wie‘ einer gezielten Stärkung von städtischen Raumbindungen nur über einen Fokus auf menschliche Raumschaffung bewerkstelligt werden kann und damit eine dezidiert multidisziplinäre Herangehensweise an das Thema nötig macht, um es adäquat zu bearbeiten. Erst aus der Liaison neurowissenschaftlicher, phänomenologischer, anthropologischer, raumsoziologischer, bildungswissenschaftlicher und kulturwissenschaftlich hermeneutischer Ansätze und Theorien – um nur einige zu nennen – konnte der Komplexität des Gegenstandes Rechnung getragen werden und eine konstruktive Bearbeitung des-

6

Vgl.: Dell 2011: 151-155.

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selben erfolgen. Es zeigt sich dabei auch, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit dem im Wohnen manifestierten Verhältnis von Mensch und Stadtraum nicht nur eine Frage der angewandten Kulturwissenschaft ist, sondern mindestens ebenso eine Angelegenheit der Bildungswissenschaft, über die bestehenden Ansätze der pädagogischen Anthropologie hinaus, sein sollte. Denn, ganzheitlich betrachtet, reicht es nicht aus, über die gemachte Rekonstruktion der Zusammenhänge von menschlicher Wahrnehmung und raumschaffendem Tun handlungsanleitende Prämissen für die Stadtplanung zu formulieren und dann davon auszugehen, das Problem der nachlassenden urbanen Raumbindungen habe sich damit vollständig erledigt. Vielmehr sollten sich an diesen notwendigen ersten Schritt eine Reihe weiterer Schritte anschließen. So wäre vorstellbar und sinnvoll, die in dieser Arbeit vollzogene Theoretisierung zum Wesen des menschlichen Wohnens als Meta-Aufgabe in die pädagogische Diskussion um wichtige Bestandteile und basale Elemente eines allgemeinbildenden Curriculums einzubinden sowie das Wohnen damit als einen basalen Prozess der Menschwerdung zu entfalten. Es könnte so der Tatsache Rechnung getragen werden, dass ein reflektierter Umgang mit Raum auch einen reflektierteren Umgang mit der eigenen Person, den Mitmenschen, aber auch der Dingwelt zur Konsequenz hätte und auf diese Weise elementare Dienste auf dem Weg zur Mündigkeit und zum Erwachsen-Werden einer nachwachsenden Generation zu leisten in der Lage ist. Bezogen auf die Disziplin der Bildungswissenschaft zeigt sich mit Blick auf das hier bearbeitete Thema dabei auch, dass eine Pädagogik, die sich im Zeitalter des cultural und spatial turns mit dem Prozess der Menschwerdung als umfassendem, gesellschaftlichem Vorgang auseinandersetzt, als kulturwissenschaftlich erweiterte Pädagogik verstanden werden sollte. Es scheint an der Zeit, mit der Bearbeitung von Themen, wie dem hier Gewählten, diesen Auftrag deutlich werden zu lassen. Und es scheint an der Zeit, dass sich interdisziplinäre Allianzen dabei vor allem aufgabenorientiert formieren und damit jenseits dogmatischer, disziplinärer Selbstbezüglichkeiten und damit wirksamkeitsbezogener Selbstlimitierungen in den Dienst einer relevanten Angelegenheit zu ihrer bestmöglichen Bearbeitung stellen. Für das vorliegend bearbeitete Thema scheint die Antwort klar: Für die nachhaltige Stärkung urbaner Raumbindungen bedarf es wissenschaftstheoretisch einer Bewusstmachung der in den Kulturwissenschaften, besonders

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im New Historicism und der Narratologie geltenden These der Verbindung von Sprache und Handlung über das Medium der Narration und der damit verbundenen Vorstellungen von „Kultur als Text“ und von „Kultur als Textur des Sozialen“.7 Dieser Stellenwert der Erzählung und all jener mit ihr arbeitenden narrativen Medienformate hat entscheidende Konsequenzen für die bildungswissenschaftliche Frage nach dem Prozess der Menschwerdung, wenn man den Menschen nicht nur als notwendigen Teil des kulturellen Narrationengefüges, sondern ferner als von diesem in seiner Welt- und Charakterbildung beeinflussten und beeinflussenden begreift. Die in der vorliegenden Arbeit zur Explizierung von strategisch und qualitativ ausgerichteter Raumschaffung vollzogene wirkungsästhetische In-DienstStellung von Medienanalysen hat in diesem Zusammenhang deutlich gezeigt, dass das Narrative dem Vorgang des Spatiierens ähnelt. Vor dem Hintergrund der These von der charakterbildenden Kraft des Raumschaffens und -wahrnehmens kann damit auch die Herbartsche These von der ästhetischen „Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung“8 übertragen werden. Wir alle sind Schöpfer unserer Räume und als solche sowohl gestaltend als auch reaktiv unterwegs. Wir können affizieren, werden aber auch selbst vielfältigst affiziert. Diese Wechselwirkung von Mensch und Raum und ihr Einfluss auf die Menschwerdung und Charakterbildung scheinen auf der Basis der auf den vorangegangenen Seiten generierten Erkenntnisse eine lohnende Forschungsperspektive zur Einbeziehung einer handlungsbezogenen Wirkungsästhetik in die kulturwissenschaftlich erweiterte Pädagogik zu eröffnen. Es zeigt sich vor dem Hintergrund dieser Verbindung deutlich, dass eine umfassende Erschließung und eine verantwortungsvoll gestützte wissenschaftliche Begleitung des Verlaufs der Persönlichkeitsbildung und Menschwerdung über eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Pädagogik in ihrem Gehalt und ihrer Qualität möglich sein kann. Als produktivinspirierendes Beispiel für einen Schritt in diese Richtung – und damit eher als Wegbereiter denn als Wegbeschreiter – möchte sich diese Arbeit verstanden wissen. Sie zeigt, dass die Raumbindungskraft von Städten ein

7

Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg, S. 13.

8

Vgl.: Herbart, Johann Friedrich (1851): Sämtliche Werke. (herausgegeben von Gustav Hartenstein) Leipzig, S. 213-233.

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durchaus pädagogischer, nicht obwohl, sondern weil sie ein dezidiert kulturwissenschaftlicher Gegenstand ist.

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7.3 I NTERNETQUELLEN Beckermann, Ruth / Kamalzadeh, Dominik (o.J.):Reflexionen vom Fensterplatz der Weltgeschichte. Ruth Beckermann im Gespräch über homemad(e). URL: http://www.ruthbeckermann.com/texts/homemade/ txt.php?lang=de; [Stand: 07.03.2011; 13:45 Uhr]. Beucker, Nicolas (2003): Public Design: Möglichkeiten urbaner Identität. Vortrag vom 14. 02. 2003, gehalten auf der Messe Public Design in Düsseldorf. S. 3-8. URL: http://www.coin-strategies.com/Bilder/pdf/ beucker_public_design_2003.pdf; [Stand: 14.04.2008; 10:57 Uhr]. Bollnow, Otto Friedrich (1935): Der Mensch und seine Heimat. Unter: http://otto-friedrich-bollnow.de/doc/Heimat.pdf, S. 2. [Stand: 13.04. 09; 11.42 Uhr]. Bücker, André / Henke, Andreas: AUF DIE PLÄTZE! – Aufruf von Oberbürgermeister und Intendant. Unter: URL: http://www.halberstadt.de/ de/startseite/index.php?cid=104140003617 [Stand: 17.08.2011; 13:12 Uhr].

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8. Anhang

T RANSKRIPT ZUM I NTERVIEW VOM 18.09.2007 ANDRÉ B ÜCKER , DAMALIGER I NTENDANT DES N ORDHARZER S TÄDTEBUNDTHEATERS Sprecher1

Text

SMG:

Herr Bücker, als Intendant des Nordharzer Städte-

MIT

Zeile

timecode

1

00:00:00

bundtheaters inszenieren Sie ja mit Ihren Stücken in gewisser Weise stets Aspekte des menschlichen Lebens. Welche Rolle spielt denn dabei für Sie das Authentische, wenn Sie die Themen aus den zugrunde

5

liegenden Geschichten herausarbeiten und wie würden Sie das Authentische definieren? […]2 […] (lacht)3 Das ist

AB:

ja nicht ganz so einfach. Also, äh, mhh, richtig ist, dass es ne große Rolle spielt, sag ich mal, und, dass

10

man sich natürlich überhaupt schon bei der Stückaus-

1

Die Sprecher werden nachfolgend mit Initialenkürzel angegeben. ‚SMG‘ entspricht dem Initialenkürzel für ‚Sandra Maria Geschke‘. ‚AB‘ entspricht dem Initialenkürzel für ‚André Bücker‘.

2

Eckige Klammern dienen als Auslassungszeichen zur Kennzeichnung einer gekürzten Textpassage.

3

Runde Klammern geben zusätzliche non- und paraverbale Kommunikationssignale an.

336 | D OING URBAN S PACE

wahl, wenn man sich mit Texten beschäftigt, ähm, sich immer sozusagen mit einer Interpretation ja von Texten beschäftigen muss. Theater ist ja, ähm also da ist ja diese ganze Werktreuedebatte im Theater, äh,

15 00:01:00

auch immer also interessant, weil, äh, meiner Meinung nach dieses dieses, äh, diese Werktreue gar nicht geben kann, weil, äh, der Text bleibt zwar derselbe, aber stets immer nur in der gedruckten Form. […] Äh, das, was ja schon beim Leser anders ankommt, ist ja

20

schon eine eine Interpretation. Was sich in den einzelnen Köpfen abspielt sowieso und, ähm, so ist es beim Theater auch gerade im Umgang mit klassischen Texten ja so, dass man guckt, was uns das heute überhaupt zu sagen hat und was das für die persönliche

25

Lebenswirklichkeit der Zuschauer bedeutet, dieses Stück. Also hat es irgend ne Relevanz, oder, äh, is es Museum, sag ich mal, und Museum jetzt ein bisschen negativ, ähm, befrachtet. Ähm, von daher muss man das auch immer von Fall zu Fall entscheiden, was

30 00:02:00

was, äh, ist. (Pause) Also bei Clavigo zum Beispiel ist es ganz interessant, kann man natürlich das die Problematik der Figur sehr sehr gut heute wiederfinden. Sag ich mal. Bei Faust ebenso, also der verzweifelte Intellektuelle, der äh, irgendwie, je mehr Wissen er

35

anhäuft, desto, ähm ähm, mehr wird ihm klar, dass er eigentlich überhaupt nichts begriffen hat. Und (lacht) das klassische Dilemma ist ja nach wie vor noch aktuell und deshalb sind Klassiker ja auch Klassiker, weil ihnen (räuspert sich) zwar Bedeutungen manchmal

40

verlorengehen, aber ihnen im selben Maße wieder neue zuwachsen. Ja, hmm. (räuspert sich) Aber Authentizität ist ja noch ein bisschen was anderes. Da tue ich mich jetzt gerade ein bisschen schwer, muss ich sagen. Hmm. SMG:

Vielleicht kann da die zweite Frage auch die

45

A NHANG | 337

Richtung noch so ein bisschen konkreter machen. In welchem Verhältnis stehen für Sie denn Inszenierung 00:03:00

und Authentizität? Also passt das überhaupt zusammen? Oder schließt sich das nicht grundsätzlich schon

50

mal aus? AB:

Das ist wirklich ne Frage der Definition, ne? Also, wie authentisch kann Theater sein? Ja? Das is ja wirklich die große Frage. Weil es ja, also, es is ja, äh, inszeniert. Ja, es is ja nur sozusagen eine, äh, es ist ja

55

eine Scheinrealität aufgebaut, ja, gerade im Theaterraum, ja isses ja, is es, kann es, würde ich jetzt sagen, gar nicht authentisch sein. Kann es im Prinzip nur eine künstlerisch bearbeitete Form von Wirklichkeitswiederspiegelung sein. Ja? Anders verhält es sich

60

dann schon im, wenn wir jetzt vom öffentlichen Raum reden. Wenn man, äh, den Theaterraum verlässt und wenn man sagt irgendwie, man geht auf die Straße 00:04:00

oder so und, äh, und begreift – und das ist auch so`n bisschen, was ich jetzt mit dem Projekt am 14. ver-

65

sucht habe zu machen – begreift also das Publikum, was einfach nur durch die Stadt geht schon als Teil der Inszenierung, ohne dass die Leute sich dessen bewusst sind, dass sie Teil der, äh, Teil der Inszenierung sind. (Pause) Die gehen vielleicht nur raus, um etwas

70

zu sehen, was dort geboten wird, sind aber gleichzeitig Akteure, dadurch, dass sie die Orte beleben, die Orte verändern, und, ähm, ja, und dadurch wird das Ganze, die ganze Inszenierung wieder authentisch, sag 75

ich mal. SMG:

Gehört genauso etwas, also die Verbindung von Öffentlichkeit und Authentizität in diesem Sinne für Sie dazu, zu einer Aufgabe, äh, eines Theaters in einer Gesellschaft?

AB: SMG:

Ja, find ich schon. Gehört schon dazu, ja. Und, wie sieht denn eigentlich der damit verbundene

80 00:05:00

338 | D OING URBAN S PACE

oder das damit verbundene Ziel, was ein Theater in einer Gesellschaft haben sollte, oder eines der Ziele, welches es haben sollte, aus? AB:

Ich glaube, das Theater hat im-

85

mer als Aufgabe die Sichtbarmachung von Zusammenhängen. Also, äh, das klare Herausarbeiten von Fragen, von – also weniger das Antwortengeben, also eher das klare Herausarbeiten von Fragen, um Problematiken deutlich zu machen, um Bewusstsein zu

90

schaffen, um Sensibilität zu schaffen für etwas. Das gilt für so`n Projekt wie das am 14., äh, ja mit ner klaren, also auch politischen, äh, Aufgabenstellung, genauso, wie für die Inszenierung jetzt von Clavigo, sag ich mal, oder Faust, ähm, würd sagen, da wird et-

95

was auf eine besondere ästhetische Art und Weise herausgearbeitet bei der klassischen Theaterinszenie00:06:00

rung, um ganz deutlich etwas aufzuzeigen, nämlich die Relevanz von Gedanken, von äh, Figurenkonstellationen, von simuliertem Alltag, sag ich mal, in einer

100

künstlerisch, ähm, äh, verarbeiteten Form. Das ist, glaub ich, immer die grundlegende Aufgabe. Also, äh, da hat sich auch gar nicht viel verändert in den letzten paar Tausend Jahren, sag ich mal. Es wird ja immer gerne gefragt, irgendwie, ja, und das Theater, hat das

105

denn Antworten auf das alles und so, aber wer hat die schon? Und warum soll ausgerechnet das Theater die haben? Is ja auch immer die, äh äh, die Legitimationsdebatte, wird ja bei der Politik auch gerne genommen, wie können wir das jetzt alles messbar machen,

110

räuspert sich, was sie tut und, äh, fff, wo sind denn eure Antworten, sag ich mal, auf das, weiß ich auch nicht, warum das Theater die immer unbedingt haben 00:07:00

sollte, wo sie sonst doch keiner hat!? (lacht) SMG:

Dann wäre es mit Luhmann, einem Systemtheoretiker gesprochen, doch vielleicht auch so ne

115

A NHANG | 339

Versetzung in eine zweite Ordnung, also das, ähm, eine kulturelle Institution wie das Theater Menschen in diese zweite Ordnung versetzen kann über diese Sichtbarmachung von Zusammenhängen und somit

120

also vielleicht den Blick auf sich selbst schärfen hilft. Absolut,

AB: ja, absolut. Ja.

Würden Sie auch so unterschreiben?

SMG:

125

AB: Ja. SMG:

Jetzt komm ich mal zu dem vorhin erwähnten Aufsatz oder Buch von Andreas Feldtkeller – nennt der sich – und er hat ein Buch geschrieben, das nennt sich ‚Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öf-

130

fentlichen Raumes‘. Und darin findet man zwei Sätze. Die lese ich Ihnen mal kurz vor: „Zum Besten der Stadt gehört in Zukunft nicht die Macht der Massenmedien, sondern ihre kulturelle Verknüpfung mit der unmittelbaren, sinnlichen Kommunikation. Dazu gibt

135

es vorläufig kein besser geeignetes Mittel, als den öffentlichen Raum wiederzubeleben.“4 Also auch die

00:08:00

Aktion ‚Auf die Plätze!‘ hatte eine Belebung öffentlicher Plätze zum Ziel. Inwieweit fand in Ihren Augen die von Feldtkeller hier so ein bisschen angedeutete

140

„unmittelbare, sinnliche Kommunikation“ ihre Anwendung? AB:

Das hat, glaub ich, einfach wirklich stattgefunden, dadurch, dass sich Leute begegnet5 sind, dass sie in eine andere Stimmung versetzt worden sind, äh,

145

also diese Plätze und diese Orte, diese Straßen, diese Wege, die wir alle kennen, völlig anders wahrgenommen haben, weil sie auf

4

Feldtkeller 95: 151f.

5

Kursiv gedruckte Wörter zeigen eine besondere Betonung an.

340 | D OING URBAN S PACE

einmal auf ihnen unterwegs waren und bewusst auf ihnen unterwegs waren. Und so ist eben genau das

150

entstanden, äh, Kommunikation. Miteinander sprechen, sich begegnen, äh, auch sozusagen sich als Gruppe zu fühlen an, an diesem Tag. Es ist ja etwas ganz anderes, als wenn man völlig individualisiert seiner Wege geht, die alltäglich notwendig sind, zu

155

den alltäglichen Verrichtungen oder ob man sozusa00:09:00

gen zu einem bestimmten Zweck kommt, ähm, bewusster unterwegs ist und damit auch offener ist für etwas. Ja, das ist ja hochinteressant an der ganzen 160

Geschichte. SMG:

Ähm, der Anlass für die Aktion „Auf die Plätze“ und diese Fotokampagne „Halberstadt zeigt Gesicht“, die in diesem Zusammenhang auch gestartet worden war, war ja eher ein äußerst anti-demokratischer und trauriger. Welche konzeptionellen Ideen

165

und inhaltlichen Gedankengänge führten denn eigentlich von diesem gewaltsamen Überfall auf die Mitglieder Ihres Ensembles hin bis zum fertigen Projekt? AB:

Das ging eigentlich ganz schnell, weil es war, äh, es stand ja die

170

Frage im Raum: Kann man sich eigentlich noch, äh äh, kann man nachts um drei auf die Straße gehen? Äh, so ungefähr. Und da, bei der Überlegung darüber kam natürlich auch in den Gesprächen heraus, dass es erstens kein Einzelfalls war, dass zweitens viele – ge-

175

rade jüngere – Statisten und so weiter äh mehrere Erfahrung schon mit so etwas hatten und äh so wurde 00:10:00

klar, dass es halt Orte gibt, die besetzt sind oder die man persönlich sozusagen mit der Schere im Kopf schon für besetzt erklärt und deshalb sie meidet und da war dann einfach der Schluss zu sagen, na ja, dann müssen wir da hin. Dann müssen wir genau da ansetzen, wo das Problem ist und das sind dann die Orte.

180

A NHANG | 341

Gab es al-

SMG:

ternative Ideen in diesem Zusammenhang, die abge-

185

wichen sind von dem, was letztendlich dort passiert ist? AB:

Nö, das war eigentlich ein Gedankengang, der dahin führte. Ja.

SMG:

Martin Hecht hat auch in die-

190

sem Zusammenhang sich so ein bisschen zum Verschwinden der Heimat, also mit dem Aspekt des, ähm, der Heimat auseinandergesetzt und hat in seinem gleichnamigen Buch, also das Verschwinden der Heimat eine Krise der kommunalen Öffentlichkeit

195

konstatiert. Und in dem Zusammenhang hat er folgende Behauptung aufgestellt: „Zu einem Gemeinwesen 00:11:00

gehört es, dass die, die darin leben, sich einander, wo und wann auch immer, öffentlich präsentieren.“ Feldtkeller hat, ähm, diesen öffentlichen Städteraum

200

übrigens als ähnlicherweise auch als Welttheater bezeichnet und die Anwohner als Teile des anwesenden Publikums, die – wieder Zitat – „jederzeit als Mitspieler in die öffentliche Szene ein-treten.“ Ähm, es ist klar, dass da, äh, dieses Problem existiert, dass einige

205

Plätze hier auch in den Köpfen der Bürger auch wissentlich besetzt sind, aber warum, denken Sie, haben denn die Bürger Halberstadts, ähm, mit eben diesem Eintreten als Mitspieler in die öffentliche Szene bzw. mit dem Sich-Präsentieren, ähm, wirklich zunehmend

210

Probleme? Also, das Wissen um die Sache allein heißt ja noch nicht, dass man sich nicht trotzdem gemeinschaftlich, ähm, auf diese Plätze begibt. AB:

Naja, jetzt ham ses ja mal getan, sag ich mal. Es fehlte erst mal auch ein bisschen der Anlass, sag ich mal, also vielleicht ist es einfach auch die Idee gewesen, die, äh, so simpel ist und dann doch irgendwie, äh, irgendwer

215 00:12:00

342 | D OING URBAN S PACE

muss sie halt mal aussprechen und dann funkionierts vielleicht auch. Das ist ja immer so bei ein paar Sa-

220

chen. Dann kommen, glaub ich, noch äh, kommen, glaub ich, noch andere Dinge dazu. Also dieser Heimatbegriff ist glaub ich in Halberstadt, äh, ‘n ganz interessanter. Weil Halberstadt ja nun auch, äh, durch die Zerstörung am 8. April ’45, ähm, da is ja eine

225

Wunde gerissen worden in diese Stadt, die sich ja überhaupt nicht geschlossen hat, letztendlich. Man hat zwar dann irgendwann 50 Jahre später angefangen das Stadtzentrum wieder aufzubauen, was ja alleine schon unglaublich ist, also dass die ganze DDR-Zeit es

230

überhaupt kein, äh, Stadtzentrum gab. Ja. Als einzige Stadt Deutschlands, wo kein Wiederaufbau stattgefunden hat, sondern nur Trümmerbeseitigung, das ist ja, äh, letztlich unglaublich und man merkt das in Gesprächen, gerade auch mit der älteren Generation der

235 00:13:00

Halberstädter, aber da gibt es, auch so was, glaub ich, was sich im Gedächtnis als auch von Generation zu Generation vererbt, diese nicht geschlossene Wunde dieser Stadt und, ähm, dieser Phantomschmerz über Verlust, sag ich mal, also das ist, finde ich, relativ

240

deutlich, das war bei diesem Projekt, diesem „Dem Gleich fehlt die Trauer“-Projekt, stark zu spüren, was da in diesen Menschen und auch in dieser Stadt vorgeht. Ähm, und daher kommt, glaub ich, hier in Halberstadt, äh, darin liegt begründet ein, ein sehr zwie-

245

spältiges Verhältnis zur Stadt und zum öffentlichen Raum. Nämlich einerseits die Erinnerung an die heile Welt – wie schön, ou, unser Halberstadt, wie schön das war – ein sehr stark ausgeprägter Lokalpatriotismus, der sich aber, äh, nicht darin niederschlägt, dass man sozusagen seine Stadt (lacht) auch wirklich genießt, weil wir eigentlich, eigentlich, äh, lebt man da immer noch in der Vergangenheit in Erinnerungen,

250

A NHANG | 343

00:14:00

sodass das jetzt Existierende auch als solches gar nicht so wahrnehmen. Das wird eher so als zweckmäßige

255

Alltagsnutzung gesehen. Is so meine Interpretation, also so’n bisschen spür ich das so. Also kann man solch

SMG:

eine Aktion auch verstehen als, ähm, Hilfe dazu, sich wieder so’n Stückchen Heimatverbundenheit im Hier

260

und Jetzt zu schaffen? Sicherlich ja. Ja. Ich

AB:

denke schon. Das ist auch das, was jetzt rauskommt, äh, ganz ganz viele Leute haben mich jetzt angesprochen. Am Freitag schon und jetzt auch in den Tagen

265

danach, äh, gerade gerade in Bezug auf die Plantage vor allen Dingen, meinten die, wir wussten gar nicht wie toll, was für ne tolle Atmosphäre, wie großartig und so weiter… Ja, ja…(lacht) Ja? Also mir

SMG:

270

ist auch aufgefallen, dass auf dem Fischmarkt die Akustik so toll ist. AB:

Ja! Wenn man da singt,

SMG:

also wenn man da singt, auch bei diesem Opernkon-

275

zert, es hört sich einfach an, wie in einem geschlossenen Raum. Also die Akustik ist fantastisch. 00:15:00

Ja, is sehr,

AB:

sehr gut. Und die Menschen haben an dem Abend die Stadt auch wirklich ganz neu erlebt, ganz viele davon.

280

Und das das ist schon toll. Und es hatte ja wirklich eine unglaublich schöne Atmosphäre hier an dem Abend, wo alle, also inklusive mir und auch den Leuten, die hier, die Kollegen, die schon so lange da sind, sagen: ‚Das haben wir hier noch überhaupt nicht erlebt.‘ Ja. Das ist schon verrückt. SMG:

Das ist verrückt. Das ist für den Moment sehr schön, aber eigentlich traurig,

285

344 | D OING URBAN S PACE

wenn man feststellt, dass das wirklich fast eine Premiere in diesem Zusammenhang ist.

290

Ja, äh, aber viel-

AB:

leicht, also, da kann man einfach was draus machen, denk ich mal, ne?! Standen denn eigentlich die

SMG:

aufgeführten Stücke in Relation zu den jeweiligen

295

Aufführungsorten? Gab es da so Überlegungen, was man wo spielt? Äh, ein wenig. Ein wenig, aber

AB:

weniger jetzt aufgrund von inhaltlicher Verbindung, sag ich mal, eines gewissen Songs zu einem gewissen

300

Ort, sondern eher im Sinne einer dramaturgischen 00:16:00

Setzung für gewisse Orte für einen Gesamtweg. Ja? Dass man sagt, also auf der Spielplatz-Bühne an der Plantage sind eher die musikalischen Chanson-, Operette-, Opern-, Musicalprogramme, ähm und hier am

305

Klubhaus ist eher diese symbolische Geschichte mit dem Stein, äh, am Käthe-Kollwitz-Gymnasium aufgrund der historischen, äh, ähm, also aufgrund der Vergangenheit, als dass da auch mal Läufe stattfanden und so aus diesem Grund hat man das da gesetzt, die-

310

se sportliche Geschichte. Ähm, also eher so auch eher nach pragmatischen Gesichtspunkten geordnet, so sag ich mal. Der Projektname ‚Auf die Plätze!‘ trägt ja

SMG:

sowohl einen Aufforderungscharakter als auch so ne

315

semantische Nähe zum Sport- und Wettkampfbereich. Also man assoziiert ‚Auf die Plätze, fertig, los!‘ AB: SMG:

Hmm. Genau. Also er spricht irgendwo so ne kämpferische und energische Sprache, finde ich. Ja? Also, das klingt so’n bisschen mit. Was genau, ähm, intendieren Sie eigentlich mit diesem Ausspruch? Al-

320

A NHANG | 345

00:17:00

so, was führte im Grunde genommen dazu, sich für diesen Ausspruch zu entscheiden?

325

Äh, er er hat, genau,

AB:

wie Sie sagen, erst mal dieses Kämpferische, dieses äh diese direkte Ansprache, dann hat es natürlich diesen, diesen sportlichen Charakter, äh und äh, diesen Aufforderungscharakter und jeder kann sozusagen den

330

Satz zu Ende bilden: Auf die Plätze, fertig, los!, ne? Also es, äh äh, ist mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen und er ist positiv, sag ich mal. Ähm, und das machts auch, damit kann sich sozusagen, äh, jeder als Slogan auch identifizieren, weil es nicht in eine

335

eindeutige Richtung jetzt zu politisch, zu kämpferisch is, ähm, damit kann jeder was anfangen. Und es hat halt Doppeldeutigkeit – einerseits das Sportliche, andererseits die Plätze, die Öffentlichen. (Pause) Ähm, so, wir haben auch mal kurz überlegt, ob man,

340

ob man es nicht ‚Land gewinnen‘ nennt (lacht) das Ganze, ja, das war mal so ne Überlegung. Also ‚Auf 00:18:00

die Plätze!‘ war mein erster Gedanke und dann kam noch mal jemand mit: ‚Mensch nenn das Ganze doch Land gewinnen!‘ und dann sag ich: ‚Ne, das is mir zu,

345

das ist mir dann zu negativ, weil Land gewinnen heißt ja auch fliehen.‘ Ja? (Pause) Sieh zu, dass Du Land gewinnst, ne? Äh, da is ja nun auch ne, äh, ne Fluchtperspektive, sag ich mal, impliziert, äh und, äh das ist, war mir dann auch zu verbrämt, sag ich mal. Da fand

350

ich die klare, deutliche Sprache wesentlich interessanter. SMG:

Zumal es ja auch wirklich für die Allgemeinheit und für ein für ein großes Publikum, für die Öffent355

lichkeit gemacht ist. AB:

Es sollte einfach alle, alle ansprechen. Hierbei, ich vergleich das immer gerne mit dem ‚Dem Gleich fehlt die Trauer‘, da hab ich das

346 | D OING URBAN S PACE

bewusst gemacht. Da hab ich bewusst nen Titel gewählt, der, äh, Reibung erzeugt. Wo man sagt, also

360

mit dem, der irritiert. Aber er ist gleichzeitig so einprägsam, äh, das behalten die Leute. Weil sie, also ‚Dem Gleich fehlt die Trauer‘, das ist sofort das, was bedeutet das? Das haben die Leute wahnsinnig behalten und sie haben darüber diskutiert und deshalb was

365 00:19:00

das ein hervorragender Titel. Weil, ähm, ‚Auf die Plätze!‘ war einfach der Slogancharakter und das Positive, das Nach-Vorne-Gehen. Sie sprechen von der

SMG:

Eroberung des öffentlichen Raumes durch Kunst und

370

Kultur. Beide Begriffe – Kunst und Kultur – werden ja in einem gesellschaftlichen Raum sehr weit gefasst, ja? Also gerade der Kulturbegriff. Was verbinden Sie denn genau speziell mit diesem Kulturbegriff und worauf wollen Sie nochmal speziell mit diesem Duett

375

‚Kunst und Kultur‘ referieren? Also, Kultur bedeu-

AB:

tet halt, das, äh, das Wichtige, deshalb hab ich nicht noch Kunst und Kultur und Sport genommen, sondern (lacht) sondern da ist das mit drinnen. Also für mich

380

ist, also Kultur ist alles das, was sozusagen die menschliche Gesellschaft ausmacht. Also es gibt ja diesen schönen Satz, den ich ganz schön finde: ‚Kultur ist die Natur des Menschen.‘ Letztendlich. Fand ich immer ganz, äh, ganz griffig, äh, also das, was so-

385 00:20:00

zusagen, äh, geschaffen wird in einem gemeinschaftlichen Konstrukt. Und, dazu gehört der Sport, dazu gehören halt Bürgerinitiativen, dazu gehört das Theater, dazu gehört das alles im weiteren Sinne und Kunst ist dann natürlich noch mal, äh, sag ich mal, die höhere Abstraktionsebene, die artifiziellere, ähm, Herangehensweise in der Reflexion und deshalb dieses Begriffspaar.

390

A NHANG | 347

Hmm, was ja auch eine schöne Alliteration

SMG:

ergibt, auch wieder gut klingt, ja?

SMG:

395 Genau.

AB: Das passt ja dann gut zusammen. Genau.

AB:

Ich wollt

SMG:

nur noch mal gern auf den Feldtkeller zurückkommen

400

und ihn damit in Verbindung setzen. Er spricht von einer poetischen Fassung städtischer Räume, die eine Verbesserung der räumlichen Identifikation durch so genannte poetische Steigerungen ermöglichen kann. Ich zitiere in diesem Zusammenhang noch mal: „Der

405

Städter, der Straße und Platz aufsucht, um in ein Publikum einzutauchen als Beobachter, Zuschauer, Fla00:21:00

neur, aber auch als Akteur, Informant, Passant, erwartet nicht Zweckmäßigkeit, sondern Atmosphäre oder sogar Emotion. Typisch für den historischen Stadt-

410

raum ist deshalb eine überhöhende, eben poetische Fassung, die dem Raum eine zusätzliche Dimension verleiht. Topographie und Natur, Geschichte und Kunst sind die wichtigsten Arsenale, aus deren Bestand solche Poesie geschöpft wurde.“6 Also er spricht

415

von diesem historischen Raum, sagt, da hat das alles besser gestimmt als heute, weil eben diese ganzen Arsenale stärker ausgeschöpft wurden. Dieser Prozess einer gesellschaftlichen Kultivierung, der sich dieser Arsenale, wenn wir dieses Wort noch einmal erwäh-

420

nen wollen, bedient, ähm, sollte der, ja, wie sollte der für Sie aussehen? Sollte der im Grunde genommen, ähm, als natürlich diese Aktionen fassend verlaufen und was darüber hinaus kann man sich noch vorstellen im Zusammenspiel mit Kunst und Kultur zum Beispiel?

6

Feldtkeller 95: 89.

425

00:22:00

348 | D OING URBAN S PACE

Im öffentlichen Raum jetzt?

AB:

Im öffent-

SMG: lichen Raum.

Hmm. (Pause) Also jetzt bezo-

AB:

430

gen auf das, was die Menschen dort sozusagen als in ihrer beschriebenen Funktion bewirken können oder das, was, äh, sozusagen jetzt noch geschaffen werden kann? SMG: AB:

Vielleicht von beiden Seiten betrachtet.

435

Ja. Hmm. Ich finde zum Beispiel einen ganz interessanten, äh, ganz interessant und schön, äh äh, für diesen Abend vom 14., dass dieser große Stein, den der Daniel Priese da hingestellt hat, dass der da noch steht. Äh, das finde ich nen ganz interessanten Be-

440

zugspunkt, dass der geblieben ist, also, dass tatsächlich stofflich etwas geblieben ist von dem, von dem Abend. Und dieser Stein auch ein bisschen für die Leute, die unterwegs waren, an dem Abend, aufgeladen ist mit der Atmosphäre, die der Abend hatte. Ja?

445

00:23:00

Das finde ich ganz interessant und ganz wichtig. Die Orte, an denen die Leute waren und die sie so wahrgenommen haben, haben sich auch verändert für die Leute, auch nachhaltig, weil das bleibt. Äh, das find ich ganz interessant. Ähm, wenn man Kunst im öf-

450

fentlichen Raum, sag ich mal, als, mm, ja wenn man von solchen Dingen redet, wie Skulpturen oder sonst was, also wirklich von den Plansetzungen, die man bewusst macht, die auch da bleiben da gäbs natürlich viele Ansätze, wo man dann sagt, sagen könnte, man

455

könnte so Parcoure durch die Stadt legen oder, äh (Pause), ja so Achsen durch die Stadt legen. Also das wäre sicher mal ein interessantes Projekt, sozusagen nicht für einen Abend, sondern für für ne, für ne Reihe von Veranstaltungen, wenn man sagt, es bleibt immer etwas da und das bildet etwas nachher.

460

00:24:00

A NHANG | 349

Es ist ja

SMG:

auch in den Zusammenhang das IBA-Stadtprojekt ‚Kultivierung der Leere‘ auch vielleicht so ein Aspekt, der mit dort hineinspielt. Ja? Dort werden ja auch so

465

unterschiedliche Punkte anvisiert, die – wie beim ‚Vorlesepicknick‘ beispielsweise passiert – ja auch durch diese Leere gekennzeichnet sind, und wieder auch mit Bedeutung aufgeladen werden. 470

Ja. Genau.

AB:

Fällt

SMG:

Ih-

nen denn in dem Zusammenhang vielleicht noch etwas ein beziehungsweise eine Aktion, ähm, die vom Theater begleitet so etwas auch noch begünstigen 475

kann? AB:

Das sind ja Aktionen, also auch auch, wo wir als Theater ja stark involviert waren. Und, äh, es wird so was sicherlich geben wieder. Ich weiß es, hab jetzt konkret noch keine Idee dazu, aber ich finde sicherlich interessant diesen Gedanken, also auch, äh, ähm,

480 00:25:00

vielleicht wirklich in Richtung Skulpturen oder, äh, bleibende Objekte, also irgendetwas in Richtung Objekte zu machen. Also das, was der Daniel Priese angedacht hat auch genau, wir wollen, er will diesen Stein erst mal liegenlassen und, äh, wir lassen das erst

485

mal offen, aber vielleicht kommt da noch ein anderer Stein dazu, vielleicht kommt da noch ne Veranstaltung dazu. Und man hat nachher, wenn man das über ne längere Phase denkt, dann vielleicht wirklich einen Parcours der Erinnerung an gewisse Veranstaltungen

490

und der Objekte, die ganz konkret damit verbunden sind und da bleiben und darüber ergeben sich vielleicht neue Dinge. (Pause) Ähm, das ist erst mal erst mal so’n so’n etwas noch diffuser Ansatz, aber das würde mich interessieren, da dran weiterzuarbeiten. Das ist kein Projekt, was jetzt so ne, äh, so ne Sache

495

350 | D OING URBAN S PACE

ist, so Alltag oderdarauf wird hingearbeitet, also so etwas, hab ich jetzt eigentlich noch nicht vor. (Pause) 00:26:00

Aber, was man zum Beispiel machen könnte, was auch ganz interessant wäre, zu sagen, okay, was ist

500

denn das gewesen an diesem 14.? Und es hat so viele Leute begeistert. Wollen wir nicht eigentlich unsere Festkultur mal ein bisschen überdenken? Also, brauchen wir ein Altstadtfest in der und der Form, wie es hier ist, oder brauchen wir nicht eigentlich was ganz

505

anderes? Oder wollen wir nicht eigentlich so was irgendwie zur Institution machen oder ausbauen oder in irgendeiner Form verändern? Weil, Wiederholung ist da immer so das Problem. Ne, das kriegt man nicht hin, da muss

510

man sich sehr genau überlegen, äh, in was für einer Form man vielleicht ein ähnliches Konzept institutionalisieren kann. Wäre auch eine Aufgabe. Ja?! DarüSMG:

ber nachzudenken. Find ich sehr interessant. (kleine Pause) In

515

Bezug auf die Wirkung, die solch eine Besetzung des 00:27:00

öffentlichen Raumes hat, zitiert Feldtkeller Jane Jacobs These, dass, „[D]ie Sicherheit auf der Straße […] genau dort am besten und am selbstverständ-lichsten [ist], […] [und] genau dort den geringsten An-klang

520

an Feindseligkeit oder Verdächtigung [hat], wo die Menschen die Straße freiwillig benutzen und genießen und sich normalerweise kaum bewusst sind, dass sie sie dabei auch beaufsichtigen“7 Das fand ich ganz 525

ganz passend. AB:

Hmm. Ja, ja.

SMG:

Das fand ich ganz ganz schön.

AB:

7

Ja genau. Genau. Das ist genau,

Jacobs 63: 33 zit. bei: ebenda: 65.

A NHANG | 351

das ist ja absolut zutreffend. Äh, indem, man kann‘s

530

einfacher sagen: Viel hilft viel. Viele Menschen auf der Straße machen das ganze sicher. So ist das, ja. (Pause) Also gerade in Bezug auf den 14. mit dem Neonazihintergrund, wo man sagen kann: Ja, äh, seid einfach da! Und dann ist das ganze kein Problem. Ja?! SMG:

535

Was im Grunde genommen, im übertragenen Sinne 00:28:00

auch genau das, äh, der Schlüssel zur Demokratie ist. A.B.:

Natürlich. Also auch, was politisches Engagement be-

SMG: trifft.

540 Natürlich. Absolut. Das ist genau das.

AB:

Und

SMG:

Feldtkeller sagt weiter: „Wo sich An-Wohner und andere An-Grenzer für ihre Straße zuständig fühlen, installieren sie zugleich ein soziales Netz, das auch öf-

545

8

fentliche Sicherheit gewährleistet.“ Sie konnten doch da nachhelfen, bei dieser Gewährleistung und ein bisschen stärkeren Festsetzung dieser Sicherheit, oder? Was denken Sie jetzt so im Nachhinein? Hat es 550

das ein bisschen befördert? AB:

Könnte sein. Ja. Ja, hoffe ich. (lacht)

SMG:

Also man hat zumindest so’n bisschen, man geht mit dem Gefühl aus dieser Aktion 555

heraus? AB:

Ja. Ich denke schon.

SMG:

Vier Tage nach dieser, also wie ich finde äußerst gelungenen Aktion, die mir eben auch viel Freude gemacht hat, ähm, denke ich, ähm, kann man eben auch so’n erstes Resümee

560

schon mal, weil die Sache hat sich gesetzt im Kopf, man hat noch mal darüber nachgedacht, ziehen. Dass

8

Ebenda: 64.

00:29:00

352 | D OING URBAN S PACE

die Besetzung des öffentlichen Raumes äußerst gelungen war, denke ich, ist unumstritten, ja, für diesen Abend. Doch wie würden Sie so, wie würden Sie

565

jetzt, zum jetzigen Zeitpunkt die Nachhaltigkeit beschreiben? AB:

Ja. (atmet hörbar aus) Vielleicht hat es dazu beigetragen, dass also in erster Linie, in erster Linie denke ich, dass man ein anderes Empfinden, für,

570

äh, für den öffentlichen Raum, für seine Stadt gewonnen hat. Ein sehr positives Empfinden, was, äh, was sicherlich in den Köpfen was verändert hat einfach in Bezugnahme auf Wahrnehmung, auf Bewussteres. Das sicherlich. Äh, vielleicht hat auch die Zahl der

575

Teilnehmer und das, das Bemerken, dass man irgendwie tatsächlich keine Angst haben muss und auch 00:30:00

nicht allein ist, sondern dass es ganz viele Leute gibt, die sich dazu bekennen und dann gibt’s halt noch ganz viele, die sich tatsächlich vielleicht nicht getraut ha-

580

ben, aber vielleicht sich jetzt trauen würden und sich ärgern, dass sie zu Hause geblieben sind oder so, ja, und beim nächsten Mal kommen würden. Ja, also vielleicht hat das einfach, ähm, so’n bisschen auch was Identitätsstiftendes auch für ne Gemeinschaft, sag ich

585

mal, für ne Stadt, für Bürger, für Bürgerschaft. Im besten Sinne. Ja, und vielleicht entwickelt sich darüber Mut für nächste Aufgaben und vor allen Dingen natürlich auch eine Sensibilisierung für das Problem. Wo ganz doll, wo einfach vielleicht auch weniger

590

Leute es abwiegeln, wo das auch dazu kommt, wo einfach auch mittels Masse dann auch Leute über00:31:00

zeugt werden, sich, die sich sonst gar nicht damit beschäftigen, weil sie es ausblenden oder so. Ich bin angesprochen worden von von einem Besucher, der sagt: ‚Ja, was Sie machen ist ja ne tolle Veranstaltung und so, aber das bringt ja überhaupt nix. Die Dummen er-

595

A NHANG | 353

reichen wir sowieso nicht.‘ Hab ich gesagt, naja das ist ja keine Haltung. Vielleicht erreicht man ja die, die noch nicht ganz so dumm sind. Ja? Das ist doch das

600

Interessante. Ja? Also die, diese Ausschließlichkeit immer darüber zu reden. Ja es ist ja Aktionismus, sowas bringt’s ja nicht, das ist ja – Diese Haltung aufzuknacken bei den Leuten und dass man sagt: ‚Ja, natürlich bringt das was.‘ Es ist immer so leicht und so das

605

(Pause) ist auch im Journalismus so ne weit verbreitete Haltung, sag ich mal, zu sagen, ja, das ist ja alles ganz prima, aber können wir doch vergessen. Ja? Aber wenn keiner, wenn alle es sofort vergessen würden von vornherein, würde ja sowieso nichts sich bewe-

610 00:32:00

gen. Also, dieser Optimismus und irgendwie und die positive Haltung dazu, dass man sagt: Na klar machen wir das. Natürlich machen wir das, weil es ist wichtig und es ist wertvoll und es bringt was. Also, wenn ich mir überlegen würde, was es bringt, jetzt Theater zu

615

machen, ja? Also, was ist das für ne (lacht). Da hab ich immer keinen Bezug zu so ner Haltung. Ich denke immer, das bringt alles was. SMG:

Hat sich denn Ihrer Meinung nach vielleicht auch die Schwelle herabge-

620

setzt, ähm, der Bürger, wenn bestimmte Aufrufe anstehen, dann auch irgendwo mit einer Selbstver, mit einer entschiedeneren Selbstverständlichkeit einfach schneller zu sagen, ja, ich mach da mit? AB:

Das hoffe

625

ich, ja. Genau. Das meine ich, ja. Das wäre mein Wunsch, dass es so ist. Ja, absolut. Das ist auch mit ein erklärtes Ziel der Veranstaltung gewesen, dass man sagt, ja. Wir haben gesehen, das ist das, was ich eben meinte. Wenn beim nächsten Mal etwas ist, wo

630

die Leute sind dieses Mal vielleicht noch zu Hause geblieben, und das nächste Mal mach gibt es wieder

00:33:00

354 | D OING URBAN S PACE

so etwas, dann sagen die: Jetzt bleib ich, jetzt gehen wir aber mit, jetzt. Unsere Nachbarn haben uns die ganze Zeit erzählt, wie toll das war irgendwie. So’n

635

Mist, wir haben das verpasst. Jetzt gehen wir. Das wäre halt das, was Wünschenswertes. Aber auch

SMG:

für die, die dabei waren und sagen: Das war so ein tolles Gefühl, was sich da aufgebaut hat. So einen Zu-

640

sammenhalt, den strebe ich einfach öfter an. Genau.

AB: Genau. Hmm. Genau.

In einem Aufruf, welchen Sie

SMG:

gemeinsam mit dem Oberbürgermeister veröffentlicht

645

haben, liest man, dass der 14.09. nur ein erster Höhepunkt im Zusammenhang mit dem demokratiefördernden Konzept ‚Auf die Plätze!‘ sein soll. Und in diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass Sie ein ‚Auf die Plätze!‘-Netzwerk an-streben, dem sich

650

vom Rechtsextremismus betroffene Städte und Regionen anschließen können. Wie ist denn hierzu die bisherige Resonanz und gibt es da schon weitere Planungen? AB:

Äh, dass es, sicherlich die Resonanz gibt

655

es, aber in der Hauptsache auf, äh, auf Kontaktebene 00:34:00

Oberbürgermeister zu den Stadtspitzen und auf Kontaktebene Bürgerinitiativen und –gruppen. Wir haben jetzt mit dem 14. ja eine Initiative der Theater noch mitbegründet. Netzwerk hier in Sachsen-Anhalt, wo

660

wir uns austauschen mit den Programmen, die sich mit den Thematiken beschäftigen. Ähm, also das ist schon auf dem Weg und ich denke, also gerade, was die Theater angeht, die hier zu Gast waren, hat es auch einen unheimlichen Schritt nach vorne gegeben in Richtung Sensibilisierung für diese Thematik und auch das, was es bedeutet, also, sag ich mal auch, für

665

A NHANG | 355

das Selbstbewusstsein der Theater, auch ein wichtiger Faktor in diesem Diskurs zu sein. Ja? Ähm, die waren nämlich auch alle völlig, völlig hin und weg von dem

670

Abend hier. Also die Kollegen von den anderen Theatern. Das hat auch wirklich, das war gut für das Selbstbewusstsein, sag ich mal, der Häuser auch. Und insofern ist dieses Konzept ‚Auf die Plätze!‘ auch sicherlich ein Konzept, von dem ich mir wünschen

675

00:35:00

würde, dass es andere Städte nachmachen. Ja? Und, äh, das könnt ich mir gut vorstellen. Dann war

SMG:

es also auch ein Pionierprojekt, also auch als Anreiz? AB: SMG:

680

Absolut. Ja. Vielleicht auch eben in abgewandelter Form je nach Stadt und je nach…

AB:

Absolut. Na ja auf die, auf die Verhältnisse in den Städten abgestimmt, aber, äh, das sollte übernommen werden. Ich kann mir

685

das auch gut vorstellen. Und da ist dann, das gibt es ja jetzt schon, das Netzwerk, mit wem man das alles machen sollte, mit wem man das alles machen kann und auch Unterstützungsmöglichkeiten und so. Und wir würden dann auch sicherlich hinfahren, sag ich mal,

690

also, so als als Haus. Sicherlich, die anderen Theater Sachsen-Anhalts auch. Es ist ja auch, weil es ja auch ein Fest ist, also was Besonderes ist. Und des hab ich, hab ich auch gesagt, es ist, es kann, diese Veranstaltung sollte halt ein ein Auftakt sein zur Veränderung

695

des Alltags tatsächlich. Nicht mehr, und aber auch 00:36:00

nicht weniger. Ja, es ist ja nun auch kein geringer Anspruch, aber das müsste es sein. Ja? SMG:

Wie

sah

das eigentlich aus mit den, mit der Finanzierung derer, die da eben gekommen sind und aufgetreten sind? AB:

Es ging alles tatsächlich nur, weil die alle keine Gage

700

356 | D OING URBAN S PACE

wollten. Also ich muss ein paar Aufwandsentschädigungen zahlen, was von Leuten, die weiter weg und sehr viel Auslagen hatten und so weiter, aber es hat

705

grundsätzlich keine Gagen und so weiter gegeben. Sonst wäre das gar nicht möglich gewesen. Die Theater sind alle auf eigene Kosten gekommen. Ja. Vielleicht

SMG:

macht es das auch aus. Also, dass es auch noch mal

710

die Stimmung auch in einer gewissen Weise auch noch mal verändert, ne? Also, wenn eben nicht Ja, es ist

AB:

keine kommerzielle Veranstaltung gewesen. Das darf man nicht vergessen. Dieses dieses furchtbare Desas-

715

ter mit diesem ‚Laut gegen Nazis‘ in Halle, äh, was man einer kommerziellen Konzertagentur, äh, anvertraut hat als Organisation, wo dann 80.000 Euro versenkt wurden, äh ähm, das ist ja ein Desaster erster Ordnung. Ja? Und das ist es eben nicht. Es ist getra-

720 00:37:00

gen von Sponsoren in der Stadt, Landeszentrale für politische Bildung, äh und Leute, die freiwillig dabei waren. Es war so freiwillig, dass ich auch meinen Leuten hier gesagt habe, Beiträge künstlerischer Art, ich organisiere euch nichts. Das, äh, müsst ihr ma-

725

chen. Ihr seid nicht dienstverpflichtet und alles, wenn ihr das macht, macht ihr das in eurer Freizeit. Ja? SMG: AB:

Toll. Und das ist, äh, dabei raugekommen. Das ist na730

türlich ganz gut. SMG:

Das ist toll. Ne?!

AB:

Ja,

SMG:

mein

Fragezettel ist zu Ende. (lacht) A.B.: SMG:

735

Super. Die Sachen, die ich eigentlich so wissen wollte, die sind mir sehr gut be-

A NHANG | 357

antwortet worden von Ihnen. Ich bin da sehr zufrieden. AB:

Schön.

740

Ja. Vielen Dank für das angenehme Ge-

SMG: spräch. AB:

Gern geschehen. Ich danke auch.

00:37:49

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