Disparitäten: Übersetzung:Walter, Axel 3534269713, 9783534269716

In vielerlei Zusammenhängen sprechen die Philosophen von Disparität, Ungleichheit, Verschiedenheit. Zu nennen sind so wi

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German Pages 504 [506] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot?
Teil I Die Disparität der Wahrheit: Das Subjekt, das Objekt und der Rest
1 Vom Humanen zum Posthumanen … und zurück zum Inhumanen: Die Beständigkeit der ontologischen Differenz
Aspekte der Disparität
Gegen die Univozität des Seins
Posthuman, transhuman, inhuman
Hyperobjekte im Zeitalter des Anthropozäns
Biologie oder Quantenphysik?
2 Objekte, Objekte … und das Subjekt
Wiederverzauberung der Natur? Nein, danke!
Ein Exkurs: Ideologie im Multiversum
Über ein Subjekt, das kein Objekt ist
Widerstand, Stauung, Wiederholung
Spekulatives Urteil
Die Epigenese des Subjekts
3 Selbstbewusstsein – aber welches? Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren
Zur Verteidigung von Hegels Wahnsinn
Die Unmittelbarkeit der Vermittlung
Der Stock an sich, für uns, für sich
Handlung und Verantwortung
Erinnerung, Vergebung, Versöhnung
Die Wunde heilen
Selbstbewusstsein = Freiheit = Vernunft
Reflexivität des Unbewussten
Teil II Die Disparität der Schönheit: Das Hässliche, das Abjekt und die minimale Differenz
4 Die Kunst nach Hegel, Hegel nach dem Ende der Kunst
Mit Hegel gegen Hegel
Der hässliche Blick
Vom Erhabenen zum Ungeheuren
Hegels Weg zum Ungegenständlichen
Zwischen Auschwitz und Telenovelas
5 Versionen des Abjekts: Hässlich, gruselig, ekelerregend
Varianten der Verleugnung
Die Abjektion durchqueren
„MOOR EEFFOC“
Von abjektiv zu gruselig
Mamatschi!
Eislers Sinthome
6 Wenn sich nichts verändert: Zwei Szenen subjektiver Destitution
Die Lektion der Psychoanalyse
Musik als Beweis der Liebe
Ein gescheiterter Treuebruch
Szenen aus einem glücklichen Leben
Teil III Die Disparität des Guten: Hin zu einer materialistischen negativen Theologie
7 Die Widerwärtigkeiten einer Hyäne: Autorität, Kostümierung und Freundschaft
Warum Heidegger nicht kriminalisiert werden sollte
Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen
Don Karlos zwischen Autorität und Freundschaft
Stalin als Anti-Herr
Schiller versus Hegel
Die selbst entwertete Autorität
8 Ist Gott tot, unbewusst, böse, machtlos, dumm … oder kontrafaktisch?
Über die Inexistenz Gottes
Kontrafaktizitäten
Rückwirkung, Allmacht und Ohnmacht
Das zwölfte Kamel als einer der Namen Gottes
Eine Wahrheit, die aus einer Lüge hervorgeht
Der göttliche Todestrieb
Der entthronte Gott
9 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma
Die Parallaxe von Trieb und Begehren
Unsterblichkeit als Tod im Leben
Die Schwierigkeiten mit der Endlichkeit
Materialismus oder Agnostizismus?
Ein komischer Abschluss
Schluss: Der Mut der Verzweiflung
Die millenaristische „Ausdünstung eines faden Gases“
Göttliche Gewalt
Die Unmöglichkeitspunkte
Anmerkungen
Register
Über den Inhalt
Über den Autor
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Disparitäten: Übersetzung:Walter, Axel
 3534269713, 9783534269716

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Slavoj Žižek

Disparitäten Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter

Für Kostja und Tim, mit all unseren Disparitäten

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Disparities bei Bloomsbury Publishing Inc. Copyright © Slavoj Žižek, 2016

Diese Ausgabe erscheint in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Redaktion: Dietlind Grüne Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de 978-3-534-26971-6

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74369-8 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74370-4

Inhaltsverzeichnis Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot?

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Teil I Die Disparität der Wahrheit: Das Subjekt, das Objekt und der Rest 1 Vom Humanen zum Posthumanen … und zurück zum Inhumanen: Die Beständigkeit der ontologischen Differenz ............................. Aspekte der Disparität ......................................................... Gegen die Univozität des Seins ............................................... Posthuman, transhuman, inhuman .......................................... Hyperobjekte im Zeitalter des Anthropozäns .............................. Biologie oder Quantenphysik?................................................

15 16 27 29 40 50

2 Objekte, Objekte … und das Subjekt ......................................... 69 Wiederverzauberung der Natur? Nein, danke! ............................. 69 Ein Exkurs: Ideologie im Multiversum ...................................... 74 Über ein Subjekt, das kein Objekt ist ........................................ 81 Widerstand, Stauung, Wiederholung ........................................ 87 Spekulatives Urteil ............................................................. 94 Die Epigenese des Subjekts.................................................... 105 3 Selbstbewusstsein – aber welches? Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren ....................... Zur Verteidigung von Hegels Wahnsinn .................................... Die Unmittelbarkeit der Vermittlung ........................................ Der Stock an sich, für uns, für sich .......................................... Handlung und Verantwortung ............................................... Erinnerung, Vergebung, Versöhnung ....................................... Die Wunde heilen .............................................................. Selbstbewusstsein = Freiheit = Vernunft .................................... Reflexivität des Unbewussten .................................................

109 109 110 115 125 129 142 152 163

Teil II Die Disparität der Schönheit: Das Hässliche, das Abjekt und die minimale Differenz 4 Die Kunst nach Hegel, Hegel nach dem Ende der Kunst .................. Mit Hegel gegen Hegel ......................................................... Der hässliche Blick ............................................................. Vom Erhabenen zum Ungeheuren ........................................... Hegels Weg zum Ungegenständlichen....................................... Zwischen Auschwitz und Telenovelas .......................................

173 174 180 186 195 198

5 Versionen des Abjekts: Hässlich, gruselig, ekelerregend................... 203 Varianten der Verleugnung ................................................... 205

6

Inhaltsverzeichnis

Die Abjektion durchqueren ................................................... „MOOR EEFFOC“............................................................. Von abjektiv zu gruselig ....................................................... Mamatschi! ...................................................................... Eislers Sinthome ................................................................

211 221 228 233 237

6 Wenn sich nichts verändert: Zwei Szenen subjektiver Destitution ....... Die Lektion der Psychoanalyse ............................................... Musik als Beweis der Liebe ................................................... Ein gescheiterter Treuebruch ................................................. Szenen aus einem glücklichen Leben ........................................

249 249 253 261 266

Teil III Die Disparität des Guten: Hin zu einer materialistischen negativen Theologie 7 Die Widerwärtigkeiten einer Hyäne: Autorität, Kostümierung und Freundschaft ................................................................ Warum Heidegger nicht kriminalisiert werden sollte ..................... Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen ................ Don Karlos zwischen Autorität und Freundschaft ......................... Stalin als Anti-Herr ............................................................ Schiller versus Hegel ........................................................... Die selbst entwertete Autorität ...............................................

279 279 285 290 297 305 309

8 Ist Gott tot, unbewusst, böse, machtlos, dumm … oder kontrafaktisch? Über die Inexistenz Gottes .................................................... Kontrafaktizitäten .............................................................. Rückwirkung, Allmacht und Ohnmacht .................................... Das zwölfte Kamel als einer der Namen Gottes ............................ Eine Wahrheit, die aus einer Lüge hervorgeht .............................. Der göttliche Todestrieb ....................................................... Der entthronte Gott ............................................................

317 317 329 334 345 355 357 369

9 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma Die Parallaxe von Trieb und Begehren ...................................... Unsterblichkeit als Tod im Leben ............................................ Die Schwierigkeiten mit der Endlichkeit .................................... Materialismus oder Agnostizismus? ......................................... Ein komischer Abschluss ......................................................

385 385 391 406 415 431

Schluss: Der Mut der Verzweiflung ............................................... Die millenaristische „Ausdünstung eines faden Gases“ ................... Göttliche Gewalt ............................................................... Die Unmöglichkeitspunkte ...................................................

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Anmerkungen........................................................................ Register ...............................................................................

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Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot? Wenn der Krake erwacht Ich glaube, daß es keine gefährliche Schwankung oder Wendung der deutschen Bildung in diesem Jahrhundert gegeben hat, die nicht durch die ungeheure, bis diesen Augenblick fortströmende Einwirkung dieser Philosophie, der Hegelischen, gefährlicher geworden ist. Dieses Buch geht von einer einfachen Prämisse aus: Ja, Nietzsche hat (mit dieser Äußerung aus „Vom Nutzen und Nachteil der Historie“1) recht – wenn auch nicht in dem vernichtenden Sinne, in dem sie gemeint war. Hegels Denken ist geradezu eine Art philosophischer Riesentintenfisch: ein gefährliches und monströses Geschöpf, dessen lange Begriffstentakel es ihm ermöglichen, Einfluss zu nehmen, und das oft aus unsichtbaren Tiefen. Eine beliebte Metapher für das subversive Wirken aus dem Untergrund ist der Maulwurf.2 Das beginnt mit Shakespeares Hamlet, der dem Geist seines Vaters zu der Hartnäckigkeit gratuliert, mit der er von unterhalb der Bühne weiterspricht: „Brav, alter Maulwurf! Wühlst so hurtig fort“ (Hamlet, 1. Akt, 5. Szene3). Am Schluss seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bezieht sich Hegel auf diese Szene, um das unterirdische Wirken zu charakterisieren – allerdings nicht als das Wirken eines Gespenstes, sondern das des Weltgeistes, der einem neuen Zeitalter den Boden bereitet: Oft scheint er [der Geist] sich vergessen, verloren zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist er ein innerliches Fortarbeiten – wie Hamlet vom Geiste seines Vaters sagt, „Brav gearbeitet, wackerer Maulwurf “ – bis er, in sich erstarkt, jetzt die Erdrinde, die ihn von seiner Sonne, seinem Begriffe schied, aufstößt, daß sie zusammenfällt.4 In Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte übernimmt Marx das Bild vom Maulwurf: Wenn es schlussendlich zum Ausbruch einer Revolution kommt, „wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!“5 Diese Geschichte von Wiederholungen gelangt in Michael Hardts und Toni Negris Empire: Die neue Weltordnung zu ihrer

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Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot?

Selbstaufhebung, und ihre Formel dazu lautet: „Marx’ alter Maulwurf ist tot!“6 Der Grund dafür liegt nahe: Der Maulwurf nämlich verbindet sich allzu eng mit der Vorstellung von einer real bestehenden Vernunft, die durch ihre List im Geheimen die Fäden der Geschichte zieht. Hegel drückt diesen Aspekt manchmal auf noch direktere und vulgärere Weise aus, wie zum Beispiel in einem Brief an Niethammer von 1816: Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort zu avancieren gegeben. Solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick und dünne. Unzählbare leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren drum herum, die meisten wissen von gar nichts, um was es [sich] handelt, und kriegen nur Stöße auf den Kopf wie von einer unsichtbaren Hand.7 Es lässt sich nur schwer eine Auffassung denken, die dem heutigen Empfinden offensichtlicher zuwiderläuft. Als nicht minder offensichtlicher Ersatz für den „Maulwurf “ scheint sich natürlich das „Rhizom“ anzubieten, ein kompliziertes Geflecht gegenseitiger Verbindungen, das ohne zentrale Kontrollinstanz auskommt. Für meinen stalinistischen Verstand aber ist die Tatsache, dass Deleuze diesen Ausdruck von Jung übernommen hat,8 nicht einfach ein unbedeutender Zufall – sie weist vielmehr auf einen tieferen Zusammenhang hin. (So verwundert es auch nicht, dass sich Deleuze in seinem frühen Text über Sacher-Masoch [1961] für seine Kritik an Freud weitgehend auf Jung stützt.9) Darum bin ich versucht, als Ersatz für den bedauernswerten Maulwurf das weitaus beunruhigendere Bild eines Kraken, eines abscheulichen riesigen Tintenfischs, vorzuschlagen.10 Wasser ist das Element, in dem ein Krake gedeiht, und es ist keineswegs Zufall, dass der für gewöhnlich als „erster Philosoph“ geltende Thales von Milet, ein Vertreter des sogenannten ionischen Materialismus, das Wasser als Substanz aller Dinge postulierte, als erstes Prinzip, aus dem alles hervorgeht.11 Aristoteles hat in seinen Äußerungen das Überraschende an dieser Festlegung herausgestellt: Aus traditioneller mythischer Sicht nämlich ist die (Mutter) Erde die Grundlage von allem, die Ursubstanz, während das Wasser als das trennende/bewegende/zersetzende Element an zweiter Stelle kommt. Diese erste Ersetzung (Wasser anstelle der Erde) eröffnete in der Weiterentwicklung des vorsokratischen Denkens die Möglichkeit zu weiteren Ersetzungen (Feuer anstelle von Wasser und andere mehr). Wenn das Wasser anstelle der Erde als Urelement gesetzt wird, so gestaltet sich die

Ein Bericht aus den Schützengräben des dialektischen Materialismus

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Veränderung im Raum desselben Gegensatzes von Erde und Wasser nicht symmetrisch: Der ganze Raum verändert sich in seiner Struktur, ein fremdes Element siegt über die heimische Stabilität, ein fließender Prozess siegt über die Stabilität einer festen Substanz. Abstrakter formuliert heißt das: Obwohl Wasser und Erde als Elemente eines vorbegrifflichen mythischen Raumes erscheinen mögen, funktioniert das Wasser als Urprinzip bereits als begriffliche Vorstellung im Unterschied zur Erde als mythopoetischer Entität. Oder, wie es bei Hegel heißt, das Wasser ist als Urprinzip nicht mehr das materielle Wasser, sondern eine ideelle Entität. Das Übergehen vom Maulwurf zum Kraken ist in erster Linie der Wechsel des Elements, in dem das Wesen haust – von der Erde zum Wasser. Der mythische Krake, diese ultimative Gestalt eines Abjekts – ein riesiges Geschöpf, das seit Ewigkeiten auf dem Meeresgrund schläft und in apokalyptischen Zeiten aus seinem Schlummer erweckt werden wird –, wurde von Alfred Tennyson in seinem Gedicht von 1830 gefeiert: „Hier liegt er seit Äonen, wird er liegen,/Wird schlafend schlingen riesiges Seegewürm,/Bis einst der letzte Brand den Abgrund wärmt;/Dann steigt er, unter Menschund Engelsblicken,/Brüllend hinauf, um droben zu verenden.“12 Ist nicht unsere Zeit – genauer: das Zeitalter der kapitalistischen Moderne – eine solche Epoche des erwachten Kraken? Ist der Krake nicht ein perfektes Bild für den globalen Kapitalismus, der – allmächtig und stumpfsinnig, gerissen und blind – mit seinen Tentakeln unser Leben steuert?

Ein Bericht aus den Schützengräben des dialektischen Materialismus Sofern Hegels Dialektik in ihrer grundlegendsten Form eine Theorie der Moderne darstellt, eine Theorie des Bruchs zwischen Tradition und Moderne, ist der eigentlich dialektische Moment eines historischen Prozesses genau der Moment, in dem der Krake erwacht und die glatte Oberfläche zerreißt, der Moment, in dem dessen zerreißende Macht der Negativität in ihrer ganzen zerstörerischen Wirkung spürbar wird. Was sind die Ausbrüche unerwarteter wirtschaftlicher Krisen, die Explosionen „irrationaler“ gesellschaftlicher Gewalt, wenn nicht Echos von Tentakelschlägen? Es gibt bis heute keinen Denker, der eher oder besser imstande wäre, diese Echos aufzufangen, als Hegel. Nietzsches Ablehnung von Hegel ist lediglich der Extremfall einer Haltung, die im Titel von Benedetto Croces Buch über diesen ihren klarsten Ausdruck fand: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie. Wenn Hegel nicht ohne Umschweife für tot erklärt wird, behandelt man ihn als eine Art

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Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot?

lebendigen Toten, der uns nur deshalb weiter verfolgt, weil er vergessen hat, dass er bereits tot ist. Doch vielleicht ist die Zeit gekommen, dass wir Adornos über ein halbes Jahrhundert alten Vorschlag aufgreifen und umgekehrt fragen: Was ist, wenn nicht Hegel tot ist, sondern wir aus hegelscher Perspektive tot sind? In einem der Filme der Marx-Brothers fühlt Groucho den Puls eines Patienten, indem er seine Finger an dessen Handgelenk hält, um den Takt mit dem Ticken seiner Armbanduhr zu vergleichen, und ruft aus: „Entweder geht meine Uhr nicht mehr oder Sie sind tot!“ Das vorliegende Buch ist der Versuch, unsere Gegenwart einer Art hegelianischer Analyse zu unterziehen. Ausgehend vom Begriff der Disparität, wird es darum gehen, Figuren der Disparität im Sinne der figurae veneris in der Erotik zu entfalten, mithin also unterschiedliche Stellungen oder Figurationen des Disparaten. Disparität ist ein Begriff, der das bezeichnet, was sich auch als (zer-) störende Wirkungen des erwachenden Kraken beschreiben ließe. Das vorliegende Buch geht diesen Wirkungen der Krakententakel in drei Hauptbereichen nach: dem ontologischen, dem ästhetischen und dem theologisch-politischen. Auf der ontologischen Ebene stellt sich die Disparität in ihrer radikalsten ontologischen Differenz dar; darum handelt der erste Teil des Buches vom Fortbestehen der ontologischen Differenz in unserer immer eindimensionaler werdenden kapitalistisch-technologischen Welt. Auf der ästhetischen Ebene besteht das disparate Element in dem abstoßenden X, auf das eine Reihe sich teilweise überschneidender Begriffe abzielt: dem Hässlichen, Ekelerregenden, dem Abjekt und so weiter. Die theologische Bezeichnung für „das disparat Verschiedene“ ist natürlich Gott als das radikal Andere in Bezug auf die Seinsordnung, während es sich bei dem Disparaten in der Politik um die millenaristische Erwartung eines radikalen Neuanfangs handelt, der auf der Auslöschung der Vergangenheit basiert. Man kann sich leicht das explosive Potenzial vorstellen, das in der Kombination beider liegt. Die triadische Struktur dieses Buchs wiederholt demnach die klassische Triade des Wahren, Schönen und Guten, wobei der Fokus auf der zerreißenden Kraft des Kraken auf jeder der drei Ebenen liegt. Teil I widmet sich dem Thema der ontologischen Differenz im Zeitalter der Wissenschaft: Nach einer kurzen Darlegung verschiedener Aspekte des Disparitätsbegriffs werden (im Dialog mit Wark, Morton und Johnston) die Antinomien einer universalisierten wissenschaftlichen Vernunft aufgezeigt. Anschließend wird es um zwei philosophische Reaktionen auf die Vorherrschaft der wissenschaftlichen Vernunft gehen: den Versuch der Objektorientierten Ontologie, der Welt ihren Zauber zurückzugeben (Bryant), und den transzen-

Ein Bericht aus den Schützengräben des dialektischen Materialismus

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dentalen Versuch zu zeigen, inwiefern wissenschaftliche Untersuchungen sich auf die diskursive Normativität gegenseitiger Anerkennung stützen müssen, die sich selbst nicht wissenschaftlich begründen lässt (Pippin, Brandom). Teil II gilt der Analyse der Rolle von Hässlichkeit und Ekel in der modernen Subjektivität: Zunächst soll es darum gehen, den Hegel’schen Weg hin zur modernen nichtgegenständlichen Kunst zu rekonstruieren (Pippin); anschließend darum, das Abjekt in seinen Varianten zu entfalten, vom Grusel bis zum Ekel (Kristeva, Kotsko); schließlich wird die „subjektive Destitution“ in der Kunst (Shakespeare, Beckett) in ihren Umrissen nachgezeichnet. Teil III bildet eine Auseinandersetzung mit der bestehenden theologisch-politischen Unordnung: Zunächst werden die Verschiebungen in der Dreiecksbeziehung von Autorität, Kostümierung und Freundschaft dargelegt, von Schillers Stücken bis in die Gegenwart (Zupančič); dann werden die komplizierten Feinheiten der Inexistenz Gottes erörtert (Dupuy); schließlich wird der Übergang vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma entfaltet (Schuster, Malabou). In einem kurzen Schlussteil werden einige politische Folgerungen aus dem Disparitätsbegriff gezogen. In jedem der genannten drei Bereiche wird eine brutale Auseinandersetzung geführt, ein Kampf gegen die verschiedenen Arten, die Disparität zu verschleiern. Dieser Kampf ist die Philosophie, oder, wie Louis Althusser dies vor einigen Jahrzehnten ausdrückte und damit die Lehren der Klassiker auf eine bündige Formel brachte: Die Philosophie ist in letzter Konsequenz Klassenkampf auf dem Feld der Theorie. „Die marxistisch-leninistische Philosophie beziehungsweise der dialektische Materialismus stellen den proletarischen Klassenkampf in der Theorie dar“.13 Dies ist, ungeachtet der schweren theoretischen Irrtümer, das wirklich Neue an Lenins Materialismus und Empiriokritizismus: Es markiert eine neue Praxis der Philosophie, die in der unumstößlichen Gewissheit gründet, dass die Philosophie eine Form des (Klassen-)Kampfs darstellt. Und Althusser machte sich keine Illusionen über die Brutalität dieses Kampfes: „Im Kampf der Philosophie sind alle Techniken des Krieges zulässig, einschließlich Diebstahl und Täuschung.“14 Für Gilbert Keith Chesterton „gibt es keinen Kampf auf der Gewinnerseite; man kämpft, um herauszufinden, welches die Gewinnerseite ist“.15 Dieses Paradox gilt voll und ganz für die philosophische Kriegsführung, bei der man nicht nur kämpft, um eine vorgegebene Position zu verteidigen: Der Kampf besteht vielmehr darin, zu erkennen, um welche Position es sich handelt. Deshalb ist die Haltung eines Philosophen, der sich mit einem anderen Philosophen auseinandersetzt, keine des Dialogs, sondern eine der Abgren-

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Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen von Hegel) tot?

zung, bei der es darum geht, die Trennlinie zwischen Wahrheit und Irrtum zu ziehen – angefangen bei Platon, dem es um die Trennlinie zwischen Wahrheit und bloßer Meinung ging, bis zu Lenin, der von der Trennlinie zwischen Materialismus und Idealismus besessen war. Wie Alain Badiou sagte, ist eine wahre Idee eine Idee, die trennt. Das vorliegende Buch ist eine Übung in dieser Kunst der Abgrenzung: Es will den dialektisch-materialistischen Begriff der Disparität näher bestimmen, indem es ihn von anderen, täuschend ähnlichen Denkgestalten trennt, von Julia Kristevas Abjektion bis zu Robert Pippins und Robert Brandoms Version des Selbstbewusstseins, von der Objektorientierten Ontologie bis zum Thema des Posthumanismus, vom Gott der negativen Theologie bis zur millenaristischen Politik. Die Methode einer solchen Vorgehensweise eignet man sich nicht im Voraus an, sie ergibt sich rückwirkend – hier sei an Pascal Quignards Definition erinnert: „Die Methode ist der Weg, nachdem wir ihn durchlaufen haben.“16 Eine Methode eignet man sich nicht im Voraus an: Sie stellt sich rückwirkend heraus.

Teil I

Die Disparität der Wahrheit: Das Subjekt, das Objekt und der Rest

1 Vom Humanen zum Posthumanen … und zurück zum Inhumanen: Die Beständigkeit der ontologischen Differenz Dreimal kommt das Wort „Ungleichheit“* an einer Schlüsselstelle des Vorworts zu Hegels Phänomenologie des Geistes vor, an der er die prägnanteste Erklärung dafür bietet, was es heißt, die Substanz auch als Subjekt zu begreifen: Die Ungleichheit, die im Bewusstsein zwischen dem Ich und der Substanz, die sein Gegenstand ist, stattfindet, ist ihr Unterschied, das Negative überhaupt. Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre Seele oder das Bewegende derselben; weswegen einige Alte das Leere als das Bewegende begriffen, indem sie das Bewegende zwar als das Negative, aber dieses noch nicht als das Selbst erfaßten. – Wenn nun dies Negative zunächst als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. Was außer ihr vorzugehen, eine Tätigkeit gegen sie zu sein scheint, ist ihr eigenes Tun und sie zeigt sich wesentlich Subjekt zu sein.1 Die letzte Umkehrung ist von entscheidender Wichtigkeit: Die Ungleichheit zwischen Subjekt und Substanz ist gleichzeitig die Ungleichheit der Substanz mit sich selbst – oder, um es mit Lacan zu sagen, Ungleichheit heißt, dass der Mangel im Subjekt gleichzeitig der Mangel im Anderen ist. Subjektivität entsteht, wenn die Substanz nicht die volle Identität mit sich erreichen kann, wenn sie in sich selbst „gebarrt“, von einer immanenten Unmöglichkeit oder einem Antagonismus durchzogen ist. Der Erkenntnismangel des Subjekts, sein Scheitern daran, den entgegengesetzten substanziellen Inhalt vollständig zu erfassen, bezeichnet zugleich eine Begrenztheit, ein Scheitern oder einen Mangel des substanziellen Inhalts selbst. Darin besteht auch die wesentliche Dimension der theologischen Revolution des Christentums: Die Entfremdung des Menschen von Gott muss auf Gott * Žižek verwendet an dieser Stelle bereits den Ausdruck disparity (Disparität), der aus übersetzungstechnischen Gründen hier erst im Folgenden eingeführt werden soll [Anm. d. Übers.].

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Vom Humanen zum Posthumanen …

selbst zurückprojiziert/übertragen werden, als dessen eigene Entfremdung von sich selbst (darin besteht der spekulative Gehalt des Gedankens von der kenosis Gottes) – dies ist die christliche Fassung von Hegels Einsicht darüber, inwiefern die Ungleichheit von Subjekt und Substanz die Ungleichheit der Substanz in Bezug auf sich selbst einschließt. Darum wird die Einheit von Mensch und Gott im Christentum auf eine Weise dargestellt, die sich fundamental von derjenigen heidnischer Religionen unterscheidet, bei denen der Mensch danach streben muss, seinen Abfall von Gott zu überwinden, indem er sein Dasein von irdischem Schmutz zu reinigen und sich zur Vereinigung mit Gott zu erheben sucht. Im Christentum dagegen fällt Gott von sich selbst ab; er wird zu einem endlichen Sterblichen, von dem Gott sich (in der Gestalt Christi und seiner Klage am Kreuz: „Vater, warum hast du mich verlassen?“) abwendet, und der Mensch kann die Einheit mit Gott nur erlangen, indem er sich mit diesem Gott identifiziert: einem von sich selbst im Stich gelassen Gott.

Aspekte der Disparität Zu der Reihe von Begriffen, die sich selbst als die Herren-Signifikanten des dialektischen Materialismus2 anbieten (wie Negativität, Parallaxe und so weiter) sollte man auch die Hegel’sche Ungleichheit hinzufügen – jedoch nicht als solche, sondern in Form des Begriffs der Disparität, entsprechend dem englischen Ausdruck disparity. Dieser ist eine der vorgeschlagenen Übersetzungen von „Ungleichheit“ – und hier funktioniert die Übersetzung ausnahmsweise einmal besser als das Original. (Warum? Das zeigt die folgende Liste der Konnotationen von „Parität“, verneint durch „Un-“ bzw. „Nicht-“: Entsprechung, Übereinstimmung, Äquivalenz, Einheitlichkeit, Gemeinsamkeit, Ähnlichkeit, Gleichförmigkeit, Parallelität, Kongruenz.) Auf ihrer elementarsten Ebene verweist die Disparität auf ein Ganzes, dessen Teile nicht zusammenpassen, sodass es als ein künstlich Zusammengesetztes erscheint, dessen organische Einheit für immer zerstört ist. Stellen wir uns einen lebenden und auf den ersten Blick ganz natürlich scheinenden Körper vor. Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, dass er ein Bein oder einen Arm aus Metall hat, dass eines seiner Augen aus Glas ist, dass die Zähne in seinem Mund Teil einer künstlichen Prothese sind und so weiter. Die Totalität, welche die Glieder vereint, ist eine unechte Totalität, eine falsche Ganzheit: eine Verbindung aus Elementen, die, wenn sie zusammengefügt werden, ein organisches Ganzes vortäuschen, während sich durch eingehende Analyse leicht zeigen lässt, dass sich in ihrem Zusammenschluss eine Art klassifikatorische Verwirrung oder ein entsprechender

Aspekte der Disparität

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Kurzschluss ausdrückt. Die Glieder gehören nicht wirklich zusammen. Dabei bleibt allerdings verdeckt, dass es im Grunde nur ein Element und seine Lücke gibt (die Leere dessen, was diesem Element fehlt, sein symmetrisches Gegenstück). Bei dem zweiten Element handelt es sich um einen heterogenen Eindringling, der die Leerstelle füllt. Nehmen wir an, es gibt keine höhere umfassende Einheit von Theologie und moderner Wissenschaft, sodass man sagen könnte (wie es Neo-Thomisten gerne tun), dass die Wissenschaft sich mit der endlichen materiellen Realität befasst, wohingegen die Theologie den umfassenderen Rahmen des unendlichen Absoluten bereitstellt, welches die endliche Realität begründet. Als Papst Johannes Paul II. Stephen Hawking empfing, wandte er sich angeblich wie folgt an ihn: „Wir sind uns durchaus einig, Herr Astrophysiker. Was nach dem Urknall geschieht, fällt in ihr Ressort, was davor geschah, in unseres.“ Selbst wenn dieser Austausch in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat, so trifft er doch offenbar den richtigen Punkt – se non e vero, e ben’trovato –, aber tut er das tatsächlich? Haben wir es hier nicht vielmehr mit einem Fall einer falschen Ganzheit zu tun? Als der Papst behauptete, die Wissenschaft befasse sich mit dem Geschehen nach dem Urknall, die Theologie mit dem davor, setzte er einen gemeinsamen Raum voraus, in dem die Theologie sich mit der einen Seite befasst und die Wissenschaft mit der anderen. Genau das aber funktioniert nicht. Eine solche Synthese ist ein Schwindel. Die Leerstelle dessen, was vor dem Urknall geschah, lässt sich nicht durch Theologie ausfüllen, sie ist eine dem wissenschaftlichen Raum immanente Leerstelle, mit der sich ausschließlich die Wissenschaft befassen und entsprechende Vorschläge machen kann. (Und genau das tut die Quantenkosmologie: Es gibt bereits alternative Theorien des Universums, nach denen der Urknall nicht den absoluten Anfang bildete, da unser Universum dem endlosen Rhythmus von Zerfall und Geburt [„Urknall“] folgt.) Anders gesagt, sprechen wir in den beiden Fällen schlichtweg nicht über denselben Urknall. Nach Lacans Auffassung ist die Geschlechterdifferenz auf ebendiese Weise eine falsche Einheit der Gegensätze: Mann und Frau sind nicht die beiden Hälften eines organischen Ganzen oder zwei entgegengesetzte Prinzipien oder Kräfte, deren ewiger Kampf unser Universum zum Leben erweckt. Mann und Frau befinden sich nicht auf der gleichen ontologischen Ebene, sie sind nicht zwei Spezies derselben Gattung. Das ursprüngliche Paar bilden vielmehr die Frau und die Leere (oder der Tod wie in „Der Tod und das Mädchen“) und dann erst kommt der Mann. Er füllt die Leerstelle aus und bringt so ein Ungleichgewicht ins Universum. Maos „Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels“ sollte daher keineswegs so verstan-

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Vom Humanen zum Posthumanen …

den werden, dass der Mann die andere Hälfte trägt. Es bedeutet vielmehr, dass die andere Hälfte leer ist – und als solche eine Quelle von Unordnung. Folglich sollten wir Maos Behauptung im Zusammenhang mit seiner berühmten Äußerung „Die Welt ist in Unordnung: Die Lage ist ausgezeichnet“ lesen. Denken wir an die alte jüdische Geschichte von Jakob, der sich in Rahel verliebte und sie heiraten wollte; sein Vater aber wollte, dass er Rahels ältere Schwester Lea heiratete. Damit Jakob nicht von seinem Vater oder von Lea getäuscht werden konnte, vereinbarte Rahel mit ihm, wie er sie nachts im Bett erkennen konnte. Bevor es jedoch dazu kam, fühlte Rahel sich schuldig gegenüber ihrer Schwester und teilte ihr mit, welches Zeichen sie verabredet hatten. Was aber, so fragte Lea sie, wenn er meine Stimme erkennt? Daraufhin beschlossen sie, dass Rahel sich unter das Bett legen und, während Jakob mit Lea schlief, die entsprechenden Geräusche machen würde, damit er nicht bemerkte, dass er mit der falschen Schwester Sex hat. Hier haben wir eine unerwartete Version von Lacans il n’y a pas de rapport sexuel: Es reicht nicht, einen Mann und eine Frau dazu zu bringen, es im Bett miteinander zu tun. Damit dies irgendwie funktionieren kann, braucht es eine Stimme, die von jemandem ausgeht, der unter dem Bett verborgen ist. Etwas formal Ähnliches ereignet sich in einer denkwürdigen Passage gegen Ende des ersten Kapitels von Marcel Prousts Die Welt der Guermantes, dem ersten Band seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Zum ersten Mal spricht Marcel (der Erzähler) mit seiner Großmutter am Telefon; die Stimme, die er hört, wird von der „natürlichen“ Gesamtheit des Körpers subtrahiert, zu dem sie gehört und aus dem sie als ein eigenständiges Partialobjekt hervortritt, als Organ, das magischerweise ohne den Körper, dessen Organ es ist, fortbestehen kann – Marcel ist es, als habe er die Stimme „allein vor [sich], ohne die Maske des Gesichts“. Was widerfährt aber dem Körper, wenn er von seiner Stimme getrennt wird, wenn die Stimme von der Ganzheit der Person subtrahiert wird? Für einen kurzen Augenblick sehen wir eine „dem Phantasma des affektiven Sinnzusammenhangs beraubte Welt, eine aus den Fugen geratene Welt“.3 Marcel erscheint die Großmutter außerhalb des phantasmatischen Bedeutungsrahmens, außerhalb der reichen Textur des warmen, liebenswerten Menschen, der sie ist – auf einmal sieht er sie „rot, schwerfällig, vulgär, krank, vor sich hindösend und mit etwas wirrem Blick über ein Buch hingleitend, eine alte, von der Last der Jahre gebeugte Frau, die ich gar nicht kannte“. Auch hier gelangt man nur durch Aufbrechen der organischen Einheit der Großmutter, durch Subtraktion ihrer Stimme von ihrem Körper, zu dem, was sie „wirklich ist“.4

Aspekte der Disparität

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Psychoanalytisch gesprochen, stellt Proust in dieser Szene dar, was Lacan als „Separation“ bezeichnet, als Separation von einem Objekt (in dem Fall der Großmutter) und dem, „was in ihm mehr ist als es selbst“, dem objet petit a als dem dezentrierten Kern seines Seins. Was also, wenn wir die Separation (in ebendieser Lacan’schen Bedeutung) analog zur Milchtrennung verstehen, bei der die Milch in einen Separator gefüllt wird, eine Schleudervorrichtung, die den Rahm von der übrigen Milch trennt? Auf entsprechende Weise ermöglicht der Separationsanalytiker es dem Analytiker, den Rahm (das Objekt a) von der gewöhnlichen Realität „abzuscheiden“, die, nachdem sie entrahmt wurde, in ihrem ganzen grauen Elend sichtbar wird. Die eigentlich philosophische Lektion dieser lächerlichen Peripetien ist äußerst wichtig: Die organische („unmittelbare“, wie Hegel sich ausgedrückt hätte) Einheit eines Phänomens ist zwangsläufig eine Falle, eine Täuschung, die tieferliegende Antagonismen verdeckt. Die einzige Möglichkeit, zur Wahrheit zu gelangen, besteht darin, diese Einheit schonungslos in Einzelteile zu zerlegen, damit sichtbar wird, dass es sich bei ihr um etwas Künstliches und Zusammengesetztes handelt. Dies gilt von der Personenebene (damit Marcel die Wahrheit über seine Großmutter erkennen kann, muss er seine Erfahrung der Einheit ihrer Persönlichkeit auseinandernehmen und zerstören, indem er sie in eine eigenständige obszöne Stimme und den ekelhaften körperlichen Rest scheidet) bis zur Gesellschaftsebene (die organische Einheit eines Sozialkörpers muss durch die Scheidung in Klassen zerstört werden). Für die begriffliche Ebene heißt das, die Wahrheit ist auf der Seite der Abstraktion, Reduktion und Subtraktion und nicht auf der Seite der organischen Ganzheit. Die wiederhergestellte Einheit, die „Synthese“ einseitiger Abstraktionen, bleibt auf der Abstraktionsebene und kann eigentlich nur als eine monströse Montage, ein nichtorganisches Ganzes erscheinen, das Ähnlichkeit mit dem Gesicht von Frankensteins Monster hat. Einer der üblichen Vorwürfe gegen Hegel lautet, dass die Selbstbewegung der Begriffe in einem dialektischen Prozess nur eine künstliche Abstraktionsbewegung sei und keine eigentliche organische Bewegung – das stimmt, allerdings ist dies eben genau der Punkt bei Hegel.5 Es ist das ontologische Axiom der Disparität, dass eine solche disparate Struktur universell und konstitutiv für die Realität ist (beziehungsweise für das, was wir als solche erfahren): Die Realität, die wir erfahren, ist niemals „alles“; damit die Illusion des „alles“ entstehen kann, muss sie um ein disparates künstliches Element ergänzt werden, das ihre Leerstelle beziehungsweise ihr Loch ausfüllt, wie bei einer Filmkulisse, die aus „wirklichen“ Elementen (Bäumen, Tischen, Wänden) zusammengesetzt, aber mit einem

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gemalten Hintergrund versehen wurde, der die Illusion schafft, dass wir uns in einer „realen“ Außenwelt befinden. Der erste Philosoph, der das klar gesehen hat, ist Kant: Die Realität, die wir erfahren, ist nicht-alles, inkonsistent, wir können kein Alles aus ihr machen, ohne in Antinomien zu geraten. Darum besteht die einzige Möglichkeit, die Realität als konsistentes Ganzes zu erfahren, darin, sie durch transzendentale Ideen zu ergänzen. Das Gesagte gilt selbst auf der intimsten Ebene persönlicher Erfahrung. Wenn ein Subjekt mit einem äußerst intensiven Geschehen konfrontiert wird (brutaler Folter, absolutem Ekel, einem Übermaß an jouissance), kann es dieses nicht als Teil seiner normalen Realität annehmen, und folglich erlebt es einen Realitätsverlust. Darum berührt die jouissance die Grundlagen dessen, was man als psychoanalytische Ontologie bezeichnen möchte. Die Psychoanalyse stößt auf die ontologische Grundfrage, warum es etwas gibt und nicht nichts, im Zusammenhang mit der Erfahrung des Realitätsverlusts, wenn irgendein traumatisches, überaus heftiges Zusammentreffen das Subjekt in seiner Fähigkeit beeinträchtigt, die Seinslast seiner Welterfahrung ganz auf sich zu nehmen. Lacan stellte vom Beginn seiner Lehre an den inhärent und nicht reduzierbaren traumatischen Status der Existenz heraus: „Jede Existenz hat per definitionem etwas derart Unwahrscheinliches, daß man in der Tat fortwährend über ihre Realität mit sich zu Rate gehen muß.“6 Später, nach der entscheidenden Wende in seiner Lehre, macht er die Existenz („als solche“, möchte man hinzufügen) an der jouissance als dem eigentlich Traumatischen fest, dessen Existenz sich mithin niemals ganz annehmen lässt und das deshalb für immer als gespenstisch, präontologisch wahrgenommen wird. Auch hier besteht eine sehr wichtige Verbindung zu Kant: Um etwas als Teil unserer Realität erfahren zu können, muss es in den Rahmen passen, der die Koordinaten unserer Realität festlegt; Kants Bezeichnung für diesen Rahmen ist transzendentales Schema, sein psychoanalytischer Name ist Fantasie oder Phantasma. Deshalb steht die Fantasie von einem streng freudianischen Standpunkt aus betrachtet auf der Seite der Realität; sie stützt den „Realitätssinn“ des Subjekts: Wenn der phantasmatische Rahmen auseinanderfällt, erlebt das Subjekt einen „Realitätsverlust“ und fängt an, die Realität als ein „irreales“ und entsprechend beklemmendes Universum ohne festen Seinsgrund wahrzunehmen. Dieses alptraumhafte Universum – das Lacan’sche Reale – ist keine „reine Fantasievorstellung“, sondern im Gegenteil das, was von der Realität bleibt, wenn ihr die Unterstützung durch die Fantasie entzogen wurde. Oder, wie es bei Cavell mit atemberaubender Präzision heißt:

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Einer dürftigen Auffassung nach ist die Fantasie eine Welt abseits der Realität, eine Welt, die eindeutig ihre Irrealität erkennen lässt. Die Fantasie ist gerade das, womit man die Realität verwechseln kann. Es ist die Fantasie, die unsere Überzeugung begründet, dass die Realität Geltung hat; würden wir unsere Fantasie aufgeben, würden wir unsere Verbindung mit der Welt aufgeben.7 Anders gesagt ist das, was wir als Realität erfahren, immer schon zurechtgestutzt, gefiltert; irgendeine Dimension ist von ihr ausgeschlossen und kann nur als Fiktion erscheinen, als „nicht zu unserer Realität gehörig“. Sagen wir einmal, ich sei gezwungen mitanzusehen, wie jemand schwer gefoltert wird – es ist unmöglich für mich, das Geschehen als Teil meiner Realität wahrzunehmen. Ich muss mir selbst sagen, dass dies unmöglich wirklich geschehen kann, dass ich ganz sicher träume etc. Obgleich also die Folterszene „objektiv“ zur selben Welt gehört, in der ich tagtäglich lebe, muss ich sie „als Fiktion behandeln“, um sie aushalten zu können. Ich weiß noch von meinem Armeedienst, wie ich diese bizarre und stupide Welt nach nur ein paar Tagen als meine Realität akzeptiert habe. Der Preis dafür aber war, dass mir mein früheres Zivilleben wie eine Art Traumlandschaft vorkam, nicht wie ein Teil meiner Realität. Und nachdem ich meinen Dienst beendet hatte und nach Hause zurückgekehrt war, überraschte es mich, wie schnell sich alles wieder umkehrte: Nach einigen Tagen erschien mir mein Armeeleben wie eine undeutliche, gespenstische Welt, die es irgendwie nie wirklich gegeben hat (auch wenn mich bestimmte Vorfälle daraus noch Jahrzehnte verfolgten). Und dieselbe Disparität ist in jedem Klassifizierungs- oder Einteilungsvorgang wirksam: Wenn wir eine Gattung in ihre Spezies unterteilen, kommen wir damit nie an ein allumfassendes Ende, und es gibt immer eine Unterart oder ein Unterelement, das wie ein Füllsel funktioniert, das heißt, sich eben als ein Element der entsprechenden Spezies anbietet, tatsächlich aber all das vertritt, was sich ebendem Prinzip dieser Einteilung entzieht (ähnlich der von Borges vorgenommenen Einteilung der Hunde, die als eine Spezies „alle Hunde“ umfasst, „die in dieser Einteilung keinen Platz haben“). Eine solche Bestätigung einer Ausnahme zu einem allgemeinen Begriff kann eigentlich nur als antihegelianisch, ja sogar kierkegaardianisch erscheinen: Geht es Hegel nicht genau darum, dass sich jede Existenz durch begriffliche Vermittlung unter eine allgemeine Wesenheit subsumieren lässt? Was aber, wenn wir darin die Grundfigur der von Hegel sogenannten „konkreten Allgemeinheit“ erkennen? Konkrete Allgemeinheit ist nicht die organische Aufgliederung einer Allgemeinheit in ihre Spezies, Teile oder Organe; wir gelangen nur dann zu

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ihr, wenn die betreffende Allgemeinheit unter ihren Spezies oder Elementen auf sich selbst in ihrer gegensätzlichen Bestimmung stößt, in einem Ausnahmeelement, das die allgemeine Dimension verneint und als solches ihre unmittelbare Verkörperung darstellt. In einer hierarchischen Gesellschaft sind es die Menschen am unteren Rand, die ein solches Ausnahmeelement bilden, etwa die „Unberührbaren“ in Indien. Anders als Gandhi habe Dr. Ambedkar „unterstrichen, dass es nichts nützt, wenn man lediglich die Unberührbarkeit abschafft: Dieses Übel sei das Resultat einer bestimmten Art der gesellschaftlichen Hierarchie, es sei das ganze Kastensystem, das abgeschafft werden müsse: ,Kastenlose wird es solange geben, wie es Kasten gibt.‘ […] Gandhi erwiderte, dies alles sei vielmehr eine Frage der Grundlagen des Hinduismus, der in seiner ursprünglichen zivilisatorischen Form keine Hierarchien gekannt habe.“8 Obwohl sich Gandhi und Ambedkar gegenseitig respektierten und im Kampf für die Würde der Unberührbaren häufig zusammenarbeiteten, besteht hier eine unüberwindliche Differenz zwischen ihnen: Es ist die Differenz zwischen der „organischen“ Lösung (das Problem durch Rückkehr zur Reinheit des ursprünglich unverdorbenen Systems zu bewältigen) und der wirklich radikalen Lösung (in dem Problem ein „Symptom“ des Gesamtsystems zu erkennen, das sich nur durch Abschaffung des gesamten Systems beseitigen lässt). Ambedkar sah deutlich, dass die aus vier Kasten bestehende Struktur nicht vier Elemente vereint, die der gleichen Ordnung angehören: Während die ersten drei Kasten (Priester, Kriegerfürsten, Händler/Landwirte) ein konsistentes Alles bilden, eine organische Triade, entsprechen die Unberührbaren der „asiatischen Produktionsweise“ von Marx, dem „Teil ohne Anteil“, dem inkonsistenten Element, das innerhalb des Systems den Platz dessen einnimmt, was durch das System an sich ausgeschlossen wird – und als solches stehen die Unberührbaren für das Allgemeine. Es gibt im Grunde keine Kasten ohne Kastenlose; solange es Kasten gibt, solange wird es ein überschüssiges exkrementelles Element ohne Wert geben, das zwar formal Teil des Systems ist, aber keinen richtigen Platz darin hat. Gandhi verschleiert dieses Paradox, indem er den Eindruck erweckt, es sei eine harmonische Struktur möglich, die sämtliche ihrer Elemente entsprechend integriert. Das Paradox der Unberührbaren besteht darin, dass sie durch die exkrementelle Logik doppelt gezeichnet sind: Sie haben nicht nur mit unreinen Exkrementen zu tun, ihr eigener formaler Status innerhalb des Gesellschaftskörpers ist auch der eines Exkrements. Um aus dem Kastensystem auszubrechen, genügt es dem echt dialektischen Paradox nach nicht, dass der Status umgekehrt wird und man die Unberührbaren zu „Kindern Gottes“ erhebt; der erste Schritt sollte vielmehr in

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dem genauen Gegenteil bestehen, nämlich darin, den exkrementellen Status zu verallgemeinern und auf die ganze Menschheit auszudehnen. Diese Paradoxien sind äußert wichtig, wenn wir den Hegel’schen Schlüsselbegriff der konkreten Allgemeinheit richtig verstehen wollen. Um uns klarzumachen, worum es sich dabei handelt, können wir uns etwa eine Vielzahl von ähnlichen Phänomenen oder Objekten denken – sagen wir, eine Vielzahl von Menschen. Wie gelangt man durch ihren Vergleich zu dem allgemeinen Begriff, der sie alle umfasst? Welche Merkmale abstrahieren wir von der Fülle ihrer empirischen Eigenschaften? Es reicht nicht zu sagen, dass wir uns auf Merkmale konzentrieren, die all diesen Wesen und nur ihnen gemeinsam sind; es bleibt die Frage, welche Merkmale „wesentlicher“ sind. Doch wie entscheiden wir das? Wieso sollte etwa Sprache „wesentlicher“ sein als das Tragen von Kleidung? Weil, wie es heißt, das „wesentliche“ Merkmal dasjenige ist, das alle anderen „vermittelt“, ihre immanente Voraussetzung darstellt (das Tragen von Kleidung setzt das durch Sprache koordinierte Zusammenwirken von Menschen voraus). Die beiden üblichen Kandidaten für eine solche „konkrete Allgemeinheit“ sind Arbeit und Sprache (der Mensch wird als werkzeugmachendes Tier, als sprechendes Tier verstanden), gefolgt von anderen Kandidaten (der Religion oder zumindest einem gewissen Sinn für das Heilige und für Rituale und so weiter). Wir können uns an diesem Punkt endlos fragen, was zuerst kommt: Ist die Sprache aus der Notwendigkeit zur Zusammenarbeit entstanden oder setzt Arbeit Sprache voraus, damit aus ihr eine spezifisch menschliche Arbeit werden kann? Viel wichtiger ist es, dass die Vermittlung der Merkmale nicht dem empirischen Werden entspricht: Die universelle Vermittlungsfunktion gehört nicht dem Element zu, das den empirischen Ausgangspunkt der Entwicklung des betreffenden Phänomens bildete. Geld beispielsweise – das mit dem Kapitalismus in Form des Kapitals zum Schlüsselmoment des gesellschaftlichen Ganzen wird – beginnt als ein sekundäres Instrument, um den Warenaustausch zu erleichtern; erst mit dem Kapitalismus setzt das Resultat rückwirkend seine eigenen Voraussetzungen (wie Marx sich ganz hegelianisch ausdrückt), das heißt, ein sekundäres Moment wird zum Dreh- und Angelpunkt für die Regulierung der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion. Des Weiteren sollte man auch nicht die Nützlichkeit eigenwilliger Definitionen unterschätzen, die ein triviales Randmerkmal zu einem Schlüsselmoment erheben (im Stil von: „Der Mensch ist das Tier, das die Frage plagt, was es mit seinen Exkrementen tun soll“ oder „Der Mensch ist das Tier, das seine Nägel schneidet“ und so weiter). Solche Definitionen, die für sich genommen offensichtlich lächerlich sind, liefern einen Hinweis auf unvermutete Verbindungen: Sie ermögli-

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chen es uns, einer sehr wichtigen, für gewöhnlich aber nicht zur Kenntnis genommenen Ausprägung irgendeines „wesentlichen“ Merkmals Beachtung zu schenken. Die Tatsache etwa, dass sich Menschen an ihren Exkrementen stören, dass sie versuchen, sich ihrer zu entledigen, sie unsichtbar zu machen, verschwinden zu lassen, sagt eine Menge über die Ausschlüsse und Verbote, auf die sich das symbolische Universum gründet; hinter jedem symbolischen Universum, um Kristeva zu zitieren, lauert ein Abjekt. Im herkömmlichen Verständnis, in dem der Sprache beziehungsweise der Arbeit der Vorzug gegeben wird, ist die Sexualität, obgleich nicht weniger allgemein (oder sogar noch allgemeiner, denn es gibt sexuell aktive Menschen, die niemals gearbeitet haben), nichts spezifisch Menschliches. Natürlich ist die Art und Weise, wie Menschen Liebe machen, spezifisch menschlich. Sie schließt Perversionen, Verführungsrituale, ökonomische Interessen und Machtspiele mit ein. All diese Phänomene resultieren aber daraus, wie die natürliche Substanz der Sexualität durch die Kultur umgestaltet wird – das Agens der Umgestaltung ist hier nicht die Sexualität selbst, sondern es sind gesellschaftliche und kulturelle Prozesse. Die Psychoanalyse unterscheidet sich jedoch radikal von dieser Sichtweise: Freud stellt die Sexualität in den Mittelpunkt, weil sich der elementare Bruch mit dem Tierleben, der Übergang in eine metaphysische Dimension seiner Auffassung nach genau dort vollzieht, in der Entstehung einer von den biologischen Bedürfnissen des Geschlechtsverkehrs unter Tieren losgelösten sexuellen Lust. Aus diesem Grund steht das Christentum der Sexualität ablehnend gegenüber und akzeptiert sie nur dann als ein notwendiges Übel, wenn sie ihrem natürlichen Zweck der Fortpflanzung dient – nicht, weil in der Sexualität unsere niedere Natur zum Ausbruch kommen würde, sondern genau deshalb, weil die Sexualität mit der reinen Geistigkeit als der ursprünglichen metaphysischen Betätigung konkurriert. Freuds Hypothese zufolge bildet der Übergang von den tierischen (Paarungs-)Instinkten zum Proprium der Sexualität (zu den Trieben) den Urschritt aus dem physischen Reich des biologischen (tierischen) Lebens in die Metaphysik, in die Ewigkeit und Unsterblichkeit, und damit auf eine in Bezug auf den biologischen Kreislauf von Werden und Vergehen heterogene Ebene. (Darum ist die von katholischer Seite vertretene Argumentation falsch, dass der nicht zum Zweck der Fortpflanzung vollzogene Geschlechtsverkehr tierisch sei. Es verhält sich genau umgekehrt: Der Sex vergeistigt sich nur dann, wenn er von seinem natürlichen Zweck getrennt und zum Selbstzweck wird.) Platon war sich darüber bereits im Klaren, als er vom Eros, der erotischen Bindung an einen schönen Körper, als dem ersten Schritt auf dem Weg zum höchsten Gut schrieb; eindeutige Christen (wie Simone Weil) erkannten im se-

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xuellen Verlangen ein Streben nach dem Absoluten. Die menschliche Sexualität ist gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit, ihr Ziel zu erreichen, und diese konstitutive Unmöglichkeit verewigt sie, so wie die Liebe, die in den mythischen Geschichten über große Liebende das Leben und den Tod überdauert. Das Christentum sieht in diesem echt metaphysischen Exzess der Sexualität einen Störfaktor, den es zu beseitigen gilt. Darum ist es paradoxerweise das Christentum selbst (vor allem das katholische), das sich seiner Konkurrentin dadurch entledigen will, dass es sie auf ihre tierische Fortpflanzungsfunktion reduziert: In dem Wunsch, die Sexualität zu „normalisieren“, sucht es sie von außen zu vergeistigen, versieht sie mit einer geistigen Außenhaut (Geschlechtsverkehr müsse mit Liebe und Achtung für den Partner vollzogen werden, auf kultivierte Weise und so weiter) und verdeckt so die ihr immanente geistige Dimension der bedingungslosen Leidenschaft. In genau diesem Sinne ist die Sexualität für Freud das „konkrete Allgemeine“ des Menschen. Es gilt hier noch zwei weitere Festlegungen zu treffen. Hegels konkrete Allgemeinheit ist nicht einfach eine blinde, leblose Abstraktion, ein allen Elementen gemeinsames Merkmal, das Hegel als „an sich Allgemeines“ bezeichnet; es ist ein für sich Allgemeines, ein Allgemeines, das als solches in Erscheinung tritt, im Unterschied zu seinen einzelnen Elementen. Nehmen wir den Fall eines modernen Individuums: Es ist allgemein für sich, weil es sich selbst als allgemein erfährt, als nicht an den konkreten Kontext seiner kontingenten Situation gebunden. Ein Lehrer oder Busfahrer etwa ist nicht bloß ein konkreter Fall eines Menschen, er erfährt sich selbst als ein (allgemeines) menschliches Wesen, das zufälligerweise letztlich Lehrer oder Busfahrer geworden ist. Zu guter Letzt ist die „konkrete Allgemeinheit“ eines bestimmten Phänomens oder Feldes weniger irgendein allgemeines Merkmal, das all seine Elemente gemeinsam haben, als vielmehr eine Lücke, ein Antagonismus oder Hindernis, das dieses Feld zusammenhält. Im klassischen Marxismus ist der gesellschaftliche Antagonismus (der Klassenkampf) nicht einfach ein negativer Faktor, der das Gesellschaftsgebäude dauerhaft destabilisiert, sondern zugleich das, was dieses Gebäude überdeterminiert und in diesem Sinne „zusammenhält“ (alle gesellschaftlichen Institutionen stellen letztlich unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit dem Klassenkampf dar). Nehmen wir den Staat als eine gesellschaftliche Institution. Der Staat ist der institutionelle Hauptakteur bei der Regulation des sozialen Lebens und seiner Reproduktion. Aber nicht nur das: In einer Klassengesellschaft ist er voreingenommen und begünstigt die eine Klasse, während er die andere unterdrückt. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass ein „wahrer“

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Staat ein neutrales Instrument darstellt, das allen seinen Bürgern zugutekommt, während dieses Instrument in einer Klassengesellschaft durch die herrschende Klasse in Besitz genommen und (missbräuchlich) verwendet wird. Die Rede von der Unparteilichkeit des Staates ist schlichtweg ideologische Irreführung, da der Staat nur in Klassengesellschaften auftritt, wo er seiner Funktion gemäß unter den Bedingungen des Klassenantagonismus die gesellschaftliche Reproduktion ermöglichen soll. Der Staat ist mit anderen Worten kein Apparat, der in einer Klassengesellschaft verdreht oder einseitig benutzt wird, er ist schon seiner Natur oder Idee nach verdreht und einseitig parteilich. Das Gleiche gilt für die Gerechtigkeit (das Recht). Man sollte Spinozas Ineinssetzung von Macht und Recht vor dem Hintergrund von Pascals berühmtem Pensée betrachten: Zweifelsohne ist die Gleichheit der Güterverteilung gerecht, aber da man nicht erreichen kann, dass man zwangsläufig der Gerechtigkeit gehorcht, hat man erreicht, dass es gerecht ist, der Gewalt zu gehorchen. Da man der Gerechtigkeit nicht Gewalt verleihen kann, hat man die Gewalt gerechtfertigt, damit Gerechtigkeit und Gewalt eine Einheit bilden und Frieden herrsche, der das höchste Gut ist.9 Das Entscheidende an diesem Abschnitt ist die „formalistische“ Logik, die ihm zugrunde liegt: Der Form der Gerechtigkeit kommt mehr Gewicht zu als ihrem Inhalt – ihre Form sollte gewahrt werden, selbst wenn sie ihrem Inhalt nach die Form ihres Gegenteils, der Ungerechtigkeit, bildet. Und, so könnte man hinzufügen, diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt ist nicht einfach das Ergebnis spezieller unglücklicher Umstände, sondern sie ist konstitutiv für den eigentlichen Begriff der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit bildet „an sich“, ihrem Begriff selbst nach, die Form der Ungerechtigkeit, nämlich „gerechtfertigte Gewalt“. Wenn wir es mit einem fingierten Gerichtsverfahren zu tun haben, bei dem der Ausgang aufgrund politischer Machtinteressen von Vornherein feststeht, ist zumeist von einem „Hohn auf die Gerechtigkeit“ die Rede – die vorgebliche Gerechtigkeit ist in Wahrheit eine Vorführung blanker Macht oder Korruption, die sich als Gerechtigkeit ausgibt. Was aber, wenn die Gerechtigkeit „an sich“, ihrem Begriff nach, ein Hohn ist? Unterstellt Pascal dies nicht stillschweigend, wenn er resigniert schließt, da die Macht nicht zur Gerechtigkeit kommen könne, müsse eben die Gerechtigkeit zur Macht kommen?

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Gegen die Univozität des Seins Aus diesen Paradoxien der Allgemeinheit ergibt sich der Schluss, dass wir uns hier von der Vorstellung der „Univozität des Seins“ trennen müssen, deren Hauptvertreter in unserer Zeit Deleuze gewesen ist. Die Behauptung der Univozität des Seins hat den Vorteil, dass sie es uns ermöglicht, sämtliche Annahmen einer ontologischen Hierarchie aufzugeben – von der theologischen Vorstellung des Universums als eines hierarchischen Ganzen mit Gott als dem einzigen vollständigen Wesen an der Spitze bis zur gängigen marxistischen Hierarchie sozialer Sphären (mit der ökonomischen Infrastruktur als der einzigen vollständigen Realität und der irgendwie „weniger realen“ Ideologie als Teil eines täuschenden Überbaus). Analog hierzu ließe sich der Film Der Mann mit der Kamera von Dsiga Wertow (Eisensteins großem Kontrahenten) als ein exemplarischer Fall von filmischem Kommunismus interpretieren: als die Bejahung des Lebens in seinen vielen Facetten durch eine Art von filmischer Parataxe, das Nebeneinanderstellen einer Reihe alltäglicher Aktivitäten – seine Haare waschen, Pakete verpacken, Klavier spielen, Telefonkabel verlegen, Ballett tanzen –, die aufgrund sich wiederholender visueller und anderer Muster auf der reinen Formebene ineinander widerhallen. Was diese filmische Praxis zu einer kommunistischen macht, ist die zugrundeliegende Behauptung der radikalen Univozität des Seins: Sämtliche der gezeigten Phänomene sind einander gleichgestellt, sämtliche der üblichen Hierarchien und Gegensätze, einschließlich des offiziellen kommunistischen Gegensatzes zwischen dem Alten und dem Neuen, sind auf magische Weise außer Kraft gesetzt worden. (Es sei daran erinnert, dass Eisensteins zur selben Zeit gedrehter Film Die Generallinie den alternativen Titel Das Alte und das Neue trug.) Der Kommunismus wird hier weniger als der harte Kampf um ein Ziel (die angestrebte neue Gesellschaft) dargestellt – mit all den realpolitischen Paradoxien, die sich damit verbinden (der Kampf für die neue Gesellschaft universeller Freiheit sollte der härtesten Disziplin unterliegen usw.) –, sondern vielmehr als eine Tatsache, eine bestehende kollektive Erfahrung. Die (gegen die aristotelische Ontologie gerichtete) Auffassung von der Univozität des Seins fand ihren größten Verfechter in Spinoza, der aus ihr die äußerste Konsequenz zog: Er setzte die „deontologische“ Dimension radikal außer Kraft, also das, was wir normalerweise mit dem Ausdruck „ethisch“ bezeichnen (Normen, die uns vorschreiben, wie wir handeln sollen, wenn wir eine Wahl haben) – und dies in einem Buch mit dem Titel Die Ethik, was an sich schon eine ziemliche Leistung ist. In seiner berühmten Auslegung des Sündenfalls behauptet Spinoza, Gott habe das Verbot, vom

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Baum der Erkenntnis zu essen, deshalb aussprechen müssen, weil wir nur begrenzt dazu fähig seien, den wahren Kausalzusammenhang zu erkennen. Die Eingeweihten sollten gewarnt sein, dass es ungesund ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen. So kam es, dass Adam „jene Offenbarung nicht als ewige und notwendige Wahrheit auffaßte, sondern als Gesetz, d. h. als eine erlassene Anordnung, die Gewinn oder Verlust mit sich bringt, nicht auf Grund der Natur und der Notwendigkeit der vollbrachten Handlung, sondern auf Grund der Willkür und unbedingten Herrschaft eines Fürsten. Deshalb ist jene Offenbarung allein im Hinblick auf Adam und [allein wegen] dessen mangelhafter Erkenntnis ein Gesetz gewesen und Gott so etwas wie ein Gesetzgeber oder Fürst. Aus demselben Grunde, einer mangelhaften Erkenntnis, ist auch der Dekalog nur im Hinblick auf die Hebräer ein Gesetz gewesen.“10 Zwei Ebenen werden hier einander gegenübergestellt: die Ebene der Vorstellungen und Ansichten sowie die Ebene der wahren Erkenntnis. Die Vorstellungsebene ist anthropomorph: Wir haben es mit einer Erzählung über Akteure zu tun, die Anweisungen erteilen, die wir befolgen oder nicht befolgen können; Gott selbst ist hier der höchste Fürst, der Gnade walten lässt. Die wahre Erkenntnis hingegen liefert den nichtanthropomorphen Kausalzusammenhang unpersönlicher Wahrheiten. Man ist versucht zu sagen, dass Spinoza die Juden hier noch jüdisch überbietet, indem er das Bildverbot auf den Menschen selbst ausweitet. Der Mensch soll sich nicht nur von Gott kein Bild nach dem eigenen Bilde machen, sondern auch nicht von sich selbst. Mit anderen Worten: Spinoza geht hier noch einen Schritt über die übliche Warnung hinaus, menschliche Vorstellungen wie Ziel, Gnade, Gut und Böse und so weiter nicht auf die Natur zu projizieren – wir sollten sie nicht einmal auf den Menschen selbst anwenden, um ihn uns verständlich zu machen. Die entscheidenden Worte der zitierten Stelle lauten „allein wegen dessen mangelhafter Erkenntnis“ – der „anthropomorphe“ Bereich der Gesetze, Verfügungen, moralischen Gebote und so weiter basiert insgesamt auf unserer Unkenntnis. Spinoza verwirft demnach die Notwendigkeit dessen, was Lacan als „Herren-Signifikant“ bezeichnet, den reflexiven Signifikanten, der ebenjenen Mangel des Signifikanten auffüllt. Das höchste Exempel, das Spinoza selbst von „Gott“ gibt, ist hier äußerst wichtig: Fasst man ihn als eine mächtige Person auf, verkörpert Gott lediglich unsere Unkenntnis der wahren Zusammenhänge und Kausalitäten. Man sollte hier an Begriffe wie „Phlogiston“ oder Marx’ „asiatische Produktionsweise“ denken oder tatsächlich auch an das heute gern verwendete Wort von der „postindustriellen Gesellschaft“ – mithin an Begriffe, die scheinbar mit Inhalt gefüllt sind, in Wahrheit aber bloß unser

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Unwissen erkennen lassen. Es ist das unerhörte Bestreben Spinozas, die Ethik außerhalb der „anthropomorphen“ moralischen Kategorien von Absichten, Geboten und dergleichen zu denken. Was er vorschlägt, ist stricto sensu eine ontologische Ethik, eine um die deontische Dimension verkürzte Ethik, eine „sollensfreie“ Ethik des „Ist“. Ganz anders als Spinoza stellt Lacan (in Encore) die „deontische“ Dimension des Seins selbst heraus: Wenn man sagt, etwas „ist“, schließt dies immer dessen „Seinmüssen“ mit ein; dazu sei hier Lacans Äußerung zitiert, wenn er sich auf Aristoteles’ to ti ēn einai bezieht, „was sich produziert hätte, wenn zu sein gekommen wäre“: […] was war zu sein. Es scheint, daß da der Stiel sich bewahrt, der uns erlaubt zu situieren, von woher sich dieser Diskurs des Seins produziert – es ist ganz einfach das Sein gestiefelt, das Sein zu Befehl, das, was sein ging, wenn du vernommen hättest, was ich dir befehle. Jede Dimension des Seins produziert sich im Kurrenten des Diskurses des Herren, desjenigen, der, den Signifikanten vortragend, davon erwartet, was einer seiner nicht zu vernachlässigenden Bindungseffekte ist, der an dem hängt, daß der Signifikant kommandiert. Der Signifikant ist zuerst Imperativ.11 In ihrer radikalsten Form verweist die Disparität nicht einfach nur auf die Lücke zwischen Teilen oder Sphären der Realität, sie muss vielmehr auch selbstbezüglich verstanden und so gedacht werden, dass sie die Disparität einer Sache in Bezug auf sich selbst einschließt – oder, um es anders zu sagen, die Disparität zwischen einem Teil einer Sache und nichts. A ist nicht einfach nur nicht-B, es ist auch und vor allem nicht vollkommen A, und B tritt hervor, um diese Lücke zu füllen. Dies ist die Ebene, auf der wir die ontologische Differenz verorten sollten: Die Realität ist unvollständig, lückenhaft, inkonsistent, und das höchste Wesen oder Sein ist die illusorische Vorstellung, die diesen Mangel, diese Leere, welche die Realität zu einem Nicht-Alles macht, auffüllen (verschleiern) soll. Kurz gesagt, die ontologische Differenz – die Differenz zwischen der Nicht-Alles-Realität und der Leere, die sie durchkreuzt – wird durch die Differenz zwischen dem „höchsten“ oder „wahren“ Sein (Gott; das eigentliche Leben) und seinen sekundären Schatten verschleiert.

Posthuman, transhuman, inhuman Aus der Perspektive Heideggers stellt die globale wissenschaftlich-technische Zivilisation von heute eine Bedrohung für die ontologische Diffe-

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renz dar – er spricht von einer „Gefahr“, die in unserer Daseinsform liegt. Ihren Ausdruck findet diese Bedrohung in der mehr oder weniger allgemein geteilten Vorahnung, dass wir (die Menschheit) heute vor einschneidenden Veränderungen stehen, vor dem Eintritt in eine „posthumane“ Daseinsweise. Diese Veränderungen werden manchmal als Bedrohung für den ureigenen Kern des Menschseins dargestellt, manchmal feiert man sie als Übergang in eine neue Singularität (ein Kollektivbewusstsein, eine neue Cyborg-Existenz oder eine andere Version von Nietzsches Übermensch). Empfunden aber werden diese Veränderungen in theoretischer wie praktischer Hinsicht von uns allen – wer vermag die Implikationen und Konsequenzen zu ermessen, die sich mit der Biogenetik verbinden, mit neuen Prothesenimplantaten, die mit unserem biologischen Körper verschmelzen werden, den neuen Möglichkeiten, nicht allein unsere Körperfunktionen, sondern auch unsere Denkvorgänge zu kontrollieren und zu regulieren? Innerhalb dieser auf die „Überwindung des Humanen“ gerichteten Denkhaltung bestehen mit dem Posthumanismus und dem Transhumanismus zwei Tendenzen nebeneinander, die vagen Bezug zur Dualität von Kultur und Wissenschaft haben. Bei den „Posthumanisten“ (Donna Haraway und anderen) handelt es sich um Kulturtheoretiker, die beobachten, wie der heutige gesellschaftliche und technologische Fortschritt unsere Ausnahmestellung als Menschen immer weiter aushöhlt: Die Ökologie lehrt, dass wir letztlich eine der Tierarten auf der Erde sind, dass das Tierhafte zu unserer innersten Natur gehört, dass es keine eindeutige ontologische Kluft gibt, die uns vom Tierreich trennt. Gleichzeitig zeigt die heutige Wissenschaft und Technik immer deutlicher, wie sehr wir in unserer innersten Identität auf technische Gerätschaften und Krücken angewiesen sind – was wir sind, sind wir durch technologische Vermittlung. Während der „Mensch“ für die Posthumanisten eine bizarre Spezies tierhafter Cyborgs ist, berufen sich die „Transhumanisten“ (Raymond Kurzweil und andere) auf die jüngsten wissenschaftlichen und technologischen Innovationen (Künstliche Intelligenz, Digitalisierung), die auf die Entstehung einer Singularität, einer neuen Form der kollektiven Intelligenz hindeuten. Diese transhumanistische Richtung bildet eine vierte Stufe in der Entwicklung des Antihumanismus: Sie entspricht weder dem theozentrischen Antihumanismus (aufgrund dessen die religiösen Fundamentalisten in den USA unter „Humanismus“ die säkulare Kultur verstehen) noch dem „theoretischen Antihumanismus“ französischer Prägung, der die strukturalistische Revolution in den 1960er-Jahren begleitete (Althusser, Foucault, Lacan), aber auch nicht der „tiefenökologisch“-antihumanistischen Reduktion

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des Menschen auf nur eine Tierart unter anderen, die allerdings durch ihre Hybris das Gleichgewicht des Lebens auf der Erde durcheinandergebracht hat und nun mit der berechtigten Rache von Mutter Erde konfrontiert ist. Allerdings ist auch die vierte Stufe nicht ohne geschichtlichen Hintergrund. Im ersten Jahrzehnt der Sowjetunion genoss der sogenannte Kosmismus außerordentliche Popularität: Diese ziemlich merkwürdige Verbindung aus Vulgärmaterialismus und gnostischer Spiritualität bildete eine okkulte Schattenideologie, die obszöne Geheimlehre des sowjetischen Marxismus. Heute, so wirkt es, tritt dieser „Kosmismus“ in einer neuen Welle des „posthumanen“ Denkens abermals in Erscheinung. Die spektakuläre Entwicklung der Biogenetik (Klonen, unmittelbare Eingriffe in die DNA) löst die Grenzen zwischen Mensch und Tier einerseits sowie zwischen Mensch und Maschine andererseits allmählich auf und lässt die Vorstellung aufkommen, dass wir uns an der Schwelle zu einer neuen Form von Intelligenz befinden, einer „mehr als menschlichen“ Singularität, für die es keine körperlichen Beschränkungen mehr geben wird, auch nicht die der geschlechtlichen Fortpflanzung. Diese Aussicht löste eine seltsame Scham aus: eine Scham über unsere biologischen Grenzen, unsere Sterblichkeit, die lächerliche Art und Weise, wie wir uns fortpflanzen – Letztere nannte Günther Anders die „prometheische Scham“, bei der es sich ganz einfach um die Scham darüber handelt, dass wir „geboren und nicht hergestellt werden“.12 Nietzsches Vorstellung, dass wir als die „letzten Menschen“ die Grundlage für unsere eigene Auslöschung und die Ankunft des neuen Übermenschen schaffen, bekommt damit eine wissenschaftlich-technische Wendung. Dennoch sollten wir diese „posthumane“ Haltung nicht auf den paradigmatisch modernen Glauben an die totale technische Beherrschung der Natur reduzieren – was wir gegenwärtig erleben, ist vielmehr eine beispielhafte dialektische Umkehrung: Das Schlagwort der heutigen „posthumanen“ Wissenschaften lautet nicht mehr Beherrschung, sondern überraschende (kontingente, nicht geplante) Emergenz. Jean-Pierre Dupuy registriert eine merkwürdige Umkehrung der cartesianisch-anthropozentrischen Überheblichkeit, der sich die menschliche Technik verdankte, eine Umkehrung, die in der heutigen Robotik und Genetik, der Nanotechnologie und der aktuellen Forschung zu Künstlichem Leben und Künstlicher Intelligenz deutlich zu erkennen sei: Womit lässt sich erklären, dass aus der Naturwissenschaft ein derart „riskantes“ Unternehmen wurde, dass sie führenden Wissenschaftlern zufolge heute die Hauptbedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt? Manche Philosophen antworten auf diese Frage, dass sich

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Descartes’ Traum vom Menschen – als künftigem „Beherrscher und Besitzer der Natur“ – zum Schlechten gewendet habe und wir uns dringend wieder auf die „Beherrschung der Beherrschung“ besinnen sollten. Sie haben nichts verstanden. Sie sehen nicht, dass die Technologie, die sich durch die „gegenseitige Annäherung“ aller Fachgebiete an unserem Horizont abzeichnet, gerade auf die Nichtbeherrschung hinarbeitet. Der Ingenieur von morgen wird ein Zauberlehrling sein, aber nicht aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit, sondern weil er sich dafür entschieden hat. Er wird sich mit komplexen Strukturen oder Ordnungen „versorgen“ und durch die Erforschung ihrer funktionellen Eigenschaften herauszufinden versuchen, was sie zu leisten vermögen – und damit einen aufsteigenden, von unten nach oben verlaufenden Ansatz verfolgen. Er wird mindestens ebenso sehr Forscher und Experimentierender wie Ausführender sein. Sein Erfolg wird sich eher an dem Grad der Überraschung bemessen, die ihm seine eigenen Schöpfungen bereiten, wie an dem Grad der Übereinstimmung seiner Umsetzungen mit der Liste vorgefertigter Aufgaben.13 Der Motor dieser Selbstaufhebung des Menschen ist der anhaltende wissenschaftliche Fortschritt, der sich in der Evolutionsbiologie, der Neurologie und kognitivistischen Hirnforschung verzeichnen lässt und der sich mit dem Versprechen der vollständigen wissenschaftlichen Selbstobjektivierung des Menschen verbindet: Die Evolutionstheorie kann erklären, wie der Mensch allmählich aus dem Tierreich hervorging, und in diesem Sinne hat sie auch eine Erklärung für sich selbst (für das Aufkommen kognitiver Mechanismen, die es dem Menschen ermöglicht haben, die wissenschaftliche Weltsicht zu entwickeln). Dennoch bleibt die Frage: Stellt diese Operation, die Schleife zu schließen (also die Selbsterklärung), wirklich einen Erfolg dar? Man muss hier absolut deutlich sein und sagen, dass diese wissenschaftlichen Befunde trotz ihrer Mängel in gewisser Hinsicht einfach wahr sind und ganz offensichtlich zutreffen. Und darum sollte man sich auch auf keine der obskurantistischen und spiritualistischen Bezüge auf irgendeine geheimnisvolle Dimension einlassen, die sich der Wissenschaft angeblich entzieht. Sollten wir uns dann einfach über diese Aussicht freuen und sie begrüßen? Die philosophieinterne Hauptformation des Widerstands gegen eine völlige wissenschaftliche Selbstobjektivierung des Menschen, die dennoch die wissenschaftlichen Leistungen anerkennt, ist die neukantianischtranszendentale Staatsphilosophie (die heute exemplarisch von Jürgen Habermas vertreten wird). Nach ihr ist unsere Selbstwahrnehmung als frei und verantwortlich Handelnde nicht einfach eine notwendige Illusion, sondern

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vielmehr das transzendentale Apriori aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Habermas zufolge verwickelt sich ein Wissenschaftler in dem Versuch, die subjektive Erfahrung der ersten Person aus der objektivierenden Perspektive der dritten Person zu untersuchen, in einen performativen Widerspruch, weil die Objektivierung die Teilhabe an einem intersubjektiv begründeten System von Sprachpraktiken voraussetzt, dessen normative Valenz den Wissenschaftler in seiner kognitiven Aktivität bestimmt. Habermas charakterisiert diesen intersubjektiven Bereich rationaler Geltung als die Dimension des „objektiven Geistes“, die nicht von den phänomenologischen Profilen der Gemeinschaft der von ihm umfassten Einzelbewusstseine her verstanden werden kann: Der wesentlich intersubjektive Status des normativen Bereichs schließt jeden Versuch aus, seine Wirkung oder Entstehung anhand von Entitäten oder Prozessen zu erklären, die einfacher sind als das System selbst. (Lacans Bezeichnung für diesen „objektiven Geist“, der sich weder auf das Reale der rohen Realität noch auf das Imaginäre unserer Selbsterfahrung zurückführen lässt, ist natürlich der große Andere.) Weder die phänomenologische (imaginäre) noch die neurobiologische (reale) Profilbildung der Teilhaber des Systems kann als Konstitutionsbedingung für diesen gesellschaftlichen „objektiven Geist“ herangezogen werden. Ins gleiche Horn wie Habermas stößt auch Robert Pippin: Selbst wenn es Wissenschaftlern eines Tages gelingen sollte, den Menschen vollständig zu naturalisieren, und sie erklären könnten, wie das Selbstbewusstsein aus der natürlichen Evolution hervorgegangen ist, so wird dies für die Philosophie folgenlos bleiben: Es ist selbstverständlich möglich und wichtig, dass Forscher eines Tages entdecken werden, weshalb Tiere mit menschlichen Gehirnen jene Dinge tun können und Tiere ohne menschliche Gehirne nicht, und durch irgendeine Verbindung von Astrophysik und Evolutionstheorie wird man erklären können, weshalb menschliche Wesen die Gehirne haben, die sie haben. Aber das sind keine philosophischen Probleme und es ergeben sich daraus auch keine.14 Es ist natürlich die grundlegende transzendentale Wende, die Pippin hier vollzieht: Es geht hier nicht darum, dass das Selbstbewusstsein ein Phänomen darstellt, welches zu komplex ist, um wissenschaftlich erklärt werden zu können. Vielmehr geht es darum, dass jede psychoneuronale Analyse in diesem Fall schlicht irrelevant ist, da sie sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt als das reine Selbstbewusstsein, bei dem es sich nicht um eine psy-

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chische Tatsache handelt, sondern um ein Apriori, das all unserem Tun und damit auch der neurobiologischen Forschung tragend zugrunde liegt. Wir stoßen hier an eine gewisse Grenze. Es stellt sich die Frage, wie wir den Wahrheitsbereich der Wissenschaft relativieren. Genügt der transzendentale Ansatz oder muss dieser durch eine Beschränkung auf der Inhaltsebene gestützt werden? Oder, etwas vereinfacht gefragt: Genügt es, festzustellen, dass die positive Wissenschaft sich von ihrer eigenen Möglichkeit keine Rechenschaft geben kann, dass sie das unabhängige Verfahren des Argumentierens, welches sie kennzeichnet, voraussetzen muss? Oder sollte dieser transzendentale Punkt durch irgendeinen Nachweis ergänzt werden, dass wissenschaftliche Erklärungen an Grenzen stoßen („Die Hirnforschung kann nicht wirklich erklären, wie der menschliche Geist funktioniert“)? Man muss zugeben, dass manche wissenschaftlichen Experimente Ergebnisse liefern, die sich nicht einfach als irrelevant abtun lassen. Bei einem kürzlich vom schwedischen Karolinska-Institut durchgeführten Experiment stellte sich heraus, dass die Erfahrung, sich in seinem eigenen Körper zu befinden, nicht so selbstverständlich ist, wie man meinen könnte: Neurowissenschaftler „haben bei den Teilnehmern, die in einem Hirnscanner lagen, die Illusion hervorgerufen, sie befänden sich außerhalb ihres Körpers. Dann nutzten sie diese Illusion, um die Probanden nach deren Empfindung an unterschiedliche Stellen in einem Raum zu ,teleportieren‘ und den Nachweis zu führen, dass der empfundene Ort des Körperselbst sich aus Aktivitätsmustern in bestimmten Hirnregionen herauslesen lässt.“ Das Gefühl, „seinen Körper zu besitzen“, sollte darum nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden: Es ist „eine überaus vielschichtige Aufgabe, bei der es auf die ständige Integration von Informationen aus unseren verschiedenen Sinnen ankommt, damit die Empfindung, wo sich der Körper in Bezug auf die Außenwelt befindet, ihre Genauigkeit bewahrt“.15 Experimenten dieser Art kommt eine doppelte Bedeutung zu. Erstens liefern sie ein klares Argument gegen die spiritualistische Deutung der außerkörperlichen Erfahrung als Beweis dafür, dass unsere Seele nicht irreduzibel in unserem Körper angesiedelt sei, da sie außerhalb von ihm frei flottieren könne: Wenn sich die außerkörperliche Erfahrung durch technologische Manipulation unseres Körpers hervorrufen lässt, dann ist die Erfahrung unseres „inneren“ Selbst unserem Körper strikt immanent. Zweitens problematisieren solche Experimente zumindest auch die für die Philosophie der Endlichkeit äußerst wichtige Vorstellung, dass wir irreduzibel „eingebettet“ sind, dass unsere – auf die Perspektive unseres (sterblichen) Körpers beschränkte – Selbsterfahrung den ultimativen Horizont unserer gesamten Erfahrung darstellt: Das Experiment deutet darauf hin,

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dass unsere „verkörperte“ Selbsterfahrung das Ergebnis komplexer neuronaler Prozesse ist, die auch fehlschlagen können. Daher braucht es einen nuancierteren Ansatz, mit dem wir die von Habermas und Pippin vertretene transzendental-idealistische Position hinter unter uns lassen können. Wilfrid Sellars gibt der Dualität von (materialistischem) Inhalt und (transzendentaler) Form eine entscheidende materialistische Wendung: Er akzeptiert die Kluft zwischen Methodologie (Vorrang des transzendentalen Horizonts) und Ontologie (vollständige Naturalisierung) – und erkennt damit an, dass die unmittelbare Naturalisierung strikt vorhegelianisch ist –, um dann auf eindeutig materialistische Weise, „den Vorrang des naturwissenschaftlichen Bildes zu verteidigen.“ Bekanntlich insistiert er darauf, dass „die Wissenschaft in der Dimension der Weltbeschreibung und Welterklärung das Maß aller Dinge darstellt, der seienden, dass sie sind, und der nichtseienden, dass sie nicht sind“. […] Dennoch ist das manifeste Bild als ursprüngliches Medium für das Normative weiter unentbehrlich. Sofern dieser normative Rahmen nicht fortbesteht, so warnte Sellars, „wird der Mensch selbst nicht fortbestehen“. […] Die Wissenschaft kann uns nicht dazu bewegen, unser manifestes Selbstverständnis als rational-verantwortliche Akteure aufzugeben. Dies nämlich würde bedeuten, dass wir auf die Quelle des Imperativs verzichten müssten, um sie der Revision zu überlassen. Es ist unser manifestes Selbstverständnis als Personen, das uns qua Gemeinschaft rationaler Akteure mit dem ultimativen Horizont rationaler Zweckhaftigkeit ausstattet, vor dessen Hintergrund wir uns dem Versuch verschreiben, die Welt zu verstehen. Gäbe es diesen Horizont nicht mehr, würde jede kognitive Tätigkeit und mit ihr die wissenschaftliche Erforschung der Realität gegenstandslos werden.16 Entsprechend definiert Ray Brassier den Materialismus anhand des marxistisch klingenden Begriffs der „Determinierung in letzter Instanz“, den es dem ähnlichen Begriff der Überdeterminierung entgegenzusetzen gilt: „Determinierung in letzter Instanz“ ist die Kausalität, die es jedem Objekt X allgemein möglich macht, seine eigene, „wirkliche“ Erkenntnis zu determinieren, doch nur in letzter Instanz.17 Überdeterminierung ist transzendental, denn beim Transzendentalismus geht es darum, dass man sich als Subjekt nie vollständig objektivieren, nie vollständig auf einen Teil der „objektiven“ Realität vor sich zurückführen kann, weil eine solche Realität durch die Subjektivität immer schon transzendental konstituiert ist. Egal, wie weit es mir gelingt, mich als ein Phänomen in der „großen Kette des Seins“ zu begreifen, als das von einem Netz natürlicher (oder übernatürli-

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cher) Ursachen determinierte Resultat, dieses kausale Bild ist durch den transzendentalen Horizont, der meine Annäherung an die Welt strukturiert, immer schon überdeterminiert. Dieser transzendentalen Überdeterminierung stellt Brassier die naturalistische Determinierung in letzter Instanz gegenüber: Ein ernstzunehmender Materialist muss davon ausgehen, dass jeder subjektive Horizont, in dem die Realität erscheint, jede subjektive Konstituierung oder Vermittlung der Realität, letztlich durch ihren Ort innerhalb der objektiven Realität determiniert sein muss und entsprechend als ein Teil des alles umfassenden Naturgeschehens aufzufassen ist.18 Die große Frage verfolgt uns also weiter: Was – wenn es überhaupt so etwas gibt – widersteht der völligen wissenschaftlichen Selbstobjektivierung? Obwohl die Objektorientierte Ontologie (OOO) im Gegensatz zur wissenschaftlichen Selbstobjektivierung auf die Wiederverzauberung der Welt aus ist, stimmt sie mit der wissenschaftlichen Sichtweise darin überein, dass sich der ontologisch-transzendentale Horizont auf eine von vielen ontischen Beziehungen zwischen Gegenstandsobjekten reduzieren lässt. Darum bezeichnet Bryant seine Sicht zu Recht als „Ontikologie“, im Unterschied zur „Ontologie“. Unser Problem betrifft hingegen die Frage, wie man Materialist sein soll, ohne zur ontischen Sichtweise zurückzukehren. Der in dem vorliegenden Buch entfalteten Antwort nach handelt es sich bei der Dimension, die der Selbstobjektivierung widersteht, nicht um die menschliche Selbsterfahrung, sondern um den „unmenschlichen“ Kern dessen, was der Deutsche Idealismus als „Negativität“ bezeichnet, was bei Freud „Todestrieb“ heißt und selbst dessen, was Heidegger „ontologische Differenz“ nannte: um eine Lücke oder Kluft, die die allein ontische Sicht auf den Menschen, nach der er nur ein Objekt unter anderen ist, für immer ausschließt.19 Diese Dimension liegt jenseits jedes transzendentalen Horizonts, sie ist auf das Erreichen des Ansich gerichtet; das Ansich aber ist nicht „da draußen“, wir erreichen es nicht dadurch, dass wir unsere subjektiven Hinzufügungen von der Realität wieder abziehen; das Ansich ist „hier“, in genau dem subjektiven Überschuss über das hinaus, was uns als objektive Realität erscheint. Um diesen Überschuss zu erkennen, sollte man zwischen Posthumanismus und der Vorstellung von Postsubjektivität unterscheiden: Man kann sich ohne Weiteres einen Humanismus denken, der auf der Ablehnung der cartesianischen Subjektivität basiert (im Sinne von „realen Menschen, die wirklich im Leben stehen“, nicht der toten Abstraktion des Cogito), und andererseits eine antihumanistische Subjektivität (das Subjekt als einen ungeheuerlichen Exzess, der die menschliche Lebenswelt in ihren Begrenzungen destabilisiert). Die vorherrschende Form des Humanismus verbindet sich nichtsdestotrotz mit der Ablehnung beider Begriffe: Weder der Huma-

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nismusgedanke noch die Subjektvorstellung sind ein richtiges Allgemeines. Die von ihnen aufrechterhaltene Form des allgemeinen menschlichen Subjekts nämlich stützt sich auf eine versteckte Norm (die Bevorzugung des westlichen weißen Mannes) und schließt damit andere aus, die ihrem unausgesprochenen Einheitsmodell nicht entsprechen (Frauen, Menschen anderer Hautfarbe und so weiter). Wir setzen hier auf die Hervorhebung des Abstands, der das Subjekt vom Menschen trennt, und auf die Behauptung des antihumanen Subjekts: Das „leere“ cartesianische Subjekt (S/) ist keine Abstraktion von der Fülle des wirklichen Lebens, sondern eine leere Urform, die dann mit dem „menschlichen“ Stoff gefüllt wird („dem Reichtum einer Person“). Dieses „leere“ Subjekt ist letztlich nichts anderes als Ausschuss, es ist das, was nach Abzug alles „menschlichen“ Inhalts übrigbleibt. Und als ebensolcher Ausschuss ist dieses Subjekt allgemein: In jeder Struktur von Subjektpositionen ist die Allgemeinheit in deren „Teil ohne Anteil“ verkörpert, in dem Element, für das es keinen richtigen Platz in der Struktur gibt, dem Element, das für immer aus den Fugen ist. Demnach haben wir es mit zwei entgegengesetzten Formen von Allgemeinheit zu tun: der normativen Allgemeinheit eines Modells, einer partikularen Form, bei der eine ideologische Allgemeinheit zu ihrer vollständigen wirklichen Existenz gelangt (der westliche weiße Mann als ein Modell des Humanismus, als ein Wesen, das „vollständig menschlich“ ist), und der Allgemeinheit, die in dem Ausschuss der Struktur verkörpert ist (ein Subjekt ist insofern präzise allgemein, als es von allen gesellschaftlichen Positionen ausgeschlossen ist, sodass nichts übrigbleibt als die leere Form der Allgemeinheit). Kant, der als Erster die Idee der Spaltung zwischen dem Subjekt (der Leere der reinen Negativität) und der Person (dem jeweiligen Reichtum des emotionalen usw. „pathologischen“ Inhalts) einführte, ist darum der erste philosophische Antihumanist. Der Humanismus ist vormodern, vorcartesianisch und reduziert den Menschen darauf, höchster Punkt der Schöpfung zu sein, statt ihn als ein Subjekt zu begreifen, das außerhalb der Schöpfung steht. (In gewissem Sinne ist auch die moderne Wissenschaft bereits „posthuman“, da sich ihr Universum nicht auf unsere normale menschliche Realität zurückführen lässt. Wie Richard Feynman vor Jahrzehnten sagte, ist niemand imstande, die Quantenphysik wirklich zu „verstehen“, weil „verstehen“ heißt, die Dinge in den Worten unseres Alltagsverständnisses der Realität wiederzugeben – das Quantumuniversum ist und bleibt unserer Lebenswelt für immer fremd, „kontraintuitiv“. [Die Kluft, die die moderne Wissenschaft von unserem normalen Realitätsverständnis trennt, öffnet sich bereits mit Galileo.])

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Die Vorstellung, dass die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) eine Bedrohung für unsere Identität als Menschen darstellt, zählt zu den beliebten Themen unserer öffentlichen Debatten. Dabei liege, so heißt es, die eigentliche Gefahr gar nicht so sehr in der Aussicht, dass die Arbeitslosigkeit mit intelligenten Robotern, die uns nach und nach ersetzen, explodieren wird (wäre eine solche Aussicht im Übrigen nicht ein Segen in einer rational geordneten Wirtschaft?). Was aber ist, wenn KI-Maschinen Selbstbewusstsein ausprägen werden (in irgendeinem transhumanen Sinne, der sich uns nicht erschließt) und ihr Bewusstsein weit oberhalb unseres menschlichen Vermögens in einem lebenden Wesen vereinen, wenn sie mit uns spielen, uns als Spielzeuge verwenden oder uns einfach nicht beachten, vielleicht gar vernichten? Welche Beziehung werden wir mit einer solchen höheren Intelligenz eingehen? Werden wir überhaupt eine Beziehung in einem bedeutsamen Sinne mit ihnen eingehen können? Wird unsere Begegnung mit ihnen traumatisch sein und zur Zerstörung führen (dem Ende der Menschheit), wird sie uns eine beschwingende Selbstüberschreitung bescheren (in der wir mit dieser Intelligenz verschmelzen und dann wohlig in ihr baden) oder wird etwas völlig anderes aus ihr folgen? Wenn davon die Rede ist, dass die moderne Wissenschaft und Technologie eine Bedrohung für unsere menschliche Identität darstellen, sollten wir als Philosophen zunächst einmal die philosophische Grundfrage stellen: Von welchem Begriff des „Humanen“, der spezifisch menschlichen Dimension, lassen wir uns leiten; welche Vorstellung setzen wir als impliziten Maßstab für das Menschsein voraus, wenn wir von derartigen Bedrohungen sprechen? Für Heidegger etwa ist der traditionelle metaphysische Humanismus selbst nicht imstande, das Wesen des Menschseins zu erfassen; daher sind die humanistischen Proteste gegen die Herrschaft der Technik letztlich vergeblich. Von Heidegger sollten wir uns noch in einem anderen Punkt belehren lassen und aus seinem Beharren auf dem Thema der Endlichkeit und des Scheiterns lernen: Das Menschsein kennzeichnet in seinem Kern selbst eine Struktur der immanenten Beschränkung, der nicht „vollständigen“ Übereinstimmung mit dem, was man ist, der grundlegend durchkreuzten eigenen Identität. Paradoxerweise verlieren wir das Humane selbst, wenn wir diese Schranke oder dieses Hindernis entfernen und uns ein „vollständiges“ menschliches Wesen denken, das ohne seinen Zug ins Perverse auskommt. Anders gesagt, ist genau diese immanente Beschränkung, das Scheitern daran, zu sein, was man ist, für das Menschsein konstitutiv. Das ist der Grund, warum Menschen sich in ihrer Fantasie immer einen Zustand ausmalen, in dem sie schließlich „ganz Mensch“ wären – doch ganz oder vollständig Mensch sein heißt so viel wie übermenschlich

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zu sein. Es ist jedoch so, dass ebendieses Scheitern am vollständigen Menschsein am Ursprung dessen steht, was wir als „kulturelle Kreativität“ bezeichnen, das heißt, dass es uns immer wieder anstachelt, über uns selbst hinauszugehen. Anders gesagt, wandelt sich die Emanzipation des Menschen aus posthumaner Sicht in die Emanzipation vom Menschen selbst, von den Beschränkungen bloßen Menschseins. In diesem Umschwung liegt eine tiefere hegelsche Notwendigkeit: Das Menschsein impliziert seinem Begriff selbst nach eine Unvollständigkeit, eine Lücke, welche den Menschen vom vollständigen Menschsein trennt, sodass – ebenso wie für Hegel ein vollkommener Staat kein Staat mehr ist, sondern eine religiöse Gemeinschaft – ein vollkommener Mensch nicht länger menschlich ist. Diese Ambiguität ist längst nicht nur ein theoretisches Problem, sondern betrifft schon unser Alltagsleben – wie es Franco Berardi prägnant zum Ausdruck bringt, „wird die neuronale Plastizität die nächste Spielwiese sein“. „Das Kartieren der Abläufe im Gehirn wird in den nächsten Jahrzehnten die Hauptaufgabe der Wissenschaft sein, während es für die Technologie in der Hauptsache darum gehen wird, die Abläufe im Kollektivhirn zu verdrahten.“20 Berardi ist ebenfalls zuzustimmen, wenn er betont, dass eine solche „Verdrahtung“ sich traumatisch auswirken wird: „Die Störung erfasst nicht nur die psychische Dimension des Unbewussten, sondern genauso das Nervensystem, das in seiner ganzen Struktur traumatischen Beeinträchtigungen, Überlastungen und Abbrüchen unterliegt. Die Anpassung des Gehirns an die neue Umgebung bringt sehr großes Leiden mit sich, sie entfesselt einen Sturm an Gewalt und Irrsinn.“21 Obwohl Berardi in seiner Diagnose zuzustimmen ist, sollte man sich gleichwohl gegen seine Neigung aussprechen, das fortlaufende „Verdrahten der Abläufe im Kollektivhirn“ vom Kampf zwischen der Selbstorganisation sensibler Singularitäten und dem Neurototalitarismus („der autonomen Organisation geistiger Arbeiter oder der Matrix des Biofinanzkapitalismus“22) her zu verstehen. Eine solche Konzentration auf den Antagonismus birgt die Gefahr, sämtliche „schlechte“ Aspekte dieser „Verdrahtung“ – das Leiden und den Orientierungsverlust, die sie bewirkt – allzu schnell ihrer kapitalistisch-totalitären Kooptation zuzuschreiben, während man ihre „befreienden“ Potenziale rühmt, die freigesetzt würden, wenn die „Verdrahtung“ der Kontrolle durch die Selbstorganisation geistiger Arbeiter unterliegt. Bei einem solchen Ansatz bleibt die ungemein gewaltsame und traumatische Wirkung der „Verdrahtung“ unserer geistigen Tätigkeit unberücksichtigt: Dies ist ein Prozess, der den eigentlichen Kern dessen, was es heißt, Mensch zu sein, buchstäblich aushöhlt.

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Hyperobjekte im Zeitalter des Anthropozäns Die Tatsache, dass die explodierende neuronale Plastizität nur ein Aspekt eines globalen Prozesses ist, dessen Gegenstück die Heraufkunft des sogenannten „Anthropozäns“ bildet, verdient unbedingte Beachtung. Die Ökologie ist heute eines der am meisten umkämpften ideologischen Schlachtfelder und hält eine Reihe von Strategien bereit, um die wahren Ausmaße der ökologischen Bedrohung zu verschleiern: Erstens: Einfach ignorieren – es handelt sich lediglich um eine Randerscheinung, mit der man sich nicht befassen muss, das Leben (des Kapitals) geht weiter, die Natur wird auf sich selbst aufpassen. Zweitens: Wissenschaft und Technologie können uns Rettung bringen. Drittens: Die Lösung dem Markt überlassen (durch höhere Besteuerung der Verschmutzer und so weiter). Viertens: Druck vonseiten des Über-Ichs auf den Einzelnen in seiner Verantwortung ausüben statt umfangreiche systematische Maßnahmen durchzuführen. Jeder von uns sollte das ihm oder ihr Mögliche tun – recyceln, seinen Konsum einschränken und so weiter. Fünftens: Die vielleicht schlechteste Strategie von allen ist das Eintreten für eine Rückbesinnung auf das natürliche Gleichgewicht, auf ein anspruchsloseres Leben nach traditioneller Art, wodurch wir uns von der menschlichen Hybris lossagen und wieder verantwortungsvolle Kinder unserer Mutter Natur werden könnten – dieses ganze Paradigma von Mutter Natur, die durch unsere Hybris aus dem Gleis geriet, ist falsch.23 Warum? Den Kern der ökologischen Krise bildet ein bereits von Marx registriertes Phänomen, der durch die Steigerung der kapitalistischen Produktivität verursachte sogenannte metabolische Riss: „Mit Arbeit traktieren wir Gesteine und Böden, Pflanzen und Tiere und entlocken ihnen so die Molekularströme, aus denen unser gemeinsames Leben immer wieder aufs Neue gemacht wird. Diese Molekularströme kehren jedoch nicht wieder dahin zurück, von wo sie gekommen sind“ (S. xiii). Wenn ein von der Menschenindustrie verursachter Riss dieser Art eine Bedrohung für die eigentliche Reproduktion auf der Erde darzustellen beginnt, sodass der Mensch buchstäblich zu einem geologischen Faktor wird, treten wir in ein neues Zeitalter ein, in das Anthropozän: „Das Anthropozän bildet eine Reihe von metabolischen Rissen, in denen durch Arbeit und Technik ein Molekül nach dem anderen entnommen wird, um damit Dinge für die Menschen herzustellen. Die verschwendeten Produkte aber kommen nicht wieder zurück, damit der Kreislauf sich erneuern kann“ (S. xiv). Die treibende Kraft hinter diesem wachsenden Riss bezeichnet Wark mit dem ironischen Ausdruck „Kohlenstoffbefreiungsfront“: „Die Kohlenstoffbefreiungsfront

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macht alles ausfindig, was in vergangenen Zeiten die Form fossilierten Kohlenstoffs angenommen hat, fördert es zutage und verbrennt es, um die darin enthaltene Energie freizusetzen. Das Anthropozän wird mit Kohlenstoff betrieben“ (S. xv). Dieser Begriff des Anthropozäns enthält in seinem Kern selbst ein Paradox: Der Mensch wurde sich seiner Grenzen als Spezies genau dann bewusst, als er so stark geworden war, dass er auf das Gleichgewicht des ganzen Erdenlebens Einfluss zu nehmen vermochte. Er konnte davon träumen, Subjekt zu sein, solange sein Einfluss auf die Natur begrenzt war, also vor dem Hintergrund einer stabilen Natur. Begriffe wie „Riss“ und „gestörter Kreislauf “ sind offenbar auf ihren Gegensatz angewiesen, mithin auf die Vorstellung von einem „normalen“ Zustand, in dem der Kreislauf geschlossen und das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, als ob das Anthropozän (in dem der Mensch durch sein Tun ein Ungleichgewicht erzeugt und dafür sorgt, dass sich der metabolische Riss bildet) überwunden werden könnte, wenn die menschliche Spezies wieder in eine im Gleichgewicht befindliche Ordnung der Natur eingesetzt würde. Es ist Warks zentrale Leistung, dass er sich diesem Weg gründlich verweigert: Es gab nie ein solches Gleichgewicht; die Natur ist an sich bereits aus der Balance, die Vorstellung von ihr als eine große Mutter ist bloß ein weiteres Bild des göttlichen großen Anderen. Auch wenn mich Wark für einen der großen Bösewichte hält, weil ich für ihn „all die alten Laster“ (S. 17) des von der Praxis losgelösten kontemplativen Materialismus verkörpere, teile ich doch seinen Ansatz, wonach wir uns von der Natur als der letzten Gestalt des großen Anderen verabschieden sollten: Der Gott, der sich noch immer in der Weltsicht von einer Ökologie verbirgt, die sich selbst zu korrigieren, auszubalancieren und zu heilen vermochte – ist tot […]. Der Mensch ist nicht mehr jene Gestalt im Vordergrund, die ihre eigenen Interessen vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, organischen Kreislaufs verfolgt, den sie vielleicht stört, mit dem sie jedoch letztlich ein ausgewogenes und harmonisches Verhältnis bewahren kann, indem sie einfach mit gewissen Auswüchsen Schluss macht. (S. xii) Nach dem Tod des Gottvaters und damit der männlichen Vernunft sollten wir folgerichtig auch den Tod der Göttin Natur befürworten. „Auf die unsichtbare Hand und auf eine homöostatische Ökologie als Leitbild zu verzichten heißt, einmal mehr nach dem Tod Gottes zu leben“ (S. 209). Es ist nicht nur so, dass wir nie auf die Natur an sich stoßen – das heißt, dass die Natur, mit der wir in Berührung kommen, immer schon in antagonistischer

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Wechselwirkung mit der kollektiven menschlichen Arbeit begriffen ist –, die Kluft, die unser (menschliches) Vermögen zur totalen Ausweitung der Vermittlung (durch Arbeit) von der Natur in ihrer Widerspenstigkeit trennt (Natur als das, was unserem Zugriff Widerstand entgegensetzt), ist auch und vor allem irreduzibel. Die Natur ist kein abstraktes Ansich, sondern in erster Linie das, was uns bei unserer Arbeit als widerstrebende Gegenkraft begegnet. Wir müssen hier allerdings einen Schritt weitergehen: Die Fiktion einer durch die Eingriffe des Menschen zwar gestörten, gleichwohl aber beständigen Natur ist selbst als ein unerreichbares Ideal, dem wir uns nähern könnten, wenn wir uns so weit als möglich aus unseren Aktivitäten zurückziehen, falsch und unhaltbar – die Natur ist an sich bereits nachhaltig beeinträchtigt, sie ist an sich schon aus den Fugen: „Wir hängen tendenziell noch immer der Vorstellung an, dass eine Ökologie sich selbst wiederherstellen und zur Homöostase zurückkehren wird, wenn wir mit bestimmten Dingen aufhören. Vielleicht aber stimmt das gar nicht […] Was, wenn es nur eine unbeständige Natur gibt?“ (S. 200) Der Riss zwischen Arbeit und widerspenstiger Natur sollte nicht nur um einen Riss innerhalb der Natur ergänzt werden, der sie für immer unbeständig macht, sondern auch um einen Riss, der den Menschen selbst von innen spaltet. Dieser Riss, der sich in der Moderne auftut, markiert die „Scheidung zwischen der Empfindung der Welt und der Vorstellung von ihr“ (S. 105). Wir sollten diesen Riss allerdings nicht im herkömmlichen humanistisch-marxistischen Sinne der „Entfremdung“ der „höheren“ theoretischen Tätigkeit von der lebendigen gemeinsamen Praxis auffassen: Die lebendige praktische Erfahrung der Realität kann unmöglich zur letzten Zuflucht erhoben werden – darin besteht die Lektion moderner Wissenschaft und Technik. Der Bereich des „Inhumanen“ (exemplarisch das Feld der Quantenschwankungen) liegt unterhalb unserer unmittelbaren Erfahrung und wird nur durch wissenschaftliche Theorien zugänglich: Diese wunderliche Welt der Teilchenphysik „liegt so weit unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle, dass wir uns abmühen, eine Sprache zu ihrer Beschreibung zu finden“ (S. 165) – wobei uns weniger eine angemessene Sprache fehlt (die lässt sich ohne größere Schwierigkeiten entwickeln) als vielmehr ein angemessenes Empfinden für diese seltsame Welt, wodurch wir sie als Teil unserer Realität erfahren könnten. Gleiches gilt für die Kohlenstoffbefreiungsfront: Unser einschlägiges Wissen „ist Wissen, das sich nur durch einen wissenschaftlich-technischen Apparat hervorbringen lässt, der sich mittlerweile zu einer den ganzen Planeten umspannenden Infrastruktur ausgewachsen hat“ (S. 180). Auch hier trifft der Satz von Wagner zu: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“

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Letzter Bezugspunkt und unüberschreitbarer Horizont bleibt für Wark, was er das „gemeinsame Leben“ nennt, und jede Autonomisierung eines seiner Elemente kommt ihm zufolge einer fetischisierenden Entfremdung gleich: „Wenn wir aus einer speziellen Idee, einer speziellen Liebe oder einer speziellen Arbeit einen Fetisch machen, geht dem gemeinsamen Leben unser Gattungswesen verloren“ (S. 107). An diesem Punkt sollten wir jedoch eine doppelte Frage stellen. Erstens: Entspricht eine solche Unterbrechung des Stroms gemeinsamen Lebens, eine solche Konzentration auf eine Idee, einen geliebten Menschen oder eine Aufgabe nicht genau dem, was Badiou als Ereignis bezeichnet? Sollten wir also solche Schnitte, statt sie als Fälle von Entfremdung abzutun, nicht vielmehr als höchsten Ausdruck der Macht der Negativität feiern? Und zweitens: Setzt unser Zugang zur unmenschlichen Molekularebene etwa des Quantenuniversums nicht genau solch einen trennenden Schnitt von unserem gemeinsamen Alltagsleben voraus? Wir haben es hier mit einem echt hegelianischen Paradox zu tun: Hegel lobt den „molaren“ Akt der Abstraktion – die Reduktion der Komplexität einer Situation auf das „Wesentliche“, auf ihr Hauptmerkmal – als die unendliche Macht des Verstandes. Die eigentliche Schwierigkeit besteht nicht darin, die Situation in ihrer Komplexität zu erfassen, sondern darin, sie schonungslos zu vereinfachen: Der Blick richtet sich auf die wesentliche Form, nicht auf die Einzelheiten. Das Schwierige dabei ist es, Klassen zu sehen, nicht Kleinstgruppen, die sich gegenseitig bekämpfen, das Subjekt zu sehen, nicht den humeschen Strom von Geisteszuständen. Wir reden hier nicht einfach von idealen Formen oder Mustern: Die Leere der Subjektivität ist das Reale, das durch den Reichtum des „Innenlebens“ verschleiert wird; der Klassenantagonismus ist das Reale, das durch die Vielzahl unterschiedlicher sozialer Kämpfe verschleiert wird. (Die mögliche Gegenfrage lautet hier: Kann Hegel auch einen Geschichtsverlauf denken, in dem ein auf niedrigerer Ebene angesiedelter kontingenter und bedeutungsloser Fakt einen entscheidenden Faktor des Wandels im molaren Raum darstellt [wie etwa, dass der Fall Roms dem Blei in den Töpferwaren jener Zeit geschuldet war]?) Wir sollten daher über die Deleuze’sche Entgegensetzung von Molekularem und Molarem hinausgehen, welche die molare Ebene auf ein Schattentheater von Repräsentationen reduziert und der molekularen Ebene die eigentliche Produktivität und Lebendigkeit vorbehält. Richtig ist, dass der metabolische Riss als Phänomen besteht und dass er sich nur auf „niedrigerer“, molekularer Ebene bilden kann. Diese liegt jedoch so niedrig, dass sie nicht nur für die große Politik oder die „molaren“ gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht wahrnehmbar ist, sondern auch für die ele-

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mentarste Erfahrung von Leben und das grundlegendste Engagement. Sie ist nur durch „hohe“ Theorie zugänglich – in einer Art in sich verkehrter Drehung ist es nur durch das Höchste möglich, zum Tiefsten zu gelangen.24 Natürlich verfügt die Naturwissenschaft mit den wissenschaftlichen Messgeräten über ihre eigene „molekulare“ materielle Basis. Obwohl diese Apparaturen von Menschen entwickelt werden und Teil unserer Alltagsrealität sind, ermöglichen sie uns den Zugang zu seltsamen Bereichen, die nicht Teil der erfahrbaren menschlichen Realität sind, von den Quantenschwankungen bis hin zum Genom: Der Wissenschaft haftet etwas Unmenschliches an. Ihre Wahrnehmungs-, Modellbildungs- und Prüfverfahren sprengen den Rahmen des menschlichen Sensoriums, auch wenn sie von einer Apparatur abhängen, die selbst das Produkt menschlicher Arbeit ist. Die Gegenstände der Wissenschaft hängen nicht vom menschlichen Bewusstsein ab. Und doch spielt sich die Wissenschaft in der Geschichte ab, in den Schranken sozialer Organisationsformen eines bestimmten Typus und einer bestimmten Zeit. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind an sich eine Fessel für die Wissenschaft in ihrem Streben nach den unmenschlichen Sensationen des nichtmenschlichen Realen. (S. 208) Entsprechend ist Karen Barad zuzustimmen, wenn sie die Begrenztheit von Bohrs Auffassung einer Apparatur herausstellt: Apparaturen haben ihre eigene Geschichte, sie sind das Ergebnis gesellschaftlicher Praktiken und als solche wirken sich in ihnen auch die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse aus. Sehr wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen nichtmenschlich und unmenschlich: Nichtmenschliches ist auf der gleichen Ebene angesiedelt wie Menschliches, es ist Teil der Alltagswelt, in der Menschen es mit nichtmenschlichen Dingen und Vorgängen zu tun haben. Bei Apparaturen handelt es sich um etwas anderes, sie sind weder menschlich noch nichtmenschlich, sondern vielmehr unmenschlich: „Das Inhumane vermittelt dem Humanen das Nichthumane. Dadurch bleibt die seltsame Beschaffenheit, die Fremdartigkeit dessen gewahrt, was sich durch eine Apparatur hervorbringen lässt – die Teilchenphysik beispielsweise –, ohne dass damit schon zu viel über das Nichtmenschliche gesagt wäre“ (S. 164). Kurzum, obwohl Apparaturen und Messvorrichtungen dem Menschlichen immanent sind, insofern sie ein Produkt der fruchtbaren und wissenschaftlichen Beschäftigung des Menschen mit der Realität darstellen, sind sie gleichzeitig doch in dem Sinne unmenschlich, dass sie es uns ermöglichen, die Umrisse eines Realen zu erkennen, das nicht Teil unserer Realität ist.

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Das wirklich merkwürdige Element in der Triade aus dem Menschen, der Realität, mit der er es zu tun hat, und den Apparaturen, die er einsetzt, um sie zu durchdringen, ist folglich nicht die widerspenstige äußere Realität, sondern dies sind die Apparaturen, die zwischen den beiden Extremen vermitteln: dem Menschen und der nichtmenschlichen Realität. Apparaturen ermöglichen es Menschen nicht nur, das Reale zu erkunden, das außerhalb des Bereichs ihrer Erfahrungswirklichkeit liegt (wie die Quantenwellen); sie ermöglichen ihnen auch die gedankliche Konstruktion neuer, „unnatürlicher“ (unmenschlicher) Objekte, die ihnen in ihrer Erfahrung eigentlich nur als Launen der Natur erscheinen können (Gadgets, genetisch veränderte Organismen, Cyborgs und so weiter).25 Die Stärke der menschlichen Kultur besteht nicht allein in der Fähigkeit, ein autonomes symbolisches Universums jenseits des von uns als Natur Erfahrenen zu errichten, sondern auch in ihrem Vermögen, neue, „unnatürliche“ Objekte hervorzubringen, in denen sich die menschliche Erkenntnis materialisiert. Wir „symbolisieren die Natur“ nicht nur, wir denaturalisieren sie gleichsam von innen.26 Für ein angemessenes Verständnis dieser bevorstehenden Transformationen müssen wir die „spontane“ Begrifflichkeit ändern, mit der wir unsere Umgebungen denken. Dieser Notwendigkeit folgend hat Timothy Morton27 die Vorstellung von Hyperobjekten eingebracht: Objekte wie die globale Erwärmung (oder radioaktives Plutonium oder sogar die menschliche Sprache), die in Raum und Zeit so äußerst stark verteilt sind, dass sie die raumzeitliche Bestimmtheit transzendieren. Hyperobjekte sind durch eine Reihe von miteinander verbundenen Merkmalen gekennzeichnet, die unsere normale Realität in ihren Grundkoordinaten erschüttert. Sie sind schmierig: Sie haften jedem Objekt an, mit dem sie in Berührung kommen, unabhängig davon, wie sehr es sich dagegen zu wehren sucht – je mehr Widerstand ein Objekt einem Hyperobjekt leistet, desto fester verklebt es mit ihm. Sie sind nichtlokal: Sie sind in einem solchen Maße in Raum und Zeit verteilt, dass sie sich in keiner bestimmten lokalen Manifestation vollumfänglich erfassen lassen, und in diesem Sinne werden sie substanzieller als die lokalen Manifestationen, die sie zeitigen. Sie sind gestaffelt (Staffelung „ist wie Nichtlokalität, bloß mit hinzugefügter Rhythmusgruppe“, wie Stephen Muecke sich in seiner Besprechung von Mortons Buch ausdrückte): Sie siedeln sich in einem höherdimensionalen Raum an als die Dinge, die wir normalerweise wahrnehmen können. Darum scheint es, als würden Hyperobjekte im dreidimensionalen Raum kommen und gehen, während sie sich einem Beobachter mit einer höherdimensionalen Sichtweise anders darstellen würden. Sie sind interobjektiv: Sie bilden sich über Beziehungen

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zwischen mehr als einem Objekt aus, sodass wir lediglich den Abdruck oder die „Fußspur“ eines Hyperobjekts auf anderen Objekten wahrnehmen können. So ist etwa die globale Erwärmung ein Hyperobjekt, das sich durch Wechselwirkungen zwischen der Sonne, fossilen Brennstoffen und Kohlendioxid (sowie weiteren Objekten) herausbildet; erkennbar gemacht wird es anhand von Emissionsniveaus, Temperaturveränderungen und Meeresspiegelhöhen, wodurch der Eindruck entsteht, dass es sich bei ihm um ein Ergebnis wissenschaftlicher Modelle handelt, und nicht um ein Objekt, das seiner messtechnischen Ermittlung vorausgeht. Es betrifft und verändert meteorologische Bedingungen wie etwa das Entstehen von Wirbelstürmen: Objekte spüren nicht die globale Erwärmung an sich als vielmehr deren Auswirkungen, wenn Wirbelstürme an bestimmten Stellen der Erde Schäden verursachen. Die globale Erwärmung ist gestaffelt, was bedeutet, dass sie innerhalb unserer erfahrbaren Realität nicht durchgängig besteht: Wir sehen hier einen Wirbelsturm, dort eine Dürre und woanders eine Überschwemmung. Um aber die globale Erwärmung selbst sehen zu können, bräuchten wir eine andere Sichtweise, die uns Einblick in eine andere Dimension gewähren würde. Hyperobjekte werden nur im Laufe ökologischer Krisen sichtbar, und das heißt, dass sie in der Regel als eine Drohung gegenüber der organischen Materie wahrgenommen werden, was Morton eine „dämonische Verkehrung der sakralen Gehalte der Religion“ nennt. Es ist leicht ersichtlich, wie solch ein unsichtbares Hyperobjekt, das vielleicht unser Überleben selbst beeinflusst, eine spirituelle Qualität annehmen kann – Morton zieht sogar ironisch in Erwägung, dass Hyperobjekte in kommender Zeit zu sakralen Objekten erhoben werden könnten, denen man mit Ehrfurcht begegnet. Im Grunde sind Hyperobjekte Vorboten dessen, was Franco Berardi treffend als Zustand „nach der Zukunft“ bezeichnete: Sie zwingen uns „zur Aufgabe der modernen Angewohnheit, sich der erlösenden Vorstellung von einer besseren Zukunft zu überlassen. Vorerst müssen wir in Ungewissheit vor dem verharren, womit Hyperobjekte uns unmittelbar konfrontieren: dass wir nicht mehr über die Zukunft bestimmen, weil sie durchaus ohne uns stattfinden könnte.“28 Statt uns selbst als geschichtliche Akteure zu begreifen, die den Fortschritt ins Werk setzen, müssen wir akzeptieren, dass „ringsum Dunkelheit und undurchdringliche Düsternis herrscht“, wie Boris Godunow in seinem großen Monolog in Mussorgskis Oper singt; das Paradoxe daran ist allerdings, dass diese schreckliche Aussicht die menschlichen Akteure nicht darauf reduziert, sich als hilflose Rädchen im Getriebe der Welt wahrzunehmen. Die Realität ist nicht bloß deshalb undurchdringlich, weil sie

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den beschränkten Horizont des endlichen Menschen übersteigt, sondern auch, weil wir Menschen nicht imstande sind, die Auswirkungen unseres Tuns auf unsere natürlichen Umgebungen zu beherrschen und vorauszuberechnen. Dies ist das Paradoxe am Anthropozän: Der Mensch wurde sich seiner Grenzen als Spezies genau dann bewusst, als er so stark geworden war, dass er auf das Gleichgewicht des ganzen Erdenlebens Einfluss zu nehmen vermochte. Er konnte davon träumen, Subjekt zu sein, solange er nur begrenzten Einfluss auf die Natur (die Erde) hatte, das heißt, vor dem Hintergrund einer beständigen Natur. Das Paradoxe ist folglich, dass der Mensch, je stärker er vermittelnd in die Reproduktion der Natur eingreift, umso mehr zu einem „dezentrierten“ Akteur wird, der den Prozess seines Austauschs mit der nichtmenschlichen Natur nicht zu steuern vermag. Deshalb reicht es nicht aus, auf der Intransparenz der Objekte zu beharren und zu betonen, dass sie über einen verborgenen Kern verfügen, der dem menschlichen Einflussbereich entzogen ist: Das Entzogene ist nicht einfach die verborgene Seite der Objekte, sondern die eigentliche Dimension der Aktivität des Subjekts. Der eigentliche Überschuss ist nicht der Überschuss der Gegenständlichkeit, der sich dem Zugriff des Subjekts entzieht, sondern der Überschuss des Subjekts selbst. Das heißt, was sich dem Subjekt entzieht, ist der „blinde Fleck“, der Punkt, an dem es selbst in die Realität eingeschrieben ist. Ist das allgegenwärtige Hyperobjekt von heute nicht der Markt? Obwohl uns allen rein rational klar ist, dass er durch die hochkomplexen Aktivitäten der Millionen von Teilnehmern am Leben erhalten wird und dass alles „wirklich Existente“ die Individuen und Dinge sind, die mit den Vorgängen im Markt zu tun haben, erfahren wir ihn als ein unabhängiges und allmächtiges Wesen, als ein Ungetüm, das uns in unserem Tun kontrolliert und steuert. Kein Wunder, dass die ideologische Personifikation mit den Märkten auf ihren Höhepunkt gelangt: Heute, in unseren zynischen und rationalen Zeiten, werden wir alle zu Animisten, wenn wir es mit Märkten zu tun haben; Märkte sprechen wie lebende Personen und bringen ihre „Zufriedenheit“ oder „Besorgnis“ über politische Maßnahmen zum Ausdruck. Und ist es nicht so – um noch weiterzugehen –, dass das ultimative Hyperobjekt die Sprache selbst ist? Dies alles sind Fälle sogenannter Selbsttranszendenz, eines Vorgangs, der von Jean-Pierre Dupuy in seinem Buch The Mark of the Sacred29 ausführlich analysiert wurde und dem entspricht, was bei Lacan der „große Andere“ heißt, was Hegel „Entäußerung“ nannte und was von Marx als „Entfremdung“ bezeichnet wurde (der Ausdruck „Selbsttranszendenz“ wurde von Friedrich von Hayek geprägt): Wie kann aus der Interaktion von Individuen heraus eine „objektive Ordnung“ in Erschei-

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nung treten, die sich nicht auf diese Interaktion reduzieren lässt, sondern von den beteiligten Individuen als substanzielle Instanz erfahren wird, die ihr Leben bestimmt? Es ist nur allzu leicht, eine solche „Substanz“ zu „entlarven“ und anhand einer phänomenologischen Genese aufzuzeigen, wie sie allmählich „verdinglicht“ wird und sich ablagert; das Problem dabei ist nur, dass das Voraussetzen einer solchen geisterhaften oder virtuellen Substanz gewissermaßen zum Menschsein gehört – Menschen, die nicht in der Lage sind, sich zu ihr als solche in Beziehung zu setzen, die sie unmittelbar subjektivieren, nennt man Psychotiker.30 Unsere Aufgabe besteht hier darin, die „subjektivistische“ Standardlesart der Hegel’schen „Versöhnung“ hinter sich zu lassen, deren deutlichstes Beispiel Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein31 ist, die aber auch Marx’ Bezug auf Hegel zugrunde liegt. Nach dieser Lesart erkennt das Subjekt bei der „Versöhnung“ sich selbst in der entfremdeten Substanz (im substanziellen Inhalt), das heißt, es erkennt darin das verdinglichte Produkt seiner eigenen Arbeit, kann es sich dadurch wieder aneignen und in ein transparentes Medium seines Selbstausdrucks verwandeln. Wesentlich an dieser Darstellung ist, dass das Subjekt, der Akteur der Wiederaneignung, im Singular steht (selbst wenn es als Kollektivsubjekt aufgefasst wird); damit entfällt die Dimension des von Lacan sogenannten „großen Anderen“, die minimal „objektivierte“ symbolische Ordnung, die minimale Selbsttranszendenz, die allein die Dimension der Intersubjektivität trägt und erhält – Intersubjektivität lässt sich nie in die unmittelbare Interaktion von Individuen auflösen. Der Schlüssel zur Vorstellung der Entfremdung liegt in einer ihrem Kern selbst eingeschriebenen Spannung. Erstens gibt es Entfremdung im Sinne von „Verdinglichung“: Ein Inhalt, bei dem es sich faktisch um das Produkt der (kollektiven) Aktivität des Subjekts handelt, wird fälschlicherweise als ein eigenständiges Seiendes erfahren, welches das Subjekt unter Kontrolle hält, sodass es sich im Akt der Befreiung seine entfremdete Substanz wiederaneignen, in ihr sein eigenes Produkt wiedererkennen würde. Dann gibt es Entfremdung im Sinne des von seiner sozialen Substanz entfremdeten einzelnen Subjekts, das sich einer fremden Welt gegenüber als Singularität erfährt. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Kapitalismus und primitiven „organischen“ Gesellschaften: In diesen ist das Subjekt vollständig in seine soziale Substanz eingebunden; es verfügt nicht über individuelle Selbstbestimmung und hat keine Freiheit, doch aus genau diesem Grund ist es auch nicht entfremdet. Im Kapitalismus ist das Subjekt aus seinen substanziellen Bindungen befreit, gerade diese Freiheit aber macht es zu einem entfremdeten Einzelnen, dem seine konkrete soziale Substanz

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entzogen wurde. In Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie sucht Marx beide Dimensionen zusammenzudenken. Danach ist der Mensch im Kapitalismus in zweierlei Hinsicht entfremdet: Er ist ein seiner sozialen Substanz beraubter abstrakter Einzelner und findet sich darum einer fremden Welt gegenüber, in der er das von ihm selbst Geschaffene nicht erkennt. Dementsprechend geht es bei der proletarischen Revolution darum, dem sozialen Subjekt die Wiederaneignung der entfremdeten sozialen Substanz zu ermöglichen, damit es seine eigene Arbeit in ihr wiedererkennen kann. Doch ist diese Vorstellung einer Ent-Entfremdung als Wiederaneignung der entfremdeten sozialen Substanz so selbstverständlich, wie es scheint? Problematisch an ihr ist die ihr zugrundeliegende Vorstellung einer SelbstEntfremdung: Es gibt kein Selbst, das der Entfremdung bereits zugrundeliegt. Das Selbst entsteht erst durch seine Entfremdung, die Entfremdung ist sein Konstitutionsmerkmal (oder, um es mit Lacan zu sagen, das Subjekt ist konstitutiv „gebarrt/ausgestrichen“). Die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Entfremdung – die einzig mögliche „Ent-Entfremdung“ – besteht demnach in der Übertragung der „Barre“ auf den substanziellen Anderen selbst (von dem das Subjekt entfremdet ist), im Akzeptieren, dass es (lacanianisch ausgedrückt) „keinen großen Anderen gibt“, dass im Anderen selbst ein Mangel besteht, dass der Andere inkonsistent, von Antagonismen durchzogen, um Unmöglichkeiten herum aufgebaut ist. Daher sollte man nicht nur die berühmt-berüchtigte, dumme „dialektisch-materialistische“ Ersetzung der „Idee“ durch die Materie als das Absolute (die aus der Dialektik eine Reihe von dialektischen „Gesetzen“ der Materiebewegung macht) zurückweisen, sondern auch Lukács’ differenziertere „materialistische Umkehrung Hegels“, seine Ersetzung von Hegels „idealistischem“ Subjekt-Objekt (der absoluten Idee) durch das Proletariat als das „eigentliche“ historische Subjekt-Objekt. Lukács’ „Umkehrung“ beinhaltet zudem eine formalistische und nichthegelianische Trennung der dialektischen Methode von ihrem Anwendungsmaterial: Hegel beschreibe ganz richtig den Prozess der Entfremdung und Wiederaneignung des „fetischisierten“ oder verdinglichten substanziellen Inhalts durch das Subjekt; nur sehe er nicht, dass es sich bei dem, was er als Selbstbewegung der Idee beschreibt, in Wahrheit um eine historische Entwicklung handelt, die in der Entstehung der substanzlosen Subjektivität des Proletariats und seiner Wiederaneignung der entfremdeten Substanz durch einen revolutionären Akt gipfelt. Wir sollten diese „materialistische Umkehrung“ zurückweisen, da sie noch zu idealistisch bleibt: Indem sie Hegels Idealismus im „Subjekt“ des Prozesses (der „absoluten Idee“) verortet, entgeht ihr der subjektivistische „Idealismus“, der zur eigentlichen Matrix des dialektischen Prozesses

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gehört (das selbstentfremdete Subjekt eignet sich seinen „verdinglichten“ substanziellen Inhalt wieder an und setzt sich als das absolute Subjekt-Objekt). Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man diesem „Idealismus“ entkommen kann: Entweder man lehnt Hegels Dialektik als solche ab, verwirft die Vorstellung der subjektiven „Vermittlung“ allen substanziellen Inhalts als irreduzibel „idealistisch“ und schlägt an ihrer Stelle eine völlig andere Matrix vor (Althusser: strukturelle (Über-)Determination; Deleuze: Differenz und Wiederholung; Derrida: differánce; Adorno: negative Dialektik mit ihrem „Vorrang des Objektiven“); oder man lehnt ein solches Hegelverständnis (das auf die Idee der „Versöhnung“ als subjektive Aneignung des entfremdeten substanziellen Inhalts abstellt) als „idealistische“ Missdeutung ab, die gegenüber dem wahren subversiven Kern der Hegel’schen Dialektik blind bleibt. Dies ist die hier vertretene Position: Der Hegel des allen objektiven Inhalt verschlingenden absoluten Subjekts ist eine rückwirkende Einbildung seiner Kritiker, beginnend mit dem späten Schelling und seiner Wende hin zur „positiven Philosophie“. Diese „Positivität“ findet sich in aristotelischer Gestalt auch beim jungen Marx, der im Anschluss an den griechischen Denker wieder positive Kräfte oder Potenziale des Seins geltend machte, die der logischen oder begrifflichen Vermittlung angeblich vorausgehen. Es gilt demnach das von Hegels Kritikern vorausgesetzte Bild von ihm als dem absoluten Idealisten infrage zu stellen – sie greifen den falschen Hegel an, einen Strohmann. Was diese Kritiker nicht denken können, ist die reine Prozesshaftigkeit des „als sein eigenes Resultat“ entstehenden Subjekts. Die Rede vom sich selbst entfremdeten Subjekt ist insofern irreführend, als sie den Anschein erweckt, das Subjekt gehe seiner Entfremdung auf irgendeine Art voraus; dabei wird übersehen, dass es durch die „Selbstentfremdung“ der Substanz – nicht durch die Entfremdung von sich selbst – entsteht.

Biologie oder Quantenphysik? Obwohl wir die Philosophie nicht auf eine methodologische und epistemologische Reflexion über den Status wissenschaftlicher Entdeckungen reduzieren sollten, ist die Wissenschaftspraxis auf jeden Fall eine Praxis der „generischen Verfahrensweisen“, wie Alain Badiou es ausdrückt, mit denen auch die Philosophie befasst ist. Es ist die Aufgabe der Philosophie, Reflexionen über die Vorannahmen und Implikationen der grundlegenden wissenschaftlichen Durchbrüche anzustellen, von der Relativitätstheorie und Quantenphysik zur Evolutionsbiologie und Neurowissenschaft, von der

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Psychoanalyse zum historischen Materialismus. In dieser Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Bezüge wird jede Philosophie unweigerlich einer Wissenschaft den Vorzug geben, sodass man beinahe sagen kann: Sag mir, welcher Wissenschaft du den Vorzug gibst, und ich sage dir, welche Art von Philosoph du bist. Einer der Kämpfe, die Philosophen miteinander austragen, ist folglich der Kampf darum, welche Wissenschaft es verdient, diese paradigmatische Rolle einzunehmen. In diesem Zusammenhang hat Adrian Johnston wiederholt die vorwurfsvolle Frage an mich gerichtet, warum ich die Quantenphysik zu meinem naturwissenschaftlichen Hauptbezugspunkt mache und nicht die Evolutionsbiologie, die Biogenetik und die Neurowissenschaft. Wenn ich behaupte, dass dem Quantenuniversum umfassende Bedeutung zukommt, dass es von allgemein-ontologischer Tragweite ist, begehe ich dann nicht den Fehler, einen speziellen ontischen Bereich – denjenigen, den die Quantenphysik entfaltet – und eine allgemeine Ontologie miteinander kurzzuschließen? Benutze ich nicht die Quantenphysik als eine formale Matrix, um damit sogar die Paradoxien der menschlichen Freiheit zu erklären? Die Argumentation klingt einleuchtend: „Für eine völlig materialistische Darstellung freier Subjekte muss man sich weder an die Quantenphysik halten (was seinen Grund in solchen biowissenschaftlichen Hilfsquellen wie dem Emergentismus, der Neuroplastizitätstheorie und der Epigenetik hat, die alle mit dem deterministischen und monistischen Naturalismus brechen), noch ist dies auch nur im Entferntesten möglich.“32 Und weil die Subjektivität als emergente Eigenschaft lebender Wesen entstanden ist, ist es da im Grunde nicht logisch, dass wir uns auf diesen Prozess der Selbstüberwindung eines Organismus konzentrieren, um sie zu erklären? Darum behauptet Johnston, dass „die Biologie und nicht die Physik das entscheidende Feld ist, auf dem heute die Kämpfe der theoretischen Materialisten ausgefochten werden“.33 Vielleicht ist dies die passende Antwort auf die Frage, die einst von Hegel, Hölderlin und Schelling in „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ aufgeworfen wurde: „[D]ie Frage ist diese: Wie muss eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein?“ Ich für meinen Teil habe genau diese Frage im Blick, wenn ich auf dem Vorrang der Quantenphysik bestehe, und eben deshalb vermag ich Johnstons ontologischer Schichtung auch nicht zu folgen. Für ihn funktioniert und erklärt sich die unbelebte Natur ohne Abwesenheiten, einfach durch deterministische Gesetze, nach denen die mechanischen Wechselwirkungen positiver Objekte ablaufen; mit dem Leben und dann mit dem Bewusstsein müssten Abwesenheiten einkalkuliert werden. Im Gegensatz dazu vertrete ich hier die Auffassung, dass uns kein emergentisches Wunder von der „vollständigen“ unbelebten Natur zum Leben und

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zum Bewusstsein bringen kann: Die unbelebte Natur kann unmöglich die Nullebene darstellen, aus der höhere ontologische Ebenen emergent hervorgehen. Es müssen bereits vor beziehungsweise unterhalb der unbelebten Materialität Abwesenheiten wirken, damit aus der Materie Leben und aus dem Leben Bewusstsein entstehen kann. Anders ausgedrückt, ist es erst diese Spannung zwischen der Protorealität der Quantenschwankungen – einer Realität von Abwesenheiten – und der aus dem Zusammenbruch der Quantenwellen resultierenden positiven Realität, die es möglich macht, dass die unbelebte Materie sich selbst überwindet: Die Quantenwellen sind die „Abwesenheiten“ sogar der unbelebtesten positiven materiellen Realität. War Hegel in seiner Deutung des antiken griechischen Atomismus nicht diesen „Abwesenheiten“ auf der Spur? Die Leere wäre dann nicht der leere Raum um die Atome herum, sondern die Leere in ihrem Inneren, und diese Leere wäre die Nullebene der Subjektivität. Doch dürfen wir der Evolutionsbiologie und der Neurowissenschaft ihre Bedeutung absprechen? Johnston selbst bezieht sich auf Terrence Deacons Incomplete Nature, und wie schon der Titel des Buches vermuten lässt, ruft Deacon die ontologische Unvollständigkeit der Natur als die einzige Möglichkeit aus, um die Entstehung des Geistes aus der Materie wissenschaftlich zu erklären: „Der Geist geht nicht eigentlich aus der Materie hervor, sondern aus den Beschränkungen, denen sie unterliegt“.34 Mit „Beschränkung“ ist hier ein Hemmnis oder eine Grenze im Innern gemeint, die bewirkt, dass manche Möglichkeiten nicht realisiert, manche Wege nicht eingeschlagen werden, doch nicht aus Zufall, sondern mit Notwendigkeit (auch wenn es den Anschein hat, als geschehe es nur zufällig). Darin, im Übersehen dieser positiven, ermöglichenden Funktion von Beschränkungen besteht der Fehler von Luc Bessons 2014 gedrehtem Film Lucy, einem Thriller, der mit der Vorstellung spielt, was passieren würde, wenn ein Mensch nicht die im Schnitt üblichen 10 Prozent des Gehirns nutzen würde, sondern mehr, nämlich 20, 40 und bis zu 100 Prozent. (Der Film ist, nebenbei gesagt, voller so dummer Fehler, dass man sich wünscht, auch Besson hätte beim Schreiben des Drehbuchs und beim Regieführen wenigstens 10 Prozent seines eigenen Gehirns genutzt!) Erfindungskraft und Geistigkeit des Menschen liegen eben darin begründet, dass er nur 10 Prozent seines Gehirns nutzt: Der Anstoß zum Erfinden kommt aus der Leere der ungenutzten Möglichkeiten. Es verhält sich damit in etwa so wie mit der Statue der Venus von Milo: Die Tatsache, dass ihre Hände fehlen, aktiviert unsere Vorstellungskraft und lässt uns darüber spekulieren, wie die vollständige Statue ausgesehen haben könnte, wohingegen eine vollständige Statue zwangsläufig ein Gefühl vulgärer Fülle hervorrufen würde.

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Wie funktioniert nun diese Beschränkung? Deacon geht in seinen Überlegungen davon aus, dass Phänomene wie „Funktion, Referenz, Zweck oder Wert“ nicht mit der physischen Materie zusammenhängen können, da jedes von ihnen „auf irgendeine Weise unvollständig ist“: „Sehnen, Verlangen, Leidenschaft, Begehren, Trauern, Verlust, Streben – all diese Dinge basieren auf einer analogen intrinsischen Unvollständigkeit, einem integralen Ohne“. Warum diese Phänomene sich nicht physikalisch erklären oder auf physische Prozesse beziehen lassen, sieht Deacon darin begründet, dass ihnen etwas fehlt, was er mit dem Ausdruck „Absenzial“ oder „absenziale Eigenschaft“ bezeichnet, einer Wortneuschöpfung für das, was nach unserem Verständnis der physischen Dimension dieser Phänomene fehlt.35 Leben, Empfindungsvermögen und geistige Prozesse höherer Ordnung lassen sich weder anhand von Berechnungen und kybernetischen Prozessen erklären, noch kann die Biologie aus der Physik abgeleitet, auf sie reduziert oder von ihr vorausbestimmt werden: „Berechnungen und kybernetische Prozesse sind empfindungslos, weil sie in ihrer Organisation auf kein Ziel zulaufen.“36 In einer ersten Annäherung mag es scheinen, als schlage Deacon letztlich bloß eine neue Version des Emergenzmodells vor: Mit dem Leben bildet sich eine neue Ebene der Selbstorganisation heraus, die durch Autopoiesis und eine immanente Teleologie (Orientierung auf künftige Ziele hin) gekennzeichnet ist; diese Selbstorganisation verfügt über eine dynamische Struktur, von der eine eigene Kausalwirkung ausgeht und die sich nicht durch mechanische Gesetze erklären lässt, nach denen die Wechselwirkungen unbelebter Teilchen ablaufen – was etwa ein Organ tun kann, lässt sich nur mit Bezug auf den ganzen Organismus und seine Ziele erklären. Mit der Entstehung des menschlichen Geistes bildet sich eine neue Form der Kausalität heraus: die Kausalität abstrakter Vorstellungen, mit der wir den Bereich des Realismus zu betreten scheinen (Realität ist hier im mittelalterlichen Sinne gemeint und bezeichnet also das dem Nominalismus Entgegengesetzte) – die platonischen Universalien existieren nicht nur, sie wirken sich auch unmittelbar auf die materiellen Prozesse aus. Die Gehirne haben diesen Kausalrealismus bis zum Äußersten weiterentwickelt, und ein Geist, der die symbolische Referenz beherrscht, kann buchstäblich noch die platonischsten der abstrakten Gedankenkonzeptionen in den Bereich kausaler Partikularitäten hineintragen […]. Ein Begriff wie Gerechtigkeit kann über die Einschränkung der Bewegungsfreiheit diverser Individuen entscheiden, die aufgrund ihres jeweiligen Verhaltens, das nur vage miteinander zu tun hat, als krimi-

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nell gelten; und ein Begriff wie Geld kann die Organisation enorm komplexer Ströme von Material und Energie, von Dingen und Menschen über Ländergrenzen und Kontinente hinweg vermitteln. Diese abstrakten Allgemeinheiten ziehen ganz zweifellos spezielle wie allgemeine physische Konsequenzen nach sich. Demnach also kann der menschliche Geist willkürlich hervorgebrachte abstrakte Allgemeingedanken buchstäblich in kausal wirksame spezielle physische Ereignisse umwandeln.37 Johnston stellt in seinen Ausführungen zu diesem Abschnitt aus Deacons Buch zu Recht zwei theoretische Bezüge heraus, die hier implizit mitwirken: die Marx’sche Theorie des Warenfetischismus sowie die Freud’sche Auffassung von der Wirksamkeit der Fantasien (die den Menschen in seinem tatsächlichen Verhalten determinieren). Wir gelangen hier effektiv zu einem Fortschritt vom Nominalismus zum Realismus: Die unbelebte Natur verhält sich nominalistisch (Objekte wirken aufeinander ein), während Bewusstseinswesen nach Art des Realismus funktionieren und die Wirksamkeit abstrakter Universalien unter Beweis stellen. Lässt sich mit dieser Vorstellung von Absenzialen jedoch hinreichend erklären, was den menschlichen Geist im Speziellen ausmacht? Deacon konzentriert sich auf zwei Aspekte von Absenzialen: Absenz im Sinne der Präsenz einer höheren Ebene, die von einer tieferen Ebene aus nicht sichtbar ist, sprich: das Surplus der Selbstorganisation über die vorhandene Materie (wenn man einen Organismus in seine materiellen Teile gliedert, wird man unter diesen Teilen vergebens nach dem suchen, was für die dynamische Einheit dieses Organismus sorgt – um diese Einheit erfassen zu können, muss man den Organismus als eine minimal ideale Form begreifen, die sich durch die ständige Umwandlung seiner Teile selbst reproduziert); und Absenz im Sinne der immanenten Teleologie, sprich: der Zukunftsorientierung eines Organismus (ein Organismus tut Dinge, die sich nur mit Bezug auf seine künftigen Zustände erklären lassen, die seine Präsenz definitionsgemäß nicht umfasst, wie beispielsweise, dass er etwas tut, um etwas anderes zu erreichen, sich paart, ein Nest baut und so weiter). Es gibt jedoch noch einen anderen, viel radikaleren Sinn von Absenzialen, welcher Deacons Parallele zwischen Absenzialen sowie der Einführung der Null in der Mathematik zugrunde liegt: Die Schwierigkeiten, denen wir in der Auseinandersetzung mit gewichtigen Abwesenheiten begegnen, haben eine auffällige historische Parallele. Die Rede ist von den Problemen, die sich im Zusammenhang

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mit dem Begriff der Null stellten. […] Die Entdeckung der Null war einer der größten Fortschritte in der Geschichte der Mathematik. Ein Symbol zur Bezeichnung des Nichtvorhandenseins einer Quantität war nicht allein aufgrund des Vorteils wichtig, den es zur Darstellung großer Quantitäten bot. Es transformierte den Zahlenbegriff selbst und revolutionierte den Rechenprozess. Die Entdeckung des Nutzens der Null markiert in vielerlei Hinsicht den Beginn der modernen Mathematik. Wie von etlichen Historikern vermerkt, wurde die Null im Laufe der jahrtausendelangen Geschichte, die ihrer Akzeptanz im Westen vorausging, zeitweilig gefürchtet, verboten, gemieden und angebetet. Und trotz der Tatsache, dass sie einen Grundpfeiler der Mathematik bildet und ein entscheidender Baustein der modernen Wissenschaft ist, bleibt sie problematisch, wie jedes Kind, das die Division durch Null lernt, bald feststellen wird.38 Was ist so erschreckend an der Null als Zahl? Die Null als Symbol „zur Bezeichnung des Nichtvorhandenseins einer Quantität“ stellt die Abwesenheit (den Mangel) selbst auf die gleiche Ebene wie positive Quantitäten. Sie behandelt die Abwesenheit (den Mangel) einer Eigenschaft einfach als eine weitere positive Eigenschaft. Wir haben es hier mit der Logik der Differenzialiät zu tun, die in einem alten jugoslawischen Witz über einen Montenegriner treffend zum Ausdruck kommt (die Einwohner Montenegros wurden im früheren Jugoslawien als faul gebrandmarkt): „Warum stellt sich ein Montenegriner, wenn er schlafen geht, ein volles und ein leeres Glas ans Bett? Weil er zu faul ist, sich vorher Gedanken darüber zu machen, ob er in der Nacht Durst haben wird …“ Die Pointe dieses Witzes beruht darauf, dass die Abwesenheit selbst positiv angezeigt werden muss: Es reicht nicht, ein volles Glas Wasser zu haben, weil es der Montenegriner einfach ignorieren wird, wenn er keinen Durst verspürt – dieser negativen Tatsache muss durch das leere Glas entsprochen werden, das heißt, der fehlende Wasserbedarf muss in der Leere des leeren Glases seinen materiellen Niederschlag finden. Die Differenzialität kann folglich nicht auf den Gemeinplatz reduziert werden, dass Blau nicht Rot ist und so weiter, sondern sie lässt sich viel präziser auf den Punkt bringen: „Blau ist nicht Rot“ ist nicht dasselbe wie „Blau ist nicht Gelb“. Dieser Punkt wird in einem bekannten Witz aus dem sozialistischen Polen deutlich. „Ein Kunde betritt einen Laden und fragt: ‚Sie haben vermutlich keine Butter, oder doch?‘ Darauf wird ihm erwidert: ‚Tut uns leid, aber wir sind der Laden, der kein Toilettenpapier hat; der Laden, wo es keine Butter gibt, ist gegenüber.‘“

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Es war Ferdinand de Saussure, der zuerst den Begriff der Differenzialität aufstellte. Ihm zufolge besteht die Identität eines Signifikanten lediglich in einer Serie von Differenzen (der Merkmale, die ihn von anderen Signifikanten unterscheiden) – es gibt keine Positivität in einem Signifikanten, er „ist“ bloß die Serie dessen, was er nicht ist. An dieser Stelle ergibt sich ein offensichtlich naheliegender Vorbehalt, dem man sein ganzes Gewicht geben sollte: Wenn alle Signifikanten lediglich die Verbindung der Differenzen zu anderen Signifikanten sind, warum fällt dann nicht das ganze Signifikantennetz in sich zusammen? Wie kann ein solches System ein Minimum an Stabilität wahren? Hier sollte die Selbstreflexivität in die Signifikationsordnung eingeführt werden: Wenn die Identität eines Signifikanten nichts als die Serie seiner konstitutiven Differenzen ist, dann muss jede Signifikationsreihe von einem reflexiven Signifikanten ergänzt – „vernäht“ – werden, der keine bestimmte Bedeutung (Signifikat) hat, weil er nur dafür steht, dass Bedeutung als solche da ist (statt nicht vorhanden); in einer weiteren dialektischen Wendung sollte man hinzufügen, dass die Erscheinungsform dieses ergänzenden Signifikanten, der für die Bedeutung als solche steht, der Un-Sinn ist (Deleuze entwickelt diesen Punkt in seiner Logik des Sinns). Eine andere Möglichkeit zur Annäherung an diesen Ausnahmesignifikanten besteht darin, ihn als den Signifikanten der reinen Differenz zu fassen, nicht einfach der Differenz zwischen positiven Gliedern, sondern der Differenz als solcher. Es ist dieser Signifikant der Differenz, der in Lacans berühmter Definition das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert. Das heißt, der ontologische Status des Subjekts ist der einer Null, einer Leere. Darum kann sein Signifikant nur einer sein, der ein Nichtvorhandensein bezeichnet – oder, um Hegel zu paraphrasieren, das Subjekt ist keine Substanz, die sich zurückzieht/die erscheint; das Subjekt ist Erscheinung (Sich-selbst-Erscheinen), die sich selbst autonomisiert und zu einem Akteur gegen ihre eigene Substanzialität wird. Der Selbstentzug oder die Spaltung des Subjekts ist demnach viel radikaler als der Selbstentzug jedes Objekts, das zwischen seiner Erscheinung (in der Wechselwirkung mit anderen Objekten) und seinem substanziellen Inhalt, seinem entzogenen Ansich gespalten ist: Das Subjekt ist nicht wie jedes Objekt einfach in seine Erscheinungseigenschaften (Verwirklichungen) und sein unverfügbares virtuelles Ansich gespalten; das Subjekt ist gespalten in seine Erscheinung und die Leere im Kern seines Seins, nicht in seine Erscheinung und seinen verborgenen substanziellen Grund. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, in welchem Sinne das Subjekt effektiv ein Objekt „ist“: Weil das Subjekt das Selbsterscheinen von nichts ist, kann sein „gegenständliches

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Korrelat“ nur ein seltsames Objekt sein, dessen Natur in der Verkörperung von nichts besteht, ein „unmögliches“ Objekt, ein Objekt, das in seinem ganzen Sein eine Verkörperung seiner eigenen Unmöglichkeit darstellt, das Objekt, das Lacan objet a nannte. Um diesen Status des objet a erfassen zu können, müssen wir vom Mangelobjekt zu dem Objekt übergehen, das für den Mangel steht, das ihn verkörpert – nur dieses Objekt „ist“ das Subjekt. In seinem wunderbaren Buch über Schuberts Winterreise entfaltet Ian Bostridge die Implikationen daraus, dass der Erzähler, wie wir aus den allerersten Zeilen des ersten Liedes erfahren, seine Bleibe, in die er als Fremder gekommen ist, als Fremder wieder verlässt. Über den Grund seines Auszugs erfahren wir nichts: Wurde er von dem verbietenden Vater der Familie hinausgeworfen, flüchtete er aus Furcht vor der Ehe, von der die Mutter des Mädchens gesprochen hatte? Diese Unklarheit, die Angst hervorruft, ist in sich ein positives Merkmal: Sie definiert den Erzähler in positiver Weise als eine Art Leerstelle zwischen Parenthesen, als ein ausgestrichenes Subjekt im Lacan’schen Sinne des S/. Das Subjekt ist eine Art Leerstelle zwischen Parenthesen, und diese Leere konstituiert es; sie steht am Anfang und ist nicht das Resultat eines Abstraktions- oder Entfremdungsprozesses: Das ausgestrichene/leere Subjekt ist nicht abstrahiert von der „konkreten“, in ihre Lebenswelt vollständig eingebetteten individuellen Person; die Abstraktion/der Rückzug von allem substanziellen Inhalt konstituiert es. Die „Fülle des Menschen“, sein innerer Reichtum, ist das, was Lacan den phantasmatischen „Stoff des Ich“ nennt; es sind imaginäre Bildungen, welche die Leere, die das Subjekt ist, ausfüllen. Hier kommt auch das objet a ins Spiel, von dem Lacan spricht: Objet a (als der Vertreter für einen Mangel) ist das gegenständliche Korrelat des leeren Subjekts, das, was Angst auslöst. Zurück zur Winterreise: Das objet a des Erzählers ist nicht der geheime wahre Grund dafür, dass er wieder ausziehen musste, es ist vielmehr genau die Ursache/wirkende Kraft hinter dem Umstand, dass der Erzähler zu einem Fremden wurde, dessen Beweggründe unklar und undurchschaubar sind. Als solches ist objet a das Objekt, das in dem Moment verlorenginge, in dem wir den „wahren“ spezifischen Grund dafür erfahren würden, dass der Erzähler die Bleibe wieder verließ. Genauer gesagt hat das objet a zwei Aspekte und kann entsprechend auf zweierlei Weise funktionieren: zum einen als das dritte, eindringende Element, das die Harmonie eines Paares stört, als die verkörperte Nichtbeziehung/der verkörperte Antagonismus (der Schornsteinfeger auf dem Dach des Paares von Mann und Frau – Offizier und Dienstmädchen – in Kierkegaards bekanntem Einteilungsbeispiel); zum anderen als verkörpertes Mehr-Genießen, als die prothetischen Ergänzungen des Subjekts, die den

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Genuss steigern. Wie hängen die beiden zusammen? Funktioniert Geschlechtsverkehr ohne Partner, mit einer einzelnen Person und ihren prothetischen Vorrichtungen, dennoch vor dem Hintergrund des Antagonismus, das heißt, füllt die prothetische Ergänzung letztlich die Lücke des fehlenden intersubjektiven Partners, des Anderen, mit dem eine Beziehung unmöglich ist, sodass ein Subjekt mit Prothese eine Fantasie reiner jouissance der technischen Geräte darstellt? Oder setzt ein Subjekt mit Prothese faktisch die Intersubjektivität außer Kraft? Ein prothetisches Element ergänzt – füllt – letztlich die Lücke der geschlechtlichen Nichtbeziehung; da die geschlechtliche Nichtbeziehung für die menschliche Sexualität konstitutiv ist, gilt auch das Umgekehrte, nämlich dass es ohne prothetische Ergänzung keine wirkliche sexuelle Beziehung zwischen Menschen gibt. Dieses ergänzende Element stellt (genau wie Kierkegaards Schornsteinfeger) ein Hindernis für die sexuelle Beziehung dar, das sie gleichzeitig möglich macht. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Intersubjektivität kein Ursprüngliches ist: Wir haben nicht zuerst reine Intersubjektivität, die dann verzerrt wird, sodass daraus ein Bedürfnis nach prothetischen Ergänzungen erwächst. Intersubjektivität – der symbolische Raum gegenseitigen Austauschs und wechselseitiger Anerkennung – ist für den Menschen kein Naturzustand. Sie ist vielmehr etwas, das durch einen langen und schmerzhaften Prozess entsteht: Vor anderen Subjekten ist der erste Partner jedes Subjekts der Andere qua (mütterlichem) realem Ding. Wie ist eine solche Entität, die als Sich-selbst-Erscheinen von nichts funktioniert, möglich? Die Antwort ist klar: Eine solche nichtsubstanzielle Entität muss rein relational, ohne positive Unterstützung durch sich selbst sein. Was beim Übergang von der Substanz zum Subjekt geschieht, ist somit eine Art reflexive Umkehr: Wir gehen von dem geheimen Kern eines Objekts, der für andere Objekte unzugänglich ist, zur Unzugänglichkeit an sich über – S/ ist nichts als seine eigene Unzugänglichkeit, sein Scheitern, Substanz zu sein. Darin erweist sich Lacans Erfolg: Die psychoanalytische Standardtheorie fasst das Unbewusste als psychische Substanz der Subjektivität auf (den altbekannten verborgenen Teil des Eisbergs) – als die ganze Tiefe der Wünsche, Fantasien, Traumata und so weiter –, während Lacan das Unbewusste entsubstanziiert (für ihn ist das kartesische Cogito das Freud’sche Subjekt) und die Psychoanalyse so auf die Höhe der modernen Subjektivität bringt. (An dieser Stelle gilt es den Unterschied zwischen dem Freud’schen Unbewussten und dem „Unbewussten“ der neurobiologischen Hirnforschung zu beachten: Letzteres bildet die natürliche „Substanz“ des Subjekts, das heißt, das Subjekt existiert nur insofern, als es durch seine biologische Substanz aufrechterhalten wird; diese Substanz ist jedoch nicht das Subjekt.)

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Die Grundoperation – oder besser der modus operandi – des Subjekts besteht im Auseinanderreißen jeder substanziellen Einheit. Es ist kein Wunder, dass Hegel die Verstandestätigkeit eben genau in ihrer analytischen Seite des Auseinanderreißens der Einheit einer Sache oder eines Prozesses als „die verwundersamste und größte oder vielmehr die absolute Macht“ feiert – in diesem Sinne findet sich der Verstand überraschenderweise (für jene, die der üblichen Auffassung der Dialektik anhängen) in genau den gleichen Begriffen beschrieben wie der Geist, der, was den Gegensatz zwischen Verstand und Vernunft betrifft, eindeutig auf der Seite des Verstandes steht: „Der Geist ist in seiner einfachen Wahrheit Bewußtsein und schlägt seine Elemente auseinander.“ Alles dreht sich darum, wie wir diese Identität-und-Differenz von Verstand und Vernunft auffassen: Es ist nicht so, dass die Vernunft zu der trennenden Macht des Verstandes etwas hinzufügt, dass sie die organische Einheit dessen, was der Verstand (auf irgendeiner „höheren Ebene“) auseinandergerissen hat, wiederherstellt und die Analyse um eine Synthese ergänzt. Die Vernunft ist in gewisser Weise nicht mehr, sondern weniger als der Verstand, sie ist – in Anlehnung an Hegels berühmte Entgegensetzung von dem, was man sagen will, und dem, was man tatsächlich sagt – das, was man tatsächlich tut, wenn man seinen Verstand betätigt, im Unterschied zu dem, was man dabei zu tun beabsichtigt oder vermeintlich tut. Die Vernunft ist somit kein weiteres Vermögen, um die „Einseitigkeit“ des Verstands zu ergänzen: Die Vorstellung, dass es etwas gibt (den substanziellen Kerngehalt des analysierten Gegenstands), das sich dem Verstand entzieht, ein transrationales Jenseits außerhalb seiner Reichweite, ist selbst die Grundtäuschung des Verstandes. Anders ausgedrückt: Um vom Verstand zur Vernunft zu gelangen, braucht man nichts weiter zu tun, als diese konstitutive Täuschung von ihm abzuziehen – der Verstand ist nicht zu abstrakt beziehungsweise zu gewaltsam, vielmehr ist er, wie Hegel es mit Blick auf Kant ausdrückte, zu sanft den Dingen gegenüber, zu ängstlich, die gewaltsame Bewegung, die das Auseinanderreißen der Dinge darstellt, in diesen selbst zu verorten. In gewisser Weise ist das eine Auseinandersetzung zwischen Epistemologie und Ontologie: Die Täuschung des Verstandes besteht darin, dass seine eigene analytische Macht – die Macht, „daß das […] Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirkliche ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt“ – nur eine „Abstraktion“ ist, etwas der „wahren Realität“ Äußerliches, die in ihrer unerreichbaren Fülle dort draußen fortbesteht. Anders gesagt, ist es die übliche kritische Auffassung vom Verstand und seinem Abstraktionsvermögen (er sei lediglich eine ohnmächtige intellektuelle Betätigung, welche die Realität in ihrem Reichtum

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verfehle), die seine zentrale Täuschung enthält. Noch anders gesagt, besteht der Fehler des Verstandes darin, seine eigene negative Tätigkeit (der Trennung, des Auseinanderreißens der Dinge) nur unter ihrem negativen Aspekt zu betrachten und den „positiven“ (produktiven) Aspekt ganz zu vernachlässigen – die Vernunft ist der Verstand selbst unter seinem produktiven Aspekt. Man kann den Akt der Abstraktion, des Auseinanderreißens auch als selbst auferlegte Blindheit verstehen, als die Weigerung, „alles zu sehen“. Was bei Hegel „Negativität“ heißt, lässt sich auch im Sinne von Einsicht und Blindheit verstehen; dann ließe sie sich als „positive“ Macht der „Blindheit“ gegenüber Teilen der Realität beschreiben, die entsprechend ausgeklammert werden. Wie entsteht aus dem verworrenen Geflecht von Eindrücken, die wir von einem Gegenstand haben, eine begriffliche Vorstellung? Dies geschieht durch die Macht der „Abstraktion“, dadurch, dass man die meisten der Merkmale des Gegenstands ausblendet und ihn auf seine konstitutionellen Kernmerkmale reduziert. Die größte Macht unseres Geistes liegt nicht darin, mehr zu sehen, sondern auf richtige Weise weniger. Diese Spannung zwischen Einsicht und Blindheit erklärt, dass Hegel den Ausdruck „Begriff “ in zwei entgegengesetzten Hauptbedeutungen verwendet: Zum einen wird er verstanden als eigentlicher Kern, das Wesen des Dings, zum anderen als „bloßer Begriff “ im Unterschied zum „Ding an sich“. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Gleiche auf seine Verwendung des Ausdrucks „Subjekt“ zutrifft: Das Subjekt ist zum einen das über das Objektive Erhobene, das Prinzip des Lebens und der Vermittlung der Gegenstände, zum anderen bezeichnet es etwas „bloß Subjektives“, einen subjektiv verzerrten Eindruck von den Dingen, im Unterschied zu ihrem wirklichen Sein. Es ist allzu leicht, einen Gegensatz zwischen diesen beiden Aspekten aufzumachen: hier der „niedrigere“, für die abstrakte Vorgehensweise des Verstandes (die Reduktion des Subjekts auf das „bloß Subjektive“) geltende Aspekt, dort der „höhere“, der sich mit dem echt spekulativen Begriff des Subjekts als vermittelndem Prinzip der Lebensrealität verbindet. Das trifft es aber nicht. Es ist nämlich vielmehr so, dass der „niedrigere“ Aspekt konstitutiver Bestandteil des „höheren“ ist: Das „bloß Subjektive“ lässt sich genau dadurch überwinden, dass man es uneingeschränkt befürwortet. Rufen wir uns noch einmal den Passus aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes in Erinnerung, in dem Hegel die trennende Macht des „abstrakten“ Verstandes feiert. Hegel überwindet die Abstraktheit des Verstandes nicht dadurch, dass er sie substanziell verändert (Synthese statt Abstraktion und so weiter), sondern indem er diese gleiche Macht der Abstraktion in neuem Licht betrachtet: Was zunächst als die Schwäche des Verstandes erscheint

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(sein Unvermögen, die Realität in all ihrer lebendigen Komplexität zu erfassen, sein Auseinanderreißen ihres lebendigen Gewebes), ist seine größte Macht. Dies heißt nichts anderes, als dass die Abstraktion nicht einfach subjektiv ist, das Ergebnis unserer vereinfachenden und partiellen Analyse der Dinge: Sie ist vielmehr im eigentlichen Kern der Sache selbst anzusiedeln. Marx beispielsweise sah die Realität des Kapitalismus von der Abstraktion beherrscht: Man macht es sich mit seiner Darstellung der verrückten, sich selbst verstärkenden Zirkulation des Kapitals – die in den heutigen metareflexiven Terminspekulationen ihren Höhepunkt erreicht – jedoch viel zu leicht, wenn man behauptet, dass das Gespenst dieses sich selbst hervorbringenden Ungeheuers, das seine Interessen ohne Rücksicht auf die Belange von Mensch und Umwelt verfolgt, eine ideologische Abstraktion sei, hinter der echte Menschen und natürliche Gegenstände stehen würden, auf deren produktiver und wertschaffender Kraft die Kapitalzirkulation basiere und von denen sie sich wie ein riesenhafter Parasit ernähre. Das Problem ist nämlich, dass diese „Abstraktion“ nicht nur unsere (finanzspekulative) Fehlwahrnehmung der gesellschaftlichen Realität kennzeichnet, sondern dass sie in genau dem Sinne „real“ ist, dass sie die Struktur der materiellen Gesellschaftsprozesse selbst determiniert. Der „solipsistische“ Spekulationstanz des Kapitals, das mit seliger Gleichgültigkeit gegenüber den Auswirkungen seiner Schritte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit sein Rentabilitätsziel verfolgt, kann über das Schicksal großer Teile der Bevölkerung und manchmal ganzer Länder entscheiden. Darin besteht die systemische Grundgewalt des Kapitalismus, die viel unheimlicher ist als die unmittelbare vorkapitalistische sozio-ideologische Gewalt: Sie lässt sich nicht mehr konkreten Einzelnen und ihren bösen „Absichten“ zuschreiben, sondern ist rein „objektiv“, systemisch und anonym. Dies führt uns zu dem echt dialektischen Begriff der Abstraktion: Was Hegels „konkrete Allgemeinheit“ unendlich macht, ist, dass sie „Abstraktionen“ in die konkrete Realität selbst als deren immanente Konstituenten mit einschließt. Denn worin besteht für Hegel der grundlegende Schritt der Philosophie im Hinblick auf die Abstraktion? Doch darin, die allgemein verbreitete empiristische Vorstellung zu verabschieden, die Abstraktion führe vom Reichtum der konkreten empirischen Realität mit ihrer irreduziblen Merkmalsvielfalt weg: Das Leben ist grün, Begriffe sind grau, sie sezieren die konkrete Wirklichkeit, töten sie ab. (Zu dieser gängigen Vorstellung gibt es sogar eine pseudodialektische Version, nach der die „Abstraktion“ ein Kennzeichen des reinen Verstandes ist, wohingegen die „Dialektik“ den Reichtum der Wirklichkeit wieder zurückbringt.) Eigentliches

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philosophisches Denken beginnt, wenn einem aufgeht, dass ein solcher „Abstraktions“-Prozess der Realität selbst inhärent ist: Die Spannung zwischen der empirischen Realität und ihren „abstrakten“ begrifflichen Bestimmungen ist der Realität immanent; sie ist ein Merkmal der „Dinge selbst“. Darin liegt der antinominalistische Akzent des philosophischen Denkens – so ist es etwa die Grundeinsicht von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, dass die Abstraktion des Werts einer Ware ihre „objektive“ Konstituente darstellt. Es gilt die „wahre“ von der „falschen (oder schlechten) Unendlichkeit“ zu unterscheiden: Die schlechte Unendlichkeit ist der asymptotische Annäherungsprozess, bei dem immer neuere Schichten der Realität entdeckt werden – die Realität wird hier als das Ansich gesetzt, das sich nie vollständig erfassen lässt, sondern dem man sich nur allmählich annähern kann, und das heißt, dass unser ganzes Erkennen auf spezielle „abstrakte“ Merkmale der transzendenten und unerreichbaren Fülle des „Eigentlichen“ beschränkt bleibt. Bei der Bewegung der „wahren Unendlichkeit“ verhält es sich genau umgekehrt: Hier wird der Prozess der „Abstraktion“ in die „Sache selbst“ hineingenommen. Dies führt uns unvermittelt zu der Frage, worum es sich bei der dialektischen Selbstentfaltung eines Begriffs handelt. Stellen wir uns dazu zunächst vor, wir befänden uns in einer komplizierten und verworrenen Situation, die wir zu verstehen und einzuordnen versuchen. Da wir nie vom Nullpunkt reiner vorbegrifflicher Erfahrung aus anfangen, beginnen wir mit der doppelten Bewegung, dass wir die uns verfügbaren abstrakt-allgemeinen Begriffe auf die Situation anwenden und diese analysieren, indem wir ihre Elemente untereinander und mit unseren bisherigen Erfahrungen vergleichen, Generalisierungen vornehmen und empirische Allgemeinaussagen treffen. Früher oder später bemerken wir Inkonsistenzen in den von uns zum Verständnis der Situation herangezogenen Begriffsschemata: Etwas, das eigentlich eine Unterart sein sollte, scheint sich über das gesamte Feld zu erstrecken und es insgesamt zu dominieren; verschiedene Einordnungen und Aufgliederungen stehen in Konflikt zueinander, ohne dass wir entscheiden könnten, welche die „zutreffendere“ ist, und so weiter. Aufgrund unserer spontanen Geisteshaltung tun wir solche Inkonsistenzen als Zeichen für die Unzulänglichkeit unseres Verstandes ab: Reichtum und Komplexität der Realität sind gleichsam zu viel für unsere abstrakten Kategorien, wir werden nie ein Begriffsnetz knüpfen können, das ihre Fülle einzufangen vermag … Dann aber, wenn wir über ein besseres theoretisches Gespür verfügen, werden wir über kurz oder lang etwas Seltsames und Unerwartetes feststellen: Es ist nicht möglich, die Inkonsistenzen unseres Begriffs von einem Gegenstand eindeutig von denen

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zu unterscheiden, die dem Gegenstand selbst immanent sind. Die „Sache selbst“ ist inkonsistent, voller Spannungen, sie ringt mit ihren unterschiedlichen Bestimmungen, und die Entfaltung dieser Spannungen, dieses Ringen ist es, was sie „lebendig“ macht. Nehmen wir einen einzelnen Staat: Wenn er nicht richtig funktioniert, ist es, als ob seine einzelnen (spezifischen) Merkmale zur allgemeinen Idee des Staates in Spannung stehen. Oder nehmen wir das kartesische Cogito: Die Differenz zwischen mir als einer in eine konkrete Lebenswelt eingebetteten konkreten Person und mir als abstraktem Subjekt ist Teil meiner konkreten Identität selbst, da es in den modernen westlichen Gesellschaften zu den charakteristischen Eigenschaften eines Individuums gehört, dass es als abstraktes Subjekt agiert. Dies bringt uns schließlich zu unserem Ausgangspunkt der Quantenphysik zurück: Warum ist die Quantenphysik die maßgebliche wissenschaftliche Bezugsquelle, warum nicht die Erfolgstriade aus Evolutionsbiologie, Biogenetik und Hirnforschung? Wenn man die „Absenzialiät“ der symbolischen Ordnung, die das Funktionieren des menschlichen Geistes charakterisiert, in genau diesem Sinne interpretiert (Differenzialität, das Kennzeichen eines Mangels an sich, die positive ontologische Funktion der Abstraktion), lässt sich dann die Entstehung der menschlichen Subjektivität aus dem biologischen Organismus wirklich von der erwähnten Triade her erklären? Brauchen wir nicht etwas Überzeugenderes, eine paradoxere Struktur der Realität, wenn wir eine Erklärung dafür finden wollen, wie die symbolische Ordnung sich in ihr herausbilden konnte? Und hier kommt die Quantenphysik ins Spiel: Was sie so „gespenstisch“ macht, ist nicht ihre grundlegende Unvereinbarkeit mit dem Alltagsdenken, als vielmehr ihre unheimliche Ähnlichkeit mit dem, was für uns das spezifisch Menschliche darstellt – hier ist man tatsächlich versucht zu sagen, dass die Quantenphysik den binären Standardgegensatz von Natur und Kultur „dekonstruiert“. Gehen wir die Liste dieser Merkmale kurz durch:39 • Innerhalb der symbolischen Ordnung besitzt die Möglichkeit als solche eine eigene Wirklichkeit, das heißt, sie hat reale Auswirkungen: So ist etwa die väterliche Autorität grundsätzlich virtuell, eine Gewaltdrohung. In ähnlicher Weise lässt sich die wirkliche Flugbahn eines Teilchens im Quantenuniversum nur unter Berücksichtigung sämtlicher innerhalb seiner Wellenfunktion möglichen Flugbahnen erklären. In beiden Fällen beseitigt die Verwirklichung das vorige Spektrum der Möglichkeiten nicht einfach, sondern das, was hätte geschehen können, klingt in dem, was tatsächlich geschieht, als dessen virtueller Hintergrund weiterhin nach.

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• Im symbolischen Universum wie im Quantenuniversum stoßen wir auf das, was Lacan das „Wissen im Realen“ nennt: Beobachtet man in dem berühmten Doppelspaltexperiment die Flugbahn eines Elektrons, um herauszufinden, durch welchen der beide Spalte es hindurchgehen wird, wird es sich als Teilchen verhalten; beobachtet man es nicht, wird es die Eigenschaften einer Welle zeigen – so als ob das Elektron irgendwie wüsste, ob es beobachtet wird oder nicht. Ist ein solches Verhalten nicht auf das symbolische Universum beschränkt, in dem wir wie X handeln, weil wir „für X gehalten werden“? • Wenn Quantenphysiker den Zusammenbruch der Wellenfunktion zu erklären versuchen, greifen sie immer wieder auf die Metapher der Sprache zurück: Es kommt zum Zusammenbruch, wenn ein Quantenereignis in der Beobachtungsapparatur „eine Spur hinterlässt“, wenn es in irgendeiner Form „registriert“ wird. Wir haben es hier mit einem Äußerlichkeitsverhältnis zu tun – ein Ereignis wird nur dann vollständig es selbst und verwirklicht sich, wenn seine äußere Umgebung von ihm „Kenntnis nimmt“. Darin wiederholt sich der Prozess der symbolischen Realisierung, bei dem sich ein Ereignis nur dadurch verwirklicht, dass es symbolisch registriert, in ein ihm äußerliches symbolisches Netzwerk eingeschrieben wird. • Darüber hinaus weist diese Äußerlichkeit der Registrierung eine zeitliche Dimension auf: Zwischen einem Quantenereignis und seiner Registrierung vergeht immer ein Minimum an Zeit, und diese minimale Verzögerung eröffnet den Raum für eine Art ontologische Täuschung mit virtuellen Teilchen (ein Elektron kann ein Proton hervorbringen und dadurch das Prinzip der Energiekonstanz verletzen, vorausgesetzt, es absorbiert das Proton schnell genug wieder, das heißt bevor seine Umgebung von der Unstimmigkeit „Kenntnis nimmt“). Diese zeitliche Verzögerung eröffnet auch die Möglichkeit der Rückwirkung in der Zeit: Die jetzige Registrierung entscheidet darüber, was sich ereignet haben muss – wenn etwa in dem Doppelspaltexperiment jetzt ein Elektron beobachtet wird, dann wird es sich nicht nur (jetzt) als Teilchen verhalten, sondern auch seine Vergangenheit wird rückwirkend die eines Teilchens werden („gewesen sein“), ganz so wie im symbolischen Universum, wo eine radikale Intervention in der Gegenwart (das Aufkommen eines neuen Herren-Signifikanten) rückwirkend die (Bedeutung der) ganze(n) Vergangenheit umschreiben kann. (Mit dem Erscheinen Kafkas sind Poe und Dostojewski, um Borges zu zitieren, nicht mehr, was sie gewesen sind – das heißt, von Kafka aus können wir Dimensionen in ihnen sehen, die vorher nicht da waren.)

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Was also ist die Lektion daraus, dass diese vier miteinander verbundenen Merkmale – die Aktualität des Möglichen, das Wissen im Realen, die zeitliche Verzögerung der (symbolischen) Registrierung, die Rückwirkung – sowohl auf der Quantenebene als auch im symbolischen Universum auftreten? Nun, wir lernen daraus, dass wir in der Frage, wie höhere Realitätsebenen aus niedrigeren Ebenen hervorgehen (das Leben aus der unbelebten Materie, der Geist aus dem Leben) das reine Evolutionsmodell zurückweisen sollten, bei dem die Grundebene von einer unbelebten Natur gebildet wird, die Abwesenheiten ebensowenig kennt wie eine andere als die bloß unmittelbare mechanische Kausalität, und bei dem aus dieser Grundebene heraus dann Abwesenheiten allmählich eine immer größere Rolle spielen. Mangel und Abwesenheiten müssen von Anfang an, also bereits auf der Nullebene, da sein, und das bedeutet, dass die physikalisch determinierte äußere Realität nicht die Nullebene sein kann. Wie lässt sich dieser tote Punkt überwinden, ohne auf den Spiritualismus zurückzugehen? Quantenphysiker haben darauf eine Antwort parat. Danach ist es die Lücke zwischen der materiellen Realität und der Protorealität der Quanten, welche die allmähliche Selbstüberwindung der materiellen Realität ermöglicht. Eine der Bezeichnungen für die ontologische Disparität in der Quantenphysik ist Dekohärenz. Jahrzehntelang war es Mode, dass man sich einen wissenschaftlichen Begriff wie „Urknall“ oder „Schwarzes Loch“ genommen und ihn metaphorisch auf so ziemlich alles angewendet hat, wonach einem der Sinn stand. Dabei sollte man hier im Gegenteil auf die genaue ontologische Dualität schauen, die in der Dekohärenz wirksam ist und die sich den klassischen metaphysischen Dualitäten (die Sphäre der Ideen im Gegensatz zu der „niedriger“ angesiedelten Sphäre der materiellen Gegenstände, die Sphäre der wirklichen Lebenserfahrung im Gegensatz zu den Illusionen, die sie produziert, und so weiter) gegenüber vollkommen fremd verhält. Dekohärenz bezieht sich auf den sogenannten Zusammenbruch des Schwankungsfelds der Quanten, auf den Übergang vom Quantenuniversum, das durch die Überlagerung von Zuständen definiert ist (eine Überlagerung, die eine kohärente Mannigfaltigkeit bildet), zum klassischen „realistischen“ Universum, das sich aus selbstidentischen Objekten zusammensetzt. Bei diesem Übergang kommt es zu einer radikalen Vereinfachung: Die kohärente Mannigfaltigkeit sich überlagernder Zustände „dekohäriert“, indem eine Option von dem Kontinuum der anderen abgetrennt und als einzelne Realität gesetzt wird. War nicht Schelling der Erste, der in seinem Paar von präontologischer Protorealität und der (transzendental konstituierten) Realität eine entsprechende Struktur entworfen hat? Nehmen wir Schellings eigentlichen

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Durchbruch, seine – in seiner Abhandlung über die menschliche Freiheit von 1807 erstmals eingeführte – Unterscheidung zwischen (logischer) Existenz und dem undurchdringbaren Existenzgrund, dem Realen der prälogischen Triebe: Dieser protoontologische Bereich der Triebe ist nicht einfach „Natur“, sondern vielmehr der gespenstische Bereich der noch nicht vollständig konstituierten Realität. Schellings Gegensatz aus dem proto-ontologischen Realen der Triebe (des Seinsgrunds) und dem ontologisch vollständig konstituierten Sein selbst verdrängt die philosophischen Standardpaare Natur und Geist, Wirkliches und Idee, Sein und Wesen und so weiter demnach radikal. Der wirkliche Existenzgrund ist undurchdringbar, dicht und unbeweglich, gleichzeitig aber gespenstisch, „unwirklich“ und ontologisch nicht vollständig konstituiert, während die Existenz ideell ist, im Gegensatz zum Grund aber zugleich vollständig „wirklich“, vollständig seiend. Das (für die metaphysische Tradition) Paradoxe hieran ist, dass unsere stabile Alltagsrealität als das Resultat des Subtraktionsakts (der Dekohärenz) aus den veränderlichen Quantenschwankungen heraus entsteht. In unserer metaphysischen (und allgemeinverständlichen) Einheitstradition besteht die erste Realität aus tatsächlich und dauerhaft vorhandenen Objekten, die dann von der Aura virtueller Wellen, die von ihnen ausgehen, eingefasst und umgeben werden. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven wird angenommen, dass tatsächlich vorhandene Dinge „objektiv“ existieren, wohingegen virtuelle Schwankungen ihrer subjektiven (Fehl-)Wahrnehmung entspringen. Im Quantenuniversum existieren hingegen nur Wellenschwankungen auf „objektive“ Weise, und es ist das Subjekt, das sie durch seine Eingriffe in eine einzelne objektive Realität umwandelt. Anders ausgedrückt: Was die Dekohärenz dieser Schwankungen verursacht und damit die objektive Realität konstituiert, ist die subjektive Geste einer vereinfachenden Entscheidung (das Messen). Die Voraussetzung dafür ist eine minimale Lücke zwischen der Existenz der Dinge in ihrer unmittelbaren rohen Protorealität und der Registrierung dieser Realität in irgendeinem Medium (des großen Anderen): Letzteres folgt Ersterem zeitlich nach. Das ausführende Organ, das den Zusammenbruch der Wellenfunktion registriert, „erschafft“ die beobachtete Realität nicht etwa, es registriert ein Ergebnis, das vollkommen kontingent bleibt. Zudem ist der springende Punkt in der Quantenphysik, dass sich vor einer Registrierung viele Dinge abspielen: In diesem schattenhaften Raum sind die „normalen“ Naturgesetze durchgehend außer Kraft gesetzt – wie das? Stellen Sie sich vor, sie müssten an einem bestimmten Tag mit dem Flugzeug irgendwohin fliegen, um dort tags darauf eine sehr große Summe ab-

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zuholen, haben aber nicht das Geld für das Ticket; dann sehen Sie jedoch am Buchungssystem der Fluggesellschaft, dass Sie die Zahlung des Tickets binnen 24 Stunden nach Ankunft an Ihrem Zielort anweisen können und niemand je erfahren wird, dass das Ticket nicht vor dem Abflug bezahlt wurde. Entsprechend dazu „kann die Energie eines Teilchens erhebliche Schwankungen aufweisen, solange diese Schwankungen auf Zeiträume von hinreichend kurzer Dauer beschränkt sind“. Wie das Abrechnungssystem der Fluggesellschaft Ihnen „erlaubt“, das Geld für das Flugticket „auszuleihen“, vorausgesetzt, Sie zahlen den Kaufpreis rasch genug zurück, so erlaubt die Quantenmechanik einem Teilchen, sich Energie zu „borgen“, solange es diese in einem von Heisenbergs Unschärferelation bestimmten Zeitrahmen wieder abgibt. […] Doch die Quantenmechanik zwingt uns, den Vergleich noch einen Schritt weiterzuführen. Stellen Sie sich einen pathologischen Schuldenmacher vor, der von Freund zu Freund geht, um sich Geld zu beschaffen. […] Borgen und Rückzahlen, Borgen und Rückzahlen – unermüdlich leiht er sich Geld aus, um es gleich darauf zurückzuerstatten. […] Aus der Heisenberg’schen Unschärferelation geht hervor, daß unser Universum bei mikroskopischen Abständen und Zeitintervallen ständig der Schauplatz eines ähnlich wilden Hin und Hers von Energie und Impuls ist.40 Auf diese Weise kann ein Teilchen sogar in einer leeren Region des Raumes aus dem Nichts entstehen, indem es von der Zukunft Energie „leiht“ und dafür bezahlt (mit seiner Vernichtung), bevor dem System der Leihvorgang auffällt. Das ganze Netzwerk kann in diesem Rhythmus aus Leihen und Vernichtung funktionieren, indem einer vom anderen leiht, die Schulden verschiebt und deren Rückzahlung hinauszögert – es ist tatsächlich so, als würden im subatomaren Bereich die Spielchen der Wall Street mit Termingeschäften gespielt. Dies setzt eine minimale Lücke zwischen der unmittelbar rohen Realität der Dinge und der Registrierung dieser Realität in irgendeinem Medium (des großen Anderen) voraus. Die Möglichkeit zu täuschen besteht dadurch, dass sich Letzteres Ersterem gegenüber in zeitlichem Verzug befindet. Von besonderem Interesse sind die theologischen Implikationen dieser Lücke zwischen der virtuellen Protorealität und der vollständig konstituierten Realität. Insofern „Gott“ der Akteur ist, der Dinge erschafft, indem er sie beobachtet, nötigt uns die Quantenunbestimmtheit zum Postulat eines Gottes, der zwar allmächtig, aber nicht allwissend ist. „Wenn Gott die Wellenfunktionen großer Dinge durch seine Beobachtung

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zur Realität zusammenbrechen lässt, so deuten die Quantenexperimente darauf hin, dass er die kleinen Dinge nicht beobachtet.“41 Die ontologische Täuschung mit virtuellen Teilchen (ein Elektron kann ein Proton hervorbringen und dadurch das Prinzip der Energiekonstanz verletzen – vorausgesetzt, es absorbiert das Proton schnell genug wieder, das heißt, bevor seine Umgebung von der Unstimmigkeit „Kenntnis nimmt“) stellt eine Möglichkeit dar, Gott selbst, die alles Geschehen registrierende Instanz, hinters Licht zu führen: Gott selbst kontrolliert die Quantenprozesse nicht, und darin besteht die atheistische Lehre der Quantenphysik. Einstein hatte Recht mit seiner berühmten Bemerkung, dass Gott nicht täuscht; er vergaß nur hinzuzufügen, dass Gott selbst getäuscht werden kann. Insofern die materialistische These lautet, dass „Gott unbewusst ist“ (dass Gott nicht weiß), ist die Quantenphysik tatsächlich materialistisch: Es gibt Mikroprozesse (Quantenschwankungen), die nicht vom Gott-System registriert werden. Und insofern Gott eine der Bezeichnungen für den großen Anderen ist, lässt sich ersehen, wieso man Gott (den großen Anderen) nicht einfach loswerden und eine Ontologie ohne den großen Anderen entwerfen kann: Gott ist eine Illusion, allerdings eine notwendige. Die Dekohärenztheorie ist ein Versuch, den Zusammenbruch einer Wellenfunktion und damit den Übergang aus der Unterwelt der Quantenschwankungen in unsere gewöhnliche Realität auf immanente Weise zu erklären. Die Funktion des externen Beobachters ist daher uneindeutig, und darin liegt die Stärke dieser Theorie. Ihrer Grundbehauptung nach ereignet sich die Dekohärenz (der Zusammenbruch der Wellenfunktion) nur auf der „höheren“, makroskopischen Ebene, wo sie von einem Beobachter registriert wird – auf der Quantenebene ändert sich nichts, die Kohärenz besteht dort weiter. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass wir einen externen Beobachter voraussetzen müssen, in dessen Augen (in dessen Registrierungsmechanismus) sich die Dekohärenz ereignet. Fast möchte man behaupten, dass die Dekohärenztheoretiker eine neue Version des alten dialektisch-materialistischen Gesetzes vom Übergang der Quantität in eine neue Qualität aufstellen: Wenn die Quantenwechselwirkung einen bestimmten quantitativen Umfang erreicht, bricht die Wellenfunktion zusammen, da das Objekt sich in gewisser Weise „selbst zu beobachten“ beginnt. Die Stärke der Dekohärenztheorie liegt in diesem ihren Bemühen, die rein immanente Weise, auf die ein Quantenprozess den Mechanismus seiner „Beobachtung“ (Registrierung) hervorruft, auszuformulieren. Gelingt ihr das? Es ist an der Wissenschaft selbst, hierauf eine Antwort zu geben.

2 Objekte, Objekte … und das Subjekt Wiederverzauberung der Natur? Nein, danke! Die von Levi Bryant1 entwickelte Objektorientierte Ontologie (OOO) lässt sich im Kern auf die Formel „Vom Subjekt zurück zur Substanz“ bringen. Und insofern das Subjekt die Entsprechung zur Moderne ist (denken wir an Lacans These über das kartesische Subjekt als das Subjekt der modernen Wissenschaft), können wir auch sagen, dass die OOO der Prämisse folgt, die sich im Titel des bekannten Buchs von Bruno Latour Wir sind nie modern gewesen ausdrückt: Sie will die vormoderne Verzauberung der Welt zurückbringen. Von Lacan her sollte man hierauf mit einer Abwandlung der von ihm vorgenommenen Korrektur der Formel „Gott ist tot“ (Gott war immer schon tot, er wusste es nur nicht) antworten: Wir waren immer schon modern, wir wussten es nur nicht. Demnach hat die OOO es also nicht hauptsächlich auf die transzendentale Philosophie mit ihrem SubjektObjekt-Dualismus abgesehen, sondern auch auf die moderne Wissenschaft mit ihrer Vision einer „grauen“, auf die mathematische Formalisierung reduzierten Realität: Die OOO sucht die moderne Wissenschaft durch eine vormoderne, das „Innenleben“ der Dinge beschreibende Ontologie zu ersetzen. Bryant (der vor seiner Beschäftigung mit der OOO lacanianischer Psychoanalytiker war) greift auf Lacans „Formeln der Sexuierung“ zurück, um den Grundunterschied zwischen der traditionellen (oder modernen) Metaphysik und der OOO auszuarbeiten. Danach folgt die Metaphysik der männlichen Linie, der in einer transzendenten Ausnahme (Gott oder das Subjekt, welches die objektive Realität begründet oder konstituiert) gründenden Allgemeinheit, wohingegen die OOO der weiblichen Linie des ausnahmelosen Nicht-Alles folgt (es gibt keine transzendente Ausnahme, die Realität setzt sich aus Gegenständen zusammen, die alle auf der gleichen ontologischen Ebene angesiedelt sind, und es besteht keine Möglichkeit, dieses Multiversum von Gegenständen zu totalisieren, weil sie sich gegenseitig entzogen sind, weil es keinen überragenden Gegenstand zu ihrer Totalisierung gibt).2 Deshalb ordnet Bryant, wenn er über „den Unterschied zwischen den Ontologien der Präsenz und der Transzendenz sowie den Ontologien der Immanenz und des Entzugs“ spricht (S. 269), die vier Konzepte in unerwarteter Weise einander zu: Unserer spontanen Intuition käme es viel näher, Immanenz und Präsenz sowie Transzendenz und Entzug paarweise zu verbinden: Ist die Präsenz nicht definitionsgemäß imma-

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nent, ist die Transzendenz nicht unserem Einflussbereich entzogen? Stattdessen paart Bryant Präsenz mit Transzendenz (der transzendente Seinsgrund ist sich selbst vollkommen präsent) und Immanenz mit Entzug (es gibt keinen transzendenten Grund; alles, was es gibt, ist das immanente Multiversum von Gegenständen, die sich gegenseitig entzogen sind). Bryant beginnt seine Aufstellung der Ontologie der Immanenz/des Entzugs damit, dass er das Primat der Ontologie vor der Epistemologie behauptet und die moderne subjektivistische Vorstellung zurückweist, nach der wir uns zunächst kritisch mit unserem Denkapparat befassen sollten (Wie ist unser Denken überhaupt möglich? Wie weit reicht es und worin besteht seine Begrenzung?), bevor wir uns an die Analyse der Realitätsstruktur machen. Im Anschluss an Roy Bhaskar dreht Bryant die transzendentale Fragestellung um und fragt danach, wie die Realität strukturiert sein muss, damit wir sie denken können. Die Grundprämisse der OOO liefert hierauf die Antwort: „Es ist erforderlich, dass die Autonomie der Objekte oder Substanzen standhaft verteidigt und jede Reduktion von Gegenständen auf ihre Beziehungen zurückgewiesen wird – unabhängig davon, ob es sich bei diesen Beziehungen um solche zu Menschen oder zu anderen Objekten handelt“ (S. 26). Aus diesem Grund ist für das Subjekt kein Platz in Bryants Denkgebäude: Das Subjekt nämlich ist gerade eine nichtsubstanzielle Entität, die sich vollständig auf ihre Beziehungen zu anderen Entitäten reduzieren lässt. Vom hegelianisch-lacanianischen Standpunkt aus wird die Spannung zwischen der epistemologischen und der ontologischen Dimension auf völlig andere Weise gelöst: Das Objekt ist unerreichbar; jeder Versuch, es zu ergreifen, endet in Antinomien und so weiter. Wir erreichen die Sache selbst nicht dadurch, dass wir durch diese Verzerrungen irgendwie hindurchsehen, sondern indem wir die Erkenntnishindernisse in die Sache selbst übertragen. Genauso verfährt Quentin Meillassoux bezüglich der Erfahrung der Faktizität und/oder der absoluten Kontingenz: Was den Transzendentalisten der Endlichkeit als Grenze unserer Erkenntnis erscheint (die Einsicht, dass wir uns hinsichtlich unserer Erkenntnis vollkommen irren können und dass die Realität an sich ganz anders sein kann, als wir sie uns vorstellen), überführt er in die grundlegendste positive ontologische Eigenschaft der Realität selbst – das Absolute ist einfach „das Anders-seinKönnen selber […], so wie es der Agnostiker theoretisch fasst. Das Absolute ist der mögliche Übergang, ohne Grund, von meinem Zustand zu irgendeinem anderen Zustand.3 Aber das Mögliche ist nicht mehr ein ,Mögliches der Unwissenheit‘, ein Mögliches, das nur aus meiner Unfähigkeit zu wissen, welche Option die zutreffende ist, resultiert: Es ist das Wissen, dass all

Wiederverzauberung der Natur? Nein, danke!

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diese Optionen und darüber hinaus noch ganz andere tatsächlich möglich sind“4 – im Innersten des Ansich: Wir müssen […] zeigen, dass die Faktizität, weit davon entfernt, die Erfahrung zu sein, die das Denken von seiner notwendigen Begrenzung macht, im Gegenteil die Erfahrung ist, die das Denken von seinem Wissen des Absoluten macht. Wir müssen die Faktizität nicht als die Unerreichbarkeit des Absoluten begreifen, sondern als Enthüllung des Ansich: die immerwährende Beschaffenheit dessen, was ist, und nicht die fortwährende Unzulänglichkeit des Denkens dessen, was ist.5 Auf diese Weise wird „die Faktizität […] sich als ein Wissen vom Absoluten herausstellen, weil wir endlich wieder dasjenige in das Ding setzen, was wir illusorischerweise für eine Unfähigkeit des Denkens hielten. Anders gesagt, anstatt aus der einem jeden Ding innewohnenden Abwesenheit des Grundes eine Grenze zu machen, die dem Denken auf der Suche nach dem letztmöglichen Grund begegnet, müssen wir verstehen, dass eine solche Abwesenheit des Grundes die letztmögliche Beschaffenheit des Seienden ist und nur sein kann.“6 Das Paradoxe an dieser gleichsam magischen Umkehrung eines epistemologischen Hindernisses in eine ontologische Prämisse ist, dass wir uns „durch die Faktizität, und durch sie alleine, […] einen Weg zum Absoluten bahnen“ können. Die radikale Kontingenz der Realität, dieses „offene Mögliche – dieses ‚alles ist gleichermaßen möglich‘ – ist ein Absolutes, das man nicht entabsolutieren kann, ohne es wiederum als Absolutes zu denken“.7 Es gilt hier auch eine Verbindung zu der großen Auseinandersetzung um die Interpretation der Unbestimmtheit innerhalb der Quantenphysik zu ziehen: Für die „orthodoxen“ Vertreter des Fachs stellt die epistemologische Unbestimmtheit gleichzeitig eine ontologische Eigenschaft dar, ein Merkmal der „Realität“ selbst, die demnach „an sich“ unbestimmt ist. Für die Vertreter des klassischen „Realismus der Notwendigkeit“, bei Einstein angefangen, kann die epistemologische Unbestimmtheit hingegen nur bedeuten, dass die Quantenphysik keine vollständige Beschreibung der Realität liefert, das heißt, dass es irgendwelche verborgene Unbekannte gibt, die sie nicht berücksichtigt. Mit einer etwas problematischen und übertriebenen Formulierung könnte man sagen, dass die an Einstein anschließenden Kritiker um eine Rekantianisierung der Quantenphysik bemüht sind und die „Realität-an-sich“ aus ihrem Zugriffsbereich ausschließen. Meillassoux ist durchaus bewusst, dass die Quantenphysik – aufgrund ihrer Unschärferelation und weil sie die Rolle des Beobachters beim Zu-

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sammenbruch der Wellenfunktion herausstreicht – die Vorstellung einer von einem Beobachter unabhängig existierenden Realität zu untergraben scheint und dem Kant’schen Transzendentalismus dadurch einen unerwarteten Vorschub gibt. Doch deren Ähnlichkeit trügt, wie er ausführt, und verschleiert einen grundlegenden Unterschied: „Gewiss, die Gegenwart eines Beobachters kann sich möglicherweise, wie es bei gewissen Gesetzen der Quantenphysik der Fall ist, auf das Beobachtete auswirken: Aber sogar dieser Fall, dass ein Beobachter ein Gesetz beeinflussen kann, ist eine Beschaffenheit des Gesetzes, von der nicht anzunehmen ist, dass sie von der Existenz des Beobachters abhängt.“8 Kurz gesagt: Während bei Kants Transzendentalismus das „Beobachter“-Selbst konstituiert, was es beobachtet, wird in der Quantenphysik die aktive Beobachterrolle selbst wieder in die physikalische Realität eingeschrieben. Es mag scheinen, als habe Bryant diesen Schritt ebenfalls vollzogen: Behauptet er nicht wiederholt, dass der Entzug des Objekts für das Subjekt (das heißt das erkennende oder wahrnehmende Objekt) zugleich Selbstentzug ist, die Selbstspaltung des Objekts, die Entzogenheit des Objekts in Bezug auf sich selbst? „Entzogenheit ist kein nebensächliches Merkmal von Objekten. Sie rührt von unserem Mangel an einem unmittelbaren Zugang zu ihnen her, ist jedoch ein Konstitutionsmerkmal aller Gegenstände, unabhängig davon, ob sie mit anderen Gegenständen in Beziehung stehen“ (S. 32). Bryant zieht hier eine Parallele zwischen der ontologischen Allgemeinstruktur des „gespaltenen Objekts“ und dem Lacan’schen gespaltenen/ausgestrichenen Subjekt, und er kommt zu dem Schluss, dass „alle Objekte den gespaltenen Subjekten Lacans, den S/, ähneln“: Kein Objekt verwirklicht je den unterirdischen vulkanischen Kern, von dem sein virtuelles eigenes Sein heimgesucht wird. Dieser virtuelle Bereich gleicht einer Reserve oder einem Überschuss, der nie zur Präsenz gelangt. Es ist nicht einfach so, dass Objekte in sich vollständig wirklich und nur anderen, sich auf sie beziehenden Objekten entzogen sind, sondern sie sind sich vielmehr in sich selbst entzogen. (S. 281 f.) Bryant regt dementsprechend eine Art verallgemeinerter Transzendentalstruktur an, wonach jedes Objekt erstens andere Objekte nicht auf diejenige Weise wahrnimmt, wie sie in sich selbst sind, sondern als durch seinen eigenen Rahmen interpretierte Gegenstände, und zweitens dieser Rahmen als solcher ebenfalls unzugänglich ist, sodass das Objekt nicht sieht, was es nicht sieht (das heißt, was es nicht sieht, gleicht Rumsfelds „unbekannten Unbekannten“). Dieser Pantranszendentalismus berechtigt Bryant, zum

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Erfassen der Art, wie Objekte miteinander in Beziehung stehen, den Kant’schen Ausdruck „transzendentaler Schein“ zu verwenden: Der durch die Art, wie Objekte miteinander in Beziehung stehen, erzeugte transzendentale Schein ist eine Täuschung, bei der die durch ein System „erfahrenen“ Zustände selber als andere Objekte betrachtet werden, statt als systemspezifische Entitäten, die durch die Organisation des Objekts selbst hervorgebracht werden. Anders gesagt, betrachtet das Objekt die Welt, die es „erfährt“, als die schlechthinnige Realität und nicht als die durch seine eigene Organisation hervorgebrachten Systemzustände. (S. 160) Bryant wendet diesen Begriff der Undurchdringlichkeit von Objekten auf das Lacan’sche Thema der Undurchdringlichkeit des Begehrens des Anderen an, auf das Rätsel des Che vuoi?, also dessen, was der Andere im Subtext von all dem, was er zu mir sagt, von mir will: Das Begehren, so könnte man sagen, verkörpert unser Nichtwissen in Bezug auf das Begehren des Anderen. In allen intersubjektiven Beziehungen verkörpert sich das Gefühl, dass wir, obwohl der Andere sich an uns wendet, gleichwohl nicht wissen, warum er das tut. Anders ausgedrückt, wissen wir nicht, welches das Begehren des Anderen ist, das seine Beziehung zu uns antreibt. In dieser Hinsicht stellt das Begehren des Anderen eine genaue Widerspiegelung des Phänomens der operativen Schließung bei Systemen dar. Der Andere stört uns in vielerlei Hinsicht, doch wir können nicht einschätzen, mit welchen verborgenen Absichten er mit uns interagiert. (S. 187)9 In einer weiteren Radikalisierung schließt Bryan Gott selbst (so es ihn gibt) in diese Abfolge mit ein: Jedes Seiende, bis hin zu Gott, falls es ihn gibt, gleicht einem lacanschen gespaltenen oder ausgestrichenen Subjekt S/ in der Weise, dass es, unabhängig davon, ob es mit einem anderen Seienden in Beziehung steht, sich hinsichtlich seiner selbst entzogen ist. Anders ausgedrückt, ist kein Seiendes sich selbst präsent, vielmehr ist es so, dass jedes Seiende notwendigerweise blinde Flecken umfasst oder sich selber undurchsichtig ist. Das Entzogensein stellt hier die eigentliche Struktur der seienden Dinge dar und ist kein nebensächliches Verhältnis ihrer Beziehungen untereinander. (S. 265)

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Ein solcher Begriff eines sich selbst undurchsichtigen Gottes wurde bereits von Schelling entwickelt. Schellings Thema war der undurchdringliche Grund Gottes, das, was in Gott mehr ist als er selbst. Die OOO unternimmt es jedoch nicht, den nächsten Schritt aus Schellings Folgerung zu vollziehen und der Frage nachzugehen, wie der Logos aus diesem Multiversum hervorgeht, in dem „Objekte sich nicht gegenseitig unmittelbar zugänglich sind und […] jedes Objekt andere Objekte, mit denen es in nichtrelationale Beziehung tritt, übersetzt“ (S. 27).

Ein Exkurs: Ideologie im Multiversum Bryants Vision von einem Multiversum ohne irgendeinen totalisierenden Akteur, der sich selbst vollkommen präsent wäre, beschränkt sich nicht auf abstrakte ontologische Betrachtungen. Vielmehr zieht er eine Reihe sachdienlicher politischer Erkenntnisse daraus. Eine der interessanten Folgerungen aus dem Gedanken der „Demokratie der Objekte“, der Realität als Multiversum von Aktanten, dient ihm dazu, die gängige Auffassung von „entmystifizierender Kritik“ zu problematisieren: Eine aktivistische politische Theorie, die sich nur mit Inhaltsfragen aufhält, ist insofern zur Enttäuschung verurteilt, als sie sich ständig fragen wird, warum es ihren Ideologiekritikern nicht gelingt, den von ihnen gewünschten und beabsichtigten gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Zudem ist es in einer Zeit, in der wir mit der heraufziehenden Bedrohung durch den Klimawandel mit seinen monumentalen Ausmaßen konfrontiert sind, unverantwortlich, wenn wir Unterscheidungen treffen, mit denen wir nichtmenschliche Akteure ausschließen. (S. 24) Bryant liefert in diesem Zusammenhang ein überzeugendes und prägnantes Beispiel für Ökologie in unseren kapitalistischen Gesellschaften: Warum scheitern all die ideologiekritischen Mobilisierungsaufrufe, warum ist die große Mehrheit nicht bereit, ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen? Wenn wir bloß die ideologischen Diskursmechanismen betrachten, wird dieses Scheitern unerklärlich, und wir sind gezwungen, irgendwelche dunklen „ideologischen Täuschungsprozesse“ anzuführen. Wenn wir unseren Fokus jedoch erweitern und andere Aktanten einbeziehen, andere Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit, die unsere Entscheidungen beeinflussen – wie tendenziöse Medienberichte, ökonomischen Druck auf Arbeiter (drohenden Arbeitsplatzverlust), materielle Einschränkungen und so weiter –, wird

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die fehlende Bereitschaft viel begreiflicher. Denken wir an Jane Bennetts Darstellung des Zusammenspiels diverser Aktanten auf einem belasteten Müllgelände: dort spielen nicht nur Menschen, sondern auch verrottender Abfall, Würmer, Insekten, stillgelegte Maschinen oder chemische Giftstoffe jeweils eine (nie rein passive) Rolle.10 In einem solchen Ansatz steckt eine glaubwürdige theoretische und ethische politische Einsicht. Die herrschende Ideologie hat noch einen Dreh gefunden, um ihr Überleben zu sichern: Ihre eigentliche Genialität offenbart sich darin, wie ihre obszöne Unterseite funktioniert. Wir haben es hier mit etwas zu tun, was man die Logik der inhärenten Überschreitung nennen könnte: Das betroffene Subjekt nimmt die ideologischen Verfügungen nicht ernst; es macht sich über sie lustig, setzt sich zynisch über sie hinweg, doch genau dieser „Widerstand“ ist von vornherein mit eingeplant und dient der Reproduktion des ideologischen Gedankengebäudes. Es soll an dieser Stelle genügen, zwei Beispielfälle aus kommunistischen Regimen anzuführen. Politische Witze stellten in jedem Fall eine Art „Widerstand“ gegenüber der herrschenden Ideologie dar. Allerdings produzierte dieser „Widerstand“ ein obszönes Genießen, der die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse sehr erleichterte. Ähnlich verhält es sich mit dem kläglichen Scheitern der kommunistischen Erziehung; statt Subjekte hervorzubringen, die sich dem Aufbau des Sozialismus widmeten, brachte es Zyniker hervor, die der Politik misstrauten und sich lieber ins Private zurückzogen – und dadurch waren sie ideale Subjekte des kommunistischen Systems. Dies Beispiel der zwiespältigen Rolle von politischen Witzen verdeutlicht, dass der unechte „Widerstand“ nicht nur seitens der Individuen besteht, sondern auch seitens der Machtinstitutionen selbst (vielleicht sollte man einen bürokratischen Apparat auch als eine Maschine zur Erzeugung/ Produktion von Genießen auffassen). Wie hängt das zusammen? Wenden wir uns zunächst der Thematik des Fetischismus zu. Eric Santner hat dargelegt, wie in einer posttraditionellen kapitalistischen Gesellschaft die beiden Körper des Königs (sein gewöhnlicher sterblicher Körper und sein erhabener Körper, der dem Staat selbst eine materielle Gestalt gibt) auf die beiden Körper der Ware übertragen werden (ihre materiellen Eigenschaften, die ihren Gebrauchswert ausmachen, und ihren „anderen, erhabenen Körper“, der ihrem abstrakten Tauschwert eine materielle Gestalt gibt).11 Santner folgt hier entsprechenden Hinweisen bei Marx, der in seinem Kapital Parallelen zwischen dem Warenfetischismus und dem Fetischismus in zwischenmenschlichen Beziehungen zieht. (In einer traditionellen Gesellschaft erscheinen die auratischen Eigenschaften eines Königs oder einer anderen Herrschergestalt als seine unmittelbaren Eigenschaften, obwohl sie tatsäch-

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lich bloß der Effekt des Verhaltens anderer Menschen ihnen gegenüber sind.) In beiden Fällen muss sich der ideelle Pol (der symbolische Königstitel, der Tauschwert) in einem Körper materialisieren, der seiner Materialität nach ätherisch ist, geisterhaft wie die Körper von Gespenstern und Vampiren – kein Geist ohne Geister, wie Schelling das vor zwei Jahrhunderten ausdrückte. Stellt diese Verdopplung eines Körpers, dieses Erscheinen eines geisterhaften Körpers, der den gewöhnlichen materiellen Körper ergänzt, eine Notwendigkeit dar, oder lässt sich die ideelle Dimension ohne die Ergänzung durch eine geisterhafte Materialität erreichen beziehungsweise wirksam machen? Doch vielleicht ist diese Frage so nicht auf die richtige Weise gestellt. Damit meine ich: Ein wahrer dialektischer Materialist muss gegenüber dem vulgären Materialismus darauf bestehen, dass die gewöhnlichen materiellen Objekte nicht den Ausgangspunkt bilden, von dem aus durch einen Prozess der Idealisierung das Geisterhafte eines anderen, erhabenen Körpers erzeugt wird; es muss im Gegenteil etwas – ein Überschuss – vom Realen abgezogen werden, um bei der gewöhnlichen materiellen Realität anzukommen, und bei diesem Realen handelt es sich weder um die gewöhnliche Realität noch um die erhabene geisterhafte Realität. Genauso wird das Heilige nicht einfach aus der gewöhnlichen weltlichen Realität heraus erzeugt: Damit die gewöhnliche weltliche Realität entstehen kann, muss etwas von ihr abgezogen werden, und dieser subtrahierte Überschuss kehrt dann in der Gestalt des Heiligen wieder. In diesem Sinne gibt Santner der Arbeitswerttheorie von Marx eine neue Wendung. Danach behandelt diese in ihrer grundlegendsten Form nicht den abstrakten Wert, um den herum die Objektpreise schwanken, es geht in ihr vielmehr um die Pracht und die Herrlichkeit und damit um den rituellen Wert von Objekten. (Vor vielen Jahren schon hat Lacan an Marx moniert, dass er über den Gebrauchs- und den Tauschwert hinaus nicht auch dem rituellen Wert Rechnung getragen habe.) Der „Wert“, den der Mensch durch Arbeit über den Gebrauchswert seiner Erzeugnisse hinaus produziert, ist all das, was aus einem Produkt mehr als einen bloßen Gebrauchsgegenstand macht: sein Glanz, sein ästhetischer Wert, sein heiliger Wert, sein symbolisches Gewicht insgesamt. Insofern ist der symbolische Wert eines Objekts auch keine unmittelbare Eigenschaft dieses Gegenstands, sondern resultiert aus der Behandlung, die wir ihm angedeihen lassen. Dementsprechend ist die Arbeit, die den rituellen Wert hervorbringt, mehr als die zielgerichtete Tätigkeit – diese Arbeit ist selbst eine ritualisierte Tätigkeit, die ein eigenes Genießen erzeugt. Nehmen wir ein Extrembeispiel: die staatliche Bürokratie. Kafkas Genialität bestand darin, dass er die

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Bürokratie, und damit die nichterotische Sache schlechthin, erotisierte. Wenn sich in Chile ein Bürger gegenüber den Behörden legitimieren möchte, „verlangt der diensttuende Beamte von dem armen Antragsteller einen Nachweis darüber, dass er geboren wurde, dass er kein Krimineller ist, dass er seine Steuern bezahlt hat, dass er ins Wahlverzeichnis eingetragen ist und darüber, dass er noch am Leben ist.“ Denn selbst wenn er einen Wutanfall bekommt, um zu beweisen, dass er noch nicht gestorben ist, ist er verpflichtet, eine „Überlebensbescheinigung“ vorzulegen. Das Problem hat solche Ausmaße erreicht, dass die Regierung von sich aus eine Dienststelle zur Bekämpfung der Bürokratie eingerichtet hat. Bürger können sich nun darüber beschweren, dass sie schäbig behandelt wurden, und gegen inkompetente Angestellte des öffentlichen Dienstes Anzeige erstatten […] natürlich auf einem Formblatt, das abgestempelt und in dreifacher Ausfertigung vorgelegt werden muss.12 Das ist staatliche Bürokratie in ihrer verrücktesten Form. Sind wir uns dessen bewusst, dass dies unser einziger wirklicher Kontakt mit dem Göttlichen in unseren säkularen Zeiten ist? Was könnte „göttlicher“ sein als die traumatische Begegnung mit der Bürokratie in ihrer verrücktesten Form – wenn uns etwa durch den Mitarbeiter einer Behörde mitteilt wird, dass es uns rechtlich gesehen nicht gibt? Es sind Begegnungen dieser Art, in denen wir einen flüchtigen Einblick in eine andere Ordnung jenseits der irdischen Alltagswirklichkeit erhalten. Genau wie Gott ist auch die Bürokratie gleichzeitig allmächtig und undurchdringlich, unberechenbar, allgegenwärtig und unsichtbar. Kafka wusste um den tiefen Zusammenhang zwischen Bürokratie und dem Göttlichen: Es scheint so, als würde Hegels These über den Staat als irdische Existenz Gottes in Kafkas Werk „von hinten genommen“, als würde ihr darin eine wirklich obszöne Wendung gegeben. Nur in diesem Sinne stellen Kafkas Romane und Erzählungen eine Suche nach dem Göttlichen in unserer verlassenen säkularen Welt dar – genauer gesagt suchen sie nicht nur nach dem Göttlichen, sie finden es in der staatlichen Bürokratie. In Terry Gilliams Film Brazil gibt es zwei denkwürdige Szenen, die eine perfekte Darstellung des verrückten Exzesses der bürokratischen jouissance liefern, die sich in ihrem Um-sich-selbst-Kreisen von selbst aufrechterhält. Nachdem der Held – dessen Heizung mit einem Schaden am Rohrleitungssystem ausgefallen war – dem amtlichen Reparaturservice eine Nachricht mit der Bitte um schnelle Hilfe hinterlassen hat, dringt ein Mann

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in dessen Wohnung ein. Dabei handelt es sich um einen (von Robert de Niro gespielten) sagenumwobenen, geheimnisvollen Verbrecher, der subversiv handelt, indem er die Notrufe abhört und dann umgehend die Kunden aufsucht, die Rohrleitungen umsonst repariert und so den ineffizienten Papierkram des staatlichen Reparaturservices umgeht. In einer im Teufelskreis ihrer jouissance gefangenen Bürokratie nämlich ist es das ultimative Verbrechen, wenn man einfach und unverzüglich die Arbeit tut, die man tun soll – wenn ein staatlicher Reparaturservice tatsächlich seine Arbeit tut, wird dies (auf der Ebene ihrer unbewussten libidinösen Ökonomie) als ein bedauerlicher Nebeneffekt angesehen, weil die Energie in einer Bürokratie zum Großteil in die Erfindung komplizierter Verwaltungsverfahren fließt, die es ihr ermöglichen, immer neue Hindernisse zu erfinden und die Arbeit auf diese Weise unendlich hinauszuschieben. In einer zweiten Szene begegnen wir auf den Fluren einer riesigen Regierungsbehörde einer Gruppe ständig umherlaufender Menschen – einem leitenden Beamten (einem hohen Tier in der Verwaltung), gefolgt von einem Haufen Angestellter, die die ganze Zeit auf ihn einschreien und ihn hier nach einer Meinung, dort nach einer Entscheidung fragen, während er nervös schnelle, „effiziente“ Antworten herauspresst („Das muss bis spätestens morgen erledigt sein!“, „Überprüfen Sie den Bericht!“, „Nein, sagen Sie den Termin ab!“ …). Die nervöse Hyperaktivität ist natürlich inszenierter Schein, eine zügellose und unsinnige Vorspiegelung „effizienter Verwaltung“. Warum rennen die Menschen die ganze Zeit herum? Der leitende Beamte, dem sie folgen, eilt offenkundig nicht von einer Besprechung zur anderen – er rennt nur sinnlos auf den Fluren herum, das ist alles. Hin und wieder stößt der Held auf die Gruppe, und natürlich lautet die Antwort mit Kafka, dass diese ganze Aufführung nur dessen Blick auf sich ziehen soll und allein für dessen Augen inszeniert ist. Diese Menschen tun so, als seien sie beschäftigt, als kümmerte sie der Held nicht, doch ihr ganzes Treiben soll ihn dazu provozieren, dass er sich mit einer Nachfrage an den Leiter der Gruppe wendet, der dann nervös zurückschnappt: „Sehen Sie nicht, wie beschäftigt ich bin?“ Ein paarmal tut er auch das Umgekehrte und begrüßt den Helden, als habe er schon lange auf ihn gewartet und erwarte seine Bitte geheimnisvollerweise. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es das letztliche Versagen des bürokratischen Räderwerks selbst ist, welches die Bürokratie am Laufen hält und ihre Wirksamkeit ausmacht. Dieses Versagen nämlich eröffnet den Raum für das Mehrgenießen. Auf der Nutzenebene arbeitet ein bürokratischer Apparat, um Dinge zu regulieren und Probleme zu lösen: Gerichte sprechen Recht, die Polizei untersucht Verbrechen und so weiter. Es gibt

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jedoch immer einen Überschuss über diese pragmatische Funktion hinaus. Eine bürokratische Maschine gerät immer in den Teufelskreis, ihre eigene Bewegung zu reproduzieren und Probleme zu schaffen, um sie bearbeiten zu können, und diese Zirkelstruktur erzeugt ein Mehrgenießen. Vom reinen Nützlichkeitsstandpunkt aus muss das Hängenbleiben in dieser Kreisbewegung als Versagen erscheinen, als Scheitern daran, die Arbeit richtig und effizient auszuführen. Es ist jedoch gerade dieses Versagen, das den Überschuss an Genuss erzeugt. Ein richtiger Bürokrat ist die ganze Zeit über beschäftigt, erreicht nichts, dreht sich hektisch im Kreis und überhört die Aufrufe, er solle bloß irgendetwas Einfaches machen, das den Menschen tatsächlich helfen würde. Das Gleiche lässt sich auch hinsichtlich der Besetzung von Stellen behaupten: Die richtige Arbeit eines Bürokraten besteht unter anderem darin, einzelnen Personen eine berufliche Position zuzuweisen und dafür zu sorgen, dass sie einen Posten besetzen, für den sie tatsächlich geeignet sind; dennoch ist es das Scheitern solcher Zuweisungen, die Tatsache, dass Menschen sich auf ihrer Stelle fehl am Platze fühlen, dass sie Schwierigkeiten mit ihrer Besetzung haben, die den Raum für das obszöne Mehrgenießen eröffnet. Wenn ich einen Richterposten besetze, besteht das Mehrgenießen, das ich daraus ziehe, genau darin, dass ich die Dinge gewissenhaft vermassle, während ich mich eng an die Vorschriften halte, das heißt dadurch, dass ich eine übergroße Arbeitsleistung erbringe und übermäßigen Einsatz zeige. Auf diese Ebene gehört auch das Phänomen der Misinterpellation, das von James Martel ausgearbeitet wurde.13 Eine Misinterpellation ist in zwei Richtungen möglich: Zum einen kann ein Subjekt sich in einer Anrufung erkennen, die nicht einmal ausgesprochen wurde, sondern die sich der oder die Betreffende bloß einbildete, so wie der Fundamentalist, der sich in einem Ruf Gottes erkennt. (Man kann allerdings argumentieren, dass dieser Fall allgemein gilt – trifft es nicht generell zu, dass sich das angerufene Subjekt den großen Anderen [Gott, das Land …] vorstellt und glaubt, dieser würde sich an ihn oder sie wenden?) Zum anderen kann ein Subjekt sich in einer Anrufung erkennen, die nicht an seine Person gerichtet war, wie in der bekannten Anekdote darüber, wie Che Guevara Wirtschaftsminister wurde: Bei einem Treffen des inneren Kreises unmittelbar nach dem Sieg der Revolution fragte Fidel: „Ist hier ein Ökonom unter euch?“, worauf Che schnell „Ja!“ antwortete, weil er „Ökonom“ (economista) mit „Kommunist“ (comunista) verwechselte. Ein passenderes Beispiel in dieser Richtung stellt die Anrufung der Individuen als Subjekte von Menschenrechten dar: Als die schwarzen Sklaven in Haiti sich als Subjekte der von der Französischen

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Revolution erklärten Menschenrechte erkannten, haben sie natürlich in gewisser Weise den „Punkt verfehlt“ – die Tatsache, dass die Menschenrechte, obwohl sie ihrer Form nach allgemein sind („alle Menschen“), effektiv die weißen Grundbesitzer privilegierten; dennoch hatte gerade diese „Missdeutung“ explosive emanzipatorische Folgen. Genau darum geht es bei Hegels List der Vernunft: Die Menschenrechte „sollten eigentlich“ nur von den weißen Grundbesitzern anerkannt werden, ihre Wahrheit lag aber gerade in ihrer allgemeinen Form. Demnach war die erste Anrufung falsch, doch die wahre Anrufung konnte sich selbst nur durch die falsche verwirklichen, als deren nachgeordnete Missdeutung. Diese Ineffizienz stößt natürlich manchmal an ihre Grenze und lässt sich nicht mehr durch das Einbinden inhärenter Überschreitungen in das System beherrschen. Wir können uns die Ideologie praktisch als ein autopoetisches System vorstellen, das ein Problem bekommt, wenn die Störungen von außen so groß werden, dass sie sich nicht mehr innerhalb seines Rahmens deuten lassen – so kennzeichnete es etwa die Lage in Russland zu Beginn des Jahres 1917, dass es der herrschenden Ideologie nicht länger möglich war, die (nichtdiskursiven) Störungen „von außen“ (die Kosten eines Krieges, der zunehmend als sinnlos empfunden wurde; die Unzufriedenheit der landlosen Bauern) zu integrieren (beziehungsweise mit ihren Begriffen zu erfassen). Die Bolschewiki gaben einen ganz anderen ideologischen Rahmen vor, der es ermöglichte, diese prädiskursiven Störungen zu integrieren und ihnen erklärend Rechnung zu tragen. Auf ähnliche Weise gelang es Hitler in den 1930er-Jahren, einen neuen Rahmen vorzugeben, der für die nichtideologischen Störungen, von denen Deutschland zu dieser Zeit betroffen war (Wirtschaftskrise, moralischer Verfall und so weiter), eine Erklärung bot. Zu lernen ist aus diesen Beispielen, dass man (transideologische) Störungen von außen zwar einbeziehen und in einer Analyse berücksichtigen sollte, dass der entscheidende Faktor aber die Frage ist, welche Erklärungen (Symbolisierungen) diese Störungen in einem ideologischen Denkgebäude finden. Den politischen Kampf in Deutschland entschied Hitler gegen die Kommunisten und ihre alternative Krisendeutung für sich; natürlich war sein Sieg auch ein Ergebnis außerideologischer Faktoren (Hitler hatte zumeist die Unterstützung durch die rohe Staatsgewalt, verfügte über einen besseren Zugang zu finanziellen Ressourcen und so weiter), der entscheidende Moment war jedoch mit dem Erreichen der ideologischen Vorherrschaft gekommen.

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Über ein Subjekt, das kein Objekt ist Warum übergeht die OOO die Schlüsselfunktion dieser „totalisierenden“ symbolischen Geste, des „Stepppunktes“, wie es bei Lacan heißt? Für Bryant ist jedes autopoetische System in dem Sinne in sich geschlossen, dass es Störungen von außen selektiv deutet, sodass das Ansich sein unzugänglicher blinder Fleck bleibt. Im Falle des Subjekts ist diese Struktur jedoch anders geartet. Der blinde Fleck ist nicht einfach das Kennzeichen der Unzugänglichkeit des transzendenten Ansich, sondern die Einschreibung des erkennenden Subjekts selbst in die Realität – das Loch in der Realität ist nicht einfach der Überschuss des Ansich. Aber ist dies nicht auch die Behauptung der OOO? Unterstreicht sie nicht, dass ein Organismus einer doppelten Schranke unterliegt: Objekte, die auf ihn einwirken, sind in ihrem transzendenten Kern unzugänglich, und zusätzlich ist gerade der Deutungsrahmen, der die Annäherung an die Objekte beschränkt, als solcher unzugänglich? Es ist nicht nur so, dass es Aspekte an den Objekten gibt, die ich nicht sehe; ich sehe ebenso wenig, was ich nicht sehe, das heißt, dass ich mir gerade der Grenze, die das, was ich sehe, von dem trennt, was ich nicht sehen kann, nicht bewusst bin: Da Information auf einer vorherigen Unterscheidung basiert, die Umweltereignissen Informationswert anzunehmen erlaubt, folgt daraus, dass Systeme in ihrer Beziehung zu anderen Objekten immer blinde Flecken enthalten. Womit wir es hier zu tun haben, ist eine Art objektspezifischer transzendentaler Illusion, die ein Ergebnis ihrer Schließung darstellt. Wie es Luhmann in seiner Ökologischen Kommunikation ausdrückt, „kann man auch sagen: Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Das verbirgt sich für das System ,hinter‘ dem Horizont, der für das System kein ,dahinter‘ hat.“ Wenn Systeme nur das sehen können, was sie sehen können, nicht sehen können, was sie nicht sehen können, und nicht sehen können, dass sie dies nicht sehen können, liegt das daran, dass jede Beziehung zur Welt auf systemspezifischen Unterscheidungen basiert, die ihren Ursprung in dem System selbst haben. „Das führt zu dem Schluß“, wie es bei Luhmann an anderer Stelle heißt, „daß der Bezug auf die Realität der Außenwelt durch den blinden Fleck der Erkenntnisoperationen hergestellt wird. Die Realität ist das, was man nicht erkennt, wenn man sie erkennt“. (S. 160)

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Der letzte Satz klingt tatsächlich wie eine Variation von Lacans Leitmotiv des Realen als Unmögliches – dennoch erlaubt uns gerade diese offensichtliche Nähe, eine scharfe Unterscheidungslinie zu ziehen. In der OOO liegt die Unterscheidung zwischen dem virtuellen inneren Wesen eines Objekts (was Harman seinen „vulkanischen Kern“ nennt) und seinen Eigenschaften, die sich in seinen Beziehungen zu anderen Objekten verwirklichen. Stellen wir uns ein ganz neues Rasiergerät vor, das versehentlich in einen Gully fällt, dort nicht wieder herausgeholt wird und langsam auseinanderfällt – in diesem Fall würde sein Potenzial zum Rasieren ein rein virtuelles Vermögen des Gegenstands an sich bleiben und sich nie in einer Beziehung zu anderen Objekten verwirklichen. Man kann natürlich argumentieren, dass solche Beispiele wenig Aussagekraft besitzen: Das Vermögen zum Rasieren hing schließlich an den Beziehungen des Geräts zu anderen Objekten, da es zu diesem Zweck hergestellt wurde. Der Hauptpunkt ist jedoch, dass diese Spaltung weiterhin eine Spaltung zwischen etwas und etwas ist – zwischen dem Erscheinen-in-Beziehungen und dem unerreichbaren „vulkanischen Kern“ eines Objekts. In welchem Sinne also sollte man sagen können, dass sie die Selbstentzogenheit des Objekts impliziert, und nicht bloß den Entzug ihres virtuellen Kerns für andere Objekte, die mit ihm in Wechselwirkung stehen? In gewissem (ganz ungenauem) Sinne könnte man sagen, dass der virtuelle „vulkanische Kern“ im Innern eines Objekts der Oberfläche seiner Beziehungen zu anderen Objekten entzogen ist; dennoch ist dieser innere Kern vollständig da und nicht in irgendeiner Form sich selbst entzogen. Ein solche Selbstentzogenheit ist mit der Selbstspaltung des freudschen Subjekts nur vereinbar, wenn wir diese letztere Spaltung als Spaltung zwischen der Bewusstseinsoberfläche des seiner selbst bewussten Subjekts (was wir das „Ich“ nennen) und der substanziellen „Tiefe“ seiner unbewussten Traumata, Wünsche und so weiter auffassen. Wenn es Selbstentzug gibt, muss es ein Ich oder Selbst geben, dem seine eigene Substanz entzogen ist – und man kann die jeweiligen Beziehungen eines Objekts zu anderen Objekten nicht in irgendeiner sinnvollen Weise als das Selbst dieses Objekts bezeichnen. Wie also sollen wir diesen von Bryant angeführten Passus aus Luhmann deuten: „der Bezug auf die Realität der Außenwelt [wird] durch den blinden Fleck der Erkenntnisoperationen hergestellt […]. Die Realität ist das, was man nicht erkennt, wenn man sie erkennt“? Einmal lässt er sich auf die übliche OOO-Weise auffassen: Die Realität an sich ist der unerreichbare virtuelle Kern der Objekte, und in diesem Sinne ist sie der blinde Fleck unseres Sehens, das, was wir in dem, was wir sehen, nicht sehen. Oder wir können ihn auf eine komplexere Lacan’sche Weise auffassen und ihm einen

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zusätzlichen reflexiven Dreh geben. Danach ist das Reale nicht das Ansich der Objekte außerhalb unseres Erkenntnisbereichs, sondern es besteht in dem „subjektiven Überschuss“ selbst, der unseren Zugang zur Realität verzerrt. Die größte Falle, die es im Zusammenhang mit dem Lacan’schen Realen zu vermeiden gilt, liegt in seiner „Kantianisierung“, das heißt darin, die Lacan’sche Unterscheidung zwischen dem Realen und der Realität als eine Neufassung von Kants Unterscheidung zwischen dem noumenalen Ding an sich und der Erscheinungsrealität zu begreifen. Wenn Lacan in seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse näher auf den im Deutschen bestehenden feinen Unterschied zwischen Ding* und Sache eingeht,14 sperrt er sich gegen die augenscheinliche Lösung, wonach das Ding ein brutales, rohes Reales ist, das außerhalb des Symbolischen besteht oder ihm vorausliegt, wohingegen die Sache ein bereits symbolisiertes Ding und mithin den zu erörternden Gegenstand darstellt (deshalb sprechen wir von der Sache des Denkens und nicht von dem Ding des Denkens). Zwar räumt Lacan ein, dass es sich bei der Sache um ein symbolvermitteltes Ding handelt, „das Wirken von allen und jedem“, und nicht um das Ding an sich, das unabhängig von uns besteht, sondern um die „Sache selbst“, mit der wir alle zu kämpfen haben; er fügt allerdings hinzu, dass das Ding (in einer seiner ursprünglichen Bedeutungen zumindest) sogar stärker „sozial“ ist als die Sache: Es bezeichnet die Versammlung selbst, die Zusammenkunft derer, die sich mit der Sache beschäftigen und sie erörtern werden – in Island beispielweise trägt das Parlament die Bezeichnung Althing („die Zusammenkunft aller“), um an die alte Sitte der jährlichen Zusammenkünfte von Vertretern aller Gruppen zu erinnern, bei denen wesentliche Themen erörtert und wichtige Entscheidungen über das Gemeinschaftsleben getroffen wurden. Wir sollten Ding und Sache also nicht einander als real und symbolisch gegenüberstellen, ebensowenig wie wir Ding und objet a auffassen sollten als das Reale, das dem Symbolischen (der menschlichen Gemeinschaft) vollkommen äußerlich und vorgängig ist, und dem gegenübersteht, was übrigbleibt, sobald das symbolische Universum da ist (objet a als das Übriggebliebene des Prozesses der Symbolisierung des Realen), also das dem Symbolischen äußerlich-innerliche Reale. Dementsprechend sollten wir das Ding und die innerweltlichen Dinge der äußeren Realität („die realen Dinge da draußen“) nicht als das dem Symbolischen radikal äußerliche, das radikal außerhalb der Reichweite und Fassungskraft unserer unbewussten Wünsche und Fantasien bestehende Reale und das durch ein Netz sym* Hier und im Folgenden im Original deutsch.

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bolischer Bestimmungen bereits symbolisierte, strukturierte und wahrgenommene sowie libidinös besetzte Reale gegenüberstellen. Für Lacan ist das Reale qua Ding nicht nur mitnichten das Gleiche wie die Realität an sich, wie die unabhängig von uns und bezuglos zu uns dort draußen bestehenden Dinge; das Ding ist vielmehr ein seltsames, durchweg libidinös verfasstes Ding – es ist eine rein phantasmatische Vorstellung des absolut-inzestuösen Objekts, das unser Begehren vollkommen befriedigen oder das uns die vollkommene jouissance verschaffen würde. (Aus diesem Grund sagt Lacan, dass die Mutter das ultimative Ding darstellt). Anders ausgedrückt, ist das Ding als dem Symbolischen radikal Äußerliches ihm zugleich radikal innerlich, es ist ein Gespenst absoluter Andersartigkeit, das durch den Abstand vom Realen hervorgebracht und vom Symbolischen eingeführt wird. Die einzigen von uns unabhängigen Dinge „da draußen“ sind die einzelnen materiellen Dinge (sofern wir plausibel darlegen können, inwiefern sie unabhängig von uns bestehen); das Ding als der absolute Bezugspunkt hinter und unterhalb dieser Dinge ist genau das, was das Subjekt den Dingen hinzufügt, seine phantasmatische Projektion/Konstruktion. Hegel unterscheidet zwischen Realität und Wirklichkeit. Realität ist für ihn die kontingente, nicht völlig rationale äußere Realität, Wirklichkeit dagegen eine Realität, die einen Begriff verwirklicht, eine Realität, in der sich die innere Notwendigkeit der Vernunft erweist. Nehmen wir etwa einen barbarischen Staat, in dem gesetzlose Gewalt herrscht. Dieser ist zwar Teil der Realität, aber nicht wirklich, weil er nicht die Idee eines Staates verwirklicht (in diesem Sinne ist für Hegel das Wirkliche vernünftig und umgekehrt). Aus Lacan’scher Sicht sollten wir hier eine weitere Unterscheidung einführen und die Wirklichkeit nicht von der Realität, sondern vom Realen abgrenzen: Danach ist Wirklichkeit eine Realität, die eine begriffliche Möglichkeit verwirklicht, sprich, sie ist Realität auf der Ebene ihres Begriffs. Das Reale hingegen ist erstens virtuell: Es ist nicht Teil der Realität, sondern eine Art inexistenter Bezugspunkt ohne Ort in der Realität, der die Realität in eigener Abwesenheit strukturiert. Nehmen wir einen Attraktor in der Mathematik: Alle positiven Linien oder Punkte in seinem Attraktions- bzw. Anziehungsbereich nähern sich ihm bloß auf unendliche Weise an, ohne je seine Form zu erreichen – diese Form besteht rein virtuell, da sie nichts weiter ist als die Gestalt, auf die Linien und Punkte zulaufen. Doch genau in diesem Sinne ist das Virtuelle das Reale dieses Feldes: das unbewegliche Zentrum, um das alle Elemente kreisen. Zweitens ist das Reale ein Hindernis für die Verwirklichung der Potenziale einer Entität, ein X, das diese Verwirklichung verhindert. Das Reale ist etwa das, was einen Mann daran

Über ein Subjekt, das kein Objekt ist

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hindert, ganz Mann zu sein, oder der Klassenkampf, der verhindert, dass die Gesellschaft sich zu einem harmonischen Ganzen gestaltet, oder der Antagonismus der Geschlechter, der verhindert, dass sich die Geschlechterdifferenz zu einer Dualität von männlichen und weiblichen Prinzipien gestaltet. Schließlich ist es drittens eine in keiner vorgängigen Begriffsmöglichkeit gründende kontingente Tatsache ohne Bedeutung, ähnlich dem Ausbruch leidenschaftlicher Liebe „aus dem Nichts“. Diese paradoxen Eigenschaften, die nur als unvereinbar erscheinen können, haben ihren Grund darin, dass das Lacan’sche Reale den „unmöglichen“ Punkt darstellt, in dem die Gegensätze zusammenfallen: Das Reale ist das der (symbolisierten) Realität äußerliche Ansich, zugleich aber ist es das Hindernis, welches das Ansich verstellt und unzugänglich macht; es ist der Überschuss des Inhalts über die Form (denken wir an Platons Frage, ob etwas zu unserer Realität Gehörendes wie Staub oder Exkremente auch durch die Teilhabe an seiner Idee das ist, was es ist) und der Überschuss der Form über den Inhalt (eine reine Form, die sich in keinem Inhalt verwirklichen lässt). Warum also übergeht die OOO wiederum diese reflexive Drehung? Der flachen beziehungsweise nichthierarchischen Ontologie Bryants zufolge sind alle Objekte auf der gleichen Ebene angesiedelt und besitzen die gleiche Realität; dagegen liegen die Sprache und das Geschehen in der materiellen Realität nicht auf der gleichen Ebene, es gibt keinen direkten Berührungspunkt zwischen beiden – während die Sprache die gesamte Realität „spiegelt“, ist sie durch ihren eigenen Horizont beschränkt, durch das, was aus diesem Horizont heraus sichtbar ist, sodass wir, wenn wir darin sind, diese Begrenztheit ebenso wenig sehen können wie das Außen. Aber gilt das nicht für jedes Objekt? Nimmt nicht jedes Objekt seine Umgebung aus einem beschränkenden Rahmen heraus selektiv wahr (und bezieht sich entsprechend auf sie)? Worin also besteht das Missverständnis der Kritik der OOO an Lacan, an seiner angeblich unberechtigten Bevorzugung des Symbolischen als ultimativen Erzeuger und letzten Horizont unserer Realitätserfahrung? Kurz gesagt, fasst die OOO den von Lacan behaupteten Vorrang des Symbolischen als eine Form der transzendentalen Ausnahme auf. Danach rührt alles in der Sprache aus kontingenten empirischen Quellen her – alles, bis auf die Form der Sprache selbst. Es gibt gute Gründe, Lacan auf diese Weise zu lesen. Es besteht für ihn überhaupt kein Zweifel daran, dass jede Sprache in einer konkreten Lebenswelt verankert und als solche von Spuren dieser Welt durchzogen ist: Sprache ist kein neutraler transzendentaler Realitätsrahmen, sie ist völlig durchdrungen oder verzerrt von kontingenten geschichtlichen Kräften, Antagonismen und Wünschen, die ihre Rein-

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heit für immer verdrehen oder verderben. (Lacans Bezeichnung für die von der Pathologie geschichtlicher Kontingenz verzerrte/verdrehte/durchzogene Sprache ist lalangue). Denken wir an Walter Benjamins Aufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in dem Benjamin nicht etwa die Ansicht vertritt, die menschliche Sprache sei eine Spezies irgendeiner universellen Sprache „als solcher“, die auch andere Spezies umfasst: Es gibt keine tatsächlich existierende Sprache außer der des Menschen – um jedoch diese „partikulare“ Sprache begreifen zu können, muss man eine minimale Differenz einführen und sie auf die Lücke bezogen denken, die sie von der Sprache „als solcher“ trennt. Die partikulare Sprache ist somit die „real existierende Sprache“, verstanden als die Serie der tatsächlichen sprachlichen Äußerungen im Unterschied zur formalen sprachlichen Struktur. Diese Benjamin’sche Lektion wird von Habermas verfehlt, der gerade das tut, was man nicht tun sollte – er postuliert die ideale „Sprache überhaupt“ (pragmatische Universalien) unmittelbar als Norm der tatsächlich existierenden Sprache. In Anlehnung an den von Benjamin gewählten Titel sollten wir die Grundkonstellation des Rechts in der Gesellschaft als die des „Rechts überhaupt und seiner obszönen Überich-Unterseite“ beschreiben. Der (partikulare) „Teil“ als solcher ist demnach der uneingelöste und uneinlösbare „Sünden“-Aspekt des Universellen – konkret politisch heißt das, dass jede Politik, die sich selbst in einem Bezug auf irgendeine substanzielle (ethische, religiöse, sexuelle, den Lebensstil betreffende) Partikularität gründet, per definitionem reaktionär ist. Dies ist jedoch nicht alles – und wir sollten diesem „nicht alles“ das ganze Gewicht des Lacan’schen pas-tout geben. Die Tatsache, dass „nichtalles“ der Sprache von gesellschaftlichen Antagonismen durchzogen und mit den Narben gesellschaftlicher Pathologien bedeckt ist, bedeutet nicht, dass es eine Ausnahme gibt, eine Seite der Sprache (in dem Fall ihre Form), die sich nicht auf die gesellschaftliche Realität und ihre Antagonismen zurückführen lässt, da sie den apriorischen Rahmen liefert, durch den wir uns auf die Realität beziehen. Denn gerade weil es nichts gibt, das der sozialen Vermittlung entkommt, ist „nicht-alles“ der Sprache sozial vermittelt: Was der sozialen Vermittlung entkommt, ist nicht etwas von ihr Ausgenommenes, sondern die metatranszendentale soziale Vermittlung eben des sprachlichen Rahmens, durch den wir die Realität erkennen und uns auf sie beziehen. Wenn wir die Sprache als einen Spiegel auffassen, der immer schon von der Pathologie gesellschaftlicher Antagonismen verzerrt/durchzogen ist, lassen wir außer Acht, inwiefern dieser Spiegel selbst ein in die Realität inbegriffener Modus ihrer Verzerrung ist. Die Sprache ist nicht nur durchzogen von Antagonismen/Traumata – das größte Trauma ist das der

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Sprache selbst, der Brutalität, mit der sie das Reale destabilisiert. Das Gleiche trifft auf die Beziehung der Individuen zur Sprache zu: Normalerweise verstehen wir die Äußerungen eines Subjekts mit all ihren Widersprüchlichkeiten als Ausdruck seiner inneren Unruhe, seiner unklaren Gefühle und so weiter; dies gilt sogar für literarische Werke: Aufgabe der psychoanalytischen Deutung sei es, die seelischen Wirren ans Licht zu bringen, die in dem Kunstwerk verschlüsselt zum Ausdruck kommen. In dieser klassischen Darstellung fehlt allerdings etwas. Sprache nämlich registriert nicht lediglich traumatische Seelenzustände oder drückt sie aus, sondern der Eintritt in die Sprache ist selbst eine traumatische Tatsache („symbolische Kastration“). Demnach sollte in das Verzeichnis der Traumata, die wir sprachlich zu bewältigen suchen, die traumatische Wirkung der Sprache selbst Aufnahme finden. Die Beziehung zwischen psychischer Unruhe und ihrem sprachlichen Ausdruck sollte folglich auch umgekehrt werden: Sprache drückt nicht nur einfach psychische Probleme aus; an einem entscheidenden Punkt stellt die psychische Unruhe selbst eine Reaktion auf das Trauma dar, dass wir das „Folterhaus der Sprache“ bewohnen. Dass nicht-alles der Sprache von gesellschaftlichen Antagonismen durchzogen ist, hat seinen Grund in Folgendem: Die Sprache stellt nicht bloß ein dem gesellschaftlichen (sexuellen und so weiter) Antagonismus in der Gesellschaft ausgesetztes Medium dar, vielmehr ist sie selbst ihrer eigentlichen Form nach auf eine Weise antagonistisch, die es einzubeziehen gilt; diese Ergänzung macht aus der Totalität ein Nicht-Alles und inkonsistentes Ganzes. Oder, um es anders auszudrücken: Die Sprache kann nicht der Realität zugerechnet werden, weil das, was uns als Realität erscheint, bereits durch einen Bedeutungsrahmen transzendental konstituiert ist, der von der Sprache aufrechterhalten wird. Wir müssen hier eine Unterscheidung zwischen der transzendental konstitutierten Erscheinungsrealität und dem Realen einführen; konsequenter Materialist ist man nicht dadurch, dass man das Subjekt unmittelbar als ein Objekt unter Objekten der Realität zurechnet, sondern indem man das Reale des Subjekts heraushebt und aufzeigt, wie die Entstehung der Subjektivität als Schnitt im Realen wirkt.

Widerstand, Stauung, Wiederholung Wie geht man dazu vor? Den Schlüssel dafür liefert die echt spekulative Ambiguität des Widerstands in der von Rebecca Comay entfalteten Darstellung. Danach heißt Widerstand zu leisten gegen die bestehende Ordnung aufzubegehren, sie für neue Entwicklungen zu öffnen und Veränderung zu fordern (wie in der französischen Résistance gegen die deutsche

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Besatzung oder beim Eintreten der politischen Linken für „Orte des Widerstands“), es kann jedoch auch die konservative Abwehrhaltung gegenüber Veränderung und Fortschritt bezeichnen und die darin wirksame Beharrungskraft (wie bei den konservativen Katholiken, die sich gegen Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe zur Wehr setzen). Diese Ambiguität kennzeichnet den Freud’schen Widerstandsbegriff in seinem eigentlichen Kern. Widerstand ist danach nicht nur die dem Fortschritt der analytischen Behandlung entgegenwirkende Kraft (unbewusste Wünsche erwehren sich ihrer Offenlegung, Symptome geben ihre Bedeutung nicht preis), damit kann auch gemeint sein, was sich der erdrückenden sozial-ethischen Ordnung widersetzt und sich von ihr befreien will. (Ein klassischer Fall: Ein Subjekt drückt seinen Widerstand gegen die normierende Struktur, die es daran hindert, sich obszönen Wünschen hinzugeben, durch ein Hysteriesymptom aus.) Der Punkt ist natürlich der, dass sich diese Ambiguität nicht durch zwangsweise Einführung einer Unterscheidung zwischen den beiden Bedeutungen des Ausdrucks auflösen lässt – die Ambiguität ist immanent, beide Bedeutungen stehen miteinander im Zusammenhang. Der Widerstand gegen die analytische Behandlung stellt nicht bloß ein Hindernis dar, er eröffnet zugleich die Möglichkeit eines Zugangs zum Unbewussten. Jede Analyse ist daher letztlich eine Analyse von Widerständen: Wenn sich der Patient einem Vorschlag des Analytikers in irgendeiner Form widersetzt, ist das ein Hinweis darauf, dass ein sensibler Punkt getroffen wurde. Oder, wie Lacan es prägnant ausdrückt, Verdrängung und die Rückkehr des Verdrängten sind zwei Seiten desselben Phänomens. Ein solches Zusammenfallen der Gegensätze erhält im Begriff der Stauung seinen Selbstbezug: Stauung bezeichnet Stabilität, Unbeweglichkeit, das Gegenteil von Veränderung und dennoch zugleich Veränderung, Störung der bestehenden Dingordnung durch übermäßige Fixierung, ein zu starkes Hervorstehen. Stellen wir uns einen normalen Verlauf der Dinge vor, den Kreislauf des Lebens aus Werden und Vergehen – und dann geschieht etwas Seltsames, nicht etwas Neues, sondern bloß eine Art Fixierung. Statt der ständigen Zirkulation, die die globale Stabilität gewährleistet, bringt die Fixierung auf ein einzelnes Element (ein spezifisches Objekt der Leidenschaft) die Stabilität des ganzen Prozesses ins Wanken. Trieb ist der Freud’sche Name für eine solche Fixierung: ein wiederholtes Feststecken, das den gleichmäßigen Lauf der Dinge unterbricht. Vielleicht sollten wir auch Benjamins Dialektik im Stillstand so lesen: nicht als eine Absage an die dialektische Bewegung, sondern als eine Stauung, die das fragile Gleichgewicht des betreffenden Ganzen stört. Braucht es nicht eine solche Dialektik im Stillstand in der globalen kapitalistischen Gesellschaft von

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heute, deren monotone Dynamik nur durch irgendeine Art unnachgiebiger Stauung unterbrochen werden kann? Dies bringt uns zu Hegel zurück. Ist sein Beispiel eines solchen „Feststeckens“ nicht das Judentum? Statt sich mit dem Zeitgeist zu verändern, statt am geschichtlichen Fortschritt teilzunehmen, verharrten die Juden hartnäckig in einem partikularen Entwicklungsstadium der Geschichte, haben sich lächerlicherweise an ihren willkürlichen Ritualen und Regeln festgeklammert und die mit dem Christentum kommende Freiheit zurückgewiesen. Doch liegen die Dinge wirklich so einfach? Spielt Hegel einfach nur die alte antisemitische Karte aus? Ist das jüdische „Feststecken“ für ihn nicht vielmehr eine Bedingung des christlichen Ereignisses? Und handelt es sich bei dem christlichen Ereignis nicht um den Fall eines sogar noch gründlicheren Feststeckens – der Fixierung auf eine einzelne Person als lebendigen Gott? Einen anderen Aspekt dieser Ambiguität der Stauung stellt die Parallele zwischen den beiden Extremen dar, die für die psychoanalytische Deutung ebenso kennzeichnend sind wie für die dialektische Analyse. Das dialektische Denken pendelt zwischen den beiden Extremen der mechanischen Anwendung triadischer Formeln (es gibt keine Überraschung, das Ergebnis steht im Vorhinein fest) und der chaotischen Improvisation (der Ablauf gerät durcheinander, es ist nicht klar, in welcher Form sich Hegel aus einer Sackgasse hinausimprovisieren wird). Auch die Deutung nach Freud pendelt zwischen den beiden Extremen der mechanischen Auferlegung der üblichen Freud’schen Klischees (Ödipuskomplex et cetera), die im Vorhinein über den Verlauf der Deutung entscheidet, und der „unendlichen Analyse“ als dem endlosen Prozess der Entdeckung immer neuer unbewusster Verbindungen; dadurch ist die Deutung immer zugleich schon beendet (wir kennen ihren Endpunkt bereits im Vorhinein) und für immer gefangen im unendlichen Gewirr willkürlicher Verbindungen: Es besteht keine Möglichkeit zu einem Abbruch: Entweder man gelangt nie dorthin oder man ist immer schon dorthin gelangt, und es wird sich in jedem Fall herausstellen, dass es genau das Phantasma des „Dort“ war, das letztlich verhinderte, dass man es erreichte. Dies bringt uns zu dem zentralen Paradox der Psychoanalyse, das auch das wesentliche Paradox der Dialektik darstellt und einen Teil ihrer andauernden Provokation ausmacht. Andererseits bildet der Widerstand das Grundhindernis der Analyse. Mit ihren dauernden Abschweifungen, Ablenkungen und Ausflüchten sind die Widerstände gegenüber der Analyse jedes Mal nahe daran, sie für immer scheitern zu lassen. An-

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dererseits gäbe es ohne Widerstand, ohne Verzögerung, nichts als „wilde Analyse“ – was bedeutet, dass es überhaupt keine Analyse gäbe, sondern bloß den Schatten, der von der allwissenden Instanz des Analytikers oder auch nur der Analyse als personifiziertes Subjekt-das-wissen-soll ausgeht. Jede Wahrheit, die sich unmittelbar und ohne Hemmnis darbietet, ist selbst ein Hemmnis – eine leere Abstraktion, ein Fetisch reiner und von der Geschichte abgeschnittener Bedeutung, ein Stück blinder Theorie, das dem Analysanden aufgedrängt wird, ohne dass damit etwas in ihm oder ihr ausgelöst beziehungsweise bewegt werden könnte. Damit sich die Bedeutung formulieren lässt, muss damit gewartet werden: Das Urteil muss aufgeschoben werden; jede die Wahrheit, den Wert oder den Sinn betreffende Entscheidung muss ausgesetzt werden.15 Die Regel in der Psychoanalyse wie auch im dialektischen Prozess lautet somit, dass es keinen „normalen“ Fortschritt gibt, kein richtiges Maß zwischen den beiden Extremen der hastigen Herbeiführung eines vorzeitigen Abschlusses und des endlosen Umherwanderns in einem labyrinthischen Gewirr von Wegen und Irrwegen. Hemmnis, Beharrung, blinde Wiederholungen, sinnlose Fixierungen und so weiter sind überflüssig und notwendig zugleich. Nach einem der ewigen gegen sein Denken erhobenen Einwände hat Hegel jeden Antagonismus immer automatisch radikalisiert und dadurch aufgelöst – doch was, wenn die Dinge einfach steckenbleiben und in Unbeweglichkeit verharren? Darauf ist zu erwidern, dass dies im dialektischen Prozess ständig vorkommt, was deswegen aber noch lange nicht dessen peinliches Scheitern bedeutet – in Hegels Logik sehen wir dieses Stocken von Anfang an. Damit stellt sich die Frage, wie man nun vom Sein zum Nichts gelangt („übergeht“). Das Sein bleibt in sich selbst stecken, es kommt zu keinem Übergang zur Pluralität von Entitäten, und genau dieses Feststecken des reinen Seins macht aus ihm eine Gestalt des Nichts. Das Gleiche gilt für die Phrenologie (die in einem toten Knochen steckengebliebene Entwicklung), den revolutionären Terror (den in einem Strudel der Selbstzerstörung gefangenen Prozess) und anderes. Die Lösung besteht, kurz gesagt, nicht in einem Pendeln zwischen den Extremen, sondern in der Isolierung des Punkts, an dem die Gegensätze zusammenfallen: des Punkts, an dem eine plötzliche radikale Schließung die einzige Möglichkeit darstellt, um den Horizont, anders als bei der falschen evolutionären Offenheit, wirklich offenzuhalten (eben darauf zielt Hegel mit seinem absoluten Wissen ab), sowie des Punkts, an dem die plötzliche Schließung sich als „Wahrheit“ der endlosen Offenheit selbst herausstellt. Dies bringt

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uns zu dem „eigentümlichen spekulativen Wiederholungszwang“16 zurück, der eine Schlüsselrolle im spekulativen Urteil spielt. Es sind nicht direkt die objektiven Eigenschaften eines Urteils, die aus ihm ein spekulatives Urteil machen, sondern es ist die Art, wie es gelesen wird: Wie üblich versucht man, den entsprechenden Passus zu durchdringen und sich seiner Bedeutung anzunähern, dann aber bleibt man stecken, weil die Dinge nicht zusammenhalten. Die Textstelle widersetzt sich dem Verständnis und so ist man gezwungen, an den Anfang zurückzugehen und den Satz auf andere Weise noch einmal zu lesen. Es gibt keine Möglichkeit, ein solches Urteil gleich richtig zu lesen, weil la vérité surgit de la méprise, weil die eigentliche Bedeutung nur durch die Reaktion – des Lesers – auf die erste Lesart hervortritt. Darin besteht das Paradox eines spekulativen Urteils: Die subtilste Bedeutung kann nur durch eine Unterbrechung oder eine Hemmung hervortreten, dadurch, dass man erfährt, dass „etwas nicht funktioniert“: Es ist die Unterbrechung, die eine Wiederholung bewirkt; sie ist deren Ursache, sie sorgt dafür, dass man wieder zu dem Satz selbst zurückgeht. Deshalb spricht Hegel [in seinen Heidelberger Logikvorlesungen 1817] auch von „Erfahrung“, denn Erfahrung ist offensichtlich mit Unterbrechung verbunden, mit Widerstand sozusagen. Erfahrung ist immer Erfahrung von etwas, das nicht funktioniert, von etwas, das den normalen Lauf der Dinge hemmt, und also von Widerstand. […] Der spekulative Satz leistet Widerstand. Er widersteht den üblichen Denkmustern, und dieses Widerstehen ist sein erstes wesentliches Kennzeichen. Widerstand ist notwendig und unmöglich zugleich (denken wir daran, dass es sich hierbei um das bestimmende Merkmal dessen handelt, was bei Lacan das Reale heißt). Worin besteht dieser Fehlschlag näher betrachtet? In seiner grundlegendsten Form betrifft er die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des spekulativen Urteils. Nehmen wir etwa „Der Geist ist ein Knochen“, Hegels „unendliches Urteil“ aus dem Unterkapitel über die Phrenologie in seiner Phänomenologie des Geistes – wie sollte es als ein spekulatives Urteil gelesen werden? Die erste, unmittelbare Lesart reduziert es auf die vulgärste Version des materialistischen Reduktionismus: Unser edelster Teil, unser geistiges Wesen, ist durch die Form unseres Schädels bestimmt – eines Knochens, der den mechanischsten und „am meisten toten“ Teil unseres Körpers darstellt. (Die heute beliebtere Version eines reduktionistischen „unendlichen Urteils“ dieser Art lautet: „Der Geist ist ein Genom“.)17 Eine solche Behauptung hält den Fluss auf, führt uns in eine Sackgasse, ergibt

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überhaupt keinen Sinn – besteht zwischen dem Geist (der subtilsten Bedeutungsdynamik) und einem Knochen (dem unbeweglichen Stück toter Materie) nicht ein radikaler Gegensatz, ein Widerspruch gar? Was der Leser sich beim zweiten Lesen klarmachen muss, ist, dass dieser Widerspruch, diese unerträgliche Spannung, das Subjekt ist, die Disparität oder Negativität, die den Kern eines Subjekts bildet. Das Subjekt tritt als der Punkt des Widerstands gegen seine Objektivierung hervor. In diesem Sinne sollte die idealistische Grundaussage „das Subjekt ist ein Objekt“ als spekulatives Urteil gelesen werden: Ihre Wahrheit besteht nicht darin, dass das Subjekt eine Art absoluter Substanz darstellt, die jede Objektivität begründet/konstituiert, sondern darin, dass das „Subjekt“ genau der Zusammenstoß/die Disparität zwischen Subjekt und Objekt ist, was sich an ihrer Identifikation nachvollziehen lässt – oder, genauer noch, es gibt nur Objekte, und das „Subjekt“ ist nichts als die äußerste Nichtübereinstimmung des Objekts mit sich selbst. Was gewinnen wir daher, wenn wir die Aussage auf diese gewundene Weise formulieren, statt direkt zu sagen, dass „das Subjekt kein Objekt ist“? Wenn wir es direkt sagen, setzen wir das Subjekt als eine weitere Entität neben den „gewöhnlichen“ Dingen, und dabei geht eben verloren, dass das „Subjekt“ nichts als die Nichtübereinstimmung eines Objekts mit sich selbst ist. Auf diese Weise gilt es Hegels Behauptung zu verstehen, dass „die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält“.18 Dieses Paradox des absoluten Gegenstoßes – des Gegenstoßes, der rückwirkend das erzeugt, wovon er abprallt – erklärt das Schlüsselelement von Freuds Theorie, der „Theorie der Arbeit des Unbewussten“,19 die parallel zur „Arbeitswerttheorie“ konzipiert werden sollte: Der unbewusste „Wert“ eines Traums ist ausschließlich das Ergebnis der „Traumarbeit“, nicht der Traumgedanken, die genauso der transformierenden Regie der Traumarbeit unterliegen, wie der Wert einer Ware von der für sie aufgewendeten Arbeit bestimmt wird. Das Paradoxe ist hier, dass die Verschlüsselung/Verschleierung des Traumgedankens, seine Übertragung in das Traumgewebe, den eigentlich unbewussten Trauminhalt erzeugt. Wie Freud hervorhebt, ist das wirkliche Geheimnis eines Traums nicht sein Inhalt (die „Traumgedanken“), sondern die Form selbst: Die latenten Traumgedanken sind der Stoff, den die Traumarbeit zum manifesten Traum umbildet. […] Das einzig Wesentliche am Traum ist die Traumarbeit, die auf den Gedankenstoff eingewirkt hat. […] Die

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analytische Beobachtung zeigt denn auch, daß die Traumarbeit sich nie darauf beschränkt, diese Gedanken in die Ihnen bekannte archaische oder regressive Ausdrucksweise zu übersetzen. Sondern sie nimmt regelmäßig etwas hinzu, was nicht zu den latenten Gedanken des Tages gehört, was aber der eigentliche Motor der Traumbildung ist. Diese unentbehrliche Zutat ist der gleichfalls unbewußte Wunsch, zu dessen Erfüllung der Trauminhalt umgebildet wird. Der Traum mag also alles mögliche sein, insoweit Sie nur die durch ihn vertretenen Gedanken berücksichtigen, Warnung, Vorsatz, Vorbereitung usw.; er ist immer auch die Erfüllung eines unbewussten Wunsches, und er ist nur dies, wenn Sie ihn als Ergebnis der Traumarbeit betrachten. Ein Traum ist also auch nie ein Vorsatz, eine Warnung schlechtweg, sondern stets ein Vorsatz u. dgl., mit Hilfe eines unbewußten Wunsches in die archaische Ausdrucksweise übersetzt und zur Erfüllung dieser Wünsche umgestaltet. Der eine Charakter, die Wunscherfüllung, ist der konstante; der andere mag variieren; er kann seinerseits auch ein Wunsch sein, so daß der Traum einen latenten Wunsch vom Tage mit Hilfe eines unbewußten Wunsches als erfüllt darstellt.20 Die Schlüsselerkenntnis ist natürlich die „Triangulation“ aus latentem Traumgedanken, manifestem Trauminhalt und dem unbewussten Wunsch, die den Geltungsbereich des hermeneutischen Modells der Traumdeutung (den Weg vom manifesten Trauminhalt zu dessen verborgener Bedeutung, dem latenten Traumgedanken), welche sich entgegengesetzt zum Weg der Traumbildung bewegt (die Umsetzung des latenten Traumgedankens in den manifesten Trauminhalt durch die Traumarbeit), begrenzt oder vielmehr direkt unterminiert. Das Paradoxe daran ist, dass diese Traumarbeit nicht bloß einen Prozess der Maskierung der „wahren Bedeutung“ des Traumes darstellt: Der wahre Kern des Traums, sein unbewusster Wunsch, schreibt sich selbst nur durch diesen Maskierungsprozess ein, sodass wir in dem Moment, da wir den Trauminhalt in den in ihm ausgedrückten Traumgedanken zurückübersetzen, die „wahre Motivation“ und eigentlich bewegende Kraft verlieren – kurz gesagt, ist es der Maskierungsprozess selbst, der in den Traum dessen wahre Bedeutung einschreibt. Darum sollte man die übliche Vorstellung, wonach wir immer tiefer in den Traumkern eindringen, umkehren: Es ist nicht so, dass wir uns zuerst vom manifesten Trauminhalt zu dem eine Ebene darunter liegenden Geheimnis, dem latenten Traumgedanken, bewegen und dann noch einen Schritt tiefer zum unbewussten Kern des Traums, dem unbewussten Wunsch, gehen. Der „tiefere“ Wunsch siedelt sich genau in der Lücke zwischen dem latenten Traum-

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gedanken und dem manifesten Trauminhalt an. Nur durch die „Theorie der Arbeit des Unbewussten“ ist es uns möglich, Freuds Vergleich der Traumarbeit mit dem kapitalistischen Produktionsprozess richtig zu verstehen. Um die Unterscheidung zwischen dem in einem Traum verschlüsselten (bewussten) Wunsch und dem unbewussten Begehren des Traums zu erläutern, vergleicht Freud den Wunsch mit einem Unternehmer und das unbewusste Begehren mit dem Kapital, das die Übertragung dieses Wunsches in einen Traum finanziert (die libidinösen Kosten dafür trägt): Um es in einem Gleichnisse zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, daß ein Tagesgedanke die Rolle des Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und den Drang, sie in die Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und dieser Kapitalist, der den psychischen Aufwand für den Traum beistellt, ist alle Male und unweigerlich, was immer auch der Tagesgedanke sein mag, ein Wunsch aus dem Unbewussten.21 Bei oberflächlichem Lesen wirkt es vielleicht so, als sei die eigentliche Arbeit (die Traumarbeit) lediglich ein Mittler zwischen bewusstem Wunsch und unbewusstem Kapital: Der Unternehmer (der bewusste Wunsch) leiht sich vom Unbewussten das Kapital, um damit seine Übertragung in die Traumsprache zu finanzieren. Wir müssen hier allerdings den Nachdruck berücksichtigen, mit dem Freud darauf beharrte, dass das unbewusste Begehren den Traum nur durch die Traumarbeit „infiziert“: Die alleinige Quelle des unbewussten Begehrens ist die Arbeit der Verschlüsselung beziehungsweise der Maskierung der Traumgedanken; außerhalb dieser Arbeit verfügt es über kein substanzielles Sein.

Spekulatives Urteil Das Paradox des „absoluten Gegenstoßes“ liefert somit die formale Struktur eines Subjekts: (Das X, das) ein Subjekt (gewesen sein wird,) sucht sich in einem Signifikanten zur Darstellung zu bringen, das Vorhaben scheitert, und das Subjekt ist dieses Scheitern (der Darstellung oder Repräsentation von sich). Anders ausgedrückt, sucht ein Subjekt eine bestimmte Realität zu subjektivieren/symbolisieren (in sein Bedeutungsuniversum zu integrieren); immer aber ist da irgendein Rest, der sich der Subjektivierung/Symbolisierung widersetzt, und das Subjekt korreliert genau mit diesem (von Lacan objet petit a genannten) nichtsymbolisierten Rest. Das Subjekt ist

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somit wiederum das Produkt des Scheiterns der Subjektivierung. Mit der Sprache verhält es sich ähnlich paradox: Das Subjekt ist eine Verzerrung der Sprache, es ist das, was die Sprache an der neutralen Spiegelung der Realität hindert, das, was die Symmetrie eines symbolischen Gedankengebäudes stört und ihm eine pathologische Einseitigkeit einschreibt. (Die Einschreibung durch das Subjekt erfolgt in S1, dem Herren-Signifikanten, der das Subjekt für andere Signifikanten repräsentiert. Deshalb setzt der nach Objektivität strebende Diskurs der Wissenschaft Lacan zufolge auf den Ausschluss des Subjekts.) Ziehen wir aber die subjektive Verzerrung von der Sprache ab, verlieren wir sie selbst: Die Sprache existiert nur als verzerrte, beschränkte, von ihrer eigenen Unmöglichkeit durchkreuzte Sprache. Von hier aus bekommen wir eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein spekulatives Urteil funktioniert. Das Denken „erwartet ein Prädikat, das einem Subjekt zugewiesen wird, stößt im Prädikat aber auf die Substanz des Prädikats. Dadurch ist das Subjekt nicht mehr das, was es zu sein meinte, und dies gilt genauso für das Prädikat wie für das Verhältnis beider.“ Kommen wir auf „Der Geist ist ein Knochen“ zurück: Nach dem Beginn („Der Geist ist …“) erwartet der Leser ein Prädikat, das dem Geist zugewiesen wird und ihn dadurch bestimmt; das Prädikat ist jedoch derart überwältigend und seltsam, dass es das Subjekt zu vernichten scheint. Der „Knochen“ (der für die träge stoffliche Substanz steht) funktioniert nicht als Prädikat, sondern wird zu einer eigenen Substanz, die für das Subjekt keinen Platz lässt – oder, um es mit Hegel zu sagen: Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es [das vorstellende Denken], indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbstständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten.22 Welchen Weg gibt es aus dieser Blockierung heraus? Wieso und inwiefern „erscheint das Subjekt wieder im Prädikat“? Dazu formuliert Ruda prägnant: Der Leser „wird in das Subjekt zurückgeworfen, das sich von Grund auf verändert hat. Es hat nämlich ebendie stabile Substanz verloren, die ihm vom vorstellenden Denken zugeschrieben wurde, und genau dieser Verlust der Substanz (das heißt ein leeres Subjekt) erscheint wieder im Prädikat.“ Kurz gesagt, erscheint das Subjekt wieder in Gestalt eines völligen „Widerspruchs“, einer äußersten Negativität. Und das bedeutet, dass der Leser die Vorstellung des Geistes als eine „stabile Substanz“ hinter sich lassen und

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das Subjekt als dasjenige anerkennen muss, was von der materiellen Substanz (Knochen) als seiner Leere, seinem negativen Kern „zurückprallt“. Der Geist, mit dem wir begonnen haben, war eine volle und beständige geistige Substanz, der wieder hervortretende Geist ist der reine „Geist des Widerspruchs“, der vergängliche Punkt einer selbstbezüglichen Negativität, die Leere (in) der Substanz. Ein spekulatives Urteil umfasst somit die Erfahrung eines Verlusts – wohlgemerkt verbunden mit einem Dreh. Was aus echt dialektischer Sicht in der Erfahrung eines Verlusts (des Verlusts von etwas Substanziellem) verloren wird, ist letztlich der Verlust selbst, seine eigentliche Selbstbezüglichkeit: Das Objekt, das wir als verloren erfahren, füllt die Lücke des Verlusts auf. Demnach erfolgt in der Verlusterfahrung eine Art Zeitumkehr: Zwar scheint das Verlorene dem Verlust vorauszugehen, tatsächlich aber kommt zunächst der Verlust und jedes Objekt, das als verloren erfahren wird, ist eine rückwirkende Bildung, welche die durch den Verlust entstandene Lücke auffüllt. Anders gesagt, besteht das, was in der Erfahrung eines Verlusts verschleiert wird, in dem Umstand, dass ein Verlust immer der Verlust eines Verlusts ist: Um zur radikalsten Verlustdimension zu kommen, gilt es, das verlorene Objekt selbst zu verlieren. Ein perfektes Beispiel eines solchen Verlusts ist der Kampf für die Emanzipation der Schwarzen in den Vereinigten Staaten, und dabei vor allem die von Malcom X 1964 vollzogene Haltungsänderung, die eine herausragende ethisch-politische Leistung darstellt. Während er im Gefängnis saß, schloss sich Malcom X der Nation of Islam an, und nachdem er 1952 auf Bewährung freigekommen war, engagierte er sich im Kampf der Organisation, vertrat die Ideologie der black supremacy und befürwortete die Trennung von Afroamerikanern und Weißen – die „Integration“ war für ihn ein künstlicher Versuch der Schwarzen, den Weißen gleich zu werden. 1964 allerdings lehnte er die Nation of Islam ab, und während er sich weiter für die Selbstbestimmung der Schwarzen und ihr Recht auf Selbstverteidigung einsetzte, distanzierte er sich von jeder Form von Rassismus und vertrat einen emanzipatorischen Universalismus; als Konsequenz seines „Betrugs“ wurde er im Februar 1965 von drei Mitgliedern der Nation of Islam ermordet. Als Malcolm das „X“ als seinen Familiennamen annahm, brachte er damit zum Ausdruck, dass die Sklavenhändler seine Vorfahren durch die Verschleppung aus der Heimat auf brutale Weise ihrer Familie und ihrer ethnischen Wurzeln und damit verbunden auch ihrer ganzen kulturellen Lebenswelt beraubt hatten. Es ging ihm mit dieser Geste aber nicht darum, die Schwarzen zum Kampf für eine Rückkehr zu ihren afrikanischen Urwurzeln zu mobilisieren. Vielmehr wollte er die durch das X gebotene

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Chance auf einen neuen Anfang ergreifen, wollte eine unbekannte neue (fehlende) Identität erobern, die gerade von dem Prozess der Sklaverei ausging, der dafür gesorgt hatte, das die afrikanischen Wurzeln für immer verloren sind. Die Idee ist, dass dieses X den Schwarzen zwar ihre partikularen Traditionen nimmt, dafür aber eine einmalige Gelegenheit gibt, sich neu zu definieren (neu zu erfinden), eine neue und frei gewählte Identität auszubilden, die viel universeller ist als die vorgebliche Universalität der Weißen. Obwohl Malcolm X diese neue Identität im Universalismus des Islam fand, wurde er von muslimischen Fundamentalisten getötet. Hierin zeigt sich die schwere Entscheidung, die es zu treffen gilt: Ja, die Schwarzen werden im alltäglichen Zusammenleben marginalisiert und ausgebeutet, gedemütigt und verspottet und auch gefürchtet; ja, sie erleben täglich die Heuchelei der liberalen Freiheit und des Menschenrechts; im gleichen Zug aber erfahren sie das Versprechen wahrer Freiheit, der gegenüber die bestehende Freiheit eine falsche ist – diese Freiheit ist es, vor der Fundamentalisten fliehen. Der wahre Verlust ist folglich nicht der Verlust der authentischen afrikanischen Wurzeln, sondern der Verlust dieses Verlusts selbst: Wenn ein Schwarzafrikaner versklavt und seiner Wurzeln beraubt wird, verliert er in gewisser Hinsicht nicht nur diese Wurzeln, sondern erkennt rückwirkend, dass er über diese Wurzeln nie wirklich ganz verfügte. Was er nach diesem Verlust als seine Wurzeln erfährt, ist eine rückwirkende Einbildung, eine Projektion, die die Leere ausfüllt. Und das Gleiche trifft auf die Menschenrechte zu: Ja, man kann den partikularen Inhalt, der dem Menschenrechtsbegriff den spezifischen ideologischen Dreh gibt, schlüssig aufzeigen; ja, die allgemeinen Menschenrechte sind im Endeffekt die Rechte der weißen männlichen Grundbesitzer auf freien Marktaustausch, auf Ausbeutung von Arbeitern und Frauen sowie auf Ausübung politischer Herrschaft. Das ist jedoch nur die eine Hälfte der Geschichte: Wenn wir die Diskrepanz zwischen der falschen Universalität der Menschenrechte und all den einzelnen Ungerechtigkeiten, die diese allgemeine Form rechtfertigt, erfahren, sollten wir uns davon nicht drängen lassen, die Rechte und Freiheiten der Menschen als einen Schwindel abzutun und aufzugeben. Vielmehr sollten wir anfangen für diese Inhalte zu kämpfen. Ist der Kampf für die Menschenrechte nicht insgesamt auch der Kampf für diese Inhalte? Zunächst waren es die Frauen (angefangen bei Mary Wollstonecraft), die gleiche Rechte forderten, dann taten es ihnen die Sklaven von Haiti in dem ersten erfolgreichen Schwarzenaufstand gleich (wofür sie noch heute bestraft werden) und so weiter. Ein ideologischer Prozess ist seiner Grundform nach also keine allmähliche Verfälschung eines authentischen Anfangs, sondern vielmehr das all-

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mähliche Wahrwerden eines gefälschten Anfangs. Das Argument der „Heuchelei“ greift darum viel zu kurz: Wenn man in dem, was der Westen als Freiheit und Gleichheit verkauft, einen Schwindel erkennt, der die real existierenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse verdeckt, sollte man sie darum nicht als solche zurückweisen und als bloße heuchlerische Herrschaftsmaske abtun. Richtig wäre es vielmehr, sich für das einzusetzen, was Freiheit und Gleichheit bedeuten, und diese Verbindung mit neuem Inhalt füllen. Wenn man einfach die allgemeine Form aufgibt, landet man schließlich beim stalinistischen Kommunismus, der, nachdem er die westliche Freiheit als falsch und „rein formell“ gebrandmarkt hatte, die Freiheit schlechthin abschaffte. Oder man findet sich in der seltsamen Position von Jacques Verges wieder, der, nachdem er bitter erfahren hatte, wie das demokratische Frankreich die Algerier behandelte, schließlich Neonazis und Pol Pot verteidigte. Hegel bezeichnete dieses Paradox im Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein (dem denkenden Subjekt) klar als seiner Form nach böse: „Bösesein“ heißt abstrakt, mich vereinzeln, die Vereinzelung, die sich abtrennt vom Allgemeinen – dies ist das Vernünftige, die Gesetze, die Bestimmungen des Geistes. Aber mit dieser Trennung entsteht das Fürsichsein und erst das Allgemeine, Geistige, Gesetz – das, was sein soll. Es ist also nicht, daß die [vernünftige] Betrachtung zum Bösen ein äußeres Verhältnis hat, sondern das Betrachten selbst ist das Böse.23 Sagt die Bibel nicht genau das Gleiche? Die Schlange verspricht Adam und Eva, dass sie selbst wie Gott werden, wenn sie vom Baum der Erkenntnis essen, und nachdem sie beide von den Früchten gegessen haben, sagt Gott: „Siehe, Adam ist geworden wie unser einer“ (Gen 3,22). Dazu bemerkt Hegel: „Die Schlange hat also nicht gelogen; Gott bestätigt, was sie sagte“. Im Fortgang weist er die Behauptung zurück, Gott meine, was er sage, ironisch. „Die Erkenntnis ist das Prinzip der Geistigkeit, die aber […] auch das Prinzip der Heilung des Schadens der Trennung ist. Es ist in diesem Prinzip des Erkennens in der Tat auch das Prinzip der Göttlichkeit gesetzt“.24 Das subjektive Erkennen ist nicht einfach die Möglichkeit, das Böse oder Gute zu wählen, „es [ist] die Betrachtung oder die Erkenntnis […], die ihn [den Menschen] böse mache, so daß sie das Böse sei, und [dass darum] diese Erkenntnis es sei, die nicht sein soll, die der Quell des Bösen sei“.25 In diesem Sinne sollte man Hegels Diktum aus der Phänomenologie des Geistes verstehen, wonach das Böse der Blick selbst ist, der überall um sich herum Böses erkennt. Der Blick, der überall Böses sieht, schließt sich selbst aus

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dem gesellschaftlichen Ganzen, das er kritisiert, aus, und dieser Ausschluss ist das formale Kennzeichen des Bösen. Hegel zufolge aber entsteht das Gute als Möglichkeit und Pflicht nur aufgrund dieser ursprünglichen oder konstitutiven Wahl des Bösen. Wir erfahren das Gute, wenn uns nach der Wahl des Bösen die völlige Unzulänglichkeit unserer Lage bewusst wird. Auch hier erschafft der Sündenfall die Vorstellung des Zustands, von dem er ein sündiger Abfall ist. Es gilt daher, die gnostische Auffassung zurückzuweisen, nach der das Böse zur Materie gehört; aus gnostischer Sicht ist der Sündenfall in seiner grundlegendsten Form der „Übergang des Unstofflichen zum Stofflichen“, wie es Thomas Mann in der berühmten Passage im Zauberberg ausdrückt: Und das Leben für sein Teil? War es vielleicht nur eine infektiöse Erkrankung der Materie – wie das, was man die Urzeugung der Materie nennen durfte, vielleicht nur eine Krankheit, eine Reizwucherung des Immateriellen war? Der anfänglichste Schritt zum Bösen, zur Lust und zum Tode war zweifellos da anzusetzen, wo, hervorgerufen durch den Kitzel einer unbekannten Filtration, jene erste Dichtigkeitszunahme des Geistigen, jene pathologisch üppige Wucherung seines Gewebes sich vollzog, die, halb Vergnügen, halb Abwehr, die früheste Vorstufe des Substantiellen, den Übergang des Unstofflichen zum Stofflichen bildete. Das war der Sündenfall.26 Man sollte hier genauer sein: Die Materie als solche ist nicht böse, sie ist lediglich dumm – als bedeutungslose stumme Persistenz dort draußen im Raum ist auch das Leben als solches nicht böse, wenngleich es mehr und mehr (je mehr es zu den höheren Formen der Selbstorganisation aufsteigt) einen Kreislauf aus brutalem Kampf, Leid und Schmerz bildet. Das Böse entsteht, wenn der Geist sich von der in positiver Trägheit verharrenden Materie zurückzieht und sich in der Singularität der Selbstbewusstheit als eine selbstbezügliche Negativität für sich selbst setzt (als reines Selbstbewusstsein bin ich bloß ein Cogito, die leere, von allem positiven Inhalt entfernte Form der Selbstbezüglichkeit). Das Böse ist rein geistig: In der Natur drängt sich das Sein in der dichten Trägheit der Materie zusammen; der Geist tritt ins Dasein, indem er sich, von der Natur entfernt, in die Punktualität eines Selbst zusammenzieht, und als solcher stellt er das genaue Gegenteil des „Übergangs des Unstofflichen zum Stofflichen“ dar – er ist die unstoffliche Leere mitten in der stofflichen Natur. Und das bringt uns schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück, der Beziehung zwischen Subjekt und Substanz. Das Subjekt ist keine

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Substanz, die sich zurückzieht/die erscheint; das Subjekt ist Erscheinung (Sich-selbst-Erscheinen), die sich selbst autonomisiert und zu einem Akteur gegen ihre eigene Substanzialität wird. Der Selbstentzug oder die Spaltung des Subjekts ist demnach viel radikaler als der Selbstentzug jedes Objekts, das in seine Erscheinung (in der Wechselwirkung mit anderen Objekten) und seinen substanziellen Inhalt, sein entzogenes Ansich gespalten ist: Das Subjekt ist nicht wie jedes Objekt einfach in seine Erscheinungseigenschaften (Verwirklichungen) und sein unverfügbares virtuelles Ansich gespalten; das Subjekt ist gespalten in seine Erscheinung und die Leere im Kern seines Seins, nicht in Erscheinung und seinen verborgenen substanziellen Grund. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, in welchem Sinne das Subjekt effektiv ein Objekt „ist“ – die Lacan’sche Antwort auf die objektorientierte Ontologie lautet mithin: Ja, das Subjekt ist auch ein Objekt; die Frage ist allerdings, was für eines. Bei dem Objekt, welches das Subjekt „ist“, handelt es sich um das, was Lacan als objet a bezeichnet, um ein seltsames Objekt, dem nicht nur etwas mangelt, das niemals vollständig da ist, sich dem Subjekt stets entzieht, sondern das an sich nichts als die Verkörperung eines Mangels ist. Das heißt: Weil das Subjekt das Selbsterscheinen von nichts ist, kann sein „gegenständliches Korrelat“ nur ein seltsames Objekt sein, dessen Natur in der Verkörperung von nichts besteht, ein „unmögliches“ Objekt, ein Objekt, das in seinem ganzen Sein eine Verkörperung seiner eigenen Unmöglichkeit darstellt, das Objekt, das Lacan objet a nannte, ein Objekt, dessen Status der einer Anamorphose ist: eines Bildteils, der als nichtssagender Fleck erscheint, wenn man direkt von vorn auf das Bild schaut, der jedoch die Konturen eines bekannten Gegenstands annimmt, sobald man seine Position ändert und das Bild von der Seite betrachtet. Lacan geht sogar noch weiter: Die Objektursache des Begehrens ist etwas, das von vorn gesehen überhaupt nichts darstellt, bloß eine Leere – nur von der Seite gesehen nimmt sie die Konturen von etwas an. Das vielleicht schönste literarische Beispiel dafür findet sich in Shakespeares Richard II., wenn der Diener Bushy der Königin, die sich um den auf einem Feldzug befindlichen unglückseligen König sorgt, Trost zuzusprechen sucht: Das Wesen jedes Leids hat zwanzig Schatten, Die aussehn wie das Leid, doch es nicht sind; Das Aug’ des Kummers, überglast von Tränen, Zerteilt ein Ding in viele Gegenstände. Wie ein gefurchtes Bild, grad’ angesehn, Nichts als Verwirrung zeigt, doch, schräg betrachtet,

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Gestalt läßt unterscheiden: so entdeckt Eu‘r holde Majestät, da sie die Trennung Von dem Gemahl schräg ansieht, auch Gestalten Des Grams, mehr zu bejammern als er selbst, Die, grade angesehn, nichts sind als Schatten Des, was er nicht ist!27 Das ist das objet a: ein über keine substanzielle Konsistenz verfügendes Etwas, das in sich selbst „nichts als Verwirrung“ ist und das nur dann deutliche Gestalt annimmt, wenn es von einem durch die Wünsche und Ängste des Subjekts verzerrten Standpunkt aus betrachtet wird – als solches ist es ein bloßer „Schatten des, was es nicht ist“. Insofern stellt das objet a jenes seltsame Objekt dar, das nichts anderes ist als die Einschreibung des Subjekts selbst ins Feld der Objekte in Gestalt eines Flecks, der nur dann Konturen annimmt, wenn dieses Feld durch das Begehren des Subjekts in einem Teil anamorphisch verzerrt wird. Die außerordentlich moderne Definition der Dichtung aus dem Sommernachtstraum (5. Aufzug, 1. Szene) weist in dieselbe Richtung: Wahnwitzige, Poeten und Verliebte Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt: Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht Nicht minder irr, die Schönheit Helenas Auf einer äthiopisch braunen Stirn. Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn rollend, Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd’ hinab, Und wie die schwang’re Phantasie Gebilde Von unbekannten Dingen ausgebiert, Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt Das luft’ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.28 Tatsächlich spricht die Dichtung, wie Mallarmé es drei Jahrhunderte später ausdrückte, über „ce seul objet dont le Néant s’honore“. Shakespeare gestaltet hier eine Triade aus einem tollen Menschen, der überall Teufel sieht (einen Busch fälschlicherweise für einen Bären hält), einem Verliebten, der in einem gewöhnlichen Gesicht vollkommene Schönheit erblickt, und einem Dichter, der „das luft’ge Nichts benennt und ihm festen Wohnsitz gibt“. In allen drei Fällen besteht die Lücke zwischen der gewöhnlichen Realität und einer transzendenten ätherischen Dimension, wird jedoch schrittweise

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verkleinert: Der Tolle nimmt einfach etwas fälschlicherweise als etwas anderes wahr (einen Busch als einen bedrohlichen Bären) und sieht es nicht als das, was es ist; ein Verliebter bleibt bei der Realität des geliebten Objekts, die nicht entwertet, sondern bloß in die Erscheinung einer erhabenen Dimension „verwandelt“ wird (das geliebte gewöhnliche Gesicht wird so wahrgenommen, wie es ist, als solches aber überhöht – ich sehe die Schönheit in ihm, so wie es ist); von einem Dichter wird die Transzendenz auf null reduziert, das heißt, er „verwandelt“ die empirische Realität (nicht in einen Ausdruck/eine Materialisation irgendeiner höheren Realität, sondern) in eine Materialisation von nichts. Ein Toller sieht Gott unmittelbar, er hält eine Person für Gott (oder den Teufel); ein Verliebter sieht Gott (die göttliche Schönheit) in einer Person; ein Dichter sieht lediglich eine Person vor dem Hintergrund des Nichts. Wie ist eine solche Entität, die als Sich-selbst-Erscheinen von nichts funktioniert, möglich? Die Antwort ist klar: Eine solche nichtsubstanzielle Entität muss rein relational, ohne positive Unterstützung durch sich selbst sein. Was beim Übergang von der Substanz zum Subjekt geschieht, ist somit eine Art reflexiver Umkehr: Wir gehen von dem geheimen Kern eines Objekts, der für andere Objekte unzugänglich ist, zur Unzugänglichkeit an sich über – S/ ist nichts als seine eigene Unzugänglichkeit, sein Scheitern, Substanz zu sein. Darin liegt Lacans Leistung: Die psychoanalytische Standardtheorie fasst das Unbewusste als psychische Substanz der Subjektivität (den altbekannten verborgenen Teil des Eisbergs) auf – als die ganze Tiefe der Wünsche, Fantasien, Traumata und so weiter –, während Lacan das Unbewusste entsubstanziiert (für ihn ist das kartesische Cogito das Freud’sche Subjekt) und die Psychoanalyse so auf die Höhe der modernen Subjektivität bringt. (An dieser Stelle gilt es den Unterschied zwischen dem Feud’schen Unbewussten und dem „Unbewussten“ der neurobiologischen Hirnforschung zu beachten: Letzteres bildet die natürliche „Substanz“ des Subjekts, das heißt, das Subjekt existiert nur insofern, als es durch seine biologische Substanz aufrechterhalten wird; diese Substanz ist jedoch nicht das Subjekt.) Das Subjekt ist nicht irgendwie eher Aktant, als es Objekte sind, ein die ganze Welt fundamental passiver Objekte aktiv setzender Mega-Aktant, sodass man gegen diese Hybris die aktive Rolle aller Objekte geltend machen müsste. Das Subjekt ist in seiner grundlegendsten Form eine gewisse Geste der Passivierung, des Nichttuns, des Rückzugs, der passiven Erfahrung. Das Subjekt ist „ce qui du réel pâtit du signifiant“ (Lacan); seine Aktivität stellt eine Reaktion auf dieses Grundmerkmal dar. Darum ist es nicht so, dass die OOO der Subjektivität Rechnung trägt und sie lediglich auf eine Eigenschaft oder Qualität eines Objekts unter anderen Objekten

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reduziert. Was sie als Subjekt darstellt, erfüllt einfach nicht die Subjektkriterien – das Subjekt hat in ihr keinen Platz. Das Subjekt steht nicht für aktives Eingreifen, es ist kein Akteur, der Objekte gestaltet, sich zunutze macht und beherrscht. Die Aufrufe, einzugreifen, aktiv zu werden oder die Dinge zu verändern, setzen in all ihren unterschiedlichen Varianten bereits einen Rückzug voraus, so als wäre ich irgendwie von der Realität entfernt, weshalb ich nachdrücklich gebeten werden muss, auf sie zuzugehen und in ihr tätig zu werden; und diese vorausgesetzte Entfernung ist das Subjekt in seiner reinsten Form – die Nullpunkthaltung eines Subjekts ist Bartlebys I would prefer not to. In dieser Richtung argumentierte Aaron Schuster, dass es „das tiefe Verlangen des Es“ sei „zu schlafen“ und dass vielmehr „das Über-Ich das ständig Drängende und fieberhafte Aktivität Fordernde“ darstelle: „Das Seelenleben ist keine sich von selbst ereignende energeia, sondern beruht auf normativem Druck. Leben ist eine Pflicht, es ist der grundlegendste Imperativ von allen, inbegriffen und übertragen in die Kette der Signifikanten, die ihrer Natur nach imperativisch sind.“29 Kurz gesagt, ist es nicht „natürlich“, dass der Mensch seine Existenz fortführt und weiterlebt: Leben ist eine Gewohnheit, die gelernt werden muss, zur Fortsetzung des Lebens braucht es den lästigen Druck durch das Über-Ich. Das Subjekt gleicht der lethargischen Frau in den Filmen von David Lynch: Sie muss durch brutale Schocks von außen aus ihrer unbeweglichen Trägheit erweckt werden. Todestrieb ist hier nicht mehr eine andere Bezeichnung für Unsterblichkeit, den jenseits von Leben und Tod insistierenden Wiederholungszwang, sondern er stellt buchstäblich die spontane Neigung des Subjekts zu endgültiger Unbeweglichkeit dar. Der gängigen These der sogenannten Praxisphilosophie zufolge sind wir immer schon tief und konstitutiv in einer Lebensform verankert, ist unser Denken immer schon „praktisch“, in der sozialen Praxis verwurzelt, rührt noch das kontemplativste Denken von irgendeiner Blockierung unserer Lebensform her – und doch werden wir ständig nachdrücklich gebeten, uns einzubringen und tätig zu werden. Wir haben es hier mit einer Umkehrung des üblichen Paradoxons vom Verbot des Unmöglichen zu tun, nämlich mit der Aufforderung, das zu tun, was an sich schon geboten und unerlässlich ist. Dieses Paradox beruht auf der Voraussetzung, dass im Innersten des tätigen In-der-Welt-Seins ein Abstand da ist, eine Ausnahme besteht; Rowan Williams bezeichnete diese Ausnahme als die eigentliche Dislokation unserer Existenz, ihr grundlegendes Aus-den-Fugen-Sein. Wir stoßen hier auf den von Althusser und anderen begangenen Fehler, das Subjekt auf die imaginäre Illusion der Selbsterkenntnis zu reduzieren –

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danach ist das „Subjekt“ der Effekt einer imaginären Falscherkennung, eines Kurzschlusses, der zu der täuschenden Erfahrung führt, man sei ein freier, selbstbestimmter Akteur, und den komplexen präsubjektiven (neuronalen oder diskursiven) Prozess verschleiert, der diese Täuschung hervorruft. Aufgabe der Subjektivitätstheorie ist es dann, diese Prozesse zu beschreiben und auch darzulegen, wie man aus diesem imaginären Subjektivitätszirkel ausbrechen und dem präsubjektiven Subjektivierungsprozess ins Auge sehen kann. Das Hegel’sche (und Lacan’sche) Gegenargument lautet hier, dass die „Subjektivierung“ (die Herausbildung des subjektiven Bedeutungsraums) in einer Schließung des Kreislaufs der Selbsterkennung gründet, das heißt in einer imaginären Verschleierung des traumatischen Realen, der Wunde des Antagonismus. Dagegen stellt diese „Wunde“, dieses Trauma, dieser Schnitt im Realen das Subjekt selbst an seinem Nullpunkt dar, sodass – um die bekannte Zeile aus Wagners Parsifal zu paraphrasieren – das Subjekt selbst die Wunde ist, die es zu heilen sucht (beachten wir, dass Hegel das Gleiche vom Geist sagt). Dieser „absolute Widerspruch“, dieses radikale Zusammenfallen der Gegensätze – die „Wunde der Natur“, der Verlust der „organischen Einheit“ und gleichzeitig das aktive Bemühen, diese Wunde durch den Aufbau eines Bedeutungsuniversums zu heilen, das Erzeugen von Sinn mit einem traumatischen Kern von Unsinn, der Punkt absoluter Singularität (des „Ich“ unter Ausschluss allen substanziellen Inhalts), in dem die Allgemeinheit zu sich selbst gelangt, als solche „gesetzt“ wird – ist das, was die Subjektivität definiert und konstituiert. Eine von Hegels Bezeichnungen für diesen Abgrund der Subjektivität, die er der mystischen Tradition entnimmt, ist die „Nacht der Welt“, der Rückzug des Selbst aus der Dingwelt in die Leere, die der Kern des Selbst „ist“. Dabei gilt es unbedingt zu beachten, wie sich in dieser Rückzugsgeste (klinisch ausgedrückt, der Auflösung des Ganzen der „Welt“, des ganzen Bedeutungsuniversums) äußerste Abschottung und äußerste Offenheit, äußerste Passivität und äußerste Aktivität überlagern. In der „Nacht der Welt“ überlagert sich der äußerste Selbstrückzug, das Kappen der Verbindungen zur umgebenden Realität, mit der äußersten Offenheit der Realität gegenüber: Neben und mit allen Symbolrastern, die unseren Zugang zur Realität filtern, lassen wir auch sämtliche Schutzschilde fallen und riskieren so, dass wir dem Realen in gewisser Weise in seiner Widerwärtigkeit vollkommen ausgesetzt sind. Inhaltlich gesehen handelt es sich um eine Position radikaler Passivität (um die eines Kant’schen transzendentalen Subjekts, das seine Realitätsverfassung außer Kraft setzt), was jedoch ihre Form betrifft, ist es eine Haltung der radikalen Aktivität, des gewaltsamen Herausreißens aus der Verankerung in der Realität: Ich bin vollkommen passiv, meine passive Haltung

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liegt jedoch in meinem – in einer Geste äußerster Negativität vollzogenen – Rückzug aus der Realität begründet. In diesem Sinne verschleiert die „Demokratie der Objekte“, in der Subjekte unter die Objekt-Aktanten zählen, das Reale der Subjekte, den Schnitt, der das Reale ist. Der entscheidende Punkt ist hier, dass jeder unmittelbare Zugang zu „subjektlosen Objekten“, der diesen Schnitt oder diese Wunde, die das Subjekt „ist“, übergeht oder umgeht, bereits auf die transzendentale Konstitution angewiesen ist und sich entsprechend auf sie stützen muss: Was als Multiversum von Aktanten bezeichnet wird, entspricht seiner Form nach einer bestimmten transzendentalen Realitätsauffassung. Anders gesagt, liegt die Schwierigkeit in Bezug auf subjektlose Objekte nicht darin, dass sie zu objektiv sind, die Funktion des Subjekts vernachlässigen, sondern darin, dass die von ihnen beschriebene subjektlose Objektwelt zu subjektiv ist und sich bereits innerhalb eines unproblematisierten transzendentalen Horizonts ansiedelt. Das Ansich lässt sich nicht dadurch erreichen, dass man die subjektiven Erscheinungen fortreißt und die „objektive Realität“, wie sie unabhängig vom Subjekt „da draußen“ besteht, abzugrenzen versucht; das Ansich nämlich schreibt sich selbst gerade in den subjektiven Überschuss, die subjektive Lücke oder Inkonsistenz ein, durch die sich in der Realität ein Loch auftut. Diese Lücke wird sowohl von der OOO als auch vom Transzendentalismus in all seinen heutigen Versionen von Heidegger bis Habermas verfehlt: Obwohl die beiden große Widersacher sind, halten sie jeweils am transzendentalen Horizont als dem ultimativen Horizont unseres Denkens fest (Heidegger an der geschichtlichen Entbergung des Seins, Habermas am Apriori der symbolischen Kommunikation).

Die Epigenese des Subjekts Catherine Malabou wirft in ihrem Buch Avant demain die Frage auf, wie wir das transzendentale Apriori und die Genese zusammendenken sollen. Stellt das transzendentale Apriori einfach den zeitlosen Rahmen dar, der jedes (zeitliche, empirische) Werden bedingt, oder hat es seine eigene Entstehungsgeschichte? Können wir das Werden des transzendentalen Apriori denken, ohne dass wir die eigentliche Dimension des Transzendentalen verlieren? An diesem sensibelsten Punkt seines Theoriegebäudes greift Kant auf den Ausdruck „Epigenese“ (nicht „Genese“) zurück, der die phänotypische Verwirklichung eines zugrundeliegenden genotypischen Musters bezeichnet – etwa das Lebendigwerden eines genetischen Codes in einem konkreten Einzelnen oder, für Kant, die Verwirklichung des transzendentalen Rahmens in einer konkreten Bewusstseinserfahrung der Rea-

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lität. Malabou zieht hier die Parallele zur Unterscheidung zwischen dem Hypozentrum und dem Epizentrum eines Erdbebens: Bei dessen Epizentrum handelt es sich um den Punkt, an dem das unterirdische Hypozentrum die Oberfläche berührt, sich verwirklicht, an der Oberfläche erscheint. Auf entsprechende Weise bildet die Epigenese das Ereignis, das Zusammentreffen kontingenter Objekte in der Erfahrung, bei dem sich das transzendentale Netzwerk verwirklicht. Heißt das jedoch, dass es sich dabei bloß um ein Sekundärphänomen handelt, um den Prozess der empirischen Umsetzung eines vorgegebenen Codes oder einer entsprechenden Formel? Wie die Biologie betont, sorgen die kontingenten Umstände der Verwirklichung eines genetischen Codes nicht nur für dessen selektive Auslese, indem sie bloß manche seiner Bestandteile aktivieren, sondern sie können diesen Code selbst auch verändern, indem sie ihn zur Übernahme einiger der kontingenten Abweichungen veranlassen. Malabou geht hier einen Schritt weiter und betont, dass sich die Epigenese nicht auf ein blindes Zusammenspiel von genetischem Code und Umwelt reduzieren lässt: Sie ist vielmehr ein aktiver Selektionsprozess, der dem Hören einer Partitur durch ihren Interpreten oder dem interpretierenden Lesen eines literarischen Textes gleicht – kurz gesagt, handelt es sich um eine hermeneutische Tätigkeit, bei der der „Sinn die biologische Notwendigkeit berührt“. Dieser Aspekt wird von der Biogenetik in aller Regel vernachlässigt, weshalb sie die eigentliche Subjektivitätsdimension verfehlt. Folgt man dieser Argumentation jedoch konsequent, muss man genau diese Vorstellung des transzendentalen Apriori als festen formalen Rahmen, der seiner Verwirklichung vorausgeht, problematisieren. Das heißt: Wenn wir das transzendentale Apriori als eine Art genetischen Codes unseres Geistes auffassen, der der Aktivität unseres Geistes in seiner Auseinandersetzung mit der äußeren Realität vorausgeht, fetischisieren wir es zu einer Art von unzugänglichem Ansich, das uns nur durch partielle (selektive, verdrehte) Deutungen gegeben ist. Das transzendentale Apriori aber ist nicht nur immer interpretiert, historisch geprägt, nie „als solches“ gegeben; sondern „transzendental“ ist das Raster unserer Interpretation selbst, der Rahmen unserer – des Subjekts – lückenhaften, einseitig verzerrten Realitätsdeutung. Das Subjekt entsteht in/aus der Epigenese, es ist der Punkt/Akteur der epigenetischen Interpretation/Verwirklichung seiner gegebenen Natur: Durch epigenetische Aktivität ergreift es – empfängt, verwirklicht, bezieht es sich auf – seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung und bemächtigt sich seiner Spontaneität. Es gibt zwar das Hypozentrum der Selbstbestimmung, den angeborenen unzugänglichen Hintergrund des Selbst, dieses Ansich aber muss in der (Selbst-)Erfahrung erscheinen, und diese Erfahrung ist

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immer schon einseitig, interpretiert, historisch geprägt. Und der entscheidende Punkt ist wiederum, dass dieses Ansich noch nicht transzendental ist: Es gibt keinen apriorischen transzendentalen Rahmen, der dann interpretativ angeeignet wird – das „Transzendentale“ ist immer vom Ansich entfernt; „transzendental“ ist genau der Rahmen oder das Raster dieser Entfernung. Anders ausgedrückt, ist es gerade die Unzugänglichkeit des wahren noumenalen Selbst, die die Subjektwerdung ermöglicht, das heißt den Raum der Freiheit der autonomen Selbsterfindung des Subjekts eröffnet – „transzendental“ ist Kants Bezeichnung für diese Entzogenheit des noumenalen Ursprungs der Subjektivität. Die Lücke, die den Ursprung von seiner subjektiven Aneignung trennt, besteht nicht nur in epistemologischer, sondern auch in ontologischer Hinsicht; sie ist der Raum der Freiheit, die Beschränkung, die das Subjekt zur autonomen Selbsterfindung hindrängt.30 Demnach kommt es also darauf an, eben diese Beschränkung der Subjektivität als die letzte Instanz ihrer freien, autonomen Kreativität zu begreifen. Worin besteht daher diese neue Dimension, die in der Lücke selbst hervortritt? Es ist die Dimension des transzendentalen Ich selber, die Dimension seiner „Spontaneität“: der dritte Ort zwischen den Phänomenen und dem Noumenon selbst, die Freiheit/Spontaneität des Subjekts, die – obwohl sie natürlich nicht die Eigenschaft eines Erscheinungsdings ist, sodass sie sich nicht als trügerischer Schein abtun lässt, der die noumenale Tatsache verbirgt, dass wir vollständig in einer unverfügbaren Notwendigkeit gefangen sind – auch nicht einfach noumenal ist. In einem geheimnisvollen Unterkapitel seiner Kritik der praktischen Vernunft mit dem Titel „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ versucht sich Kant an einer Antwort auf die Frage nach den Folgen, die es für uns hätte, wenn wir Zugang zum Feld der Noumena bekommen und Kenntnis vom Ding an sich erlangen würden. Danach würde uns die unmittelbare Einsicht in den noumenalen Bereich gerade der Spontaneität berauben, die den Kern der transzendentalen Freiheit bildet; sie würde leblose Automaten aus uns machen oder, zeitgemäß ausgedrückt, „denkende Maschinen“. Die Folgerungen aus dieser Passage sind viel radikaler und paradoxer, als es vielleicht scheint. Wenn wir ihre Widersprüchlichkeit einmal beiseitelassen (wie könnten Furcht und leblose Gestik nebeneinander bestehen?), lautet der Schluss, den sie nahelegt, dass wir – wir Menschen – auf der phänomenalen und auch auf der noumenalen Ebene ein „reiner Mechanismus“ ohne Autonomie und Freiheit sind: Als Erscheinungen sind wir nicht frei, sind wir Teil der Natur, ein „reiner Mechanismus“, gänzlich Kausalzusammenhängen unterworfen, Teil des Ursa-

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che-Wirkungs-Gefüges; und auch als Noumena sind wir nicht frei, sondern auf einen „reinen Mechanismus“ reduziert. (Bildet die von Kant beschriebene Person mit ihrem unmittelbaren Wissen vom noumenalen Bereich nicht eine genaue Entsprechung zum utilitaristischen Subjekt, dessen Handeln vollständig vom Lust-Unlust-Kalkül determiniert ist?) Unsere Freiheit besteht lediglich in einem Raum zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen. Daher ist es nicht so, dass Kant die Kausalität einfach auf den Phänomenbereich beschränkt, um behaupten zu können, dass wir auf der noumenalen Ebene freie und selbstbestimmte Akteure sind: Frei sind wir nur insofern, als unser Horizont der Horizont der Erscheinungen ist und uns das Feld des Noumenalen unzugänglich bleibt. Kants eigene Darlegungen sind hier irreführend, da er das transzendentale Subjekt häufig mit dem noumenalen Ich gleichsetzt, dessen phänomenale Erscheinung die empirische „Person“ ist, und so vor seiner eigenen Einsicht zurückweicht, dass und inwiefern das transzendentale Subjekt eine rein formal-strukturelle Funktion des Gegensatzes von Noumenalem und Phänomenalem darstellt.31

3 Selbstbewusstsein – aber welches? Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren Zur Verteidigung von Hegels Wahnsinn In Mallarmés Un Coup de Dés ist an einer Stelle von einem Flügel die Rede, von dem es heißt, er sei „vor Anfang zurückgesunken aus Schwere zum Flug“ – vielleicht erfasst diese kreisförmige Bewegung am besten, was Hegel absolutes Wissen nannte: Es beschreibt keinen Kreis aus Flug und anschließendem Zurücksinken, sondern das Paradox des Zurücksinkens, das dem Versuch abzuheben vorausgeht. Dieses Paradox bezeichnet Hegel (auch) als „absoluten Gegenstoß“: Die Gegenaktion (hier: das Sinkenlassen) geht der Aktion, deren Scheitern sie darstellt, voraus, sodass die Aktion rückwirkend als ein schemenhaftes Gespenst in Erscheinung tritt, das nur in den Spuren ihres Scheiterns gegenwärtig ist. Genau vor dem Hintergrund dieses Paradoxons sollten wir auch die Vorstellung der „Zurückbiegung“ deuten, welche die Kreisbewegung der Selbstentfaltung eines Begriffs schließt: „Die Bestimmtheit ist als bestimmter Begriff aus der Äußerlichkeit in sich zurückgebogen, sie ist der eigene, immanente Charakter [des Begriffs]“.1 Wir sollten diese „Zurückbiegung“ daher nicht als einfaches In-sich-Zurückbiegen eines Begriffs aus seiner Selbstentäußerung verstehen, denn sonst verfehlen wir die Tatsache, dass es keinen substanziellen Begriff gibt, der mit sich selbst das Spiel von Entäußerung und Rückkehr zu sich spielt. Die „Rückkehr zu sich“ konstituiert im Wortsinn, zu was sie zurückkehrt; das heißt, es gibt keinen Begriff, der der Rückkehr zu sich vorgängig ist; diese Vorgängigkeit stellt eine rückwirkende Täuschung dar. Insofern sich der Hegel’sche dialektische Prozess als Aufhebungsprozess charakterisieren lässt, sollte man hier den feinen Unterschied zwischen Aufhebung und Selbstaufhebung beachten:2 Eine einfache Aufhebung kann dennoch als Arbeit eines externen Akteurs verstanden werden, der eine unmittelbare Sache in den drei von Hegel geltend gemachten Bedeutungen „aufhebt“, indem er sie durcharbeitet. (Wenn ich etwa aus einem Holzrohling einen Tisch fertige, vernichte ich das Stück Holz, an dem ich arbeite, doch ich erhalte es auch in neuer Form und hebe es auf eine höhere Ebene, die eines menschlichen Produkts, das ein spezielles kulturelles Bedürfnis bedient.) Was hierbei jedoch ausgelassen wird, ist die reflexive Wendung, durch die ich, wenn ich unmittelbare natürliche Objekte „aufhebe“, mich

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„selbst“ in einen qualifizierten Arbeiter „aufhebe“. Selbstaufhebung ist daher ein zutiefst materialistischer Begriff: Er beschreibt, inwiefern das Unendliche keinen vom Endlichen unterschiedenen eigenständigen Bereich bezeichnet – das Unendliche ist nichts als die Selbstaufhebung des Endlichen, es entsteht nur durch seine Rückkehr aus dem Endlichen zu sich. Insofern die immanente Selbstentfaltung eines Begriffs von Hegel häufig als ein Prozess charakterisiert wird, in dem die Dinge werden, was sie immer schon sind, sollten wir hier außerdem die von Aldouri festgehaltene3 komplexe zeitliche Struktur des dialektischen Prozesses beachten. In seiner Darstellung der „Unterscheidung zwischen der Zeitlichkeit des ,immer schon‘ des Wirklichen, als dem Rahmen, in dem sich der Geist bewegt, und der Noch-nicht-Verwirklichung des Wirklichen zu den unterschiedlichen Gliederungszeitpunkten“ fügte er einen „dritten Modus der Zeitlichkeit hinzu, der die beiden philosophisch verständlich macht“, einen Modus, der die Öffnung des dialektischen Prozesses anzeigt und der sich als sein „Noch-nichtimmer-Schon“ einholen ließe. Diese Öffnung ist demnach nicht einfach die Öffnung auf die Zukunft hin, sondern eine viel radikalere Öffnung zur Vergangenheit hin – dem Zeitpunkt, da noch nicht entschieden ist, nicht, was aus den Dingen werden wird, sondern, was sie immer schon waren. Es ist dieser spekulative Kern von Hegels Denken, der ihn zu einem notorisch „schwierigen“ Autor macht: Viele seiner Ausführungen laufen unserem Alltagsverständnis zuwider und können eigentlich nur wie verrückte Spekulationen erscheinen. In seiner ausführlichen Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes4 sucht Robert Brandom ihn systematisch „wieder zu normalisieren“, das heißt aufzuzeigen, dass dessen ausgefallenste Äußerungen, wenn sie sachgemäß (neu-)interpretiert werden, in unserem gemeinsamen Bedeutungsraum Sinn ergeben. Ich schätze Brandoms Bemühungen sehr – sie sind ein Musterbeispiel klaren Denkens und Argumentierens und Brandom folgt mit ihnen konsequent der Grundthese, auf die er sich stützt. Dennoch werde ich mich gegen eine solche „Zähmung“ Hegels aussprechen und seine „Verrücktheit“ argumentativ zu verteidigen suchen. Hegels Ausführungen müssen uns schockieren, und dieser Exzess lässt sich durch keine Interpretation wegerklären, weil die Wahrheit, die sie übermitteln, damit steht und fällt.

Die Unmittelbarkeit der Vermittlung Was Brandom bei seinem Versuch, Hegel „wieder zu normalisieren“, wegfallen lässt, ist in erster Linie die Dimension der Selbstbezüglichkeit. Nehmen wir zwei von Hegels Grundbegriffen: die bestimmte Negation und die

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Vermittlung. Brandom interpretiert sie als eine Reihe von Aus- und Einschlüssen, die die Identität jedes Objekts ausmachen. „Bestimmte Negation“ heißt demnach: Wenn der Stuhl, auf dem ich sitze, aus Kunststoff ist, dann ist er nicht aus Metall oder aus Holz; wenn er weiß ist, dann ist er nicht braun oder grau oder von irgendeiner anderen Farbe und so weiter. Die „Vermittlung“ umfasst alles Wesentliche über die komplizierte Beziehung zu anderen Gegenständen und Prozessen, durch die dieser Stuhl wurde, was er ist: Der Kunststoff, aus dem er besteht, setzt eine industrielle Fertigung voraus, die auf naturwissenschaftlichen Kenntnissen sowie der Kultur basiert, in der er hergestellt wurde. Daran ist nichts spezifisch „Dialektisches“; es gibt hier bloß ein allgemeinverständliches realistisches Universum: Die Eigenschaften stehen in modal robusten Ausschlussbeziehungen zueinander. Der Besitz einer Eigenschaft durch ein Objekt schließt in dem Sinne aus, dass es über manche andere verfügt, dass es unmöglich ist, gleichzeitig über unvereinbare Eigenschaften zu verfügen. Nichts kann zugleich ein Weichtier und ein Wirbeltier sein. Diese Ausschlussstruktur bedingt eine entsprechende Einschlussstruktur: Wäre Coda ein Hund, wäre er ein Säugetier, denn alles, was damit unvereinbar ist, ein Säugetier zu sein, ist unvereinbar damit, ein Hund zu sein. Es sind diese kontrafaktisch-stützenden Aus- und Einschlüsse, die in den Naturgesetzen kodifiziert sind. Die Dialektik von Ein- und Ausschluss wird hier auf das Wechselspiel von eingeschlossenen und ausgeschlossenen Eigenschaften eines Dings reduziert: Dieses Ein-Ding ist grau, aus Holz, menschengemacht, dreibeinig und so weiter, folglich ist es nicht rot, metallisch, industriell gefertigt, vierbeinig und so weiter. Was hier ausgelassen wird, ist der zur Selbstbezüglichkeit gebrachte Ausschluss: Das Eine (ein Seiendes) schließt auch seine eigenen Eigenschaften in dem Sinne aus, dass es keine von ihnen „ist“, sondern seine Identität mit sich durch das erreicht, was Hegel negative Selbstbeziehung nennt. Aus diesem Grund bleibt Brandom (genau wie Pippin bezüglich des Setzens und der äußeren Reflexion) auch in dem endlosen Spiel von Vermittlung und Unmittelbarkeit gefangen, und darum verfehlt er auch den entscheidenden Übergang von der bestimmten Negation zur negativen Bestimmung (was strukturalistische Linguisten als Differenzialität bezeichnen). Es ist nicht nur so, dass das, was ein Ding ist – seine Eigenschaften – durch das bestimmt wird, was es nicht ist – durch die Eigenschaften, die es ausschloss –, sondern es ist auch so, dass das Nichtvorhan-

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densein einer oder mehrerer Eigenschaften selbst als Eigenschaft zählen kann. Auf das Paar Vermittlung und Unmittelbarkeit bezogen heißt das, dass es nicht ausreicht, die Vermitteltheit jeder Unmittelbarkeit geltend zu machen – dem muss die Unmittelbarkeit der Vermittlung selbst hinzugefügt werden, wie es beispielsweise Hegel hinsichtlich des reinen Selbst tut: „Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst.“5 Brandom entfaltet die gegenseitige Abhängigkeit von Vermittlung und Unmittelbarkeit (Unterschied und Identität). Danach ist jede Identität vermittelt und wird aufrechterhalten durch ein Netz von Unterschieden zu dem, was dieses Objekt nicht ist, zu allen anderen Objekten; doch weil Brandom die Unmittelbarkeit der Vermittlung selbst nicht berücksichtigt, kommt er zu dem Schluss, die Vermittlung könne nicht die letzte Grundlage abgeben – aus dem einfachen Grund, dass jedes dieser anderen Objekte seine eigene konkret bestimmte Identität besitzt, und wenn „von ihren bestimmten Identitäten (dem, was sie voneinander unterscheidet) gelten soll, dass sie gleichfalls aus ihren Beziehungen zu anderen, genauso aufgefassten Identitäten besteht, dann ist das ganze Projekt durch Inkohärenz bedroht. Die Strategie ist es letztlich, jedes Individuum so zu verstehen, dass es sein Moment der Verschiedenheit (in Abhängigkeit von der Verständlichkeit seines bestimmten Unterschieds) von dem anderer, unterschiedlicher Individuen „borgt“, die zu ersterem in verschieden bestimmten Beziehungen stehen.“ Kurz gesagt, lässt sich das Ganze der miteinander in Beziehung stehenden Phänomene nicht ausschließlich in der Differenzialität gründen, weil es sonst „in der Luft hängt“: Wenn jedes Ding, einschließlich aller anderen, differenziell begründet wird, gibt es letztendlich keine Identität, von der her die Dinge unterschieden werden … Dies ist im Übrigen ein alter Einwand gegen Hegel, den bereits Schelling erhoben hat (der Hegels Denken als „negative Philosophie“ ablehnte, die eines unmittelbaren positiven Grundes bedürfte) und der jüngst von Dieter Henrich wieder aufgebracht wurde. Lacans Entgegnung auf diesen Einwand lautet, dass die symbolische Ordnung genau eine solche differenzielle Struktur darstellt, die „in der Luft hängt“, und dass dieses „In-der-Luft-Hängen“, dieses Fehlen von Wurzeln in jeglicher positiven substanziellen Realität überdies das ist, was die symbolische Struktur subjektiviert. Um die Vorstellung von einer subjektivierten Struktur weiter auszuführen, müssen wir den Begriff der Differenzialität radikalisieren und zur Selbstreferenzialität bringen. Die entscheidende Konsequenz aus der differenziellen Identität besteht darin, dass die Abwesenheit eines Merkmals

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selbst als Merkmal, als positive Tatsache zählen kann – wenn jede Anwesenheit nur vor dem Hintergrund potenzieller Abwesenheit auftritt, dann können wir auch von der Anwesenheit der Abwesenheit als solcher sprechen. Beispielsweise kann etwas Nichtgeschehendes auch ein positives Geschehen darstellen – denken wir an den berühmten Dialog aus der Erzählung Silberstern zwischen Inspektor Gregory von Scotland Yard und Sherlock Holmes über „das merkwürdige Ereignis mit dem Hund in der Nacht“: „Gibt es noch irgendeinen Umstand, auf den Sie meine Aufmerksamkeit lenken möchten?“ „Auf das merkwürdige Ereignis mit dem Hund in der Nacht.“ „Der Hund hat in der Nacht nichts getan.“ „Genau das war das merkwürdige Ereignis.“ Dieses positive Bestehen der Abwesenheit selbst, die Tatsache also, dass das Nichtvorhandensein einer Eigenschaft selbst eine positive Eigenschaft darstellt, welche die betreffende Sache definiert, ist das, was eine differenzielle Ordnung kennzeichnet, und in diesem präzisen Sinne bildet die Differenzialität das Kernmerkmal eigentlicher Dialektik. Fredric Jameson hat daher recht, wenn er gegen die übliche hegelianisch-marxistische Ablehnung des Strukturalismus als „undialektisch“ betont, dass die strukturalistische Explosion in den 1960er-Jahren die Funktion hatte, „ein Wiedererwachen oder eine Wiederentdeckung der Dialektik zu signalisieren“.6 Das ist auch der Grund, warum Jameson mit einem hübschen Seitenhieb auf die in den Cultural Studies moderne Ablehnung der „binären Logik“ für ein „allgemeines Lob der binären Opposition“ plädiert, die, zur Selbstbezüglichkeit gebracht, genau jene Matrix der strukturellen Relationalität oder Differenzialität bildet. Und insofern Hegel der Dialektiker schlechthin ist und die Phänomenologie des Geistes das unübertroffene Vorbild der dialektischen Analyse darstellt, ist Jameson ferner auch in seinem nicht intuitiven Schluss vollkommen recht zu geben: „Die Phänomenologie ist gewiss ein zutiefst strukturalistisches Werk avant la lettre.“7 (Die Verbindung zwischen dieser differenzialistischen Betrachtungsweise und der Hegel’schen Dialektik ist Roman Jakobson fraglos nicht entgangen.) Wenn jedoch die Abwesenheit selbst als Anwesenheit beziehungsweise als positive Tatsache funktioniert – wenn etwa das Fehlen eines Penis bei der Frau ein in sich „merkwürdiges Ereignis“ ist –, dann kann auch die Anwesenheit (der Besitz eines Penis durch den Mann) nur vor dem Hintergrund der (möglichen) Abwesenheit auftreten. Doch wie hat man sich das genau vorzustellen? An dieser Stelle müssen wir die Selbstreflexivität in die Signifikationsordnung einführen: Wenn die Identität eines Signifikanten aus nichts als der Serie seiner konstitutiven Differenzen besteht, muss jede

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Signifikationsreihe von einem reflexiven Signifikanten ergänzt – „vernäht“ – werden, der keine bestimmte Bedeutung (Signifikat) hat, weil er nur dafür steht, dass Bedeutung als solche da ist (statt nicht vorhanden). Der Erste, der die Notwendigkeit eines solchen Signifikanten umfassend zur Sprache gebracht hat, war Lévi-Strauss. In seiner berühmten Interpretation des mana gelingt es ihm, es zu entmystifizieren, indem er dessen irrationale Konnotationen einer mythischen oder magischen Kraft auf eine präzise symbolische Funktion zurückführt. Lévi-Strauss geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass die Sprache als Bedeutungsträger auf einmal da ist und sofort den gesamten Horizont abdeckt: „Welches auch der Augenblick und die Umstände ihres Erscheinens auf der Stufe des animalischen Lebens gewesen sein mögen – die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können, etwas zu bedeuten.“8 Dieses plötzliche Auftreten bringt jedoch ein Ungleichgewicht zwischen die beiden Ordnungen von Signifikant und Signifikat; denn da das Signifikationsnetz endlich ist, kann es das endlose Signifikatfeld nicht vollständig abdecken. [Dadurch] besteht auch für uns eine Grundsituation [unverändert] fort, die mit der menschlichen Kondition zusammenhängt, daß nämlich der Mensch von seinem Ursprung her über eine Gesamtheit von Signifikanten verfügt, die er nur mit Mühe einem, wenn auch gegebenen, so doch noch nicht erkannten Signifikat zuordnen kann. Zwischen beiden besteht immer eine Inadäquation, die nur für den göttlichen Verstand auflösbar ist und die daraus resultiert, daß es eine Übersättigung des Signifikanten gibt im Verhältnis zu den Signifikaten, welche es besetzen kann. In seinem Bemühen, die Welt zu verstehen, verfügt der Mensch also immer über einen Überschuß an Sinn […]. Diese Verteilung einer – wenn man so sagen darf – supplementären Ration ist absolut notwendig, damit aufs Ganze gesehen der verfügbare Signifikant und das erkannte Signifikat in dem Verhältnis der Komplementarität bleiben, das die Bedingung der Tätigkeit des symbolischen Denkens ist.9 Jedes Signifikationsfeld muss daher von einem supplementären Null-Signifikanten „vernäht“ werden, der ein „symbolischer Nullwert [ist], das heißt ein Zeichen, das die Notwendigkeit eines supplementären symbolischen Inhalts markiert, der zu dem bereits auf dem Signifikant liegenden Inhalt hinzutritt und der ein beliebiger Wert sein kann“.10 Dieser Signifikant ist ein „Symbol im Reinzustand“:11 Ohne selbst irgendwelche bestimmte Bedeu-

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tung zu haben, steht er für das Vorliegen von Bedeutung an sich, im Gegensatz zu ihrem Nichtvorliegen; die Erscheinungsweise dieses für die Bedeutung als solche stehenden supplementären Signifikanten ist – in einer weiteren dialektischen Wendung – der Un-Sinn (Deleuze entwickelt diesen Punkt in seiner Logik des Sinns). Demnach ist es so, „dass die Begriffe vom Typus mana […] eben diesen flottierenden Signifikanten repräsentieren, der die Last alles endlichen Denkens […] ist“.12 Das Erste, was es hier zu beachten gilt, ist Lévi-Strauss’ Bekenntnis zum wissenschaftlichen Positivismus. Er gründet die Notwendigkeit des mana in der Lücke zwischen den Beschränkungen unserer Sprache und der unendlichen Realität. Genau wie der frühe Badiou und Althusser schließt er die Wissenschaft aus der Dialektik des Mangels aus, die den Bedarf nach einem vernähenden Element erzeugt. Mana steht für Levi-Strauss für den „poetischen Überschuss“, der die Beschränkungen, die sich aus dem Problem unserer Endlichkeit ergeben, kompensiert, während die Anstrengungen der Wissenschaft genau darauf gerichtet sind, das mana zu verabschieden und unmittelbares vollwertiges Wissen bereitzustellen. In Anlehnung an Althusser lässt sich behaupten, dass mana ein Grundoperator der Ideologie ist, der den Mangel unseres Wissens in die imaginäre Erfahrung des unsagbaren Bedeutungsüberschusses verkehrt. Der nächste Schritt hin zu einer eigentlichen „Naht“ besteht aus drei miteinander verbundenen Gesten: der Universalisierung des mana (der Null-Signifikant ist nicht bloß ein Kennzeichen der Ideologie, sondern ein Merkmal jeder Signifikationsstruktur), seiner Subjektivierung (das mana wird als der Punkt der Einschreibung des Subjekts in die Signifikationskette umdefiniert) und seiner Temporalisierung (einer in die Signifikationstruktur selbst eingeschriebenen logischen, nicht empirischen Zeitlichkeit). Anders ausgedrückt, ist der Null-Signifikant die Unmittelbarkeit der Vermittlung in Reinstform: ein Signifikant, dessen Identität nur aus seiner Differenz besteht, das heißt, welcher der Differenz als solcher Gestalt gibt. Deshalb stellt er das Subjekt für andere Signifikanten dar: Das Subjekt ist in seiner grundlegendsten Form die Differenz als solche.13

Der Stock an sich, für uns, für sich Brandom beginnt seine Lektüre der Phänomenologie des Geistes mit einer Interpretation des Erfahrungsbegriffs in der kurzen Vorrede; in diesem Zusammenhang nimmt er auch seine erste große „Renormalisierungs“-Handlung vor, wenn er versucht, die folgende paradoxe Behauptung Hegels ins Alltagsverständnis zu übersetzen: Wenn wir in einer Erfahrung unseren

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Begriff einer Sache mit dieser selbst (die uns als Maßstab dazu dient, die Adäquatheit unseres Begriffs zu bemessen) vergleichen und feststellen, dass er der Sache nicht entspricht, müssen wir nicht nur unseren Begriff der Sache (die Art, wie diese Sache „für uns“ ist) ändern – was genauso einer Änderung bedarf, ist der Maßstab selbst, mit dem wir die Adäquatheit unseres Begriffs bemessen haben, die Sache selbst. Brandom führt hier das einfache Beispiel eines geraden Stocks an, der uns, wenn er halb unter Wasser getaucht ist, als gekrümmt erscheint; ziehen wir ihn aus dem Wasser heraus, sehen wir unmittelbar, dass er in Wahrheit (an sich) gerade ist. In welchem Sinne also verändert die Erfahrung hier die Sache selbst? War der Stock nicht die ganze Zeit derselbe (gerade) und wir haben bloß unseren (irrigen) Begriff von ihm geändert? Brandom stimmt zu, dass „der ,neue wahre Gegenstand‘, der ,sich dem Bewusstsein darstellt‘, nicht der gerade Stock ist (schließlich hat er sich nicht geändert; er war die ganze Zeit gerade)“. Was sich geändert hat, war unser Begriff (unsere Vorstellung) des Stocks an sich: Wir dachten, der Stock an sich sei ebenfalls gekrümmt (unserer Wahrnehmung von ihm entsprechend), jetzt aber können wir erkennen, dass der gekrümmte Stock bloß unsere Fehlwahrnehmung war. In diesem Sinne „wird in der Änderung des Wissens der Gegenstand selbst dem Bewusstsein zu etwas, das tatsächlich auch eine Änderung erfahren hat“. Was sich ändert, ist der Status des gekrümmten Stocks, der angibt, was dieser dem Bewusstsein ist. Er hatte den Status genossen, dem Bewusstsein zu sein, was er an sich ist. Nun aber hat sich sein Status dahingehend geändert, dass er dem Bewusstsein nur das ist, was er für das Bewusstsein war: eine Erscheinung. […] Der „neue wahre Gegenstand“ ist die als irrig erwiesene Vorstellung „gekrümmter Stock“ als falsche Vorstellung dessen, was dem Subjekt jetzt das wirkliche Sein der Dinge ist: ein gerader Stock. Dieses Vorstellen ist nicht „wahr“ im Sinne einer Vorstellung davon, wie die Dinge wirklich sind, sondern in dem Sinne, dass das, was jetzt dem Bewusstsein ist, das ist, was es wirklich ist: eine bloße Erscheinung, ein falsches Vorstellen. Deshalb [so heißt es bei Hegel]: „Dieser neue Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte Erfahrung“. Brandom löst das Paradox auf, indem er drei Ebenen des Gegenstands einführt (des Stocks in diesem Fall): die Art, wie der Stock für uns ist, unser Begriff/unsere Wahrnehmung von ihm (er erscheint gekrümmt); die Art, wie der Stock an sich uns erscheint (das heißt, was wir annehmen, dass er

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an sich ist); und die Art, wie der Stock an sich wirklich ist, unabhängig von uns (gerade). Was sich demnach in unserer Erfahrung ändert, ist nicht der Stock an sich, sondern bloß die zweite Ebene, die unserer Wahrnehmung seines Ansich: Was wir vermuteten, wie der Stock an sich ist, ändert sich jetzt und wird zu einer falschen Erscheinung: Der für an sich seiend gehaltene Gegenstand erweist sich durch Unvereinbarkeiten als in Wirklichkeit […] nur das [seiend], was er für das Bewusstsein war. Das Moment der Unabhängigkeit des Gegenstands, so argumentiert Hegel, ist für den Besitz durch unsere Begriffe des bestimmten Inhalts wesentlich. Die Unvereinbarkeit ist nur für und in diesem Prozess von Bedeutung. Diese Auflösung funktioniert nur, wenn wir strikt unterscheiden zwischen der Ordnung der Ideen und Vorstellungen (die unser Wissen ausmachen) und der Ordnung der Dinge (wie sie an sich sind). Danach ändern sich unsere Vorstellungen im Erkenntnisprozess und nähern sich dem, was die Dinge an sich sind, allmählich an, während die Dinge an sich bleiben, was sie, unbeeinflusst durch den Erkenntnisprozess, sind. Diese „Asymmetrie zwischen der Ordnung und der Verbindung der Ideen und der der Dinge“ entwickelt Brandom von der Unterscheidung zwischen dinglicher und deontischer Unvereinbarkeit her. Danach kann derselbe Gegenstand (der Stock) nicht zugleich gerade und gekrümmt sein, beide Eigenschaften seien unvereinbar; in unserem Geist aber können zwei unvereinbare Vorstellungen über einen Gegenstand nebeneinander bestehen, dies sei bloß in deontischer Hinsicht unangemessen: „Es ist unmöglich, dass ein Gegenstand gleichzeitig dinglich unvereinbare Eigenschaften aufweist (oder dass zwei unvereinbare Sachverhalte bestehen), während es lediglich unangemessen ist, wenn ein Subjekt gleichzeitig zwei dinglich unvereinbare Festlegungen bekräftigt.“ Erkenntnisfortschritt ist darum der „Prozess, in und durch den immer mehr der wirklichen Beschaffenheiten der Welt, die im objektiv-alethischen Sinne tatsächlich dinglich unvereinbar sind, den von Subjekten deontisch anerkannten dinglichen Unvereinbarkeiten zugerechnet werden“. Kurz gesagt, schreitet unser Wissen voran, wenn wir auf die Entdeckung von Unvereinbarkeiten in unserem Begriff eines Gegenstands hin die unvereinbaren Aspekte ausrangieren und unseren Begriff des Gegenstands auf diese Weise dessen Realität annähern – Widerspruch kann es nur in unserem Wissen geben, nicht in der Sache selbst, und deshalb kommen wir genau dadurch voran, dass wir Widersprüche aussondern:

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„Wie die Dinge objektiv sind“ oder „an sich“ sind, heißt hier, „bereits immer schon sind“, und zwar in dem Sinne, dass, wie sie an sich sind, davon unberührt bleibt, wie sie für das Subjekt sind. Eine Unabhängigkeit dieser Art ergibt sich zwingend daraus, dass sie als normativer Maßstab zur Bewertung von Erscheinungen fungieren, wobei dieser Maßstab dem, was die Dinge für das Subjekt sind, entsprechen oder auch nicht entsprechen kann. Oder, um es anhand der klassischen Unterscheidung zwischen Referenz (dem X, über das wir uns äußern) und Sinn (dem, was wir über es äußern) auszudrücken: Die Referenz beziehungsweise der externe Maßstab, dem wir uns allmählich annähern, ist stetig, während sich der Sinn stetig ändert. Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben Menschen Aussagen über das Wasser getroffen, und während sich der Sinn des Ausdrucks allmählich anreichert (mit der modernen Wissenschaft wurde etwa seine chemische Zusammensetzung, H2O, entdeckt), „ist die Referenz stetig“: Sie bindet den ganzen Prozess zu einer Einheit zusammen, indem sie eine ganze Klasse von Sinnbedeutungen als Repräsentierende derselben repräsentierten Weltbeschaffenheit, als mehr oder weniger explizite Ausdrücke desselben impliziten Inhalts zusammengruppiert. Die Sinnbedeutungen, die diesen stetigen, verbindenden Inhalt (gemäß der rekonstruierten Genealogie) ausführen, ausdrücken und in ihm kulminieren, sind dagegen vielfältig und veränderlich und unterscheiden sich in dem Umfang und der Art, in der/dem sie ihn explizit machen. Sie bilden das Moment der Verschiedenheit bezüglich der Form der Darstellung des ausgedrückten identischen Inhalts. Bis ganz zum Ende (zu dem heute erreichten vorläufigen Höhepunkt) sind die Sinnbedeutungen, das Wie und Was der Dinge für das Bewusstsein, nie vollständig richtig, nie vollkommen adäquate Ausdrücke ihres Inhalts und weiter anfällig für Fehler und Ausfälle, wenn sie auf neue spezielle Umstände angewendet werden. Doch wie die Dinge an sich sind, ändert sich nicht; die Realität besteht unberührt vom Wandel ihrer Erscheinungen fort. Doch läuft ein solches Verständnis nicht Hegels konziser Definition des spekulativen Denkens zuwider: „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und in ihm sich selbst festhält“?14 Legt nicht Brandom – der genau wie Kant nicht bereit ist, die Widersprüche in den Sachen selbst „festzuhalten“ – eine „Zärtlichkeit für die weltlichen

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Dinge“ an den Tag, wie Hegel es in seinen bekannten Ausführungen zu Kants Antinomien aus seiner „kleinen“ (Enzyklopädie-)Logik ausdrückt: Hier kommt es zur Sprache, daß der Inhalt selbst, nämlich die Kategorien für sich es sind, welche den Widerspruch herbeiführen. Dieser Gedanke, daß der Widerspruch, der am Vernünftigen durch die Verstandesbestimmungen gesetzt wird, wesentlich und notwendig ist, ist für einen der wichtigsten und tiefsten Fortschritte der Philosophie neuerer Zeit zu achten. So tief dieser Gesichtspunkt ist, so trivial ist die Auflösung; sie besteht nur in einer Zärtlichkeit für die weltlichen Dinge. Das weltliche Wesen soll es nicht sein, welches den Makel des Widerspruchs an ihm habe, sondern derselbe nur der denkenden Vernunft, dem Wesen des Geistes zukommen. Man wird wohl dawider nichts haben, daß die erscheinende Welt dem betrachtenden Geiste Widersprüche zeige, – erscheinende Welt ist sie, wie sie für den subjektiven Geist, für Sinnlichkeit und Verstand ist. Aber wenn nun das weltliche Wesen mit dem geistigen Wesen verglichen wird, so kann man sich wundern, mit welcher Unbefangenheit die demütige Behauptung aufgestellt und nachgesprochen worden, daß nicht das weltliche Wesen, sondern das denkende Wesen, die Vernunft, das in sich widersprechende sei.15 Kehren wir zu dem misslichen Stock zurück, um diese Schlüsselstelle zu klären. Wenn man es mit einem geraden Stock zu tun hat, der als ein gekrümmter Stock erscheint, sobald er unter Wasser getaucht wird, lässt sich der Erkenntnisprozess als Prozess der allmählichen Annäherung an die Realität des Stocks begreifen, der Annäherung daran, wie er unabhängig von unserer Wahrnehmung an sich ist. Dennoch sollte man hier zwischen Objekten unterscheiden, die unabhängig von unserem Begriff von ihnen sind, was sie sind (wie ein gerader Stock), und Objekten, die sich ändern, wenn ihr Fürsich (oder Füruns) sich ändert: Bei einem solchen Wesen kann sich, was es an sich ist, ändern, indem sich ändert, was es für sich ist. Bezeichnen wir ein Geschöpf als „wesentlich seiner selbst bewusst“, wenn das, was es für sich ist, seine Vorstellung von sich, ein wesentliches Element dessen darstellt, was es an sich ist. Wie etwas, das wesentlich seiner selbst bewusst ist, sich selbst erscheint, ist Teil dessen, was es wirklich ist.

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Denken wir uns einen Stock, der in Wirklichkeit (an sich) nur gerade bleibt, sofern er als ein gekrümmter Stock erscheint – hierin, in einem solchen täuschenden Schein, hat die Ideologie ihre Funktion: Eine „entfremdete“ Gesellschaft kann sich (in ihrer Wirklichkeit) nur durch ihre täuschende/falsche Selbsterscheinung oder Selbstwahrnehmung reproduzieren – in dem Moment, da sie sich selbst so erscheint, wie sie wirklich ist, fällt diese Wirklichkeit auseinander. In entsprechender Weise hat es die Psychoanalyse mit Dingen zu tun, die nur existieren, sofern sie ihrer selbst nicht hinreichend bewusst beziehungsweise nicht hinreichend „für sich“ sind: Für Freud (den frühen zumindest) verschwindet ein Symptom, wenn das Subjekt (um dessen Symptom es sich handelt) dessen Bedeutung erschlossen hat, das heißt, es besteht nur, sofern seine Bedeutung unerkannt bleibt. (Bei näherer Betrachtung zeigt sich rasch, dass die Dinge komplizierter liegen: Handelt es sich bei Symptomen nicht auch um Formen „objektivierten“ Bewusstseins von sich, sind es nicht Bildungen, in deren Gestalt ich die Wahrheit über mich einschreibe, die meinem Bewusstsein verschlossen bleibt?) Man sollte hier einfaches Selbstbewusstsein (sich etwas von sich bewusst sein) vom „Selbstbewusstsein“ als dem Akt der symbolischen Einschreibung unterscheiden: Ich kann mir im Klaren darüber sein, was ein Symptom von mir bedeutet, ohne dass ich diese Bedeutung wirklich für mich annehme – obwohl ich weiß, was es bedeutet, blockiere ich die symbolische Wirksamkeit dieses Wissens, das heißt, dieses Wissen beeinflusst meine subjektive Position nicht wirklich. Für Brandom ist das Ansich per Definition nicht widersprüchlich und die ganze Dynamik (Bewegung) liegt auf der Seite des Denkens beziehungsweise des Subjekts. Danach geht man von einem gescheiterten Begriff zum anderen, passenderen über, der auch scheitern wird und so weiter, die Bewegung aber ist nicht die Bewegung in dem Ding an sich … Unternimmt Brandom hier nicht das ganze Gegenteil von Hegel? Wenn Hegel auf eine Unstimmigkeit oder einen „Widerspruch“ epistemologischer Art stößt, der sich als Hindernis für unseren Zugang zur Sache selbst darstellt (wenn wir über unvereinbare Begriffe eines Gegenstands verfügen, können nicht alle davon zutreffen), so löst er dieses Dilemma dadurch auf, dass er das als Erkenntnishindernis Erscheinende in ein ontologisches Merkmal überführt, einen „Widerspruch“ in der Sache selbst. Dagegen löst Brandom eine ontologische Unstimmigkeit auf, indem er sie in eine epistemologische Täuschung/Unzulänglichkeit überführt, sodass die Realität vor Widerspruch gerettet ist. Denken wir an Adornos klassische Analyse des antagonistisch verfassten Gesellschaftsbegriffs. Auf den ersten Blick scheint die Kluft zwischen

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den beiden Gesellschaftsbegriffen (der angelsächsischen individualistischnominalistischen und der Durckheim’schen organizistischen Auffassung der Gesellschaft als einer den Einzelnen vorausgehenden Ganzheit) unüberwindbar, scheinen wir es mit einer echten Kant’schen Antinomie zu tun zu haben, die sich nicht durch eine höhere „dialektischen Synthese“ auflösen lässt und die eine Gesellschaft zu einem unerreichbaren Ding an sich erhebt. In einer zweiten Annäherung gilt es jedoch lediglich zu beachten, inwiefern diese radikale Antinomie, die uns den Zugang zum Ding an sich zu verwehren scheint, schon selbst dieses Ding ist – das Grundmerkmal der heutigen Gesellschaft ist der unversöhnliche Antagonismus zwischen der Ganzheit und dem Einzelnen. Statt die falsche Hegel’sche Versöhnung zurückzuweisen, sollte man die dialektische Versöhnung selbst als illusionär zurückweisen, das heißt, man sollte die Forderung nach „wahrer“ Versöhnung aufgeben. Hegel war sich vollkommen dessen bewusst, dass eine Versöhnung nichts gegen die realen Leiden und Antagonismen auszurichten vermag – wie er in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert, gelte es, „die Rose im Kreuz der Gegenwart zu erkennen“. Oder, um mit Marx zu sprechen, bei einer Versöhnung wird nicht die äußere Realität verändert, um sie einer Idee anzupassen; vielmehr wird diese Idee als die innere „Wahrheit“ jener elenden Realität selbst erkannt. Der marxistische Vorwurf, Hegel liefere lediglich eine neue Interpretation der Welt, statt sie zu verändern, verfehlt daher gewissermaßen den Punkt – damit rennt man offene Türen ein, denn um von der Entfremdung zur Versöhnung zu gelangen, bedarf es nach Hegel keiner Veränderung der Realität, sondern dazu müssen wir die Art, wie wir sie wahrnehmen und mit ihr in Beziehung stehen, verändern. Wie schreitet die Wahrheit voran? Für Hegel vergleichen wir unseren Begriff der Wahrheit (für uns) nicht mit der Wahrheit an sich und nähern uns ihr auf diese Weise allmählich an. Hegel ist ein Denker der radikalen Immanenz: Im Prozess der Erfahrung halten wir uns mit einem Begriff an diesen selbst und vergleichen ihn mit seiner Verwirklichung oder Exemplifizierung. Hegel vertritt hier eine radikal anti-platonistische Position: Bei der Lücke, die einen Begriff von seinen Beispielen trennt, liegt die Wahrheit auf der Seite der Beispiele; diese decken die immanenten Inkonsistenzen eines Begriffs auf. Passen die Beispiele nicht zu einem Begriff, sollte darum der Begriff selbst umgestaltet werden. Es gilt hier, Brandoms Entgegensetzung der nicht-normativen objektiven Realität und des normativen Diskursuniversums zu problematisieren. Die Quintessenz von Hegels idealistischer Umkehrung des Standardbegriffs der Wahrheit als adequatio ad rem (die Übereinstimmung unserer Gedan-

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ken mit den Dingen) in die adequatio einer Sache mit ihrem Begriff (Was für ein Haus ist dieses Haus? Ist es wirklich ein Haus? Entspricht es dem Begriff eines Hauses?) besteht darin, dass die Realität selbst durch eine gewisse normative Kluft gekennzeichnet ist: Reale Gegenstände entsprechen ihrem Begriff nie ganz. Nehmen wir Hegels klassisches Beispiel des Staates. Kein empirischer Staat ist ein „wahrer“, mit seinem Begriff völlig übereinstimmender Staat, und wenn wir uns das vergegenwärtigen, müssen wir ebenfalls Veränderungen an dem Begriff selbst vornehmen. Der feudale christliche Staat des Mittelalters beispielsweise war ein Misserfolg, aber nicht nur nach den Maßstäben des modernen, die menschlichen Freiheiten und Rechte achtenden demokratischen Staats, sondern auch gemessen an seinen eigenen Ansprüchen (sein Scheitern bei der Umsetzung des Ideals eines harmonisch verfassten, hierarchischen Gesellschaftskörpers hatte Methode), und im Ergebnis dieses Scheiterns sahen wir uns zur Änderung dieses Idealbegriffs selbst gezwungen. Was also passiert am Ende dieses Prozesses? Erlangen wir mit der Auffassung von einer modernen konstitutionellen Monarchie, die Hegel in seiner Rechtsphilosophie entwickelt, schließlich den wahren Begriff eines Staates? Nein, denn am Ende steht das Ergebnis, dass der „Widerspruch“ (Antagonismus) zum Begriff des Staates als solchem gehört, sodass ein „wahrer“ Staat kein Staat mehr ist. Um eine Gemeinschaft zu erreichen, die die Grundkriterien eines „wahren Staates“ (harmonischen Gesellschaftskörpers) erfüllen würde, müssen wir vom Staat zur Religion und mithin zu einer religiös verfassten Gemeinschaft übergehen – und hier brechen dann wiederum Antagonismen hervor … Was wir am Ende des ganzen Systems erlangen, ist keine letzte Ruhe, sondern die Zirkularität der Bewegung selbst. Allerdings, so könnte man erwidern, ist der Staat an sich ein normatives (deontisches) Gebilde. Was ist daher mit einfachen Gegenständen wie Stühlen oder Tischen? Nach Hegels idealistischer Wette ist auch hier eine normative Dimension in der Realität selbst wirksam. Doch wie muss man sich das vorstellen? Was ist der Punkt an Hegels dialektischer Deduktion von einer Lebens- oder Realitätsform zu einer anderen – wie gestaltet sich in seiner Naturphilosophie etwa der Übergang von den Pflanzen zum tierischen Leben? Hegels Vorschlag beschränkt sich nicht einfach auf eine Einteilung der Lebensformen in niedere und höhere: Jede höhere Lebensform wird aus der niederen „deduziert“ als ein Versuch, deren innere Inkonsistenz aufzulösen, sodass es definitiv eine Bewegung normmotivierter Veränderung in der Realität selbst gibt. Wenn ein Gegenstand nicht seinem Begriff entspricht, bedarf beides der Änderung, den Begriff eingeschlossen. In einem Beispiel eines Begriffs liegt mehr als in einem Begriff, von dem das

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Beispiel ein Beispiel ist, das heißt, die Lücke zwischen einem Begriff und seinem Beispiel ist in dem Begriff selbst enthalten. An diesem Punkt versagt die Entgegensetzung zwischen subjektiv-deontischer Unvereinbarkeit und objektiver Unvereinbarkeit – aber nicht etwa deshalb, weil objektive Unvereinbarkeit heißt, dass diese in der Realität nicht vorkommen kann, sondern weil die Realität verkörperte Unvereinbarkeit ist. Brandom hat recht, wenn er die Dynamik in normativen Widersprüchen verortet; er ist allerdings nicht bereit, sich Hegels Idealismus anzuschließen und die normative Spannung in den Dingen selbst auszumachen. Seine zentralen Ausführungen dazu lauten wie folgt: Wir beginnen mit den Phänomenen, damit, wie die Dinge für unser Bewusstsein sind, damit, wie sie scheinen oder erscheinen, mit den Inhalten, die wir erfassen und ausdrücken. Die Vorstellung, dass die Dinge in Wirklichkeit, an sich, auf irgendeine bestimmte Weise sind, der Begriff dessen, was repräsentiert wird, worüber wir nachdenken und sprechen, indem wir diese Inhalte erfassen und ausdrücken – dies muss bezüglich der Merkmale jener Inhalte selbst verstanden werden. Die Repräsentationsdimension der Verwendung von Begriffen muss bezüglich dessen erklärt werden, was es heißt, Begriffsinhalte als Repräsentierende zu nehmen oder zu behandeln, was es heißt, dass sie uns oder für uns Repräsentierende sind. Referenz muss als Sinnaspekt erklärt werden. Wie ebenjene Vorstellung von Noumena aus charakteristischen Merkmalen des Geschichtsverlaufs – durch die die Phänomene (Begriffsinhalte) sich entwickeln und bestimmt werden – zu erläutern und auszuarbeiten ist, bildet den Kern von Hegels originärer Fassung der Semantik von Sinn und Referenz. Diese Formulierungen sind in gewisser Hinsicht nicht ganz eindeutig: Ist die Inkonsistenz der Phänomene, unserer Herangehensweisen oder Begriffe, selbst das Reale, oder ist das Reale, das Ding an sich, ein substanzielles Sein außerhalb des symbolischen Raums, das wir durch konfligierende Begriffe angehen und (miss-)interpretieren? Für Hegel wie auch für Lacan wird das Reale nur in/durch die „Widersprüche“ (vergeblichen Anläufe, Unstimmigkeiten) unserer Begriffe vom Realen berührt, was jedoch nicht in dem Sinne zu verstehen ist, dass wir unsere falschen Festlegungen korrigieren, wenn wir auf einen Widerspruch stoßen. Grundsätzlicher und radikaler noch: Dieser „Widerspruch“ ist das Reale selbst. Nebenbei gesagt, erlaubt dieser Begriff des Realen auch eine Antwort auf Meillassoux’ Behauptung, wonach meine Position (und „vielleicht“ auch die von Badiou) „genau

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besehen darin besteht, aus dem Materialismus einen ‚fehlgeschlagenen Korrelationismus‘ zu machen“. Speziell seit Derrida scheint der Materialismus die Form eines „krank gewordenen Korrelationismus“ angenommen zu haben: Er weigert sich, auf eine naive vorkritische Stufe des Denkens zurückzugehen, und er verweigert jegliche Untersuchung darüber, was den „Kreis des Subjekts“ daran hindert, sich harmonisch zu schließen. Ob man etwa das Freud’sche Unbewusste oder die Marx’sche Ideologie, die Derrida’sche Dissemination, die Unentscheidbarkeit des Ereignisses oder das als Unmögliches begriffene Lacan’sche Reale nimmt – alle diese Konzeptionen gleichen sich darin, dass sie die Spur eines unmöglichen Zusammenfallens des Subjekts mit sich selbst und damit die eines außerkorrelationalen Rests entdecken sollen, in dem sich ein „materialistisches Moment“ des Denkens lokalisieren ließe. In Wahrheit aber sind solche Fehlschläge nur weitere Korrelationen unter anderen: Ein unentscheidbares Ereignis oder ein Scheitern des Bedeutens kann es immer nur für ein Subjekt geben. […] Wenn man das Subjekt verstopft, bewegt man sich nicht außerhalb von ihm; man konstruiert vielmehr bloß ein transzendentales oder spekulatives „Wackelsubjekt“ – ein a priori und gemäß einer wirklich absoluten Erkenntnis gesichertes Subjekt, für das die Dinge in seiner Vorstellungswelt immer einen schlechten Ausgang nehmen.16 Das Argument, das ich anzubringen versuche, ist etwas anders gelagert. Genau wie Meillassoux geht es mir darum, aus dem transzendentalen Zirkel auszubrechen und zum Ansich zu gelangen. Im Gegensatz zu Meillassoux aber lehne ich den üblichen „realistischen“ Ansatz ab, der versucht, auf irgendeine Weise bei den Gegenständen ihre Erscheinungsweise für uns davon zu trennen, wie sie unabhängig von unserer Beziehung zu ihnen an sich sind. (Meillassoux rehabilitiert hier sogar die Unterscheidung zwischen den Primär- und den Sekundäreigenschaften eines Gegenstands. Danach sind die primären Eigenschaften jene, die wir mit mehr als einem unserer Sinne wahrnehmen können [wir können die Form eines harten Gegenstands sehen und anfassen] und die darum zu dem Gegenstand, wie er an sich ist, gehören. Die sekundären Eigenschaften [Geschmack, Farbe] werden nur mit einem Sinn wahrgenommen und gehören folglich nicht zu dem Gegenstand, wie er an sich ist.) Dieser Ansatz, der in dem Versuch besteht, vom Objekt dessen Erscheinung abzuziehen (das, was wir, die wahrnehmenden Subjekte, ihm angeblich hinzugefügt haben, den Subjekt-

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überschuss), um zum Ansich des Gegenstands zu gelangen oder es vielmehr herauszupräparieren, ist vollkommen abzulehnen. Meiner Argumentation nach sollte man genau umgekehrt verfahren: Das Subjekt ist in das Reale eingeschrieben; es berührt das Reale genau an dem Punkt des äußersten „subjektiven“ Überschusses, also in dem, was es dem Objekt hinzufügt, darin, wie es das Objekt verzerrt. Nehmen wir den denkbar traditionellsten Fall: den Klassenkampf. Dieser lässt sich nicht auf neutrale, „unparteiische“ Weise behandeln, es gibt keine Metasprache, jede seiner Auffassungen ist bereits durch die Verwicklung des Subjekts in ihn „verzerrt“, und diese Verzerrung – fernab davon, uns den unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit des Klassenkampfs zu verwehren – ist an sich das Reale des Klassenkampfs. Genau in diesem Scheitern, die eigene einseitige Sicht abzuziehen und zu dem Gegenstand zu gelangen, den das Reale selbst einschreibt, berührt das Subjekt das Reale. Demnach ist es nicht einfach so, dass das Subjekt immer scheitert und so weiter; vielmehr erreicht es das Reale durch dieses Scheitern. Um uns daher in der Flut von Erscheinungen zurechtzufinden, nehmen wir zunächst Zuflucht bei der naiven Realität (die Dinge sind schlicht und einfach, was sie zu sein scheinen); anschließend „sind die Dinge nicht, was sie zu sein scheinen“, und es zeigt sich die Lücke zwischen Erscheinung und Realität; danach begreifen wir, dass das Wesen hinter den Erscheinungen selbst wiederum eine Erscheinung ist, die Erscheinung dessen, was jenseits von dem ist, was wir sehen. (Im Extrem funktioniert dieses „Erscheinen des Wesens“ als „Erscheinen, zu erscheinen“ – als Situation, in der eine Maske die Tatsache verdeckt, dass darunter nichts ist: Was wir [fälschlicherweise] für eine Maske hielten, ist die Realität selbst.) An diesem Punkt könnte es vielleicht so scheinen, als handele es sich bei allem, was es gibt, bloß um Erscheinungen und deren Wechselspiel; was sich jedoch nicht auf eine bloße Erscheinung reduzieren lässt, ist genau der Abstand, der eine bloße Erscheinung von der Erscheinung des Wesens trennt. In seiner radikalsten Form ist das Reale folglich kein Ansich jenseits der täuschenden Erscheinungen, sondern die Lücke selbst, die verschiedene Erscheinungsebenen voneinander trennt.

Handlung und Verantwortung Eine Spannung, die der des Erkenntnisprozesses entspricht, kennzeichnet auch den Verlauf menschlicher Handlungen. Hegels erste Handlungsdefinition klingt überraschend: „Das Tun verändert nichts, und geht gegen nichts; es ist die reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden

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in das Gesehenwerden, und der Inhalt der zu Tage ausgebracht wird, und sich darstellt, nichts anderes, als was dieses Tun schon an sich ist.“17 Dieser Aspekt von Hegels Handlungstheorie ist äußerst wichtig: Es gibt keine Spannung zwischen dem handelnden Akteur und dem Gegenstand, auf den er einwirkt, kein „Zwingen“ des Objekts, keinen Kampf mit dem Stoff, keine heroischen Anstrengungen, um der Materie eine subjektive Form aufzuerlegen, keine radikale Andersartigkeit in der Materie, kein undurchdringbares X, das sich dem handelnden Akteur widersetzt. Die Erscheinung von Kampf und Widerstand der Materie sollte umgedeutet und als das Zeichen des immanenten Widerspruchs der Handlung selbst verstanden werden. Nehmen wir die stalinistische Zwangskollektivierung in den 1920er-Jahren: Der verzweifelte und hartnäckige Widerstand der einzelnen Bauern gegen dieses Handeln war ein Ausdruck des inneren „Widerspruchs“ und der inneren Schwäche des Kollektivierungsprojekts selbst; die tragischen Folgen der Kollektivierung – Millionen von toten Bauern in der ukrainischen Hungersnot, der Verlust des größten Teils des Viehbestands und andere – haben „zu Tage ausgebracht und dargestellt, was dieses Tun schon an sich war“. Darin besteht der „Immobilismus“, den Lebrun Hegel attestiert: In einem dialektischen Prozess entsteht nichts, was neu wäre; alles ist schon da, der Durchgang ist rein formal, die Dinge ändern sich nicht, sondern werden lediglich, was sie immer schon waren … Ist Hegel also ein traditioneller Metaphysiker, der den Wandel (Entwicklung, Fortschritt) auf die kreisende Bewegung einer absolut immanenten Selbstentfaltung reduziert? Genau hier nun zeigt sich das Neue an Hegel: Richtig ist, dass die Dinge lediglich werden, was sie immer schon waren, dabei gibt es keine Veränderung; auf einer viel radikaleren Ebene aber gibt es sie – nicht die Veränderung von dem, was die Dinge waren, zu dem, was sie jetzt sind, sondern die Veränderung in dem, was sie immer schon waren. Der hierbei wirksame Mechanismus ist die Rückwirkung: Ein Ausdruck der Vergangenheit (von ihr determiniert) bringt das hervor, was er ausdrückt, das heißt, die Dinge werden, was sie immer schon waren – was sich in einem dialektischen Prozess verändert, ist die ewige Vergangenheit selbst. Unser Schicksal ist vorherbestimmt, doch es liegt in unserer Macht, es selbst zu verändern. Anders ausgedrückt sagt Hegel nicht, dass sich bei einer Veränderung „nichts wirklich verändert“, dass wir bloß feststellen (explizit machen), was die Dinge immer schon waren. Er bringt ein viel präziseres Argument an: Damit sich die Dinge „wirklich verändern“, müssen wir zunächst akzeptieren, dass sie sich schon verändert haben. Es gilt hier die alte evolutionistische Vorstellung umzukehren, nach der sich Veränderung zuerst „im Untergrund“ abspielt, als solche unsichtbar ist, im Rahmen der alten Form

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vor sich geht, die wiederum, wenn sie den neuen Inhalt nicht länger fassen kann, schließlich zugunsten der sich aufdrängenden neuen Form wegfällt. (Es gibt diesbezüglich eine Ambiguität bei Marx, der die Spannung zwischen Produktionskräften und Produktionsbeziehungen häufig in diesen evolutionären Begriffen beschreibt, zugleich aber auch den Vorrang der formalen Unterordnung der Produktionskräfte unter das Kapital vor ihrer materiellen Unterordnung behauptet – erst werden die alten [Handwerks-] Kräfte dem Kapital untergeordnet und dann nach und nach durch moderne Industriekräfte ersetzt.) Jede Handlung ist gekennzeichnet durch die Spannung zwischen dem ausdrücklichen Ziel, das der Handelnde verfolgt, und dessen unbeabsichtigten Folgen. Brandom interpretiert Hegel hier mit Bezug auf Davidson: Wenn ich einen Klingelknopf drücke, der mit einer Bombe verbunden ist (was ich nicht weiß), und dadurch eine verhängnisvolle Explosion auslöse, „bin ich für sie in dem Sinne verantwortlich, dass es ,meine‘ ist: Ich habe sie ausgelöst. Zur Last gelegt aber wird sie mir nur gemäß den intentionalen Beschreibungen: denen, die in einer genauen Bestimmung meiner Zielsetzung vorkommen, in den Schilderungen, die die Tat als etwas bestimmen, zu deren Ausführung ich Grund hatte.“ Obwohl ich also für die Explosion verantwortlich bin (weil ich sie ausgelöst habe), kann mir lediglich zur Last gelegt werden, dass ich den Klingelknopf mit der Absicht zu läuten betätigt habe.18 Als Erstes müssen hier unbewusste Antriebe mit einbezogen werden: Ich führe eine Handlung mit klarer, bewusster Absicht aus, aber könnte es nicht sein, dass deren unbeabsichtigte Folgen mein unbewusst angestrebtes Ziel verwirklichen? Es ist merkwürdig, dass Brandom in seiner langen und gründlichen Analyse der Verantwortlichkeit ohne bewusste Absicht, in der er zudem wiederholt auf Ödipus zu sprechen kommt, nie Freud und die Psychoanalyse erwähnt, zumal der Mord von Ödipus an seinem Vater und der Inzest mit seiner Mutter für Freud exemplarische Fälle von unbewusst motivierten Handlungen sind. Freud kehrt zur „heroischen“ Position zurück: Ein Subjekt ist auch für die unbeabsichtigten Folgen seines Tuns verantwortlich (Versprecher, Träume und so weiter), da sie von unbewussten Wünschen motiviert waren. Ich bringe Ihnen ein Glas Wein, stolpere oder rutsche aus und schütte ihn über Ihr Hemd – drücke ich damit nicht meinen versteckten Hass auf Sie aus? Doch selbst wenn wir unbewusste Antriebe unberücksichtigt lassen, sollten wir hier auch die Unterscheidung zwischen solchen Folgen einführen, die im Sinne schlicht äußerer Effekte unbeabsichtigt sind, und solchen, die zwar unbeabsichtigt sind, sich aber dennoch immanent aus dem Prozess ergeben, den der Akteur angestoßen hat. Kommen wir auf die Klingel

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am Hauseingang zurück, die mit einer Bombe verbunden ist – wenn ich sie betätige, zerstört die Explosion das Gebäude; weil ich jedoch keine Ahnung von dieser Verbindung hatte und bloß einen Freund in dem Haus besuchen wollte, bin ich für die katastrophalen Folgen in keiner Weise verantwortlich. Beim Stalinismus liegt der Fall völlig anders: Stellen wir uns einen aufrechten Kommunisten vor, der in seiner Arbeit für den sowjetischen Staat in den 1920er-Jahren vollkommen aufgeht – selbst wenn es seine aufrichtige Absicht ist, eine neue und gerechte Gesellschaft herbeizuführen, stellt das tatsächliche Ergebnis (stalinistischer Terror, Gulags und anderes) eine immanente Konsequenz seines Handelns dar, das heißt, es war der Logik des Sowjetkommunismus eingeschrieben. (Nehmen wir ein Extrembeispiel für den Abstand, der die Handlung von der Tat trennt: die chinesische Kulturrevolution. Als Handlung sollte sie die gesellschaftlichen Beziehungen zum Kommunismus hin umwälzen, als Tat hingegen hatte sie letztlich den Ausbruch des Kapitalismus in China zur Folge, wofür Mao „objektiv verantwortlich“ war.) Zwar ist Brandom zuzustimmen, wenn er bezüglich der Handlung schreibt, dass bei Hegel „das Ziel und der Zweck ihrer eigentlichen Natur nach allgemein sein müssen und also abstrakt, während das, was tatsächlich erreicht wird, seiner Natur selbst nach vollständig determiniert, das heißt konkret sein muss“. Allerdings kommt die Kontingenz nicht erst auf der Ebene der Umstände der Verwirklichung eines Zwecks ins Spiel: Was, wenn die kontingenten Aspekte einer Handlung gerade die inneren Absichten ihres Trägers sind? In diesem Sinne spricht Hegel vom „geistigen Tierreich“, was sein Ausdruck für das komplexe Wechselspiel der Individuen in einer Marktgesellschaft ist: Jedes Individuum, das sich an ihr beteiligt, wird von egoistischen Motiven bewegt (persönlicher Wohlstand, Vergnügungen, Macht), doch das von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes regulierte Ganze verwirklicht das Gemeinwohl und den allgemeinen Fortschritt. Ein anderer Punkt ist hier, dass die individuellen Antriebe und das allgemeine Ziel disparat sind und sein müssen: Das Gemeinwohl kann sich nur dann verwirklichen, wenn die Einzelnen ihre jeweiligen egoistischen Zwecke verfolgen – wenn sie unmittelbar für das Gemeinwohl handeln wollen, kommt in der Regel etwas Katastrophales dabei heraus … Daher ist es nicht einfach so, dass sich die kontingenten individuellen Zwecke als Mittel des höheren universellen Ziels erweisen oder, wie Hegel es ausdrückt, „das Unmittelbare der Handlung in ihrem weiteren Inhalte zum Mittel herabgesetzt [ist]. Insofern solcher Zweck ein Endliches ist, kann er wieder zum Mittel für eine weitere Absicht usf. ins Unendliche herabgesetzt werden.“19 Man sollte hier einen Schritt weitergehen: Was vom Standpunkt des Einzelnen aus ein blo-

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ßes Mittel zu sein scheint, ist der wahre Zweck der gesamten Bewegung. Wie es bei Marx heißt, treiben die Einzelnen die gesellschaftliche Produktivität mit voran und machen zur Befriedigung ihrer privaten Bedürfnisse und Wünsche Produktionsmittel nutzbar; vom Standpunkt der Gesamtheit aus sind ihre privaten Bedürfnisse und Wünsche jedoch selbst bloße Mittel zur Erfüllung des wahren Zwecks: der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivität.

Erinnerung, Vergebung, Versöhnung An dieser Stelle kommt nun die Hegel’sche Erzählung vom Vergeben durch Erinnern ins Spiel: Sobald sich ein Handlungsgeschehen vollzogen hat und seine beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folgen zutage liegen, lassen sich die näheren Umstände schildern, wie sich die Eingangsabsicht im Zuge ihrer Umsetzung gewandelt hat. Es gibt keine höhere Idee, die das Zusammenspiel zwischen der anfänglichen Zielidee und ihren Wandlungen durch Korrekturen reguliert: Das ursprüngliche Ziel muss rückwirkend geändert werden, um es dem Prozess anzupassen, und die einseitigen Handlungen werden „vergeben“, sofern sich aufweisen lässt, dass ihnen eine Funktion in einem umfassenderen Prozess zukommt, bei dem ein grundlegenderer Zweck verwirklicht wird. Brandoms Versöhnungsformel ist die Einheit (wechselseitige Abhängigkeit) aus Hervorbringen und Finden, aus Setzen und Voraussetzen. In einem traditionellen Universum werden normative Strukturen als objektive Tatsachen vorausgesetzt, während sie in der modernen Entfremdung als Ausdruck subjektiver Haltungen gelten. Die „Versöhnung“ ist vollbracht, wenn beide Aspekte in ihrem Wechselspiel und ihrer wechselseitigen Abhängigkeit wahrgenommen werden: Es gibt keine normative Substanz an sich, normative Strukturen bestehen nur durch das ständige Wechselspiel der an ihnen mitwirkenden Individuen; dennoch resultiert dieses Wechselspiel notwendig aus dem, was Dupuy als „Selbsttranszendenz“ einer symbolischen Struktur bezeichnet – ein normatives System muss als eigengesetzlich und in diesem Sinne „entfremdet“ wahrgenommen werden, damit es laufen und seine Wirkung entfalten kann. Betrachten wir ein etwas pathetisches Beispiel: Wenn eine Gruppe von Menschen sich kämpferisch für den Kommunismus einsetzt, wissen die Beteiligten natürlich, dass diese Idee nur durch ihr Engagement besteht, gleichwohl aber beziehen sie sich auf sie wie auf eine transzendente Sache, die ihr Leben bestimmt und für die sie es sogar opfern würden. Hegel versteht wohlgemerkt unter Entfremdung gerade die Auffassung, dass objektive normative Strukturen bloßer Aus-

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druck/Ausfluss der Subjekttätigkeit sind und deren „verdinglichte“ oder „entfremdete“ Effekte darstellen. Anders gesagt: Das Überwinden der Entfremdung heißt für ihn nicht, den Schein der Eigengesetzlichkeit normativer Strukturen aufzulösen, sondern anzuerkennen, dass diese „Entfremdung“ notwendig ist. Hegels Bezeichnung für den „großen Anderen“ ist geistige Substanz, und insofern es den Schein des großen Anderen braucht, damit die symbolische Ordnung funktionieren kann, sollte man das Denken, das diese Dimension verabschieden will, als pseudomaterialistisch zurückweisen. Der große Andere ist wirksam, er übt seine Wirksamkeit in der Regulierung der realen gesellschaftlichen Prozesse aus, und das nicht trotz seiner Nichtexistenz, sondern gerade weil er nicht existiert – nur eine inexistente virtuelle Ordnung kann diese Aufgabe erledigen. Wie nicht anders zu erwarten war, wertet Brandom die gesamte „Hermeneutik des Verdachts“ (Marx/Nietzsche/Freud) als eine Spielart der naturalistischen Reduktion von Normen auf die Kausalität ab, als Relativierung von Normen auf den Ausdruck oder Effekt irgendeines nichtnormativen Realprozesses: Für Marx sind normative Strukturen Teil des ideologischen Überbaus und als solche durch objektive ökonomische Prozesse bedingt; für Freud sind normative Strukturen durch unbewusste libidinöse Prozesse bedingt. Mit Hegel gesprochen setzt Freud demnach (im Anschluss an Nietzsche) das „edle“ Bewusstsein auf dessen „niedrige“ pathologische Antriebe herab: Der moralische Altruismus wird durch Neid und einen Geist der Rache aufrechterhalten und so weiter. Aber macht Freud das wirklich? Brandom beschreibt den Richter, der eine Hermeneutik des Verdachts betreibt: „Der Richter übt seine eigene Autorität aus; er rechnet zu und macht den Akteur gemäß einer anderen Art der Beschreibung für die Handlung verantwortlich, die er nicht als Anerkennung einer Norm begreift, sondern in der er nur ein Begehren oder eine Neigung bekundet sieht.“ Ist der Psychoanalytiker (ein psychoanalytischer Interpret) ein solcher Richter? Nein, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es sich bei der psychoanalytischen Deutung nicht um objektives Wissen darüber handelt, was in dem Patienten vorgeht – der Beweis ihrer Wahrheit besteht gerade und nur darin, wie der Patient sie subjektiv annimmt. In seinem (unveröffentlichten) Seminar XVIII über einen „Diskurs, der nicht vom Schein wäre“, lieferte Lacan eine bündige Definition der Deutungswahrheit in der Psychoanalyse: „Die Deutung wird nicht an einer Wahrheit erprobt, die mit Ja oder Nein befinden würde, sie löst die Wahrheit als solches aus. Sie ist nur insoweit wahr, als sie wahrhaft beherzigt wird.“ An dieser präzisen Formulierung ist nichts „Theologisches“, sie enthält lediglich die Einsicht in die echt dialektische Einheit von Theorie und Praxis (nicht nur) in der psycho-

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analytischen Interpretation: Die „Probe“ der Deutung des Analytikers besteht in dem Wahrheitseffekt, den sie in dem Patienten auslöst. Auf diese Weise sollten wir auch die 11. These von Marx (neu) lesen. Demnach besteht die „Probe“ der Marx’schen Theorie in dem Wahrheitseffekt, den sie in ihren Adressaten (den Proletariern) auslöst, darin, dass sie sie in emanzipatorische revolutionäre Subjekte verwandelt. Der Allgemeinplatz „Man muss es sehen, um es zu glauben!“ sollte immer zusammen mit seiner Umkehrung gelesen werden: „Man muss [an] es glauben, um es zu sehen!“ Auch wenn man vielleicht versucht ist, beide Versionen als Dogmatismus des blinden Glaubens und als Offenheit für das Unerwartete einander entgegenzusetzen, sollte man doch auf der Wahrheit der zweiten Version bestehen: Anders als die Erkenntnis gleicht die Wahrheit einem Badiou’schen Ereignis und mithin etwas, das nur ein beteiligter Blick – der Blick eines Subjekts, das „daran glaubt“ – sehen kann. Denken wir an die Liebe: In der Liebe sieht nur der Liebende in dem Objekt der Liebe das X, das Liebe hervorruft. Die Struktur der Liebe ist daher die gleiche wie die des Badiou’schen Ereignisses, das es ebenfalls nur für diejenigen gibt, die sich selbst in ihm erkennen: Für einen unbeteiligten, objektiven Beobachter gibt es kein Ereignis. Dasselbe gilt im Übrigen für traumatische Erfahrungen als hauptsächliche unter den äußeren Ursachen dafür, dass sich ein Subjekt pathologisch entwickelt. In seiner Analyse des „Wolfsmanns“ bestimmt Freud die Tatsache, dass dieser als Kind von eineinhalb Jahren Zeuge des elterlichen coitus a tergo (Geschlechtsakt, bei dem der Mann von hinten in die Frau eindringt) wurde, als das frühe traumatische Ereignis, das den Wolfsmann für sein Leben prägte. Die Szene als solche, so wie sie sich ursprünglich abspielte, hatte jedoch nichts Traumatisches an sich: Fernab davon, das Kind zu zerbrechen, hat es sie lediglich als Erinnerung abgelegt, deren Sinn es überhaupt nicht verstand. Erst Jahre später, als das Kind unablässig mit der Frage beschäftigt war, wo die Kinder herkommen, und infantile Sexualtheorien zu entwickeln begann, zog es diese Erinnerung wieder hervor, um sie als traumatische Szene zu verwenden, in der sich das Mysterium der Sexualität verkörpert. Die Szene wurde von ihm erst rückwirkend traumatisiert, zu einem traumatischen Realen erhöht, um den Umstand zu bewältigen, dass es mit seinem symbolischen Universum in eine Sackgasse geraten war (keine Antworten auf das Rätsel der Sexualität finden konnte). Wiederum also übt die äußere Ursache (die traumatische Erfahrung) ihre Kausalkraft nicht unmittelbar aus; ihre Wirksamkeit ist grundsätzlich durch einen symbolischen Raum vermittelt, der sich nicht auf objektive Tatsachen zurückführen lässt.

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Auf dem Feld der Politik kulminiert die Hermeneutik des Misstrauens im Stalinismus. Der Übergang vom Leninismus zum Stalinismus hat auch mit der Beziehung zwischen beabsichtigtem Ziel und unbeabsichtigten Folgen zu tun. Die Lenin’sche Kategorie der „objektiven Bedeutung“ dessen, was man tut, bezieht sich auf die unbeabsichtigten, aber zwangsläufigen Folgen, ausgedrückt etwa in dem Satz: „Du magst aus den besten menschlichen Absichten heraus gehandelt haben, objektiv betrachtet aber hast du mit deinem Tun dem Klassenfeind gedient“. Die Partei ist dabei ein Akteur, der unmittelbaren und privilegierten Zugang zu dieser „objektiven Bedeutung“ hat. Der Stalinismus bringt uns zu einer pervertierten Version der vormodernen „heroischen“ Haltung zurück; das heißt, er schließt die Lücke zwischen subjektiven Absichten und objektiven Folgen wieder: Die objektiven Folgen werden in den Akteur als dessen (geheime) Absichten zurückprojiziert, ausgedrückt etwa in dem Satz: „Du hast vorgegeben, aus den besten menschlichen Absichten zu handeln, insgeheim aber wolltest du dem Klassenfeind dienen.“ Im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem edlen Bewusstsein (die Äußerungen des anderen werden in einem Geist des Vertrauens aufgenommen und die mit ihnen gegebene Verpflichtungszusage wird akzeptiert) und dem gemeinen Bewusstsein (die Äußerungen des anderen werden vom Standpunkt der Ironie aus interpretiert; unterhalb von ihnen werden „pathologische“ Antriebe [Egoismus, Nutzeninteressen, Suche nach Lust] ausgemacht oder sie werden auf Effekte objektiver Mechanismen zurückgeführt) wendet Brandom den üblichen transzendentalen Trick an: Um ernst genommen zu werden, muss selbst die misstrauischste Deutung unserer Handlungen, die sie auf niedere Antriebe oder objektiv determinierende Mechanismen zurückführt, eine Vertrauenshaltung voraussetzen, das heißt, sie muss zwingend davon ausgehen, dass sie selbst nicht einfach Ausdruck „niederer“ Antriebe ist, sondern angewandte rationale Argumentation. Wir haben uns immer schon implizit darauf festgelegt, die edelmütige Haltung anzunehmen, uns mit der Einheit aus Handlung und Bewusstsein zu identifizieren, uns selber als Wesen zu begreifen, die sich durch begriffliche Normen, die sie in ihren Absichtshandlungen und Urteilsbildungen anwenden, wirklich und aufrichtig binden. […] Die bestimmte Inhaltsfülle der Gedanken und Absichten selbst der niederträchtigen Perspektive wird in Wahrheit nur aus einer edelmütigen Perspektive heraus verständlich.

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Hegel und Brandom stehen hier in einem Kontrast zueinander, der weit über einen bloßen Akzentunterschied hinausgeht: Brandom behauptet den transzendentalen Vorrang des Vertrauens, der von jeder reduktionistischmisstrauischen ironischen Haltung bereits vorausgesetzt wird, während Hegels ganze Bemühungen der Erklärung gelten, weshalb Vertrauen den Umweg über die Ironie und das Misstrauen nehmen muss, um durchgesetzt zu werden – es kann nicht aus sich heraus bestehen. Mit dieser Verlagerung verbinden sich radikale Konsequenzen: Wenn Brandom behauptet, das absolute Wissen stehe für „eine Bewegung von den interindividuellen Beziehungen und ihren begrifflich artikulierten Normen, die die Struktur der Ironie aufweisen, hin zu denen, die die Struktur des Vertrauens aufweisen“, stellt er die Weichen dafür, das absolute Wissen als ein Versprechen auf ein künftiges Stadium der Menschheit zu begreifen, in dem die moderne Entfremdung überwunden und wieder Harmonie hergestellt sein wird. In seiner Periodisierung der Geschichte folgt auf die traditionellen Gesellschaften, in denen Normen als substanzielles Ansich gelten, und die modernen entfremdeten Gesellschaften, in denen Normen auf den Ausdruck subjektiver Haltungen reduziert werden, die projektierte postmoderne „Abschlussform der wechselseitigen Anerkennung als gegenseitiges Bekennen und Vergeben“.20 „Anders als die früheren Geschichtserzählungen umreißt diese etwas, das sich noch nicht ereignet hat: eine künftige Entwicklung des Geistes, deren Prophet Hegel ist, das Explizitmachen von etwas bereits Impliziten, dessen Eintreten die nächste Phase in unserer Geschichte einleitet.“ Was genau soll sich nun in diesem postmodernen dritten Stadium ereignen? Brandom fasst es in folgendes Schema: „Finden und Erzeugen zeigen sich als zwei Seiten einer Medaille, zwei Aspekte eines Prozesses, dessen beide Phasen – Erfahrung und ihr Erinnern, vorwärts gelebt und rückwärts verstanden, das Einatmen und das Ausatmen, die den Geist am Leben erhalten – jeweils sowohl Erzeugnisse als auch Findungen sind.“ Die Grundidee scheint klar zu sein: Traditionelle Kulturen akzeptieren Normen (unsere normative Substanz) als wesentlich gegeben; somit gehen sie uns voraus, es gilt sie lediglich zu finden. Die moderne Entfremdungskultur reduziert diese Normen auf einen Ausdruck unserer subjektiven Einstellungen, das heißt, Normen sind etwas, das wir erzeugen beziehungsweise hervorbringen; dagegen bedarf es einer synthetischen Sicht, der sich erschließt, inwiefern unsere Realität „zugleich die Institution und der Anwendungsbereich begrifflicher Normen ist, sowohl ein Erzeugnis als auch eine Findung begrifflicher Inhalte“: „Der Geist existiert nur, sofern wir ihn zur Existenz bringen, indem wir ihn als existent betrachten.“ Aber weist nicht

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die letztere Behauptung auf eine notwendige Täuschung hin? Wenn wir den Geist zur Existenz bringen, indem wir ihn als existent betrachten, heißt das dann nicht, dass wir ihn nur dadurch zur Existenz bringen können, dass wir vorgeben, er existiere bereits? Es ist wie bei dem alten jugoslawischen Witz von dem Wehrpflichtigen, der auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, um dem Militärdienst zu entgehen; sein „Symptom“ besteht darin, zwanghaft jedes Blatt Papier in seiner Reichweite durchzusehen und dann auszurufen: „Das ist es nicht!“ Bei der Untersuchung durch den Militärpsychiater macht er es genauso, bis der Arzt ihm schließlich ein Blatt Papier reicht, das ihm seine Befreiung von der Wehrpflicht bescheinigt. Der Wehrpflichtige greift danach, sieht es durch und ruft aus: „Das ist es!“ Auch hier erzeugt die Suche ihren Gegenstand selbst. Den Kern des dialektischen Tuns und Findens bildet folglich eine notwendige rückwirkende Illusion: Um es zu tun, muss man so agieren, als sei es bereits getan. Um sich zu befreien beispielsweise, muss man sich selbst als bereits frei betrachten. Zum entscheidenden Bruch kommt es demnach, bevor dieser tatsächlich eintritt: Es handelt sich dabei um ein rein immaterielles Ereignis, das die gesamte symbolische Ökonomie der Situation umkehrt. Wann immer sich eine politische Revolution ereignet, geht dem eigentlichen Umsturz in der Regel ein magischer Moment voraus, da jeder, die Machthabenden eingeschlossen, schlagartig erkennt, dass das Spiel aus ist. Bei der Befreiung der Frauen oder der Schwarzen müssen die Unterdrückten ihre Unterordnung zuerst als ungerecht erfahren, und das bedeutet, dass sie sich selbst als grundsätzlich frei erfahren müssen, erst dann können sie den Kampf um ihre Freiheit aufnehmen. (In den 1960er-Jahren machte Herbert Marcuse bereits das gleiche Argument geltend, als er schrieb, dass die Freiheit eine Bedingung der Befreiung sei.) Um einen Tyrannen zu stürzen, muss man so agieren, als sei das Spiel schon aus, als hinge seine Herrschaft bereits in der Luft. Besteht nicht darin die Botschaft des Christentums? Im Unterschied zu den Juden, die die Ankunft des Messias erwarten, ist der Messias für die Christen bereits angekommen (in Gestalt Christi): Durch Christus sind wir bereits erlöst, und es ist diese Gewissheit, dass „es schon geschehen ist“, die uns die Kraft für den langen und schmerzvollen Kampf um unsere tatsächliche Erlösung gibt. Dieser Vorstellung von einem Bruch, der sich vor seinem tatsächlichen Eintreten ereignet, steht Hegels Vorstellung vom unterirdischen „Weben des Geistes“ gegenüber, bei dem es innerhalb der alten formalen Ordnung zur allmählichen Auflösung kommt und diese alte Ordnung zerfällt, wenn alles bereits entschieden ist – wobei sie den Umbruch nur noch nachträglich registriert. Jede Revolution umfasst zwei Seiten: die faktische Umwäl-

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zung sowie die geistige Neuordnung, das heißt den wirklichen Kampf um die Macht im Staat sowie den virtuellen Kampf um die Umgestaltung der Sitten und mithin der Substanz des täglichen Lebens – das, nach Hegels Bezeichnung, „stumme Fortweben des Geistes“, welches die unsichtbaren Fundamente der Macht untergräbt, sodass der formale Umbruch den Schlussakt der Zurkenntnisnahme des bereits Geschehenen bildet. Wie eine in der Luft hängende Comicfigur, die erst herunterfällt, wenn sie nach unten schaut und bemerkt, dass sie in der Luft hängt, muss die tote Form nur daran erinnert werden, dass sie tot ist, und sie zerfällt. Hegel zitiert die berühmte Stelle aus Rameaus Neffe von Diderot über das „stumme Fortweben des Geistes im einfachen Innern seiner Substanz“: [Er] durchschleicht […] die edlen Teile durch und durch, und hat sich bald aller Eingeweide und Glieder des bewußtlosen Götzen gründlich bemächtigt, und „an einem schönen Morgen gibt [er] mit dem Ellbogen dem Kameraden einen Schub, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden“. An einem schönen Morgen, dessen Mittag nicht blutig ist, wenn die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen hat.21 (Diese Ambiguität entspricht zudem genau der Ambiguität von Hegels Dialektik des unendlichen Zwecks, wo die Täuschung darin besteht, dass das Spiel längst aus ist, dass alles bereits geschehen, der Zweck schon erreicht ist – die Täuschung besteht aber auch darin, dass der Zweck noch nicht erreicht ist, dass unser Kampf tatsächlich ein Prozess mit offenem Ausgang ist.) Wie soll man diese beiden entgegengesetzten Prozesse daher zusammendenken? In beiden Fällen erscheint der formale Bruch als ein symbolischer Akt der Kenntnisnahme (Registrierung), dass die Dinge bereits entschieden sind; im ersten Fall jedoch geht die Form dem Inhalt voraus, das heißt, der formale Bruch eröffnet den tatsächlichen Veränderungsprozess, während es im zweiten Fall am Ende zum Buch kommt, der lediglich die Tatsache verzeichnet, dass die Veränderungsarbeit bereits getan ist. Wäre es möglich, die beiden Prozesse zu aufeinanderfolgenden Stadien eines fortlaufenden Prozesses mit dem formalen Bruch an dessen Anfang und an dessen Ende zusammenzuschließen? Der erste formale Bruch betrifft lediglich die Akteure der Veränderung, die die Umbrucharbeiten in der Annahme ausführen, dass die alte Welt an sich bereits tot ist; dennoch bleiben diese Umbrucharbeiten unterirdisch verborgen, da die hegemoniale Ideologie blind dafür ist. Erst wenn diese unter der Oberfläche stattfindenden Arbeiten die eigentlichen Fundamente der bestehenden Ordnung unter-

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graben, erkennen alle, die Machthabenden eingeschlossen, dass ihre Welt dahin ist, und die alte Ordnung bricht von selbst zusammen. (Denken wir an den schmerzvollen Zerfallsprozess der Sowjetunion: Gorbatschow hat den Prozess der Perestroika eingeleitet, um den Sozialismus zu retten, um ihn in der Welt von heute existenzfähig zu machen, doch seine konservativen Kritiker hatten Recht – die Bemühungen um die Rettung des Sozialismus haben ihn wirksam untergraben, und gewonnen haben die, die sich als Erste dazu bekannten, dass das Spiel zur Rettung des Sozialismus aus ist.) Die formale Geste wird somit wiederholt, Beginn und Ende fallen zusammen und dazwischen kommt die Arbeit. Die zum zweiten formalen Akt gehörende Täuschung besteht darin, dass dieser Akt lediglich registriert beziehungsweise zur Kenntnis nimmt, was sich bereits ereignet hat (die Auflösung der alten Ordnung). Was dabei übersehen wird, ist die „performative“ Dimension dieser Registrierung: Der formale Akt der Kenntnisnahme des Untergangs der alten Ordnung verwirklicht diesen Untergang effektiv. Selbst wenn die Schlacht de facto verloren ist, muss diese Niederlage als solche registriert/angenommen werden, damit sie wirksam werden kann. Brandom stellt zu Recht heraus, dass „der Geist als Ganzes eine Geschichte hat, und Hegel ist der Ansicht, dass jene Geschichte in einem wichtigen Sinne auf ein großes Ereignis zusteuert. Dieses Ereignis – die einzige Sache, die dem Geist überhaupt je wirklich widerfahren ist – ist ihr struktureller Wandel von einer traditionellen zu einer modernen Form.“ Diese Einsicht sollte auf konsequent hegelianische Weise auch auf das angewendet werden, was Brandom als den Übergang von der Moderne zur Postmoderne beschreibt. Danach ist die Postmoderne keine „Synthese“ aus den beiden Extremen des traditionellen Realismus und des modernen Subjektivismus, sie ist nicht die Einheit der beiden einseitigen Positionen, sie ist eine selbstbezügliche Wiederholung des modernistischen Bruchs, seine Anwendung auf sich selbst, sie ist die zum Abschluss gebrachte Moderne. Wenn also Brandom „ein hypothetisches kommendes drittes Zeitalter des Geistes“ beschwört, sollte man die naheliegende Frage stellen, ob eine solche Auffassung nicht unmittelbar Hegel widerspricht, wenn er das „Belehren, wie die Welt sein soll“, in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts ausdrücklich verwirft. Dazu nämlich „kommt die Philosophie immer zu spät.“ Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine

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Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.22 Wenn, wie Robert Pippin vermerkt, Hegels Position ein Minimum an Konsistenz aufweist, dann muss das Gesagte auch auf den Begriff des Staates zutreffen, den er in seinen eigenen Grundlinien aufstellt: Dass Hegel dessen Begriff hat aufstellen können, heißt dann, dass sich die Dämmerung über das legt, worin Hegel-Rezipienten für gewöhnlich die normative Beschreibung eines rationalen Modellstaats sehen. Und das Gleiche sollte für jeden Schluss auf eine nichtentfremdete Zukunft aus gegenwärtigen Tendenzen gelten: Eine solche Denkart (die Logik des „Wir befinden uns jetzt in einer kritischen Lage äußerster Entfremdung, und es steht uns die Möglichkeit offen, im Namen von deren Überwindung zu handeln“) ist Hegel, der immer wieder die rückwirkende Natur der Überwindung der Entfremdung herausstellte, vollkommen fremd: Wir überwinden die Entfremdung, indem wir erkennen, dass wir sie bereits überwunden haben. Anders gesagt, kommt es bei der Überwindung der Entfremdung zu „keiner wirklichen Veränderung“; wir wechseln einfach unsere Perspektive und gelangen zu der Einsicht, dass das, was als Entfremdung erscheint, die immanente Bedingung der Ent-Entfremdung darstellt, ja, dass sie an sich bereits die EntEntfremdung ist. In diesem Sinne schlägt Hegel in seiner „kleinen“ (Enzyklopädie-)Logik seine eigene Fassung von la vérité surgit de la méprise vor, indem er geltend macht, dass „die Wahrheit nur aus diesem Irrtum hervorgeht“, wobei vorerst unklar bleibt, um welchen Irrtum es sich handelt. Im Endlichen können wir es nicht erleben oder sehen, daß der Zweck wahrhaft erreicht wird. Die Vollführung des unendlichen Zwecks ist so nur, die Täuschung aufzuheben, als ob er noch nicht vollführt sei. Das Gute, das absolut Gute, vollbringt sich ewig in der Welt, und das Resultat ist, daß es schon an und für sich vollbracht ist und nicht erst auf uns zu warten braucht. Diese Täuschung ist es, in der wir leben, und zugleich ist dieselbe allein das Bestätigende, worauf das Interesse in der Welt beruht. Die Idee in ihrem Prozess macht sich selbst jene Täuschung, setzt ein Anderes sich gegenüber, und ihr Tun besteht darin, diese Täuschung aufzuheben. Nur aus diesem Irrtum geht die Wahrheit hervor, und hierin liegt die Versöhnung mit dem Irrtum und mit der Endlichkeit. Das Anderssein oder der Irrtum, als aufgehoben, ist selbst ein notwendiges Moment der Wahrheit, welche nur ist, indem sie sich zu ihrem eigenen Resultat macht.23

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Kurz gesagt, besteht die äußerste Täuschung darin, nicht zu erkennen, dass man bereits hat, wonach man sucht – wie die Jünger Christi, die dessen „realer“ Wiedergeburt harrten und nicht sahen, dass ihre Gemeinschaft selbst bereits der Heilige Geist, die Wiederkunft des lebendigen Christus war. Lebrun ist somit darin recht zu geben, dass der abschließende Umschwung im dialektischen Prozess keineswegs das magische Eingreifen eines deus ex machina darstellt, sondern eine rein formale Umkehrung, einen Perspektivwechsel. Das Einzige, was sich in der abschließenden Versöhnung verändert, ist der Standpunkt des Subjekts, das heißt, das Subjekt bestätigt den Verlust und schreibt ihn als seinen Triumph wieder ein. Versöhnung ist demnach zugleich weniger und mehr als die Standardvorstellung der Überwindung eines Antagonismus impliziert: weniger, weil sich nichts „wirklich verändert“, und mehr, weil dem Subjekt des Prozesses eben seine (besondere) Substanz entzogen wird. Denken wir an das Paradox, das sich mit dem Entschuldigen verbindet. Wenn ich jemanden mit einer groben Bemerkung verletzt habe, ist es angebracht, dass ich aufrichtig um Entschuldigung bitte und dass die betroffene Person daraufhin etwas erwidert wie: „Danke, ich weiß das zu schätzen, aber ich bin nicht gekränkt. Ich wusste, dass du es nicht so gemeint hast. Du brauchst dich also nicht bei mir zu entschuldigen.“ Der Punkt ist hier natürlich, dass am Ende zwar keine Entschuldigung nötig ist, der ritualisierte Prozess aber dennoch insgesamt durchlaufen werden muss. „Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen“ kann der oder die andere nur sagen, wenn ich zuvor um Entschuldigung gebeten habe. Obwohl formal gesehen „nichts passiert“ ist und die Entschuldigung für unnötig erklärt wird, hat der Prozess am Ende doch etwas gebracht (vielleicht sogar die Freundschaft gerettet). Welcher Irrtum ist es nun genau, aus dem die Wahrheit herrührt? Oder, um die gleiche Frage anders zu stellen, um welche Täuschung handelt es sich bei „dieser Täuschung, in der wir leben,“ genau? Es besteht hier eine grundsätzliche Uneindeutigkeit. Die vorherrschende Auffassung wäre die übliche idealistisch-teleologische, nach der der Irrtum in der Annahme besteht, dass der unendliche Zweck nicht bereits erreicht ist, dass wir in einem offenen Kampf mit einem wirklich vorhandenen Feind gefangen sind, dessen Ausgang offen ist. Die Täuschung besteht hier, kurz gesagt, in der Wahrnehmung jener in dem Kampf Gefangenen, die glauben, dass er dem Wirklichen gilt und nicht bereits vorab entschieden worden ist – sie sehen nicht, dass das, was wir endlichen Akteure als einen Kampf mit offenem Ende betrachten, vom Standpunkt der absoluten Idee aus bloß ein Spiel ist, das diese mit sich selbst spielt. Sie „setzt“ – errichtet – ein äußeres Hindernis, um es zu überwinden und sich mit sich selbst zu vereinen … Dies ist jedoch

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nur eine Seite der Täuschung, und die entgegengesetzte Täuschung ist nicht weniger falsch: die Annahme, dass die Wahrheit bereits besteht, dass alles restlos vorherbestimmt, im Voraus entschieden ist, dass unsere Kämpfe nur ein Spiel ohne substanzielle Bedeutung sind – in diesem Fall ist das Absolute weiter eine alles subjektive Handeln vorherbestimmende Substanz und wird noch nicht ebenfalls als Subjekt aufgefasst. Anders ausgedrückt, ist die Beseitigung der Täuschung, dass der unendliche Zweck nicht bereits erreicht ist, die Feststellung, dass die Wahrheit bereits besteht, an sich ein performativer Akt: Indem man erklärt, dass etwas der Fall ist, sorgt man dafür, dass es der Fall ist. Demnach sind, um Stalin zu paraphrasieren, beide Täuschungen schlimmer – wie aber könnten beide entgegengesetzte Täuschungen falsch sein? Ist es nicht so, dass die Dinge entweder vorherbestimmt, im Voraus entschieden worden sind oder nicht? Die Lösung besteht in der Rückwirkung: Die Wahrheit ist der Prozess ihres eigenen Werdens, sie wird, was sie ist (oder vielmehr, was sie immer schon war), aber nicht in dem Sinne, dass sie bloß ihre inneren Potenziale entfaltet, sondern in dem radikaleren Sinne der allmählichen Ausbildung (Errichtung, Konstruktion) ihrer eigenen „ewigen“ Vergangenheit. Eine Sache wird nicht, was sie ist oder sein wird, sondern sie wird, was sie immer schon war, ihr aristotelisches Wesen (to ti ēn einai, „das Was-es-gewesen/im Wesen-ist“ oder das „zeitlos-gewesene Sein“, wie Hegel es übersetzt). Jene Vision eines zukünftigen Stadiums jenseits der Entfremdung, die Brandom entwirft, sorgt dafür, dass er sich in einem falschen Unendlichen der Anerkennung verfängt: Die Lücke zwischen der Absicht und den Folgen unseres Tuns ist konstitutiv, die vollständige Versöhnung für uns unerreichbar, wir sind dazu verurteilt, den Weg zur Überwindung der Disparität unendlich weiterzugehen, jeder Akteur muss auf Vergebung von den zukünftigen Gestalten des großen Anderen vertrauen. In jedem Augenblick erstellen wir eine Geschichte der Versöhnung, die uns mit der Vergangenheit in Einklang bringt, doch „keine solche Geschichte ist abschließend“. Nichts salbt Auffassungen so wie Begriffe, deren richtige (den Normen entsprechend werden sie von ihren Verwendern – jene eingeschlossen, die die rückblickende rationale Rekonstruktion besorgen – zur Darstellung übernommen) Anwendung nicht zu unvereinbaren Festlegungen führen wird, zur Erfahrung von Irrtum und Misserfolg, in der sich die Disparität zwischen dem, was die Dinge für das Bewusstsein sind, und dem, was sie an sich sind, manifestiert, die aufs Neue bekannt und vergeben werden muss. Von jeder solchen Geschichte wird sich schlussendlich erweisen, dass sie eine fehlerhafte Auffassung mit der

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krönenden Aufschrift versehen hat: Dies sind die Dinge an sich, die Begriffe des Wirklichen. Der Sinn, in dem es keine endgültig zufriedenstellende Menge von bestimmten Begriffen (oder Auffassungen) gibt und geben kann, wird prospektiv im Raum zwischen den Erinnerungen sichtbar, in dem Bedürfnis eines jeden vergebenden Richters, dass ihm seinerseits wieder vergeben wird. Die Anerkennungsautorität des derzeitigen Richters gegenüber früheren Richtern ist somit an die Anerkennung durch künftige Richter geknüpft und beinhaltet „ein implizites Bekenntnis des nur teilweisen Erfolgs jedes teilweisen Vollzugs großzügiger Erinnerung“: „Ein solches Bekenntnis stellt eine Einladung für uns nach ihm Kommende dar, ihm konkret das teilweise Scheitern seiner Bemühungen zu verzeihen, indem wir eine bessere Geschichte erzählen. Er vertraut darauf, dass wir das edelmütige Begriffsvorhaben weiterführen.“ Eine solche einfache Selbsthistorisierung/ Selbstrelativierung ist allerdings ganz unhegelianisch – sie vergisst, dass die Disparität nicht durch ihre effektive Überwindung überwunden wird, sondern durch einen Perspektivenwechsel, der sie in ihrer positiven, ermöglichenden Dimension sichtbar macht. Brandom liefert folgende bündige Darstellung des Erkenntnisfortschritts als eine kontinuierliche Revision dessen, was das Objekt für uns ist: „Man muss das Ergebnis seiner Revision als Herausfinden dessen darlegen, was die Dinge die ganze Zeit an sich bereits waren, worüber man wirklich gesprochen und nachgedacht hat, worauf man sich bezogen hat mit seiner Entfaltung der früheren, unterschiedlich fehlerhaften Sinnbedeutungen, der Realität, die die ganze Zeit erschienen ist, wenn auch in manchen Aspekten unvollständig oder unrichtig.“ Ich finde diesen Passus äußerst uneindeutig: Soll er auf die übliche realistische Weise gelesen werden (wir nähern uns allmählich dem Gegenstand an, der da draußen die ganze Zeit derselbe ist), oder markiert der Satz „Man muss das Ergebnis seiner Revision als Herausfinden dessen darlegen, was die Dinge die ganze Zeit an sich bereits waren“ eine differenziertere Position? Das „Finden“ oder „Feststellen“, wie die Dinge an sich wirklich sind (und immer schon waren), wäre dann eine rückwirkende Täuschung, eine Art, unseren Erkenntnisprozess notwendigerweise (falsch) zu verstehen. Eine von Hegels grundlegendsten Ideen ist es, dass der Begriff des Inhalts prinzipiell nur von der Art der Reibung zwischen normativen Haltungen her verständlich wird, die sich in der kognitiven Erfahrung im Aufeinanderprallen unvereinbarer, von einem Wissenden aner-

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kannter Festlegungen zeigt und die, wie wir inzwischen sehen, im sozial-perspektivischen Aufeinanderprallen von anerkannten und jener in der praktischen Erfahrung der Verschiedenheit von Handlung und Tat zugeschriebenen Festlegungen wurzelt. Brandom sieht ganz klar die retroaktive Natur der Hegel’schen Teleologie, das heißt, er ist sich sehr wohl dessen bewusst, dass die rationale Totalität, die durch historische Erinnerung entsteht, in einem „rückblickend unterstellten Plan“ besteht: Welche Rolle ein bestimmtes Ereignis in dem sich entwickelnden Plan spielt, hängt davon ab, was noch geschieht. […] Wenn sich neue Folgen ergeben, wird der Plan geändert und mit ihm, um seine erfolgreiche Umsetzung zu unterstützen, der Status des früheren Ereignisses. Dieser Status kann durch andere Geschehnisse geändert werden, die im Zusammenhang mit dem früheren manche neuen praktischen Möglichkeiten eröffnen und andere verschließen. Der Stellenwert eines Ereignisses ist niemals vollständig und abschließend festgelegt. Er unterliegt immer dem Einfluss späterer Ereignisse. Der unübertreffliche Fall einer solchen rückwirkenden Umkehrung von Kontingenz in Notwendigkeit in der Populärkultur bleibt das Ende von Casablanca. Einem beliebten Mythos zufolge wussten die beiden Hauptdarsteller (Bergman und Bogart) bis in die allerletzten Tage der Dreharbeiten nicht, wie der Film enden wird: Würde Bergman mit ihrem Mann nach Portugal abreisen, würde sie mit Bogart in Casablanca bleiben oder würde einer ihrer männlichen Partner sterben? Doch als die Entscheidung getroffen war und das Ende, das wir heute kennen, feststand, schien die gesamte vorherige Handlung darauf zuzulaufen, das heißt, sie erschien als der einzig „natürliche“ Schluss. Und das wiederum heißt, dass das Geschehen „rückblickend notwendig“ ist: „Es ist nicht der Fall, dass ein gegebener Zustand sich nicht anders hätte entwickeln und etwas anderes hervorbringen können als das, was als sein Nachfolger erscheint.“24 Es ist daher zu simpel, einfach zwei ontologische Ebenen zu unterscheiden: natürliche Gegenstände, die das, was sie sind, unabhängig davon sind, was sie für uns sind, und geistige Gegenstände, die durch unsere Herangehensweise geschaffen werden. Dies ist der Preis, den sowohl Pippin als auch Brandom dafür zahlen, dass sie Hegel als einen Denker der diskursiven Erkenntnis „wieder normalisieren“: der Preis für den Rückfall in einen Kant’schen Dualismus des Bereichs oder der Ebene der empirischen

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Realität und des gesonderten normativen Bereichs der rationalen Argumentation. Was auch immer Hegel ist, ein solcher Dualismus lässt sich mit seinem Denken nicht vereinen.

Die Wunde heilen Hegels radikaler Auffassung nach liegt es in der Macht des Geistes gegenüber unseren Taten, „sie abzuwerfen und ungeschehen zu machen“: Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben; die Tat ist nicht das Unvergängliche, sondern wird von dem Geiste in sich zurückgenommen und die Seite der Einzelheit, die an ihr, es sei als Absicht oder als daseiende Negativität und Schranke derselben vorhanden ist, ist das unmittelbar Verschwindende.25 Auch hier bemüht sich Brandom wieder nach Kräften, diese „verrückte“ Behauptung auf das Normalmaß zurückzuführen; allerdings bringt seine Version des Erinnerns als Heilen der Wunden eine Reihe von Problemen mit sich. Das Erinnern in dieser Version nämlich „vernachlässigt dezidiert regressive Erfahrungen und zeichnet stattdessen eine Bahn dezidiert progressiver Entwicklungen in dem, wie die Dinge für uns waren, die bis zu unserer derzeitigen Auffassung davon reicht, wie sie an sich sind“. Doch was ist mit den äußerst selbstzerstörerischen Momenten, die zu Hegels Erinnerungsnarrativ gehören? Was ist mit dem selbstzerstörerischen revolutionären Terror als Folge absoluter Freiheit? Was ist mit dem absurden unendlichen Urteil, nach dem der Geist ein Knochen ist? Beides ist eine Sackgasse, beides ist überflüssig, aber gerade als solches – als überflüssig oder unnötig – ist beides nötig. Wir müssen einen Irrtum begehen, eine falsche Wahl treffen, um rückwirkend feststellen zu können, dass dies überflüssig war. Anders ausgedrückt, bildet die Hegel’sche Erinnerung nicht einfach die narrative Struktur in ihrer rückwirkenden „inneren Notwendigkeit“, gereinigt von bedeutungslosen Kontingenzen. Sie bringt vielmehr wieder Leben in ein totes Schema, indem sie es „in seinem Werden“ aufs Neue belebt, wie es Kierkegaard formuliert hätte. Sie führt die Kontingenz eines Prozesses nicht auf dessen begriffliche Notwendigkeit zurück, sondern sie stellt den kontingenten Prozess wieder her, aus dem die Notwendigkeit hervorgegangen ist. Der Hauptpunkt aber ist, dass für Hegel Wunden in einem viel stärkeren Sinne geheilt werden, als dass man einfach Schritte zu einer höheren Einheit unternimmt: Sie verschwinden buchstäblich, sie werden „un-

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geschehen“ – aber wie? Erinnern wir uns an den Satz von Wagner am Ende des Parsifal: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“. Hegel sagt das Gleiche, verschiebt allerdings den Akzent in die Gegenrichtung: Der Geist ist selbst die Wunde, die er zu heilen sucht, das heißt, die Wunde ist selbst beigebracht. Was also ist der „Geist“ in seiner grundlegendsten Form? Er ist die „Wunde“ der Natur: Das Subjekt ist die enorme – absolute – Macht der Negativität, der Erzeugung eines Spalts oder Schnitts in die unmittelbar gegebene substanzielle Einheit; es ist die Macht des Differenzierens, des „Abstrahierens“, die auseinanderreißt und als selbstständig behandelt, was in der Realität Teil einer organischen Einheit ist. Der Geist heilt die Wunde folglich nicht unmittelbar, sondern indem er sich gerade des vollen und (geistig) gesunden Körpers entledigt, in den die Wunde geschnitten wurde. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass „die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben“. Hegel will damit nicht sagen, dass der Geist seine Wunden so vollständig heilt, dass in einer magischen Geste rückwirkender Aufhebung auch dessen Narben noch verschwinden. Sein Punkt ist vielmehr der, dass es im Laufe eines dialektischen Prozesses zu einem Perspektivenwechsel kommt, der die Wunde selbst als ihr Gegenteil erscheinen lässt – die Wunde ist ihre eigene Heilung, wenn sie von einem anderen Standpunkt aus betrachtet wird.26 Ist nicht die christliche Erfahrung in ihrem Kern durch eine entsprechende Umkehrung definiert? Wenn ein Glaubender sich allein und von Gott verlassen fühlt, lautet die christliche Antwort nicht, dass er sich läutern und wieder mit Gott vereinen soll, sondern dass er gerade in dieser Verlassenheit bereits eins mit Gott ist (dem von sich selbst verlassenen Gott). In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass Gott aus christlicher Sicht der Menschheit das höchste Geschenk der Freiheit macht: Wenn ich mich allein und von Gott verlassen fühle, wenn ich mir ohne jeden Schutz und jegliche Unterstützung selbst überlassen bin, muss ich die gesamte Perspektive umkehren und in diesem Mangel an Unterstützung und Schutz, in dieser Zurückgeworfenheit auf die eigene Person, die eigentliche Form der menschlichen Autonomie und Freiheit erkennen. Weiterhin sollten wir Brandoms Auffassung von Vergebung und Versöhnung an geschichtlichen Extremphänomenen überprüfen. Was würde es heißen, den Holocaust zu vergeben und mit ihm versöhnt zu werden? Kann man sich außerdem vorstellen, dass diese entsetzliche „Wunde“ dadurch Heilung erfährt und verschwindet, dass sie zu einem Moment einer rational rekonstruierten Geschichte wird? Sollten die Juden, obwohl ihre totale Vernichtung im Holocaust direkt beabsichtigt war, den Nazis verzeihen, weil die Entstehung des Staates Israel sowie das Verbot das Antisemi-

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tismus (in Teilen der Welt zumindest) dessen unbeabsichtigte Folge bildeten? Oder noch obszöner: Sollten die Juden eine Mitschuld am Holocaust einräumen (der Ansicht war Heidegger)? Der einfache Ausweg besteht hier natürlich darin zu behaupten, dass die rationale Geschichtserinnerung nur Momente umfasst, die etwas zum Fortschritt beigetragen haben, und blind zufällige ausweglose Lagen übergeht. Doch dieser einfache Ausweg funktioniert augenscheinlich nicht. Der gewaltsame Antisemitismus ist so offensichtlich Teil der westlichen Geistesgeschichte, dass er sich auf diese Weise nicht übergehen lässt. Zudem bestand die ungewollte Folge des Holocausts in einem gewissen Fortschritt im ethischen Empfinden (einer größeren Sensibilität für die Gefahren des Rassismus), sodass er auf abwegige Weise einen Beitrag zum ethischen Fortschritt leistete, den es sonst nicht gegeben hätte. Demnach kommt man aus dieser Sackgasse nicht heraus, indem man die Wendung „Wunden des Geistes“ wörtlich nimmt und entsprechend so versteht, als seien damit an sich Wunden gemeint, die der Geist davongetragen hat (und den Holocaust als eine Pathologie abtut, die in Wirklichkeit nicht in den angestammten Bereich des Geistes gehört): Der Holocaust ist Teil der ureigensten Geschichte des Geistes, unserer gemeinsamen geistigen Substanz. An dieser Stelle können wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren: In Brandoms Darlegung der Versöhnung zwischen Subjekthandeln und Geistsubstanz fehlt eine zusätzliche reflexive Wendung, die eine Entsprechung zum Übergang von der bestimmten Negation zur negativen Bestimmung oder zum Übergang von der Vermittlung der Unmittelbarkeit zur Unmittelbarkeit der Vermittlung selbst darstellt. Dieser entscheidende Punkt lässt sich am besten klären, indem man der Kernfrage der Hegel’schen Christologie nachgeht: Warum muss die Idee der Versöhnung zwischen Gott und Mensch (der wesentliche Inhalt des Christentums) in einem einzelnen Individuum zur Erscheinung kommen, in Gestalt einer kontingenten Person aus Fleisch und Blut (der Gestalt Christi, des Menschengotts)? Die bündigste Antwort gibt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in denen er die Problematik zunächst so umreißt: Kann das Subjekt diese Versöhnung nicht aus sich selbst zu Stande bringen durch seine Tätigkeit, daß es durch seine Frömmigkeit, Andacht, sein Inneres der göttlichen Idee angemessen mache und dies durch Handlungen ausdrücke. Und kann dies ferner nicht [nur] das einzelne Subjekt, sondern [könnten] alle Menschen, die recht wollten, das göttliche Gesetz in sich aufnehmen, so daß der Himmel auf Erden wäre, der Geist in seiner Gemeinde gegenwärtig lebte, Realität hätte.27

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Man beachte Hegels Präzision, der hier eine doppelte Problematik aufwirft: zunächst die der Vergöttlichung, der geistigen Vervollkommnung des Einzelnen, dann die der kollektiven Verwirklichung der göttlichen Gemeinschaft als „Himmel auf Erden“ in Gestalt einer Gemeinde, die in vollkommener Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz lebt. Anders gesagt, ist die Hypothese, die Hegel hier erwägt, die übliche marxistische: Warum können wir keinen unmittelbaren Übergang vom Ansich zum Fürsich denken, von Gott als an sich seiende volle Substanz jenseits der Menschengeschichte zum Heiligen Geist als geistig-virtuelle Substanz, die nur besteht, sofern sie durch die unablässige Aktivität der Individuen „am Leben erhalten“ wird? Und warum keine solche unmittelbare Ent-Entfremdung, durch welche die Individuen den Gott als transzendente Substanz, als das „verdinglichte“ Resultat ihres eigenen Tuns erkennen? Warum also sind wir dazu nicht in der Lage? Hegels Antwort liegt in der Dialektik von Setzen und Voraussetzen begründet: Wenn das Subjekt dazu in der Lage wäre, aus sich selbst heraus, wäre dies eine bloße Setzung seinerseits – das Setzen aber ist an sich immer einseitig und auf Voraussetzungen angewiesen: „Die Einheit der Subjektivität und Objektivität, diese göttliche Einheit muss als Voraussetzung sein für mein Setzen“.28 Und Christus als Gottmensch ist die außen vorausgesetzte Einheit/Versöhnung: zunächst die unmittelbare Einheit, dann die mittelbare in Gestalt des Heiligen Geistes – wir gehen von Christus, dessen erste Eigenschaft die Liebe ist, zur Liebe selbst als Subjekt über (im Heiligen Geist „bin ich, wo zwei von euch einander lieben“). Doch selbst hier wirkt es vielleicht so, als könne man Hegel mit Hegel kontern: Ist nicht dieser Zirkel von Setzen-Voraussetzen genau der Zirkel von Substanz-Subjekt, des Heiligen Geistes als einer nur im Tun und Walten lebender Menschen aufrechterhaltenen, effektiv existierenden, in ihre Wirklichkeit kommenden geistigen Substanz? Bei Hegel hat die Substanz virtuellen Status: Sie existiert nur, insofern Subjekte handeln, als ob sie existiert. Ihr Status gleicht dem einer ideologischen Sache wie des Kommunismus oder des Heimatlandes: Sie ist die „geistige Substanz“ der Individuen, die sich in ihr selbst erkennen, sie ist der Grund ihrer gesamten Existenz, der Bezugspunkt, der ihrem Leben den letzten Sinnhorizont verleiht, etwas, für das diese Menschen ihr Leben zu geben bereit wären. Das Einzige aber, was „tatsächlich existiert“, sind diese Menschen und ihr Tun. Demnach besteht diese Substanz nur wirklich, sofern die Einzelnen „an sie glauben“ und entsprechend handeln. Warum also, nochmals gefragt, können wir nicht unmittelbar von der, vorausgesetzten, geistigen Substanz (der naive Vorstellung des an sich seienden Geistes oder Gottes, die den Menschen unbe-

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rücksichtigt lässt) zu ihrer subjektiven Vermittlung und der Erkenntnis übergehen, dass ihre Voraussetzung selbst durch die Aktivität der Individuen rückwirkend „gesetzt“ wird? Hier kommen wir zu Hegels entscheidender Einsicht: Versöhnung kann nicht unmittelbar sein, sie muss zuerst ein Ungeheuer erzeugen (in einem erscheinen). Hegel verwendet dieses unerwartet starke Wort „Ungeheuerlichkeit“ zwei Mal auf einer Seite, um damit die erste Gestalt der Versöhnung zu bezeichnen, die Erscheinung von Gott im Fleische eines endlichen menschlichen Individuums: „Das ist das Ungeheure, dessen Notwendigkeit wir gesehen haben.“29 Dem fragilen endlichen Individuum ist es „unangemessen“, für Gott zu stehen, „die Unangemessenheit überhaupt“30 – sind wir uns der wirklich dialektischen Paradoxie dessen bewusst, was Hegel hier behauptet? Schon das Bemühen um Versöhnung, der erste Schritt dahin, erzeugt ein Ungeheuer, eine groteske „Unangemessenheit an sich“. Warum also, nochmals, diese merkwürdige „Zwischenschaltung“, warum kein unmittelbarer Übergang von der (jüdischen) Kluft zwischen Gott und Mensch zur (christlichen) Versöhnung durch eine einfache Wandlung des „Gottes“ aus dem Jenseits in den immanenten Gemeinschaftsgeist? Das erste Problem besteht hier darin, dass die Juden diese Wandlung gewissermaßen bereits vollzogen haben: Wenn es je eine Religion der geistigen Gemeinschaft gegeben hat, so ist es das Judentum – diese Religion, die sich über das Leben nach dem Tod nicht ausführlicher äußert, nicht einmal über den „inneren“ Glauben an Gott, sondern die die vorgeschriebene Lebensweise in den Mittelpunkt stellt und großen Wert darauf legt, dass die Gemeinschaftsregeln befolgt werden. Daher ist der jüdische Gott gleichzeitig sowohl ein transzendenter substanzieller Einer als auch der virtuelle Eine der geistigen Substanz. Inwiefern unterscheidet sich daher diese jüdische Gemeinschaft der Gläubigen von der christlichen und mithin vom Heiligen Geist? Um auf diese äußerst wichtige Frage angemessen zu antworten, gilt es hier die entsprechend hegelianische Beziehung zwischen Notwendigkeit und Kontingenz zu berücksichtigen. In einer ersten Annäherung scheint es so zu sein, dass die Notwendigkeit die umfassende Einheit beider bildet, das heißt, dass die Notwendigkeit selbst die Kontingenz als das äußere Feld setzt und vermittelt, in dem sie sich selbst ausdrückt/verwirklicht – die Kontingenz ist somit selbst notwendig, sie ist das Resultat der Selbstentäußerung und Selbstvermittlung der begrifflichen Notwendigkeit. Es kommt nun allerdings entscheidend darauf an, diese Einheit um die gegenteilige zu ergänzen, das heißt um die Kontingenz als die umfassende Einheit ihrer selbst und der Notwendigkeit. Die Erhebung der Notwendigkeit zum

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strukturierenden Prinzip des kontingenten Feldes der Mannigfaltigkeit ist nämlich selbst ein kontingenter Akt – fast könnte man sagen, dass sie das Ergebnis eines kontingenten („offenen“) Kampfes um die Vorherrschaft darstellt. Diese Verschiebung entspricht der von S zu S/, von der Substanz zum Subjekt. Den Ausgangspunkt bildet dabei eine kontingente Mannigfaltigkeit; durch Selbstvermittlung („spontane Selbstorganisation“) erzeugt/ setzt die Kontingenz ihre immanente Notwendigkeit, so wie das Wesen das Resultat der Selbstvermittlung des Seins ist. Einmal entstanden, setzt das Wesen rückwirkend „seine eigenen Voraussetzungen“, das heißt, es hebt seine Voraussetzungen in untergeordnete Momente seiner Selbstreproduktion auf (aus dem Sein wird Erscheinung); die Setzung allerdings erfolgt rückwirkend. Die hier zugrundeliegende Verschiebung ist die zwischen dem Setzen der Voraussetzungen und dem Voraussetzen des Setzens: Die Grenze der Feuerbach-Marx’schen Logik der Ent-Entfremdung ist die des Setzens der Voraussetzungen: Das Subjekt überwindet seine Entfremdung, indem es sich selbst als den aktiv Handelnden erkennt, der selbst gesetzt hat, was ihm als substanzielle Voraussetzung erscheint. Religiös gewendet, käme dies der unmittelbaren (Wieder-)Inbesitznahme Gottes durch die Menschen gleich: Das Geheimnis Gottes ist der Mensch, „Gott“ ist nichts als die vergegenständlichte oder substanzialisierte Version der kollektiven Aktivität des Menschen und so weiter. Was hier jedoch fehlt, ist die entsprechend christliche Geste: Um die Voraussetzung zu setzen (Gott zu „vermenschlichen“, auf einen Ausdruck/ein Ergebnis des menschlichen Tuns zu reduzieren), sollte das (menschlich-subjektive) Setzen selbst „vorausgesetzt“, sollte es in Gott als substanzielle Grundvoraussetzung des Menschen, als dessen eigene Menschwerdung/Verendlichung verortet werden. Der Grund dafür ist die konstitutive Endlichkeit des Subjekts: Das vollständige Setzen der Voraussetzungen durch das Subjekt käme dem vollständigen rückwirkenden Setzen/Erzeugen seiner Voraussetzungen gleich, das heißt, das Subjekt würde zum vollständigen Selbstanfang verabsolutiert. In seinem Opus postumum entwickelt Kant die Idee der Selbstsetzung des reinen (transzendentalen) Ichs als ein passives (empfangendes) Objekt, das in der Welt mit anderen Objekten interagiert: Man kann von anderen Objekten nur affiziert werden, kann andere Objekte nur wahrnehmen, insofern man selbst (auch) ein Objekt ist, das mit den Objekten, die einen affizieren, interagiert. Darum muss das reine Ich sich in einem Urakt als passiv, als einen Affektionsempfänger setzen. Der Dreh besteht hier darin, dass das reine Ich sich mithin selbst als einen Teil der Welt setzen muss, die es durch transzendentale Synthesis erzeugt. Die tiefe Wahrheit dieser Vor-

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stellung kann sich selbst bei naiv-intuitiver Annäherung erschließen: Auf einer bestimmten Elementarebene fallen die Spontaneität der Apperzeption und die Passivität des Affiziertwerdens zusammen, das heißt, um affiziert zu werden, um passiver Empfänger zu sein, muss man sich „spontan“ als solcher setzen, so wie man sich als offen/empfänglich für Musik „setzen“ muss, um sie passiv genießen zu können (was auch der Grund dafür ist, dass Tiere oder unmusikalische Menschen durch Musik nicht affiziert werden können). Die Argumentation ist demnach differenzierter als die simple Vorstellung, nach der nur ein Objekt von einem anderen Objekt affiziert werden kann, sodass das reine Ich auch ein Objekt in der Welt sein muss: Wenn eine Person etwas wahrnimmt, dann ist das nicht einfach die Interaktion eines Objekts mit einem anderen, sondern es ist das Ich selbst, das dabei affiziert wird; das Ich selbst, als Nichtobjekt, muss sich demnach selbst als offen für das Affiziertwerden setzen und die Wahrnehmung des Ichs von sich als einem Objekt in der Welt ist bloß ein Aspekt – eine objektivierte Version – dieses seines spontanen Vermögens zum Affiziertwerden. Aus diesem Grund muss der Unterschied zwischen Substanz und Subjekt als die irreduzible Lücke, welche die menschlichen Subjekte von Christus, dem „mehr als menschlichen“, ungeheuren Subjekt trennt, reflektiert/in die Subjektivität selbst eingeschrieben werden. Diese Notwendigkeit Christi, des „absoluten“ Subjekts, das sich der Reihe endlicher menschlicher Subjekte als das supplementäre a (S/+S/+S/+S/+S/ … + a) anschließt, ist es, was die Hegel’sche Position von der vom jungen Marx und von Feuerbach vertretenen Position unterscheidet, wonach der große Andere die durch das Kollektivsubjekt gesetzte virtuelle Substanz, dessen entfremdeter Ausdruck ist. Christus signalisiert die Überschneidung der beiden Kenoses: Die Entfremdung des Menschen von/in Gott ist zugleich die Entfremdung Gottes von sich selbst in Christus. Demnach ist es nicht nur so, dass sich der Mensch in der entfremdeten Gestalt Gottes seiner selbst bewusst wird, sondern in der menschlichen Religion wird sich auch Gott seiner selbst bewusst. Es reicht nicht, wenn man sagt, dass die Menschen (Individuen) sich im Heiligen Geist (in der Partei oder Gemeinschaft der Gläubigen) selbst organisieren: In der Menschheit organisiert sich ein transsubjektives „Es“ selbst. Die Endlichkeit der Menschheit, des menschlichen (kollektiven oder individuellen) Subjekts bleibt hierbei bewahrt: Christus ist der Exzess, der die einfache Anerkennung des Kollektivsubjekts in der Substanz, die Reduktion des Geistes auf die durch die Menschheit (voraus-)gesetzte objektive/virtuelle Entität verhindert. Man muss aufräumen mit dem alten platonischen Topos der Liebe als Eros, der stufenweise von der Liebe zu einem einzelnen Individuum über

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die Liebe zur Schönheit des menschlichen Körpers im Allgemeinen und der Liebe zur schönen Form als solcher bis zur Liebe zum höchsten Gut jenseits aller Formen aufsteigt. Damit wahre Liebe entstehen kann, muss diese stufenweise Aufstiegsbewegung zum Allgemeinen durch einen abrupten Abstieg oder Sturz in die Singularität ergänzt werden: Man verliebt sich auch im ontologischen Sinne des Zurückfallens in die Einzigkeit einer kontigenten Person, die man liebt (in derselben Weise, wie im Christentum der allgemeine Gott in die kontingente einzelne Person von Jesus Christus herabfallen muss, oder in derselben Weise, wie in Hegels Theorie der Monarchie der allgemeine Staat „herabfallen“ und sich in der kontingenten Person eines Monarchen verkörpern muss). Anders ausgedrückt, ist die wahre Liebe gerade das Gegenteil des Aufgebens der zeitlichen Existenz für die Ewigkeit, sie ist der Schritt hin zum Aufgeben des Versprechens der Ewigkeit selbst für ein unvollkommenes Individuum. (Diese Lockung der Ewigkeit hat viele Erscheinungsformen, vom postmodernen Ruhm bis zum Erfüllen der eigenen sozialen Rolle.) Was, wenn die Geste der Entscheidung für die zeitliche Existenz, des Aufgebens des ewigen Seins um der Liebe willen – von Christus bis zu Siegmund im 2. Akt von Wagners Walküre, der lieber ein Normalsterblicher bleiben will, wenn ihm seine geliebte Sieglinde nicht nach Walhall, der ewigen Wohnstadt der toten Helden, folgen kann – der höchste ethische Akt von allen ist? Brünnhilde ist von Siegmunds Weigerung tief berührt: „So wenig achtest du ewige Wonne? Alles wär’ dir das arme Weib, das müd und harmvoll matt von dem Schosse dir hängt? Nichts sonst hieltest du hehr?“ Darum ist die Liebe Liebe zu einem Nächsten. Wenn Freud und Lacan beharrlich darauf verweisen, dass sich mit der jüdisch-christlichen Aufforderung zur Nächstenliebe ein Problem verbindet, geht es ihnen nicht um die übliche Ideologiekritik, wonach jede Universalitätsidee von unseren partikularen Wertvorstellungen eingefärbt ist und somit versteckte Ausgrenzungen umfasst. Ihrem viel stärkeren Argument zufolge lässt sich die Idee vom Nächsten nicht mit der Universalitätsdimension vereinbaren. Was sich der Universalität widersetzt, ist die im eigentlichen Sinne inhumane Dimension des Nächsten. Diese genauen Unterscheidungen ermöglichen es uns, den Übergang vom „objektiven Geist“ (OG) zum „absoluten Geist“ (AG), wie es bei Hegel heißt, zu erfassen: Durch die Vermittlung Christi wandelt sich der OG in den AG. Es gibt keinen Heiligen Geist ohne den geschändeten Leib Christi: Die beiden Pole – das Universelle (die virtuelle Unendlichkeit/Unsterblichkeit des Heiligen Geistes [OG]) und das Partikulare (die wirkliche endliche/sterbliche Gemeinschaft der Gläubigen [subjektiver Geist oder SG]) – können nur durch Christi ungeheuerliche Einzigartigkeit vermittelt werden. Wir gelan-

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gen nicht dadurch vom OG zum AG, dass wir uns den „vergegenständlichten“ OG kollektiv-subjektiv einfach aneignen (auf die bekannte, von Feuerbach und dem jungen Marx vertretene pseudo-hegelianische Weise: „die kollektive menschliche Subjektivität erkennt in dem OG ihr eigenes Produkt, den vergegenständlichten Ausdruck ihrer eigenen schöpferischen Kraft“) – dies wäre eine simple Reduktion des OG auf den SG. Wir erreichen diesen Übergang aber auch nicht dadurch, dass wir jenseits des OG eine weitere, noch mehr an sich seiende absolute Entität setzen, die den SG wie den OG umfasst. Der Übergang vom OG zum AG besteht in nichts weiter als der dialektischen Vermittlung zwischen OG und SG, im vorgenannten Einbeziehen der Lücke, die den OG vom SG innerhalb des SG trennt, sodass der OG als solcher, als eine objektive, „verdinglichte“ Entität erscheinen (erfahren werden) muss, und zwar durch den SG selbst (sowie in der umgekehrten Erkenntnis, dass ohne subjektiven Bezug auf ein Ansich des OG die Subjektivität selbst zerfällt, in psychotischen Autismus zusammensinkt). (Auf die gleiche Weise überwinden wir im Christentum den Gegensatz von Gott als objektiv-geistiges Ansich und der menschlichen Subjektivität [der Gläubigen], indem wir diese Lücke in Gott selbst übertragen: Das Christentum ist nur und genau insofern die „absolute Religion“, als in ihm der Abstand, der Gott vom Menschen trennt, auch Gott von sich selbst trennt [und den Menschen vom Menschen, vom „Inhumanen“ in ihm].) Der Zusammenhang lässt sich auch folgendermaßen darstellen: Alles, was beim Übergang vom OG zum AG geschieht, ist, dass man dem Rechnung trägt, dass „es keinen großen Anderen gibt“. Der AG ist im Vergleich zum OG keine „stärkere“ absolute Entität, sondern eine „weniger starke“ – um zum AG zu gelangen, gehen wir von der verdinglichten Substanz zu einer subjektivierten virtuellen Substanz über. Der AG entgeht somit beiden Fallen: In ihm wird weder der SG auf ein untergeordnetes Element der Selbstvermittlung des OG reduziert, noch der OG im Stile Feuerbachs und des jungen Marx subjektiviert (auf eine vergegenständlichte Äußerung/ Projektion des SG reduziert). Wir gelangen zum AG, wenn wir (SG) nicht länger das Agens des Prozesses sind, wenn „er sich selbst organisiert“, und zwar in/durch uns – freilich nicht im Modus perverser Selbstinstrumentalisierung. Darin besteht die Falle des Stalinismus: Im Stalinismus gibt es den großen Anderen und „wir“ Kommunisten sind seine Werkzeuge. Im Liberalismus dagegen gibt es keinen großen Anderen, sondern bloß uns, die Individuen (oder wie Margaret Thatcher sagte, gibt es so etwas wie Gesellschaft nicht). Einer dialektischen Analyse erschließt sich, inwiefern sich diese beiden Positionen aufeinander stützen: Die Wahrheit des OG des Stalinismus ist der Subjektivismus (wir – die Partei, das stalinistische Sub-

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jekt – bilden den großen Anderen, wir entscheiden, was die „objektive Notwendigkeit“ ist, die wir zu realisieren vorgeben); die Wahrheit des Liberalismus ist der große Andere in Form des Netzwerks von objektiven Regeln, die das Wechselspiel der Individuen aufrechterhalten. Lacan entwickelt den Übergang vom Ontischen (Faktischen) zum Deontischen (Normativen) anhand seines Begriffs der Ursache, die er gegenüber der Kausalität (dem Kausalnetz) abgrenzt. Wie er in seinem Seminar XI ausführt, il n’y a de cause que de ce qui cloche, gibt es eine Ursache nur bei einem Straucheln/Fehltritt/Aussetzer31 – eine These, deren offensichtlich paradoxer Charakter sich erklärt, wenn man Ursache und Kausalität gegeneinander abgrenzt: Für Lacan ist beides keineswegs dasselbe, weil eine „Ursache“ im strengen Wortsinn gerade etwas ist, das an den Stellen dazwischentritt, wo das Kausalnetz (die Ursache-Wirkung-Kette) aussetzt, wo die Kausalkette einen Einschnitt, eine Lücke aufweist. In diesem Sinne stellt die Ursache für Lacan eine Fernursache dar (eine „abwesende Ursache“, wie es im Jargon des fröhlichen Strukturalismus der 1960er- und 1970er-Jahre hieß): Sie wirkt in den Zwischenräumen und Rissen des unmittelbaren Kausalnetzes. Lacan denkt in diesem Zusammenhang ausdrücklich an die Arbeit des Unbewussten. Stellen wir uns einen gewöhnlichen Versprecher vor: Auf einer Tagung von Chemikern hält einer der Teilnehmer einen Vortrag über, sagen wir, den Austausch von Flüssigkeiten. Plötzlich kommt er ins Straucheln und verspricht sich, indem er mit einer Aussage über den Durchfluss von Sperma beim Geschlechtsverkehr herausplatzt – ein „Attraktor“ greift von einem (in Freuds Worten) „anderen Schauplatz“ her schwerkraftartig ein, indem er seine unsichtbare Fernwirkung ausübt, den Raum des Redeflusses krümmt und eine Lücke in ihn reißt. Kommen wir auf das Verhältnis zwischen der faktischen und der normativen Ebene zurück: Lacans Auffassung nach wirkt demnach nur dann eine Ursache (ein normativer „Attraktor“, der uns dazu drängt oder nötigt, Dinge zu tun), wenn es eine Störung/einen Einschnitt im Kausalnetz unserer Realität gibt. Die normative Dimension ist ein Indikator des durcheinandergebrachten/irregeführten Realitätsgefüges. Der „große Andere“, die geistige Substanz, lässt sich auch als der Bereich der „objektiven Erscheinungen“ bestimmen. Wenn Brandom schreibt, „denn während etwas rot erscheinen und es in Wirklichkeit nicht sein könnte, könnte es nicht rot zu erscheinen scheinen und in Wirklichkeit nicht rot erscheinen“, verfehlt er den Punkt. Aus strikt hegelianischer Sicht sollte man sagen: Doch, es könnte, und darin besteht der spekulative Kern von Hegels Erscheinungsbegriff. Nehmen wir den Fall des Warenfetischismus: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, tri-

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viales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“32 Marx stellt sich nicht auf den üblichen Standpunkt der Aufklärungskritik und behauptet, dass durch kritische Analyse aufgezeigt werden sollte, wie eine Ware – die als mysteriöses theologisches Ding erscheinende Sache – aus dem „normalen“ Lebensprozess heraus entstanden ist; er behauptet vielmehr, dass die Aufgabe der kritischen Analyse darin besteht, die „metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken“ in Dingen zutage zu bringen, die auf den ersten Blick normale Gegenstände zu sein scheinen. Der Warenfetischismus (unser Glaube, dass Waren mit einer inhärenten metaphysischen Kraft ausgestattete magische Objekte sind) ist nicht in unserem Geist verortet, in der Art, wie wir die Realität (falsch) auffassen, sondern in unserer sozialen Realität selbst. Anders gesagt: Wenn ein Marxist auf ein dem Warenfetischismus verfallenes bürgerliches Subjekt trifft, dann hält er diesem nicht vor: „Es mag Ihnen so scheinen, als sei die Ware ein magischer Gegenstand, der über spezielle metaphysische Kräfte verfügt, eigentlich aber ist er lediglich ein verdinglichter Ausdruck zwischenmenschlicher Verhältnisse.“ Sein marxistischer Vorwurf lautet vielmehr: „Sie mögen glauben, dass Ihnen die Ware als eine einfache Verkörperung sozialer Zusammenhänge erscheint (dass etwa Geld bloß eine Art Gutschein darstellt, der Ihnen das Recht auf einen Teil des Sozialproduktes gibt), doch so erscheinen Ihnen die Dinge nicht wirklich. In Ihrer sozialen Realität bezeugen Sie durch Ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Austausch die unheimliche Tatsache, dass Ihnen eine Ware wirklich als ein magischer Gegenstand erscheint, der über spezielle metaphysische Kräfte verfügt.“ Das Gleiche gilt für die meisten von uns im Hinblick auf den religiösen Glauben: Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, und es gibt keinen Gott, doch mit meinem tatsächlichen Verhalten bezeuge ich gleichwohl meinen unbewussten Glauben an Gott. Genau vor dem Hintergrund solcher Paradoxien können wir Hegels berühmt-berüchtigter Äußerung „Wenn die Tatsachen mit der Theorie nicht übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen“ eine neue Wendung geben: Es ist eine Tatsache, dass mein Vater ein dummer Schwächling ist, wenn ihn seine symbolische Identität jedoch als einen mutigen, klugen Mann definiert, umso schlimmer für die Tatsachen …

Selbstbewusstsein = Freiheit = Vernunft All diese Komplikationen deuten darauf hin, dass Brandoms „auf Normalmaß gebrachter“ Begriff des Selbstbewusstseins unzureichend ist. Lässt sich von den Arbeiten Robert Pippins Besseres sagen? In seiner kurzen, aber

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sehr wichtigen Abhandlung über die Funktion des Selbstbewusstseins in Hegels Logik33 unternimmt Pippin den heroischen Versuch, dessen verrücktestes spekulatives Prinzip, nach dem „Selbstbewusstsein, Freiheit und Vernunft“ eins sind, zu normalisieren (in unser Alltagsverständnis zu übertragen). Wie geht er dabei vor? Wie erwartet, dämpft er zunächst die Erwartungen: Der erste Schritt in einer solchen „Normalisierung“ besteht darin, dass Pippin Hegels Logik deontologisiert, indem er sie als „etwas wie einen Bericht aller möglichen Berichterstattungen [präsentiert], einen Zuständigkeitsbereich, der alles einschließt, von ethischen Rechtfertigungen über empirische Urteile bis hin zum Erklärungsbegriff, der vom zweiten Gesetz der Thermodynamik vorausgesetzt wird“ (S. 149). In einer solchen Sichtweise eines „deflationierten“ Hegel wird die Logik auf eine formale Analyse aller möglichen Verfahren (impliziter oder expliziter) Argumentation reduziert: Wie und wodurch rechtfertigen wir unsere Behauptung, dass heute bewölktes Wetter herrscht, dass es richtig ist, beim nächsten Mal nicht wählen zu gehen, dass es sich bei einem bestimmten Gemälde um ein großes Kunstwerk handelt, dass die Quantenphysik mit ihren Aussagen recht hat, dass der Kreationismus keine Wissenschaft ist und so weiter? Und wie sollte unser Denken strukturiert sein, damit unsere sämtlichen Behauptungen eine normative Dimension haben und reflexive Rechtfertigungen umfassen (all unsere Aussagen, sogar die empirischsten, registrieren nie bloß einen Stand der Dinge, sondern rechtfertigen sich gleichzeitig selbst)? In seinem Buch Hegel’s Practical Philosophy bezeichnet Pippin dies als „das Vermögen mancher natürlicher Wesen, sich ihrer selbst auf nichtbeobachtende, doch eher selbstbestimmende Weise inne zu sein“:34 Was Hegel nahezulegen scheint, ist einfach dies, dass natürliche Organismen auf einem bestimmten Komplexitäts- und Organisationsniveau dahin gelangen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und schließlich ein Verständnis von sich entwickeln, das nicht mehr innerhalb der Grenzen der Natur erklärbar ist oder in irgendeiner Form das Resultat empirischer Beobachtung darstellt.35 Es ist das Erreichen der aufhebenden Beziehung zur Natur, das den Geist ausmacht; natürliche Wesen, die diese Beziehung kraft ihrer natürlichen Fähigkeiten erreichen können, sind geistig; diese Beziehung erreicht zu haben und sie aufrechtzuerhalten, heißt geistig zu sein; Wesen, die dies nicht vermögen, sind es nicht.36

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Das letzte Zitat zeigt, auf welch schmalem Grat sich Pippin hier bewegt: Obwohl er schreibt, dass Menschen „natürliche Wesen [sind], die [die geistige Selbstbeziehung] kraft ihrer natürlichen Fähigkeiten erreichen können“, befürwortet er damit keineswegs die aristotelische Sichtweise, wonach der Mensch ein substanziell Seiendes ist, zu dessen positiven Eigenschaften die Potenziale oder Vermögen zur geistigen Selbstbeziehung gehören. Für Pippin (der darin Hegel folgt) ist der Geist keine substanzielle, sondern eine rein prozesshafte Entität: Er bildet das Resultat seines eigenen Werdens, macht sich selbst zu dem, was er ist – die einzige substanzielle Realität, die es gibt, ist die Natur. Die Unterscheidung zwischen Natur und Geist geht somit nicht darauf zurück, dass dieser sich der Art nach von den Naturdingen unterscheidet, sondern sie hängt vielmehr eher mit den unterschiedlichen Kriterien zusammen, die zu ihrer Erklärung notwendig sind: Der Geist stellt „eine Art Norm“ dar, „eine erreichte Form individueller oder kollektiver Gesinntheit und institutionell verkörperter Anerkennungsbeziehungen“. Das heißt, dass freie Handlungen sich nach dem Grund unterscheiden, auf den ein Subjekt sich zu ihrer Rechtfertigung gegebenenfalls beruft, und die Rechtfertigung ist eine grundlegend soziale Praxis, nämlich die von den an einer Reihe gemeinsamer Institutionen Beteiligten geübte Praxis des „Anführens von und Fragens nach Gründen“. Selbst auf der individuellen Ebene kommt das Bekunden einer Absicht „dem Bekenntnis zu einer Handlungszusage [gleich], deren Inhalt und Glaubwürdigkeit (sogar für mich) in gewisser Weise in der Schwebe bleibt, bis ich die Zusage zu erfüllen beginne“. Erst wenn meine Absicht von anderen und mir selbst als in meinem Tun erfüllte oder umgesetzte Absicht anerkannt wird, kann ich mein Handeln als mein eigenes bezeichnen. Man beachte die radikale Implikation von Pippins Position: Das Subjekt ist konstitutiv dezentriert im Lacan’schen Sinne; über seinen ureigensten Status als frei Handelnder wird außerhalb von ihm entschieden – im Zuge der sozialen Anerkennung – und rückwirkend, mit Verzögerung, nach der Tat(sache). Die Rechtfertigung erweist sich demnach eher als retrospektiv denn als prospektiv, als ein Prozess, in dem die Haltung des Handelnden gegenüber seinem Tun keineswegs maßgebend ist. (Pippin stellt heraus, inwiefern Hegels seltsame Wiederholung bezüglich des Kunstschönen – der „aus dem Geiste geborenen und wiedergeborenen Schönheit“ – in dem gleichen Sinne als ein Hinweis auf die Lücke zwischen der Handlung des Subjekts und ihrer Einschreibung in den symbolischen großen Anderen verstanden werden sollte: Ein Kunstwerk wird zuerst vom Künstler geschaffen/geboren und dann durch seine Aufnahme/Anerkennung durch die Gesellschaft in seinem sozialen Status neu geschaffen/wiedergeboren. Ent-

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scheidend ist hier der zeitliche Verzug zwischen beidem, die Dezentrierung der wahren Bedeutung des Kunstwerks in Bezug auf die Absicht des Urhebers: Der Urheber/Künstler erfährt selbst erst im Nachhinein aus den Reaktionen, die sein Werk hervorruft, worin dessen wahre Bedeutung besteht.) Ein Handelnder zu sein und seinen Mitmenschen Gründe zur Rechtfertigung des eigenen Tuns liefern zu können, ist folglich selbst ein „erreichter sozialer Status – wie etwa ein Bürger oder ein Professor zu sein –, ein Produkt oder Resultat von wechselseitigen Anerkennungshaltungen“. Diese Folgerung ist radikaler, als es vielleicht scheint: Objektive wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht einfach eine Sache zwischen dem Wissenschaftler und der unpersönlichen Realität, sondern sie hat eine intersubjektive Grundlage. Das heißt, dass die Aussagen des Wissenschaftlers, wenn sie als zutreffend anerkannt werden, einen bestimmten sozialen Status erlangt haben, und die Stellung eines Subjekts als „Wissenschaftler“ funktioniert letztlich wie eine symbolische Anspruchsberechtigung, die in wechselseitigen Anerkennungspraktiken gründet. Wir können nun erkennen, in welchem Sinn genau Pippin eine Art „hegelianisierter Kantianer“ bleibt: Der unüberschreitbare Horizont der philosophischen Reflexion ist für ihn das Bewusstsein von sich selbst als minimaler Selbstbezug, dessentwegen wir Menschen unsere Handlungen mit Gründen rechtfertigen müssen: Beim Urteilen ist man sich nicht bloß der Sache bewusst, über die man urteilt, sondern auch der Tatsache, dass man über etwas urteilt, etwas geltend macht, behauptet. Wäre es nicht in der Form apperzeptiv, ließe sich ein Urteil nicht von der Änderungssensibilität eines Thermometers unterscheiden, und Thermometer können ihre Behauptungen/ Messwerte nicht verteidigen. Man urteilt jedoch nicht gleichzeitig, dass man urteilt, oder könnte dies gleichzeitig tun. Das Urteil ist vielmehr gewissermaßen das Bewusstsein des Urteilens. Es sind dies nicht zwei Akte, sondern einer. (S. 153) Pippins Ansatz ist hier dem von Kristeva genau entgegengesetzt: Das Definitionsmerkmal der Subjektivität ist für ihn das Selbstbewusstsein (im genauen Sinne der rationalen Selbstreflexivität, im Sinne dessen, dass unser ganzer Realitätsbezug als eine solche vorausgesetzt werden muss), während Kristevas Augenmerk auf das Abjekt als „irrationale“ Substanz gerichtet ist, von der das Subjekt einen minimalen Abstand gewinnen muss, um als Subjekt fungieren zu können. Ich bin der Auffassung, dass beide der Negativität nicht gerecht werden und sie als die Gründungsgeste der Subjektivität verfehlen.

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Pippin legt in Weiterentwicklung dieser seiner Grundeinsicht dar, inwiefern ein solches Selbstbewusstsein notwendig ist, damit das Wahrnehmungssubjekt die grundlegendste Unterscheidung zwischen der zeitlichen Abfolge unserer Wahrnehmungen eines Objekts und dessen eigentlichen Eigenschaften vornehmen kann. Nur ein seiner selbst bewusstes Subjekt versteht, dass die Abfolge seiner Wahrnehmungen beim Umhergehen im Haus nicht die Abfolge (oder eine Veränderung) darstellt, die zu dem Haus selbst gehört – das Haus bleibt dasselbe, in ihm vollzieht sich keine Veränderung. Das heißt: „Das Erlangen der Einheit des Selbstbewusstseins ist das Unterscheiden des Scheins vom Sein“: Das Unterscheiden, was wozu gehört, was womit in einer zeitlichen Ordnung verbunden ist, das Wissen, dass die aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen eines Hauses nicht als die Wahrnehmung einer entsprechenden Geschehensabfolge in der Welt gelten, erfordert eine apperzeptive Einheit; es geschieht dem Bewusstsein nicht einfach so. Das Geschehende bildet eine reine Abfolge. Eine solche Einheit ist nur durch das Selbstbewusstsein möglich, und in ihr verwirklicht sich die Kraft des Begreifens. Die von der Kraft des Begreifens (wobei „Begreifen“ begreifen meint, kein bloßes Zusammendenken) bewirkte Einheit aber ist die Repräsentationseinheit, die den Gegenstandsbezug möglich macht. Das Vereinheitlichen durch „rot“ schafft die Einheit, die besagt, wie Dinge sind. Sie, die Rose, gehört zu den roten Dingen, nicht zu dem, was mir zuvor rotartig schien. Ohne diese Fähigkeit zur Unterscheidung der Dinge, wie sie sind, davon, wie sie einem scheinen, gäbe es so viele „Ichs“ wie willkürlich verknüpfte Erscheinungsbilder und keine Einheit des Selbstbewusstseins. Oder anders ausgedrückt: Das Erlangen der Einheit des Selbstbewusstseins ist das Unterscheiden des Scheins vom Sein, und darum sind die Regeln für diese Unterscheidung für eine solche Einheit konstitutiv. (S. 147 f.) Pippin bringt hier das klassisch Kant’sche Argument an, wonach die Vorstellung eines Gegenstands, der jenseits des sich ständig verändernden Flusses seiner Erscheinungen-für-uns mit sich identisch ist (wir wissen, dass es dasselbe Haus ist, egal ob wir es bei Sonne oder Regen, von vorn oder von der Seite betrachten), beim Wahrnehmungssubjekt ein Bewusstsein von sich selbst voraussetzt. Das Selbstbewusstsein ist demnach kein auf einer zweiten Ebene angesiedeltes Bewusstsein dessen, was man sich bewusst ist (kein Metabewusstsein im Sinne einer Metasprache, kein Bewusstseinsbewusstsein), sondern ein Bestandteil des Bewusstseins (eines Gegenstands) selbst:

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Dass all diese Dinge selbst-bewusst ausgeführt werden, heißt, dass von niemandem gesagt werden könnte, er oder sie behaupte „nur“ oder glaube einfach oder handle bloß. Jeder solche Akt, sofern selbstbewusst, muss potenziell auf die Frage nach dem Warum ansprechbar sein, das heißt auf Gründe. (Eine Behauptung ist eine solche Ansprechbarkeit; Letztere stellt keine sekundäre oder gar eigenständige Dimension Ersterer dar.) Und es ist zumindest plausibel, wenn man sagt: Je ausgeprägter eine solche potenzielle Ansprechbarkeit (oder anders gesagt, je ausgeprägter das Selbstverständnis), desto „freier“ ist die Aktivität, desto mehr lässt sich sagen, dass man sie als seine genuin eigene einlöst, befürwortet, hinter ihr als die eigene steht. (So also bekommen wir das eingangs angeführte Kernstück des Deutschen Idealismus, das Prinzip, dass „Selbstbewusstsein, Freiheit und Vernunft eins sind“.) (S. 159) Die Verbindung zwischen den drei Begriffen – Selbstbewusstsein, Freiheit, Vernunft – wird nun offensichtlich: Die Vernunft ist niemals bloß Einsicht in die „objektive“ Notwendigkeit, sondern geht bei jeder Tatsache immer mit einer normativen Entfaltung des „Warum“ einher, und Freiheit ist „begriffene/verstandene Notwendigkeit“: Je mehr Antworten ein Subjekt auf das „Warum“ hat, umso komplexer ist seine Einsicht in das Beziehungsgefüge, das es umgibt, desto eher ist es – in der einzig sinnvollen Bedeutung des Wortes – „frei“. Pippin ergänzt hier natürlich Kant um die Hegel’sche Darstellung der (transzendentalen, nicht empirischen) Entstehung des Selbstbewusstseins aus dem Komplex der auf gegenseitige Anerkennung ausgerichteten sozialen Beziehungen: „Der ,Geist‘ entsteht in dieser vorgestellten sozialen Auseinandersetzung, in dem, was wir schließlich voneinander fordern.“ Es beweist den Kantianismus Pippins, dass er beim üblichen transzendentalen Dualismus landet: Die Philosophie wird auf eine transzendentale Analyse der Bedingungen von Berichterstattungen und Erklärungen reduziert und als solche von der wissenschaftlichen Erforschung der Dinge vollkommen getrennt. Darüber hinaus ist hier bei einem solchen transzendentalisierten Hegel kein Platz für dessen „verrückteste“ Feststellungen wie die von (Nord- und Süd-)Amerika als Syllogismus mit einer schmalen Kopula, die seine beiden Teile zusammenfügt (der schmale Abstand zwischen den beiden Ozeanen in Panama). Noch viel schwerer wiegt aber, dass es auch keinen Platz für die zentrale Dimension der Hegel’schen Dialektik von Substanz und Subjekt gibt. Selbstverständlich entfaltet Pippin den langen und gewundenen Prozess der Subjektivierung der Substanz zwar detailliert als einen Freiheitsfortschritt durch die allmähliche

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reflexive Übernahme von Substanzbestimmungen. Was er jedoch völlig außer Acht lässt, ist die Frage, inwiefern der Abstand des Subjekts vom substanziellen Sein als deren eigene Selbstspaltung in die Substanz zurückversetzt werden muss – als Moment der Umkehrung, wenn die Substanz sich „in sich zurückbeugt“ (um die Formulierung zu verwenden, die Pippin als leere Metapher verwirft). Diese Schwachstelle reicht bis zu Pippins erstem Meisterwerk zurück, Hegel’s Idealism, wo er es in der Auseinandersetzung mit Hegels Triade aus setzender, äußerer und bestimmender Reflexion versäumt, die Besonderheit der bestimmenden Reflexion zu erfassen. Pippin beginnt seine Überlegungen mit „den Begrenztheiten einer ausschließlich setzenden und äußeren Reflexion“: Keine Identität (oder identifizierende Reflexionsregel, kategoriale Grundregel oder qualitative Identität) wird einfach gesetzt; sie wird im Lichte der „vorausgesetzten“ bestimmten Unterschiede „reflektiert“, aus denen sie und nur sie folgen kann. Doch die Unterschiede, die eine Art begriffliche „Identifizierung“ erfordern sollen, werden selbst immer als solche erfasst, auf eine Weise, die bereits von der Identifizierung solcher Unterschiede abhängt.37 Auf eine etwas vereinfachte Weise wird die Entgegensetzung zwischen setzender und äußerer Reflexion auf die Entgegensetzung zwischen der unmittelbaren Behauptung („Setzung“) der Identität eines x und der Aufdeckung des Geflechts der von dieser Identität implizierten („vorausgesetzten“) Unterschiede reduziert: Was x ist, ist durch ein komplexes Geflecht von Differenzbeziehungen bestimmt – ein Mann ist keine Frau, eine Nacht kein Tag und so weiter. Pippin gelangt dann zu dem ziemlich offensichtlichen Schluss, dass die beiden Reflexionen sich gegenseitig bedingen. Demnach impliziert jedes Setzen einer Identität eine Reihe von Unterschieden (wenn man sagt, x ist ein Mann, sagt man zugleich auch, dass x keine Frau ist), und jede Differenzbeziehung setzt die Identität der Elemente voraus, auf die sie sich bezieht (die Identität der Frau sollte ebenfalls gesetzt werden). Die Frage ist dann: Sind wir in der „falschen Unendlichkeit“ des Hin und Her zwischen diesen beiden Reflexionen gefangen oder gibt es einen dritten Reflexionstyp, der dieses endlose Pendeln überwindet? An diesem Punkt führt Hegel die bestimmende Reflexion als „die ausgeglichene Position [ein], die beide Extreme vermeidet“38 – Pippins Auffassung nach bewältigt sie die Aufgabe nicht so recht:

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Sicherlich versucht [Hegel] fortgesetzt zu erklären, was er mit der bestimmenden Reflexion meint, indem er die „Weder-noch“-Darstellung wiederholt. […] Es muss Reflexion geben, eine selbstbewusste Bestimmung des Wesens, und da es nicht die setzende oder die äußere Reflexion sein kann, muss es „die Form der Reflexion sein, die weder das eine noch das andere ist“. Und obwohl man, wie ich meine, sagen kann, es sei ein typischer und schwerwiegender Mangel von Hegels Philosophie, dass es ihm besser gelingt, uns zu vermitteln, worin eine annehmbare Lösung für ein Problem nicht bestehen kann, als im Einzelnen zu schildern, worin eine solche bestehen kann und besteht (und dass er bei seiner Darstellung der „bestimmten Negation“ manchmal der Auffassung zu sein scheint, dass das positive Ergebnis einfach die Erkenntnis einer solchen bestimmten Unzulänglichkeit ist), brauchen wir in diesem Fall viel mehr als einen solchen Programmentwurf dessen, worin eine annehmbare Lösung bestehen würde. […] Entweder behauptet Hegel ohne größere Erklärung einfach die Möglichkeit einer Position wie dieser: „Insofern es nun also das Gesetztsein ist, das zugleich Reflexion in sich selbst ist, so ist die Reflexionsbestimmtheit die Beziehung auf ihr Anderssein an ihr selbst.“ Oder er bedient sich einer auffallend seltsamen Metapher, um anzudeuten, wie dies alles möglich sein soll, und spricht von „Gesetztsein, Negation, welche aber die Beziehung auf Anderes in sich zurückbeugt.“39 In dieser Passage wird eine präzise kritische Diagnose entfaltet. Erstens: Hegel ist zu keiner genauen und sinnvollen Bestimmung der bestimmten Reflexion in der Lage – entweder behauptet er einfach ihre Möglichkeit, das heißt, er liefert deren formale tautologische Definition, eine Art Programmentwurf, oder er füllt die begriffliche Lücke mit nichtbegrifflichen Metaphern. Zweitens: Diese Schwierigkeit mit der bestimmten Reflexion ist bloß ein exemplarischer Fall eines schwerwiegenden Mangels der gesamten Hegel’schen Philosophie – Hegel kann besser vermitteln, worin die annehmbare Lösung für ein Problem nicht besteht, als im Einzelnen darlegen, wie eine solche Lösung aussehen könnte … Bei dieser Kritik steht eine Menge auf dem Spiel – trifft sie nämlich zu, ist Hegels Dialektik, unumwunden gesagt, völlig entkräftet, weil in ihrem zentralen Moment, der dialektischen Umkehrung (der „Negation der Negation“), entscheidend geschwächt und ausgehöhlt. Doch pendelt Hegel tatsächlich zwischen Tautologien und Metaphern hin und her? Man beachte die Einschränkung, die Pippin in Klammern hinzusetzt: Hegel „scheint manchmal der Auffassung zu sein, dass das positive Ergebnis einfach die Erkenntnis einer solchen bestimmten Un-

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zulänglichkeit ist“. Was aber ist, wenn der von Pippin evozierte Mechanismus – weit davon entfernt, die Nebenversion dessen zu sein, wie Hegel eine blockierte Situation aufzulösen sucht – auf das entscheidende Strukturelement der dialektischen Umkehrung verweist, auf den rein formalen Wechsel der Perspektive, der das Subjekt erkennen lässt, inwiefern das Problem (das, was als Problem erschien) seine eigene Lösung darstellt? Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Bezeichnungen und Beschreibungen für diese reflexive Umkehrung, bis hin zur Überführung eines Erkenntnishindernisses/einer Erkenntnisantinomie in ein ontologisches Merkmal der Sache selbst: Was die Unzulänglichkeit zu einer „bestimmten“ macht, ist, dass sie keinen „äußeren“ (rein epistemologischen) Mangel darstellt, sondern einen „inneren“ (der Sache selbst immanenten). Denken wir an den Fall der Auslegung eines Kunstwerks: Die „setzende Reflexion“ nähert sich dem Werk unmittelbar an und beschreibt einfach, was es ist; die „äußere Reflexion“ nimmt eine Reihe vielfältiger Deutungen vor und erhebt das Werk zu einem Ansich, das sich Interpretationen entzieht; die „bestimmte Reflexion“ verlegt diese Vielfalt in das Werk selbst zurück und bestimmt sie als immanente Entfaltung der in ihm angelegten antagonistischen Potenziale. Dies meint die Rede vom „in sich zurückbeugen“: Die bestimmte Reflexion beugt die äußeren Bestimmungen in die Sache selbst zurück. Sie fügt der äußeren Reflexion nichts hinzu – vielmehr subtrahiert sie von ihr das vorausgesetzte Ansich als unverfügbaren Substanzkern, um den herum die subjektiven Interpretationen zirkulieren. Es ist daher falsch, die Spannung zwischen setzender und äußerer Reflexion als Pendelbewegung zwischen den beiden Extremen zu beschreiben und dann nach einer Lösung zu suchen, die zwischen beiden vermitteln würde: Die bestimmte Reflexion stellt eine sogar noch stärkere Negation des Ansich dar als die äußere Reflexion. Die äußere Reflexion setzt das Ansich lediglich als eine unerreichbare Transzendenz, während die bestimmte Reflexion das Ansich von allem vorausgesetzten substanziellen Inhalt entleert und auf die Leere reduziert. An dieser Stelle kommt die radikalste Dimension von Hegels Denken ins Spiel, die von Pippin übersehen wurde: die Dimension der Umkehrung der Disparität zwischen Subjekt und Substanz in die Disparität der Substanz mit sich selbst. Diese Umkehrung vollzieht sich auf allen Ebenen: Subjektivität entsteht, wenn die Substanz keine völlige Übereinstimmung mit sich erreichen kann, wenn sie in sich selbst „gebarrt“, von einer immanenten Unmöglichkeit oder einem Antagonismus durchzogen ist; der Erkenntnismangel des Subjekts, sein Scheitern, den entgegengesetzten substanziellen Inhalt vollständig zu erfassen, bezeichnet zugleich eine Begrenztheit, ein Scheitern oder einen Mangel des substanziellen Inhalts

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selbst; die durch den Gläubigen erfahrene Verlassenheit von Gott ist gleichzeitig eine Kluft, die Gott von sich selbst trennt, ein Anzeichen der „Unvollendetheit“ der göttlichen Identität und so weiter. Auf die von Pippin diagnostizierte ontologische Ambiguität bezogen heißt das, dass der Abstand, der das Normative vom Faktischen trennt, zugleich auch als Lücke innerhalb des Faktischen selbst aufgefasst werden muss. Oder, um es etwas anders auszudrücken: Obwohl alles durch die sich auf sich beziehende Leere der Subjektivität gesetzt/vermittelt werden muss, entsteht die Leere selbst aus der Substanz durch deren Selbstentfremdung. Wir treffen hier also auf dieselbe Ambiguität, die das Lacan’sche Reale kennzeichnet: Alles ist subjektiv vermittelt, das Subjekt aber steht nicht am Anfang – es entsteht durch die Selbstentfremdung der Substanz. Mit anderen Worten: Obwohl wir über keinen unmittelbaren Zugang zum substanziellen präsubjektiven Realen verfügen, können wir es auch nicht loswerden. Zur Bezeichnung dieser rückbezüglichen Bewegung verwendet Hegel den ungewöhnlichen Ausdruck „absoluter Gegenstoß“ und meint damit einen „Rückzug von“, der ebendas hervorbringt, wovon er sich zurückzieht: Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen. Dieses Vorgefundene wird nur darin, daß es verlassen wird […]. Die reflektierende Bewegung ist somit nach dem Betrachteten als absoluter Gegenstoß in sich selbst zu nehmen. Denn die Voraussetzung der Rückkehr in sich – das, woraus das Wesen herkommt und erst als dieses Zurückkommen ist –, ist nur in der Rückkehr selbst.40 „Absoluter Gegenstoß“ steht demnach für das radikale Zusammenfallen des Entgegengesetzten, bei dem die Aktion als ihre eigene Gegenaktion erscheint oder, genauer, bei dem die negative Bewegung (der Verlust, der Rückzug) selbst erzeugt, was sie „negiert“. Das Vorgefundene, das „nur darin [wird], daß es verlassen wird“, und seine Umkehrung (das, wozu wir zurückkehren, entsteht „nur in der Rückkehr selbst“, wie eine Nation, die sich konstituiert, indem sie „zu ihren verlorenen Wurzeln zurückkehrt“) bilden die beiden Seiten dessen, was Hegel „absolute Reflexion“ nennt: eine Reflexion, die ihrem Gegenstand nicht mehr äußerlich ist und ihn als gegeben voraussetzt, sondern gleichsam die Schleife schließt und ihre Voraussetzung setzt. Die Bedingung der Möglichkeit ist hier, mit Derrida gesprochen, im radikalen Sinne zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit: Ge-

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rade das Hindernis, das der vollständigen Behauptung unserer Identität im Weg steht, eröffnet den Raum für sie. Hegel verwendet den Ausdruck „absoluter Gegenstoß“ – das spekulative Zusammenfallen des Entgegengesetzten in der Bewegung, durch die eine Sache aus ihrem eigenen Verlust entsteht – auch in seiner Erläuterung der Kategorie des Grundes, wo er mit einem seiner berühmten Wortspiele die Ausdrücke „Grund“ und „zugrunde gehen“ verknüpft: Die Reflexionsbestimmung, indem sie zugrunde geht, erhält ihre wahrhafte Bedeutung, der absolute Gegenstoß ihrer in sich selbst zu sein, nämlich daß das Gesetztsein, das dem Wesen zukommt, nur als aufgehobenes Gesetztsein ist, und umgekehrt, daß nur das sich aufhebende Gesetztsein das Gesetztsein des Wesens ist. Das Wesen, indem es sich als Grund bestimmt, bestimmt sich als das Nichtbestimmte, und nur das Aufheben seines Bestimmtseins ist sein Bestimmen. – In diesem Bestimmtsein als dem sich selbst aufhebenden ist es nicht aus anderem herkommendes, sondern in seiner Negativität mit sich identisches Wesen.41 So unklar diese Zeilen vielleicht auch scheinen, die Logik, die ihnen zugrunde liegt, ist deutlich: In einer Reflexionsbeziehung wird jeder Begriff (jede Bestimmung) durch einen anderen (sein Gegenteil) gesetzt, die Identität durch den Unterschied, die Erscheinung durch das Wesen und so weiter – in diesem Sinne ist es „aus anderem herkommendes“. Wenn das Gesetztsein durch sich selbst aufgehobenes ist, wird das Wesen nicht mehr unmittelbar durch einen äußeren Anderen bestimmt, durch das komplexe Geflecht seiner Beziehungen zu seiner Andersheit, der Umgebung, in die es eingetaucht ist – es bestimmt sich vielmehr selbst, das heißt, es ist „der absolute Gegenstoß seiner in sich selbst“; die Lücke oder Dissonanz, durch die es seine Dynamik erhält, ist absolut immanent. Der einzige vollständige Fall eines absoluten Gegenstoßes und mithin von etwas, das gerade durch seinen Verlust entsteht, ist der des Subjekts selbst, das aus seiner eigenen Unmöglichkeit resultiert. In diesem präzisen Hegel’schen Sinn ist das Subjekt die Wahrheit der Substanz. Die Wahrheit jedes substanziellen Dings besteht darin, dass es der rückwirkende Effekt seines eigenen Verlusts ist. Das Subjekt als S/ existiert nicht vor seinem Verlust, es entsteht aus ihm als Rückkehr zu sich. Mit anderen Worten ist das Subjekt nicht nur immer ausgestrichen, verloren, verfehlt, es ist auch ein Name für einen solchen Verlust, der rückwirkend erzeugt, was verloren ist.

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Reflexivität des Unbewussten Wie verhält sich aber nun dieses ausgestrichene Subjekt zum Unbewussten? Die psychoanalytische Standardtheorie fasst das Unbewusste als eine psychische Substanz der Subjektivität (den altbekannten verborgenen Teil des Eisbergs) auf – als die ganze Tiefe der Wünsche, Fantasien, Traumata et cetera. In seinen flüchtigen kritischen Anmerkungen zur Psychoanalyse folgt Pippin dieser Linie. Für ihn bleibt das Freud’sche Unbewusste eine präreflexive Bestimmung des Subjekts, eine unmittelbare substanzielle Gegebenheit, die als solche das Selbstbewusstsein als selbstreflexives Rechenschaftgeben bereits voraussetzt (und nicht erklären kann). Kurz gesagt, ist jede (Selbst-)Erklärung eines Subjekts (wenn etwa eine Person behauptet, ihre Handlungen seien von ihrem Unbewussten [über-]determiniert gewesen) auf reflexive Selbstrechenschaft angewiesen: Die Geste, das eigene Handeln durch unbewusste Antriebe zu erklären, lässt sich selbst gerade nicht durch unbewusste Determination erklären. Es mag so scheinen, als sei die Psychoanalyse beziehungsweise die psychoanalytische Sitzung jener einzigartige Ort, wo es dem Patienten im „freien Assoziieren“ erlaubt, ja sogar vorgeschrieben ist, sich über jede Beschränkung hinwegzusetzen und „alles zu sagen“ und nichts auszulassen – und man könnte sich sogar auf den Standpunkt stellen, dass dies der Grund dafür ist, warum es die Psychoanalyse in muslimischen Ländern (und nur dort) nicht gibt … Dabei sollten wir allerdings eins nicht vergessen: Was uns die „freie Assoziation“ liefert, sind die genauen Koordinaten unserer psychischen Unfreiheit, nämlich all die Beschränkungen und Traumata, von denen unser Alltagsbewusstsein nichts weiß. Beim „freien Assoziieren“ stellen wir uns gewissermaßen „freiwillig“ unserer Unfreiheit und zeigen sie vor. Hier nun kommen wir zu Lacans entscheidender Leistung. Im Bruch mit der psychoanalytischen Standardtradition entsubstanziiert er das Unbewusste (für ihn ist das kartesische Cogito das Freud’sche Subjekt) und bringt die Psychoanalyse so auf die Höhe der modernen Subjektivität. Dies heißt nichts anderes, als dass er ebenjenen Mechanismus der Selbstrechenschaft, der für Pippin das Selbstbewusstsein auszeichnet, im Unbewussten ausmacht. Und hier ist Lacan viel hegelianischer als Pippin selbst: Für Hegel steht das „Selbstbewusstsein“ nach dessen abstrakter Definition für eine rein nichtpsychologische, selbstreflexive Schicht der Registrierung (Remarkierung) der eigenen Position, der reflexiven „Rechenschaftslegung“ dessen, was man tut. Hierin besteht die Verbindung zwischen Hegel und der Psychoanalyse. In genau diesem nichtpsychologischen Sinne nämlich ist das Selbstbewusstsein für die Psychoanalyse ein Objekt – etwa ein Tick, ein

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Symptom, das die Unrichtigkeit der eigenen Position verrät, derer man sich nicht bewusst ist. Angenommen, ich habe etwas falsch gemacht und rede mir daraufhin ständig ein, dass ich das Recht hatte, dies zu tun; ohne dass ich selbst es bemerke, wird meine Schuld dabei von irgendeiner mir rätselhaft und bedeutungslos erscheinenden Zwangshandlung „registriert“, die davon zeugt, dass meine Schuld irgendwo bemerkt wurde. Hier haben wir die Funktion des Lacan’schen „großen Anderen“ in Reinform. Er ist jene unpersönliche nichtpsychologische Instanz (oder vielmehr, jener entsprechende Ort) der Registrierung, der „Zurkenntnisnahme“ dessen, was geschieht. So gilt es auch, Hegels Auffassung des Staates als „Selbstbewusstsein“ eines Volkes zu verstehen: „Der Staat ist die selbstbewußte sittliche Substanz“.42 Ein Staat ist nicht einfach ein blind arbeitender Mechanismus zur Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens; er umfasst immer auch eine Reihe von Praktiken, Ritualen und Institutionen, die ihm dazu dienen, seinen eigenen Status zu „deklarieren“, und durch die er seinen Subjekten als das erscheint, was er ist – Paraden und öffentliche Festlichkeiten, feierliche Eide oder Rechts- und Erziehungsrituale, die die Zugehörigkeit des Subjekts zum Staat behaupten (und dadurch darstellen). Am Selbstbewusstsein des Staates ist nichts Geistiges, wenn wir unter „geistig“ Ereignisse und Eigenschaften von der Art verstehen, wie sie für unseren eigenen Geist maßgebend sind. Im Falle des Staates kommt Selbstbewusstsein dem Bestehen von reflexiven Praktiken gleich, wie beispielsweise, aber nicht nur, erzieherischen. Paraden, mit denen der Staat seine militärische Stärke demonstriert, wären ebensolche Praktiken wie Grundsatzerklärungen der Legislative oder Urteile des Obersten Gerichtshofs – und dies wären sie selbst dann, wenn alle (menschlichen) Teilnehmer an einer Parade, alle Mitglieder der Legislative oder des Obersten Gerichtshofs ihre jeweilige Funktion in dieser Sache nur aus persönlicher Gier, Trägheit oder Furcht ausüben würden und sogar wenn sämtliche dieser Teilnehmer oder Mitglieder völlig desinteressiert wären, sich während des ganzen Geschehens bloß langweilten und überhaupt keine Vorstellung von seiner Bedeutung hätten.43 Es ist für Hegel also ganz klar, dass dieses Aufreten nichts mit bewusster Wahrnehmung zu tun hat: Es spielt keine Rolle, was im Kopf der Einzelnen vorgeht, während sie an einer Zeremonie teilnehmen; die Wahrheit liegt in der Zeremonie selbst. Das Gleiche gilt Hegel zufolge auch für die Hochzeitszeremonie, welche die intimste Liebesverbindung registriert: „[D]ie

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feierliche Erklärung der Einwilligung zum sittlichen Bande der Ehe und die entsprechende Anerkennung und Bestätigung desselben durch die Familie und Gemeinde […] [macht] die förmliche Schließung und Wirklichkeit der Ehe aus“, weshalb es der „Frechheit und de[m] sie unterstützende[n] Verstand“ zuzuschreiben ist, wenn „die Feierlichkeit, wodurch das Wesen dieser Verbindung […] ausgesprochen und konstatiert wird, für eine äußerliche Formalität […] genommen wird“,44 bei der die Innigkeit des leidenschaftlichen Empfindens keine Rolle spielt. Ein ähnliches Beispiel findet sich bei Marx: Wenn er im zweiten Kapitel des Kapitals darlegt, warum Gold und Silber Waren darstellten, die sich zur Verwendung als allgemeine Äquivalente aller Waren (Geld) eigneten, nimmt er eine Unterscheidung zwischen zwei Gebrauchswerten des Goldes vor: seinem Gebrauchswert als eine besondere Ware und seinem „formalen“ Gebrauchswert: [D]a der Unterschied der Wertgrößen rein quantitativ ist, muß die Geldware rein quantitativer Unterschiede fähig, also nach Willkür teilbar und aus ihren Teilen wieder zusammensetzbar sein. Gold und Silber besitzen aber diese Eigenschaften von Natur. Der Gebrauchswert der Geldware verdoppelt sich. Neben ihrem besondren Gebrauchswert als Ware, wie Gold z. B. zum Ausstopfen hohler Zähne, Rohmaterial von Luxusartikeln usw. dient, erhält sie einen formalen Gebrauchswert, der aus ihren spezifischen gesellschaftlichen Funktionen entspringt.45 Der wirklich spekulative Ausdruck hier ist „formaler Gebrauchswert“: Der Unterschied zwischen Tausch- und Gebrauchswert muss in den Gebrauchswert selbst hineinreflektiert werden, wodurch dieser sich von innen spaltet und ein seltsamer Gebrauchswert entsteht, dessen „Nutzen“ nicht in seiner wirksamen praktischen Verwendung besteht, sondern darin, dass er zur Verkörperung des Tauschwerts dient. Erklären wir dies an einem Beispiel aus einem anderen Bereich. Wenn bei manchen polynesischen Stämmen ein junger Mann mit einem Mädchen schlafen will, das ihn öffentlich zurückgewiesen hat, wird von ihm erwartet, dass er geräuschlos in das Zelt kriecht, in dem das Mädchen schläft, und sich ihr aufzudrängen versucht; es ist ebenfalls Brauch, dass er sich am ganzen Körper mit Öl einreibt, sodass, falls das Mädchen Widerstand leistet und ihn zu greifen versucht, er sich ihrem Griff leicht entwinden und entwischen kann … Ist es nicht offensichtlich, dass sich das Einreiben mit Öl nicht vollständig durch seinen tatsächlichen Gebrauchswert rechtfertigen lässt? Das Einölen der Haut

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weist auch einen von Lacan sogenannten „Ritualwert“ auf: Es ist eine Handlung, die nicht nur deshalb ausgeführt wird, um den gewünschten Effekt in der körperlichen Realität zu erzielen (die rutschige Haut ermöglicht das Entwischen), sondern auch und vor allem sogar, um eine Botschaft zu übermitteln, um eine subjektive Einstellung zu bekunden. Der Betreffende erklärt dem Mädchen gegenüber damit seine Absicht: Er hat vor, mit ihr zu schlafen, doch wenn sie das nicht möchte, braucht sie es nur zu signalisieren, indem sie ihn zu greifen versucht, und er wird verschwinden … Daher stellt diese Interaktion auch keine Vergewaltigung dar, sondern ein komplexes sexuelles Ritual. Das Gleiche trifft auf einen südafrikanischen Stamm zu, dessen Angehörige auf der bloßen Erde schlafen, wobei sie ihren Kopf beim Schlafen nicht auf eine feste Unterlage betten (einen Stein oder einen anderen Kissenersatz) – ihr Kopf ruht auf der geöffneten Handfläche, die den Ellenbogen darunter waagerecht verlängert, was zweifellos keine sonderlich komfortable Position darstellt. Die pragmatische Begründung dafür lautet, dass der Kopf auf diese Weise fast in der Luft schwebt, sodass die Insekten und Würmer, die auf der Erde wimmeln, nicht so leicht das Gesicht erreichen und in die Ohren oder andere Gesichtsöffnungen eindringen können – auch dies ist eine Vorgehensweise, die durch ihre lächerliche Unbeholfenheit nicht sonderlich viel Sinn ergibt, und darum müssen wir den „Ritualwert“ der Botschaft oder der Haltung hinzunehmen, der sich darin zeigt. Ist es mit anderen Worten nicht in beiden Fällen offensichtlich, dass es bei der ausgeführten Handlung in Wahrheit auf ihren „formalen Gebrauchswert“ ankommt? Mit einer Handlung wird auf unbeholfene Weise Wirksamkeit nachgeahmt; doch genau die Unbeholfenheit hinsichtlich ihres Gebrauchswerts (etwa der eingeölten Haut, die es dem Betreffenden ermöglichen soll, dem Mädchen zu entfliehen) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Handlung selbst und kennzeichnet sie als eine symbolische Aufführung und Absichtserklärung. Wir können somit klar erkennen, worin sich das Kant’sche Transzendentalsubjekt und das Freud’sche Subjekt voneinander unterscheiden: Im Gegensatz zur üblichen Auffassung, wonach es sich beim transzendentalen Subjekt als dem substanzlosen Subjekt reiner Apperzeption um eine nichtpsychologische formale Funktion handelt und beim Freud’schen Subjekt um einen in substanziellen Bestimmungen gefangenen empirischen Akteur und Träger pathologischer Leidenschaften (im Kant’schen wie im klinischen Sinne des Ausdrucks), ist das Freud’sche Subjekt „reiner“ als das transzendentale: Es ist ein gänzlich entpsychologisiertes, über keinen bestimmten ontologischen Status verfügendes X, eine virtuelle Entität, die niemals „ist“, sondern immer schon gewesen sein wird. Und während das

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Subjekt des Selbstbewusstseins unablässige Anstrengungen unternimmt, um seine „unbewussten“ substanziellen Bestimmungen zu subjektivieren, wie Pippin es beschreibt, demonstriert Lacan, inwiefern das Unbewusste selbst bereits gänzlich reflexiviert/entsubstanzialisiert ist. Für die „normativistischen“ Hegelianer (Brandom, Pippin und andere) besteht das zentrale philosophische Faktum demnach in der vollständigen Autonomie der (subjektiven) Vernunft: Die Vernunft handelt als ihr eigener Richter, der nichts akzeptiert als das direkt oder unmittelbar Gegebene. Weil jede bestehende Tatsache reflexiv begründet, ihr reflexiv Rechnung getragen werden muss, ist die Vernunft der Endlosprozess der Selbstbegründung, der sich auf keine Gestalt des externen Anderen (Gott, Natur) als letzte richterliche Instanz stützt. (In dieser Sicht wird das Hegel’sche absolute Wissen auf Kant’sche Weise als das unerreichbare Ziel der vollständigen reflexiv-rationalen Selbstbegründung umgedeutet.) Folglich müssen diese „normativistischen“ Hegelianer den drei großen Denkern der nachhegelianischen „Hermeneutik des Verdachts“ (Marx, Nietzsche und Freud) ablehnend gegenüberstehen: Sie alle beziehen sich auf einen präreflexiven substanziellen Anderen (den ökonomischen Unterbau bei Marx, das Leben bei Nietzsche, das Unbewusste bei Freud), der die Vernunft ihrer Autonomie beraubt und sie zu seinem Werkzeug macht (für Marx etwa dient die Ideologie den Klasseninteressen), einer bloß sichtbaren Spitze des Eisbergs, der effektiv jedoch durch seine unsichtbare Tiefe beherrscht und reguliert wird … Aber trifft diese Darstellung auch zu? In Bezug auf den Deutschen Idealismus jedenfalls kann man zeigen, dass er sich vom späten Fichte an mit der Frage herumschlägt, wie der Subjektivität ohne Rückfall in einen vorkritischen (vor-Kant’schen) Realismus Grenzen gesetzt werden können. Wenn Marx seinerseits von politischer Ökonomie spricht, so bezeichnet er damit den subjektiven Kern des „ökonomischen Unterbaus“, bei dem es sich nicht um einen objektiven Prozess handelt, sondern um einen vom politischen Kampf überdeterminierten Prozess; was die „normativistischen“ Hegelianer am historischen Materialismus beanstanden, trifft nur für dessen vulgär-deterministische Variante zu. Im Hinblick auf das Unbewusste verfängt ihr Einwand nur bei der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts und bei Jung (der aus dem Freud’schen Unbewussten wieder eine Substanz machte), doch bei Freud und Lacan mit Sicherheit nicht. Wenn Lacan immer aufs Neue versichert, il n’y a pas de grand Autre – es gibt keinen großen Anderen –, dann meint er damit gerade, dass das Unbewusste keine entfremdete Substanz ist, die das Subjekt determiniert: Das Freud’sche Unbewusste ist eine Bezeichnung für die Uneinheitlichkeit der Vernunft selbst. Wir sollten daran denken, dass Lacans Schrift „Das Drän-

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gen des Buchstabens im Unbewussten“ im Titel fortgeführt wird mit „oder die Vernunft seit Freud“, und darin heißt es: „Der unerträgliche Skandal zu der Zeit, als die Freudsche Sexualität noch nicht als heiliggesprochen galt, bestand darin, daß sie so ,intellektuell‘ erschien.“46 Die Tatsache des Unbewussten bedeutet nicht, dass die Vernunft von ihrem Anderen beherrscht wird, sondern dass sie von innen dezentriert ist. Das Gleiche lässt sich auch anhand von Malabous Analogie mit Erdbeben und deren Struktur sagen: Das Freud’sche Unbewusste ist nicht das tiefe Hypozentrum des Seelenlebens eines Subjekts, sondern gerade dessen Epizentrum. Nehmen wir den Fall des Namens, der uns gegeben wird: In gewisser Weise kann man sagen, dass wir alle George Kaplan sind (ein Name, der in Hitchcocks Der unsichtbare Dritte durch ein dummes Missverständnis der Figur des – von Cary Grant gespielten – Roger O. Thornhill angehängt wird). An einer Hotelbar wird Thornhill von ausländischen Spionen irrtümlich für einen geheimnisvollen CIA-Agenten namens George Kaplan gehalten und entsprechend behandelt, was ihn verständlicherweise völlig aus der Fassung bringt. Thornhills missliche Lage ist letztlich die Lage von uns allen: Wir alle bekommen auf kontingente Weise einen Namen angeheftet, der nichts mit unserem wahren Wesen zu tun hat und in dem höchstens Wünsche und Ängste der Eltern angelegt sind, die einen aber womöglich nicht einmal betreffen (wenn man etwa nach einem reichen Onkel benannt wird, um ihm zu schmeicheln und an einen Teil seines Erbes zu kommen). Doch wie kontingent er auch immer sein mag, dieser Name bezeichnet mich. Damit, dass ich ihn annehme, verbindet sich eine Art Investitur, bürde ich mir irgendeine Verpflichtung oder Erwartungen anderer Art auf. Interessant wird es, wenn die Eigenschaften, die mir durch einen Namen von außen auferlegt werden, in tiefen Schichten meiner Psyche wie erwartet Nachhall finden. Nehmen wir etwa den Fall von Thornhill – was ist, wenn die Tatsache, dass er für den Spion Kaplan gehalten wurde, eine Reihe mehr oder weniger deutlicher Wünsche, Leidenschaften und Ängste in ihm erregte, die mit Spionage zu tun hatten (die eigene Identität zu verschleiern; zu versuchen, hinter die Geheimnisse anderer zu kommen, und so weiter) und von denen er bisher nichts wusste, weil sie im Verborgenen schlummerten? Allerdings (und nun kommen wir zum entscheidenden Punkt) bedeutet dieser Nachhall nicht, dass die Wünsche, die sich mit Spionage verbinden, immer schon da waren, dass sie tief im Inneren lauerten und nur auf die Gelegenheit gewartet haben, sich zu äußern. Was „tief in mir“ ist, ist nicht das eigentliche Unbewusste, sondern ein Durcheinander des Realen, und es ist die kontingente Tatsache, dass ich einen neuen Namen annehme (den des Spions Kaplan in jenem Fall), die

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bewirkt, dass sich aus dem Durcheinander in mir mancherlei Wünsche, Ängste und Leidenschaften performativ herausbilden. Kurz gesagt und in Rückgriff auf Malabous Analogie bildet der Name Kaplan (der in Thornhills Identität effektiv ein Erdbeben verursacht) das Epizentrum von Thornhills Seelenleben, das Kennzeichen der Unruhe, die ihn befällt. Aus Freud’scher Sicht kommt es viel mehr auf das Epizentrum als auf das tiefe „Hypozentrum“ an.

Teil II

Die Disparität der Schönheit: Das Hässliche, das Abjekt und die minimale Differenz

4 Die Kunst nach Hegel, Hegel nach dem Ende der Kunst Das Paar von Kunst und Denken hat eine lange Tradition, die bis zu Heideggers Dichten und Denken zurückreicht – warum aber kommt die Religion als eine eigene Entität hinzu? (Hegel selbst betrachtet Kunst und Religion häufig als Aspekte der gleichen sich selbst entfaltenden Entität – die Kunst der griechischen Antike etwa ist für ihn Religion in Form von Kunst, Religion, die ihren angemessenen Ausdruck in der Kunst findet.) Die Religion tritt hier als unheimlicher Eindringling dazwischen, als Ungeheuerlichkeit des Übernatürlichen in natürlicher Form. Doch sollte dann statt der Kunst nicht eigentlich die Religion den Ausgangspunkt bilden? War das, was wir heute als Kunst betrachten, geschichtlich nicht zuerst Teil des religiösen Erlebens oder der Erfahrung des Heiligen? Und ist die Entstehung der Kunst in ihrer Unabhängigkeit, also nicht als Teil der Erfahrung des Heiligen – ein Prozess, der erst in der Moderne seinen Höhepunkt erreichte –, strikt korrelativ zum Aufkommen der Philosophie und (später) der Wissenschaft als eigenständige, nicht länger in der Religion verwurzelte Denkweise? Ist jenes Paar von Dichten und Denken dann das Resultat des Rückzugs des religiösen Erlebens? Die Entwicklung von der Kunst über die Religion zur Wissenschaft verläuft in Richtung der Ver-Innerung*, des Erinnerns oder Verinnerlichens: Sie endet, wenn der Geist das äußere Medium der Vorstellung* nicht mehr braucht, um sich selbst auszudrücken, sondern in der Form des Geistes unmittelbar mit sich selbst befasst ist. Darum ist jede Beschäftigung mit dunklen Rätseln, mit unergründlichen Geheimnissen, die sich den Eingeweihten enthüllen sollen, und so weiter ein Zeichen dafür, dass der Geist noch nicht wirklich zu sich gefunden hat: „Der Geist arbeitet sich nur so lange in den Gegenständen herum, solange noch ein Geheimes, Nichtoffenbares darin ist“.1 Darum sollte man vom Hegel’schen Standpunkt aus den Schelling’schen und Heidegger’schen Gegenstand eines undurchdringlichen, sich entziehenden Grundes (der Erde bei Heidegger) vollkommen zurückweisen. Für Schelling kann die Vernunft (der logos) nur vor dem Hintergrund eines undurchsichtigen und undurchdringlichen Grundes entstehen, der sich niemals in die Selbstdurchsichtigkeit der Vernunft aufheben lässt; für Hei* Im Original deutsch.

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degger privilegiert die platonische Metaphysik das Ideelle und dessen Selbstdurchsichtigkeit, und sie verwischt das Sich-selbst-Entziehen der Erde* und deren Nichtdurchsichtigkeit. Beide bestehen sie auf der Unhintergehbarkeit der Endlichkeit des Menschen: Diese Endlichkeit macht, dass wir für immer im Kampf gefangen sind, dass wir das im friedlichen Einklang mit sich seiende Absolute niemals erreichen können (und dass dies auch für das Absolute gilt, das selbst in diesem Kampf gefangen ist). Und vom Heidegger’schen Standpunkt aus sollte man auch Schillers und Schellings Behauptung zurückweisen, wonach die Kunst über der Philosophie steht – als einzig adäquate Darstellung des Absoluten, der harmonischen Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, Ideellem und Realem, Aktivität und Passivität (im Unterschied zur Philosophie, zum rationalen Denken, das Subjekt und Reflexion privilegiert).

Mit Hegel gegen Hegel Hegels berühmt-berüchtigter Diagnose nach hat die Form der Kunst „aufgehört […], das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein“: Auch wenn ausgezeichnete Werke entstehen – „unser Knie beugen wir doch nicht mehr“.2 Diese These hat neuen Gehalt bekommen, als das entstand, was er nicht voraussehen konnte: die säkulare kapitalistische Zivilisation, welche die wissenschaftliche Vernunft zur höchsten Form der Vernunft erhob (nicht im Hegel’schen Sinne von Wissenschaft*, sondern im angelsächsischen Sinne der positive science, die sich auf Experimente stützt und verlässt). Heute, da mit Kognitivismus und Hirnforschung der Kreis irgendwie geschlossen ist, ist der menschliche Geist selbst zum Gegenstand der Neurobiologie geworden. Und auch wenn die Vertreter der experimentellen Wissenschaft mit Hegels Denken nichts anzufangen wissen und es als Gipfel spekulativen Wahnsinns abtun, als artistisch-obskurantistisches Phänomen, das nichts mit eigentlicher Wissenschaft zu tun hat, so überdauert doch Hegels These, die Kunst sei nicht mehr höchster Ausdruck des Geistes, diese vernichtende Kritik. Selbst Kognitivisten, die Kunst bewundern und sich vielfach auf sie beziehen (Sacks, Damasio), tun dies aus einer wohlwollend herablassenden Haltung heraus – worauf es ankommt, ist die Wissenschaft, nicht die Kunst. Die romantische Reaktion auf die moderne wissenschaftliche Zivilisation ergeht als Einladung an uns, „unser Knie zu beugen“ (wie Pippin auf Heidegger bezogen schrieb):3 In dem, wie es heute häufig heißt, „postsäku* Im Original deutsch.

Mit Hegel gegen Hegel

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laren“ Geist, bemüht diese Reaktion sich nach Kräften, die Welt wieder zu verzaubern und die Kunst zu einem (der) Boten der für die Wissenschaft unerreichbaren letztgültigen Wahrheit über unser Leben zu erhöhen. (Eine andere Strategie besteht natürlich darin, in den neuesten Wissenschaften selbst nach Anhaltspunkten dafür zu suchen, dass sie das „mechanistische Paradigma“ hinter sich gelassen haben.) Man sollte die Dinge hier beim Namen nennen und sagen, dass solche neuerlichen Verzauberungen ein Schwindel sind, ein gefälliges ästhetisches Spiel. Wie soll man daher gegen Hegel und seine Diagnose vom Ende der Kunst – aber dennoch in seinem Geist – für die anhaltende Bedeutung der Kunst eintreten, wenn es nicht gestattet ist, einen undurchdringlichen Anderen zu setzen, mit dem der Geist in ewigem Kampf steht? Wenn es keinen undurchdringlichen Anderen gibt, wenn der Geist sich in der Form des Geistes in sich selbst finden kann, warum sollte dann die Kunst in ihrer sinnlichen Verfasstheit fortbestehen? Weil, so lautet die Antwort, der Kampf nicht als Kampf des Geistes mit seinem Anderen betrachtet werden sollte, sondern als ein gänzlich selbstimmanenter Kampf. Der Geist ist in sich „gebarrt“, gehindert, durchkreuzt, und es ist nicht die undurchdringliche objektiv-stoffliche Materie selbst, die sich den Begriffen widersetzt, sondern nur die sekundäre Materialisation der begriffseigenen Blockade. Außerdem: Wenn der Geist mit sich selbst versöhnt ist und somit keiner materiellen Verkörperung (im Kunstschönen) mehr bedarf, was ist dann mit der körperlichen Realität, die weiter besteht? Wäre es nicht möglich, genau umgekehrt zu verfahren und die Gleichgültigkeit des Geistes gegenüber der materiellen Realität dadurch zu demonstrieren, dass man ihn nicht in einem schönen Objekt, sondern im Bild eines hässlichen, schwachen oder deformierten Körpers zur Darstellung bringt? In diesem Sinne einer mit Hegel gegen Hegel unternommenen Lektüre geht es Robert Pippin in seinem Buch Kunst als Philosophie (engl. Originaltitel After the Beautiful) darum, „das von Hegel Versäumte zu erkennen, es aber mit seinen Begriffen zu erkennen“ (S. 96). (Die Schwierigkeit an diesem Ansatz ist natürlich die Frage, wie sich die naive und gänzlich vorHegel’sche Unterscheidung zwischen einem empirischen, „geschichtlichen“ Hegel und dem „wahren“ Hegel – als dem seinen Begriffen und Vorstellungen gemäßen Hegel oder vielmehr dem Hegel auf der Ebene seiner Begriffe und Vorstellungen – vermeiden lässt: Ist für Hegel die geschichtliche Verwirklichung eines Begriffs nicht dessen Wahrheit, die Entfaltung von dessen eigentlichen Potenzialen, sodass sich nach seiner Denkweise jeder Bezug auf ein Ideal gegen dessen geschichtliche Realisierung verbietet?) Die grundsätzliche Begrenztheit des „geschichtlichen“ Hegels, der „blinde Fleck

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in seiner Darstellung der Moderne“, wird von Pippin in proto-marxistischen Begriffen formuliert: Es ist Hegels „Unvermögen, die Unzufriedenheiten vorwegzunehmen, die diese ,prosaische‘ Welt erzeugen würde, oder sein Unvermögen, richtig einzuschätzen, daß es eine grundlegende Form der Entzweiung oder Entfremdung geben würde, die sein Projekt nicht in Rechnung stellen konnte, für die noch keine Aufhebung am Horizont sichtbar war“ (S. 74). Für Pippin weist Hegels Denken eine weitere, die Form der Kunst selbst betreffende Begrenztheit auf: Hegels Schlussfolgerung – die Kunst in ihrer wesentlichen Funktion sei beendet – wird „nicht durch einen wesentlichen Punkt in [seiner] Theorie begründet, sondern stellt einen Fehltritt dar. Sie ist keine mit Hegels Gesamtprojekt konsistente Folgerung“ (S. 41 f.). Wenn Hegel mit seiner Behauptung über die Kunst recht hat, dass sie uns in unserer Zeit „zur denkenden Betrachtung ein[lädt]“,4 so untergräbt er selbst die Auffassung von Kunst als intuitiv und bewegend, indem er die Möglichkeit einer Kunst anderer Art eröffnet, die „explizit selbstreflexiv und forschend“ ist (S. 68) und das Bemühen um Deutung einschließt. (Im Übrigen besteht das Gegenstück dieser Reflexivität der Kunst darin, dass die Philosophie „künstlerisch“ wird.) Das Dumme an der sogenannten Konzeptkunst (die ein perfektes Beispiel für eine Kunst zu sein scheint, „die uns zur denkenden Betrachtung einlädt“) ist bloß, dass sie in der Regel nur als Hapaxlegomenon funktioniert: Man macht es ein Mal, bringt seine Sache vor, und das war’s. (Es gibt nur ein pissoir für Duchamp, nur ein weißes Quadrat auf schwarzem Grund bei Malewitsch; es bringt nichts, solche Objekte wieder herzustellen.) Hegels verhängnisvolle Begrenztheit bestand demnach darin, dass er mit seinem Kunstbegriff innerhalb der Grenzen der klassischen Darstellungskunst blieb: Er vermochte es nicht, die Möglichkeit der von uns sogenannten abstrakten (nichtgegenständlichen) Kunst in Betracht zu ziehen (oder der atonalen Musik oder der Literatur, die ihren eigenen Schreibprozess reflexiv in den Blick nimmt und so weiter). Die eigentlich interessante Frage ist hier, inwiefern diese Begrenztheit – das Verbleiben innerhalb der Grenzen des klassischen Begriffs der Darstellungskunst – mit der anderen von Pippin ausgemachten Begrenztheit Hegels verbunden ist, seinem Unvermögen, die Entfremdung/ den Antagonismus auszumachen, der selbst in einer modernen rationalen Gesellschaft besteht, in welcher die Einzelnen ihre formelle Freiheit und gegenseitige Anerkennung erlangen. Inwiefern – und warum – kann diese bestehende Unfreiheit, kann das Unbehagen, können die Verwerfungen in einer modernen freien Gesellschaft nur in einer Kunst zutage gefördert und angemessen formuliert und artikuliert werden, die nicht länger auf das Modell der abbildenden Darstellung beschränkt ist? Ist es so, dass das mo-

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derne Unbehagen, dass die Unfreiheit in Form eben der formellen Freiheit, die Knechtschaft in Form eben der Autonomie und dass, grundsätzlicher, die von eben dieser Autonomie verursachte Angst und Ratlosigkeit so tief in die ontologischen Fundamente unseres Seins hineinreichen, dass sie sich nur in einer Kunst zum Ausdruck bringen lassen, die unser Realitätsempfinden in seinen Grundkoordinaten destabilisiert und denaturalisiert? Allein aus der Tatsache, dass die Kunst eine Schlüsselrolle in einer Epoche spielt, lässt sich ableiten, dass der Geist in dieser Epoche nicht mit sich versöhnt ist – darum bedarf er auch weiterhin einer sinnlichen Verkörperung. Demnach sagte Hegel das Ende der Kunst voraus, weil er nicht imstande war, die radikalen Antagonismen zu erkennen, die in der vorgeblich nichtantagonistischen, mit sich selbst einigen oder versöhnten bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen, in der die Einzelnen zu einem täglichen Leben in Nüchternheit verurteilt sind. Pippins Kritik der Hegel’schen Versöhnung in einem modernen rationalen Staat ist äußerst uneindeutig: Bedeutet der Fortbestand der Kunst, dass sie – die authentische und maßgebliche Kunst – nur in einer mit sich selbst uneinigen und unversöhnten Gesellschaft möglich ist, wie das bei Pippin den Anschein hat, wenn er herausstellt, dass Hegel den Antagonismus in der modernen Gesellschaft nicht sah, und verbindet sich dieses fortgesetzte Scheitern mit dem Fortbestand der Kunst? (Denken wir an den modernen Traum von einer versöhnten Gesellschaft, in der die Kunst als eine eigene Institution verschwindet, weil sie sich mit dem realen Alltagsleben deckt.) Oder ist es so, dass die Kunst gerade in ihrer Konzeption sogar in einer vollkommen versöhnten Gesellschaft weiterbesteht? Oder trifft eine dritte Möglichkeit zu und der Fortbestand der Kunst signalisiert, dass Versöhnung aus apriorischen Gründen nicht möglich ist? Weiterhin gilt es zu beachten, dass die Hegel’sche Versöhnung letztlich die Versöhnung mit dem Unvermögen und dem Scheitern selbst ist und kein friedlicher Zustand, in dem die antagonistischen Gegensätze überwunden sind. Die Täuschung ist keine Täuschung der erzwungenen „falschen“ Versöhnung, welche die weiter bestehenden Trennungen übergeht und unberücksichtigt lässt; die eigentliche Täuschung besteht darin, nicht zu erkennen, dass in dem, was uns als das Chaos des Werdens erscheint, der unendliche Zweck bereits verwirklicht ist: „Im Endlichen können wir es nicht erleben oder sehen, daß der Zweck wahrhaft erreicht wird. Die Vollführung des unendlichen Zwecks ist so nur, die Täuschung aufzuheben, als ob er noch nicht vollführt sei.“5 Kurz gesagt, besteht die äußerste Täuschung darin, nicht zu erkennen, dass man bereits hat, wonach man sucht – wie die Jünger Christi, die dessen „realer“ Wiedergeburt harrten und nicht sahen,

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dass ihre Gemeinschaft an sich bereits der Heilige Geist war, die Wiederkunft des lebendigen Christus. Für Pippin registriert die moderne Kunst die Unzufriedenheit im modernen nüchternen Leben (in der Malerei von Manet zu Cézanne, Picasso und anderen). Hegels „größtes Versäumnis“ war es demnach wiederum, „nie besonders beunruhigt gewesen zu sein von der potentiellen Instabilität der modernen Welt, von der Möglichkeit, die Bürger desselben sittlichen Gemeinwesens könnten so viel gemeinsamen Grund und gemeinsames Vertrauen verlieren, daß die generelle Unlösbarkeit jedes möglichen Konflikts immer offenkundiger wird.“ [Er] macht sich nicht viel Sorgen über seine allgemeine Theorie der allmählichen historischen Vollendung eines Status wechselseitiger Anerkennung – eine Geschichtsbehauptung, die inzwischen als der am wenigsten plausible Aspekt an Hegels Darstellung erscheint und mit der auch unser Widerstreben gegenüber seinen Verlautbarungen zum Vergangenheitscharakter der Kunst zusammenhängt. (S. 95) Aus Pippins Sicht bilden Klassenteilung und Klassenkampf den Kern dieser neuen Unzufriedenheit (Klasse ist hier natürlich den Kasten, gesellschaftlichen Ständen und anderen Hierarchien entgegenzusetzen). Eine grundsätzliche Ambiguität kennzeichnet darum die beunruhigende und desorientierende Wirkung der Bilder von Manet: Ja, sie zeigen die „Entfremdung“ der modernen Menschen, die in der von radikalen antagonistischen Gegensätzen durchzogenen Gesellschaft keinen richtigen Platz haben, von Individuen, die ihres intersubjektiven Raums der kollektiven wechselseitigen Anerkennung und Verständigung beraubt sind; gleichzeitig aber erzeugen und reflektieren diese Bilder eine befreiende Wirkung (die auf ihnen abgebildeten Menschen erscheinen nicht mehr als Individuen, die an einen bestimmten Platz in der Gesellschaftshierarchie gebunden sind) und auch einen immanent künstlerischen Freiheitsfortschritt als reflexive Bewusstheit des eigenen Tuns. Anders ausgedrückt, ist die moderne „prosaische“ Welt die Welt des rationalen Staates, der Freiheit und der wechselseitigen Anerkennungsverhältnisse (auch wenn diese Freiheit bloß formeller Natur ist und die tiefer liegenden Klassenantagonismen verdeckt), während die Vormoderne eine hierarchische Ordnung der Nichtwechselseitigkeit darstellt. Nicolas Bourriaud schreibt in seiner Einleitung zu Foucaults Bändchen über Manet:

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Was der Malerei Manets ihr ganzes Gewicht gibt, ist die endgültige Geburt eines aus seinen den eigenen Platz in der Welt betreffenden Gewissheiten vertriebenen Individuums. […] Der Betrachter ist aufgefordert, sich als autonomes Subjekt zu positionieren; er hat nicht die Möglichkeit, sich zu identifizieren oder sich in das Kunstwerk, dem er gegenübertritt, hineinzuprojizieren.6 Für Pippin ist das unmittelbarste Zeichen dieses Orientierungsverlusts der verwunderte Blick des gemalten Individuums, ein Ausdruck, der als „Schauen, ohne zu sehen“ charakterisiert wird: Der Blick geht aus dem Rahmen heraus, richtet sich auf uns, die Betrachter, doch wir werden wie „unsichtbar oder zumindest unbedeutend“ behandelt, so als würden wir „keine wichtige Präsenz für den leeren oder amüsierten Blick des Subjekts“ einnehmen (S. 79). Aufgrund dieses verwunderten Blicks ist Manet nicht einfach ein Vorläufer des Impressionismus, sondern er reicht effektiv über den Impressionismus hinaus und deutet auf die eigentliche moderne Kunst (den Expressionismus und die abstrakte Malerei) hin. Der verwunderte Blick des gemalten Individuums beunruhigt daher auch den Betrachter und verunsichert dessen Blick, der gleichzeitig losgelöst ist (aktiv wird und das Bild von mehr als einem Standpunkt aus sieht, denn was er sieht, lässt sich unmöglich von einem Standpunkt aus sehen) und in der unangenehm exponierten Position eines Voyeurs befangen ist. Hier lauert jedoch noch mehr unter der Oberfläche. Auf Manets bekanntestem Gemälde Das Frühstück im Grünen sieht man zwei Paare, darunter zwei nackte Frauen – eine im Hintergrund, knietief im Wasser und, wie es scheint, mit einer Art postkoitalen Säuberung beschäftigt (diese Assoziation findet sich häufig in der Literatur), und eine Nackte im Vordergrund, die einfach nur im Gras sitzt, mit einem Ausdruck, der besagt, dass sie „schaut, aber nicht sieht“. Mit wem hatte die Frau im Hintergrund Geschlechtsverkehr – mit dem stillen Mann oder mit dem, den man reden und gestikulieren sieht? Optisch bilden die Nackte im Vordergrund und der hinter ihr sitzende stille Mann ein Paar; demnach muss es so sein, dass der redende Mann derjenige ist, der den Akt vollzogen hat, und dass er nicht mit der anderen Frau flirtet – oder versucht er durch übermäßige Aktivität zu verschleiern, dass er damit gescheitert ist, den Akt zu vollziehen? Die Situation bleibt uneindeutig, doch der verwunderte, zerstreute Blick der nackten Frau im Vordergrund ist der Blick einer (sexuell) unbefriedigten Frau, sodass der Untertitel des Bildes auch gut Il n’y a pas de rapport sexuel lauten könnte.

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Diese sicher nicht überzogene Deutung wird durch das allgemeine Merkmal von Manets Aktbildern bestätigt: Diese müssen fraglos als eine Wiederholung der klassischen entsexualisierten Aktmalerei verstanden werden – eine Wiederholung mit einer speziellen Wendung natürlich; das heißt, dass es auf die Differenz zum klassischen Modell ankommt. Manets nackte Olympia (1863–1865) wiederholt die Venus von Urbino (Ingres, 1822), und diese Wiederholung führt greifbar vor Augen, dass „die Unmöglichkeit einer Fortsetzung der traditionellen Aktmalerei (unter den Bedingungen der Selbstdarstellung einer sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft) […] die Unmöglichkeit bzw. das unmittelbare Fehlen der Glaubwürdigkeit eines solchen Abstrahierens vom Besonderen, der entsexualisierenden Idealisierung und einer dadurch relativ unschuldigen Wendung an den Betrachter“ ist (S. 120). Manets Olympia ist, kurz gesagt, „keine Nackte, sie ist ein nacktes Individuum“ (ebd.). Die gleiche Haltung der (den Vaginalbereich bedeckenden) linken Hand bezeichnet bei Ingres eine zarte Schamhaftigkeit, während sie bei Manet das Sichausruhen einer Prostituierten darstellt und als solche vulgär erotisiert ist. Die ganze Obszönität von Rang, Macht und Sex dringt schonungslos in den Bildraum ein, wobei unbedingt festgehalten werden muss, dass der Effekt der Wiederholung von Ingres bei Manet ein rückwirkender ist: Ingres’ Venus wird nicht einfach durch eine Prostituierte ersetzt; die Venus selbst verliert ihre Unschuld und wird (sichtbar als) eine Prostituierte. Ein weiteres Merkmal, in dem sich das Hereinbrechen der Obszönität in das Gemälde manifestiert, ist die beunruhigende Wirkung, die von seinem Licht ausgeht. Wie Foucault herausstellte, gibt es innerhalb des Bildraums keine erkennbare Lichtquelle, sodass offenbar unser Blick auf Olympia die Quelle des besonders starken Lichts ist. Somit macht unser besitzergreifender erotischer Blick sie sichtbar – kurz gesagt, sind wir ihre Kunden; unser Blick auf sie gleicht dem Blick der Touristen oder potenziellen Kunden auf die Prostituierten, die in den Schaufenstern des Amsterdamer Rotlichtmilieus ausgestellt sind.

Der hässliche Blick Dies bringt uns zur Thematik des Blicks und seiner Unbeständigkeit in der Malerei zurück. Hegel ist sich der zerreißenden Kraft des Blicks vollkommen bewusst und weiß um dessen Ausnahmestellung in der Totalität des menschlichen Körpers. Für ihn ist die menschliche Gestalt „eine Totalität von Organen, in welche der Begriff auseinandergegangen ist, und in jedem Gliede nur irgendeine besondere Tätigkeit und partielle Regung kundgibt“.

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Fragen wir nun aber, in welchem besonderen Organe die ganze Seele als Seele erscheint, so werden wir sogleich das Auge angeben; denn in dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur durch dasselbe, sondern wird auch darin gesehen. Wie sich nun aber an der Oberfläche des menschlichen Körpers im Gegensatze des tierischen überall das pulsierende Herz zeigt, in demselben Sinne ist von der Kunst zu behaupten, daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches der Sitz der Seele ist, und den Geist zur Erscheinung bringt. – Oder wie Platon in jenem bekannten Distichon an den Aster ausruft: „Wenn zu den Sternen du blickst, mein Stern, o wär’ ich/der Himmel,/Tausendäugig sodann auf dich herniederzuschaun!“, so umgekehrt macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde. Und nicht nur die leibliche Gestalt, die Miene des Gesichts, die Gebärde und Stellung, sondern ebenso auch die Handlungen und Begebnisse, Reden und Töne und die Reihe ihres Verlaufs durch alle Bedingungen des Erscheinens hindurch hat sie allenthalben zum Auge werden zu lassen, in welchem sich die freie Seele in ihrer inneren Unendlichkeit zu erkennen gibt.7 Ein tausendäugiges Kunstwerk ist mithin „wesentlich eine Frage, eine Anrede an die widerklingende Brust, ein Ruf an die Gemüter und Geister“8 – eine seltsame Metapher, denn die Brust ist nicht, wie man erwartet hätte, das Objekt, welches das Subjekt/den Geist nährt, sondern das Subjekt selbst. Seltsam ist außerdem, dass das Bild des tausendäugigen Argus „kein Bild des Schönen, sondern vielmehr ungeheuerlich, ja sogar hässlich ist“ (S. 101)9 – wie also kann solch ein besonders hässliches Bild die Metapher dafür abgeben, wie ein schönes Kunstwerk funktioniert?10 Gehen wir schrittweise vor. Erstens stellt sich die Frage: Warum viele Augen? Aus Freud’scher Sicht gibt es darauf nur eine mögliche Antwort: Ebenso wie das Bild mehrerer Penisse in einem Traum Freud zufolge Kastration (des einen) signalisiert, können Tausende Augen nur die Kastration des (einen) Blicks signalisieren. Und das Gleiche gilt für das Sozialleben: Der Hauptantagonismus kehrt, wenn er ausgeschlossen oder verschlossen wird, in vielfacher Form wieder zurück. Denken wir an den Fall des traditionsgebundenen Indien, wo die sexuelle Differenz gentrifiziert, ihre antagonistische Schärfe verschleiert wird, und wo sie dennoch in einem riesigen Hierarchiengeflecht zurückkehrt:

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Sofern jede Organisation notwendigerweise aus Differenzen, Trennungen und Widerständen besteht, scheint das Kastensystem aufgrund der Endogamie, mit der es einhergeht, und wegen des Gleichgewichts zwischen den Geschlechtern, das Letztere institutionalisiert, an anderer Stelle eine Differenz aufzurichten und zu vervielfachen. […] Die strenge Kastenhierarchie kompensiert das durch die indische Endogamie eingeführte Mann-Frau-Gleichgewicht.11 Dies ist die verborgene andere Seite der vielgepriesenen gleichgewichtigen Geschlechterbeziehungen in der indischen Gesellschaft (im Unterschied zum westlichen Patriarchat, das die Feminität unterdrückte): Der grundsätzliche Antagonismus der Geschlechter (die Tatsache, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt) wird verschleiert, unsichtbar gemacht, kehrt jedoch in vielfacher Form wieder zurück. Und trifft nicht das Gleiche auf den Klassenantagonismus zu, der, wenn er vom Anschein eines Gleichgewichts der Klassen (Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung und Wechselseitigkeit – die Unternehmervision einer Gesellschaft als ein Sozialkörper, in dem jedes Organ seine ihm angemessene Funktion auszufüllen hat) verdeckt wird, in vielfacher Zahl von gesellschaftlichen Trennungen und Hierarchien wieder zurückkehrt? (Dasselbe gilt für die Statuen und Gemälde indischer Götter und Gottheiten mit Dutzenden von Händen – die das Fehlen der einen realen Hand symbolisieren.) Die bürgerliche Gesellschaft tilgt Kasten und andere Hierarchien im Allgemeinen und macht alle Individuen als Marktsubjekte, die nur durch das Klasseninteresse geteilt sind, einander gleich. Der heutige Spätkapitalismus mit seiner „Spontaneitäts“Ideologie aber sucht die Klassenteilung selbst zu tilgen, indem er uns alle zu „Unternehmern unserer selbst“ erklärt und proklamiert, dass zwischen uns bloß quantitative Unterschiede bestehen (ein großer Kapitalist leiht sich Hunderte Millionen für seine Investition, ein armer Arbeiter leiht sich ein paar Tausend für seine Fortbildung). Das erwartete Resultat davon ist, dass andere Teilungen und Hierarchien entstehen: Fachleute und Nichtfachleute, vollwertige Bürger und die ausgeschlossenen religiösen, geschlechtlichen und anderen Minderheiten … Hierin besteht die Lüge des humanistischen Universalismus oder, wie Carl Schmitt schonungslos konstatierte: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Betrügen heißt hier einfach, den Antagonismus im Kern der „Menschheit“ selbst zu verschleiern (und so versteckt mitzumachen, indem man eine Seite des Antagonismus vorzieht). Wenden wir uns also wieder dem (hässlichen) Blick zu, der in der Weise von dem Gemälde ausgeht, dass das Bild, das wir betrachten, „den Blick zurückgibt“. Insofern dieser Blick, der blinde Fleck des Gemäldes, ein häss-

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licher „phallischer“ Auswuchs ist, ein die Bildharmonie störender Exzess (wie im Falle von Holbeins Die Gesandten, wo der blinde Fleck jener anamorphisch ausgedehnte hässliche Fleck im unteren Teil des Gemäldes ist), muss ein Kunstwerk diesen Fleck in seinem Innersten verschleiern, wenn es schön werden soll. Für Lacan ist Schönheit die domestizierte Hässlichkeit des Blicks – der Maler „gibt etwas, das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt, ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, so wie man Waffen deponiert. Dies eben macht die pazifizierende, apollinische Wirkung der Malerei aus. Etwas ist nicht so sehr dem Blick, sondern mehr dem Auge gegeben, etwas, bei dem der Blick drangegeben, niedergelegt wird.“ Der Blick ist beunruhigend, hässlich. „Ein Problem ist, daß eine ganze Seite der Malerei sich von diesem Feld absondert – die expressionistische Malerei.“12 Das Bild des tausendäugigen Argus ist nicht der einzige Fall von Hässlichkeit im antiken Griechenland – es gibt (zumindest) auch die berühmtberüchtigte Riesenstatue, den „Koloss von Rhodos“, die sich oberhalb des Hafeneingangs befunden hat: Sie wurde mit ihren großen Genitalien et cetera als so abstoßend empfunden, dass man eine göttliche Strafe darin erblickte, als ein Sturm sie zerstörte. Woher rührt diese Hässlichkeit in der Kunst der griechischen Antike? Eine Antwort liefert uns Hegel, für den das Wunder der griechischen Antike nicht aus dem Nichts kommt – er ist sich der Gewaltsamkeit des Bruchs mit der bestehenden Tradition, die sie ermöglichte, vollkommen bewusst: [Die Griechen] haben freilich die substantiellen Anfänge ihrer Religion, Bildung, gesellschaftlichen Zusammenhaltens mehr oder weniger aus Asien, Syrien und Ägypten erhalten; aber sie haben das Fremde dieses Ursprungs so sehr getilgt, es so umgewandelt, verarbeitet, umgekehrt, ein Anderes daraus gemacht, daß das, was sie wie wir daran schätzen, erkennen, lieben, eben wesentlich das Ihrige ist. […] [Sie haben] gleichsam undankbar den fremden Ursprung vergessen, in den Hintergrund gestellt, vielleicht in das Dunkel der Mysterien, das sie vor ihnen selbst sich geheim gehalten, vergraben […]. Sie sind nicht nur Diese gewesen, haben dies gebraucht und genossen, was sie vor sich gebracht und was sie aus sich gemacht, sondern haben diese Heimatlichkeit ihrer ganzen Existenz, den Anfang und den Ursprung ihrer selbst, bei sich gewußt und dankbar und freudig sich vorgestellt.13 Die These von der „schwarzen Athene“ ist Hegel also keineswegs fremd; um das Verhältnis der griechischen Kunst zu ihren Vorläufern zu beschreiben,

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verwendet er, wie Rebecca Comay festhält, sogar Ausdrücke wie „siegen“, „zurückdrängen“, „fortfallen“, „tilgen“, „vertilgen“, „Auslöschung“, „Verwischung“, „abschneiden“, „Abstreifung“ – doch worum handelt es sich bei dem Abgestriffenen und Getilgten? Um „den ,Orient‘ in seiner animalischen, körperlichen, hässlichen, dummen […] prähistorischen Gestalt“.14 Die Vorstellung vom griechischen Wunder als Resultat einer spontan-organischen Selbsthervorbringung ist demnach ein Trugbild, das auf gnadenloser Verdrängung beruht – und wie immer bei Hegel kehrt der verdrängte Ursprung wieder zurück, und zwar als folgenschwerer Makel der klassischen griechischen Kunst, der die Kehrseite ihrer Vollendung selbst bildet. Es sollte uns daher nicht überraschen zu erfahren, dass diese Verdrängung die Form des ausgeschlossenen Blicks annimmt: Eine griechische Statue zeigt den Menschen in vollendeter Gestalt, im Gleichgewicht von Körper und Geist – als solche aber muss sie blicklos sein: Ihre Augen sind flach, schiere Oberfläche, keine Fenster in die Tiefen der Seele, da ein solcher Spalt in der Oberfläche des Körpers seine Einheit und harmonische Schönheit beeinträchtigen würde. Dies ist der Grund, aus dem griechische Statuen keine eigentliche Subjektivität ausdrücken: Vergleichen wir diese Bestimmung der romantischen Kunst mit der Aufgabe der klassischen, wie die griechische Skulptur dieselbe in gemäßester Weise erfüllt hat, so drückt die plastische Göttergestalt nicht die Bewegung und Tätigkeit des Geistes aus, der aus seiner leiblichen Realität in sich gegangen und zum innerlichen Fürsichsein durchgedrungen ist. […] was ihnen [diesen Skulpturen] […] fehlt, ist die Wirklichkeit der für sich seienden Subjektivität in dem Wissen und Wollen ihrer selbst. Äußerlich zeigt sich dieser Mangel darin, daß den Skulpturgestalten der Ausdruck der einfachen Seele, das Licht des Auges abgeht. Die höchsten Werke der schönen Skulptur sind blicklos, ihr Inneres schaut nicht als sich wissende Innerlichkeit in dieser geistigen Konzentration, welche das Auge kundgibt, aus ihnen heraus. Dies Licht der Seele fällt außerhalb ihrer und gehört dem Zuschauer an, der den Gestalten nicht Seele in Seele, Auge in Auge zu blicken vermag.15 Wie wir jedoch eben gesehen haben, kehrt dieser ausgeschlossene (oder gar aufgekündigte) Exzess des Blicks als beunruhigende Vielzahl in der griechischen Kunst selbst wieder: Der ganze Körper der griechischen Statue wird zu einer Oberfläche mit Hunderten von Augen. Erst später kehrt dieser Exzess dann in der Kunst der Romantik wieder – die moderne Subjektivität ist die Wiederkehr der von der harmonischen Kunst der griechischen Antike

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ausgeschlossenen Dimension des Ungeheuerlichen. Darum ist die Kategorie der Schönheit für die moderne Kunst nicht mehr von zentraler Bedeutung: In der modernen Kunst vollzieht sich der Übergang vom Schönen zum Erhabenen (in dessen unterschiedlichen Gestaltungen). Den ersten Schritt dieses Übergangs unternimmt das Christentum, das die erhabene Wirkung auf eine Weise hervorbringt, die im unmittelbaren Gegensatz zu Kant steht: Es erreicht diese nicht durch die äußerste Beanspruchung unseres Darstellungsvermögens (mit dem wir dennoch daran scheitern, die Idee des Übersinnlichen wiederzugeben, wodurch es uns aber paradoxerweise gelingt, dessen Raum abzugrenzen), sondern sozusagen umgekehrt durch Reduktion des Darstellungsinhalts auf das niedrigste vorstellbare Niveau. Auf der Darstellungsebene war Christus der „Menschensohn“, eine zerlumpte, elende Kreatur, die zwischen zwei Schächern gekreuzigt wurde, und diese seine irdische Erscheinung bildet in ihrer Erbärmlichkeit den Hintergrund, vor dem sein göttliches Wesen umso stärker durchscheint. Der gleiche Mechanismus war im spätviktorianischen Zeitalter für die ideologische Wirkung der tragischen Gestalt des Elefantenmenschen verantwortlich, wie der Untertitel eines der Bücher über ihn nahelegt (Eine Studie über die menschliche Würde16). Gerade die ungeheuerliche und widerliche Entstellung seines Körpers machte die schlichte Würde seines geistigen Innenlebens sichtbar. Und trug nicht dieselbe Logik wesentlich zum immensen Erfolg von Stephen Hawkings Buch Eine kurze Geschichte der Zeit (1991) bei? Hätten seine Grübeleien über das Schicksal des Universums so anziehend auf das Publikum gewirkt, wenn sie nicht zu einem verkrüppelten, gelähmten Körper gehörten, der nur durch die kraftlose Bewegung eines einzigen Fingers kommunizierte und mit einer maschinell erzeugten unpersönlichen Stimme sprach? Darin eben liegt das „christliche Erhabene“: Dieses erbärmliche „kleine Stück des Realen“ bildet das notwendige Gegenstück (die Erscheinungsform) zur reinen Geistigkeit. Wir müssen hier sehr darauf achtgeben, den entscheidenden Punkt nicht zu verpassen: Hegel geht es nicht um die simple Tatsache, dass das Übersinnliche sogar in niedrigster Gestalt erscheinen kann, weil es dem Bereich der sinnlichen Darstellungen gegenüber gleichgültig ist. Hegel stellt immer wieder heraus, dass es kein „Reich des Übersinnlichen“ jenseits oder abseits von unserer sinnlichen Erfahrungswelt gibt; die Reduktion auf das widerliche „kleine Stück des Realen“ ist demnach ein stricto sensu performatives, produktives Moment der geistigen Dimension; die geistige „Tiefe“ wird durch die ungeheure Verzerrung der Oberfläche erzeugt. Es geht mit anderen Worten nicht nur darum, dass die Verkörperung Gottes in einer elenden Kreatur durch den Kontrast – die lächerliche äußerste Diskrepanz

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– zwischen ihm und der niedrigsten Form menschlicher Existenz sein wahres Wesen sichtbar macht; es geht vielmehr darum, dass diese äußerste Diskrepanz, diese absolute Kluft, die göttliche Macht „absoluter Negativität“ ist. Judentum wie Christentum betonen die absolute Diskrepanz zwischen Gott (Geist) und dem Reich der (Sinnes-)Darstellungen; der Unterschied zwischen beiden Religionen ist rein formaler Natur: In der jüdischen Religion verweilt Gott in einem unausdenklichen Jenseits und ist durch eine unüberbrückbare Kluft von uns getrennt, während der christliche Gott diese Kluft selbst ist. Diese Verschiebung bewirkt die Veränderung in der Logik des Erhabenen: den Wechsel vom Darstellungsverbot zur Akzeptanz der nichtigsten Darstellung.

Vom Erhabenen zum Ungeheuren Die erste systematische Entfaltung des Übergangs vom griechischen Schönen zum christlichen Erhabenen und dann zum völligen Ausbruch des Hässlichen als ästhetische Kategorie findet sich bei Karl Rosenkranz, Herausgeber und Schüler Hegels und zugleich Autor von dessen erster „offizieller“ Biografie, der sich selbst in seiner Ästhetik des Häßlichen17 von 1853 als eher widerstrebender Hegelianer zeigt. Rosenkranz geht gedanklich von dem geschichtlichen Prozess aus, in dem die Einheit des Wahren, Guten und Schönen allmählich aufgegeben wurde. Demnach kann etwas Hässliches nicht nur wahr und gut sein, sondern die Hässlichkeit kann auch einen immanenten ästhetischen Begriff abgeben. Das heißt, ein Gegenstand kann hässlich und dabei ein ästhetisches Objekt beziehungsweise Gegenstand der Kunst sein. Rosenkranz verharrt mit seinen Überlegungen innerhalb der auf Homer zurückgehenden langen Tradition, die physische Hässlichkeit mit moralischer Hässlichkeit verbindet; Hässliches bildet für ihn das „Negativschöne“: „Von der dunklen Folie des Häßlichen heb[t] sich das reine Bild des Schönen um so leuchtender ab“.18 Rosenkranz unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer „gesunden“ und einer „pathologischen“ Art, Hässliches in einem Kunstwerk zu genießen: Das Hässliche muss als Folie des Schönen bestehen bleiben, um ästhetisch genießbar und als Genießbares erbaulich und statthaft zu sein; Hässlichkeit um ihrer selbst willen gilt ihm als pathologischer Kunstgenuss. Hässlichkeit ist als solche dem Schönen immanent; sie bildet ein Moment der Selbstentwicklung des Schönen: Genau wie jeder andere Begriff umfasst auch die Schönheit ihr Gegenteil, und Rosenkranz bietet eine systematische Hegel’sche Aufstellung sämtlicher Erscheinungsformen des Hässlichen, vom formlosen Chaos bis hin zu pervertierten Verzerrungen

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des Schönen. Die Grundmatrix seiner begrifflichen Entfaltung des Hässlichen bildet die Triade des Schönen, Hässlichen und Komischen, wobei das Hässliche als Mitte beziehungsweise als intermediäres Moment zwischen dem Schönen und dem Komischen dient: „Die Caricatur treibt ein Besonderes über das Maaß hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältnis und wird, indem sie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komisch.“19 Es ergibt sich hier eine ganze Reihe von Fragen und Aspekten. Erstens: Lässt sich dieses dritte Glied nicht auch als Erhabenes auffassen, insofern das Hässliche in seiner wirren und überwältigenden Ungeheuerlichkeit, die das Subjekt zu vernichten droht, seinen Gegensatz in Erinnerung ruft – das unzerstörbare Faktum der Vernunft und des moralischen Gesetzes? Woraus besteht daher die Triade – aus dem Schönen, dem Hässlichen und dem Komischen (Lächerlichen) oder dem Schönen, dem Hässlichen und dem Erhabenen? Es scheint vielleicht so, als hänge dies von der Art von Hässlichkeit ab, mit der wir es zu tun haben, der exzessiv-ungeheuren oder der lächerlichen. Allerdings kann auch der Exzess komisch sein, und du sublime au ridicule, il n’y a qu’un pas. Das Erhabene kann lächerlich erscheinen (ins Lächerliche kippen), und das Lächerliche kann erhaben erscheinen (sich in etwas Erhabenes verwandeln), wie wir aus den späten Chaplin-Filmen wissen. Zweitens: Die Auffassung des Hässlichen als Folie für das Erscheinen des Schönen ist in ihrem Kern selbst äußerst uneindeutig. Das Hässliche kann (wie von Rosenkranz) auf traditionelle Hegel’sche Weise verstanden werden. Danach handelt es sich bei ihm um das untergeordnete Moment in dem Spiel, das das Schöne mit sich selbst spielt, um dessen immanente Selbstnegation, die den (Hinter-)Grund für sein vollständiges Erscheinen bildet. Oder es kann in einem viel buchstäblicheren Sinn als genau dieser (Hinter-)Grund des Schönen aufgefasst werden, der diesem vorausliegt und aus dem heraus es entsteht – in der von Adorno in seiner Ästhetischen Theorie vorgeschlagenen Lesart: „Wenn überhaupt, ist das Schöne eher dem Häßlichen entsprungen als umgekehrt.“20 (In entsprechender Weise sollte man die thomistische Standardauffassung des Bösen als eine Entzugsform des Guten umkehren: Was, wenn das Gute selbst die Entzugsform des Bösen darstellt? Was, wenn wir von dem Bösen bloß ein Übermaß entfernen müssen, um zum Guten zu gelangen?) Adorno macht hier zweierlei geltend: In allgemeiner Hinsicht und den Kunstbegriff selbst betreffend ist das Hässliche die „archaische“ oder „primitive“ chaotische (dionysische) Lebenssubstanz, die ein Kunstwerk „gentrifiziert“, zur ästhetischen Form erhebt, allerdings zum Preis der Abtötung der Lebenssubstanz. Das Hässliche ist die Kraft des Lebens gegen den von der ästhetischen Form auferlegten Tod.

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Außerdem behauptet Adorno speziell in Bezug auf die Neuzeit, in der das Hässliche zu einer ästhetischen Kategorie wurde, dass die Kunst sich mit ihm befassen muss, um „im Häßlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem Bilde schafft und reproduziert“.21 Hier liegt die Prämisse zugrunde, dass es sich bei der Kunst um ein Medium der Wahrheit handelt, nicht bloß um ein eskapistisches Spiel des schönen Scheins: In einer geschichtlichen Situation, in der das Schöne unwiderruflich als Kitsch verschrien ist, kann die Kunst den utopischen Horizont des Schönen nur dadurch offenhalten, dass sie das Hässliche in seiner Hässlichkeit präsentiert. Und noch ein dritter Punkt ergibt sich in diesem Zusammenhang: Was ist, wenn der Umschlag des Hässlichen ins Komische (oder Erhabene) nicht eintritt? Herman Parret beschreibt eine solche Option mit Blick auf das Kant’sche Erhabene: Wenn der enorme Druck des Hässlichen zu stark wird, wird es ungeheuerlich und lässt sich nicht mehr in das Erhabene aufheben/ negieren. Es handelt sich demnach um eine Frage der annehmbaren Grenze: Für Kant gibt es ein Fortschreiten vom Kolossalen zum Ungeheuren, das heißt zur vollkommenen Vernichtung unseres Vorstellungsvermögens. Lässt sich das Kolossale bereits als Korrelat des Erhabenen auffassen, bleibt es sicherlich innerhalb einer annehmbaren Grenze; mit dem Ungeheuren hingegen hat man in völligem Schrecken und vollkommener Unlust diese Grenze überschritten. Mit dem Ungeheuren befinden wir uns am Rande des Annehmbaren, wo die Vorstellungskraft vollkommen blockiert ist. Es scheint, als sei das Ungeheure das unsagbare und abgründige Ding. Das Ungeheure tut der Subjektivität Gewalt an, ohne sie irgendeiner Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen.22 Die Lust am Erhabenen ist eine Lust in der Unlust, während das Ungeheure nur Unlust erzeugt – als solches aber verschafft es Genuss. Kurz gesagt, hat Kant demnach also bereits die Unterscheidung zwischen Lust (gesteuert vom Lustprinzip, das dafür sorgt, dass wir alle schmerzhaften Exzesse meiden, sogar den Exzess der Lust selbst) und Genuss ausgearbeitet. Zwischen Genuss und Ekel besteht folgender Zusammenhang: Der „Ekel vor dem Gegenstand“ rührt von einem gewissen Genuss in der „Materie der Empfindung“ her, der das Subjekt von seiner Zweckhaftigkeit entfernt. Lust ist dem „Genuss“ entgegengesetzt, insofern „die Lust zugleich Kultur ist“. […] „Genuss“ in der Materie ruft dagegen Ekel hervor. Zudem wirkt sich dieser Genuss am Selbstverlust in der Materie der „Reize und Rührungen“, unmittelbar auf unser Befin-

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den aus: Er ruft Ekel hervor, der sich selbst in körperlichen Reaktionen wie Übelkeit, Erbrechen und Schüttelkrämpfen niederschlägt. Lust/ Unlust im Gefühl des Erhabenen hat nichts mit diesem kulturzerstörenden und ekelerzeugenden Genuss zu tun.23 Welchen ontologischen Status hat dieser eigenartige Genuss, der uns in einen selbstzerstörerischen Teufelskreis zu ziehen droht, genau? Er ist eindeutig nicht Kultur, doch auch nicht Natur, da er ein „unnatürliches“ Übermaß darstellt, das die Natur ganz aus dem Gleis wirft – sollten wir diesen Genuss daher nicht mit dem zusammendenken oder gar gleichsetzen, was Kant als die „unnatürliche“ Wildheit oder dem Menschen eigene Freiheitsleidenschaft eingrenzte? Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihm den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. […] So schickt man z. E. Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen. Der Mensch aber hat von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert.24 In Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht finden wir eine lange Fußnote über das Geschrei eines neu geborenen Menschenkindes – den ersten Ausbruch von Wut und aufgebrachtem Zorn, der eine Reaktion auf die Entdeckung darstellt, dass die Freiheit durch die körperlichen Beschränkungen begrenzt ist. Die Freiheit, die sich in dieser Wut Bahn bricht, ist weniger etwas Übernatürliches als vielmehr ein Zeichen des Übergangs in eine neue „Naturepoche“;25 sie bezeugt einen Konflikt zwischen der körperlichen Erscheinungswirklichkeit und dem noumenalen Realen der wilden Freiheit, die dem Moralgesetz vorangeht. Die vorherrschende Erscheinungsform dieser eigenartigen Wildheit ist Leidenschaft, die leidenschaftliche Bindung an eine spezielle Wahl, die so stark ist, dass sie rationale Vergleiche mit anderen möglichen Entscheidungen außer Kraft setzt – wenn wir einer Leidenschaft erlegen sind, halten wir an einer Wahl fest, koste es, was es wolle: „Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in Ansehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft (passio animi).“26 Als solche ist die Leiden-

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schaft verwerflich, sie ist „weit schlimmer als alle jene vorübergehenden Gemütsbewegungen, die doch wenigstens den Vorsatz rege machen, sich zu bessern; statt dessen die letztere eine Bezauberung ist, die auch die Besserung ausschlägt. […] Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteile unheilbar: weil der Kranke nicht will geheilt sein und sich der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den dies allein geschehen könnte.“27 Und wie der Unterabschnitt „Von der Freiheitsneigung als Leidenschaft“ uns sagt, „ist [sie] die heftigste unter allen [Neigungen] im Naturmenschen“.28 Leidenschaft ist als solche bloß dem Menschen eigen: Tiere haben keine Leidenschaften, nur Instinkte. Die Kant’sche Wildheit ist in genau dem Sinne „unnatürlich“, dass sie die Kausalkette, die alle natürlichen Phänomene determiniert, zu durchbrechen oder außer Kraft zu setzen vermag – es ist, als würde sich die noumenale Freiheit in unserer Erscheinungswirklichkeit für einen Moment in ihren erschreckenden Manifestationen ereignen. Empfangen wir hier nicht sogar ein Echo dessen, was bei Kristeva Abjekt heißt? Der Gegenstand des Genusses ist per Definition ekelerregend, und was ihn ekelerregend macht, ist eine seltsame Über-Ich-Forderung, die von ihm auszugehen scheint, eine Aufforderung, ihn zu genießen, auch wenn (und gerade weil) wir ihn hässlich finden und verzweifelt versuchen, nicht in ihn hineingezogen zu werden: Kant insistiert auf der Nichtdarstellbarkeit des Hässlichen in der Kunst: Im Ekel „dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung, [wird] der Gegenstand gleichsam, als ob er sich zum Genusse aufdränge, wider den wir doch mit Gewalt streben, vorgestellt“. Dies ist typisch für Kant, dass in einem Satz „gleichsam“ und „als ob“ vorkommen. Der hässliche Gegenstand hat unmöglich eine günstige Auswirkung auf das „Gemüth“. Stattdessen lässt eine erregte und gefährlich verwirrte Einbildung das Subjekt in seiner Körperlichkeit erstarren. Darin liegt das eigentliche Wesen der ekelerregenden Hässlichkeit: Sie bedroht die Stabilität unserer körperlichen Verfassung, unser Körper „strebt mit Gewalt“ gegen die uns vom Hässlichen tückischerweise auferlegte Forderung zum Genuss.29 Dies führt uns schließlich zum eigentlichen Kern des Ekels: Das Objekt des Ekels „bedroht die Stabilität unserer körperlichen Verfassung“, es destabilisiert den Grenzverlauf zwischen dem Inneren unseres Körpers und seinem Außen. Ekel entsteht, wenn die Grenze, die das Innere unseres Körpers von seinem Außen trennt, verletzt wird, wenn das Innere nach außen gelangt, wie in den Fällen des Blutens und dem Ausscheiden von Exkrementen. Mit

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dem Speichel verhält es sich ähnlich: Wie wir alle wissen, können wir zwar unseren Speichel problemlos schlucken, doch wir finden es abstoßend, Speichel wieder zu schlucken, der aus unserem Mund in ein Glas gelangt ist – auch das ist ein Fall der Verletzung der Innen-Außen-Grenze. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier darin, dass die Beseitigung der Exkremente bei ihm zum Problem wird: Nicht weil die Scheiße schlecht riecht, sondern weil sie aus unserem Innersten kommt. Wir schämen uns wegen der Scheiße, weil wir mit ihr unsere innerste Intimität bloßlegen/nach außen tragen. Tiere haben kein Problem mit ihr, weil sie über kein „Inneres“ wie Menschen verfügen. Man sollte an dieser Stelle Otto Weininger heranziehen, der vulkanische Lava als „Dreck der Erde“ bezeichnete. Sie kommt aus dem Inneren des Körpers, und dieses Innere ist böse, verbrecherisch.30 Es gilt hier auf Freud zurückzukommen, der im vierten Kapitel von Jenseits des Lustprinzips beschreibt, wie ein Stück lebender Substanz „inmitten einer mit den stärksten Energien geladenen Außenwelt [schwebt] und […] von den Reizwirkungen derselben erschlagen werden [würde], wenn es nicht mit einem Reizschutz versehen wäre“. Es bekommt ihn dadurch, daß seine äußerste Oberfläche die dem Lebenden zukommende Struktur aufgibt, gewissermaßen anorganisch wird und nun als eine besondere Hülle oder Membran reizabhaltend wirkt, das heißt veranlaßt, daß die Energien der Außenwelt sich nun mit einem Bruchteil ihrer Intensität auf die nächsten, lebend gebliebenen Schichten fortsetzen können. Diese können nun hinter dem Reizschutz sich der Aufnahme der durchgelassenen Reizmengen widmen. Die Außenschicht hat aber durch ihr Absterben alle tieferen vor dem gleichen Schicksal bewahrt, wenigstens so lange, bis nicht Reize von solcher Stärke herankommen, daß sie den Reizschutz durchbrechen. Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen, draußen arbeitenden Energien zu bewahren.31 Oder, wie es Ray Brassier prägnant formuliert: „Die Trennung zwischen der organischen Innenseite und der anorganischen Außenseite wird um den Preis eines Teils des primitiven Organismus selbst erreicht, und es ist dieser Tod, der das Schutzschild entstehen lässt. […] Der Preis für das organische Einzelleben ist demnach dieser Urtod, durch den der Organismus zu einer

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erstmaligen Abgrenzung und Trennung seiner selbst vom anorganischen Außen fähig wird.“32 Ekel entsteht, wenn die „tote“ Schranke durchbrochen wird und das organische Innenleben an die Oberfläche dringt. Man sollte hier deutlich sein und sämtliche Schlüsse ziehen: Der Gegenstand des Ekels ist letztendlich das nackte Leben selbst, das seiner schützenden Schranke beraubte Leben. Das Leben ist eine ekelerregende Sache, ein schäbiges Ding, das aus sich selbst herausdringt, feuchte Wärme absondert, kriecht, stinkt, wächst. Die Geburt eines Menschen ist selbst ein alienartiges Ereignis: ein ungeheuerliches, monströses Geschehen, bei dem ein großer, dummer, haariger Körper aus dem Inneren eines Leibes hervorbricht und herumkriecht. Der Geist steht über dem Leben; er ist der Tod im Leben, ein Versuch, dem Leben zu entfliehen, während man lebt, ähnlich dem Freud’schen Todestrieb, der nicht Leben, sondern eine reine Wiederholungsbewegung ist. Über das „Alien“ aus Ridley Scotts gleichnamigem Film von 1979 lesen wir bei Stephen Mulhall: Die Lebensform des Aliens ist (gerade, bloß, einfach) das Leben als solches: Es bildet weniger eine besondere Spezies als vielmehr die Essenz dessen, was es heißt, eine Spezies, eine Kreatur, ein natürliches Wesen zu sein – es ist Fleisch gewordene oder ins Erhabene gesteigerte Natur, eine alptraumhafte Verkörperung des Naturreichs, verstanden als etwas, das den darwinschen Zwillingstrieben zum Überleben und zur Fortpflanzung vollständig untergeordnet ist und sich darin vollständig erschöpft.33 Dieser Ekel vor dem Leben ist reiner Ekel vor dem Trieb. Und es ist interessant, wie Ridley Scott die üblichen sexuellen Konnotationen umkehrt: Das Leben wird als inhärent männlich dargestellt, als die phallische Macht brutaler Penetration, die den weiblichen Körper parasitär besetzt und ihn als Fortpflanzungsträger ausbeutet. „Die Schöne und das Biest“ ist hier das weibliche Subjekt, das von dem ekelerregenden unsterblichen Leben abgestoßen wird. Es gibt zwei wirklich erhabene Momente in Jeunets Film Alien – Die Wiedergeburt von 1979: Im ersten betritt die geklonte Ripley den Laborraum, in dem die sieben vorherigen, gescheiterten Versuche, sie zu klonen, ausgestellt sind – hier trifft sie neben den ontologisch fehlgeschlagenen Versionen ihrer selbst auch auf die fast gelungene Version mit ihrem eigenen Gesicht, deren Gliedmaßen jedoch teilweise so deformiert sind, dass sie denen des Alien-Dings gleichen. Diese Kreatur bittet Ripleys Klon, sie zu töten, und in einem heftigen Wutausbruch vernichtet der Klon die Ausstellung des Schreckens praktisch, indem er den ganzen Raum in Brand

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steckt. Als zweites gibt es die einmalige Szene, vielleicht die Einstellung der ganzen Reihe, in der Ripleys Klon „in die Umarmung mit der Aliens-Spezies hinabgezogen wird und in seiner Versunkenheit in die sich windende Masse aus Gliedern und Schwänzen schwelgt – als sei er umflossen von der Labilität des organischen Wesens, das er zuvor im Feuer zu vernichten versucht hatte“.34 Somit ist klar, wie die beiden Szenen zusammenhängen: Es sind zwei Seiten einer Medaille. Der Bereich, in den die Exkremente verschwinden, nachdem wir die Toilettenspülung betätigt haben, ist effektiv eine der Metaphern für das erschreckend erhabene Jenseits des vorontologischen Urchaos, in das die Dinge verschwinden. Auch wenn wir rational wissen, was mit den Exkrementen weiter passiert, bleibt das scheinbare Geheimnis dennoch weiter bestehen – die Scheiße bleibt ein Überschüssiges, das sich mit unserer Alltagsrealität nicht verträgt, und Lacan hatte recht mit seiner Behauptung, dass die Schwelle vom Tier zum Menschen in dem Moment überschritten wird, da ein Tier sich mit dem Problem beschäftigt, was es mit seinen Exkrementen tun soll, in dem Moment, da sie zu etwas Überschüssigem werden, mit dem es sich herumplagen muss. Das Reale in der Szene aus dem Film Der Dialog (1974) ist mithin nicht in erster Linie das furchtbar eklige Zeug, das wieder aus dem Toilettenbecken austritt, sondern vielmehr das Loch selbst, die Leerstelle, die als Übergang in eine andere ontologische Ordnung dient. Die Ähnlichkeit zwischen dem leeren Toilettenbecken, bevor die Überreste des Mords wieder aus ihm austreten, und Malewitschs Schwarzes Quadrat auf weißem Grund ist hier kennzeichnend: Gibt der Blick von oben in das Toilettenbecken nicht nahezu dieselbe „minimalistische“ Sehanordnung wieder: ein schwarzes (oder zumindest dunkleres) Wasserquadrat, eingerahmt von der weißen Oberfläche des Beckens selbst? Wir wissen natürlich wiederum, dass sich die Exkremente, die verschwinden, irgendwo in dem Kanalisationssystem befinden – das „Reale“ ist hier das topologische Loch oder die Torsion, die den Raum unserer Realität „krümmt“, sodass wir die Exkremente so wahrnehmen oder sie uns vorstellen, als würden sie in eine alternative Dimension verschwinden, die nicht Teil unserer Alltagsrealität ist. Der Abgrund des Toilettenbeckens in Psycho bildet eine Art Übergang zu dem anderen Schauplatz der unbewussten Unterwelt, sodass es den Anschein hat, als träfe eine Botschaft von dort ein, wenn Lila gegen Ende des Films in das Becken schaut und darin ein zerrissenes Papier mit Zahlen findet, das beweist, dass Marion da gewesen ist. (Das Gleiche geschieht in Eine Dame verschwindet, wenn ein Stück Papier – ein Teebeutel – am Fenster eines Waggons erscheint und beweist, dass die Dame existierte.) Der

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dunkle Sumpf hinter dem Bates Motel, in dem Autos mit den Körpern der Opfer verschwinden, fungiert in vergleichbarer Art als ein riesiges Toilettenbecken, sodass es wirkt, als gelangte ein tief im Unbewussten verborgener Inhalt wieder ans Tageslicht, wenn Marions Auto in der allerletzten Einstellung des Films aus dem Sumpf gezogen wird.35 Hitchcocks Besessenheit, Bad oder Toilette wieder zu reinigen, nachdem er sie benutzt hat, ist allgemein bekannt, und es ist bezeichnend, dass er nach dem Mord an Marion unseren Identifikationspunkt auf Norman zu verlagern sucht, indem er in einer langen Einstellung zeigt, wie dieser sorgfältig das Badezimmer reinigt. Dies ist vielleicht die Schlüsselszene des Films, eine Szene, die eine unheimliche und tiefe Befriedigung darüber verschafft, dass die Arbeit ordentlich erledigt wurde, dass alles wieder seinen gewohnten Gang geht, die Lage wieder unter Kontrolle ist und dass die Spuren des schrecklichen Wesens aus der Unterwelt beseitigt sind. Die Versuchung liegt nahe, diese Szene vor dem Hintergrund der bekannten Äußerung des heiligen Thomas von Aquin zu deuten, wonach eine Tugend (verstanden als richtige Art und Weise, eine Handlung auszuführen) auch bösen Zwecken dienen kann. Man kann durchaus ein vollkommener Dieb, Mörder oder Erpresser sein, und auch eine böse Tat lässt sich auf „virtuose“ Weise ausführen. Diese Szene der Reinigung des Badezimmers in Psycho veranschaulicht, wie sich die „niedrigere“ Vollkommenheit unmerklich auf das „höhere“ Ziel auswirken kann: Normans virtuose Vollkommenheit bei der Reinigung des Bades dient selbstverständlich dem bösen Zweck, die Spuren des Verbrechens zu beseitigen; doch genau diese Perfektion, die Hingabe und Gründlichkeit, mit der er die Handlungen ausführt, verleiten uns, die Betrachter, zu der Annahme, dass jemand, der auf so „vollkommene“ Weise vorgeht, insgesamt ein guter und mitfühlender Mensch sein müsse. Kurz gesagt, kann jemand, der das Badezimmer so gründlich säubert wie Norman kein wirklich schlechter Mensch sein, trotz seiner sonstigen kleinen Eigenheiten … (Oder, um es noch zugespitzter zu formulieren: In einem von Norman regierten Land würden die Züge sicher pünktlich fahren!) Als ich mir die Szene neulich wieder ansah, ertappte ich mich dabei, wie ich nervös feststellte, dass das Badezimmer nicht ordentlich gereinigt war – es gab noch zwei kleine Flecken am Rand! Fast wollte ich rufen: Hey, du bist noch nicht fertig, mach die Sache ordentlich!36 Die Behauptung „Das ist eine schöne Rose“ ist nicht gleich der Behauptung „Die Rose ist schön“:37 Erstere besagt, dass die Rose eine schöne Rose ist, dass sie das (begrenzte) Schönheitspotenzial einer Rose verwirklicht hat, während die zweite Behauptung viel stärker ist, da mit ihr geltend gemacht wird, dass der absolute Schönheitsbegriff selbst, die Schönheit als

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solche, in der Rose aufscheint. Oder, um es platonisch auszudrücken: „Das ist eine schöne Rose“ bedeutet, dass die Rose vollständig und angemessen an der Idee der Rose teilhat, während „Die Rose ist schön“ bedeutet, dass die Rose, selbst wenn sie als Rose misslungen ist, an der Idee der Schönheit teilhat. In gleicher Weise ist es nicht dasselbe, ob man sagt: „Er ist ein guter Folterer“ oder: „Der Folterer ist gut“. Der Beweis der zweiten Äußerung kann genau in der Tatsache bestehen, dass die erste Äußerung nicht zutrifft, das heißt, weil der Folterer ein guter Mensch bleibt, kann er kein wirklich guter Folterer sein. Insofern hat Heideggers sprichwörtliche Abneigung gegen jede Art moralischer Betrachtung etwas Beunruhigendes an sich. In seiner Platon-Auslegung im Rahmen seiner Vorlesung im Wintersemester 1931/32 versucht er sogar, das platonische to agathon von allen Verbindungen mit dem moralisch Guten zu reinigen, indem er sich geschickt auf eine der Alltagsverwendungen des Ausrufs „gut!“ beruft: „,gut!‘ heißt: es wird gemacht! es ist entschieden! Es hat nichts von der Bedeutung des sittlich Guten; die Ethik hat die Grundbedeutung dieses Wortes verdorben.“38 Von daher kann man sich leicht vorstellen, wie Reinhard Heydrich am Ende der Wannsee-Konferenz ausrief: „Gut!“ und das Wort im eigentlichen platonischen Sinne gebrauchte („Es wird gemacht! Es ist entschieden!“) … Und trifft dieselbe Unterscheidung nicht auf das Schicksal der gesamten modernen Kunst zu, die weiterhin schön bleibt? Es ist schöne, aber nicht mehr auf substanzielle Weise schöne Kunst: Es ist keine Kunst, die schön ist, die teilhat an der Idee des Schönen als einer Erscheinungsform des Absoluten.

Hegels Weg zum Ungegenständlichen Wie können wir daher bezüglich der Kunst nach dem Schönen mit Hegel gegen Hegel denken? Pippin stellt zu Recht heraus, dass Hegel bei seiner Verkündung des Endes der Kunst (als höchster Ausdruck des Absoluten) paradoxerweise nicht idealistisch genug ist. Was Hegel nicht sieht, ist nicht einfach eine nachhegelianische Dimension, die ihm vollkommen unzugänglich ist, sondern vielmehr gerade die „hegelianische“ Dimension des untersuchten Phänomens. Das Gleiche gilt für die Ökonomie: Marx nämlich zeigte in seinem Kapital auf, inwiefern die Selbstreproduktion des Kapitals der Logik des Hegel’schen dialektischen Prozesses eines Substanzsubjekts folgt, das rückwirkend seine eigenen Voraussetzungen setzt. Hegel selbst aber hat diese Dimension verfehlt – seine Auffassung von der industriellen Revolution entsprach der von Adam Smith beschriebenen Art der Fertigung, bei welcher der Arbeitsprozess noch durch das Zusammenwirken von Individuen definiert ist, die Werkzeuge verwenden, und noch nicht

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durch die Fabrik, in der die Maschinen den Rhythmus vorgeben und die einzelnen Arbeiter de facto auf Funktionseinheiten zu ihrer Bedingung und somit auf ihre Anhängsel reduziert sind. Darum konnte sich Hegel noch nicht vorstellen, wie die Abläufe im entwickelten Kapitalismus von der Abstraktion beherrscht werden: Die Abstraktion besteht nicht nur in unserer (finanzspekulativen) Fehlwahrnehmung der sozialen Realität, sondern sie ist in genau dem Sinn „real“, dass sie die materiellen sozialen Prozesse in ihren Strukturen bestimmt: Das Schicksal ganzer Bevölkerungsschichten und manchmal ganzer Länder kann durch den „solipsistischen“ Tanz des Spekulationskapitals bestimmt werden, das sein Rentabilitätsziel in seliger Gleichgültigkeit gegenüber der Frage verfolgt, wie sich seine Bewegung auf die soziale Realität auswirkt. Darin besteht die systematische Gewalt im Kapitalismus, die viel unheimlicher ist als die unmittelbare vorkapitalistische sozio-ideologische Gewalt: Diese Gewalt lässt sich nicht länger den konkreten Individuen und ihren „bösen“ Absichten zurechnen, sondern sie ist rein „objektive“, systematische und anonyme Gewalt. Und in genauer Entsprechung zu dieser Herrschaft der Abstraktion im Kapitalismus war Hegel nicht idealistisch genug, um sich die Herrschaft der Abstraktion in der Kunst vorstellen zu können. Das heißt, so wie er auf dem Feld der Ökonomie nicht imstande war, den sich selbst vermittelnden Begriff wahrzunehmen, der die ökonomische Realität von Produktion, Verteilung, Austausch und Konsum strukturiert, war er auch nicht imstande, den Begriffsinhalt eines Gemäldes wahrzunehmen, der dessen Form (Gebilde, Farben) auf einer Ebene vermittelt und reguliert, die grundlegender ist als der in einem Gemälde dargestellte (abgebildete) Inhalt – die „abstrakte Malerei“ vermittelt beziehungsweise reflektiert das Sinnliche auf einer Nichtdarstellungsebene: Sie versteht Abstraktion als reflexiv und begriffsgeleitet und nicht wie Greenberg als reduktionistisch und materialistisch. Gemälde von Pollock und Rothko sind keine Präsentationen von gemalten Klecksen, Farbflächen und flacher Leinwand. Sie entwerfen Bausteine sinnlicher Bedeutung, die wir traditionell nicht als solche sehen und verstehen, sondern als gegeben betrachten würden, und dies kann Sinn ergeben, weil das Resultathafte selbst des sinnlichen Erfassens, ein verallgemeinerter Idealismus, der sogar in den Vorlieben von Nietzsche und Proust offenbar wird, mittlerweile zu den intellektuellen Denkgewohnheiten moderner Prägung gehört, auch wenn er als solcher nicht behandelt wird. Darin könnte für Hegel die neue Bedeutsamkeit nichtdarstellender Kunst bestehen.39

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Eine exemplarische Schrift in diesem Zusammenhang ist Kandinskys Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei. Kandinsky erkundet darin, wie Farben und Formen, Punkte und Linien und ihr Zusammenspiel unmittelbar den Geist wachrufen (reine Emotionen erzeugen), während der Darstellungsinhalt in den Hintergrund tritt. Man darf hier den Abstand nicht vergessen, der die authentische, wahre Kunst von der bloß dekorativen trennt: Zwar sehen wir das Zusammenspiel von Formen und Farben auch an der ungegenständlichen dekorativen Kunst, in ihrem Zusammenhang aber liefert es uns keine tiefere geschichtliche Wahrheit. Obwohl Kandinskys Text voller naiver theosophischer Thesen steckt, trifft er mit seinen Überlegungen zweimal ins Schwarze, und dabei bezeugt er, dass das, was bei ihm „geistig“ heißt, auch im Hegel’schen Sinne Geist ist. Erstens bedeutet der Fortschritt in der Kunst einen Freiheitsfortschritt: „[D]ie größte Freiheit, welche die freie und unbedingte Atmungsluft der Kunst ist, [kann] nicht absolut sein […]. Jeder Epoche ist ein eigenes Maß dieser Freiheit gemessen. Und über die Grenzen dieser Freiheit vermag die genialste Kraft nicht zu springen. Aber dieses Maß muß jedenfalls erschöpft werden und wird jedesmal erschöpft.“ Zweitens ist die Freiheit in ihrem geschichtlichen Augenblick verankert: Es „hat jeder Künstler, als Kind seiner Epoche, das dieser Epoche Eigene zum Ausdruck zu bringen (Element des Stiles im inneren Werte, zusammengesetzt aus der Sprache der Epoche und der Sprache der Nation, solange die Nation als solche existieren wird)“.40 Die Begrenztheit der gegenständlichen Kunst ergibt sich bereits aus den Blockierungen von Platons Mimesis-Begriff. Platons Denken mobilisiert zwei panikartige Ängste: die Angst vor der Mimesis (vor der Nachahmung, die uns das Original mit einer minderwertigen Kopie verwechseln lässt) und die Angst vor der Musik (die uns in den selbstzerstörerischen Strudel ihrer Trance hineinzuziehen droht, wenn sie nicht dem artikulierten logos untergeordnet wird). Handelt es sich bei diesen Ängsten um zwei Versionen der gleichen Angst? Ist die Musik mithin ebenfalls eine Spezies der Mimesis (ahmt sie etwa die Harmonie der göttlichen Himmelssphären nach, wie der pythagoreisch beeinflusste Platon es mitunter darstellt)? Oder ist sie in ihrem eigenen antimimetischen Genuss gefangen und schließt jegliche Verbindung zu einer äußeren Andersheit aus? Und was ist, wenn die Musik für den in sich selbst geschlossenen Triebkreislauf steht, der unser unendliches Verlangen nach Aufstieg zu den Ideen sabotiert und uns auf unvollkommene Nachbildungen der Ideen beschränkt?41 Vielleicht sollte man zu diesen beiden Ängsten eine dritte hinzufügen: die Angst vor der Sophistik, vor dem abstrakten Argumentieren, das sich von der Wahrheit abwendet und den Kontakt zu ihr verliert. (Daher rührt die

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große Besessenheit, mit der Platon in seinen letzten Dialogen die Frage verfolgt, wie sich das wahrheitsgetreue Reden eindeutig von der falschen Sophisterei abgrenzen lässt – mit seinem Dialog Der Sophist scheitert er in dieser Hinsicht exemplarisch.) Auf diese Weise erhalten wir (einmal mehr) eine IRS-Triade: Die Angst vor der imaginären Macht der Mimesis, vor Bildern, die sich ohne Rücksicht auf das Original vermehren; die Angst vor dem Strudel des musikalischen Realen, der uns in den Abgrund zu ziehen droht wie der verrückte Tanz der Bacchantinnen in Euripides’ Stück; die Angst vor einem auf Sophisterei reduzierten Symbolischen, welches die Wahrheit missachtet und nur auf oberflächliche rhetorische Wirkung abzielt. Warum aber sind Kopien notwendigerweise unvollkommen? Allem Anschein nach scheitert die Mimesis im Hinblick auf das einzigartige je ne sais quoi, das, was in dem nachgeahmten Objekt „mehr ist als es selbst“, das Lacan’sche object a, das sich nicht kopieren oder nachahmen lässt – wir können nur positive Eigenschaften kopieren, immer jedoch gibt es einen geheimnisvollen Bestandteil, der sich unserem Zugriff entzieht … Was aber ist, wenn das Gegenteil zutrifft? Was, wenn dieses schwer fassbare je ne sais quoi rückwirkend durch die Nachahmung selbst hervorgebracht wird? Eine sinnliche Dame aus Portugal erzählte mir einmal eine wunderbare Anekdote: Als ihr letzter Liebhaber sie zum ersten Mal nackt gesehen hatte, sagte er zu ihr, dass sie nur ein oder zwei Kilo abnehmen bräuchte und ihr Körper wäre perfekt. Die Wahrheit war natürlich, dass sie vermutlich gewöhnlicher ausgesehen hätte, hätte sie zwei Kilo abgenommen – gerade das Element, das die Perfektion selbst zu beeinträchtigen scheint, schafft die Illusion, die es beeinträchtigt: Wird das Überschusselement entfernt, geht die Perfektion selbst verloren. Von Platon her gedacht, hätten wir es hier mit einer Beziehung zwischen der platonischen Idee ihres vollkommenen Körpers und der Realität eines leicht übergewichtigen Körpers zu tun: Das objet a ist dieser Gewichtsüberschuss, der rückwirkend das Ideal erschafft, in Bezug auf das jede Kopie misslingt – wird das Zuviel entfernt, geht das Ideal selbst verloren. Und das Gleiche gilt für die Mimesis: Der Überschuss, der sich der Nachahmung entzieht, wird durch die Nachahmung selbst hervorgebracht, er besteht nicht in der nachgeahmten Idee.

Zwischen Auschwitz und Telenovelas Hegel geht selbstverständlich nicht in diese Richtung: Für ihn muss Kunst – die Kunst nach ihrem Ende, die Kunst in einer versöhnten Welt – komisch sein. Was aber ist, wenn Komik und radikale Unversöhntheit einander nicht ausschließen (weshalb die besten Filme über den Holocaust Ko-

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mödien sind)? Denken wir daran, wie Primo Levi in seiner autobiografischen Schilderung Ist das ein Mensch? die furchtbare Selekcja beschreibt, die über das Weiterleben entscheidende Selektion: Der Blockälteste hat die Tür zwischen Tagesraum und Schlafraum abgeschlossen und statt dessen die Außentüren des Tagesraums und des Schlafraums geöffnet. Dort, vor den beiden Türen, steht der Richter unseres Schicksals, ein SS-Scharführer. Zu seiner Rechten der Blockälteste, zu seiner Linken der Blockschreiber. Jeder, der aus dem Tagesraum nackt in die Oktoberkälte tritt, muß die wenigen Schritte zwischen den Türen laufend vor diesen dreien zurücklegen, muss dem SS-Mann den Zettel überreichen und dann durch die Tür des Schlafraums wieder in die Baracke gehen. In dem Sekundenbruchteil zwischen zwei aufeinanderfolgenden Vorbeiläufen entscheidet der SS-Mann mit einem Blick von vorn und hinten über das Geschick eines jeden, reicht seinerseits den Zettel dem zu seiner Rechten oder dem zu seiner Linken, und das heißt für jeden von uns Leben oder Tod. Binnen drei, vier Minuten ist eine Baracke mit zweihundert Mann „gemacht“ und im Verlauf des Nachmittags das ganze Lager mit zwölftausend Menschen.42 Rechts hieß Überleben, links hieß Gaskammer. Liegt nicht etwas wirklich Komisches in diesem lächerlichen Schauspiel, stark und gesund zu erscheinen und für einen kurzen Moment den gleichgültigen Blick des SS-Mannes auf sich zu ziehen, der über Leben und Tod waltet? Komik und Schrecken fallen hier zusammen: Man braucht sich nur vorzustellen, wie die Häftlinge ihren Auftritt proben, wie sie versuchen, den Kopf oben zu halten und die Brust nach vorn zu strecken, mit raschen Schritten gehen, sich in die Lippen kneifen, damit sie weniger blass aussehen, einander Ratschläge geben, wie sich der SS-Mann beeindrucken lässt; man braucht nur daran denken, wie ein kurzzeitiges Durcheinander der Zettel oder eine mangelnde Aufmerksamkeit seitens des SS-Mannes über das Schicksal der Betroffenen entscheiden können … Dieser „komische“ Aspekt sorgt natürlich nicht für Gelächter – er steht vielmehr für eine Position jenseits von Komik und Tragik. Einerseits leidet der sogenannte „Muselmann“ (der „wandelnde Leichnam“ im Lager) eine solche Not, dass sich seine Lage nicht mehr als „tragisch“ bezeichnen lässt; ihm fehlt die zu einer tragischen Lage zwingend erforderliche Würde, das heißt, er verfügt nicht mehr über das Minimum an Würde, von dem her seine elende aktuelle Lage tragisch erscheinen würde – er ist auf die bloße Hülle eines Menschen reduziert, in der es keinen Funken Geist mehr gibt. Würde man ihn als tragischen Menschen dar-

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zustellen versuchen, hätte das gerade einen komischen Effekt, so als wollte man versuchen, in eine bedeutungslose idiotische Persistenz tragische Würde hineinzudeuten. Andererseits: Obwohl der Muselmann auf eine gewisse Art „komisch“ ist, obwohl er in einer Weise handelt, die normalerweise den Stoff für Komödien abgibt (seine automatischen stumpfsinnigen Wiederholungsgesten, seine unentwegte Suche nach Nahrung), macht es das ganze Elend seiner Lage völlig unmöglich, ihn als eine „komische Figur“ darzustellen beziehungsweise wahrzunehmen – würde man ihn als „komisch“ darzustellen versuchen, hätte dies wiederum gerade einen tragischen Effekt, so wie der traurige Anblick von jemandem, der seinen grausamen Spott mit einem hilflosen Opfer treibt (etwa einer blinden Person Hindernisse in den Weg legt, um zu sehen, ob sie stolpern wird), kein Lachen, sondern Mitgefühl für die tragische Situation des Opfers bei uns auslöst. Ist nicht etwas Derartiges auch bei den Demütigungsritualen in den Lagern passiert, vom Schriftzug „Arbeit macht frei“ über dem Tor am Eingang des Lagers in Auschwitz bis zum Häftlingsorchester, das die Gefangenen zur Arbeit oder in die Gaskammern begleitete? Das Paradoxe ist, dass sich die tragische Empfindung nur durch einen solchen grausamen Humor hervorrufen lässt. Der Muselmann bildet demnach den Nullpunkt, an dem jener Gegensatz zwischen Tragik und Komik, zwischen Erhabenem und Lächerlichem, zwischen Würde und Verhöhnung aufgehoben ist, den Punkt, an dem der eine Pol unmittelbar in sein Gegenteil übergeht: Wenn man versucht, die schlimme Lage des Muselmannes als tragisch darzustellen, ist das Resultat komisch, eine verhöhnende Parodie der tragischen Würde, und wird er als komische Figur betrachtet, entsteht Tragik. Vielleicht also war Hegel mit seiner tragischen Sichtweise nicht imstande, die Möglichkeit eines Schrecklichen in Betracht zu ziehen, das schlimmer als das Tragische ist und das genau aus diesem Grund komisch wirken und ein Gelächter hervorrufen kann, das nicht aus der Position der Versöhnung kommt, ein Lachen über die Nichtigkeit der bestehenden Konflikte, ein Lachen aber auch, durch das hindurch die totale Kapitulation des Subjekts und sein völliger Orientierungsverlust zu spüren sind. Hegel wusste mit anderen Worten, dass das Komische dem Tragischen folgt; was er sich nicht vorstellen konnte, ist ein Komisches, das noch schrecklicher als das Tragische ist. Demnach ist es nicht so, dass Hegel zu schnell zum Komischen springt, zur komischen Versöhnung, und er hätte auch nicht sehen müssen, dass die Tragik der Entfremdung und des Antagonismus auch in der modernen Welt bestehen bleibt. In der modernen Welt geht das Tragische zum Komischen über, es gibt kein Zurück zur tragischen Erfahrung, und wir sollten lernen, das Schreckliche unter dem Aspekt des Ko-

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mischen im Komischen selbst zu erkennen. Für Hegel jedoch betrifft das Komische, das dem modernen Zeitalter entspricht, den „Humanus“, wie es bei ihm heißt, die Kunst ohne historische Wahrheit, welche das alltägliche Leben mit seinen unbedeutenden Konflikten bloß abbildet und dadurch erkennen lässt, dass das Absolute mit sich selbst versöhnt ist. Die moderne Kunst transzendiert sich selbst. „[Doch in] diesem Hinausgehen […] der Kunst über sich selber ist sie ebensosehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen. Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selber und ist der wirklich sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist, dem nichts mehr fremd ist, was in der Menschenbrust lebendig werden kann. Es ist dies ein Gehalt, der nicht an und für sich künstlerisch bestimmt bleibt, sondern die Bestimmtheit des Inhalts und des Ausgestaltens der willkürlichen Erfindung überläßt, doch kein Interesse ausschließt, da die Kunst nicht mehr das nur darzustellen braucht, was auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat.43 In diesem Universum, in dem es keine bevorzugten „großen Themen“ gibt und „alles geht“, müssen sämtliche Konflikte im Bereich des Komischen und der Komödie bleiben: Hegel spricht von der „frei in sich selbst sich geistig bewegenden absoluten Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr mit dem Objektiven und Besonderen einigt und sich das Negative dieser Auflösung in dem Humor der Komik zum Bewußtsein bringt“. Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, indem das Absolute, das sich zur Realität hervorbringen will, diese Verwirk-

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lichung selber durch die im Elemente der Wirklichkeit jetzt für sich frei gewordenen und nur auf das Zufällige und Subjektive gerichteten Interessen zernichtet sieht, so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung […] hervor.44 Interessant ist hier, dass der Ausdruck l’art pour l’art, der die vollständige Autonomie der Kunst als Zweck in sich selbst erfasst, der keinem umfassenderen gesellschaftlichen Ziel dient, von Hegels französischem Schüler Victor Cousin geprägt wurde und überdies das genaue Gegenstück zu Hegels These vom Ende der Kunst bildet. Es ist, als ob die Kunst ihren privilegierten Status als Ausdrucksform des Absoluten in eben dem Moment verliert, da sie ihre vollständige Autonomie durchsetzt: Wenn sie schließlich erreicht, wonach sie gestrebt hat – die vollständige Emanzipation vom Heiligen, vom gesellschaftlichen Nutzen und so weiter –, wird der Gewinn wertlos, und aus der Emanzipation der Kunst wird die Emanzipation von der Kunst. Dies ist eine der Möglichkeiten zu verstehen, weshalb Hegel selbst die Kunst nach ihrem Ende als Selbstzerstörung charakterisiert – und ist es nicht wirklich so, dass die moderne Kunst in einem ständigen Prozess der Selbstbefragung gefangen ist, der bis zur Selbstvernichtung reicht? Die Kunst kann jedoch auch anders verstanden werden, nämlich als eine Regression, die nichts als oberflächliche Komödien entstehen lässt. Passt Hegels Darstellung denn nicht perfekt zur Welt der Sitcoms von heute, von Seinfeld bis zu den mexikanischen Telenovelas? Die (gesellschaftliche) Welt ist im Grunde genommen versöhnt; es gibt keine Spaltungen und Antagonismen, die sie durchschneiden, sondern nur normale Menschen und die alltäglichen und zumeist lächerlichen Komplikationen, in die sie verwickelt sind. Die ganze Form dieser Sitcoms scheint die Hegel’sche „falsche Unendlichkeit“ zu evozieren: Es gibt keine großen Fragen, nur melodramatische Verwicklungen, die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden. Es scheint mithin, als sei Hegel seiner Zeit hier vorausgewesen: Erst heute hat die Realität ein Produkt hervorgebracht, auf das seine Beschreibung passt. Und was ist, wenn es sich bei dieser Komödie der prosaischen Welt um das christliche Erhabene in seiner endgültigen Gestalt handelt, die uns erkennen lässt, wie das mit sich selbst versöhnte Absolute in unbedeutenden Alltagskonflikten hervortritt?

5 Versionen des Abjekts: Hässlich, gruselig, ekelerregend Was passiert, wenn wir auf einen verwesenden menschlichen Leichnam stoßen oder, in gewöhnlicheren Fällen, auf eine offene Wunde, Exkremente, Erbrochenes, brutal ausgerissene Nägel oder Augen oder auch nur die Haut, die sich auf warmer Milch gebildet hat? Womit wir in solchen Situationen Erfahrung machen, ist nicht bloß ein ekelerregendes Objekt, sondern etwas viel Radikaleres: Es ist die Auflösung ebender ontologischen Koordinaten, die es uns erlauben, ein Objekt in der äußeren Realität „da draußen“ zu verorten. Phänomenologisch beschrieben finden wir solche Erfahrungen bei Julia Kristeva, die davon ausgehend ihre Überlegungen zum Begriff des Abjekts entwickelt, und damit zur Reaktion des Schreckens, des Ekels, des Rückzugs, der zweideutigen Faszination und so weiter, die von Objekten oder Ereignissen ausgelöst wird, welche die klare Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen der eigenen Person und der Realität „da draußen“ unterminieren. Das Abjekt ist dem Subjekt definitiv äußerlich; es ist jedoch radikaler noch dem Raum selbst äußerlich, in dem das Subjekt sich von der Realität „da draußen“ unterscheiden kann. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang der von Lacan geprägte Neologismus extim anwenden. Danach ist das Abjekt dem Subjekt so völlig innerlich, dass diese Überinnerlichkeit selbst es äußerlich, unheimlich und unstatthaft macht. Aus diesem Grund ist der Status des Abjekts bezüglich des Lustprinzips äußerst uneindeutig: Es ist abstoßend, löst Schrecken und Ekel aus, gleichzeitig aber geht eine unwiderstehliche Faszination von ihm aus, und es zieht unsere Blicke gerade durch seinen Schrecken an: „Daher versteht man, weshalb so viele Opfer des Abjekts faszinierte Opfer sind – wenn nicht gar seine unterwürfigen und willigen Opfer.“1 Eine solche Vermischung von Schrecken und Lust deutet auf einen jenseits des Lustprinzips angesiedelten Bereich der jouissance hin: „Man weiß nicht, was es ist. Man begehrt es nicht, man genießt es [on en jouit], und zwar in heftiger und schmerzhafter Weise. Es handelt sich um eine Leidenschaft“ (S. 9). Kommt somit das Abjekt dem nahe, was Lacan als objet petit a bezeichnete, dem „unsichtbaren Rest“ des Prozesses der symbolischen Repräsentation, der als die (immer schon verlorene) Objektursache des Begehrens fungiert? Das Objet petit a als die Objektursache des Begehrens ist in seiner Überschüssigkeit selbst immanenter Teil des symbolischen Prozesses; es

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bildet die geisterhafte/sich entziehende Verkörperung des Mangels, der das vom (symbolischen) Gesetz aufrechterhaltene Begehren antreibt. Im Gegensatz zum objet a, das innerhalb der Ordnung des Sinns als ihr konstitutiver blinder Fleck fungiert, ist das Abjekt aus dem Raum der symbolischen Gemeinschaft „grundsätzlich ausgeschlossen und zieht mich zu dem Ort, wo die Bedeutung zusammenbricht“ (S. 2). „Die Abjektion wahrt und bewahrt, was in den archaisch-vorgegenständlichen Beziehungsverhältnissen da war, in der unvordenklichen Gewalt, mit der ein Körper von einem anderen Körper getrennt wird, damit er sein kann“ (S. 10). Die Erfahrung der Abjektion kommt folglich vor den großen Unterscheidungen zwischen Kultur und Natur, Innen und Außen, Bewusstsein und Unbewusstem, Verdrängung und Verdrängtem und so weiter – Abjektion bedeutet keine Versenkung in die Natur, die „Urmutter“, sondern meint den äußerst gewaltsamen Unterscheidungs- und Abgrenzungsprozess; sie ist der „verschwindende Vermittler“ zwischen Natur und Kultur, eine „Kultur im Werden“, die aus dem Blickfeld entschwindet, sobald sich das Subjekt in der Kultur eingerichtet hat. Das Abjekt ist das, was „Identität, System und Ordnung stört; was keine Grenzen, Positionen und Regeln akzeptiert“, doch nicht in dem Sinne, dass der Fluss der Natur die kulturellen Abgrenzungen aushöhlt; es lässt die „Zerbrechlichkeit des Gesetzes“ offensichtlich werden, die Zerbrechlichkeit der Naturgesetze eingeschlossen, weshalb eine Kultur, wenn sie sich selbst zu stabilisieren sucht, dies durch den Bezug auf Gesetze (gesetzmäßige Rhythmen) tut (Tag und Nacht, die regelmäßige Bewegung der Planeten und der Sonne und so weiter) (S. 4). Der Zusammenstoß mit dem Abjekt ruft Angst hervor, wobei es sich dabei weniger um die Angst vor einem bestimmten realen Objekt handelt (Schlangen, Spinnen, der Höhe), sondern um eine viel grundlegendere Angst, dass das, was uns von der äußeren Realität trennt, zusammenbrechen könnte: Was uns an einer offenen Wunde oder einem toten Körper Angst macht, ist nicht ihre Hässlichkeit, sondern die Möglichkeit, dass die das Innen und das Außen trennende Linie verwischt. Die dem Abjektbegriff zugrundeliegende Vorstellungsmatrix ist die eines gefährlichen Grundes: Das Abjekt deutet auf einen Bereich, der die Quelle unserer Lebensintensität bildet – wir beziehen unsere Energie aus ihr, zugleich aber müssen wir den richtigen Abstand zu ihr wahren. Wenn wir sie ausschließen, verlieren wir unsere Vitalität, kommen wir ihr jedoch zu nahe, werden wir von dem selbstzerstörerischen Strudel des Wahnsinns verschluckt – darum tritt die Abjektion nicht aus dem Symbolischen heraus, sondern geht es von innen her an: „Das Abjekt ist pervers, weil es weder aufgibt, noch ein Verbot, eine Regel oder ein Gesetz annimmt; viel-

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mehr bringt es sie vom Weg ab, verleitet, verdirbt; es benutzt sie, macht sie sich zunutze, um sie besser bestreiten zu können“ (S. 4). Dieser abjektale Exzess kann auch in Gestalt eines „unsichtbaren Rests“ des Realen in Erscheinung treten, der dem Vergeistigungs- oder Symbolisierungsprozess entgegenwirkt – in diesem Sinne erwähnt Kristeva die heidnischen Gegenspieler des westlichen Monotheismus, welche die Idee von einem Rest würdigen, etwas, das den teleologischen Abschluss der Schöpfung verhindert und die Bewegung für immer offenhält: „Der Dichter des Atharvaveda rühmt den verunreinigenden und erneuernden Rest (uchista) als Voraussetzung für jegliche Form. ‚Auf dem Rest gründen sich Name und Form, auf dem Rest gründet sich die Welt. […] Sein und Nichtsein sind beide in dem Rest, Tod und Tatkraft‘“ (S. 77).2 Der Rest stützt hier die Vorstellung von einem zyklischen Universum, indem er dessen Wiedergeburt ermöglicht. (Die letzten Spuren dieser Logik finden sich sogar in der Kabbala, wo der Teufel in unserem Universum als der übrig gebliebene Rest früherer Universen erklärt wird, die von Gott geschaffen und dann von ihm vernichtet wurden, weil er mit seiner Schöpfung nicht zufrieden war – der Rest begründet demnach die wiederholte Schöpfung.) Hegel und der christliche Monotheismus sind hier leichte Ziele: Angeblich tendieren sie dazu, den Rest durch eine vollständige Aufhebung des Bösen im Guten zu beseitigen, durch eine erfüllte Teleologie, die alle früheren niederen Stadien ablöst.3

Varianten der Verleugnung In unserem täglichen Leben gehen wir auf unterschiedliche Art und Weise mit der Abjektion um: Wir ignorieren sie, wenden uns mit Ekel von ihr ab, fürchten sie, gestalten Rituale, die sie auf Abstand halten oder auf einen abgeschiedenen Ort beschränken sollen (Toiletten zur Darmentleerung und anderes). Ekel, Schrecken, Phobie – es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit zum Umgang mit der Abjektion: Sie besteht darin, eine beinahe psychotische Spaltung zwischen abjektalen Objekten oder Handlungen und der symbolischen Ritualisierung, die von Befleckung reinigen soll, vorzunehmen, das heißt, beides voneinander getrennt zu halten, als gäbe es keinen gemeinsamen Raum, in dem sie zusammentreffen können, weil das Abjekt (der Schmutz) in seiner Wirklichkeit aus dem Symbolischen schlechthin ausgeschlossen ist. Kristeva führt das Beispiel der Kasten in Indien an, wo sich die strenge Ritualisierung der Reinigung (zahlreiche Rituale, die bis ins Kleinste geregelt sind und vorschreiben, wie man sich reinigen sollte) „mit einer allgemeinen wie vollkommenen Blindheit für den

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Schmutz selbst zu verbinden scheint, obwohl er doch den Gegenstand jener Rituale bildet“. Es ist, als hätte man sozusagen nur den heiligen Verbotsaspekt der Verunreinigung bewahrt und das anale Objekt, dem eine solche Sakralisierung gegolten hatte, im grellen Licht der Unbewusstheit, wenn nicht des Unbewussten, verlorengehen lassen. Wie V. S. Naipul herausstellt, defäkieren Hindus überall hin, ohne dass diese hockenden Gestalten jemals, sei es im Gespräch oder in Büchern, von irgendwem erwähnt würden, was ganz einfach daran liegt, dass niemand sie sieht. Es handelt sich hierbei nicht um eine Form der Zensur aus Keuschheit, die fordern würde, dass im Diskurs einer Funktion, die sozusagen ritualisiert worden ist, bestimmte Dinge nicht zur Sprache kommen. All jene Handlungen und Objekte werden vielmehr durch schonungslosen Ausschluss aus der bewussten Vorstellung verbannt. Es scheint zu einer Aufspaltung gekommen zu sein, einer Aufspaltung zwischen dem Gebiet des Körpers auf der einen Seite, auf dem eine Macht waltet, die keine Schuld kennt, eine Art Verschmelzung aus Mutter und Natur, und auf der anderen Seite einem völlig anderen Universum von sozial bedeutsamen Verhaltensweisen, in dem Verlegenheit, Scham, Schuld, Begehren und so weiter ins Spiel kommen – der Ordnung des Phallus. Eine solche Aufspaltung, die in einem anderen kulturellen Universum psychotische Folgen hätte, findet hier also vollkommenen Eingang in die Gesellschaft. Dies mag seine Ursache darin haben, dass die Einrichtung des Beschmutzungsrituals die Funktion des Bindestrichs beziehungsweise des Schrägstrichs übernimmt und die beiden Universen des Schmutzes und des Verbots leicht aneinanderstoßen lässt, ohne dass sie als solche, als Objekt und als Gesetz, gekennzeichnet werden. Aufgrund der Flexibilität, die bei den Verunreinigungsritualen besteht, grenzt die subjektive Ökonomie des sprechenden Wesens, das an ihnen beteiligt ist, an die beiden Ränder des Unsagbaren (des Nichtobjekts, der Tabus) und des Absoluten (des unerbittlichen Verbotszusammenhangs und einzigen Bedeutungsgebers). (S. 75) Finden sich ähnliche Fälle nicht auch im Christentum sowie im Islam? Als der (ehemalige) iranische Präsident Ahmadinedschad nach New York reiste, um eine Sitzung der UN-Generalversammlung zu besuchen, wurde er zur Teilnahme an einer Live-Diskussion an der Columbia University eingeladen. Als er zur Homosexualität im Iran befragt wurde, wurde seine Antwort einfach falsch ins Englische übersetzt, sodass der Eindruck entstand, er hätte

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behauptet, dass es im Iran keine Probleme mit Homosexuellen gäbe, weil es keine Homosexuellen gäbe. Ein iranischer Freund, der bei dieser Veranstaltung anwesend war (und der Ahmadinedschad sehr kritisch gegenüberstand), teilte mir mit, dieser habe in Wahrheit eine viel differenziertere Antwort gegeben: Er habe darauf verwiesen, dass man im Iran nicht öffentlich über Homosexualität redet, sie offiziell verurteilt und ihren konkreten Erscheinungen zumeist keine Beachtung schenkt, sodass man dort „die beiden Universen des Schmutzes und des Verbots leicht aneinanderstoßen lässt, ohne dass sie als solche, als Objekt und als Gesetz, gekennzeichnet werden“. Und gilt nicht dasselbe für die Pädophilie in der katholischen Kirche? Die pädophile Homosexualität wird offiziell verurteilt, gleichwohl aber (bis vor kurzem zumindest) toleriert, indem man sie in der Praxis ignoriert, so als ob das öffentliche Recht und die materielle Praxis des sündhaften Schmutzes unterschiedlichen Bereichen angehören würden. Diese im Hinduismus, im Islam und im Katholizismus wirkende Logik sollte jedoch nicht mit Verdrängung verwechselt werden: An dem Schmutz oder der pädophilen Homosexualität ist nichts „verdrängt“ oder „unbewusst“, die schmutzige Handlung wird mehr oder weniger offen und ohne irgendwelche Skrupel ausgeübt. Die ausübenden Personen sind (zumeist) weder von ihren perversen Begierden traumatisiert, noch werden sie von tiefen Schuldgefühlen verfolgt, sie halten die beiden Dimensionen schlicht und ergreifend voneinander getrennt. Unser Problem heute ist, dass ein solches Trennen und Auseinanderhalten der beiden Bereiche innerhalb der Logik der Political Correctness nicht mehr funktioniert: Die politisch korrekte Haltung bringt die beiden Dimensionen per definitionem zum Einsturz, weil sie gerade auf unmittelbare Kontrolle und Regulierung des „Gebiets des Körpers [aus ist], auf dem eine Macht waltet, die keine Schuld kennt, eine Art Verschmelzung aus Mutter und Natur“. Anders ausgedrückt, gibt es keinen Bereich, den das Gesetz der Political Correctness unberücksichtigt oder unbeachtet lässt – ihr Gesetz duldet keine ungeschriebenen Regeln; es gibt hier keinen Platz für ein grenzüberschreitendes Verhalten, das ausdrückliche Regeln verletzt und gerade als solches vom Gesetz nicht nur geduldet, sondern sogar eingefordert wird. Genau so funktioniert das väterliche Verbot: In der Tat ist das Bild des idealen Vaters ein Neurotikerphantasma. Jenseits der Mutter […] wird das Bild eines Vaters sichtbar, der angesichts der Begierden beide Augen zudrückte. Dadurch wird die wahre Funktion des Vaters eher geprägt als enthüllt, sie besteht durchaus darin, eine Begierde mit dem Gesetz in Einklang zu bringen (und nicht entgegenzusetzen).4

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Während der Vater die Eskapaden des Sohnes verbietet, sieht er nicht nur diskret über sie hinweg und duldet sie, sondern fordert sie sogar ein. In diesem Sinne stützt dieser Vater als Vertreter des Verbots beziehungsweise des Gesetzes das Begehren und die Lust: Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zum Genuss, weil dessen Raum selbst durch die Leerstellen des kontrollierenden Blicks des Vaters eröffnet wird. (Und gilt nicht dasselbe für Gott selbst, unseren ultimativen Vater? Das erste Gebot [in der englischen Bibelübersetzung] sagt: „Du sollst vor mir [engl. „before me“] keine anderen Götter haben.“ Worauf bezieht sich das unklare „vor mir“? Die meisten englischsprachigen Bibelübersetzer sind sich einig, dass es „vor meinem Gesicht, räumlich vor mir, wenn ich dich sehe“ bedeutet – was subtil impliziert, dass Gott zwar eifersüchtig ist, aber dennoch über das hinwegsieht, was wir heimlich, außer [seiner] Sichtweite tun … Kurz gesagt, gleicht Gott hier einem eifersüchtigen Ehemann, der zu seiner Frau sagt: „Gut, du kannst andere Männer haben, aber sei diskret, sodass ich [oder die Öffentlichkeit im Allgemeinen] es nicht bemerke und du mir keine Schande machst!“) Der negative Beweis für diese konstitutive Funktion des Vaters, wenn es darum geht, den Rahmen für einen realistischen, tragfähigen Genuss abzustecken, ist die Sackgasse der heutigen Freizügigkeit, wenn der Herr oder der Experte den Genuss nicht mehr verbietet, sondern vorschreibt („Sex ist gesund“ und so weiter) und damit wirksam vereitelt. Stellt der hier beschriebene Mechanismus nicht einen Fall der sogenannten fetischistischen Verleugnung dar? Kristeva verlegt den radikalsten Fetischismus, die fetischistische Verleugnung, in die Sprache selbst: Doch ist nicht gerade die Sprache unser ultimativer und untrennbarer Fetisch? Und eben die Sprache gründet auf der fetischistischen Leugnung („Ich weiß das, aber trotzdem“, „Das Zeichen ist nicht die Sache, aber trotzdem“ und so weiter) und sie definiert uns in unserem Kern als sprechende Wesen. Aufgrund seines Begründungsstatus ist der Fetischismus der „Sprache“ vielleicht der einzige, der sich nicht analysieren lässt.“ (S. 39) Kristeva verlegt die fetischistische Dimension der Sprache in die implizite Überwindung der Lücke, die die Wörter (Zeichen) von den Dingen trennt: „Ich weiß, dass Wörter bloß Zeichen sind, die keine immanente Verbindung mit den Dingen haben, die sie bezeichnen, und doch, ich … (glaube an ihren magischen Einfluss auf die Dinge).“ Wo genau aber findet sich hier der Fetischismus? In seinem klassischen Text unterscheidet Octave Mannoni drei Modi des je sais bien, mais quand même …, und nur dem dritten

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behält er die Bezeichnung Fetischismus vor.5 Beim ersten Modus handelt es sich um die Standardfunktion der symbolischen Ordnung, nämlich die Verbindung zwischen dem symbolischen Titel eines Subjekts und seiner elenden Realität als Person: „Ich weiß ganz genau, dass dieser Typ vor mir ein elender dummer Feigling ist, aber er trägt die Insignien der Macht und also spricht das Gesetz durch ihn …“ Doch ist es korrekt, diese grundlegende „Entfremdung“ durch einen symbolischen Titel, der unsere Wahrnehmung eines Menschen verändert, als einen Fall des Fetischismus zu charakterisieren? Mannoni reicht das noch nicht. Dann gibt es den Modus, bei dem man in seine eigene Falle geht, ähnlich wie ein Mann, der sein kleines Kind beruhigen will, während ein Sturm um das Haus tobt, und daher mit einem Stück Kreide einen Kreis auf den Boden malt und ihm versichert, dass einem nichts passieren kann, wenn man in dem Kreis steht; als kurz darauf ein Blitz direkt in das Haus einschlägt, tritt er in einem Anflug von Panik schnell in den Kreis, so als ob er darin geschützt sei, wobei er vollkommen außer Acht lässt, dass er sich die Geschichte über die magische Eigenschaft des Kreises selbst ausgedacht hat, um das Kind zu beruhigen. Für Mannoni handelt es sich auch hier noch nicht um eigentlichen Fetischismus, der nur dann entsteht, wenn wir überhaupt keinen Grund haben, irgendetwas zu glauben: Wir wissen, wie sich die Dinge wirklich verhalten, und verbinden auch keine magischen Glaubensvorstellungen mit unserem Objektfetisch. Ein Fußfetischist gibt sich keinen Illusionen über Füße hin; für ihn sind sie einfach stark libidinös besetzt und es verschafft ihm einen enormen Genuss, mit ihnen zu spielen. Welche von diesen drei Versionen gehört daher zur Sprache als solcher? Möglicherweise werden alle drei auf unterschiedlichen Ebenen aktiviert. Zunächst gibt es die Verleugnung, die für das symbolische Mandat kennzeichnend ist („Ich weiß sehr genau, dass du nur ein elendes Individuum bist, aber du bist ein Richter und durch dich spricht die Autorität des Gesetzes“). Dann gibt es die Selbsttäuschung eines Manipulierers, der sich gleichsam selbst auf den Leim geht. Kant untersucht in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wie aus dem Schein des Guten die Liebe zum Guten selbst werden kann: Wenn man den Schein des Guten liebt und diesen Schein im sozialen Miteinander verwirklicht, dann gelangt man schließlich vielleicht dahin, den Wert des Guten selbst würdigen zu können und es um seiner selbst willen zu lieben. Je nach Sicht des Betrachters, kann die Liebe zum Schein des Guten bei anderen uns freundlich machen, damit wir liebenswert werden. Dadurch wiederum üben wir uns in Selbstbeherrschung und werden veranlasst, unsere Leidenschaften unter Kontrolle zu halten und schließlich das Gute um seiner selbst willen zu lieben. Somit

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ergibt sich ein paradoxer Befund: Indem wir andere durch das Vorspiegeln von Freundlichkeit täuschen, täuschen wir uns effektiv selbst und verwandeln unser pragmatisches freundliches Verhalten in tugendhaftes Verhalten. Der Unterschied zwischen diesem und dem ersten Modus der Verleugnung ist offensichtlich: Im ersten Modus haben wir es mit der reinen Verwechslung von einem Objekt/einer Person und den Eigenschaften zu tun, die ihm/ihr lediglich von seiner/ihrer Einschreibung in ein Symbolnetz her zugehören (Marx zufolge ist ein König nur deshalb König, weil seine Untertanen ihn als König behandeln, ihnen aber scheint es, als behandelten sie ihn deshalb wie einen König, weil er an sich ein König ist), während die Täuschung im zweiten Fall zielgerichtet und bewusst herbeigeführt wird (das Subjekt produziert einen Schein, um einen anderen zu überlisten, und geht sich am Ende selbst in die Falle, indem es an sich selbst glaubt). Zu beachten gilt es dabei, dass der zynische Manipulierer – wenngleich er bewusst täuscht und in diesem Sinne weniger naiv ist als das Subjekt des ersten Verleugnungsmodus – schließlich auf eine viel unmittelbarere und naivere Weise glaubt: Er tappt komplett in die eigene Falle, wohingegen das Subjekt im ersten Modus den Abstand zu dem, was es glaubt, bis zum Ende wahrt („Ich weiß sehr genau, dass es nicht wahr ist …“). Im dritten Modus wird das Paradox auf die Spitze getrieben: Zum einen gibt es das Wissen um die tatsächlichen Verhältnisse, das ohne Distanz oder Leugnung angenommen wird, zum anderen gibt es das Fetischobjekt mit seiner stummen, dem Wissen des Subjekts vollkommen äußerlichen Präsenz. So gesehen kann ein Fetisch die sehr nützliche Funktion haben, dass er uns mit der harten Realität fertigwerden lässt: Fetischisten sind keine Träumer, die nur in ihrer eigenen Welt leben, es sind durchaus „Realisten“, die akzeptieren können, wie die Dinge tatsächlich sind – weil sie ihren Fetisch haben, an den sie sich klammern können, um die geballte Wucht der Realität abzufedern. Ein Psychoanalytiker erzählte mir die tragische Geschichte eines seiner Patienten, dessen junge schöne Frau an Brustkrebs erkrankt und drei Monate nach der Diagnose gestorben war; der Mann lebte nach ihrem Tod ohne größere Probleme weiter und er konnte mit seinen Freunden sogar über ihr leidvolles Sterben sprechen, ohne dass ihn dies sonderlich belastete. Die Freunde fragten sich, wie ihm das möglich war. Hatte er seine Frau nicht wirklich geliebt und war über ihren Tod insgeheim erleichtert? Dann kamen sie auf die Lösung: Immer nämlich, wenn er über sie sprach, kraulte er einem Hamster, dem geliebten Haustier seiner Frau, sanft das Fell – dieser Hamster war sein Fetisch und eine lebende Verleugnung ihres Todes. Er ermöglichte es dem Mann, den Tod seiner Frau

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verstandesmäßig anzunehmen, und verhinderte zugleich das symbolische Wirksamwerden der Tatsache. Der Beweis: Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau starb auch der Hamster und dieser zweite Tod hatte schlimme Folgen – der Witwer erlitt sofort danach einen totalen Zusammenbruch und musste schließlich nach mehreren Versuchen, sich das Leben zu nehmen, in eine Klinik eingewiesen werden. In genau diesem Sinne ist für Marx das Geld ein Fetisch: Ich handle als rationales, auf den Nutzen bedachtes Subjekt und weiß wohl, wie es sich mit den Dingen in Wahrheit verhält – im Geldfetisch aber verkörpert sich mein verleugneter Glaube. Wenn wir daher ständig zu hören bekommen, in unserer postideologischen, zynischen Zeit glaube niemand mehr an die verkündeten Ideale, oder wenn jemand uns gegenüber behauptet, er sei von jeglichem Glauben geheilt und nehme die soziale Realität so an, wie sie wirklich sei, sollten wir derartige Behauptungen immer mit der Frage kontern: Gut, aber wo ist dein Hamster? Wo ist der Fetisch, der es dir ermöglicht, die Realität anzunehmen (oder so zu tun), „wie sie wirklich ist“? Der „westliche Buddhismus“ stellt einen solchen Fetisch dar: Er gibt einem die Möglichkeit, sich ganz auf das hektische Treiben des kapitalistischen Spiels einzulassen und dabei ständig den Eindruck zu vermitteln, man sei nicht wirklich beteiligt und wisse sehr wohl, wie wenig dieser ganze Zirkus zu bedeuten habe – wirklich wichtig sei einem nur die innere Ruhe und Gelassenheit und dahin könne man sich jederzeit zurückziehen.6 In unserem Zusammenhang ist des Weiteren festzuhalten, dass der Fetisch auf zwei entgegengesetzte Weisen funktionieren kann: Seine Funktion bleibt entweder unbewusst – wie im Falle des bedauerlichen Ehemanns, der den Hamster nicht in der Funktion als Fetisch wahrnahm – oder er wird für das gehalten, was wirklich wichtig ist, wie im Falle eines westlichen Buddhisten, der nicht bemerkt, dass die „Wahrheit“ seiner Existenz die soziale Beteiligung ist, die er gern als bloßes Spiel abtut.7

Die Abjektion durchqueren Bisher haben wir uns mit den Hauptformen der Vermeidung des Abjekts befasst. Es gibt allerdings auch zwei bevorzugte Arten, die Abjektion zu „durchqueren“, sie zu durchlaufen und sich von ihr zu reinigen: die Religion und die Kunst (die dichterische Katharsis): „Die verschiedenen Mittel und Möglichkeiten zur Reinigung des Abjekts – die verschiedenen Arten der Katharsis – bilden die Geschichte der Religionen und sie führen schließlich diesseits wie jenseits der Religion zu der als Kunst bezeichneten Katharsis schlechthin“ (S. 17). Die ganze moderne Literatur und Kunst, von Artaud

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bis Céline, von Kandinsky bis Rothko, stellt sich dem Abjekt und sucht es zu sublimieren; im Anschluss an Rilkes bekannte Formulierung von der Schönheit als dem letzten Vorhang vor dem Schrecklichen webt sie an einer Leinwand, die das Abjekt nicht nur annehmbar, sondern auch angenehm macht: Genau besehen ist die gesamte Literatur wohl eine Version der Apokalypse, die, wie mir scheint und unabhängig davon, welches ihre soziohistorischen Bedingungen sein mögen, ihre Wurzeln an der Grenze (in den Grenzfällen) hat, wo Identitäten (Subjekt/Objekt und andere) nicht oder nur kaum existieren – doppelt, unscharf, heterogen, tierhaft, umgestaltetet, gewandelt, abjekt. (S. 207) In einer ausführlichen Untersuchung weist Kristeva das Werk von Céline als eine lange und quälende Konfrontation mit der abjektalen Dimension aus; das genau meint die lange Reise ans Ende der Nacht (der Titel seines Meisterwerks) – die Nacht ist die Nacht des Abjekts, die nicht nur die Vernunft, sondern das Sinnuniversum an sich außer Kraft setzt, und das nicht nur auf der Inhaltsebene (Beschreibung extremer Auflösungszustände), sondern genauso auch auf der Ebene der Form (bruchstückhafte Syntax und so weiter), so als ob irgendein vorsprachlicher Rhythmus – „das ,ganz Andere‘ der Bedeutung“ – in die Sprache eindringen und sie aushöhlen würde: Es ist, als ließ sich sein [Célines] Schreiben nur rechtfertigen, insofern es sich dem „ganz Anderen“ der Bedeutung stellte; als konnte es nur dadurch sein, dass dieses „ganz Andere“ als solches existierte, damit es sich vor ihm zurückziehen konnte, aber auch, um sich zu ihm wie zu einer Quelle zu begeben; als konnte es nur durch eine solche Konfrontation geboren werden, welche die Religionen an die Verunreinigung, das Abscheuliche und die Sünde erinnerte. (S. 149) Céline bewegt sich behutsam am Rand dieses Strudels ekstatischer Negativität entlang, genau wie der Held von Poes Geschichte über den Maelström, der mit ihm flirtet, es aber vermeidet, gänzlich in ihn hineingezogen zu werden und damit in den Wahnsinn hinabzutauchen. Natürlich stellt sich Kristeva hier auch dem schweren Problem: Man hätte erwartet, dass von einer solchen Konfrontation mit dem schwindelerregenden Abjekt, das man in sein Sinnuniversum eindringen lässt, eine befreiende Wirkung ausgeht, die einen aus den Begrenzungen der symbolischen Regeln ausbrechen

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lässt und mit einer ursprünglicheren libidinösen Energie auflädt; doch wie allgemein bekannt, ist Céline zum Faschisten geworden, und er unterstützte die Nazis bis zu ihrer endgültigen Niederlage – was ist da also schiefgelaufen? Auf allgemeiner Ebene empfiehlt Kristeva, beide Extreme zu vermeiden: Der vollständige Ausschluss des Abjekts ist nicht nur abtötend und schneidet uns von der Quelle unserer Lebenskraft ab (wird das Abjekt ausgeschlossen, „ist der Borderline-Patient zwar vielleicht eine befestigte Burg, aber auch eine leere“ [S. 49]), sondern es gilt auch das Umgekehrte: Jeder Versuch, aus der patriarchalen/rationalen symbolischen Ordnung auszubrechen und eine Rückkehr zum vorpatriarchalen weiblichen Rhythmus der Triebe anzustreben, endet zwangsläufig im antisemitischen Faschismus: „Gilt nicht zumindest für unseren Kulturkreis, dass alle Versuche, auszubrechen und dem Jüdisch-Christlichen durch eine einseitige Forderung nach Rückkehr zu dem zu entfliehen, was es unterdrückt hat (Rhythmus, Trieb, das Weibliche et cetera), in dem gleichen antisemitischen Phantasma à la Céline zusammenlaufen?“ (S. 180) Der Grund dafür ist natürlich, dass das Judentum die monotheistische Zurückweisung des mütterlichen Rhythmus der Natur auf exemplarische Weise vollzieht. Kristeva zeichnet allerdings ein viel komplexeres Bild von Célines Schritt zum Faschismus. Danach ist der faschistische Antisemitismus nicht einfach ein Rückschritt in den Abjektbereich, sondern ein von der Vernunft kontrollierter und totalisierter Rückschritt. An sich ist die Rückkehr zu dem, was die Vernunft unterdrückte (Rhythmus, Trieb, das Weibliche et cetera), befreiend und lässt eine ganze Reihe widersprüchlicher neuer Einsichten hervorsprudeln. Die Probleme entstehen, wenn dieses anarchische Schizo-Durcheinander durch eine paranoide Haltung totalisiert wird, die das ganze Feld vereinheitlicht und so auf Linie bringt, dass dabei ein geisterhaftes Objekt wie „der Jude“ entsteht, der angeblich alle Antagonismen und Unzufriedenheiten erklärt. Man muss zugeben, dass aus solchen logischen Schwankungen ein paar bemerkenswerte Worte der Wahrheit hervorgehen. Worte dieser Art präsentieren uns harte Röntgenbilder bestimmter Bereiche der sozialen und politischen Erfahrung; in Phantasmen oder Delirien verwandeln sie sich erst in dem Moment, wenn die Vernunft zu verallgemeinern, vereinheitlichen oder totalisieren versucht. Dann kippt der zerschmetternde anarchische oder nihilistische Diskurs und, als bestünde darin die Kehrseite dieses Negativismus, bringt ein Objekt zum Vorschein – ein Objekt des Hasses und des Begehrens, der Bedrohung und der Aggressivität, des Neides und des Abscheus. Dieses Objekt,

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der Jude, gibt dem Denken Orientierung, womit alle Widersprüche erklärt und befriedet werden. (S. 177 f.) Führen wir zur Klärung dieser paranoischen Totalisierung (in der sich unschwer Anklänge an Deleuzes und Guattaris Entgegensetzung von Schizoanalyse und Paranoia ausmachen lassen) einige Fälle an, die den gegenteiligen Prozess veranschaulichen, eine befreiende Detotalisierung der paranoischen Einheit. Vor drei Jahrzehnten organisierten Deutschnationale in Kärnten, dem an Slowenien grenzenden südlichsten Bundesland Österreichs, unter dem Motto „Kärnten bleibt deutsch!“ eine gegen die angebliche slowenische „Bedrohung“ gerichtete Kampagne, auf die die österreichischen Linken eine perfekte Antwort fanden. Statt rational dagegen zu argumentieren, gaben sie in den größten Tageszeitungen einfach eine Anzeige mit obszönen, übelklingenden Variationen des Mottos der Nationalisten auf: „Kärnten deibt bleutsch!“, „Kärnten leibt beutsch!“, „Kärnten beibt dleutsch!“ und so weiter. Kann es diese Vorgehensweise nicht mit der obszönen, „analen“, sinnlosen Rede der Hitler-Figur Hynkel in Chaplins Der große Diktator aufnehmen? Es gilt hier einen fatalen Schluss zu vermeiden und diese unmittelbare Penetration der Sprache durch ein obszönes Genießen von den für das Wortspiel, die Verschiebung und Verdichtung charakteristischen Bezeichnungsmechanismen zu unterscheiden, die Lacan ausgearbeitet hat. Nehmen wir ein Beispiel von Freud, der in einem Brief an Wilhelm Fließ von 1897 über zwei Sitzungen mit seinem Patienten „E“ berichtet: Dieser sei von dem Wort „Käfer“ auf das Wort „Marienkäfer“ gekommen, welches er mit etwas assoziierte, was er früher einmal zufällig mit angehört hatte, dass nämlich seine selige Mutter Marie unentschlossen gewesen sei, was das Heiraten anging. Wie Freud schreibt, könne man in Wien „ein Frauenzimmer […] einen netten ,Käfer‘ heißen“, und weiter teilt er mit, dass E.’s „Kindsfrau und erste Geliebte […] eine Französin“ war. Herr E., den Du kennst, hat im Alter von zehn Jahren einen Angstanfall bekommen, als er sich bemühte, einen schwarzen Käfer einzufangen, der es sich nicht gefallen ließ. Die Deutung dieses Anfalles war bislang dunkel geblieben. Nun hält er beim Kapitel „Unschlüssigkeit“, repetiert ein Gespräch der Großmutter mit der Tante über die Heirat der damals schon verstorbenen Mama, aus dem sich ergibt, daß sie etwas lange mit der Entscheidung gezögert, kommt plötzlich auf besagten seit Monaten nicht erwähnten schwarzen Käfer, von ihm auf den Marienkäfer (seine Mutter hieß Marie), lacht dann laut auf und erklärt das Lachen mangelhaft durch die Bemerkung, die Zoologen nen-

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nen diesen Käfer Septempunctata usw. je nach Anzahl der Punkte, während es doch immer dasselbe Tier sei. Dann brechen wir ab, und vor der nächsten Sitzung erzählt er mir, die Deutung des Käfers sei ihm eingefallen. Nämlich: Que faire? = Unschlüssigkeit.8 Hier bekommen wir also das gewohnte Geflecht von überdeterminierten Assoziationen: von dem französischen Dienstmädchen, das häufig nicht wusste, was es tun sollte, bis zu der Mutter, die bezüglich der Heirat mit E.s Vater unentschlossen war – der Schlüssel ist freilich, dass wir nicht dadurch zur Bedeutung von E.s Angstattacke gelangen, dass wir uns auf die Assoziationen (und noch weniger auf die „tiefere psychische Bedeutung“) des Bilds vom Käfer konzentrieren. Die Brücke zwischen dem expliziten Inhalt und der unbewussten Bedeutung der Szene wird allein durch den (nicht „Käfer“ bedeutenden) Signifikanten „Käfer“ geschlagen, der wie „que faire?“ klingt. (Des Weiteren ist zu beachten, dass sich eine Frage [„Was tun?“] in einem Objekt [Käfer] verkörpert, und somit besteht die erste Interpretationshandlung darin, eine in dem faszinierenden/abstoßenden Objekt lauernde Frage zu erkennen.) Diese Bezeichnungsmechanismen verbleiben strikt innerhalb der symbolischen Ordnung und stellen keinen Rückschritt auf das dar, was Kristeva als das Semiotische bezeichnet. Die Begrenztheit ihrer Theorie des Abjekts liegt darin, dass sie die symbolische Ordnung und das Abjekt als zwei Extreme auffasst, zwischen denen es einen Mittelweg einzuschlagen gilt.9 Kristeva versäumt es, sich um die Frage zu kümmern, was die symbolische Ordnung selbst ist, wenn sie vom Abjekt her verstanden wird. Die symbolische Ordnung ist nicht einfach immer schon eingebettet in die weibliche Chora (oder das, worauf Kristeva sich in ihren früheren Arbeiten als das Semiotische bezog), nicht einfach immer schon durchdrungen von der Körperlichkeit ihrer immanenten libidinösen Rhythmen, welche die Reinheit der symbolischen Artikulationen verfälschen; sofern sie da ist, muss sie durch einen gewaltsamen Akt der Selbstabgrenzung oder Selbstabspaltung aus der Chora hervorgegangen sein. Insofern wir Kristevas Ausdruck „Abjektion“ für diese Selbstabgrenzung akzeptieren, sollten wir folglich auch zwischen Chora und Abjektion unterscheiden: Die Abjektion deutet auf ebenjene Bewegung des Rückzugs aus der Chora hin, die für die Subjektivität konstitutiv ist. Deshalb galt es, Kristevas Diagnose weiter zu präzisieren: Jede „einseitige Forderung nach Rückkehr zu dem […], was [das Jüdisch-Christliche] unterdrückt hat (Rhythmus, Trieb, das Weibliche)“, bringt den Faschismus hervor (wie in Célines Werk), allerdings nicht durch einen Rückschritt aus dem Symbolischen, sondern durch die Verschleierung der Abjektion selbst,

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der „Urunterdrückung“, die das Symbolische entstehen lässt. Der Traum, der sich mit Versuchen dieser Art verbindet, besteht nicht im Außerkraftsetzen des Symbolischen, sondern darin, sowohl das (symbolische) eine als auch das andere haben zu können, das heißt im Symbolischen zu verweilen, ohne den Preis dafür zu entrichten („Urunterdrückung“, ontologische Entgleisung des Subjekts, der Antagonismus, das Aus-den-Fugen-Sein, die Kluft durch gewaltsame Abgrenzung von der natürlichen Substanz). Es ist dies der antike Traum eines männlichen Sinnuniversums, das harmonisch in der mütterlichen Substanz der Chora verankert bleibt. Kurzum, was der Faschismus verschleiert (oder gar ausschließt), ist nicht das Symbolische als solches, sondern die Lücke, die das Symbolische vom Realen trennt. Aus diesem Grund braucht es eine Gestalt wie den Juden: Wenn die Lücke zwischen Symbolischem und Realem nicht konstitutiv für das Symbolische ist, wenn im Realen ein symbolisches „Daheimsein“ möglich ist, dann muss ihr antagonistischer Gegensatz durch einen kontingenten Eindringling erzeugt werden – und welcher Kandidat würde sich dafür besser eignen als das Judentum, dessen gewaltsame monotheistische Durchsetzung des symbolischen Gesetzes und Zurückweisung des erdgebundenen Paganismus? Der Jude als Feind erlaubt es dem antisemitischen Subjekt, die Entscheidung zwischen Arbeiterklasse und Kapital zu umgehen: Indem es den Juden beschuldigt, durch seine verschwörerischen Umtriebe den Klassenkampf zu schüren, kann es für die Vision von einer harmonischen Gesellschaft eintreten, in der Arbeit und Kapital zusammenwirken. Deshalb hat Kristeva auch recht damit, das phobische Objekt (den Juden, vor dessen verschwörerischen Umtrieben sich Antisemiten fürchten) mit dem Vermeiden einer Entscheidung zu verbinden: „Das phobische Objekt ist genau das Vermeiden einer Entscheidung; es versucht das Subjekt so lange wie möglich weit von einer Entscheidung fernzuhalten“ (S. 42). Trifft diese Aussage nicht vor allem auf die politische Phobie zu? Über die Angst vor dem phobischen Objekt/Abjekt (der Jude, der Immigrant und so weiter) mobilisiert die rechtspopulistische Ideologie ihre Parteigänger, doch verkörpert es nicht eigentlich die Weigerung, eine Wahl zu treffen und sich zu entscheiden – nämlich für eine Position im Klassenkampf? Auf diese Weise stützt und verlässt sich der Antisemitismus auf eine paranoische Totalisierung des Spiels mit der Abjektion: Die antisemitische Fetischfigur des Juden ist „das Letzte, was ein Subjekt sieht“, kurz bevor es dem sozialen Antagonismus begegnet und ihn als konstitutiv für den Gesellschaftskörper erfährt. Éric Laurent erörtert (in seinem Blogbeitrag zu „Rassismus 2.0“)10 die Frage, inwiefern der Beginn der hedonistischen Freizügigkeit nach ’68 – die Teil der Erwartung war, dass Nationen in größere, durch den weltweiten

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Markt zusammengehaltene Gemeinschaften eingebunden werden könnten – keine allgemeine Toleranz zur Folge hatte, sondern im Gegenteil eine neue Welle der rassistischen Segregation auslöste: „Unsere Zukunft der gemeinsamen Märkte wird durch eine zunehmend kompromisslose Ausweitung des Segregationsprozesses ausgeglichen werden.“11 Warum? Jene, die in der Globalisierung eine Chance sehen, die ganze Erde zu einem einzigen gemeinsamen Kommunikationsraum zu gestalten, der die gesamte Menschheit zusammenbringt, versäumen es häufig, die dunkle Seite ihrer These zur Kenntnis zu nehmen. Weil der Nächste, wie Freud schon vor langer Zeit vermutete, in erster Linie ein Ding ist, ein traumatischer Eindringling, jemand, dessen andere Art zu leben (oder vielmehr dessen Art der jouissance, die sich in seinen sozialen Praktiken und Ritualen materialisiert) uns stört, unsere Lebensweise aus dem Gleichgewicht bringt, kann dies, wenn der Nächste zu nahe kommt, auch eine aggressive Reaktion hervorrufen, die darauf abzielt, diesen störenden Eindringling wieder loszuwerden. Peter Sloterdijk zufolge bedeutet „[m]ehr Kommunikation […] zunächst vor allem mehr Konflikt“.12 Deshalb hat er Recht, wenn er behauptet, dass die Haltung des „Einander-Verstehens“ durch die Haltung des „Einander-ausdem-Weg-Gehens“ ergänzt werden muss – durch das Wahren einer angemessenen Distanz, durch einen neuen „Code der Diskretion“. Was der europäischen Zivilisation von ihren Kritikern für gewöhnlich als Schwäche und Versagen ausgelegt wird – nämlich die Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens –, lässt sie unterschiedliche Lebensweisen gerade leichter tolerieren. Entfremdung heißt unter anderem auch, dass diese Distanz Teil des gesellschaftlichen Alltagsgefüges selbst ist: Auch wenn ich in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Menschen lebe, beachte ich sie im Normalfall nicht weiter. Es ist mir gestattet, den anderen gegenüber auf Abstand zu bleiben. Ich bewege mich in einem sozialen Raum, in dem ich mit anderen unter Beachtung bestimmter äußerlicher, „mechanischer“ Regeln interagiere, ohne dass ich an ihrem Innenleben teilhabe. Vielleicht besteht die Lehre, die sich hieraus ziehen lässt, darin, dass für das friedliche Miteinander der Lebensweisen manchmal ein gewisses Maß an Entfremdung unverzichtbar ist. Manchmal stellt die Entfremdung nicht das Problem, sondern die Lösung dar. Welcher Faktor ist es daher, der die unterschiedlichen Kulturen (oder vielmehr Lebensweisen im dichten Geflecht ihrer Alltagspraktiken) miteinander unvereinbar macht, welches Hindernis steht ihrem Zusammenschluss oder zumindest einer harmonisch desinteressierten Koexistenz im Wege? Die psychoanalytische Antwort lautet: die jouissance. Es ist nicht bloß so, dass die unterschiedlichen Formen der jouissance nicht zusam-

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menpassen und kein gemeinsames Maß besitzen; die jouissance des Anderen ist für uns unerträglich, weil (und insoweit) wir keinen richtigen Umgang mit unserer eigenen jouissance finden können – die Unvereinbarkeit besteht letztendlich nicht zwischen meiner jouissance und der eines Anderen, sondern zwischen mir und meiner eigenen jouissance, die immer ein ex-timer Eindringling bleibt. Es gilt einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, dass das Subjekt den Kern seiner jouissance auf einen Anderen projiziert und ihm damit zuschreibt, umfassenden Zugang zu einer beständigen jouissance zu haben. Zuschreibungen dieser Art bewirken unweigerlich Neid: Von Neid geplagt, erschafft/imaginiert das Subjekt ein Paradies (eine Utopie der vollkommenen jouissance), aus dem es ausgeschlossen ist. Die gleiche Definition lässt sich auch auf etwas anwenden, was man politischen Neid nennen kann – angefangen bei antisemitischen Hirngespinsten über das ausschweifende Genießen der Juden bis hin zu den Fantasien christlicher Fundamentalisten über die ausgefallenen Sexualpraktiken von Schwulen und Lesben. Wie Klaus Theweleit herausstellte, ist es allzu leicht, solche Phänomene als bloße „Projektionen“ aufzufassen: Neid kann sehr real und durchaus begründet sein; andere Menschen können ein viel intensiveres Sexualleben haben als das neidische Subjekt – doch selbst wenn es sich tatsächlich so verhält, macht das den Neid, wie Lacan anmerkte, kein bisschen weniger krankhaft … Bei ihm findet sich folgende prägnante Beschreibung der politischen Dimension dieser misslichen Lage: In der Verwirrung unserer Lust (jouissance) gibt es nur den Anderen, der sie situiert, doch so, daß wir davon getrennt sind. Daher Phantasmen, die unbekannt waren, als man sich noch nicht mischte. Diesen Anderen bei seiner Art von Lust zu belassen, wäre nur möglich, wenn man ihm nicht die unsere aufzwänge, ihn nicht für einen Unterentwickelten hielte.13 Fassen wir die Argumentation zusammen: Weil wir mit unserer jouissance nicht weiterkommen, können wir uns nur dadurch eine beständige jouissance vorstellen, dass wir sie uns als die jouissance des Anderen ausmalen; die jouissance des Anderen aber wird von uns naturgemäß als eine Bedrohung für unsere Identität erfahren, als etwas Abzulehnendes, ja sogar Zerstörenswertes. Mit Blick auf die Identität einer ethnischen Gruppe heißt das, „eine unassimilierbare jouissance wird immer und in jeder menschlichen Gemeinschaft auf Ablehnung stoßen, welche die Triebfeder für mögliche barbarische Entwicklungen bildet“.14 Lacan untermauert hier Freud, für den die soziale Bindung (die Gruppenidentifikation) durch die Iden-

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tifikation jedes ihrer Zugehörigen mit einer gemeinsamen Führungsgestalt vermittelt wird: Er betrachtet die symbolische Identifikation (die Identifikation mit einem Herrensignifikanten) als nachrangig gegenüber der vorhergehenden Ablehnung einer jouissance, weshalb für ihn „nicht der Vatermord das Gründungsverbrechen darstellt, sondern der Wille, denjenigen zu töten, der die von mir verworfene jouissance verkörpert“.15 (Und, so könnte man hinzusetzen, selbst der Mord am Urvater liegt im Hass auf seine übermäßige jouissance, auf den Besitz aller Frauen begründet.) Lacan bringt eine solche Gruppenidentifikation anhand jener drei zeitlichen Phasen zur Darstellung, welche die, wie es bei ihm heißt, „logische Zeit“ kennzeichnen: Mit Sicherheit näher an ihrem wahrhaften Wert erscheint sie dargestellt als Schlussfolgerung aus der hier aufgewiesenen Form der vorwegnehmenden subjektiven Behauptung, nämlich wie folgt 1. Ein Mensch weiß, was nicht ein Mensch ist; 2. Die Menschen erkennen sich untereinander an, (um) Menschen zu sein; 3. Ich bestätige mir, ein Mensch zu sein, aus Furcht, von den Menschen überzeugt zu werden, nicht ein Mensch zu sein. [Dies ist] [e]ine Bewegung, die die logische Form jeder „menschlichen“ Assimilation ergibt, insofern genau sie sich als an eine Barbarei assimilierend setzt.16 Der Ausgangspunkt, das, was ich „unmittelbar erkenne“, ist, dass ich nicht weiß, wer oder was ich bin, weil sich mir der innerste Kern meiner jouissance entzieht. Ich identifiziere mich dann mit anderen, die sich in derselben misslichen Lage befinden, und wir gründen unsere kollektive Identität nicht unmittelbar in einem Herrensignifikanten, sondern grundlegender noch in der uns gemeinsamen Ablehnung der jouissance des Anderen. Deren Status ist darum äußerst uneindeutig: Sie stellt eine Bedrohung für meine Identität dar, gleichzeitig aber begründet mein Bezug auf sie meine Identität – kurz gesagt, entsteht meine Identität als eine Abwehrreaktion auf das sie Bedrohende, oder, wie man bezogen auf den Antisemititsmus sagen beziehungsweise fragen könnte: Was wäre ein Nazi ohne den Juden? Angeblich hat Hitler einmal gesagt: „Wir müssen den Juden in uns töten“. A. B. Yehoshua lieferte einen passenden Kommentar zu dieser Aussage: Diese vernichtende Darstellung des Juden als eine Art amorphes Wesen, das in die Identität eines Nichtjuden einzudringen vermag, ohne

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dass dieser es ausfindig machen oder unter Kontrolle bringen könnte, rührt von dem Gefühl her, dass die jüdische Identität äußerst beweglich ist, gerade weil sie strukturell einer Art Atom gleicht, dessen Kern von virtuellen Elektronen auf einer sich verändernden Umlaufbahn umgeben ist.17 In diesem Sinne sind die Juden effektiv das objet petit a der Heiden: das, was „in den Heiden mehr ist als die Heiden selbst“, kein anderes Subjekt, auf das man trifft, sondern ein Alien, ein fremder Eindringling in einem selbst – das, was Lacan als „Lamelle“ bezeichnete, der amorphe Eindringling von unendlicher Formbarkeit, ein untotes Alien-Ungeheuer, das sich niemals auf eine bestimmte Form festnageln lässt. So gesehen sagt Hitlers Äußerung mehr, als er mit ihr sagen wollte: Sie bestätigt ungewollt, dass die Heiden die antisemitische Figur des Juden brauchen, um ihre Identität aufrechtzuerhalten. Es ist also nicht allein so, dass „der Jude in uns ist“ – was Hitler verhängnisvollerweise hinzuzufügen vergaß ist, dass er, der Antisemit, dass seine Identität ebenso in dem Juden ist.18 (Und dasselbe gilt sogar für den Antirassismus [einer bestimmten Art]. Die Angewiesenheit der Political Correctness auf das, was sie [vorgeblich] bekämpft, auf den Rassismus erster Stufe, ihr Parasitentum in Bezug auf ihre Gegner, ist offenkundig: Der politisch korrekte Antirassismus ist getragen von dem Mehrgenießen, das entsteht, wenn das politisch korrekte Subjekt an einer anscheinend neutralen Äußerung oder Geste triumphierend das verborgene rassistische Vorurteil aufdeckt.) Des Weiteren muss aus dieser Durchsetzung von jouissance geschlossen werden, dass der Rassismus ein grundsätzlich historisches Phänomen darstellt: Auch wenn der Antisemitismus über die Jahrhunderte hinweg unverändert geblieben zu sein scheint, so hat er sich doch mit jedem historischen Einschnitt in seiner inneren Form gewandelt. Balibar stellte deutlich heraus, dass im heutigen globalen Kapitalismus, in dem wir einander alle benachbart sind, selbst wenn wir weit voneinander entfernt leben, die Struktur des Antisemitismus gewissermaßen globalisiert ist: Jede ethnische Gruppe, die als eine Bedrohung für unsere Identität wahrgenommen wird, funktioniert so wie der „Jude“ für den Antisemiten. Diese Universalisierung kulminiert in der bemerkenswerten, einmaligen Tatsache, dass selbst glühende Zionisten die Figur des „sich selbst hassenden Juden“ nach Art des Antisemitismus aufrichten.

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„MOOR EEFFOC“ Von hier aus ergibt sich eine weitere sehr wichtige Konsequenz hinsichtlich Kristevas Theoriegebäude: Die Chora (das Semiotische) ist nicht ursprünglicher als das Symbolische, sondern grundsätzlich ein sekundäres Phänomen, die Rückkehr der vorsymbolischen Mimikry (Echos, Ähnlichkeiten, Nachahmungen) innerhalb des Feldes der symbolischen Differenzialität: Roman Jacobson machte darauf aufmerksam, dass wir überall in unserer Sprache Spuren unmittelbarer Ähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten entdecken können. (Manche Wörter, die Lautphänomene bezeichnen, scheinen genauso zu klingen wie das, was sie bezeichnen; teilweise ähnelt auch die äußere Form eines Wortes der Form des bezeichneten Gegenstands, wie das Wort „Lokomotive“ der altmodischen Dampflok mit Hochkabine und Schornstein.). Dies ändert jedoch nichts am Vorrang und am ontologischen Primat des differenziellen Charakters sprachlicher Bezeichnungen (Identität und Bedeutung eines Signifikanten sind von seiner Differenz von anderen Signifikanten abhängig, nicht von seiner Ähnlichkeit zu seinem Signifikat). Womit wir es im Falle von Phänomenen wie diesen zu tun haben, sind sekundäre mimetische Echos innerhalb eines Feldes, das bereits in seiner Grundverfassung radikal ungleich (kontingent von Differenzverhältnissen beherrscht) ist. Und dasselbe gilt für die Chora, für den immanenten Rhythmus der vorsymbolischen Materialität, welcher das Symbolische durchdringt: Am Anfang steht der gewaltsame Schnitt der Abjektion, der das Symbolische entstehen lässt, und das, was Kristeva als Chora beschreibt, ist ein streng sekundäres Phänomen von vorsymbolischmimetischen Echos innerhalb des symbolischen Feldes. Eine ähnliche Begrenztheit kennzeichnet Catherine Malabous „Ontologie des Akzidenziellen“, in der die Negativität ins Extrem getrieben ist, nämlich in der Form einer äußeren organischen oder physischen Katastrophe, die das symbolische Gewebe des Seelenlebens von Subjekten vollständig zerstört und keine Interpretation oder symbolische Annäherung zulässt. Malabous „Ontologie des Akzidenziellen“ ist mithin: eine Ontologie, in der schließlich, anders als in vorherigen Ausrichtungen, explosive Ereignisse ebenso schwerer wie bedeutungsloser Traumatisierungen berücksichtigt und einkalkuliert werden, in denen die zerstörerische Plastizität sogar noch die Zerstörung der Plastizität selbst umfasst, in denen die Plastizität durch sich selbst ihrer eigenen Zerrüttung ausgesetzt ist. […] Die massiven Hirnschädigungen katastrophaler Neurotraumas bringen Körper menschlicher Organismen

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hervor, mit denen man leben kann, aber für die man gleichsam nicht lebt, das heißt, die sich nicht Zukunftsplänen und -projekten zuwenden. […] Die Plastizität (einschließlich der Neuroplastizität) unterliegt ständig der virtuellen Gefahr ihrer Auslöschung.19 In einer materialistischen Auffassung vom Menschen sollte dem Schatten ständiger Bedrohung für unser Überleben effektiv Rechnung getragen werden – angefangen bei Bedrohungen von außen (ein Asteroid schlägt auf der Erde ein, es kommt zu Vulkanausbrüchen und so weiter) bis hin zu der Möglichkeit, dass die Menschheit sich als ungewollte Folge ihres wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts selbst vernichtet. Es gibt aber eine „Katastrophe“, die immer schon geschehen ist und die auf der Liste äußerer Bedrohungen fehlt, jene nämlich, bei der es sich um die Entstehung der Subjektivität, des menschlichen Geistes aus der Natur handelt. Durch Ausschluss des Realen dieser „Katastrophe“ (Freud nennt das „Urverdrängung“) wird die Lücke eröffnet, welche das Reale von der Realität trennt – aufgrund dieser Lücke ist das, was wir als äußere Realität erfahren, immer auf eine phantasmatische Vorstellung angewiesen, und sie ist auch der Grund dafür, dass wir einen Realitätsverlust erleiden, wenn wir mit dem rohen Realen konfrontiert werden. G. K. Chesterton war hier mit seiner wunderbaren Beschreibung von Charles Dickens’ Realismus auf der richtigen Spur: [Dickens] war ein traumverlorenes Kind und dachte die meiste Zeit an seine eigenen trostlosen Aussichten. Doch er sah und merkte sich viele der Straßen und Plätze, die er passierte. Und tatsächlich ging er den richtigen Weg zur Arbeit, ohne dass er es selbst recht merkte. Er betrieb keine „Beobachtung“, was ihm wie eine hochnäsige Gewohnheit erschien; er sah sich nicht am Charing Cross um, um seinen Geist zu entwickeln, und zählte auch keine Lichtmasten in Holborn, um sich im Rechnen zu üben. Unbewusst aber machte er all diese Orte zu Schauplätzen des ungeheuren Dramas in seiner unglücklichen kleinen Seele. Er wandelte in der Finsternis unter den Lampen von Holborn und wurde am Charing Cross ans Kreuz genagelt. Für ihn also hatten diese Orte danach immer die Schönheit, die nur Schlachtfeldern eigen ist. Unser Gedächtnis nämlich hält nie die Fakten fest, die wir bloß beobachtet haben. Die einzige Möglichkeit, einen Ort für immer in Erinnerung zu behalten, besteht darin, eine Stunde dort zu leben; und die einzige Möglichkeit, eine Stunde an dem Ort zu leben, besteht darin, ihn für eine Stunde zu vergessen. Die unsterblichen Schauplätze, die wir alle sehen

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können, wenn wir unsere Augen schließen, sind nicht diejenigen, auf die wir unter Anleitung von Reiseführern gestarrt haben; die Schauplätze, die wir sehen, sind jene, die wir gar nicht betrachtet haben: Es sind die Schauplätze, auf denen wir wandelten, wenn wir mit unseren Gedanken woanders waren – bei einer Sünde oder einer Liebesaffäre oder irgendeiner kindischen Sorge. Heute können wir den Hintergrund sehen, weil wir ihn damals nicht sahen. Demnach hat sich Dickens nicht diese Orte eingeprägt; er hat diesen Orten sich eingeprägt. Für ihn waren jene Straßen danach immer sterbensromantisch; sie waren in die Purpurfarben der Jugend und ihrer Tragödie getaucht und mit unwiderruflichen Sonnenuntergängen angefüllt. Hierin liegt das ganze Geheimnis dieses unheimlichen Realismus, mit dem Dickens jederzeit irgendeine dunkle oder öde Ecke Londons zu beleben vermochte. Es gibt Details in seinen Beschreibungen – ein Fenster oder ein Geländer oder das Schlüsselloch einer Tür –, die er mit dämonischem Leben ausstattete. Die Dinge scheinen wirklicher, als sie es tatsächlich sind. In der Tat verfügt die Wirklichkeit nicht über diese realistischen Ausmaße; es ist dies der unerträgliche Realismus eines Traumes. Und ein Realismus dieser Art lässt sich nur erlangen, indem man traumverloren an einem Ort wandelt; er lässt sich nicht erlangen, indem man beim Laufen Beobachtungen anstellt. Dickens selbst gab ein perfektes Beispiel dafür ab, wie diese Schreckensdetails ihn in einer Trance der Abstraktion überkamen. Von den Kaffeeläden, in die er in jenen erbärmlichen Tagen geschlichen war, erwähnt er „einen in der St. Martin’s Lane, von dem ich nur noch weiß, dass er sich in der Nähe der Kirche befand und dass an der Tür eine ovale Glasplatte angebracht war mit der zur Straße hin gemalten Aufschrift ‚COFFEE ROOM‘. Immer wenn ich mich heute einmal in einem coffee-room ganz anderer Art wiederfinde, wo es jedoch eine solche Aufschrift auf Glas gibt, und ich sie rückwärts auf der verkehrten Seite lese – „MOOR EEFFOC“ – (wie ich es damals in einem trübseligen Tagtraum oft getan habe), fährt mir ein Schreck in die Glieder.“ Dieses wilde Wort, „MOOR EEFFOC“, ist das Motto von allem eigentlichen Realismus! Es ist das Meisterwerk des guten realistischen Prinzips – des Prinzips, dass die fantastischste Sache von allen oftmals die konkrete Tatsache ist. Und diese elfische Art des Realismus machte sich Dickens überall zu eigen. Seine Welt wimmelte von unbelebten Gegenständen.20 Ein seltsamer Realismus, dessen beispielhafter Fall – „das Motto von allem eigentlichen Realismus“ – ein Signifikant „MOOR EEFFOC“ ist, dessen

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Mangel an (bezeichneter) Bedeutung durch eine Fülle an unbewussten obszön-libidinösen Echos (Ängsten, Schrecken, obszönen Vorstellungen) mehr als ergänzt wird, sodass er effektiv als unmittelbarer Signifikant (oder vielmehr als eine Chiffre) der jouissance fungiert und dabei einen Punkt anzeigt, an dem die Bedeutung zusammenbricht! Wenn wir also nach Spuren des Dings* in all dem suchen, werden wir nicht in der äußeren Realität fündig, wie sie unabhängig von unseren Investitionen in sie besteht – so wie die an den Türen von coffee-rooms angebrachten ovalen Glasplatten wirklich sind –, sondern an jenen geheimnisvollen Punkten innerhalb des Sinnuniversums, wo die Bedeutung zusammenbricht und durch einen namenlosen Abgrund der jouissance verdunkelt wird. Und das ist der Grund dafür, dass „mir ein Schreck in die Glieder fährt“, wenn ich auf den bedeutungslosen Signifikanten „MOORE EEFFOC“ stoße. Es scheint vielleicht, als mache Chesterton hier einfach nur geltend, dass den innerpsychischen Traumas, Begierden, Obsessionen, Ängsten und so weiter die entscheidende Rolle zufällt: „Dickens hat sich nicht diese Orte eingeprägt, er hat diesen Orten sich eingeprägt“, das heißt, bestimmte Orte haben bei ihm nicht aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften tiefen Eindruck hinterlassen, sondern aufgrund des intensiven inneren Erlebens (die Sünde, die Liebe und anderes betreffend), sie dienten als Vorlage und waren Anlassgeber … Man kann sich leicht vorstellen, dass ein Kritiker oder eine Kritikerin der Psychoanalyse wie Catherine Malabou sich in diesem Zusammenhang veranlasst fühlt, sarkastisch zu fragen, ob einer verheerenden Katastrophe in der „äußeren Realität“, wie einem gewaltigen Tsunami oder brutaler Folter, der man ausgesetzt ist, ebenfalls nur dann Gewicht und Bedeutung zukommt, wenn ein früheres seelisches Trauma darin nachklingt. Doch liegen die Dinge wirklich so einfach? Was die leblosen Objekte lebendig werden lässt, ist die Art, wie sie von Träumen umhüllt sind, die anders ist als in dem berühmten Freud’schen Traum, wo das brennende Tuch auf dem Sarg des Sohnes in dem schlafenden Vater das schreckliche Traumbild von seinem toten Sohn auslöst, der sich ihm mit den Worten nähert: „Vater, siehst du nicht, dass ich brenne?“ In Freuds Fall flieht der Träumende (der Vater) aus der Realität in einen Traum, in dem er auf ein noch schrecklicheres Reales stößt; bei Dickens gibt es keine Flucht vor der normalen Realität, vielmehr bekommt ein Detail von ihr etwas Gespenstisches und wird wie ein Moment aus einem beklemmenden Traum erlebt. In Kafkas Werk passiert ständig etwas Ähnliches – demnach ist Kafka ein

* Im Original deutsch.

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Meister des „eigentlichen Realismus“. Doch nehmen wir lieber ein unvermutetes Beispiel aus dem Kino. In James Camerons Titanic gibt es eine von oben gefilmte kurze Einstellung eines unbekannten Paares, zweier älterer Menschen, die eng umschlungen auf ihrem Bett liegen, während das Schiff bereits sinkt, sodass die Kabine halb geflutet ist und sich ein Strom von Wasser um das Bett herum ergießt. Wenngleich die Einstellung realistisch angelegt ist, vermittelt sich der Eindruck einer Traumszene – ein Bett mit dem zärtlich umschlungenen Paar mitten in dem heranflutenden Wasser gibt ein ergreifendes Bild der Beständigkeit der Liebe unmittelbar in einer Katastrophe. In diesem Detail eines ansonsten mittelmäßigen Kommerzstreifens bezeugt sich ein wirklich berührender filmischer Ansatz, der darin besteht, die Realität als eine Traumsequenz erscheinen zu lassen. Eine Variation desselben Motivs bilden jene magischen Augenblicke in manchen Filmen, in denen es scheint, als greife ein zum Raum der Fantasie gehörendes Wesen in die normale Realität ein, sodass die Grenze, die den Fantasieraum von der Alltagsrealität trennt, vorübergehend aufgehoben wird. Als Beispiel sei hier nur an Clarence Browns Melodram Alles für dein Glück (engl. Possessed) erinnert, das 1931 mit Joan Crawford in der Hauptrolle auf die Leinwand kam. Crawford, die ein armes Kleinstadtmädchen spielt, starrt gebannt auf einen luxuriösen Privatzug, der am Bahnhof langsam an ihr vorüberfährt; durch die Wagenfenster sieht sie das prächtige Leben, das sich im erleuchteten Inneren der Abteile abspielt – tanzende Paare, Köche, die Essen zubereiten, und so weiter. Das Entscheidende an dieser Szene ist, dass der Zuschauer den Zug gemeinsam mit Crawford wie eine magische Erscheinung aus einer anderen Welt wahrnimmt. Als gerade der letzte Wagen vorüberfährt, kommt der Zug zum Stehen, und wir sehen auf der Aussichtsplattform am Wagenende einen gutmütig wirkenden Betrunkenen mit einem Champagnerglas in der Hand, der sich über das Geländer in Crawfords Richtung beugt – so als ob der Fantasieraum für einen kurzen Augenblick in die Realität eingreifen würde … Krzysztof Kieślowski war der Großmeister solcher Verfahren, bei denen ein Teil der tristen Realität unversehens als „Tor der Wahrnehmung“ zu fungieren beginnt, als Schirm, durch den eine andere, rein phantasmatische Dimension wahrnehmbar wird. Das Besondere an Kieślowskis Filmen ist, dass diese magischen Momente des Übergangs nicht durch die üblichen Schauerelemente in Szene gesetzt werden (Erscheinungen im Nebel, magische Spiegel), sondern als Teil der normalen, alltäglichen Realität. In Dekalog 6 beispielsweise ist die kurze Szene auf der Post, in der sich die Filmheldin Magda über die Zahlungsanweisungen beschwert, so aufgenommen worden, dass wir mehrere Male eine Person in Nahaufnahme sehen und

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hinter ihr auf einer gläsernen Wand, welche die Angestellten von den Kunden trennt, eine überlebensgroße Spiegelung des Gesichts einer anderen Person, mit der die Person, die wir unmittelbar sehen, sich unterhält. Mittels dieses einfachen Verfahrens wird die gespenstische Dimension mitten in einem ganz gewöhnlichen Geschehen (Kunden beschweren sich über den schlechten Service in einem grauen osteuropäischen Postamt) gegenwärtig gemacht.21 In diesem Sinne sollten wir auch verstehen, was Chesterton über Dickens’ unheimlichen Realismus sagt, bei dem „die fantastischste Sache von allen oftmals die konkrete Tatsache ist“: „Mir fährt ein Schreck in die Glieder“, wenn ich auf ein kleines materielles Detail stoße, das etwas in meinem Innern aufwühlt – keine „tiefere Bedeutung“, sondern etwas Traumatisches, Nichtsymbolisierbares, Ex-times (im innersten Kern meines Seins Äußerliches). Wichtig ist es dabei, den Hyperrealismus solcher Momente herauszustellen: Das Gespenstischwerden der materiellen Realität geht ausschließlich von materiellen Gegenständen aus. Wie ist dieses Paradox möglich? Es gibt dafür bloß eine Erklärung: Die äußere Realität selbst ist nicht einfach „da draußen“, sie ist bereits transzendental konstituiert, sodass sie nur dann als solche – als „normale“ Realität da draußen – erfahren wird, wenn sie diesen transzendentalen Koordinaten entspricht. Nehmen wir ein traumatisches Ereignis wie die Zerstörung des World Trade Centers am 11. September 2001. Man sollte die übliche Deutung, wonach die Explosion der Türme den Einbruch des Realen darstellte, durch den unsere Scheinwelt zertrümmert wurde, umkehren und das Gegenteil behaupten: Vor dem Einsturz des WTC lebten wir in unserer Wirklichkeit und nahmen die Schrecken der Dritten Welt als etwas wahr, das nicht so richtig zu unserer gesellschaftlichen Realität gehört, als etwas, das (für uns) als eine geisterhafte Erscheinung auf dem (Bild-)Schirm existierte – und was am 11. September geschah, war das Eindringen dieser phantasmatischen Bildschirmerscheinung in unsere Realität. Nicht die Realität drang in unser (Welt-)Bild ein: Das Bild drang in unsere Realität ein und zerschmetterte sie (das heißt das symbolische Koordinatensystem, das festlegt, was wir als Realität wahrnehmen). Dies wiederum bedeutet, dass sich die Dialektik von Schein und Realem nicht auf die kaum bestreitbare Tatsache reduzieren lässt, dass die Virtualisierung unseres täglichen Lebens – die Erfahrung, dass wir immer mehr in einem künstlich geschaffenen Universum leben – den unwiderstehlichen Drang nach einer „Rückkehr zum Realen“ hervorruft, um in irgendeiner „realen Realität“ wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Das Reale, das zurückkehrt, hat den Status eines (weiteren) Scheins: Gerade weil es real ist, das heißt auf-

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grund seines traumatischen/exzessiven Charakters, vermögen wir es nicht in unsere Realität (das, was wir als diese erfahren) zu integrieren, und daher müssen wir es als eine alptraumhafte gespenstische Erscheinung erfahren. Das fesselnde Bild der einstürzenden Türme des WTC war ein Bild, ein Schein, ein „Effekt“, der gleichzeitig „die Sache selbst“ mitlieferte. Dieser „Effekt des Realen“ ist nicht das Gleiche wie das, was Roland Barthes in den lange zurückliegenden 1960er-Jahren als l’effet du réel bezeichnete: Er ist vielmehr das genaue Gegenteil davon, ein effet de l’irréel. Das heißt, im Gegensatz zum Barthes’schen l’effet du réel, bei dem der Text uns sein Fiktionsprodukt als „real“ akzeptieren lässt, muss hier das Reale selbst als alptraumhaftes irreales Gespenst wahrgenommen werden, um es ertragen zu können. Üblicherweise heißt es, dass man Fiktion nicht mit Realität verwechseln sollte – denken wir an die postmoderne Auffassung, nach der die Realität ein Diskursprodukt darstellt, eine symbolische Fiktion, die wir fälschlicherweise als substanzielle autonome Entität wahrnehmen. Die Psychoanalyse lehrt hier das Gegenteil: Man sollte Realität nicht mit Fiktion verwechseln – wir sollten imstande sein, bei dem, was wir als Fiktion erfahren, den harten Kern des Realen, der sich nur durch seine Fiktionalisierung aushalten lässt, zu erkennen. Kurz gesagt, gilt es zu erkennen, welcher Teil der Realität durch das Phantasma „umfunktionalisiert“ wird, sodass er als Fiktion wahrgenommen wird, obwohl er Teil der Realität ist – genau wie in unseren Beispielen aus Titanic, Alles für dein Glück und Kieślowski, in denen ein Teil der Realität geisterhaft wird, etwas von einem Traum bekommt. Viel schwieriger als das Bloßstellen/Entlarven der Realität (des als Realität Erscheinenden) als Fiktion ist es, den Anteil des Fiktiven an der „realen“ Realität zu erkennen. Das ist es, was Malabou mit ihrer Kritik verfehlt, wenn sie der Psychoanalyse vorwirft, die leibliche Bedeutung traumatischer Ereignisse zu ignorieren und deren Auswirkung darauf zu reduzieren, dass sie an irgendein im Verborgenen schlummerndes früheres seelisches Trauma rühren. Stellen wir uns vor, wir würden Zeuge einer äußerst brutalen Folterung oder würden selbst einer solchen unterzogen – gerade weil die Wirkung dieses Geschehens so niederschmetternd und vernichtend ist, würde es das, was wir als „stabile äußere Realität“ wahrnehmen, bis in die Grundfesten erschüttern; das Geschehen würde nicht als zur normalen Realität gehörig erlebt werden, sondern als etwas Unwirkliches, als eine alptraumhafte Fiktion. Das normale Realitätsgefühl und das äußerste Trauma schließen sich gegenseitig aus. Dies ist letztlich der Grund, weshalb, wie Chesterton deutlich sah, Traum und „eigentlicher Realismus“ zusammengehören.

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Von abjektiv zu gruselig In welchem Zusammenhang steht das Abjekt mit der Subjektivität? Ist ein Subjekt – das seinem Begriff selbst nach exzesshaft ist – schlechthin abjektiv, ein die Harmonie der Welt störender Auswuchs, der eine Lücke in ihr Zentrum reißt? Man muss hier klar unterscheiden: „Abjektiv“ ist letztlich das Innere eines lebenden Objekts (wie die Tiefe von Irmas Rachen aus Freuds Traum von Irmas Injektion), während das Innere eines Subjekts „gruselig“ ist. Wie Adam Kotsko in seinem Buch Creepiness gezeigt hat, ist „gruselig“ die heutige Bezeichnung für das Freud’sche „unheimlich“, für den unheimlichen Kern des Nächsten: Jeder Nächste ist letzten Endes „gruselig“, und darum heißt das letzte Unterkapitel des Buches passenderweise auch „Die Gruseligkeit allen Fleisches“. Was den Nächsten gruselig macht, ist nicht sein merkwürdiges Tun, sondern die Undurchschaubarkeit des Begehrens, von dem dieses Handeln getragen ist. So ist beispielsweise nicht vor allem der Inhalt von Marquis de Sades Schriften gruselig (der ist vielmehr dumm und wiederholt sich), sondern das Warum: „Warum tut er das?“ Alles bei de Sade ist eine „sadistische“ Perversion, alles außer seinem Schreiben, das sich als solches, in seinem eigentlichen Vollzug, nicht als eine Perversion erklären lässt. Die Frage ist daher: Was will der gruselige Nächste? Was gibt ihm das? Eine Erfahrung, eine Begegnung, wird gruselig, wenn wir plötzlich den Verdacht haben, dass jemand das, was er tut, nicht aus dem üblichen Grund tut. Hierzu ein Beispiel von Kotsko: Im Falle eines anrüchigen Typen, der es sich nicht nehmen lässt, jede Frau, der er begegnet, anzusprechen, scheint offenbar das Element des Rätselhaften zu fehlen, da er eindeutig Sex will. Und doch scheint es merkwürdig, dass es gruselig sein soll, einfach nur Sex zu wollen, denn wenn ein Mann eine Frau höflich nach der Möglichkeit eines Treffens fragt und die Antwort akzeptiert, so ist daran, wenn die übrigen Umstände gleichbleiben, nichts Gruseliges. Was den anrüchigen Typen gruselig macht, ist demnach nicht, dass er zu viele Frauen um eine Verabredung bittet, sondern dass sein ständiger Misserfolg drauf hinzudeuten scheint, dass es ihm egal ist, dass seine Methoden nicht anschlagen. Ihn scheint gerade die Annäherung an die Frauen „anzumachen“, unabhängig von dem vordergründigen Zweck, mit ihnen zu schlafen. Sobald einem das aufgeht, fragt man sich unwillkürlich: Was gibt ihm das? Noch das am gruseligsten scheinende Begehren stellt sich bei näherer Betrachtung als rätselhaft heraus.22

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An diesem Punkt wird die Lacan’sche Unterscheidung zwischen dem Objekt des Begehrens und dessen Objektursache, also dem, was unser Verlangen nach dem Objekt aufrechterhält, wichtig: Die Gruselwirkung entsteht, wenn wir feststellen, dass das Subjekt, das wir vor uns haben, wegen der Objektursache des Begehrens tut, was es tut, und dem Objekt seines Verlangens gegenüber gleichgültig bleibt – wenn es, anders gesagt, zu einer Art Kurzschluss zwischen dem Objekt und der Objektursache kommt, sodass diese unmittelbar zu jenem wird. Was mich eine Frau begehren lässt, sind beispielweise vielleicht ihre Locken – was ist also, wenn ich mich einfach darauf konzentriere, den Sex Sex sein lasse und in der Liebkosung ihres Haares Befriedigung finde? In jedem Fall hat ein solcher rätselhafter Einbruch einer Geste ohne klare Bedeutung auch etwas Befreiendes an sich – vorausgesetzt, die perverse Ökonomie bricht zusammen und die rätselhafte unmäßige Geste bleibt offen und ruft als solche einen hysterischen Effekt hervor. Kotsko hält bezüglich der Nacktheit in der Serie Girls fest: Anfangs war ihre Nacktheit eine aggressiv perverse, doch als Lena Dunhams Figur in späteren Folgen ihre perversen Schwächen hinter sich lässt, nimmt ihre Nacktheit eine Reihe verschiedener neuer Funktionen an. In einer Szene sehen wir Lena, wie sie sich morgens nach dem Duschen anzieht, und es wird deutlich, wie äußerst geborgen sie sich bei ihrem Freund fühlt, mit dem sie zusammenlebt. Andere Nacktszenen zeigen sie in ihrer Verletzlichkeit oder betonen andere emotionale Zustände – keine aber scheint darauf angelegt, den Zuseher sexuell zu erregen oder (wie früher) seine Erwartungen der sexuellen Erregung zu verletzen. Es ist, als hätte die exzessive und aggressive Verwendung der Nacktheit durch die Sendungsmacher schon früh die verkehrsübliche popkulturelle Verwendung der weiblichen Nacktheit „deaktiviert“ und einen Raum für eine sorgfältigere Erkundung der Frage eröffnet, was Nacktheit als Teil der emotionalen Landschaft einer Szene bedeuten könnte.23 Eine solche Zurschaustellung ist eine hysterische Geste in Reinform. In den „revolutionären“ 1960er-Jahren war es Mode, die Perversion gegen den Kompromiss der Hysterie ins Feld zu führen: Eine perverse Person verletzt unmittelbar gesellschaftliche Normen, sie tut offen, wovon eine hysterische Person bloß träumt oder was sie in ihren Symptomen nur unklar zum Ausdruck bringt. Der Perverse setzt sich mit anderen Worten effektiv über den Herrn und sein Gesetz hinweg, während die Hysterikerin ihren Herrn bloß auf uneindeutige Weise herausfordert, die sich auch als Forderung nach

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einem authentischeren wirklichen Herrn verstehen lässt … Gegen diese Sicht auf die Dinge haben Freud und Lacan immer wieder betont, dass die Perversion – fernab davon, subversiv zu sein – das verborgene Gegenstück der Macht darstellt: Jede Macht braucht die Perversion als ihre inhärente Überschreitung, die sie aufrechterhält. Im Zusammenhang der Hysterie dagegen steht das S/ über dem a für das Subjekt, das gespalten ist, traumatisiert durch die Unsicherheit, was für ein Objekt es für den Anderen ist, welche Rolle es in dem Begehren des Anderen spielt: „Warum bin ich, was du sagst, das ich bin?“, oder, um Shakespeares Julia zu zitieren: „Warum bin ich jener Name?“ Was es sich von dem Anderen, dem Herren, erwartet, ist Kenntnis darüber, was es als Objekt (die untere Ebene der Formel) ist. Racines Phädra ist hysterisch, insofern sie sich der Rolle eines Tauschobjekts zwischen Männern widersetzt, indem sie die gebührliche Generationenordnung inzestuös verletzt (sich in ihren Stiefsohn verliebt). Ihre Leidenschaft für Hyppolite ist nicht auf direkte Verwirklichung/Befriedigung gerichtet, sondern zielt vielmehr auf den Akt des Bekenntnisses zu Hyppolite, der somit gezwungen ist, die Doppelrolle von Phädras Objekt des Begehrens und ihrem symbolischen Anderen (dem Adressaten, dem sie ihr Verlangen gesteht) zu spielen. Als Hyppolite von Phädra erfährt, dass er der Grund ihrer verzehrenden Leidenschaft ist, reagiert er geschockt – dieses Wissen hat eine eindeutig „kastrierende“ Dimension, sie lässt ihn hysterisch werden: „Warum gerade ich? Was bin ich für ein Objekt, dass ich diese Wirkung auf sie habe? Was sieht sie in mir?“ Was den unerträglichen Kastrationseffekt hervorruft, ist nicht, dass die betreffende Person „der Sache“ beraubt wäre, sondern dass sie sie im Gegenteil eindeutig „besitzt“: Der oder die Hysterische ist entsetzt, „auf ein Objekt reduziert“ zu sein, das heißt, über das agalma zu verfügen, das ihn oder sie zum Objekt des Begehrens eines Anderen macht. Im Gegensatz zum Hysteriker weiß der Perverse ganz genau, was er für den Anderen ist: Seine Position als Objekt der jouissance des (gespaltenen Subjekts des) Anderen ist von Wissen gestützt. Demnach macht das hysterische Subjekt also bei Weitem keine Kompromisse und widersteht mit tiefem Recht der Versuchung, sich vollständig in die perverse Überschreitung zu stürzen: Was der Hysteriker erkennt (oder vielmehr ahnt), ist gerade das Falsche an der Überschreitung des Perversen, an der Art, wie dieser mit seinem Tun die Gesetzesmacht stützt. Kotsko kennzeichnet die Hysterie darum auch als „eine Form, dem Gesellschaftssystem selbst das Gruseln beizubringen“. Und genau wie bei der individuellen Psyche ist auch das soziale System nur anfällig dafür, das Gruseln zu erfahren, sofern es selbst Gruseligkeit

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in sich trägt. Unter normalen Umständen scheint die Gesellschaft zwanghaft auf Strukturen fixiert zu sein und für bestimmte annehmbare Begehren zu optieren, andere jedoch zu unterdrücken oder auszuschließen. Doch dem Hysteriker fällt an dem Gesellschaftssystem am meisten auf, wie es uns ständig scheitern lässt, sodass sogar der Eindruck entstehen kann, die Ordnung braucht die Überschreitung und den verbotenen gruseligen Genuss, den sie verschafft. Das gesellschaftliche Zwinkern und Nicken der inoffiziellen Zustimmung zu unseren gruseligen Schwächen macht die Beschränkungen erträglicher und bindet uns insofern enger an das Gesellschaftssystem, als sie jene gruseligen Genüsse ermöglicht. Kurz gesagt, sind Hysteriker in der einzigartigen Position, zu erkennen, dass Perverse etwas offensichtlich machen.24 Die Hysterie als solche ist immer ein geschichtliches Gebilde: Sie stellt eine Reaktion auf den vorherrschenden Modus der Interpellation (Identifikation) dar. Dieser historische Ansatz erlaubt auch, das gängige Argument zu entkräften, wonach wir in unserer heutigen freizügigen Zeit keine hysterischen Patienten mehr bekommen werden, deren Symptome Ausdruck unterdrückter Sexualität sind: Was man heute üblicherweise als „Borderline“ bezeichnet, ist gerade die Hysterie in unseren freizügigen Zeiten, in denen die traditionelle Figur des Herrn zunehmend durch den neutralen und von seinen (wissenschaftlichen) Kenntnissen legitimierten Experten ersetzt wird. Glücklicherweise wird in der bestehenden Ordnung der Gesellschaft nicht mehr ausdrücklich das weibliche Geschlecht so vollständig in eine Ecke gedrängt wie in den Zeiten der Hausfrau. Gleichwohl sind Frauen immer noch widersprüchlichen Zwängen ausgesetzt, wie etwa jenen, die Carrie in Sex and the City fieberhaft zu steuern versucht, weil sie auf keinen Fall als „dieses Mädchen“ gelten will. Tatsächlich ist es so, dass sich manche der Widersprüche verschärft haben und komplizierter geworden sind, da von Frauen beispielsweise erwartet wird, dass sie sich im Berufsleben hervortun und weiterhin den traditionellen Anforderungen an die Mutterschaft entsprechen. Wenn überhaupt, dann leiden Frauen unter einem Zuviel an möglichen gegensätzlichen Zielen für ihr Begehren. Darum stellt die Hysterie in ihrer aktuellen Erscheinungsform auch nicht den psychosomatischen Einbruch des Körpers in die Sozialordnung dar – angesichts der unmöglichen Forderung, „sich nichts entgehen zu lassen“, treten die Hysteriker effektiv in Streik und lehnen das Begehren rundweg ab.25

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Das Borderline-Subjekt ist demnach ein Hysteriker ohne Herr, ein Hysteriker, der nicht durch den Herrn unterdrückt, sondern von irgendeiner Experten/Ratgeber-Figur bedrängt wird, sein Potenzial auszuschöpfen und „sich nichts entgehen zu lassen“, ein ausgefülltes Leben zu führen. Ein solches Drängen nimmt natürlich umgehend die Über-Ich-Dimension unerbittlichen Drucks an, worauf das Subjekt nur mit Rückzug vom Begehren reagieren kann. Ist dies „Begehren im Streik“ nicht die perfekte Formel für die Borderline-Störung als die zeitgemäße Form der Hysterie? Viele postmoderne Apologeten des Kapitalismus sprechen von ihm gern als von einem allgemeinen Perversionssystem, in dem die „Kastration“ (der Antagonismus) durch den unablässigen Rhythmus der polymorphpervers erweiterten Selbstreproduktion erfolgreich aufgehoben beziehungsweise beiseitegeschoben wird. Die Vorstellung dabei ist, dass der „postmoderne“ Kapitalismus – im Unterschied zum traditionellen, der weiter auf die libidinöse Ökonomie väterlicher Autorität und auf die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse setzt – als post-ödipales Verbindungsnetz von selbstständigen Unternehmern funktioniert, jeder davon ein Investor und Risikoträger in eigener Sache, zwischen denen bloße quantitative und keine qualitativen Unterschiede bestehen. Von Lacan aus lässt sich leicht zeigen, dass die pseudodeleuzianisch-antiödipale Sicht den phantasmatischen Kern des Kapitalismus bildet und damit ein Phantasma, das den zugrundeliegenden Antagonismus verschleiert („Kastration“, Inexistenz von Klassenbeziehungen). Hier muss das übliche Verfahren zur Kritik der binären Opposition umgekehrt werden: Es ist nicht so, dass eine binäre Opposition eine blühende Vielfalt von Partialtrieben unterdrücken beziehungsweise totalisieren würde (die normative Heterosexualität beispielweise totalisiert beziehungsweise reguliert die polymorphe Perversität) – im Gegenteil: Die Partialtriebe entstehen als Versuch, den Grundantagonismus zu verschleiern (das Fehlen des Geschlechtsverhältnisses zu ergänzen). Es gibt, mit anderen Worten, kein glückliches präödipales Universum vielgestaltiger Perversität: Die „Kastration“ wirft bereits ihren Schatten darauf. Das Entstehen des Kastrationskomplexes stellt nicht nur eine Etappe in der Entwicklung der Libido dar, sondern bildet einen Punkt, an dem der antagonistische Widerspruch, der die ganze Entwicklung aufrechterhält, offen ausbricht. (In ähnlicher Weise ist das Christentum für Lacan die wahre Religion, die Religion, welche die in den anderen Religionen verschleierte Wahrheit aufdeckt.)

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Mamatschi! Den exemplarischen Fall der Gruseligkeit stellt die Fantasie selbst dar, das Fundamentalphantasma, das noch nicht mittels „Durcharbeitung“ greifbar gemacht wurde – und man kann sicher sein, je „schöner“ (auf kitschige Weise) eine Fantasievorstellung an der Oberfläche ist, umso gruseliger und entsprechend beunruhigender ist ihr innerster Kern. In sentimentalen Melodramen gibt es Momente, die peinlich berühren und es einem nahezu unmöglich machen, die Szene weiterzuverfolgen, aber nicht aufgrund von etwas beunruhigend Widerlichem, sondern gerade aufgrund der übermäßigen „Schönheit“ der Szene. Denken wir an einen solchen Moment in dem Musical The Sound of Music: Als die Trapp-Kinder ihre Karriere beendeten, führen sie vor der großen Gästeschar das Lied „Auf Wiedersehen, Goodbye“ mit lauter kleinen obszönen Peinlichkeiten auf, die die Szene total gruselig machen … Entscheidend ist hier der dialektische Umschlag der übermäßigen Schönheit selbst in abstoßende Gruseligkeit. Nur ein paar Jahre nach The Sound of Music erreichte dieser Gruselkitsch mit dem niederländischen Kindersänger (und -schaupieler) Heintje, der zwischen 1968 und 1971 zum Megastar aufstieg, sein Extrem. Heintje war die Reaktion auf Rock und den Geist von ’68 und eine wahre Stimme der kulturellen Konterrevolution. Er besaß eine engelsgleiche Kinderstimme, weshalb es mit seiner Karriere bergab ging, als er in den Stimmbruch kam – Heintje kam einer Art von singendem Norman Bates so nah, wie nur irgend möglich. Seine beiden größten Hits ergeben ein seltsames Paar: Beide handeln sie von der Ablösung in der Mutter-Kind-Beziehung: Im ersten verlässt der Sohn die Mutter, während er im zweiten von seiner Mutter verlassen wird. (In einem Filmclip zu dem ersten Lied ist die Mutter natürlich eine Nonne.) Hier also der erste Hit, „Mama“ (1967), im Wortlaut: Mama, Du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Mama, einst wird das Schicksal wieder uns vereinen. Ich wird’ es nie vergessen, was ich an dir hab’ besessen, daß es auf Erden nur Eine gibt, die mich so heiß hat geliebt,

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Mama, und bringt das Leben mir auch Kummer und Schmerz, dann denk ich nur an dich, es betet ja für mich, oh Mama, dein Herz. Tage der Jugend vergehen, schnell wird der Jüngling ein Mann. Träume der Jugend vergehen, dann fängt das Leben erst an. Mama, ich will keine Träne sehen, wenn ich von dir dann muss geh’n. Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Mama, bald wird das Schicksal wieder uns vereinen. Ich wird es nie vergessen, was ich an dir hab’ besessen, dass es auf Erden nur Eine gibt, die mich so heiß hat geliebt. Mama, und bringt das Leben mir auch Kummer und Schmerz, dann denk’ ich nur an dich, es betet ja für mich oh Mama dein Herz. Mama, Mama. Und im Folgenden der zweite Hit, „Heidschi Bumbeidschi“ (1968), im Wortlaut: Aber Heidschi Bumbeidschi es schlafen, am Himmel die Schäflein, die braven. Sie ziehen dahin, an dem himmlischen Zelt, vergessen den Schmerz und den Kummer der Welt. Aber Heidschi Bumbeidschi bum bum. Aber Heidschi Bumbeidschi bum bum. Aber Heidschi Bumbeidschi wirst sehen, wie schnell alle Sorgen vergehen.

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Und bist du auch einsam und bist so allein, bald schau’n ja die Engel zum Fenster herein. Singen Heidschi Bumbeidschi bum bum. Singen Heidschi Bumbeidschi bum bum. Aber Heidschi Bumbeidschi schlaf ‘ lange, und ist auch dein Mutter gegangen. Und ist sie gegangen und kehrt nicht mehr heim, und lässt ihr klein’s Bübchen so ganz allein. Aber Heidschi Bumbeidschi bum bum. Aber Heidschi Bumbeidschi bum bum. Aber Heidschi Bumbeidschi bum bum. Dieses traditionelle Kinderschlaflied über ein armes Kind, das von seiner Mutter verlassen wurde, entstand vermutlich im 18. Jahrhundert im böhmischen Österreich. „Heidschi Bumbeidschi bum bum“ ist eine sinnfreie Wendung, die nur dazu gebildet wurde, um Kinder in den Schlaf zu singen (im österreichischen Deutsch bedeutet „heidigehen“ schlafengehen). Auffallend ist das merkwürdige, hölderlinsche „Aber …“, ein Bruch in der Kontinuität – die Dinge nehmen ihren Lauf, „aber“ etwas, ein traumatischer Bruch, passiert; oder vielmehr, ein Kind ist allein, „aber“ es gibt Trost. Freilich klingt im Einschlafwunsch der Wunsch nach Selbstauslöschung nach. (Das zugrundeliegende negative Merkmal ist, dass es hier keinen Vater gibt.) Es gibt noch ein drittes Lied in Heintjes Mama-Zyklus, „Mamatschi“, das sich im Wortlaut anzuführen lohnt: Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen Es war einmal ein kleines Bübchen, das bettelte so wundersüß: „Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen! – Ein Pferdchen wär’ mein Paradies.“ Darauf bekam der kleine Mann ein Schimmel-Paar aus Marzipan. Die sieht er an. Er weint und spricht: „Solche Pferde wollt’ ich nicht.“

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„Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen wär’ mein Paradies. Mamatschi, solche Pferde wollt’ ich nicht.“ Die Zeit verging. Der Knabe wünschte vom Weihnachtsmann nichts als ein Pferd. Da kam das Christkindlein geflogen und schenkte ihm, was er begehrt. Auf einem Tische stehen stolz vier Pferde aus lackiertem Holz. Die sieht er an. Er weint und spricht: „Solche Pferde wollt’ ich nicht.“ „Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen wär’ mein Paradies. Mamatschi, solche Pferde wollt’ ich nicht.“ Und es vergingen viele Jahre und aus dem Knaben ward ein Mann. Dann eines Tages vor dem Tore, da hielt ein herrliches Gespann. Vor einer Prunk-Kalesche standen vier Pferde – reich geschmückt und schön. Die holten ihm sein liebes Mütterlein. Da fiel ihm seine Jugend ein. „Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen wär’ mein Paradies. Mamatschi, Trauerpferde wollt’ ich nicht.“ (Man beachte die Obszönität des Signifikanten „Mamatschi“, wie sie bereits für „heidschi bumbeidschi bum bum“ gilt.) Man sollte sich hier nicht scheuen, eine Verbindung zu Freuds „kleinem Hans“ herzustellen: Der üblichen ödipalen Deutung nach vertritt das Pferd, vor dem Hans sich fürchtet, den kastrierenden Vater (großer Penis, der Hans’ kleinen Penis abschneidet); es gibt allerdings zwei Merkmale, die dieser Deutung entgegenstehen. Als Hans ungefähr dreieinhalb Jahre alt war, sagte seine Mutter zu ihm, er solle seinen „Wiwimacher“ nicht anfassen, sonst würde sie den Arzt rufen, damit er ihn abschneidet. Außerdem fürchtete sich Hans am meisten vor Pferden, die vor schwer beladene Wagen gespannt waren und sie zogen,

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und tatsächlich hatte er einmal, als er mit seinem Kindermädchen unterwegs war, ein Pferd auf der Straße zusammenbrechen und sterben sehen. Es hatte ein Pferdefuhrwerk geschleppt, in dem viele Menschen saßen, und als das Pferd zusammenbrach, hatte Hans das Geräusch der Hufe, die gegen das Straßenpflaster schepperten, Angst gemacht. (Denken wir an die Echos von Dostojewski und Nietzsche, die von dieser Episode ausgehen.) Demnach wird die Phobie nicht von der Angst vor einem zu starken, animalischen Vater, sondern vor dem schwachen, sterbenden Vater aufrechterhalten. Wenn wir es also im Falle von Hans mit einer Metapher zu tun haben (das Pferd steht für den Vater), ist das Pferd in „Mamatschi“ eine Metonymie des toten Vaters. In diesem Lied kommt mithin eine hübsche Wechselstruktur zum Tragen: Solange die Mutter da ist, bekommt der Junge Ersatzpferde (aus Marzipan und aus Holz); als er schließlich die richtigen Pferde bekommt, ist es dennoch ein ce n’est pas ça, weil die Mutter gestorben ist. Der unmögliche Inzest würde darin bestehen, beides zu haben: sowohl die Mutter als auch das Partialobjekt (die wirklichen Pferde). Doch ist die hier zugrundeliegende Vorstellung nicht vielmehr die, dass das wirkliche Verlangen des Jungen von Beginn an den vier Pferden galt, die den Wagen mit dem Leichnam der Mutter ziehen? Dann würde „Mamatschi, schenk’ mir ein Pferdchen! Ein Pferdchen wär’ mein Paradies“ tatsächlich „Mamatschi, fall’ tot um, das wär’ mein Paradies!“ bedeuten.

Eislers Sinthome Der direkte Ekel vor etwas auf der einen Seite und der Grusel vor dem Kitsch auf der anderen Seite decken nicht das ganze Feld ab: Es gibt noch eine Form der Gruseligkeit, die wir im Zusammenhang mit Dickens’ „MOOR EEFFOC“ bereits berührt haben – die Begegnung mit der eigenartigen Materialität des Klangs eines von seiner Bedeutung abgeschnittenen Wortes. So etwas erleben wir häufig im Alltag: Es gibt Augenblicke, in denen uns ganz plötzlich aufgeht, wie seltsam ein Wort wirklich klingt. Somit gelangen wir (nicht sonderlich überraschend für einen Hegelianer) auch hier wieder zu einer Triade: dem direkten Ekel vor dem Realen, seinem Umschlag in den Grusel vor der kitschig übersteigerten Schönheit und … was? Die geisterhafte Materialität, auf die wir bei „MOOR EEFFOC“ stoßen, ist nicht die unmittelbare Materialität des Klangs, sondern etwas viel Merkwürdigeres – eine Art vergeistigter Materialität, die bei Foucault fehlt, für den Manets Leistung in der „Wiedereinbringung der Materialität der Lein-

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wand in das Dargestellte“26 besteht: Die formalen Eigenschaften der Leinwand (ihre horizontalen und vertikalen Begrenzungslinien, das Oberflächengewebe, die Unterdrückung von Tiefe), welche die traditionelle Kunst zu verschleiern sucht, spiegeln sich in dem dargestellten Inhalt wider oder, wie Lacan sagen würde, der Signifikant fällt ins Signifikat. Aber fehlt hier nicht die dritte Ebene, die Ebene der geistigen Materialität? Auch wenn Manet der Erste war, der die Materialität der Oberfläche eines Gemäldes greifbar machte und so die Realität der abgebildeten Szene aushöhlte – war er sich denn auch einer anderen Materialität bewusst, einer Materialität jenseits (oder vielmehr unterhalb) der Materialität, die ihren Ort in der raumzeitlichen Realität (dem, was wir als solche erfahren) hat? Das UrAndere unserer raumzeitlich verfassten körperlichen Realität ist nicht der Geist, sondern eine andere, „erhabene“ Materialität, und bei der modernen Kunst handelt es vielleicht um deren einschlägigsten Fall. Wenn typisch moderne Künstler vom Geist in der Malerei sprechen (Kandinsky) oder vom Geist in der Musik (Schönberg), so deutet die von ihnen heraufbeschworene geistige Dimension auf die „Vergeistigung“ (oder vielmehr das „Geisterhaftwerden“) der Materie (Farbe und Gestalt, Klang) als solche, außerhalb ihrer Sinnbezüge, hin. Es genügt, auf das „Massive“ jener ausgedehnten Flecken hinzuweisen, die beim späten van Gogh gelber Himmel „sind“, oder auf die Wucht von Wasser und Gras bei Munch: Diese unheimliche Massivität gehört weder zur unmittelbaren Materialität der Farbflecken noch zur Materialität der abgebildeten Gegenstände – sie liegt in einer Art geisterhaftem Zwischenreich der, nach Schellings Bezeichnung, „geistigen Körperlichkeit“. Diese lässt sich aus der Lacan’schen Perspektive leicht als materialisierte jouissance, als „fleischgewordene jouissance“ bestimmen. In der Musik finden wir möglicherweise einen entsprechenden Effekt „geistiger Körperlichkeit“ (unter anderem) in Hanns Eislers Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben (Op. 70), einem zwölfminütigen Zwölftonstück für Flöte, Klarinette, Streichtrio und Klavier, das als musikalische Begleitung zu Joris Ivens Dokumentarfilm Regen von 1929 komponiert wurde, einem Porträt Amsterdams im Regen. (Nebenbei bemerkt hatten Ivens und sein Mitarbeiter Franken ursprünglich den holländischen Komponisten Lou Lichtveld beauftragt, der eine traditionellere lyrische Partitur für Flöte, Streichtrio und Harfe verfasst hatte, die auf die Filmfassung von 1932 abgestimmt wurde.) Eislers Stück, das er 1941 verfasste, wurde 1944 im Rahmen der Feier zu Arnold Schönbergs 70. Geburtstag bei diesem zu Hause uraufgeführt, und sowohl er als auch Adorno waren begeistert von dieser Musik, auch wenn sie politisch gegen Eisler eingestellt waren und sein Eintreten für

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den Kommunismus ablehnten. Zwei andere Stücke von Eisler gehören mutmaßlich der gleichen Reihe an: die sechs „Hölderlin-Fragmente“ aus seinem Hollywooder Liederbuch (1942–1944), von Matthias Goerne als „die Winterreise unserer Zeit“ bezeichnet,27 und sein letztes Werk, Ernste Gesänge, das er 1962 einige Wochen vor seinem Tod fertigstellte. Eislers Hölderlin ist nicht der Hölderlin von Heidegger, sondern eine jakobinische Gestalt, ein Hölderlin mit Marx. Darum ist es kein Wunder, dass Eisler, noch bevor er sich der Musik widmete, die Gedichte in brechtscher Weise umarbeitete: Weggelassen oder eingeschränkt werden Detailschilderungen, Verdopplungen in der Aussage, zu breit ausgeführte Gedanken, Allegorien, mythische Bilder oder Natur- und Landschaftsbeschreibungen, sofern diese nicht unmittelbar zum Gegenstand des Gedichts gehören. Zurückgedrängt wird auch Stimmungshaftes im Text, da dies die Musik in eigenständiger Weise hinzufügt.28 Dem aus dem Text ausgeschlossenen Stimmungshaften wurde allerdings ganz und gar nicht gestattet, in der Musik auszubrechen; im Gegenteil: Die Musik wirkt dem stimmungshaften Gehalt, der in den Wörtern liegt, entgegen und deckt so deren immanente Widersprüche auf – oder, um Eisler zu zitieren: „Einen Text muß ein Komponist erst einmal widerspruchsvoll ansehen. Das Tragische wird von mir heiter aufgefaßt. […] Wenn man mich einmal rühmen wird, wird man mich dafür rühmen, daß ich dem Text widerstanden habe“.29 Es geht also nicht darum, dem ausdrücklichen Text durch Aufdeckung seines unausgesprochenen Untergrunds zu widerstehen oder ihn auf diese Weise zu unterlaufen. Ein solches Verfahren findet sich häufig in Melodramen, wo die Leidenschaften, die aufgrund gesellschaftlicher Beschränkungen gebändigt werden mussten, in der begleitenden Musik zum Ausbruch kommen, wie in einer Szene zweier heimlicher Liebender, die sich in der Öffentlichkeit begegnen, wo sie sich unter den Augen der anderen zurückhalten und angemessen verhalten müssen, während sie im Herzen leiden. Eisler geht gegenüber einer solchen einfachen kontrapunktischen Verwendung der Musik noch einen Schritt weiter: Statt einfach bloß dem ausdrücklichen Text entgegenzuwirken, wirkt die musikalische Linie diesem unterirdischen Leidenschaftsstrom selbst entgegen (sie spottet darüber) und fasst das Tragische heiter auf.30 Demnach kehrt das, was aus dem Bereich der Wörter verdrängt und ausgeschlossen wurde, in der Musik nicht wieder; was in die Musik hineingelegt wird, ist das Falsche an diesem un-

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terdrückten Inhalt selbst – die Musik kämpft gegen das inbegriffene Stimmungshafte. Damit erklärt sich auch, was uns westlichen Hörern eigentlich nur als „orientalischer“ Klang von Eislers Musik erscheinen kann: Der von den Wörtern vermittelten starken tragischen Stimmung wirken die asketisch einfachen und klaren ausgelassenen Töne entgegen – als ob ein furchtbarer Inhalt (verzweifelter Personenwechsel am Rande des Suizids, brutale Polizeiverhöre …) von Kindern als ein ausgelassenes Spiel dargestellt wird, die keine Ahnung von der Entsetzlichkeit der Ereignisse haben, von denen sie sprechen. Ziehen wir Benjamins Metapher vom Übersetzen als Zusammenfügen der Bruchstücke eines zerbrochenen Gefäßes heran, so haben wir es hier nicht bloß mit zwei, sondern mit drei Bruchstücken zu tun, von denen das eine nicht darstellbar, abwesend bleibt: Wenn die beiden greifbaren Bruchstücke zusammenpassen, bilden sie kein harmonisches Ganzes, sie beschreiben vielmehr bloß die Umrisse eines dritten, unsichtbaren Bruchstücks. Manchmal erfolgt dieser Umschlag am Liedende, wie im Falle von „Die Heimat“, wo die Musik die melancholische Atmosphäre von Selbstgefälligkeit zerstört. Eisler setzt die beiden vierzeiligen Strophen von Hölderlins Gedicht (es gibt von ihm noch eine sechsstrophige Fassung) musikalisch um, wobei er die zweite kürzte: Froh kehrt der Schiffer heim an die hellen Strome von fernen Inseln, wo er geerntet hat. Wohl möchte ich gern zur Heimat wieder. Ach was hab ich, wie Leid, geerntet? Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt, ach gebt ihr mir, ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich wiederkehre, die Ruhe noch einmal wieder?31 (Sollte man in „geerntet“ einen Hinweis auf den Kolonialismus erkennen?) Die wichtigste und zentrale Auslassung ist die der Stelle, an der das Heimkommen bei Hölderlin näher bestimmt wird als eine Rückkehr in der Erwartung, „der Liebe Leiden zu stillen“. Indem Eisler diese Stelle entfallen lässt, tilgt er das romantische Motiv eines enttäuschten Liebhabers, der nach Hause zurückkehrt, um seine Wunden zu lecken und Ruhe und Trost zu finden – hier ist die vollständige zweite Strophe: Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom Von fernen Inseln, wo er geerndtet hat; Wohl möcht’ auch ich zur Heimath wieder; Aber was hab’ ich, wie Laid, geerndtet?

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Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt, Stillt ihr der Liebe Leiden? ach! gebt ihr mir, Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich Komme, die Ruhe noch Einmal wieder?32 Diese Wörter bekommen ihre volle Bedeutung erst mit der Musik, vor allem mit der Klavierbegleitung, die das Ende in „eine Art harmonisch bewirkter Befremdung“ verwandelt:33 Das Arpeggio ist durch Tempobeschleunigung ausgezeichnet und verklingt im Diminuendo. Die Harmonik des Liedes gestattet infolge fortwährenden Fluktuierens keine exakte Festlegung; aber die bevorzugten Akkordtypen sind die aus der Funktionsharmonik bekannten. Die Schlußdissonanz wird zwar sehr weich in Terzen ausgebreitet; gleichwohl hebt sie sich durch wesentlich höheren Dissonanzgrad wirkungsvoll ab. Der Schluß soll befremden, damit der Hörer das ganze Gedicht befremdlich findet und die ihm verborgene aktuelle Beziehung entdeckt.34 Vergleichen wir dieses Ende von „Die Heimat“ mit dem Ausklang von „An eine Stadt“ aus dem gleichen Zyklus: „Mit dem unvermittelten Einwurf eines ganz zusammenhanglosen und schrillen Cis-Moll-Akkords (markiert mit ‚sffz‘) verliert diese melancholische Sammlung des Gemüts plötzlich ihren Zusammenhalt und zerfällt wie ein Kartenhaus.“35 In diesem Fall ist das Ende einfach das Eindringen einer Dissonanz, das uns aus unserer wohlgefälligen Melancholie reißt, während die Geste in „Heimat“ viel radikaler ist, wo der melancholische Schluss von innen her zersetzt wird – aber wie genau? In dem Ausdruck „harmonisch bewirkte Befremdung“ sollten wir das „Befremden“ natürlich im Sinne des Brecht’schen „Verfremdens“ verstehen – was also macht die Schlussdissonanz dem Hörer in diesem Sinne fremd? Es ist die selbstgefällige romantische Stimmung des Klagens über den Schmerz unerwiderter Liebe und der Hoffnung, dass die Rückkehr nach Hause Ruhe und Frieden bringen wird – diese gesamte Konstellation wird bedingunglos als seltsam und „unnatürlich“ angeprangert, als Schwindel, sich genüsslich im eigenen Unglück zu suhlen. Und die „Bedeutung für unsere Zeit“ wird klar, wenn man bedenkt, dass Eisler das Lied 1942 komponierte, als Deutschland sicher kein Ort war, an dem man danach suchen sollte, wieder Ruhe zu finden. Natürlich geht es bei Eislers Verfremdung nicht darum, dass wir die Sehnsucht nach einem sicheren Zuhause einfach aufgeben und uns in post-

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moderner Weise für die nomadische Freiheit entscheiden sollten.36 Hier nun kommen wir zum entscheidenden Punkt: Diese Verfremdung impliziert keineswegs, dass Eisler mit seinem Lied für eine rein rationale und allen stimmungshaften Elementen oder Emotionen gegenüber kritischmisstrauische Haltung eintritt, die schlicht auf „die Umwandlung von Gefühlsregungen in distanzierte Objektivität“ zielt. Die Brecht’sche Verfremdung stellt nicht einfach ein Verfahren zum Gewinnen gedanklicher Distanz dar, denn sie ist selber eine Emotion, eine stimmungsmäßige Haltung, das „Gefühl“, dass mit den Verhältnissen etwas nicht stimmt, dass sie aus den Fugen sind. Die Bedeutung von Eislers Musik liegt darin, dass sie die zu der kritischen Verfremdungshaltung passende und ihr entsprechende emotionale Atmosphäre schafft. Und obwohl er ein engagierter Kommunist war, hat diese Emotion rein gar nichts von billigem sozialistischem Optimismus und Vertrauen in eine strahlende Zukunft. Wie bei jedem echten Kommunisten stand auch bei Eislers revolutionärem Einsatz irgendwo Traurigkeit im Hintergrund, Verzweiflung sogar – Verzweiflung über all das Leid, das es in der langen, als „menschliche Geschichte“ bezeichneten Reihe von Katastrophen reichlich gibt. Diese unausweichliche Atmosphäre von Traurigkeit liegt in unserer Endlichkeit begründet: Es besteht für uns nicht die Möglichkeit, uns aus dem geschichtlichen Zusammenhang herauszuziehen und die externe Position eines Akteurs und Betrachters einzunehmen, dem der Geschichtsverlauf durchsichtig ist.37 Nirgends kommt diese ontologische Traurigkeit bei Eisler klarer zum Ausdruck als in den Ernsten Gesängen für Bariton und Streicher, welche die Stimme nach Mahlers Art begleiten. Das auf einem Fragment aus Hölderlins „Sophokles“ basierende Motto gibt schon den Ton vor: Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.38 Seinen Tiefpunkt erreicht der Zyklus in der ausgemacht pessimistischen „Verzweiflung“: Nichts gibt’s, was würdig wäre deiner Bemühungen, und keinen Seufzer verdient die Erde Schmerz und Langeweile sind unser Los und Schmutz die Welt, nichts andres, beruhige dich.39

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Das übernächste Lied, „XX. Parteitag“, signalisiert einen Moment der Hoffnung, doch mit dem (wieder auf Hölderlin basierenden) „Komm ins Offene, Freund!“ kehrt der dunkle Vergeltungston zurück: Komm ins Offene, Freund! Zwar glänzt ein Weniges heute nur herunter, und eng schließt der Himmel uns ein. Trüb ist’s heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen. Es scheint, als sei es in der bleiernen Zeit.40 Wir sollten diese Konstellation der kleinen Hoffnungsstrahlen, die in bleierner Zeit durch die Wolken schimmern mögen, nicht auf die Perioden beschränken, in denen die radikale Befreiungsbewegung zurückweichen musste und geschlagen war – alle Befreiung muss vor dem Hintergrund der Verzweiflung entstehen. Dies bringt uns schließlich zu dem Film Regen zurück, wo die Musik nicht der Stimmung jedes Bildes entspricht, sondern eigene Absichten verfolgt und der Traurigkeit in ihren Erscheinungen nachgeht – natürlich nicht in dem romantischen Sinne der Natur als Spiegel des inneren Aufruhrs des Subjekts. In einer wunderbaren Wendung charakterisierte Eisler Regen als „vierzehn Arten, mit Anstand traurig zu sein“.41 Er verglich die Atmosphäre seines Stückes mit Verlaines Gedicht „Il pleure dans mon coeur“, in dem die Tränen im Herzen mit dem auf eine Stadt niedergehenden Regen verglichen werden und das mit den Zeilen endet: „Das ist das schwerste Leiden, / Zu wissen nicht warum. / Da Hass und Lieb’ mich meiden – Mein Herz muss so viel leiden.“42 Es ist nicht nur so, dass die abgebildete äußere Wirklichkeit im Hinblick auf die wiedergegebene Emotion vollkommen gleichgültig wird; diese Emotion wird selbst als eine „abstrakte“ Emotion geweckt, als eine auf ihre reine Form reduzierte, von ihrem pathetischen Gewicht bereinigte Emotion – auf dieser abstrakten/formalen Ebene kann die musikalisch erweckte Emotion dann die emotionalen Echos aufnehmen, die sich mit der abgebildeten oder beschriebenen äußeren Realität verbinden. Nachdem er Eislers Stück gehört hatte, notierte Brecht in sein Tagebuch, es habe „etwas von chinesischer tuschzeichnung“.43 Im Fall von Regen heißt das, dass die bewegten Bilder, die auf der Leinwand zu sehen sind, bereits in reduktiver Weise wahrgenommen werden sollten, nämlich als die auf ihre abstrakte Form reduzierten und als solche über ein Eigenleben verfügenden Bilder und Bewegungen, die sich nicht auf das Porträt einer vom Regen überfluteten Stadt reduzieren lassen. Diese abstrakten Formen (abstrakt im Sinne von: abstrahiert von ihrem Darstellungsinhalt) funktionieren wie sich ausbreitende Sinthome, die Grundmuster des intensiven affektiven Erlebens bei Lacan. Man denke an

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das Motiv des donnernd zum Ausbruch kommenden Zorns, das beide Teile von Eisensteins Iwan der Schreckliche durchzieht und immer wieder in anderer Gestalt in Erscheinung tritt, vom Gewitter selbst bis zu den Ausbrüchen unkontrollierter Wut: Auch wenn dieses Motiv zunächst wie ein Ausdruck von Iwans Psyche erscheinen mag, löst sich das zugehörige Klangbild im Verlauf des Films von seiner Person, beginnt umherzuschweifen und von einer Person zur anderen überzugehen beziehungsweise auf einen Zustand, der sich keiner der handelnden Personen zuschreiben lässt. Man sollte dieses Motiv nicht als eine „Allegorie“ mit feststehender „tieferer Bedeutung“ interpretieren, sondern als eine reine „mechanische“ Intensität jenseits der Bedeutung (darauf zielte Eisenstein mit seiner idiosynkratischen Verwendung des Ausdrucks „operationell“ ab). Andere Motive dieser Art verhalten sich wie Echos zueinander und kehren sich gegenseitig um, oder sie tun das, was Eisenstein als „nackten Transfer“ bezeichnete, und springen von einem Ausdrucksmedium auf ein anderes über (wenn etwa eine Intensität im visuellen Medium bloßer Formen zu stark wird, springt sie über und explodiert in der Bewegung – und dann im Ton oder in der Farbe …). So zeigt beispielsweise Kristin Thompson auf, inwiefern es sich bei dem Motiv eines einzelnen Auges in Iwan der Schreckliche um ein „fließendes Motiv“ handelt, das an sich völlig bedeutungslos ist, zugleich aber ein wiederkehrendes Element darstellt, das je nach Zusammenhang eine Reihe von sprechenden Bedeutungen annehmen kann (Freude, Verdacht, Überwachung, quasi-göttliche Allwissenheit).44 Und die interessantesten Momente in Iwan der Schreckliche sind jene, in denen solche Motive ihren vorgezeichneten Rahmen zu sprengen scheinen: Sie erlangen dann eine Vieldeutigkeit, die von keiner übergreifenden Thematik oder ideologischen Agenda mehr abgedeckt wird. Mehr noch: Es scheint, als habe ein solches Motiv in den ausschweifendsten Momenten sogar überhaupt keine Bedeutung mehr, sondern gleite nur noch als abstrakte Form umher, als Provokation und als Herausforderung an die Zuschauer, jene Bedeutung zu entdecken, die seine schiere provokatorische Macht bändigen würde.45 Vielleicht sollten wir hier ein Risiko eingehen und den Ausdruck „Tonalität“ in seiner doppelten Bedeutung ins Feld führen: Tonalität im engeren musikalischen Sinne des tonalen Modus eines Musikstücks und Tonalität im Sinne der emotionalen Tönung einer Situation (die beiden hängen in den unterschiedlichen tonalen Modi bereits zusammen: das heroische C-Dur, das launische h-Moll und so weiter). Was ist also, wenn wir die Atonalität der atonalen Musik in beiden Bedeutungen des Ausdrucks verstehen: nicht nur als „keinem tonalen Modus folgend“, sondern auch asubjektiv im Sinne von „ohne jede bestimmte emotionale Tönung“? Oder, um

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es kantisch auszudrücken: Insofern die Tonalität ungefähr dem entspricht, was Kant als „transzendentalen Schematismus“ bezeichnet, bekommen wir in der Atonalität nicht etwa ein Universum ohne Emotionen, das jeder emotionalen Stimmung beraubt wäre, sondern reine Emotionen, Emotionen, die noch nicht schematisiert, noch nicht an speziellen subjektiven Modi festgemacht sind. Wenden wir uns zur besseren Klärung dieses Punktes Robert Schumanns Klavierzyklus Carnaval zu, bei dem wir es mit einem exemplarischen Fall einer Deleuze’schen Rhizomstruktur zu tun haben: Seine 21 Abschnitte sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden, jeder bildet eine Art „Variation“ des anderen, ist durch melodische oder rhythmische Anklänge, Wiederholungen und Kontraste, deren Logik sich nicht auf eine einzige allgemeine Regel zurückführen lässt, auf andere bezogen. In klassischen Variationen (etwa in Beethovens Diabelli-Variationen) bekommen wir zunächst das Thema „als solches“, an das sich die vielzähligen Variationen anschließen: Wie man bei Schumann erwarten würde, fehlt das „Thema“ schlichtweg. Dennoch – und hierin unterscheidet sich die Schumann’sche Vorgehensweise von der „dekonstruktivistischen“ Auffassung des Spiels mit Variationen ohne Original – sind diese „Variationen“ nicht alle gleichwertig: Es gibt einen Abschnitt, der eindeutig „heraussticht“. Dem achten Abschnitt („Replique“) schließt sich mit „Sphinxes“ ein lediglich geschriebener Abschnitt an, der nicht gespielt werden kann. Worum handelt es sich bei diesen mysteriösen „Sphinxes“? Carnaval trägt den Untertitel Scènes mignonnes sur quatre notes (Kleine Szenen über vier Noten) und „Sphinxes“ liefert diese vier Noten und damit die musikalische Chiffre der jouissance, die eine Reihe von Erinnerungsassoziationen verdichtet: Die junge Pianistin Ernestine von Fricken, Schumanns Geliebte zu der Zeit, als er Carnaval komponierte, stammte aus der böhmischen Stadt Asch – ein Name, dessen vier Buchstaben sich mit den einzigen Buchstaben des Wortes „Schumann“ decken, denen in der deutschen Musikterminologie Noten entsprechen. Wenn wir anstelle von a „As“ lesen, bekommen wir noch eine weitere Variante für die musikalische Chiffre, sodass wir drei kurze Reihen erhalten: SCHumAnn (Es–C–H–A); ASCH (gelesen als: As– C–H); ASCH (gelesen als: A–Es–C–H). In seinem Buch Psychoanalysieren berichtet Serge Leclaire über eine psychoanalytische Behandlung, die bei seinem Patienten die Chiffre des Genießens zum Vorschein brachte: den rätselhaften Ausdruck poord’jeli, eine Verdichtung einer Vielzahl von Erinnerungsassoziationen (der Liebe des Patienten zu einem Mädchen namens Lili, eine Anspielung auf licorne und so weiter). Haben wir es bei Schumanns „Sphinxes“ nicht mit etwas Ähnlichem zu tun?

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Versionen des Abjekts: Hässlich, gruselig, ekelerregend

Das gesamte Stück dreht sich demnach um „Sphinxes“ als sein abwesender, unmöglich-realer Bezugspunkt: eine Reihe von blanken Noten ohne Metrum oder irgendeine Harmonie – kantisch gesprochen sind sie musikalisch nicht „schematisiert“ und lassen sich darum nicht richtig spielen. „Sphinxes“ sind ein präphantasmatisches Sinthom, eine Formel des Genießens, nicht unähnlich der Trimethylamin-Formel von Freud, die am Ende seines Traums von Irmas Injektion auftaucht. Als solche ist die Abwesenheit der „Sphinxes“ strukturell: Ließe sich „Sphinxes“ erfolgreich spielen, würde das ganze Stück in seiner Fragilität auseinanderfallen. Kurz gesagt, ist „Sphinxes“ das objet petit a von Carnaval und mithin der Abschnitt, dessen Ausschluss gerade die Realität der verbleibenden Elemente sichert. Es gibt einige Aufnahmen, in denen „Sphinxes“ wirkungsvoll aufgeführt wird: ein Dutzend langgezogener Töne in weniger als einer halben Minute. Die Wirkung ist richtig unheimlich, so als wäre man „durch einen Spiegel hindurch“ in einen verbotenen Bereich gelangt, der sich jenseits (oder vielmehr unterhalb) des phantasmatischen Rahmens erstreckt – oder richtiger gesagt, so als hätte man irgendein Wesen außerhalb seines angestammten Elements erblickt (wie wenn man einen toten Tintenfisch auf einem Tisch liegen sieht, nicht länger am Leben, um sich anmutig im Wasser zu bewegen). Aus diesem Grund kann das unheimliche Dunkel dieser Töne plötzlich in Vulgarität, ja sogar Obszönität umschlagen – kein Wunder, dass der auffallendste Befürworter einer Aufführung von „Sphinxes“ niemand anderer als Rachmaninow war, einer der typischen Kitschautoren ernster Musik.46 Beim Entstehen der modernen atonalen Musik kommt es demnach zur Befreiung der Klänge von der Tonalität: Diese aber verschwindet nicht einfach; sie wird zerstreut und erscheint in vielen unzusammenhängenden und bruchstückhaften Formen vor ihrem atonalen Hintergrund, der jetzt erkennbar ist und sich als solcher greifen lässt. Kurz gesagt, wird das, was bei Schumanns Carnaval eine einmalige, unheimliche Ausnahme darstellt, zur neuen Regel. An dieser Stelle nun lässt sich eine Parallele zur „geistigen Körperlichkeit“ in Munchs Gemälden ziehen: Die Stellung der „Sphinxes“ in der musikalischen Struktur von Carnaval ist die gleiche wie die der anamorphisch verzerrten Flecken auf einem Munch-Gemälde. Das heißt, so wie diese Flecken einer dritten Ebene angehören, die weder die Materialität der Farben und Formen noch die dargestellte Materialität des Gemäldeinhalts ist, so entsprechen auch die präschematisierten Töne von „Sphinxes“ weder der unmittelbaren Materialität eines Klangs noch dessen mutmaßlichem Darstellungsinhalt – oder die musikalischen Formmuster bilden, wie im Falle von Eislers Regen, weder die Realität ab, noch lassen sie sich auf die un-

Eislers Sinthome

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mittelbare Realität der Klänge reduzieren. Auf dieser dritten Ebene überdecken sich Materialismus und Idealismus in einer seltsamen Version von platonischem Materialismus: Die atonalen Muster sind auf eine gewisse Art immateriell (noch nicht schematisiert, reine Formen/Muster von Regen) und gleichzeitig materieller als Sinnesgegenstände (noch nicht Teil unseres subjektiven Erlebens). Dieses nichtschematisierte Sinthom – ein noch in keinem Bedeutungsuniversum gefangenes Grundmuster des Genießens – ist nicht das vorsymbolische Reale, kein Teil der Natur, der sich vielleicht in einem genetischen Code wiedergeben lässt; vielmehr gehört es bereits zum symbolischen Prozess, ist dessen immanente Nullebene.

6 Wenn sich nichts verändert: Zwei Szenen subjektiver Destitution Die Lektion der Psychoanalyse Nach der ebenso verbreiteten wie dummen Ansicht über die psychoanalytische Behandlung hat diese ein doppeltes Ziel: uns vom Leiden zu erlösen und unsere Selbsterkenntnis zu befördern. (Letzteres natürlich durch Anschluss an unser Unbewusstes – wir leiden, weil wir uns nicht wirklich kennen – oder, wie die alte platonische und gnostische Formel lautet, indem wir das Leiden dem Bewusstsein zugänglich machen.) Es liegt an unserer Unkenntnis, dass es die beiden Dimensionen gibt. Doch ist diese Sichtweise auch angemessen? In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit Paul Holdengräber sagte Adam Phillips: Analytiker sind Leute, die nicht im Namen des Patienten sprechen, die nicht im Namen von irgendjemandem sprechen, anders als Eltern und Lehrer und Ärzte und Politiker. […] Die Analyse sollte sich um zwei Dinge kümmern, die miteinander zusammenhängen: Es sollte bei ihr darum gehen, das eigene Begehren zurückzugewinnen und zu verstehen, dass es nötig ist, sich nicht zu kennen. […] Symptome sind Formen der Selbsterkenntnis. Ob man glaubt, man sei agoraphobisch, oder sich für schüchtern hält, oder was auch immer es sei – dies sind Formen der Selbsterkenntnis. Die Psychoanalyse, wenn sie optimal zur Wirkung kommt, kuriert einen von seiner Selbsterkenntnis und von dem Wunsch, sich selbst auf diese kohärente narrative Weise zu kennen. Man kann sein Begehren und seine Begierden nur dann zurückgewinnen, wenn man es sich gestatten kann, sich selber nicht zu kennen!1 Dies ist ein äußert wichtiger Punkt: Bei der Psychoanalyse geht es nicht darum, die falsche oder verschlüsselte Selbsterkenntnis durch die wahre zu ersetzen, sondern darum, dass der Patient sich von dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis befreit und so zum Handeln ohne Selbsterkenntnis befähigt wird. Dies bringt uns zu der antiken Weisheit zurück, die da lautet: Nicht nachdenken, sondern einfach machen. Doch landen wir damit nicht wieder bei der Naivität? Die (verneinende) Antwort liefert Philipps’ zweite Aussage bezüglich des Leidens:

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Die Patienten kommen, weil sie an irgendetwas leiden. Sie wollen, dass sie weniger leiden müssen. Im Idealfall stellen sie im Laufe der Analyse vielleicht fest, dass ihr Leiden geringer geworden ist oder sich verändert hat, doch sie könnten auch feststellen, dass es Wichtigeres gibt, als sein Leiden zu mindern. Interviewer: Haben Sie irgendwie das Gefühl, dass Sie gescheitert sind, wenn ein Patient Ihr Büro verlässt und sich besser fühlt? Phillips: […] Meiner Auffassung nach ist es nicht Sinn der Sache, dass die Leute sich danach besser fühlen. Sie sollen sich aber auch nicht schlechter fühlen. Es geht nicht darum, irgendwelche Gefühle in ihnen zu wecken. Es geht darum, sie erkennen zu lassen, was es ist, was sie da fühlen.2 Widerspricht sich Phillips hier selbst? Handelt es sich nicht um eine Art von Selbsterkenntnis, wenn man Leute „erkennen lässt, was es ist, was sie da fühlen“? (Ein elementarer Fall von „Erkennen“ bestünde darin, den zweideutigen Hass zu bemerken, hinter dem der Analytiker Liebe vermutet [oder umgekehrt].) Darauf ist zu erwidern, dass es sich bei der in der Analyse gewonnenen Erkenntnis um eine Erkenntnis handelt, die vergessen beziehungsweise verworfen werden soll: Sobald ich „erkenne, was es ist, was ich da fühle“, beschäftige ich mich nicht weiter damit, sondern lasse es einfach hinter mir – und warum? Nicht aufgrund irgendeiner dezisionistischen Mystik („Wenn man etwas schaffen will, sollte man nicht wie Hamlet zaudern und sich allzu lange mit der Analyse der eigenen Person aufhalten, sondern einfach zum Handeln übergehen!“), sondern weil es die wahre Aufgabe der Analyse ist, mitten in unserer Subjektivität eine Leere zu schaffen: Wenn wir das Wissen, zu dem wir in der Analyse gelangt sind, verwerfen, öffnen wir uns selbst dieser Leere. Darin besteht der Zusammenhang zwischen Analyse und Liebe: In der Liebe „kennen wir die andere Person wirklich in einem tieferen Sinne – und tun es zugleich auch nicht“. Und man könnte meinen, dass die Einbildung, jemanden zu kennen, durch einen Gedanken wie den folgenden befördert oder angestoßen wird: „Dieser Mensch hat eine sehr starke Wirkung auf mich, und es überwältigt mich derart, dass ich dies nur verkraften kann, indem ich mir einbilde, ihn zu kennen.“ Für Proust beispielsweise hat die Vorstellung, einen Menschen zu kennen, häufig sehr viel mit der Bewältigung der Angst zu tun, dass man ihn nicht kontrollieren kann.3

Die Lektion der Psychoanalyse

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Das Paradoxe dabei ist (wie das alte Sprichwort sagt): Je besser wir jemanden kennen, umso mehr müssen wir zugeben, dass wir ihn oder sie nicht wirklich kennen. An dieser Stelle sollten wir die Unterscheidung in Erinnerung rufen, die Donald Rumsfeld zwischen bekanntem Unbekannten und unbekanntem Unbekannten vorgenommen hat, also zwischen dem, wovon wir wissen, dass wir es nicht wissen, und dem, wovon wir nicht wissen, dass wir es nicht wissen, weil wir uns nicht einmal der Dimension des Gegenstands bewusst sind: Je mehr oder besser wir jemanden kennenlernen, desto mehr merken wir, wie wenig wir von ihm oder ihr wissen. Das ist auch der Grund, warum man einen gewissen Abstand wahren muss, wenn man einem Menschen wirklich nahe sein will, wobei dieser Abstand eine Replik auf die unbekannte Leere im Innersten dieser Person darstellt. Donald Winnicot zufolge besteht das Ziel des Kindes darin, in der Gegenwart der Mutter alleine zu sein: „Es verbindet sich etwas ganz Wichtiges mit der frühen Erfahrung, in der Nähe eines Menschen zu sein, ohne dass dieser etwas einfordert und ohne dass er es umgekehrt nötig hat, dass etwas von ihm eingefordert wird.“4 Möglicherweise gilt dasselbe für ein Liebespaar: Die wahre Prüfung für eine Beziehung beginnt erst nach der ersten überschwänglichen Verliebtheit, wenn das Paar einen Modus für sein Zusammensein finden muss, bei dem nicht der eine auf den anderen einzuwirken versucht. Und vielleicht lernen wir genau das in einer erfolgreichen Analyse: nicht, wie wir uns anderen gegenüber öffnen und uns auf sie einlassen, sondern wie wir unter ihnen allein sein können. Es ist daher leicht einzusehen, inwiefern die beiden Merkmale (das Aufgeben der Bemühungen um Selbsterkenntnis sowie der Bemühungen um Leidensminderung) miteinander zusammenhängen: Es sind zwei Aspekte der gleichen Ausbruchsbewegung aus der endlosen Selbsterforschung, der Selbstauslöschung des Subjekts in seiner Hingabe an die harte Arbeit der Treue zu einer Aufgabe, die über uns hinausreicht – politischem Engagement, künstlerischem Schaffen, Bilden eines Liebespaares. Kürzlich musste ich mich der ziemlich unangenehmen Prozedur einer Darmspiegelung unterziehen, um den Verdacht auf Darmkrebs abzuklären, an dem schon einige meiner Vorfahren mütterlicherseits gestorben waren. Im Anschluss an den Eingriff händigte mir mein Arzt eine schmale DVD mit den Videoaufnahmen aus, den die Minikamera beim allmählichen Eindringen über die ganze Länge meines Darmes gemacht hatte. Ich war von diesem Angebot einigermaßen überrascht und fragte mich schon, was ich damit sollte. Sollte ich meinen Freunden, die mich hin und wieder besuchen, damit wir uns zusammen ein paar alte Filmklassiker anschauen, vielleicht sagen, ich hätte etwas viel Interessanteres, das ich ihnen zeigen

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könnte, um sie auf eine Filmreise in die tiefsten Tiefen meines Seins mitzunehmen? Und ist diese Praxis der unaufhörlichen Selbstprüfung – die heutige Version des antiken Mottos „Erkenne dich selbst“ – nicht das ideologische Gegenstück zur Darmspiegelung? Dies impliziert selbstverständlich keineswegs, dass die Dimension der sogenannten „inneren Erfahrung“ insgesamt als irrelevant abgewiesen werden muss. Vielmehr gilt es sich auf eine bestimmte minimale Veränderung zu konzentrieren, die der Selbstentäußerung des Subjekts entspricht und als solche zutiefst revolutionär ist. Es liegt eine tiefe Ironie in der Tatsache, dass eine Revolution (eine plötzliche radikale Veränderung) normalerweise den Gegensatz zu einer Evolution (einer graduellen Veränderung) bildet: Dem Ursprung nach bedeutet „Revolution“ die Kreisbewegung der Planeten. Kurz gesagt, verändern sich die Dinge bei einer Evolution und nehmen einen anderen Entwicklungsverlauf, während sie bei einer Revolution wieder an die gleiche Stelle zurückkehren – wie erklärt sich aber dann, dass Revolution schließlich eine radikale Veränderung bedeutete? In diesem Paradox steckt gleichwohl ein tieferer Sinn: Bei einer Evolution verändern sich die Dinge innerhalb desselben Veränderungsraums, wohingegen sich bei einer Revolution dieser Raum selbst verändert, sodass, wenn die Dinge wieder zum gleichen Punkt zurückkehren, dieser Punkt nicht mehr derselbe, sondern radikal verändert ist. Dies bringt uns zum Begriff der minimalen Veränderung. Kristevas Abjekt ist das Reale in Gestalt eines äußeren Abgrunds, der das Subjekt zu verschlucken und aufzulösen droht. Die richtige dialektische Gegenbewegung dazu wäre die Konzentration auf eine minimale Differenz – keine riesige, alles vernichtende Auflösung, sondern eine minimale Differenz, die nicht weniger absolut ist, eine Veränderung, bei der sich in Wirklichkeit nichts verändert und doch nichts gleich bleibt. Wenn Kristeva von Religion und Kunst als Versöhnung mit dem Abjekt spricht, die durch dessen Sublimierung erreicht wird, ist man versucht, ihren Gedankengang auf das auszuweiten, was Lacan „subjektive Not“ nannte (vielleicht im Einklang mit dem, was Bataille als l’expérience intérieure bezeichnete oder, allgemeiner, was die mystische Tradition als Aufklärung versteht, die Erfahrung des „Das bist du!“ – denken wir an Lacans Beharren darauf, dass auch ein Heiliger bloß eine exkrementelle Identität hat“): eine geringfügige innere Perspektivverschiebung, durch die das Subjekt sich voll und ganz mit dem Abjekt identifiziert und es nicht mehr als etwas Ekelund Schreckenerregendes erfährt. Betrachten wir zwei Fälle, zwei künstlerische Darstellungen einer solchen Verschiebung, eine vom Beginn und eine vom Ende der europäischen Moderne: die letzte Szene aus Shakespeares Richard II. sowie Becketts kurzes Stück Not I.

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Musik als Beweis der Liebe Aus Lacan’scher Sicht reicht es nicht aus zu sagen, dass jede symbolische Darstellung einfach fehlschlägt, dass sie dem Gegenstand, den sie repräsentiert, schlechthin unangemessen ist („Die Worte lassen mich immer im Stich …“); viel radikaler noch gilt außerdem, dass das Subjekt der rückwirkende Effekt des Scheiterns seiner Repräsentation ist. Dieses Scheitern bildet den Grund dafür, dass das Subjekt gespalten ist – doch nicht in etwas und etwas anderes, sondern in etwas (seine symbolische Repräsentation) und nichts, und das Phantasma füllt die Leere dieses Nichts. Der Haken daran ist, dass die symbolische Repräsentation des Subjekts ursprünglich nicht seine eigene ist: Bevor ich spreche, werde ich gesprochen, werde durch den elterlichen Diskurs auf einen Namen festgelegt, und mein Sprechen ist von Anfang an eine Art hysterische Reaktion darauf, dass mit mir gesprochen wird: „Bin ich denn wirklich jener Name, von dem ihr sagt, dass ich es bin?“ Jeder Sprecher – jeder Namensgeber – muss mit einem Namen bezeichnet werden, muss in die eigene Kette von Namensbezeichnungen einbezogen werden, oder, um es mit einem alten, oft von Lacan angeführten Witz zu sagen: „Ich habe drei Brüder: Paul, Ernest und mich selbst.“ (Daher verwundert es nicht, dass der Name Gottes in vielen Religionen geheim ist und nicht ausgesprochen werden darf.) Das sprechende Subjekt verbleibt in einem Dazwischen: Bevor es nicht mit einem Namen bezeichnet wird, gibt es kein Subjekt, doch sobald es einen hat, verschwindet es in seinem Signifikanten bereits wieder – das Subjekt ist nie, immer wird es gewesen sein. Von diesem Standpunkt aus gilt es, die Passagen in Richard II., die sich um das objet petit a, die Objektursache des Begehrens, drehen, nochmals zu lesen. Pierre Corneille hat in seiner Medea eine hübsche Beschreibung davon gegeben: „Ich weiß oft gar nicht was, es läßt sich nicht in Worte fassen,/Es überrascht uns, trägt hinweg uns, zwingt zur Liebe uns.“5 Ist dies nicht das objet petit a in Reinform – vorausgesetzt, man ergänzt es um die alternative Fassung: „und zwingt zum Hass uns“? Außerdem gilt es hinzuzufügen, dass dieses „Ich-weiß-nicht-was“ seinen Ort in dem begehrenden Subjekt selbst hat: „Das Geheimnis des Anderen ist auch für den Anderen ein Geheimnis“ – entscheidend an dieser Verdopplung ist jedoch, dass die eigene Person mit eingeschlossen ist: Was für den Anderen rätselhaft ist, bin ich selbst, das heißt, ich bin das Rätsel für den Anderen, sodass ich mich in der seltsamen Lage von jemandem befinde (wie in Kriminalromanen), der sich plötzlich verfolgt sieht und behandelt wird, als wisse (oder besitze) er etwas, trage ein Geheimnis mit sich herum, wobei er sich aber

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völlig im Unklaren darüber ist, worin dieses Geheimnis besteht. Die Formulierung für das Rätsel lautet daher: „Was bin ich für den Anderen? Welches Objekt bin ich für sein Begehren?“ Aufgrund dieser Diskrepanz kann sich das Subjekt nie unmittelbar und vollständig mit seiner symbolischen Maske oder seinem Titel identifizieren; das Infragestellen des eigenen symbolischen Titels durch das Subjekt kennzeichnet die Hysterie:6 „Warum bin ich, was du sagst, das ich bin?“ Oder, um nochmals Shakespeares Julia zu zitieren: „Warum bin ich jener Name?“ Das Wortspiel aus „Hysterie“ und „Historie“ trifft einen wahren Punkt: Die symbolische Identität eines Subjekts ist historisch determiniert und hängt immer von einer speziellen ideologischen Konstellation ab. Wir haben es hier mit dem zu tun, was Louis Althusser „ideologische Anrufung“ nannte: Die uns übertragene symbolische Identität resultiert daraus, wie die herrschende Ideologie uns „anruft“ – als Bürger, Demokraten oder Christen. Hysterie entsteht, wenn ein Subjekt seine symbolische Identität anzuzweifeln beginnt oder sich zunehmend unwohl in ihr fühlt. „Du nennst mich deinen Liebsten – aber was habe ich an mir, das mich dazu macht? Was siehst du in mir, das dich dazu bringt, mich auf diese Weise zu begehren?“ Richard II. ist das Stück von Shakespeare über Hysterisierung (Hamlet dagegen das Stück über Besessenheit). Es handelt davon, dass der König sein eigenes „Königtum“ immer mehr infrage stellt: –Was ist es, das mich zum König macht? Was bleibt von mir, wenn mir der symbolische Titel „König“ genommen wird? […] ich habe keine Namen Noch Titel, ja bis auf den Namen selbst, Der mit an dem Taufstein mir gegeben ward, Der recht mir zukäm’ oh, der schlimmen Zeit, Daß ich so viele Winter durchgelebt Und nun nicht weiß, wie ich mich nennen soll! Wär’ ich ein Possenkönig doch aus Schnee Und stünde vor der Sonne Bolingbrokes, Um mich in Wassertropfen wegzuschmelzen!7 In der slowenischen Übersetzung wird der zweite Halbsatz mit „Warum bin ich, was ich bin“ wiedergegeben. Obwohl dies eindeutig zu viel der dichterischen Freiheit ist, wird die Kernaussage dennoch angemessen erfasst: Ihrer symbolischen Titel beraubt, schmilzt Richards Identität wie die eines Possenkönigs aus Schnee in der Sonne. Kein Wunder, dass Richard II. so bestürzt darüber ist, seines symbolischen Titels beraubt zu sein – verkör-

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pert er doch das höchste Vertrauen in einen Titel, den Glauben an sich selbst als den Auserwählten, der dazu bestimmt ist, den Königstitel zu tragen. Der bestimmende Moment seines Lebens ereignete sich, als er erst 14 Jahre alt war, zu der Zeit des großen Bauernaufstandes von 1831. Die Aufständischen hatten London zu großen Teilen besetzt und stellten eine ernste Bedrohung für den jungen König und seine Ratsmitglieder dar, die in den Tower geflohen waren. Der König akzeptierte die Forderung der Rebellen nach Verhandlungen und traf sich mit ihnen in Smithfield am Londoner Stadtrand, wo er und sein kleines Gefolge rund 20000 Aufständischen unter Führung Wat Tylers gegenüberstanden. Als dieser in einem kleinen unerwarteten Handgemenge getötet wurde, drohten der König und seine Männer von der wütenden Menge überrannt zu werden. Im Moment der größten Spannung tat der junge Richard etwas völlig Verrücktes: Er ritt der Menge alleine entgegen und rief dabei feierlich: „Ich bin euer Herr und König, ihr sollt von mir alles bekommen, wonach ihr trachtet“ (oder etwas dergleichen – die Berichte dazu sind widersprüchlich). Die Geste tat ihre Wirkung, die Aufständischen zogen sich respektvoll zurück, und die Bedrohung war vorüber. Doch betrachten wir den Schachzug des Königs genau: Unmittelbar nach dem Tod Tylers, des Anführers des Aufstands, setzte sich Richard nicht nur als rechtmäßiger König durch, sondern auch als wahrer Anführer der Aufständischen selbst, der sie unter seine Obhut nehmen und für sie sorgen würde – seine Botschaft lautete: „Ich bin euer wahrer Anführer, nicht euer Gegner, und darum ist es meine Pflicht, euch zu beschützen und das Sprachrohr eurer Trauer zu sein!“ Das hysterische Subjekt ist das Subjekt, dessen Dasein von radikalem Zweifeln und Hinterfragen durchdrungen ist, dessen ganzes Sein von der Ungewissheit getragen wird, was es für den Anderen darstellt. Insofern das Subjekt nur als Antwort auf das Rätsel des Begehrens des Anderen existiert, ist das hysterische Subjekt das Subjekt par excellence. Im Gegensatz zu ihm steht der Analytiker für das Paradox des desubjektivierten Subjekts, das die von Lacan sogenannte „subjektive Destitution“ vollauf angenommen hat, das heißt, das aus dem Teufelskreis der intersubjektiven Dialektik des Begehrens ausbricht und zu einem kopflosen Wesen des reinen Triebs wird. Mit Blick auf diese subjektive Destitution hält Shakespeares Richard II. eine weitere Überraschung für uns bereit. Das Stück zeigt uns nicht nur den unglückseligen König, der allmählich der Hysterie anheimfällt; es zeigt uns auch einen Richard, der auf dem Tiefpunkt der Verzweiflung kurz vor seinem Tod eine weitere Verlagerung seines Subjektstatus vornimmt, die der subjektiven Destitution gleichkommt:

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Ich habe nachgedacht, wie ich der Welt / Den Kerker, wo ich lebe, mag vergleichen; / Und, / sintemal die Welt so volkreich ist, / Und hier ist keine Kreatur als ich, / So kann ich’s nicht, – doch grübl’ ich es heraus. / Mein Hirn soll meines Geistes Weibchen sein, / Mein Geist der Vater; diese zwei erzeugen / Dann ein Geschlecht stets brütender Gedanken, / Und die bevölkern diese kleine Welt / Voll Launen, wie die Leute dieser Welt: / Denn keiner ist zufrieden. Die beßre Art, / Als geistliche Gedanken, sind vermengt / Mit Zweifeln, und die setzen selbst die Schrift / Der Schrift entgegen. / Als: „Laßt die Kindlein kommen“; und dann wieder: / „In Gottes Reich zu kommen, ist so schwer, / als ein Kamel geht durch ein Nadelöhr.“ / Die, so auf Ehrgeiz zielen, sinnen aus / Unglaubliches: mit diesen schwachen Nägeln / Sich Bahn zu brechen durch die Kieselrippen / Der harten Welt hier, dieser Kerkerwände; / Und weil’s unmöglich, härmt ihr Stolz sie tot. / Die auf Gemütsruh’ zielen, schmeicheln sich, / Daß sie des Glückes erste Sklaven nicht, / Noch auch die letzten sind; wie arme Toren, / Die, in den Stock gelegt, der Schmach entgehn, / Weil vielen das geschah und noch geschehn wird. / In dem Gedanken finden sie dann Trost, / Ihr eignes Unglück tragend auf dem Rücken / Von andern, die zuvor das Gleiche traf. / So spiel’ ich viel Personen ganz allein, / Zufrieden keine: manchmal bin ich König, / Dann macht Verrat mich wünschen, ich wär’ Bettler; / Dann wer ich’s, dann beredet Düftigkeit / Mich drückend, daß mir besser war als König. / Dann werd’ ich wieder König, aber bald / Denk’ ich, daß Bolinbroke mich hat entthront, / Und ich bin stracks wieder nichts: doch wer ich sei, / So mir als jedem sonst, der Mensch nur ist, / Kann nichts genügen, bis er kommt zur Ruh’, / Indem er nichts wird. – Musik / Hör’ ich da Musik? / Ha, haltet Zeitmaß! – Wie so sauer wird / Musik, so süß sonst, wenn die Zeit verletzt / Und das Verhältnis nicht geachtet wird! / So ist’s mit der Musik des Menschenlebens. / Hier tadl’ ich nun mit zärtlichem Gehör / Verletzte Zeit an einer irren Saite, / Doch für die Eintracht meiner Würd’ und Zeit / Hatt’ ich kein Ohr, verletztes Maß zu hören. / Die Zeit verdarb ich, nun verderbt sie mich, / Denn ihre Uhr hat sie aus mir gemacht; Gedanken sind Minuten, und sie picken / Mit Seufzern ihre Zahlen an das Zifferblatt / Der Augen, wo mein Finger wie ein Zeiger / Stets hinweist, sie von Tränen reinigend. / Der Ton nun, der die Stunde melden soll, / Ist lautes Stöhnen, schlagend auf die Glocke, / Mein Herz; so zeigen Seufzer, Tränen, Stöhnen / Minute, Stund’ und Zeit; – doch meine Zeit / Jagt zu im stolzen Jubel Bolinbrokes. / Und ich steh’ faselnd hier, sein Glockenhans. – / Wenn die Musik doch schwieg’, sie macht mich toll! / Denn sie hat Tollen

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schon zum Witz geholfen, / In mir, so scheint’s, macht sie den Weisen toll. / Und doch, gesegnet sei, wer mir sie bringt! / Denn sie beweist ja Lieb’ und die für Richard / Ist fremder Schmuck in dieser HasserWelt.8 Es ist wichtig, die Veränderung in der Art und Weise der Mitteilung richtig zu erfassen, zu der es mit dem Einsetzen der Musik in der Mitte des Monologs kommt. Der erste Teil ist eine solipsistische Darstellung einer allmählichen Reduktion auf das Nichts, auf die reine Leere des Subjekts (S/): Richard beginnt mit einem Vergleich seiner Zelle und der Welt; während diese allerdings bevölkert ist, ist er in seiner Zelle allein. Um diesen Gegensatz aufzulösen, setzt er seine Gedanken selbst als seine Zellengesellschaft – Richard lebt in den Phantasmen, die sein Gehirn zur Mutter und seine Seele zum Vater haben. Das wilde Durcheinander, das sein Bewusstsein ausfüllt und in dem das Höchste und das Niedrigste nebeneinander bestehen, wird durch eine wunderbare Eisenstein’sche Montage zweier Bibelstellen veranschaulicht: Dabei sind „Laßt die Kindlein kommen“ (mit Bezug zu Lukas 18,16, Matthäus 19,14, und Markus 10,14) und „In Gottes Reich zu kommen, ist so schwer, als ein Kamel geht durch ein Nadelöhr“ (mit Bezug zu Lukas 18,26, Matthäus 19,24, und Markus 10,25) einander gegenübergestellt. Zusammen gelesen ergeben beide Stellen einen zynischen Über-Ich-Gott, der uns erst wohlwollend auffordert, zu ihm zu kommen, und dann, quasi als Nachtrag (Oh, übrigens habe ich vergessen zu erwähnen, dass …), spöttisch hinzusetzt, dass es beinahe unmöglich ist, zu ihm zu kommen. Das Problem an dieser Lösung ist folgendes: Wenn Richard mit seinen Gedanken eine Vielzahl von Personen ist, gefangen in dieser substanzlosen Schattenwelt, dann explodiert die substanzielle Konsistenz seines Ich und er ist gezwungen, „viel Personen ganz allein“ zu spielen. Und er schließt damit, dass er effektiv zwischen der Rolle des Königs und der des Bettlers und anderen schwankt und um der Wahrheit sowie des einzig möglichen Friedens willen akzeptieren muss, dass er nichts ist. Im zweiten Teil fällt die Musik als Objekt, als wahre „Antwort des Realen“ ein. Dieser zweite Teil umfasst selbst zwei Brüche. Zunächst nimmt Richard dieses Eindringen einmal mehr zum Anlass, die Dinge metaphorisch ins Bild zu setzen, wie es seine Art ist: Das falsch klingende Spiel der Musik lässt ihn daran denken, wie er selber als König „irre“ (falsch gestimmt) agierte, nicht imstande war, beim Regieren des Landes die richtigen Töne zu treffen und darum Disharmonie erzeugte – obwohl er Sinn für musikalische Harmonie hat, fehlt ihm das entsprechende Feingefühl für die soziale Harmonie. Dieses „Aus-den-Fugen-Sein“ steht in Zusammenhang

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mit der Zeit – nicht bloß die Zeit ist aus den Fugen, sondern sie zeigt vielmehr als solche ein Aus-den-Fugen-Sein an, das heißt, es gibt die Zeit, weil die Dinge irgendwie aus den Fugen sind. Als Richard dann nicht mehr in der Lage ist, diese sichere metaphorische Differenz aufrechtzuerhalten, vollzieht er eine richtiggehend psychotische Identifikation mit dem Symptom, mit dem musikalischen Rhythmus als Chiffre seiner Bestimmung: Wie ein fremder Eindringling nistet die Musik sich parasitär bei ihm ein, kolonisiert ihn, drängt ihn durch ihren Rhythmus zur Identifikation mit der Zeit – zu einer buchstäblichen psychotischen Identifikation, bei der er keine Uhr mehr braucht, sondern in einer Schreckensvision unmittelbar die Uhr wird (in der Art dessen, was Deleuze als „Maschinewerden“ feierte). Es ist, als würde Richard aufgrund dieser Musik zu einer solch schmerzhaften äußersten Verrücktheit getrieben, dass er sich von diesem unerträglichen Druck der Musik nicht anders als durch unmittelbare Identifikation mit ihr befreien zu können glaubt … In einer der Folgen des britischen HorrorEpisodenfilms Dead of the Night (dt. Traum ohne Ende) spielt Michael Redgrave einen Bauchredner, der auf seine Puppe eifersüchtig wird, weil ihn der Verdacht peinigt, sie wolle ihn für einen Rivalen verlassen; am Ende der Folge wird er in eine Klinik eingewiesen, nachdem er die Puppe dadurch zerstört hat, dass er ihr den Kopf zertrümmerte. Aus dem psychotischen Koma erwacht, identifiziert er sich mit seinem Symptom (der Puppe) und fängt an, wie sie zu sprechen und das Gesicht zu verziehen. In diesem Fall stellte die psychotische Identifikation den falschen Ausweg dar: Was zu Beginn ein Partialobjekt war (da es sich um eine Puppe handelt, die auf seiner rechten Hand steckt, ist es buchstäblich seine Hand, die ein autonomes Leben erlangt, wie die Hand von Ed Norton in Fight Club), entwickelt sich zu einem vollständigen Doppelgänger, der in einem tödlichen Wettbewerb mit dem Subjekt steht. Und weil die Einheitlichkeit des Subjekts auf diesem Symptom-Doppelgänger beruht, weil ihm die Befreiung von dem Symptom strukturell versagt ist, besteht der einzige Ausweg, die einzige Lösung dieser Spannung für ihn darin, dass er sich unmittelbar mit dem Symptom identifiziert, dass er sein eigenes Symptom wird – in genauer Entsprechung zu Hitchcocks Film Psycho, an dessen Ende Norman sich nur dadurch von seiner Mutter zu befreien vermag, dass er sich unmittelbar mit ihr identifiziert, dass er ihr gestattet, seine Persönlichkeit zu übernehmen, seinen Körper zu benutzen wie ein Bauchredner seine Puppe und durch ihn zu sprechen. Am Schluss des Monologs kommt es in den letzten drei Zeilen schließlich zu einer weiteren Veränderung: Die Musik, die zunächst als gewaltsames Eindringen erfahren wird, das Richard in den Wahnsinn treibt, er-

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scheint nun als ein besänftigender „Beweis der Liebe“. Was hat es damit auf sich? Vielleicht bedeutet es einfach, dass in der Musik, die Richard hört, die eigentliche Musik wiederkehrt: Getrennt von der metaphorischen Dimension der Erinnerung an die Disharmonie seines Königreichs, „beweist sie ja Lieb’“. Die Bestimmung der Musik als „Liebesbeweis“ muss in ihrem streng Lacan’schen Sinne verstanden werden: Danach ist sie eine Antwort des Realen, durch die die zirkuläre Wiederholungsbewegung des Triebs mit der symbolischen Ordnung versöhnt beziehungsweise in diese integriert wird. Dieser Moment der „subjektiven Destitution“ ist ein exemplarischer Fall dessen, was ein Ereignis ausmacht, und mithin kein großer spektakulärer Ausbruch, sondern bloß eine kaum wahrnehmbare Veränderung in der subjektiven Haltung. Was geschieht in diesem Moment der Destitution mit der Wahrheit? Hier stoßen wir auf dasselbe Paradox wie bei der jouissance: Man kann von der Wahrheit nicht alles sagen, immer verfehlen wir sie; gleichzeitig aber kann man ihr nicht entrinnen, kann dem nicht entkommen, dass man sie ausspricht – was sind die Freud’schen Symptome sonst, wenn nicht unterschiedliche Formen, wie die Wahrheit uns fortgesetzt verfolgt („Ich, die Wahrheit, ich spreche“), wie sie hinter dem Rücken des Sprechenden und ohne sein Wissen insistiert und sich zur Sprache bringt? Es ist diese Dimension der sich hinter dem Rücken des Sprechenden zur Sprache bringenden Wahrheit selbst, die durch den wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen wird (weshalb Lacan auch sagt, dass die Wissenschaft die Dimension der Wahrheit aufkündigt). Dies impliziert aber selbstverständlich keineswegs, dass die Freud’sche Wahrheit auf unwissenschaftliche Weise irrational, „existenziell“ und so weiter ist, das heißt, Lacan führt hier nicht den üblichen Gegensatz zwischen „objektiver“ wissenschaftlicher Erkenntnis und „subjektiver Wahrheit“ ins Feld: Das Freud’sche Subjekt ist für ihn das Subjekt der modernen Wissenschaft, und die „Wahrheit, die [hinter dessen Rücken] spricht“, ist keine vormoderne geistige Bewusstheit, sondern die Wahrheit dieses Subjekts, die in den Paradoxien und Lücken der wissenschaftlichen Formalisierung zur Sprache kommt und die in dem, was Lacan die „Logik des Signifikanten“ nannte, ausgearbeitet werden soll. Dies allerdings impliziert keineswegs, dass die Wahrheit ein allmächtiger großer Anderer ist, der hinter dem Rücken des Subjekts die Fäden zieht: Mit der Verschiebung der Gewichte in Lacans Lehre, die sich mit seinem Seminar XI ankündigt, wird die Wahrheit allmählich herabgestuft, in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung zulasten des Realen der jouissance beschränkt. In dem großen Gegensatz von Begehren und Trieb, Symptom und Phantasma, Interpretation und Konstruktion gehört die Wahrheit zur

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Reihe Begehren – Symptom – Interpretation (das Begehren artikuliert sich in Symptomen, die interpretiert werden müssen). Die Reihe Trieb – Phantasma – Konstruktion folgt einer anderen Logik: Das Phantasma soll in seiner grundlegendsten Form (dem „Fundamentalphantasma“, um genau zu sein) nicht interpretiert, sondern konstruiert und dann „durchlaufen“ werden: Es muss in Form „asubjektiver“ Erkenntnis, die der Dimension der Wahrheit äußerlich ist, konstruiert werden. (Damit soll gesagt werden, dass der späte Lacan eine Erkenntnis rehabilitiert, die radikaler als die Wahrheit ist, ein Wissen, das an das Reale rührt.) Wie Balmès sehr deutlich – mit einem wunderbar passenden Wortspiel im Zusammenhang mit der Theorie der vier Diskurse, in der die Wahrheit als ein Ort bestimmt wird (der Ort links unten, unter dem Akteur) – herausstellte,9 wird die Wahrheit „an ihren gebührenden Ort gestellt“. Man muss diesen Ausdruck in seinen beiden Bedeutungen verstehen. Erstens: Der Standort der Wahrheit wird am Ende korrekt bestimmt und theoretisch erfasst. Zweitens: Die Wahrheit wird eingedämmt, in ihrer Bedeutung begrenzt; sie stellt nicht die grundlegendste Dimension der Psychoanalyse dar. Wie Balmès festhielt, sollte der Ort der Wahrheit in den vier Diskursen (auch) im Hegel’schen Verständnis einer Figur begriffen werden, die die „Wahrheit“ einer anderen Figur darstellt beziehungsweise die Erklärung von deren verdeckter Latenzstruktur liefert – in diesem Sinne bedeutet etwa die Tatsache, dass wir im Diskurs der Universität am Ort der Wahrheit den Herrensignifikanten finden, dass die Position des Herrn die Wahrheit des Diskurses der Universität darstellt: Die dem Anschein nach neutrale Position der Wissens- und Erkenntniskompetenz verdeckt eine Dimension der Herrschaft. In diesem Sinne bedeutet auch die Tatsache, dass wir im Diskurs des Herrn am Ort der Wahrheit das gespaltene Subjekt S/ finden, dass das hysterische „gespaltene Subjekt“ die Wahrheit des Diskurses des Herrn ist. Und im Diskurs der Hysterie wiederum ist der Ort der Wahrheit das objet a, sodass es sich bei der Wahrheit des hysterischen Subjekts um die Frage handelt, welche Art von Objektursache des Begehrens es für den Anderen (seinen Herrn) darstellt – von daher erklärt sich die ewige hysterische Provokation durch die Frage: „Sag mir, warum du mich liebst!“ Der Analytiker nimmt diese Position von objet a ein, um es dem hysterischen Patienten zu ermöglichen, sich Klarheit über sein Begehren zu verschaffen. Wie verhält es sich daher mit dem Wissen als Wahrheit des Diskurses des Analytikers? Es handelt sich dabei eben um ein paradoxes Wissen, das der Wahrheitsdimension selbst, der Kenntnis der formellen Koordinaten des Fundamentalphantasmas äußerlich bleibt – und es ist ein Wissen, das die Entsprechung zum Sturz des „Subjekts, das wissen soll“, darstellt.

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Dieser Sturz des vermeintlich wissenden Subjekts am Ende der analytischen Behandlung impliziert zunächst, dass es zum unbewussten Wissen kein Subjekt gibt: Das unbewusste Wissen artikuliert sich hinter dem Rücken des Subjekts aufgrund von Versprechern und durch Lücken hindurch. Außerdem impliziert dieser Sturz das Ende der Übertragung und bewirkt folglich die Einsicht, dass auch der Analytiker kein Subjekt ist, das eigentlich wissen müsste. In seiner radikalsten Form aber betrifft dieser Sturz nicht nur den Analytiker, sondern auch das Unbewusste selbst. Für Lacan ist das Unbewusste keine Seite eines tiefen „vorausgesetzten Wissens“, keine Seite der Wahrheit über das Subjekt selbst, die ihm verschlossen bleibt und die mit Hilfe des Analytikers ans Licht gebracht werden muss. Anders gesagt, bedeutet es nicht, dass das Subjekt „irgendwo tief in seinem Innern alles weiß, was es zu wissen gibt, dass es nur die Hindernisse überwinden und sich bloß der Wahrheit öffnen muss, die im Kern seines Wesens verborgen liegt“. Demzufolge bedeutet der Sturz des vermeintlich wissenden Subjekts die völlige Annahme der Tatsache, dass das Unbewusste die Wahrheit selbst nicht kennt, dass in der symbolischen Ordnung eine Lücke klafft, die sich mit dieser Ordnung untrennbar verbindet. Das genau meint Lacan, wenn er davon spricht, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt: Es gibt kein tief verborgenes Instinktschema des Einklangs zwischen den Geschlechtern, das es aufzudecken gilt; das Unbewusste ist keine tiefe Weisheit, sondern ein großes Durcheinander, eine Bricolage aus Symptomen und Phantasmen, die mit dieser Ausweglosigkeit zu tun haben oder sie verdecken.

Ein gescheiterter Treuebruch Wenn man nach einer entsprechenden subtilen Veränderung der Subjekthaltung in der zeitgenössischen Literatur sucht, verschwendet man mit dem Werk von James Joyce nur seine Zeit, da es diesbezüglich nichts zu bieten hat. Joyce kann aufgrund all der Obszönitäten, von denen seine Schriften durchsetzt sind, als der ultimative katholische Autor gelten, als „der größte Visionär des dunklen Untergrunds des Katholizismus – eines Untergrunds, der eine reine, gleichwohl jedoch zutiefst katholische Überschreitung darstellt“.10 Der Katholizismus ist legalistisch, und wie schon Paulus völlig klar war, bringt das Gesetz seine eigene Überschreitung hervor. Folglich bildet die Inszenierung des obszönen Gesetzesuntergrunds, die Travestie der schwarzen Messe (oder, in Joyces Fall, die Erhebung des Here Comes Everybody [des Jedermanns] zu Christus, der sterben muss, um als die ewige Lebensgottheit wiedergeboren zu werden, angefangen bei Molly Bloom bis hin zu Anna Livia Plurabelle) die höchste katholische Handlung.

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Diese Leistung von Joyce lässt gleichzeitig dessen Begrenztheit erkennen, die auch der Grund dafür war, dass Samuel Beckett mit ihm brach. Wenn es je einen kenotischen Schriftsteller gegeben hat, dann war es Beckett, der Autor der völligen Selbstentäußerung der Subjektivität und deren Reduktion auf eine minimale Differenz. Die Lücke, die Beckett von Joyce trennt, ist die Lücke zwischen den beiden Begriffen des Realen. In seinem Gegensatz zum Symbolischen hat das Lacan’sche Reale letztendlich gar nichts mit der üblichen empiristischen (oder phänomenologischen oder historistischen oder deswegen lebensphilosophischen) Thematik der Fülle der Realität zu tun, die sich formalen Strukturen widersetzt und sich nicht auf ihre Begriffsbestimmungen reduzieren lässt – die Sprache ist grau, die Realität hingegen grün … Das Lacan’sche Reale ist vielmehr noch „reduktionistischer“ als jede symbolische Struktur: Wir rühren an dieses Reale, wenn wir von einem symbolischen Feld die ganze Fülle seiner Differenzen abziehen und es auf ein Minimum an Antagonismen reduzieren. Mitunter erliegt Lacan der Verführung durch die rhizomatische Fülle der Sprache jenseits (oder vielmehr unterhalb) der sie aufrechterhaltenden formalen Struktur. Insofern entwickelte er im letzten Jahrzehnt seiner Lehre den Begriff der lalangue, der für die Sprache als Raum der unerlaubten Vergnügungen steht, die jeder Normativität trotzen: der chaotischen Mannigfaltigkeit von Homonymen, Wortspielen, „unregelmäßigen“ metaphorischen Verbindungen und Resonanzen … So fruchtbar dieser Begriff auch ist, hat er doch Grenzen, derer man sich bewusst sein sollte. Bei zahlreichen Kommentatoren lässt sich nachlesen, dass Lacans letzte große Literaturauslegung – die von Joyce, dem Lacans letztes Seminar Le sinthome11 gewidmet ist – nicht das Niveau seiner früheren großen Deutungen erreicht (Hamlet, Antigone, Claudels Coûfontaine-Trilogie): Es ist tatsächlich etwas Falsches an Lacans Faszination für den späten Joyce, für Finnigans Wake als jüngste Version des literarischen Gesamtkunstwerks* mit seiner unendlichen Fülle an lalangue, in der nicht nur die Lücke zwischen einzelnen Sprachen, sondern auch die Lücke zwischen Sprachbedeutung und jouissance selbst überwunden scheint und die rhizomatische jouis-sense (Genuss an der Bedeutung, gesuchter Genuss) sich in alle Richtungen stark ausbreitet. Der eigentliche Gegenspieler zu Joyce ist ohne Frage Beckett: Nach seiner Frühphase, in der er im Grunde einige Variationen über Joyce verfasste, konstituierte sich der „wahre“ Beckett durch einen wahren ethischen Akt, einen Schnitt, durch Zurückweisung der Joyce’schen Fülle an gesuchtem Genuss und durch die asketische Wende zu einer „minimalen Differenz“, * Im Original deutsch.

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einer Minimalisierung beziehungsweise „Subtraktion“ des Erzählinhalts und der Sprache selbst (diese Linie lässt sich am deutlichsten in seinem Meisterwerk, der Trilogie Molloy – Malone stirbt – L’innomable erkennen). Beckett bildet quasi das literarische Gegenstück zu Anton Webern: Beide sind sie Autoren des äußersten modernistischen Minimalismus, der Subtraktion einer minimalen Differenz von der Fülle des Stoffes. Was also ist die „minimale Differenz“ – die reine Kluft der Parallaxe –, die Becketts reifer künstlerischer Arbeit tragend zugrunde liegt? Man möchte die These wagen, dass es sich dabei um die eigentliche Differenz zwischen dem Französischen und dem Englischen handelt: Bekanntlich hat Beckett die meisten seiner reifen Arbeiten auf Französisch verfasst (nicht in seiner Muttersprache) und diese dann, ob der zum Verzweifeln schlechten Qualität der Übersetzungen, selber ins Englische übertragen. Und diese Übertragungen stellen keine bloßen wortgetreuen Übersetzungen dar, sondern tatsächlich jeweils einen anderen Text. Becketts Erzählungen und Texte um Nichts (1955 als Nouvelles et textes pour rien zuerst auf Französisch veröffentlicht) bilden das vierte Glied, das die Trilogie Molloy – Malone stirbt – L’innomable ergänzt. Beckett selbst bezeichnete die Texte als „die grausige Nachgeburt von L’innomable“, den „Versuch, sich von der Auffassung des Auseinanderfallens [der Trilogie] zu befreien, der jedoch misslang“.12 Die offensichtliche Verbindung besteht darin, dass die erste Zeile des ersten Texts („Jählings, nein allmählich, endlich konnte ich nicht mehr, nicht mehr weiter“) die berühmte letzte Zeile aus Der Namenlose nachklingen lässt („man muss weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen, ich werde also weitermachen“), die einen echten kantischen Imperativ darstellt, eine Umschreibung von Kants Satz „Du kannst, denn du sollst“. Die Stimme des Gewissens sagt mir: „Du musst weitermachen“. Unter Berufung auf meine Schwäche erwidere ich: „Ich kann nicht weitermachen“; als Kantianer jedoch weiß ich, dass diese Entschuldigung nicht gilt, darum entscheide ich gleichwohl: „Ich werde weitermachen“ und tue das Unmögliche. Ist Becketts L’innomable dann nicht Badious Version entgegenzusetzen?13 Becketts L’innomable nämlich ist nicht das übermäßig Viele, das sich nicht völlig erzwingen lässt, sondern die ethische Treue selbst, ihre in dem „untoten“ Partialobjekt verkörperte Beständigkeit.14 Während es sich bei dem, was „weitergehen muss“, für Beckett letztlich um das Schreiben selbst handelt, besteht die Lacan’sche Version der letzten Zeile aus Der Namenlose in etwas, das ne cesse pas de s’écrire, das nicht aufhört, sich zu schreiben – in einer Notwendigkeit, welche die erste Aussage in dem logischen Quadrat bildet, das außerdem die Unmöglichkeit

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(das, was ne cesse pas de ne pas s’écrire, nicht aufhört, sich nicht zu schreiben), die Möglichkeit (das, was cesse de s’écrire, aufhört, sich zu schreiben) und die Kontingenz (das, was ne cesse pas de s’écrire, aufhört, sich nicht zu schreiben) umfasst. Es gilt hier die klare Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Kontingenz zu beachten: Während die Möglichkeit den Gegensatz zur Notwendigkeit bildet, bildet die Kontingenz den Gegensatz zur Unmöglichkeit. Nach Badious Vorstellung von der Haltung gegenüber einem Wahrheitsereignis steht die Notwendigkeit für die Treue zur Wahrheit, die Unmöglichkeit für eine Situation ohne Wahrheit, die Möglichkeit für die Möglichkeit eines Wahrheitsverfahrens zur Ausschöpfung ihrer Potenziale und seiner Beendigung, und die Kontingenz für den Beginn eines neuen Wahrheitsverfahrens. Was also verzeichnen die Erzählungen und Texte um Nichts: eine Möglichkeit oder eine Kontingenz? Sie verzeichnen definitiv eine Möglichkeit – eine Möglichkeit, „mit dem Schreiben aufzuhören“, Verrat an der Treue zu üben, nicht mehr weiterzumachen. Ihr Scheitern ist mithin eine gute Nachricht: Die Texte sind fehlgeschlagene Treuebrüche, gescheiterte Versuche, die Ethik mit dem, was sie fordert, loszuwerden. Sie bilden eine komische Ergänzung zu der großen Triade – den Versuch eines Opportunisten, dem Ruf der Pflicht auszuweichen, ein bisschen so wie bei Kierkegaards Krankheit zum Tode, wo ein sterbliches Menschenwesen der Unsterblichkeit samt ihrer unerträglichen ethischen Last/Forderung zu entkommen versucht. In diesem Sinne stellen die Erzählungen und Texte eine optimistische Arbeit dar – ihre Botschaft lautet, dass man eigentlich nur als unsterblicher körperloser Trieb „weitermachen“ kann, als ein Subjekt ohne Subjektivität: „Nein, keine Seelen, keine Körper, weder Geburt noch Leben, noch Tod, man muß ohne all das weitermachen“. Boulter ist demnach rechtzugeben – vorausgesetzt, wir unterscheiden streng zwischen Subjekt und Subjektivität. Die Trilogie insgesamt lässt sich als sukzessive Beseitigung der Subjektivität begreifen, als allmähliche Reduktion der Subjektivität auf das Minimum eines Subjekts ohne Subjektivität – eines Subjekts, bei dem es sich nicht länger um eine Person handelt, dessen gegenständliches Korrelat kein Körper (Organismus) mehr ist, sondern lediglich ein Partialobjekt (Organ), eines Subjekts des Triebs, was die Freud’sche Bezeichnung für ein ewiges Fortbestehen und endloses „Weitermachen“ ist. Ein solches Subjekt ist ein lebender Toter – immer noch am Leben, am Weitermachen, am Fortbestehen, aber eben tot (eines Körpers beraubt), mit einem Wort: untot. Die Texte bilden das komische Bemühen darum, dieses Subjekt wieder zu subjektivieren – ihm etwa einen Körper zu verschaffen, den Weg vom Lächeln der Grinsekatze zu ihrem vollständigen

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Körper zurückzugehen. Boulter wendet sich mit Recht gegen die von Alvarez vorgebrachte Behauptung, wonach die Erzählungen und Texte in dem gleichen „atemlosen, körperlosen Stil“ verfasst sind wie Der Namenlose: Eines der Dinge, die sich an den Erzählungen und Texten von Beginn an feststellen lassen, ist, dass der Körper (des Erzählers/Erzählten) unheimlicherweise wiederkehrt, nachdem er in Der Namenlose beinahe ausgelöscht war: Der Erzähler des Namenlosen ist körperlos (vielleicht ist „er“ bloß ein Gehirn in einer Urne). Zumindest stellt die Subjektivität ein komplexes Thema innerhalb der Trilogie dar, weil der Zusammenhang zwischen der Stimme (des Erzählers) und dem Körper (des Erzählers) fortlaufend infrage gestellt wird. Man könnte in der Tat argumentieren, dass die Trilogie insgesamt von der Demontage des physischen Körpers handelt: In Molloy ist der Körper noch mobil, baut aber zunehmend ab; in Mallone stirbt ist der Körper am Ende, zu keiner Bewegung in der Lage und stirbt; in Der Namenlose ist der physische Körper vielleicht tatsächlich schon kein Thema mehr, da der Erzähler zwischen Personalitäten und Subjekthaltungen schwebt. All dies ist dazu angetan zu zeigen, dass der Körper in den Texten ein unerwartetes Comeback erlebte.15 Das Subjekt ohne Subjektivität, dieser „lebende Tote“, ist außerdem zeitlos – wenn wir diesen Punkt erreichen, „ist die Zeit Raum geworden und es wird keine mehr geben, solange ich hier nicht raus sein werde“16. (Beachten wir, wie Beckett hier Wagners präzise Formel vom sakralen Raum des Gralsschlosses aus Parsifal wiederholt – „zum Raum wird hier die Zeit“ –, die Claude Lévi-Strauss als die bündigste Definition des Mythos anführt.) Das Subjekt, zu dem wir auf diese Weise gelangen, ein Subjekt ohne Subjektivität, ist eines, das „von den Erfahrungen, die es schildert, nicht mit Sicherheit behaupten kann, dass es tatsächlich seine eigenen sind“. Wir haben es mit einem Erzählsubjekt zu tun, das nicht erkennen kann, ob seine Stimme seine eigene ist. Wir haben es mit einem Subjekt zu tun, das nicht sagen kann, ob es über einen Körper verfügt. Und was am wichtigsten ist: Wir haben es mit einem Subjekt zu tun, dem die Vorstellung einer Lebensgeschichte abgeht, das über kein Gedächtnis verfügt. Kurz gesagt, haben wir es mit einem Subjekt zu tun, dessen Ontologie die praktische Möglichkeit von Trauer und Trauma bestreitet, das aber dennoch unter Beweis zu stellen scheint, dass diese praktisch möglich sind.17

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Ist dieses Subjekt bar allen substanziellen Inhalts nicht das Subjekt als solches, das Subjekt in seiner radikalsten Form, das kartesische Cogito? Boulters Auffassung nach setzt das Trauma für Freud ein Subjekt voraus, dem es widerfährt und das es dann in eine Geschichte kleidet, um es im Prozess des Trauerns zu bewältigen. Im Falle des Beckett’schen Erzählers hingegen „besteht keine Hoffnung, dass er zwischen seiner eigenen gegenwärtigen Situation und dem Trauma, das deren Vorbedingung darstellt, einen Zusammenhang herstellen kann. Statt eine Geschichte zu haben, die ihm scheinbar unversehens geschenkt wird – wie im Falle des Traumaopfers, das seine Vergangenheit nicht als die eigene zu erkennen vermag –, kann der Beckett’sche Erzähler nur (ohne Hoffnung …) auf eine Geschichte hoffen, die seine gegenwärtige zeitlose […] Situation mit seiner Vergangenheit verknüpfen wird.“18 In radikalster Form besteht die Spaltung des Subjekts in seiner vollständigen Reduktion auf S/ (das ausgestrichene Subjekt), bei der ihm sogar seine eigene innerste Erfahrung von sich selbst genommen wird. Auf diese Weise sollte man Lacans Behauptung verstehen, das Subjekt sei grundsätzlich „dezentriert“, mit der er nicht darauf abhebt, dass meine subjektive Erfahrung von objektiven unbewussten Mechanismen gesteuert wird, die bezüglich meiner eigenen Erfahrung dezentriert und als solche meiner Kontrolle entzogen sind (diesen Punkt macht jeder Materialist geltend), sondern womit er etwas viel Beunruhigenderes meint – den Umstand nämlich, dass mir selbst noch meine intimste subjektive Erfahrung genommen ist, die Art, wie die Dinge „mir eigentlich erscheinen“, das Fundamentalphantasma, das den Kern meines Seins bildet und das es in seinem Kern garantiert, da ich es niemals bewusst erfahren und annehmen kann. Man sollte Boulters Frage, inwiefern Trauma und Trauer ein Subjekt voraussetzen, mit einer radikaleren Frage kontern: Inwiefern setzt ein Subjekt (beziehungsweise setzt dessen Entstehung selbst) Trauma und Trauer voraus?19 Das Urtrauma, das für das Subjekt konstitutive Trauma, ist genau die Kluft, die das Subjekt von seinem eigenen „Innenleben“ ausschließt.

Szenen aus einem glücklichen Leben Dieser innere und konstitutive Zusammenhang zwischen Trauma und Subjekt ist das Thema von Becketts zweifellos meisterhaftem Spätwerk Not I [dt. Nicht ich], einem zwanzigminütigen dramatischen Monolog, den er 1972 mit minimalen theatralischen Mitteln verfasste. Es gibt darin keine „Personen“, die Intersubjektivität ist auf ihr Grundgerüst reduziert, das den Sprechenden (der keine Person ist, sondern ein Partialobjekt, ein gesichtsloser sprechender Mund – gewissermaßen „ein körperloses Organ“20) und

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den Vernehmer, einen Zeugen des Monologs, der während des ganzen Stücks nichts sagt, umfasst; alles, was der Vernehmende tut, beschränkt sich darauf, dass er in „einer Geste hilflosen Mitleids“ (Beckett) viermal dieselbe simple Handlung ausführt und seine Arme zur Seite anhebt und wieder fallen lässt. (Als er gefragt wurde, ob der Vernehmer der Tod oder ein Schutzengel sei, zuckte Beckett mit den Schultern, hob seine Arme und ließ sie wieder sinken – womit er genau die Geste des Vernehmers wiederholte und die Unklarheit bestehen ließ.) Beckett hat selbst auf die Ähnlichkeiten verwiesen zwischen Nicht ich und dem Namenlosen mit seiner lautstark nach Ruhe verlangenden Stimme, dem kreisenden Erzählen und seiner Besorgtheit darum, das Pronomen der ersten Person zu meiden: „Ich werde nicht mehr ich sagen, ich werde es nie mehr sagen“.21 Insofern könnte man Vivian Merciers Einschätzung teilen, dass, abgesehen vom Geschlecht, Nicht ich eine Art dramatisierte Fassung von Der Namenlose darstellt22 – man sollte bloß hinzusetzen, dass das Reden in Nicht ich teilweise mit einer Minimalfigur des großen Anderen gekoppelt oder ergänzt wird. Natürlich hat die Beckett-Forschung ihre Arbeit gemacht und sich entsprechend bemüht, die empirischen Quellen der Symbolik des Stücks auszugraben. Beckett gab selbst den Hinweis auf die „alte Hexe“, betonte aber auch, wie belanglos dieser Bezug letztlich ist: „Ich habe diese Frau in Irland gekannt, ich wußte, wer sie war – nicht eine bestimmte ,sie‘ oder Frau, aber es gab so viele von diesen alten Weibern, die durch die Gassen schlurften, in den Gräben, die Knicks entlang. Irland ist voll von ihnen. Und ich hörte ,sie‘ sagen, was ich in Not I aufgeschrieben habe. Ich habe es tatsächlich gehört.“23 Auf diverse Nachfragen hin aber sagte Beckett: „Ich weiß weder, wo sie ist, noch, was sie da redete. Alles, was ich weiß, ist im Text. ,Sie‘ ist bloß ein Bühnenwesen, Teil der Bühnenvorstellung und Lieferantin eines Bühnentexts. Der Rest ist Ibsen.“24 Was die Reduktion des Sprecherkörpers auf ein Partialobjekt (Mund) betrifft, so verwies Beckett in einem auf den 30. April 1974 datierten Brief darauf, dass das visuelle Bild dieses Mundes „von Caravaggios Enthauptung Johannes des Täufers in der Kathedrale von La Valetta angeregt“ worden war.25 Die Figur des Vernehmers wiederum sei von dem Bild eines mit einer Dschellaba bekleideten „intensiven Zuhörers“ inspiriert gewesen, das sich Beckett in einem Café in Tunis geboten hatte. (Er ist im Februar und März 1972 in Nordafrika gewesen.) James Knowlsons Vermutung nach „verbindet sich diese Figur mit [Becketts] scharfen Erinnerungen an das Caravaggio-Gemälde“, das „eine alte Frau zu Salomes Linken [zeigt]. Sie verfolgt die Enthauptung mit Schrecken, wobei sie sich statt ihrer Augen die Ohren zuhält“ (eine Geste, die Beckett 1978 in die Pariser Produktion einfließen ließ).26

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Viel interessanter sind Becketts eigene Unsicherheiten und seine schwankende Haltung in Bezug auf den Vernehmer (der im Allgemeinen von einem Mann gespielt wird, obwohl das Geschlecht im Text nicht angegeben ist): Als Beckett in die Aufführung des Stücks einbezogen wurde, sah er sich nicht imstande, den Vernehmer an einer Stelle auf der Bühne zu platzieren, die ihm zusagte, und infolgedessen erlaubte er es, dass die Figur bei jenen Inszenierungen weggelassen wurde. Dennoch entschloss er sich nicht dazu, sie aus dem veröffentlichten Textbuch zu streichen, und überließ die Entscheidung über ihre Verwendung den einzelnen Regisseuren. 1986 schrieb er den US-amerikanischen Intendanten David Hunsberger und Linda Kendell: „Die Figur lässt sich sehr schwer auf die Bühne bringen (Licht/Position) und kann durchaus mehr schaden als nützen. Meiner Meinung nach braucht das Stück sie, aber ich kann auch auf sie verzichten. Ich habe noch nirgends gesehen, dass die Rolle effektiv funktioniert.“27 In die Pariser Aufführung von 1978 hatte Beckett die Figur wieder aufgenommen, von da ab hatte er jedoch auf sie verzichtet, und schließlich befand er, dass sie vielleicht „ein Irrtum der schöpferischen Einbildung“ war.28 Von Lacan aus gesehen lässt sich unschwer sagen, woher diese Schwierigkeiten rühren: Der Vernehmer stellt den großen Anderen dar, den Dritten, den idealen Adressaten-Zeugen, den Ort der Wahrheit, der die Botschaft des Sprechers empfängt und dadurch beglaubigt. Das Problem besteht darin, wie dieser strukturelle Ort als Figur in die Bildsprache der Bühne umgesetzt, in ihr materialisiert werden soll: Obwohl jedes Stück (oder sogar jedes Sprechen) ihn braucht, ist jede konkrete figurentechnische Umsetzung per definitionem ungeeignet, das heißt, dass die Figur auf der Bühne nicht „effektiv funktionieren“ kann. Die Grundkonstellation des Stücks bildet mithin der Dialog zwischen dem Subjekt und dem großen Anderen, während das Paar auf sein nötigstes Minimum reduziert ist: Der Andere ist ein stiller, ohnmächtiger Zeuge, der mit seinen Bemühungen, der Wahrheit des Gesagten als Medium zu dienen, scheitert, und das sprechende Subjekt selbst ist seines würdevollen „Personen“-Status beraubt und auf ein Partialobjekt reduziert. Und weil Bedeutung nur auf dem Umweg des gesprochenen Worts über einen konsistenten großen Anderen erzeugt wird, funktioniert das Sprechen selbst letztlich als vorsemantische Ebene und gestaltet sich als eine Serie von Ausbrüchen libidinöser Intensitäten. Zur Premiere im Lincoln Center wurde der Mund von Jessica Tendy gespielt, der Mutter aus Die Vögel von Hitchcock. Bei den Besprechungen des Stücks hatte Beckett ihr gegenüber darauf bestanden, dass es „auf die Nerven der Zuschauer und nicht auf ihren Verstand wirken“ soll, und Tandy den Rat gegeben, den Mund als „Ausstoßorgan ohne Intellekt“29 zu betrachten.

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Wohin führt uns dies mit Blick auf die übliche postmoderne Kritik des Dialogs, die dessen Ursprung bei Platon betont, bei dem es immer den einen gibt, der weiß (wenn auch nur, dass er nichts weiß) und der dem anderen (der vorgibt zu wissen) Fragen stellt, damit er zugibt, dass er nichts weiß? Demnach besteht in einem Dialog immer eine grundlegende Asymmetrie – und bricht diese Asymmetrie nicht in Platons späten Dialogen offen hervor, bei denen wir es nicht mehr mit Sokrates und seiner Ironie zu tun haben, sondern mit einer Person, die die ganze Zeit über spricht, wobei sie von ihrem Partner bloß hin und wieder mit „So ist es, beim Zeus!“, „Wie könnte es anders sein?“ und dergleichen unterbrochen wird. Für einen postmodernen Dekonstruktivisten ist es leicht, den gewaltsamen Zug selbst noch in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns nachzuweisen, die auf die Symmetrie der Partner in einem Dialog abstellt: Diese Symmetrie gründet sich darin, dass alle Parteien die rationalen Argumentationsregeln achten, aber sind diese Regeln tatsächlich so neutral wie behauptet? Sobald wir dies annehmen und radikal zu Ende denken – das heißt, den Begriff der „objektiven Wahrheit“ als Unterdrückungs- und Herrschaftsinstrument zurückweisen –, steht der postmoderne Weg dafür offen, was Lyotard le différend genannt hat. Danach gibt es in einem authentischen Dialog nicht den Druck, zu einer endgültigen Versöhnung oder Übereinstimmung zu gelangen, sondern den Druck, sich bloß mit der irreduziblen Differenz von Sichtweisen zu versöhnen, die sich keinem umgreifenden Allgemeinen unterordnen lassen. Oder, wie Rorty es ausdrückte, das Grundrecht jedes Einzelnen besteht darin, die Geschichte seiner Erfahrungen im Leben zu erzählen, und dabei vor allem die von Schmerz, Demütigung und Leiden. Allerdings ist wiederum klar, dass Menschen nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven sprechen, sondern dass diese Differenzen auch in unterschiedlichen Machtpositionen und Herrschaftskonstellationen gründen: Was bedeutet das Recht auf einen uneingeschränkten Dialog, wenn ich alles und vielleicht sogar mein Leben riskiere, falls ich auf bestimmte Themen zu sprechen komme? Oder noch schlimmer, wenn meine Beschwerden noch nicht einmal zurückgewiesen, sondern mit einem zynischen Lächeln abgetan werden? Der linksliberalen Haltung nach sollte speziell den Stimmen Nachdruck verliehen werden, die sich normalerweise kein Gehör verschaffen können, die in dem einschlägigen Bereich übergangen, unterdrückt oder gar verboten werden – denjenigen von sexuellen und religiösen Minderheiten und anderen. Doch ist dies nicht allzu formal und abstrakt? Die eigentliche Schwierigkeit besteht in der Frage, wie sich Bedingungen für einen wirklich gleichberechtigten Dialog herstellen lassen. Ist dies tatsächlich auf eine „dialogische“, achtungsvolle Weise mög-

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lich, oder bedarf es dazu einer Art Gegengewalt? Außerdem ist es fraglich, ob die Vorstellung einer (nicht naiv-„objektiven“, sondern) allgemeingültigen Wahrheit tatsächlich per definitionem ein Instrument der Unterdrückung und Beherrschung darstellt. Im Deutschland der 1940er-Jahre etwa war die jüdische Leidensgeschichte nicht einfach die Sichtweise einer unterdrückten Minderheit, die hätte gehört werden müssen, sondern eine Klage, dessen Wahrheit auf eine gewisse Art allgemeingültig war, das heißt, die das Unrechte und Falsche an der gesellschaftlichen Gesamtsituation sichtbar machte. Gibt es einen Ausweg aus diesem Problem? Was ist mit dem dialogischen Ablauf der psychoanalytischen Sitzung, der die Koordinaten des späten platonischen Dialogs seltsamerweise umkehrt? Wie in dessen Fall, so gibt es auch hier einen (den Patienten), der fast die ganze Zeit spricht, während der andere ihn nur gelegentlich unterbricht, wobei dieses Eingreifen eher diakritischer Art ist und die richtige Skandierung des Gesagten geltend macht. Und wie aus der Freud’schen Theorie bekannt, ist der Analytiker hier nicht derjenige, der bereits im Besitz der Wahrheit ist und den Patienten bloß klug und verständig dahin führt, sie selber zu erkennen: Der Analytiker besitzt und kennt sie gerade nicht; sein Wissen ist die von der Übertragung bewirkte Täuschung, die am Ende der Behandlung sinken musste. Und lässt sich bezüglich der Dynamik des psychoanalytischen Prozesses nicht sagen, dass Becketts Stück da anfängt, wo dieser aufhört: Es gilt nicht länger, dass der große Andere irgendetwas weiß; es gibt keine Übertragung und somit ist die „subjektive Destitution“ schon vollzogen. Heißt das jedoch, da wir das Ende bereits erreicht haben, dass keine innere Dynamik, kein radikaler Umschwung mehr möglich ist – was dann praktischerweise auch den Anschein der Kreisbewegung in diesem (und in anderen) Stück(en) von Beckett erklären würde? Bei genauerer Betrachtung des Erzählinhalts des Stücks, dessen, was während dieses 21 Minuten langen Monologs mitgeteilt wird, scheint sich diese Diagnose zu bestätigen: Der Mund gibt in wildem Tempo einen Redeschwall von bruchstückhaften, ungeordneten Sätzen von sich, die mittelbar die Geschichte einer etwa siebzigjährigen Frau erzählen, die – nachdem sie von ihren Eltern nach einer zu frühen Geburt verstoßen worden war – eine mechanische Existenz ohne Liebe lebte und etwas Traumatisches erlebt zu haben scheint, das nicht näher bezeichnet wird. Die Frau war – von gelegentlichen Ausbrüchen im Winter abgesehen – praktisch sprachlos, und der Text, den wir hören, besteht aus einem Teil dieser Ausbrüche, in dem sie vier Geschehnisse aus ihrem Leben miteinander verknüpft: Sie liegt im April auf einem Feld mit dem Gesicht nach unten im Gras; sie steht in einem Einkaufszentrum; sie sitzt auf einem

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„kleinen Hügel auf Croker’s Acker“ (einem wirklichen Ort in Irland nahe der Pferderennbahn Leopardstown); und „jene Zeit vor Gericht“. Jedes der drei letzten Geschehnisse verbindet sich irgendwie mit dem unterdrückten ersten „Vorfall“, der mit einer Offenbarung verglichen wird – was auch immer ihr auf diesem Feld im April geschehen ist, es war der Auslöser dafür, dass sie zu sprechen begann. In ihrer ersten Reaktion auf dieses lähmende Ereignis glaubte sie an eine Strafe Gottes; diese aber ging merkwürdigerweise mit keinem Leiden einher – sie empfindet keinen Schmerz, da sie in ihrem Leben keine Freude gekannt hat. Sie kann sich nicht denken, warum sie möglicherweise bestraft wird, akzeptiert aber, dass Gott für das, was er tut, keinen „besonderen Grund“ braucht. Sie glaubt, sie habe etwas zu sagen, wenn sie auch nicht weiß, was. Dennoch ist sie überzeugt davon, dass sie auf diese eine Sache stoßen wird, für die sie Vergebung sucht, wenn sie die Ereignisse ihres Lebens nur lange genug durchgeht; allerdings stellt sich in ihrem Schädel jedes Mal ein kontinuierliches Sausen ohne Gegenstand und frei von Sprache ein, wenn sie dem Kern ihrer traumatischen Erfahrung zu nahe kommt. Das erste Axiom der Interpretation dieser Stelle besteht nicht darin, sie auf ihre vordergründige zyklusartige Natur zu reduzieren (unaufhörliche Wiederholungen und Variationen der gleichen Bruchstücke, die nicht zum Kern der Sache kommen können) und das verworrene Gebrabbel der „alten Hexe“ nachzuahmen, die zu senil ist, um auf den Punkt zu kommen: Eine eingehende Lektüre macht deutlich, dass es kurz vor Ende des Stücks tatsächlich zu einem entscheidenden Bruch kommt, einer Entscheidung, einer Veränderung im Subjektivitätsmodus. Diese Veränderung wird durch ein entscheidendes Detail signalisiert: In dem letzten (fünften) Moment der Pause, tritt der Vernehmer nicht mit seiner stummen Geste dazwischen – sein „hilfloses Mitleid“ hat seinen Grund verloren. Dies sind die fünf Momente der Pause: 1. „all das frühe Morgenlicht … und sie war auf einmal im … was? … wer? … nein! … sie!“ Pause und Bewegung I 2. „das Sausen? … ja … alles totenstill außer dem Sausen … als sie plötzlich bemerkte … daß Worte gerade … was? … wer? … nein! … sie!“ Pause und Bewegung II 3. „irgendwas das sie – … irgendwas das sie genötigt war zu – … was? … wer? … nein! … sie!“ Pause und Bewegung III 4. „nun gut … nichts was sie erzählen konnte … nichts was sie denken konnte … nichts was sie … was? … wer? … nein! … sie!“ Pause und Bewegung IV

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5. „weitermachen … nicht wissend was … was sie gerade – … was? … wer? … nein! … SIE! Pause …was sie gerade versuchte … was sie versuchen sollte … egal … weitermachen“ Vorhang beginnt sich zu senken30 Beachten wir hier die drei entscheidenden Veränderungen. Erstens: Die übliche, immer gleiche Wortabfolge, die der Pause mit der hilflosen Mitleidsregung des Vernehmers vorausgeht („was? … wer? … nein! … sie! …“), wird hier durch ein wiederholtes, großgeschriebenes „SIE“ ergänzt. Zweitens: In der Pause gibt es keine Bewegung des Vernehmers. Drittens: Auf sie folgt nicht die gleiche Art verworrener Abschweifung wie in den vorigen vier Fällen, sondern die abgewandelte Version von Becketts paradigmatisch-ethischer Durchhaltedevise („egal … weitermachen“). Somit hängt das Verständnis des ganzen Stücks an der Deutung dieser Verschiebung: Signalisiert sie eine einfache (oder nicht so einfache) Geste, durch welche die Sprechende (der Mund) schließlich ihre Subjektivität annimmt, sich selbst als SIE (oder vielmehr als Ich) behauptet und die durch das Sausen in ihrem Kopf angezeigte Blockade überwindet? Anders gefragt: Wenn der Titel des Stücks vom wiederholten Beharren des weiblichen Mundes herrührt, dass die Ereignisse, die er beschreibt oder auf die er anspielt, nicht ihm geschehen (und dass er sie folglich nicht in der ersten Person anzunehmen vermag) – deutet die fünfte Pause dann auf die Negation des Stücktitels hin, auf die Umwandlung von „nicht ich“ in „ich“? Oder gibt es eine überzeugende Alternative zu dieser traditionell-humanistischen Lesart, die dem ganzen Geist des Beckett’schen Universums so offensichtlich zuwiderläuft? Ja, die gibt es – unter der Bedingung, dass wir auch das vorherrschende Klischee von Beckett als dem Urheber des „Absurden Theaters“ radikal aufgeben, der den Verzicht auf jeden metaphysischen Sinn predigt (Godot wird nie kommen), die Resignation gegenüber der endlos in sich selbst kreisenden Selbstreproduktion bedeutungsloser Rituale (die Unsinnsreime in Warten auf Godot). Dies impliziert freilich keineswegs, dass wir der „Absurdes Theater“Deutung von Beckett ihr nicht weniger vereinfachtes optimistisches Spiegelbild entgegenhalten sollten; vielleicht kann uns die Parallele zu „Der Leiermann“, dem Lied, das Schuberts Winterreise beschließt, ein wenig weiterhelfen. „Der Leiermann“ weist eine Spannung zwischen Form und Aussage auf. Auszusagen scheint es die vollkommene Verzweiflung des verlassenen Geliebten, der am Ende alle Hoffnung verloren hat, ja sogar die Fähigkeit zu Trauer und Verzweiflung selbst, und sich mit dem Mann identifiziert, der auf der Straße seine Musikmaschine bedient. Dennoch lässt

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sich dieses letzte Lied als Zeichen einer bevorstehenden Erlösung begreifen, wie zahlreiche klarsichtige Kommentatoren vermerkten: Während alle anderen Lieder das innere Brüten des Helden darstellen, wendet er sich hier zum ersten Mal nach außen und begründet einen minimalen Kontakt, eine nachdrückliche Identifikation mit einem anderen menschlichen Wesen, auch wenn es sich bei diesem Menschen um einen anderen verzweifelten Verlierer handelt, der nicht einmal mehr zu trauern vermag und darauf reduziert ist, blinde mechanische Gesten auszuführen. Geschieht nicht etwas Ähnliches bei der letzten Verschiebung von Nicht ich? Auf der Inhaltsebene lässt sich diese Verschiebung als letztliches Scheitern sowohl der Sprecherin (des Mundes) als auch des großen Anderen (des Vernehmers) verstehen: Wenn der Mund den minimalen inhaltlichen Faden verliert und auf die minimalistische Aufforderung reduziert wird, dass die sinn- und bedeutungslose Aufblähung weitergehen muss („weitermachen … nicht wissend was“), verzweifelt der Vernehmende und verzichtet selbst noch auf die leere Geste hilflosen Mitleids. Es gibt jedoch die gegenteilige Lesart, die sich auf der Ebene der Form aufdrängt: Der Mund tritt als reines Subjekt (als dessen reine Form) hervor, das jedes substanziellen Inhalts beraubt ist (der Tiefe der Persönlichkeit und so weiter), und kraft dieser Reduktion ist auch der Andere entpsychologisiert, auf einen leeren Empfänger reduziert, jedes affektiven Inhalts beraubt (des „Mitleids“ und so weiter). Wir gelangen, um mit Malewitschs Worten zu spielen, auf die Nullebene der Kommunikation – das Ende des Stücks könnte es im Untertitel auch „Weißes Rauschen vor dem Hintergrund regloser Stille“ heißen … Worin aber besteht dann die Verschiebung? Wir sollten uns dieser über ihr Gegenstück nähern, das traumatische X, das der Redeschwall des Mundes zirkulieren lässt. Was ist der Frau also auf dem Feld im April widerfahren? Handelte es sich bei ihrem traumatischen Erlebnis um eine brutale Vergewaltigung? Als man ihn danach fragte, wies Beckett eine solche Deutung unmissverständlich zurück: „Wie können Sie so etwas denken? Nein, nein, überhaupt nicht – das war es überhaupt nicht.“31 Wir sollten diese Äußerung nicht ironisch auffassen, sondern wörtlich nehmen – in jenem schicksalhaften April erlitt die Frau „beim Umherschweifen auf einem Feld … ziellos nach Schlüsselblumen suchend“ eine Art Zusammenbruch, vielleicht machte sie sogar eine Todeserfahrung – wobei sie definitiv nicht wirklich davor stand zu sterben, sondern ein unerträglich intensives „inneres Erlebnis“ hatte, ganz ähnlich dem Ereignis, das C. S. Lewis in seinem Buch Surprised by Joy (dt. Überrascht von Freude) als den Augenblick seiner religiösen Wahl bezeichnete. Was diese letztgenannte Darstellung so unwiderstehlich köstlich macht, ist der von Skepsis und Sachlichkeit ge-

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prägte „englische“ Stil des Autors, der nichts gemein hat mit den üblichen pathetischen Erzählungen von mystischer Verzückung. Lewis spricht von der Erfahrung als dem „Merkwürdigen“; er erwähnt ihren gewöhnlichen Schauplatz – „Ich fuhr oben auf einem Bus den Headington Hill hinauf “ –, nimmt Einschränkungen vor wie „in einem gewissen Sinne“, „was heute wie … erscheint“, „oder, wenn Sie so wollen“, „Sie könnten einwenden …, doch ich neige eher zu der Auffassung …“, „vielleicht“, „ich mochte das Gefühl nicht besonders“. Das Merkwürdige war, daß ich, bevor Gott mich einholte, sogar etwas geboten bekam, was heute wie ein Moment der vollkommen freien Wahl erscheint. In einem gewissen Sinne jedenfalls. Ich fuhr oben auf einem Bus den Headington Hill hinauf. Ohne Worte und (ich glaube) beinahe ohne Bilder wurde mir irgendwie eine Tatsache über mich selbst präsentiert. Mir wurde bewußt, daß ich etwas auf Abstand hielt oder etwas aussperrte. Oder, wenn Sie so wollen, daß ich irgendeine steife Kleidung trug, wie ein Korsett oder gar eine Rüstung, als wäre ich ein Hummer. Ich spürte, wie mir dort und in diesem Moment eine freie Wahl angeboten wurde. Ich konnte die Tür öffnen oder verschlossen lassen; ich konnte die Rüstung anbehalten oder ablegen. Keine der Alternativen wurde mir als Pflicht dargestellt; und an keine waren Drohungen oder Verheißungen geknüpft, obwohl ich wußte, daß ich mich auf etwas Unberechenbares einließ, wenn ich die Tür öffnete und das Korsett abnahm. Die Wahl schien von tiefgreifender Bedeutung zu sein, doch sie war gleichzeitig auch merkwürdig emotionslos. Ich wurde nicht von Wünschen oder Ängsten getrieben. In gewissem Sinne wurde ich von gar nichts getrieben. Ich entschied mich, aufzumachen, die Rüstung abzulegen, den Zügel zu lockern. Ich sage „Ich entschied mich“, doch es schien eigentlich gar nicht möglich zu sein, das Gegenteil zu tun. Auf der anderen Seite waren mir keinerlei Motive bewusst. Sie könnten einwenden, daß ich hier nicht frei handeln konnte, doch ich neige eher zu der Auffassung, daß dies einer vollkommen freien Entscheidung ähnlicher war als das meiste andere, das ich je getan habe. Notwendigkeit ist vielleicht nicht das Gegenteil der Freiheit, und vielleicht ist ein Mensch am freiesten dann, wenn er, statt Motive vorzubringen, nur sagen kann: „Ich bin, was ich tue.“ Dann kam die Erschütterung auf der imaginativen Ebene. Ich fühlte mich wie ein Schneemann, der endlich zu schmelzen beginnt. Die Schmelze begann in meinem Rücken – zuerst tropf-tropf und dann plötzlich plätscher-plätscher. Ich mochte das Gefühl nicht besonders.32

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Hier ist sozusagen alles da: Die Entscheidung ist rein formal, letzten Endes eine Entscheidung, sich zu entscheiden, ohne klares Bewusstsein auf Seiten des Subjekts, worüber es entscheidet; sie stellt einen unpsychologischen und unemotionalen Akt dar, der mit keinen Beweggründen, Wünschen oder Ängsten verbunden ist; sie ist nicht berechenbar und resultiert nicht aus strategischer Argumentation; sie ist ein vollkommen freier Akt, auch wenn man gar nicht anders handeln konnte. Dieser reine Akt wird erst im Nachhinein „subjektiviert“, in eine (ziemlich unangenehme) psychische Erfahrung übersetzt. Aus Lacan’scher Sicht gibt es nur einen Aspekt, der an Lewis’ Formulierung möglicherweise problematisch ist: Das traumatische Ereignis (die Begegnung mit dem Realen, die Einwirkung der „minimalen Differenz“) hat nichts zu tun mit der mystischen Aufhebung der Bindungen, die uns an die alltägliche Wirklichkeit fesseln, mit dem Erreichen des Glückszustands radikaler Gleichgültigkeit, in dem es nicht mehr auf Leben oder Tod ankommt und andere weltliche Unterscheidungen keine Rolle mehr spielen, in dem Subjekt und Objekt, Denken und Handeln zusammenfallen und vollkommen eins sind. In der Sprache der Mystik ist der Lacan’sche Akt vielmehr das genaue Gegenteil dieser „Rückkehr zur Unschuld“: die Ursünde selbst, die abgrundtiefe Störung des uranfänglichen Friedens, die „pathologische“ Urentscheidung zur Bindung an irgendein einzelnes Objekt (wie das Sichverlieben in einen Einzelnen, der einem danach mehr bedeutet als jeder andere Mensch). Und geschieht auf dem Gras in Nicht ich nicht genauso etwas? (Das Sündige des Traumas zeigt sich daran, dass die Sprechende sich von Gott gestraft fühlt.) Bei der letzten Verschiebung des Stücks dann nimmt die Sprechende das Trauma in seiner Bedeutungslosigkeit an, hört auf, nach seiner Bedeutung zu suchen, stellt gleichsam seine außersymbolische Würde wieder her und macht sich auf diese Weise von der ganzen Sünden- und Strafproblematik los. Aus diesem Grund reagiert der Vernehmer nicht mehr mit der Geste ohnmächtigen Mitleids: Es ist keine Verzweiflung mehr in der Stimme des Mundes, die Beckett’sche Standardformulierung der Triebbeständigkeit wird angeführt („egal … weitermachen“), Gott ist nunmehr und erst jetzt wahre Liebe – nicht der geliebte oder liebende Eine, sondern die Liebe selbst, die Liebe, die alles am Laufen hält. Selbst nach dem Verlust jedes Inhalts, an diesem Punkt absoluter Reduktion, drängt sich Galileis abschließendes Wort auf: eppur si muove. Dies heißt jedoch keineswegs, dass das Trauma letztlich subjektiviert wird, dass die Sprechende nun nicht mehr „nicht ich“, sondern „SIE“ ist, ein vollständiges Subjekt, das sein Wort anzunehmen vermag. Hier geschieht etwas viel Frappierenderes: Der Mund ist erst jetzt vollständig als Subjekt destituiert – im Moment der fünften Pause nimmt das Subjekt, das spricht,

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seine Identität mit dem Mund als Partialobjekt vollständig an. Was hier geschieht, ähnelt strukturell einer der am meisten verstörenden Fernsehfolgen der Serie Alfred Hitchcock Presents, nämlich „The Glass Eye“ (der ersten Folge des dritten Jahres). Jessica Tandy (genau wieder die Schauspielerin, die der Originalmund bei Beckett war!) spielt darin eine einsame Frau, die sich in einen gutaussehenden Bauchredner, Max Collodi (eine Namensreferenz an den Autor von Pinocchio), verguckt. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und sucht ihn alleine in seiner Unterkunft auf. Nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hat, geht sie auf ihn zu, um ihn zu umarmen, muss dann aber feststellen, dass sie nur einen hölzernen Puppenkopf in Händen hält, und weicht entsetzt zurück. Daraufhin erhebt sich die „Puppe“ und zieht ihre Maske herunter, und wir sehen das Gesicht eines traurigen alten Zwergs, der verzweifelt auf dem Tisch herumzuspringen beginnt und die Frau bittet, zu gehen … Der Bauchredner ist in Wirklichkeit die Puppe, während die scheußliche Puppe der eigentliche Bauchredner ist. Haben wir es hier nicht mit der perfekten Darstellung eines „körperlosen Organs“ zu tun? Es ist das ablösbare „tote“ Organ, das Partialobjekt, das wirklich lebendig ist, und die „reale“ Person ist seine tote Puppe: Die „reale“ Person ist lediglich am Leben, eine Überlebensmaschine, ein „menschliches Tier“, während sich in der scheinbar „toten“ Ergänzung das überbordende Leben konzentriert.

Teil III

Die Disparität des Guten: Hin zu einer materialistischen negativen Theologie

7 Die Widerwärtigkeiten einer Hyäne: Autorität, Kostümierung und Freundschaft Warum Heidegger nicht kriminalisiert werden sollte Eines der Zeichen für die ideologische Rückwärtsbewegung unserer Zeit ist die fordernde Bitte der neuen europäischen Rechten um eine „ausgewogenere“ Sicht auf die beiden Formen des „Extremismus“, den rechtsgerichteten und den linksgerichteten: Wir bekommen immer wieder zu hören, dass die äußerste Linke (der Kommunismus) genauso behandelt werden sollte, wie Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die äußerste Rechte (den geschlagenen Faschismus und Nazismus) behandelte. Genauer besehen, ist diese neue „Ausgewogenheit“ außerordentlich unausgewogen: Die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus bevorzugt den Faschismus insgeheim, wie sich aus einer Reihe von Argumenten ersehen lässt, deren wichtigstem zufolge der Faschismus den Kommunismus, der zuerst da war, nachgeahmt hat. (Bevor er zum Faschisten wurde, sei Mussolini ein Sozialist gewesen und selbst Hitler war doch Nationalsozialist; in der Sowjetunion habe es ein Jahrzehnt vor den Nazis bereits Konzentrationslager und genozidale Gewalt gegeben; die Vernichtung der Juden besitze in der Vernichtung des Klassenfeindes einen eindeutigen Präzedenzfall und so weiter). Diese Argumentation will sagen, dass ein gemäßigter Faschismus eine gerechtfertigte Reaktion auf die kommunistische Bedrohung darstellte (genauso argumentierte einst Ernst Nolte bei seiner Verteidigung von Heideggers NS-Engagement von 1933). In Slowenien tritt die Rechte für die Rehabilitierung der antikommunistischen „Bürgerwehr“ ein, die während des Zweiten Weltkriegs die Partisanen bekämpfte: Ihre Mitglieder hätten sich dazu durchgerungen, mit den Nazis zusammenzuarbeiten, um das viel größere Übel abzuwenden, das absolut Böse des Kommunismus. Dasselbe ließe sich für die Nazis (oder zumindest die Faschisten) selbst sagen: Was sie taten, taten sie zur Verhinderung des absolut Bösen des Kommunismus.1 Das eigentlich Traurige ist jedoch, dass ein Teil der liberalen Linken in ihrem ewigen Kampf gegen die „Französische Theorie“ eine ähnliche Strategie verfolgt: Jürgen Habermas äußerte in Bezug auf die Davoser Auseinandersetzung zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger von 1929, dass wir die verbreitete Auffassung, der zufolge Heidegger der klare Sieger war, überdenken sollten: Für Habermas stellte Heideggers Sieg weniger einen genuin philosophischen Sieg dar als vielmehr das Signal einer Verschiebung vom liberalen aufgeklärten Humanismus zum dunklen auto-

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ritären Irrationalismus. Cassirer war im Grunde eine Figur wie Habermas: Sein Denken ist einfach nicht stark genug, um die Schrecken, von denen Europa bedroht ist (seinerzeit den Faschismus), erfassen zu können. Und darum sucht man auch bei Habermas vergeblich nach einer noch so rudimentären Theorie des Scheiterns des Kommunismus im 20. Jahrhundert, der im Stalinismus seinen Höhepunkt erreichte. (Wäre das, was man vom Nachkriegsdeutschland weiß, auf die Texte von Habermas beschränkt, könnte man nie vermuten, dass es zwei Deutschlands gegeben hat, die BRD und die DDR …) Bei Habermas und seinen Anhänger (wie Richard Wolin) scheint es, als seien Deleuze, Lacan, Bataille sämtlich protofaschistische Irrationalisten gewesen. Ihnen sind selbst Adorno und Benjamin nicht geheuer, die dem mystischen „Irrationalismus“ ihrer Ansicht nach häufig zu nahe kommen, gar nicht zu reden von Figuren wie Rosenzweig, der von einem jüdischen Standpunkt aus Heidegger’sche Motive übernommen hat. Die Habermasianer begehen hier denselben Fehler wie jene Denker, die die Freud’sche Psychoanalyse, die ja eine Theorie über das irrationale Fundament der menschlichen Psyche ist, als in sich irrationalistisch abtun. 2014 kam es mit der Veröffentlichung der ersten Bände von Heideggers Schwarze Hefte – den handschriftlichen Notizen seiner vertraulichen Reflexionen von 1931 bis in die frühen 1960er-Jahre, die angeblich seinen Antisemitismus und ebenso seine anhaltende Treue dem Vorhaben der Nazis gegenüber bezeugen – zu einem neuen Skandal um seine Person.2 (Heidegger selbst hatte vorgesehen, dass diese Notizen zum Abschluss der Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht werden sollten, was sich entweder als Demonstration freimütiger Offenheit oder als Zeichen seines hartnäckigen Bekenntnisses zu seinen NS-freundlichen Ansichten deuten lässt.) In Wahrheit verhalten sich die Dinge etwas komplizierter. Wie sich den Bänden entnehmen lässt, hegte Heidegger nach 1934 tatsächlich immer mehr Zweifel an Hitler und dem NS-Regime; allerdings hatte sein wachsender Zweifel genau genommen die Form der Beschuldigung des Gegners. Heidegger machte Hitler nicht die nationalsozialistische Einstellung als solche zum Vorwurf, sondern dass auch die Nazis der technologisch-nihilistischen Machenschaft* nachgaben und sich so Amerika, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion anglichen, die darum immer schuldiger waren: „[A]lle gut gemeinte Ausgrabung früheren Volksgutes, alle biedere Pflege des Brauchtums, alles Besingen von Landschaft und Boden, alle Verherrlichung des ,Blutes‘ [ist] nur Vordergrund und Vorwand und zwar notwendig, um das, was eigentlich und allein ist, * Im Original deutsch.

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die unbedingte Herrschaft der Mach-schaft der Zerstörung […] zu verhüllen“.3 Heideggers Kritik am Nazismus ist demnach eine Kritik am real existierenden Nazismus um dessen „innerer metaphysischer Größe“ (das Versprechen, den modernen Nihilismus zu überwinden) willen. Seine wachsenden Vorbehalte gegenüber dem NS-Regime haben zudem nichts mit der letztlichen Zurückweisung von dessen mörderischer Brutalität zu tun; weit davon entfernt, den Barbarismus des Nationalsozialismus zu leugnen, macht Heidegger dessen eigentliche Größe genau darin aus: „Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe. Die Gefahr ist nicht er selbst – sondern daß er verharmlost wird in eine Predigt des Wahren, Guten und Schönen“.4 (Die gleiche Debatte wurde zu Beginn der Moderne geführt, als Erasmus von Rotterdam, der mehrere Sprachen beherrschende katholische Humanist der Renaissance, Luther barbarischen Primitivismus vorwarf – mit Recht, dennoch öffnete der von Luther vollzogene Bruch den Raum für die Moderne.) Zweiter Punkt: Obwohl der Antisemitismus bei Heidegger noch über seine Ernüchterung gegenüber dem Nazismus hinaus fortbestand, gilt es zu beachten, dass er in seinem Denken keine zentrale Rolle spielte, sondern verhältnismäßig marginal blieb. Er illustriert oder exemplifiziert ein zentrales Schema, das auch ohne ihn auskommt. Doch selbst wenn sich Heideggers Schema vom wachsenden Nihilismus des Westens ohne Weiteres neu schreiben lässt, ohne dass man die Juden auch nur erwähnt, heißt das nicht, dass das Judentum lediglich ein irreführendes Beispiel für eine bestimmte Geisteshaltung abgibt; Exemplifikationen dieser Art sind nie neutral oder unschuldig. Schließlich kann man dasselbe über Hitler sagen: Ist die nationalsozialistische Figur des Juden nicht bloß eine Exemplifikation des kapitalistischen Geistes von uneigentlicher Gewinnmaximierung und Manipulation? In beiden Fällen färbt das „Beispiel“ dasjenige irreduzibel ein, wofür es als Beispiel dient. Richtig ist, dass sich aus Heideggers verstreuten Bemerkungen eine konsistente „Theorie“ über die Juden rekonstruieren lässt. Zunächst einmal führt er die altbekannte Operation durch, mit der er den primitiven biologischen Rassismus zurückweist. Demnach ist die Frage des Weltjudentums keine biologische Rassenfrage, sondern die metaphysische Frage nach der Beschaffenheit des Menschen, der die Entwurzelung alles Seienden vom Sein uneingeschränkt als seine weltgeschichtliche „Aufgabe“ zu übernehmen vermag. Der europäische Nihilismus, unsere Seinsvergessenheit, kulminiert in der modernen Machenschaft*, die eine „vollständige Entras* Im Original deutsch.

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sung“ betreibt, mit der „eine Selbstentfremdung der Völker in eins [geht]“5. Und der Machtanstieg des zeitgenössischen Judentums hat seinen „Grund darin, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ,Geist‘ verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus fassen zu können“6. Das „Weltjudentum“ verkörpert demnach die technologische Zersetzung des Seins in seiner Totalität, weshalb es wichtig „zu fragen wäre“, wie Heidegger in einem einschlägigen Text feststellt, „worin die eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet“7 ist. (Und weil dieser „jüdischen Weltlosigkeit“, der mangelnden Verwurzelung in einem Boden**, durch das Bemühen der israelischen Regierung entgegengewirkt wird, Israel zu einer richtigen Heimat* für das jüdische Volk zu machen, würde das heutige Israel im Übrigen Heideggers volle Zustimmung finden als ein Versuch, das Judentum zu entkriminalisieren …) Was ist aber mit dem Holocaust? Hier wird es wirklich düster. 1942 hielt Heidegger bezüglich der Juden fest: „Die höchste Art und der höchste Akt der Politik bestehen darin, den Gegner in eine Lage hineinzuspielen, in der er dazu gezwungen ist, zu seiner eigenen Selbstvernichtung zu schreiten.“8 In diesem Sinne muss die Auslöschung der europäischen Juden auf obszön Hegel’sche Weise als Akt der jüdischen Selbstvernichtung verstanden werden, da die Juden – als treibende Kraft hinter der „Machenschaft“ und der technologischen Verheerung alles Seins – in Auschwitz und anderen Todeslagern selber dem industrialisierten Massenmord zum Opfer fielen. Somit sind die europäischen Juden bloß Kräften zum Opfer gefallen, die sie selbst entfesselt hatten, oder, wie Heidegger im Band 4 der Schwarzen Hefte ausführt: „Wenn erst das wesenhaft ,Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht.“9 Kurz gesagt, haben die Nazis, indem sie die technologische Vernichtung der Juden ins Werk setzen, lediglich die „im Kern jüdische“ Haltung der Machenschaft gegen die empirischen Juden selbst gewendet. (Einem alten Klischee folgend behauptet Heidegger, dass die Juden lieber im Verborgenen bleiben, hinter den Kulissen Einfluss auf das Geschehen nehmen und es den anderen Nationen und speziell den Deutschen überlassen, ihr Blut in realen Kämpfen zu vergießen.)

* Im Original deutsch.

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Wodurch sich in Heideggers Denkgebäude der Raum für die Wende zum Nationalsozialismus auftat, lässt sich relativ leicht ausmachen. In Sein und Zeit liegt der Fokus auf der eigentlichen Existenz des Einzelnen mit ihrer Struktur des Seins zum Tode. Nur oberflächlich berührt das Buch die Frage, wie sich die Analyse auf gemeinschaftliche Seinsweisen ausweiten lässt, das heißt, wie ein gemeinschaftliches eigentliches Sein jenseits des aus dem anonymen „man“ folgenden uneigentlichen „Man“* zu denken sei. Dies ist der Punkt, an dem Heidegger „einen falschen Weg einschlägt“, wenn er die heroische Annahme der eigenen historischen Bestimmung als einzige Ausbruchsmöglichkeit aus dem „Man“ postuliert. Das heißt allerdings auch, dass sich sein Gedankengebäude nicht auf irgendeinen nationalsozialistischen Kern reduzieren lässt – es wäre absurd, linke Heideggerianer wie Caputo und Vattimo als heimliche Faschisten oder als Fälle schlichter Fehldeutung abzutun: Heideggers Gedankengebäude ist genuin „unentscheidbar“ und lässt mithin unterschiedliche politische Lesarten zu. Es gibt sogar einige schwarze Aktivisten in den Vereinigten Staaten und in Afrika, die in ihrer Reaktion auf den Skandal um die Schwarzen Hefte nachdrücklich betonten, dass ihnen der Bezug auf Heidegger dabei geholfen hat, ihren Widerstand gegen den globalen Kapitalismus und seine ideologische Vormachtstellung zu formulieren. Die fortgesetzten Angriffe auf Heidegger zielen genau darauf ab, diese Unentscheidbarkeit zu beenden. Sie wollen nicht nur den Nachweis dafür erbringen, dass Heideggers Denken in seinem eigentlichen Kern nazistisch ist (eine „Einführung des Nazismus in die Philosophie“, wie es im Untertitel von Emmanuel Fayes Buch über Heidegger heißt), sondern auch erreichen, dass der Schatten desselben Verdachts auf all jene fällt, die von ihm beeinflusst wurden. Markus Gabriel beschließt seinen Kommentar zu den Schwarzen Heften wie folgt: Und doch, es bleibt dabei: Die historisch-kritische Heidegger-Forschung kann jetzt erst eigentlich einsetzen. Wir haben nun den Abstand, den es dazu braucht, und wir haben überhaupt erst die Texte. Außerdem wäre da noch Heideggers enorme Wirkungsgeschichte, der wir uns stellen müssen. Kaum ein Zweiter hat mit seiner Arbeit die Philosophie weltweit seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mehr beeinflusst – wider Willen vor allem den Existenzialismus, die Dekonstruktion, Psychoanalyse und die logisch geschulte Ontologie. Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen.10

* Im Original deutsch.

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Wir dürfen also unsere Augen nicht verschließen – aber wovor genau? Vor diesem Nazi-Schatten, der ebenso auf die meisten Linksheideggerianer fällt … Diese alte Geschichte begann in den 1980er-Jahren, als man in den Vereinigten Staaten (neben anderen) Lacan für seine angeblichen faschistischen Verbindungen angegriffen hat und die Dekonstruktion als Rechtfertigung für die französische Kollaboration denunziert wurde. Es kann sein, dass uns dies zu dem bringt, worum es bei den fortgesetzten Angriffen auf Heidegger wirklich geht, nämlich, sich der „Französische Theorie“-Linken zu entledigen, indem man sie in Sippenhaft nimmt. Das eigentliche Zielobjekt ist dabei jedoch eine Tendenz innerhalb der Kritischen Theorie selbst, und zwar der als „Dialektik der Aufklärung“ bezeichnete Theoriekomplex mit seiner Grundannahme, dass es sich bei den Gräueln des 20. Jahrhunderts (Holocaust, Konzentrationslager und so weiter) nicht um Überreste einer grausamen Vergangenheit handelt, sondern um das Resultat des dem Aufklärungsprojekt immanenten Antagonismus. Habermasianer halten eine solche Annahme für falsch. Ihrer Auffassung nach stehen die Gräuel des 20. Jahrhunderts in keinem immanenten Zusammenhang mit dem Projekt der Aufklärung, sondern lassen vielmehr erkennen, dass dieses Projekt unvollendet ist. (Im Übrigen stellen auch Adorno und Horkheimer heraus, dass die einzige Möglichkeit, wieder Bewegung in die festgefahrene Aufklärung zu bringen, darin besteht, sie weiterzutreiben und auf genau die verfahrenen und ausweglos scheinenden Situationen auszuweiten.) Wir sollten hier einen Schritt weitergehen und in diesem Gegensatz zwischen Aufklärung als unvollendetem Projekt und Dialektik der Aufklärung den Gegensatz zwischen Kant und Hegel erkennen: zwischen dem Kant’schen Fortschritt und der Hegel’schen Dialektik der immanenten Antagonismen. Gegen die ständigen Forderungen, Heideggers Denken glattweg als kriminell einzustufen und umstandslos aus dem akademischen Kanon zu streichen, sollte man darauf bestehen, dass er ein wirklich klassischer Philosoph ist. Es ist leicht, sein Denken unmittelbar zu kriminalisieren, verschafft man sich damit doch die Möglichkeit, der schmerzhaften Konfrontation mit dem wirklichen Skandal seines Engagements für den Nationalsozialismus aus dem Weg zu gehen: Wie konnte es sein, dass solch ein großer und wahrhafter Philosoph sich auf diese Weise engagierte? Als ich einen jüdischen Freund von mir fragte, wie der antisemitisch eingestellte und mit den Nazis sympathisierende Heidegger ein wichtiger Bezugspunkt für ihn bleiben konnte, wies er mich auf ein altes jüdisches Sprichwort hin, nach dem es manche tiefe und traumatische Einsichten gibt, die nur von jemand Diabolischem formuliert werden können.

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Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen Wenn wir nach den Ursprüngen des Faschismus im modernen Denken suchen, bietet Heidegger also ein allzu leichtes Ziel – wir sollten es an anderer Stelle versuchen und uns vielleicht im Werk von einem der am meisten gefeierten Dichter der Freiheit umschauen, dem Werk von Friedrich Schiller. Halten wir uns hierzu an Marx, für den die Anatomie des Menschen der Schlüssel zur Anatomie des Affen war, und fangen wir am Ende an, mit dem „Lied von der Glocke“, mit dem der protofaschistische Schiller sein Modell einer ästhetisierten Politik als Möglichkeit zur Überwindung revolutionärer Gewalt offerierte. Im Anschluss daran werden wir in den Blick nehmen, wie Schiller an diesen Punkt gelangt ist und welche Antagonismen diese Lösung verschleiert. Wenn es ein Lied gibt, das es verdient, nach Göbbels-Art öffentlich verbrannt zu werden, dann ist es „Das Lied von der Glocke“. Darin ist alles enthalten, was eine Konterrevolution faschistischer Prägung ausmacht. Es beginnt mit dem idealisierten Bild einer patriarchischen Familie mit dem Mann als gütiger Herr und Meister, der hinausgeht, arbeitet und Risiken übernimmt und so den Seinen Wohlstand bringt, während die Ehefrau zu Hause bleibt und umsichtig den Haushalt führt: Der Mann muß hinaus / Ins feindliche Leben, / Muß wirken und streben / Und pflanzen und schaffen / Erlisten, erraffen / Muß wetten und wagen / Das Glück zu erjagen. / Da strömet herbei die unendliche Gabe, / Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe / Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus / Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, / Die Mutter der Kinder, / Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise, / Und lehret die Mädchen / Und wehret den Knaben, / Und reget ohn Ende / Die fleißigen Hände, / Und mehrt den Gewinn / Mit ordnendem Sinn.11 Hieran anschließend erscheint das zentrale Bild des flammenden Feuers, welches die Quelle schöpferischer Kraft bildet – aber nur, solange es vom Menschen beherrscht wird: Wenn es außer Kontrolle gerät, kann es Grauen und Vernichtung bringen. Wohltätig ist des Feuers Macht, / Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht, / Und was er bildet, was er schafft, / Das dankt er dieser Himmelskraft; / Doch furchtbar wird die Himmelskraft, / Wenn sie der Fessel sich entrafft, / Einhertritt auf der eignen Spur / Die freie Tochter

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der Natur. / Wehe, wenn sie losgelassen / Wachsend ohne Widerstand / Durch die volkbelebten Gassen / Wälzt den ungeheuren Brand! Wann also kommt es zu einem solchen Ausbruch? Die Feminisierung des Feuers als „freie Tochter der Natur“ deutet bereits auf die Antwort hin: wenn die Mutter sich innerhalb der Familie ihrem Ehemann nicht länger ergeben unterordnet, wenn „des Hauses zarte Bande sind gelöst“: Ach! es ist die treue Mutter, / Die der schwarze Fürst der Schatten / Wegführt aus dem Arm des Gatten, / Aus der zarten Kinder Schar, / Die sie blühend ihm gebahr, / Die sie an der treuen Brust / Wachsen sah mit Mutterlust – / Ach! des Hauses zarte Bande / Sind gelöst auf immerdar, / Denn sie wohnt im Schattenlande, / Die des Hauses Mutter war, / Denn es fehlt ihr treues Walten, / Ihre Sorge wacht nicht mehr, / An verwaister Stätte schalten / Wird die Fremde, liebeleer. Es kommt dann eine weitere Bildebene hinzu: Das glühende Erz, das sich selbst befreit, wird zunächst mit der von den Familienbanden befreiten Frau gleichgesetzt, und auf dieselbe Stufe werden anschließend auch die Menschen (das Volk) gestellt, die ihre Ketten sprengen und sich selbst befreien: Der Meister kann die Form zerbrechen / Mit weiser Hand, zur rechten Zeit, / Doch wehe, wenn in Flammenbächen / Das glühnde Erz sich selbst befreit! / Blind wütend mit des Donners Krachen / Zersprengt es das geborstne Haus, / Und wie aus offnem Höllenrachen / Speit es Verderben zündend aus; / Wo rohe Kräfte sinnlos walten, / Da kann sich kein Gebild gestalten, / Wenn sich die Völker selbst befrein, / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn. An dieser Stelle werden die politischen Einsätze explizit gemacht: Wenn „das Volk, zerreissend seine Kette, zur Eigenhilfe schrecklich greift“, breitet sich zerstörerische Gewalt aus: Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruhige Bürger greift zur Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden ziehn umher, / Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreissen sie des Feindes Herz. / Nichts heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und

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alle Laster walten frei. / Gefährlich ist’s den Leu zu wecken, / Und grimmig ist des Tigers Zahn, / Jedoch der schrecklichste der Schrecken / Das ist der Mensch in seinem Wahn. / Weh denen, die dem Ewigblinden / Des Lichtes Himmelsfackel leihn! / Sie leuchtet nicht, sie kann nur zünden / Und äschert Stadt’ und Länder ein. Die Französische Revolution wird demnach feminisiert: Die Gestalt, welche den revolutionären Schrecken verkörpert, ist eine Frau, die sich in eine Hyäne mit verrücktem Lachen verwandelt. Nach den Standardvorstellungen der frühliberalen Aufklärung sollte das Licht der Vernunft außerdem den wenigen Gebildeten allein vorbehalten sein: Es wäre „der schrecklichste der Schrecken“, dürfte die himmlische Fackel der Aufklärung auch die armen ungebildeten Massen bescheinen, die mit ewiger Blindheit geschlagen sind … Schiller hält sich nicht mit den Einzelheiten auf, wie dieser revolutionäre Ausbruch niederzuwerfen sei, und geht unmittelbar zu dem idealisierten Bild des kollektiven Produktionsprozesses über, der nach Wiederherstellung der Ordnung seinen organischen und harmonischen Verlauf nimmt: Tausend fleißge Hände regen, / Helfen sich in munterm Bund / Und in feurigem Bewegen / Werden alle Kräfte kund. / Meister rührt sich und Geselle / In der Freiheit heil’gem Schutz, / Jeder freut sich seiner Stelle, / Bietet dem Verächter Trutz, / Arbeit ist des Bürgers Zierde, / Segen ist der Mühe Preis, / Ehrt den König, seine Würde, / Ehret uns der Hände Fleiß. Wenngleich hier die Freiheit wiederhergestellt ist, handelt es sich dabei doch um die Schutzfreiheit, bei der „jeder sich seiner Stelle freut“ – man ist frei, insofern man sich mit einer spezifischen Position innerhalb des organischen Ganzen identifiziert. Was sich nach einer solchen Sicht verbietet, ist jede Art von unmittelbarer Verbindung zwischen der individuellen und der universalen Dimension, bei der die partikulare umgangen wird: Das vollendete utopische Bild einer solchen Freiheit ist das harmonische Zusammenwirken der Individuen in einem organisch strukturierten hierarchischen Ganzen. Zu beachten gilt es hierbei auch, dass sich die gleiche Feminisierung der revolutionären Raserei in der deutschen konservativen Reaktion auf die Oktoberrevolution vollzogen hat: In den Freikorpsmemoiren der Verteidiger der Ostgrenzen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg stößt man regelmäßig auf den Mythos von der promiskuitiven und grausam-wilden Bolschewikenfrau:

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Diese Texte sind von Antibolschewismus, Antisemitismus und einem ausgeprägten Hass auf die andere Frau gekennzeichnet. Die Frauen der feindlichen Armee werden als brutale und unzivilisierte Kriegerinnen dargestellt. Diese Frauen waren ganz aktiv an den „Gemetzeln“ beteiligt, schrieb etwa Georg Heinrich Hartmann in seiner 1929 veröffentlichten Schilderung der Zeit, die er in einem Freikorps verbrachte. Diese Texte sind von einem intensiven Gefühl der Abscheu vor kommunistischen Frauen geprägt, die nach Klaus Theweleits psychoanalytischer Untersuchung der Freikorpsliteratur „ein Grauen“ symbolisierten, das „in der Sprache des soldatischen Mannes keinen Namen hatte“. „Von den genießerisch lächelnden Flintenweibern“ empfing man „den längsten Tod … den bittersten und zerquältesten, den einer sterben kann“, heißt es bei dem Freikorpsautor Thor Goote. Zugleich aber sind die Beschreibungen der anderen Frauen ambivalent: Diese locken und verführen durch die Sinnlichkeit und sexuelle Leistungsfähigkeit, die ihnen zugeschrieben werden. So wie diese Beschreibungen in den Texten platziert sind, wird deutlich, dass sie die kommenden gewaltsamen Auswüchse legitimieren sollen. Kommunistische und lettische Frauen werden begehrt, zugleich aber bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die Schilderungen ihrer Hinrichtungen sind blutig, grausam und sadistisch; auch von den Gefahren des Begehrens ist die Rede. Die Sexualität enthüllt hier den instabilen Prozess der Grenzziehung.12 Zurück zu Schiller: Ist die lachende Hyäne in seinem Fall nicht letztlich Caroline von Schlegel, die sexuell freizügige Jakobinerin, die ihrer Tochter im Herbst 1799 berichtete: „Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.“13 Es ist kein Wunder, dass sie im Kreise von Schillers Freunden „Dame Luzifer“ oder „das Übel“ genannt wurde … Wie aber ist Schiller zu seiner damaligen Auffassung gelangt? Gehen wir dazu von dem Endpunkt an den Anfang zurück: Bereits in Die Räuber, seinem ersten großen Erfolg, setzt Schiller sich mit dem Thema des „Lieds von der Glocke“ auseinander und behandelt die Gefahren übermäßiger, uneingeschränkter Freiheit. Während er den revolutionären Versuch verurteilt, „Gesetz durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten“, das heißt, ein neues, gerechtes Gesetz durch „unrechtmäßige“ Veränderung zu schaffen, versäumt er es symptomatisch, die offensichtliche Frage zu stellen: Was aber ist, wenn das bestehende Gesetz selbst sich durch Gesetzlosigkeit aufrechterhält? Was, wenn die Wiederherstellung „seiner Majestät, des Rechts“, auch dessen gesetzlose dunkle Seite wiederherstellt? Hinzu kommt, dass Karl, der Held des Stücks, sich groß-

Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen

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zügig als das Musteropfer anbietet – bereit, vor allen Menschen zu verkünden, wie unantastbar diese Majestät des Rechts ist –, zugleich aber über die wahre Opfergabe stillschweigend hinweggeht: seine Geliebte Amalia, die ihn überzeugt, sie zu töten. Auch wenn deren Verlangen logisch nachvollziehbar erscheint (er kann von seiner Bande nicht weggehen, sie kann ohne ihn nicht leben), bleibt die Tötung dennoch eine bizarre, von einer rätselhaften Zweideutigkeit gekennzeichnete Tat und eine richtig symptomale Stelle des Stücks.14 Eine Frau ist hier ein Hemmnis für eine mörderische Männerbande – ein häusliche Stabilität vermittelndes Wesen, nicht die revolutionäre Hyäne wie im „Lied von der Glocke“: Revolutionäre Gewalt ist hier Männerbündelei ohne die für Ordnung und Stabilität stehenden Frauen, aber auch nicht der mörderische Exzess, den eine freie und ungebundene Frau mitverkörpert. Der Mord an der Frau, die die Männer in ihrem Tun hindert, gehört zum antifeministischen Bestand des „Lieds von der Glocke“; er ist genau der Moment, über den Schiller stillschweigend hinweggeht, den er als Mittel zur Wiederherstellung der harmonischen Ordnung nicht thematisiert – es ist mithin so, als ob das Unterdrückte des Gedichts hier in entgegengesetzter Konstellation wiederkehrt, in der die Frau gefeiert werden sollte … Deutet diese merkwürdige Wiederkehr nicht darauf hin, dass mit der ganzen Logik, die Schillers Werk zugrunde liegt, etwas überhaupt nicht stimmt? Kurz gefragt: Lässt diese sehr seltsame Tötung der Frau nicht darauf schließen, dass die gesetzlose Männerbündelei (in Die Räuber) das obszöne Gegenstück zu der im „Lied von der Glocke“ gefeierten Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Männern ist? Wie gelangt man daher von dem einen zum anderen? Die Antwort darauf liefert Schillers „Ode an die Freude“, worin er, in eindeutiger Umkehrung zu Die Räuber, statt der Bande von Gesetzlosen die Menschen zu Brüdern erklärt, die Freundschaft verbindet. Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen. Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein; Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja – wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund!

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Und wer’s nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund. […] Unser Schuldbuch sei vernichtet! Ausgesöhnt die ganze Welt!15 Es verwundert nicht, dass dieses Gedicht die Worte zur Hymne der Europäischen Union beisteuerte: Es enthält die Vision weltweiter Aussöhnung, verbunden mit umfassendem Schuldenerlass – mit Ausnahme der Schulden bei Großbanken, wie im Falle von Griechenland, wobei den Griechen dann die Möglichkeit geboten wird, sich tränenreich aus dem Kreis der Europäer zu verabschieden … Der Unterschied zu Die Räuber besteht darin, dass – anders als bei der von einem Rebellen gegen seinen Vater angeführten Bande – der Freundeskreis hier von der Überzeugung getragen wird, dass „überm Sternenzelt ein lieber Vater wohnen muß“. Wir gelangen hier zu Schillers Traum von einem brüderlichen Freundschaftsbund unter der schützenden Obhut eines gütigen Vaters – was sicherlich eine unmögliche Kombination darstellt, und diese Unmöglichkeit kulminiert in Don Karlos, Schillers Meisterwerk, das alle diese Motive zusammenbringt: Freundschaft, Liebe, politische Macht und Freiheit.16

Don Karlos zwischen Autorität und Freundschaft Am Anfang des Stücks17 sind König Philipp und sein Sohn Karlos Rivalen um die Zuneigung von Königin Elisabeth von Valois; als Philipp jedoch Karlos’ Freund, den Marquis von Posa, kennenlernt, glaubt er, zum ersten Mal in seinem Leben einen wahren Freund gefunden zu haben. In einem neuen Dreiecksverhältnis sind Don Karlos und Philipp nun Rivalen um die Liebe und Freundschaft von Posa; dieser aber ist mehr an der politischen Freiheit für die aufsässigen Niederlande interessiert, und als sein rücksichtslos manipulativer Plan scheitert, opfert er sich zu Karlos’ Rettung selbst. Philipp trifft Posas Verrat mehr als Elisabeths angebliche Untreue. Am Ende des 4. Aktes wird das Publikum vom Grafen von Lema davon in Kenntnis gesetzt, dass „der König geweint hat“ (Z. 4464 f.). Mit gleichsam filmischer Finesse sehen wir Philipp nie weinen, der Vorgang bleibt im Off, hors-champ, und wird bloß erzählt, was die Wirkung umso durchschlagender macht. Später, im 9. Auftritt des 5. Akts, nachdem der Marquis von Posa auf eigene Order den Tod gefunden hat, gesteht Philipp, dass er ihn liebte: „Ich hab’ ihn lieb gehabt, sehr lieb. […] Er war meine erste Liebe.“ Zu beachten gilt, dass es hier nicht um das Problem der Vermenschlichung der

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Autorität geht (also die Frage, wie man den Monarchen mit herkömmlichen menschlichen Eigenschaften ausstattet): Für einen wahren König gehört eine beschützende Freundschaft mit ausgesuchten Höflingen zum Image.18 Es wäre völlig verfehlt, diese Liebe homosexuell zu deuten: Es geht dabei um Freundschaft, Freundschaft zwischen Gleichen im Sinne der uneingeschränkten gegenseitigen Anerkennung und des vollen Vertrauens aufeinander. Die hauptsächliche Spannung des Stücks – sein Grundwiderspruch, um einen alten Ausdruck von Mao zu benutzen – besteht zwischen (Männer-)Freundschaft und (politischer) Macht, während das Thema Liebe auf der Ebene spaßhafter Intrigen bleibt; der König stiehlt seinem Sohn die Braut und gibt sich dann einer anderen Liebesbeziehung hin und so weiter. Wie Marcel Reich-Ranicki in Bezug auf Don Karlos anmerkte, kann man ein Drama nicht ganz ernst nehmen, bei dem sich die Handlung auf einen Liebesbrief stützt, der an der falschen Adresse ankommt, und in Schillers Stück gibt es sogar drei solcher Briefe (Karlos’ Brief an die Königin kommt bei Prinzessin Eboli an, der Brief des Königs an Eboli gelangt zu Posa, und dessen Brief an die Rebellen in Holland wird von der Polizei des Königs abgefangen). Don Karlos, der im Fokus der Liebesintrigen steht, „hätte als komische Figur vielleicht mehr Erfolg gehabt“.19 Er ist völlig durchdrungen von den Spannungen der Freundschaft und der Liebe, das heißt, er pendelt zwischen zwei partikularen Inhalten und hat deshalb auch nicht an irgendeinem echten tragischen Konflikt teil. Posa steht ebenfalls außerhalb des tragischen Konflikts: Er pendelt zwischen Karlos und Philipp, dies allerdings auf rein taktischer Ebene, das heißt, er muss sich entscheiden, wen er für sein universelles politisches Anliegen durch Freundschaft beeinflussen will. Die einzige wirklich tragische Figur in dem Stück ist der König (wie in Antigone, wo Kreon die einzig tragische Figur ist, nicht Antigone): Posa bewegt sich auf der Ebene des Universellen, er hat sich völlig seiner Sache verschrieben; Don Karlos bewegt sich auf der Ebene des widerstreitenden Partikularen; allein der König ist zwischen Universellem und Partikularem, zwischen Staat und Freundschaft hin- und hergerissen. Auch die Königin steht für die politische Sache ein (Freiheit für die Niederländer), und sie bedeutet Don Karlos, er möge vom Partikularen und Einzelnen (seiner Liebe zu ihr) zum Universellen und Allgemeinen (der politischen Freiheit) übergehen. Das ideale emanzipatorische Paar bestünde demnach aus Posa und der Königin. Im Gegensatz zu dieser teilweise lächerlich melodramatischen Verwicklung haben die drei entscheidenden Szenen des Stücks alle mit Freundschaft und Macht zu tun. Bei der ersten Szene handelt es sich um das lange Gespräch zwischen dem König und Posa im 3. Akt. Posa sagt ihm (zwei

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Mal): „Ich kann nicht Fürstendiener sein“, und genau durch diese Selbstbehauptung lässt Philipp sich zur Freundschaft verführen. Diese Empfindung macht Posa sich sogleich zunutze und bittet Phillip darum, seinen Untertanen „Gedankenfreiheit“ zu gewähren – Posa will den König umgehend für sein politisches Anliegen einspannen. Wie vorauszusehen war, weist Philipp dessen Ansinnen ab und bittet ihn, sich mit Karlos und Elisabeth zu treffen. „Ihr habt auf meinem Thron mich ausgefunden, Marquis. Als Mensch kennt ihr mich nicht.“20 Posa warnt Philipp, dass es seinen Preis hat, König zu sein. Weil nämlich Freundschaft verlangt, dass man sich gegenseitig als Gleiche anerkennt, sei er, Philipp, gezwungen, in einer Welt ohne Freunde allein zu bleiben. „Da Sie den Menschen/Zu Ihrem Saitenspiel herunterstürzten […] Dafür sind Sie auch einzig – Ihre eigne Gattung – Um diesen Preis sind Sie ein Gott“. Posa erinnert Philipp zudem daran, dass in einer Monarchie nicht nur der König unmöglich Freunde haben kann, sondern dass selbst unter seinen Untertanen keine Aussicht auf Freundschaft besteht: Weil sie die Herrschaftsautorität fürchten, beargwöhnen sie sich gegenseitig und werden zum Egoismus getrieben, wobei ein jeder von der Angst und der Sorge um sich selbst beherrscht ist: „Ich liebe/ Die Menschheit, und in Monarchien darf/Ich niemand lieben als mich selbst.“ Was Schiller hier darstellt, ist die grundlegende Blockade der Beziehung zwischen Herr und Knecht, die Hegel ein Jahrzehnt später in dem berühmten Kapitel der Phänomenologie des Geistes analysiert. Danach ist die Anerkennung des Herrn durch den Knecht wertlos, weil nicht zugleich der Knecht durch den Herrn als seinesgleichen anerkannt wird. Heißt das, dass Schiller bereit ist, sich von der Monarchie loszusagen? Wie gesehen, besteht seine Lösung in der Utopie eines Freundschaftsbundes von Gleichen, über die ein gütiger Vater (Herr) waltet, der „überm Sternenzelt wohnen muss“. In der berühmten Darlegung seiner Gottesvorstellung führt Posa diese Vision weiter aus: Sehen Sie sich um In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit Ist sie gegründet – und wie reich sie ist Durch Freiheit! Er, der große Schöpfer, wirft In einen Tropfen Tau den Wurm, und läßt Noch in den toten Räumen der Verwesung Die Willkür sich ergetzen – Ihre Schöpfung, Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes Erschreckt den Herrn der Christenheit – Sie müssen Vor jeder Tugend zittern. Er – der Freiheit

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Entzückende Erscheinung nicht zu stören – Er läßt des Übels grauenvolles Heer In seinem Weltall lieber toben – ihn, Den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden Verhüllt er sich in ewige Gesetze; Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu Ein Gott? Sagt er; die Welt ist sich genug. Und keines Christen Andacht hat ihn mehr Als dieses Freigeists Lästerung gepriesen. In der Frage, wie sich die Regentschaft des Vatergottes mit der Freiheit seiner Geschöpfe verbinden lässt, setzt Schiller darauf, den Vater unsichtbar zu machen. Dieser Gott ist weder der Pascal’sche deus absconditus, der obskure entzogene Gott, dessen undurchschaubarer Wille seinen Untertanen Angst einflößt, noch der Gott des Deismus, der den Mechanismus der Welt bloß auslöst und dann dem Selbstlauf überlässt: Schillers Gott ist die ganze Zeit über tätig, allerdings verborgen hinter seinen eigenen Gesetzen. Im Gegensatz zum christlichen Gott – einem sichtbaren Herrn, der in Sorge lebt, weil ihn die Aussicht beunruhigt, dass seine Untertanen ihre Willensfreiheit missbrauchen könnten, der aber gleichzeitig Böses in der Welt geschehen lässt, um den Schein der Freiheit zu wahren – hält der wahre Schöpfer sich hinter der immanenten Entwicklung der Schöpfung verborgen, so dass wir Gott in seiner Schöpfungskraft umso mehr preisen, je mehr uns, die wir Gott ignorieren, die Welt in ihrer eigenständigen Entwicklung verwirrt. Die politische Entsprechung zu dieser Sichtweise wäre ein wohlwollender väterlicher Herrscher, der seinen Untertanen all ihre Freiheiten lässt, durch kluge Anleitung aber verhindert, dass die Freiheit aus dem Ruder läuft und in selbstzerstörerische Raserei umschlägt. Doch funktioniert diese Idee auch, theologisch und politisch? Bei Posa selbst, dem Verfechter dieser Sichtweise, laufen die Dinge schnell in die falsche Richtung. Nachdem er mit dem ersten Plan, seinen Einfluss auf den König zu nutzen, gescheitert ist, beschließt er, sich selbst zu opfern: Er schreibt einen Brief an Wilhelm von Oranien in Brüssel, den Anführer der dortigen protestantischen Erhebung, wohl wissend, dass das Schriftstück abgefangen und König Philipp gebracht werden wird. Er würde eingesperrt, der Verdacht aber von Karlos abgelenkt werden, der in die Niederlande fliehen und die Erhebung anführen soll. Von einem tödlichen Schuss getroffen, fordert Posa mit seinen letzten Worten Karlos dazu auf, sich selbst durch Flucht zu retten. Doch statt zu fliehen, will Karlos sich aus Treue zu Posa seinem Vater mutig entgegenstellen: Als Philipp und seine

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Edelmänner eintreffen, beschuldigt Karlos seinen Vater, den Mord an Posa beauftragt zu haben. (Wir sehen hier ein hübsches ethisches Paradox am Werk: Gerade dadurch nämlich, dass Karlos sich aus Treue zu Posa weigert, die Flucht zu ergreifen, verrät er seine Freundschaft mit ihm – aus Freundschaft verrät er das Eigentliche von Posas Freundschaft/Opferung.) In die Anschuldigungen von Karlos hinein kommt die Nachricht, dass die Menschen wüten und lautstark verlangen, ihn zu sehen. Beim Hören des Worts „Aufstand“ wird Philipp von Panik gepackt; er legt seine königlichen Insignien ab, wird ohnmächtig und man trägt ihn hinaus. Als Philipp auf die königlichen Insignien verzichtet, bietet er sie seinem Sohn Don Karlos an, den er für den Anführer des Aufstandes hält, drängt ihn, sie anzunehmen und der neue König zu werden, doch der hysterische Don Karlos ist dazu weder willens noch imstande. Philipp fühlt sich bei seinem Tun an seine frühere Äußerung gegenüber Posa erinnert: „Ihr habt auf meinem Thron mich ausgefunden, Marquis. Als Mensch kennt ihr mich nicht.“ Nun kann ein jeder um ihn herum ihn als Mensch sehen und erkennen – was aber gibt es da genau zu sehen? Erinnern wir uns an die klassische Szene des entthronten Königs (die von Shakespeare in Richard II. so eindringlich dargestellt wurde), eines um seinen königlichen Titel gebrachten Königs: Auf einen Schlag verflüchtigt sich das Charisma und wir haben einen schwachen und verwirrten Menschen vor uns … Doch sind wir „wirklich“ bloß, was wir sind, armselige Individuen? Was bleibt von Richard II. nach dem Verlust der Insignien königlicher Macht übrig? Kein gewöhnlicher armseliger Mensch, sondern ein durch die Leere dessen, was er jetzt ist, traumatisiertes Subjekt.21 Seiner Königswürde beraubt, erscheint er sich selbst als körperlich und psychisch gebrochene inkonsistente Existenz ohne jeden festen Grund oder Unterbau. Es ist, als hätten seine symbolischen Insignien nicht die armselige Realität einer Person maskiert, der diese Insignien beigelegt wurden, sondern die Leere oder Kluft der Subjektivität, des Selbst, das sich auf keine physischen oder psychischen Eigenschaften reduzieren lässt. Und natürlich verhält es sich mit dem von seinen Insignien getrennten Philipp ebenso: Wir sehen keinen gewöhnlichen Menschen, sondern gerade einen außergewöhnlichen – angeschlagenen, in Panik versetzten – Menschen. Wie also verwandeln die Insignien der Macht unsere armselige körperliche Existenz in das Vehikel einer anderen Dimension, so dass das, was wir „in Wirklichkeit sind“, auf magische Weise in ein Medium der Macht transformiert wird? Das Paradoxe ist, dass die unmittelbare Realität eines Subjekts nur vor dem Hintergrund seiner Insignien (egal, um welche es sich dabei handelt, von denen eines Königs bis zu denen einer Reinigungskraft) als die eines „gewöhnlichen Menschen“ sichtbar gemacht

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wird: Wie wir eine Person in ihrer unmittelbaren Realität und mit ihren jeweiligen Eigenschaften wahrnehmen, ist immer schon über und durch die Insignien vermittelt. Ein angeschlagener König ist nicht das Gleiche wie ein angeschlagener Bettler. Zurück zu Don Karlos: Der König überlebt die Zerschlagung des Aufstands und bleibt an der Macht, allerdings als gebrochener Mann und als gebrochener König. Was Philipp verliert, als er seine Insignien aufgibt (und wovon er abgeschnitten bleibt, selbst noch, nachdem er sie später wiedererlangt hat), ist sein wichtigstes Vorrecht als König: seine Befugnis, Entscheidungen zu treffen, die Empfehlungen seiner Ratgeber performativ wirksam werden zu lassen und zum Gesetz zu erklären. Hegel stellt diese einzigartige Position eines Königs klar heraus: Es ist bei einer vollendeten Organisation [des Staats] nur um die Spitze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der „Ja“ sagt und den Punkt auf das I setzt; denn die Spitze soll so sein, daß die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist. […] In einer wohlgeordneten Monarchie kommt dem Gesetz allein die objektive Seite zu, welchem der Monarch nur das subjektive „Ich will“ hinzuzusetzen hat.22 Diese „Spitze formellen Entscheidens“, diese Verkündung von S1 (eines Herrensignifikanten, der die Reihe der S2 ergänzt), der sachkundigen Vorschläge seiner Berater und Minister, ist das, was nun nicht länger in Philipps Macht steht, und deshalb schickt er nach dem Großinquisitor – nicht um Rat, wie die richtige Entscheidung zu treffen sei, sondern damit dieser an seiner Stelle entscheidet. In der großen Konfrontation zwischen dem gebrochenen König und dem Inquisitor rügt der ihn für seine Nachsicht gegenüber Posa, welche die Monarchie in ihrem Bestand gefährdete. Philipp tritt die Entscheidung über Karlos’ Schicksal an den Inquisitor ab, und der verfügt, dass Karlos sterben muss. Dieser äußerst beunruhigende Dialog zwischen König und Inquisitor eröffnet einen ganz neuen, posttragischen Schreckensbereich. Die Blockade, in der sich der König befindet, kann nur durch den Großinquisitor aufgelöst werden, der fast wie ein deus ex machina in Erscheinung tritt, nachdem er in dem Stück bis dahin nicht vorkam.23 Der Inquisitor ist blind, als solches aber allsehend und allwissend – seine Blindheit bezeichnet die völlige Ahnungslosigkeit von den Leidenschaften der Menschen und dem, was sie umtreibt. Menschen sind für ihn bloß Zahlen, die sich aus kalter Distanz manipulieren lassen: „KÖNIG. Mich lüstete nach einem Menschen.

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GROßINQUISITOR. Wozu Menschen? Menschen sind/Für Sie nur Zahlen, weiter nichts./[…] Der Erde Gott verlerne zu bedürfen,/Was ihm verweigert werden kann –/Wenn Sie um Mitgefühle wimmern, haben Sie/Der Welt nicht Ihresgleichen zugestanden?/Und welche Rechte, möcht ich wissen, haben/Sie aufzuweisen über Ihresgleichen?“ An dieser Stelle hier wird eindeutig die Kastrationsdimension der höchsten Macht benannt: Der Monarch muss „verlernen zu bedürfen,/Was ihm verweigert werden kann“. Der Inquisitor kennt schon im Voraus die Antworten auf die Fragen, die er stellt: „INQUISITOR. Weswegen haben Sie gemordet? KÖNIG. Ein Betrug, der ohne Beispiel ist – INQUISITOR. Ich weiß das alles.“24 Weit entfernt davon, der Überrest irgendeiner dunklen Vergangenheit zu sein, ist der Inquisitor vielmehr die modernste Figur in dem Stück; er steht für das ausführende Organ, das, wenn die Autorität des Königs zerfällt, die Führung übernimmt – kurz gesagt, steht er für den großen Anderen der staatlichen Bürokratie, für ein reines Über-Ich-Wissen, nicht für einen verrückten, brutalen Herrn. In Bezug auf Posa hebt der Inquisitor genau dieses vollständige Wissen hervor: „Sein [ganzes] Leben/Liegt angefangen und beschlossen in/Der Santa Casa heiligen Registern“. Als Posa auf Befehl des Königs getötet wird, bedauert der Inquisitor lediglich das Impulsive der Tat und die Brutalität von Posas Tod: Posa „ist ermordet – ruhmlos! freventlich! – Das Blut/Das unsrer Ehre glorreich fließen sollte,/Hat eines Meuchelmörders Hand verspritzt“. Wenn er für den König entscheidet, eignet sich der Inquisitor nicht einfach dessen Vorrecht an, er ist kein neuer S1 (Herr), sondern ein S2 ohne S1 – was genau der Definition der modernen Bürokratie entspricht. Schon das Denken des Inquisitors, die Art, wie er auf Philipps Fragen antwortet, ist auf subtile Weise obszön, ein Musterfall unempfindlicher Bürokratiegesetzlichkeit. Um das Gewissen des Königs zu beruhigen, der sich mit der Frage plagt, wie „eines Kindes blutger Mord verteidigt“ werden kann, zieht der Inquisitor eine merkwürdige Parallele zu Gott, der zur Erlösung der Menschheit seinen eigenen Sohn opferte: „Die ewige Gerechtigkeit zu sühnen,/Starb an dem Holze Gottes Sohn.“ Denkt man dies jedoch zu Ende, ließe sich Don Karlos in etwa so umschreiben, dass Gott den Heiligen Geist um die Erlaubnis/Entscheidung bittet, Christus dem Tod auszuliefern. Im Gegensatz zum Inquisitor weiß der Königsherr „das alles“ nicht eindeutig, da er es anderen (seinen treuen Dienern) überlässt, die schmutzige Arbeit, die getan werden muss, aber öffentlich nicht zugegeben werden darf, eigenständig zu verrichten. Als Königin Elisabeth I. im Herbst 1586 von ihren Ministern gedrängt wurde, der Hinrichtung Maria Stuarts zuzustimmen (dies ist Thema eines weiteren Schiller-Stücks), erwidert sie auf

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deren Gesuch mit der berühmten „Antwort ohne Antwort“: „Wenn ich sagen wollt, daß ich das, was ihr bittet, nicht thun werde, so würde ich vielleicht mehr sagen, als ich denke; wenn ich es zu thun verhieße, so könnte ich mich in’s Verderben stürzen, was ihr nach eurer Klugheit gewiß nicht wünscht“.25 Die Botschaft war eindeutig: Elisabeth war nicht bereit zu sagen, dass sie Marias Hinrichtung nicht wünschte, denn das hieße, „mehr zu sagen, als ich denke“ – obwohl sie deren Tod zweifellos wollte, wollte sie für diesen Justizmord nicht öffentlich einstehen. Die unterschwellige Botschaft ihrer Antwort ist somit ganz klar: Wenn ihr meine treuen Diener seid, dann führt dieses Verbrechen für mich aus und tötet sie, doch macht mich nicht für ihren Tod verantwortlich, das heißt, lasst mich meine Unkenntnis der Tat beteuern und sogar ein paar von euch bestrafen, damit der Schein gewahrt wird.

Stalin als Anti-Herr Grundlegender betrachtet stellt die Unkenntnis allerdings die Bedingung des Handelns dar: In dem Augenblick des Wahns, da man sich zum Handeln entschließt, muss man die Komplexität der Situation ausblenden und auf eine einfache Geste reduzieren. Das genau sucht die Bürokratie zu vermeiden: Ihre Funktionsweise besteht nicht im Herbeiführen einer Entscheidung, sondern darin, für immer in einem Zwischenstadium zu verharren und von einer vorübergehenden Maßnahme zur nächsten zu gleiten. Die schweizerische Bürokratie liefert einen beispielhaften Fall für dieses Vermeiden einer abschließenden Entscheidung. Ein Ausländer, der in der Schweiz lehren möchte, muss vor einer staatlichen Behörde, die sich Comité de l’habitant nennt, erscheinen und ein Certificat de bonne vie et mœurs beantragen; das Paradoxe daran ist, dass niemand diese amtliche Bescheinigung erhalten kann – das Äußerste, was ein Ausländer im Falle eines positiven Entscheids erhalten kann, ist ein Schriftstück mit der Bestätigung, dass ihm die Bescheinigung nicht verweigert werden soll. Wir haben es hier mit einer doppelten Negation zu tun, die jedoch noch keine Zusage darstellt.26 So also sieht die Schweiz einen armen Gastarbeiter gern: Sein Aufenthalt kann nie vollständig legitimiert sein; er oder sie kann allerhöchstens die Zulassung erhalten, die es ihm oder ihr erlaubt, in einer Art Zwischenzustand auszuharren – man wird nie formal anerkannt, sondern lediglich noch nicht abgelehnt und dementsprechend mit einem vagen Versprechen, in irgendeiner unbestimmten Zukunft eine Chance zu haben, dabehalten. Auf einer anderen Ebene begegnen wir der gleichen Verschleppungstaktik, dem gleichen Aufschub einer endgültigen Entscheidung, in der stali-

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nistischen Bürokratie. Das mag seltsam klingen. Denn war es nicht so, dass das stalinistische Regime keinerlei Problem damit hatte, den Tod Hunderttausender zu beschließen? Bei näherem Hinsehen kann man jedoch unmittelbar ein strukturelles Unvermögen feststellen, die langwierige Suche nach Verrätern zu verstetigen. Die zum Über-Ich-Begriff selbst gehörende Doppelbindung lässt sich am besten am Schicksal von Stalins Ministern für innere Angelegenheiten festmachen. Diese – namentlich Jeschow, Jagoda und Abakumow – standen unter dem dauernden Druck, immer neue antisozialistische Verschwörungen aufzudecken; ständig wurde ihnen vorgehalten, zu nachsichtig und nicht wachsam genug zu sein. Folglich war es ihnen nur möglich, die Forderung des obersten Befehlshabers zu erfüllen, indem sie Verschwörungen erfanden und Unschuldige inhaftieren ließen – damit allerdings schaufelten sie ihr eigenes Grab, da ihr Nachfolger immer schon begonnen hatte, aktiv zu werden und Beweise dafür zu sammeln, inwiefern hier konterrevolutionäre Agenten des Imperialismus am Werk waren, die gute, treuergebene Bolschewiken töteten … Die Unschuld des Opfers ist somit Teil des Spiels; sie bringt den sich selbst reproduzierenden Kreislauf revolutionärer Säuberungen in Gang, der „seine eigenen Kinder verschlingt“. Diese Unmöglichkeit, das „rechte Maß“ zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel (an Begeisterung im Kampf gegen die Konterrevolution) zu treffen, ist das klarste Anzeichen für das Wirken des Über-Ichs der stalinistischen Bürokratie: Wir sind entweder zu nachsichtig (wenn wir nicht genug Verräter ausfindig machen, ist dies ein Beleg für unsere stillschweigende Unterstützung der Konterrevolution) oder zu wachsam (wodurch wir uns wiederum der Verurteilung engagierter Kämpfer für den Sozialismus schuldig machen). Diese Koabhängigkeit von Mangel und Übermaß bildet möglicherweise den Kern dessen, was wir „Modernität“ nennen. Warum war Stalin also kein Herr im engeren Sinne des Begriffs? Ein Herr ist jemand, der einen Akt vollzieht, und ein Akt beinhaltet immer ein grundlegendes Risiko – das nannte Derrida im Anschluss an Kierkegaard den Wahnsinn einer Entscheidung und es bezeichnet einen Schritt ins Offene, ohne dass der endgültige Ausgang des Geschehens garantiert wäre: [D]er Augenblick der Entscheidung […] als solcher [muss] stets ein endlicher Augenblick der Dringlichkeit und der Überstürzung [sein]; zumindest, wenn man voraussetzt, daß er nicht die Konsequenz oder die Wirkung […] theoretischen oder historischen Wissens, [des] Nachdenkens oder [der] Überlegung sein kann – sein darf, und daß er immer eine Unterbrechung der juridisch-, ethisch- oder politisch-ko-

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gnitiven Überlegung, die ihm vorausgehen muss und vorausgehen soll, darstellt. Der Augenblick der Entscheidung ist, wie Kierkegaard schreibt, ein Wahn.27 Warum ist das so? Weil der Akt rückwirkend die Koordinaten selbst verändert, in die er eingreift. Diesen Mangel an Garantie und Sicherheit können die Kritiker nicht zulassen: Sie wollen einen Akt ohne Risiko – nicht ohne empirische Risiken, aber ohne das viel grundlegendere „transzendentale Risiko“, dass der Akt nicht bloß einfach missglücken, sondern radikal fehlschlagen könnte. Kurz und frei nach Robespierre gesagt: Diejenigen, die nicht für den „absoluten Akt“ sind, sind praktisch gegen den Akt als solchen, sie wollen einen Akt ohne den Akt. Ihr Wunsch entspricht dem der „demokratischen“ Opportunisten, die nach Lenins Worten vom Herbst 1917 eine „demokratisch legitimierte“ Revolution wollen, so als sollte zunächst ein Referendum abgehalten und erst dann, nach Zustandekommen einer klaren Mehrheit, die Macht ergriffen werden … An dieser Stelle wird deutlich, dass sich ein eigentlicher Akt nicht auf den von der Demokratie vorgegebenen Rahmen (verstanden als ein aktives System der Machtlegitimierung durch freie Wahlen) beschränken lässt. Ein Akt geschieht in einer Situation der Dringlichkeit, wenn das Risiko eingegangen und ohne Legitimation gehandelt werden muss und man sich auf eine Art Pascal’sche Wette einlässt, dass der Akt selbst die Bedingungen seiner rückwirkenden „demokratischen“ Legitimierung schaffen wird. Der Punkt ist also nicht, dass ein Akt völlig irrational wäre, ein Riss im Gewebe der Kausalität – oder, um es theologisch auszudrücken, es gibt Ursachen, doch um sie zu erkennen oder zu begreifen, muss man an den Akt glauben, muss man Partei ergreifen. Vor diesem Hintergrund versucht Jean-Claude Milner die Entstehung des Stalinismus zu rekonstruieren.28 Seinen Ausgangspunkt bildet dabei eine Äußerung Saint-Justs von 1794: Ceux qui font des révolutions ressemblent au premier navigateur instruit par son audace („Diejenigen, die die Revolutionen machen, gleichen einem Ersten Steuermann, der sich allein von seiner Kühnheit leiten lässt.“). [Der Forschende] entdeckt, was niemand zuvor gesehen hat. Es gibt keine bereits vorliegende Karte der politischen Gebiete, auf die er zugreift. Diese Unkenntnis gilt vor allem für jene, die sich an der Erkundung nicht beteiligen. Sie können nicht sehen, was die Revolutionäre sehen. Natürlich nehmen Letztere keine höhere Warte ein als Erstere. Dennoch unterscheiden sich ihre politischen Wahrnehmungen radikal. Außerdem gibt es keine bereits bestehende theoretische oder prak-

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tische Revolutionswissenschaft, die den Revolutionären und ihren nichtrevolutionären Gegenübern geläufig sein könnte. Folglich kann niemand außer den Revolutionären selbst ein Urteil über ihre Entscheidungen abgeben. Es gibt mithin keine Revolutionstradition: „Jede Revolution stellt einen eigenen Typus dar“. Daraus folgt, dass „das revolutionäre Subjekt“, für sich betrachtet, „durch sein ,Nichtwissen‘ definiert ist. Es weiß nicht, welche Entdeckung es machen wird“. Wie gelangen wir nun von diesem Nichtwissen, das einen Revolutionär kennzeichnet, zum stalinistischen Führer? Milner bringt hier die klassische marxistische These an, dass im Kapitalismus die unpersönliche Macht des Kapitals herrscht; hieraus leitet er den Schluss ab, dass der antikapitalistische Revolutionsprozess die persönliche Macht rehabilitieren muss: Weil der industrielle Kapitalismus nach Marx’ Theorie nur unpersönliche Macht zulässt, gibt es in der modernen Welt keinen Platz für die Macht durch eine Person, außer bei denen, die gegen den Industriekapitalismus kämpfen. Solche Kämpfer aber nennt man Revolutionäre. Ergo kann gemäß Stalin nur der Revolutionär persönliche Macht innehaben. Mit Machiavelli gesprochen hieße das: In der modernen Welt kann nur der Revolutionär ein Fürst sein. Der Revolutionär ist, anders gesagt, der Fürst, der über die Revolution entscheidet. Daraus folgt weiter: Weil der Machiavelli’sche Fürst per definitionem ein Einzelner ist, „gibt es in einer bestehenden revolutionären Situation nur einen revolutionären Führer. Eine revolutionäre Partei sollte eine Einrichtung sein, die auf jeder Entscheidungsebene die erforderliche Einzigartigkeit des entsprechenden Revolutionsfürsten hervorbringt. Kommunistische Parteien werden dem in ihrer Organisation gerecht; die Bezeichnung dafür ist ,demokratischer Zentralismus‘.“ Wodurch aber legitimiert ein Führer seine Autorität? Sein Wissen kann es nicht sein, da ein Revolutionär über kein Wissen verfügt und nur auf seine Kühnheit vertrauen kann. Schon bei Descartes lässt sich das Prinzip der Legitimierung des Fürsten finden: Im dritten Teil seines Discours de la méthode führt er das Beispiel von „Wanderern“ an, „die, wenn sie sich in einem Wald verirrt haben, weder umherirren und sich mal in die eine Richtung und mal in eine andere drehen, noch an einem Platz stehenbleiben dürfen, sondern immer ganz geradeaus in derselben Richtung voranschreiten müssen, soweit sie es können, und diese Richtung keineswegs aus schwachen Gründen ändern dürfen, ob-

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gleich es zu Beginn vielleicht nur der bloße Zufall gewesen ist, der sie hatte entscheiden lassen, ihn zu wählen. Denn dadurch gelangen sie zwar nicht genau dort hin, wohin sie wollen, aber sie kommen zumindest am Ende irgendwo an, wo sie wahrscheinlich besser aufgehoben sind als mitten im Wald.“29 Trifft nicht das Gleiche auch auf den revolutionären Führer zu? Worauf es ankommt, ist nicht die spezifische Richtung, die er der Partei aufdrängt, sondern die rein formale Tatsache, dass es sich dabei um eine einheitliche Richtung handelt. Eine etwaige Opposition gegen ihn ist nicht aus inhaltlichen Gründen falsch, sondern einfach deshalb (wie es die Stalinisten gern ausdrücken), weil sie die Einheit der Partei gefährdet. Der nächsten Folgerung nach muss der Führer, auch wenn er über kein Wissen verfügt, auf seine Gefolgsleute wie jemand wirken, der (allein) es besitzt. Da allerdings das Wissen, das ihm zuerkannt wird, keinen positiven Inhalt hat, lässt es sich nur negativ durch das Nichtwissen seiner Anhänger bestimmen: Stalinisten betrachteten ihr eigenes Nichtwissen als Legitimation für Stalins Führerschaft. Darin besteht ihre Definition. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt etwa war eine nicht zu rechtfertigende Überraschung für diejenigen in Westeuropa, denen die Sowjetunion als die letzte Zuflucht vor dem Nationalsozialismus gegolten hatte. Nicht wenige Mitglieder der kommunistischen Parteien Europas kündigten ihre Gefolgschaft auf, viele Sympathisanten waren entsetzt. Ein wahrer Stalinist aber würde zu dem Schluss gelangen, dass sein eigenes Unvermögen, Stalins Entscheidung zu verstehen, den besten Beweis dafür darstellt, wie überlegen Stalins Wissen doch ist. Man sagte nicht: „Stalin hat recht, obwohl wir nicht verstehen“, sondern es hieß: „Wir verstehen nicht, demzufolge hat Stalin recht“. Aus diesem Grund gibt ein Führer auch keine gut begründeten Anweisungen – wenn er das täte, wenn seine Entscheidungen rational begründet und nachvollziehbar wären, würde er sich dem endlosen Für und Wider der Argumente aussetzen. (Wenn also ein Führer Anweisungen gibt, muss sich darin ein undurchschaubares Element von Willkür finden – so müssen beispielsweise seine Anweisungen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion einen Punkt enthalten, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, wie etwa die Vorgabe, dass nur Personen, die älter als 45 Jahre sind, Gurken anbauen können.) So ist es zu verstehen, dass sich im Stalinismus „eine Dimension des Wissens mit einer Dimension des Nichtwissens ver-

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bindet“, wobei dies auf andere Weise geschieht als in der marxistischen und leninistischen Tradition. Zur weiteren Ausführung dieser Differenz bezieht Milner sich auf die Lacan’sche Unterscheidung zwischen S1 und S2: S1 ist der signifiant-maître; wie durch seinen Index angezeigt, steht er strukturell an erster Stelle. Jede S1-Äußerung funktioniert so, als sei sie beispiellos. S2 wiederum ist das Wissen, le savoir; wie durch seinen Index angezeigt, steht es strukturell an zweiter Stelle. S1 funktioniert so lange als signifiant-maître, solange er vom Wissen ausgenommen wird; indem es ihn äußert, macht das Subjekt den signifiant als Bezeichnung der Unwissenheit aller geltend, einschließlich seiner eigenen. Unter den verbalen Zeitformen ist er von allen Vergangenheitsformen getrennt. S2 dagegen hängt mit einer Vergangenheitsform entscheidend zusammen: Er wird nämlich bereits gewusst. S1 steht für die unbegründete revolutionäre Entscheidung, die in letzter Konsequenz nur von ihrer eigenen Kühnheit gestützt wird, und S2 steht für den gesamten Bereich unserer Realitätserfahrung, der geschichtlichen und wissenschaftlichen Kenntnis der Realität. Natürlich ist es der große Traum der marxistischen Revolutionstheorie, „das Unmögliche möglich zu machen und die Lücke zwischen S1 und S2 zu schließen“ – also die revolutionären Entscheidungen und Politiken auf ein positives Wissen von der Realität zu gründen. Darum „verbindet der Marxismus ein Bündel von Merkmalen mit dem Revolutionsbegriff: den Sturz der vormals herrschenden Klasse, die Diktatur des Proletariats, die Aneignung sämtlicher Produktionsmittel etc.“. Marx hatte bereits den Versuch unternommen, „eine wissenschaftliche Revolutionstheorie [zu errichten], die ebenso sicher und umfassend war wie Darwins Theorie vom Ursprung der Arten. Dies dachte zumindest Lenin, von dem bekanntlich der Satz stammt: ‚Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist‘. Danach ließe sich die axiomatische Grundaussage, auf welcher der Marxismus-Leninismus basiert, in folgende Formulierung bringen: Im revolutionären Handeln ist kein Platz für irgendwelches Nichtwissen. Ein Lacanianer würde dies übersetzen mit: Marx sei Dank sind S1 und S2 eins.“ Im Stalinismus geschieht dasselbe, allerdings auf radikal andere Weise: „In seiner Version einer solchen Revolution konzentriert Stalin S1 und S2 in der eigenen Person. Er verschmelzt sie miteinander. Er ist vollkommen vertraut mit dem bereits bekannten Wissen. Dazu weiß er, was niemand außer ihm wissen kann: nämlich, was getan werden müsste, damit die Revolution

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weitergeht.“ Worin genau besteht nun diese Differenz? Bei jeder Revolution kommt es infolge unbegründeter Entscheidungen früher oder später zu unklaren Situationen, in denen das von der Theorie (dem Wissen) gelieferte Cognitive Mapping versagt und die revolutionären Akteure brutal mit ihrem Nichtwissen konfrontiert werden: In Bezug auf die Französische Revolution selbst lassen sich leicht die Momente ausmachen, in denen die vernünftigsten und die mutigsten unter den Revolutionären in Verzweiflung gerieten. Die meisten von ihnen waren fähige und gebildete Leute, doch kein historischer Präzedenzfall in der Geschichte, keine wissenschaftliche Entdeckung und auch kein philosophisches Argument konnten ihnen helfen. Dasselbe lässt sich von Lenin sagen. Wer auch immer sich mit seinen Werken befasst, der kann gar nicht anders, als seine Intelligenz, seine enzyklopädische Bildung und seine Fähigkeit zur Erfindung neuer politischer Konzepte zu bewundern. Dennoch lassen seine Schriften eine wachsende Unsicherheit über die Situation erkennen, die er selbst herbeigeführt hatte. Ob richtig oder falsch – die Neue Ökonomische Politik stellte nicht nur einen Wendepunkt dar; sie bedeutete auch strenge Selbstkritik und konnte bis zur Verbannung führen. In jedem Fall aber ist sie der Beleg dafür, dass Lenin mit seinem eigenen Wissensmangel auf dem Feld der politischen Ökonomie konfrontiert wurde, auf dem er sich als Marxist seiner selbst am sichersten war; er entdeckte tatsächlich ein neues politisches Land. Ohne natürlich Lenin in irgendeiner Form ausdrücklich zu kritisieren, hat Stalin „intuitiv verstanden“, dass eine solche grundlegende Revolution im wissenschaftlichen Realitätsverständnis scheitern musste, und in den frühen 1920er-Jahren schien die gesamte sowjetische Wirklichkeit in kognitiver Hinsicht weder Richtung noch Orientierung zu haben: Eine wilde Improvisation folgte auf die nächste und die Bolschewiken begingen „alle möglichen Fehler“, wie Lenin selber schrieb. Wie ist es Stalin gelungen, dieses Durcheinander zu beenden? Wie hat er S1 und S2 – das Reale des revolutionären Akts, das sich in den unvorhersehbaren Entscheidungen des Führers verkörpert, und das Wissen um die komplexen Vorgänge und Prozesse, die die gesellschaftliche Realität bilden – zusammengeführt und vereinigt? Einerseits präsentierte er sich als der absolute Träger objektiven Wissens. Demnach verlief die sowjetische Revolution nach objektiven historischen Gesetzmäßigkeiten und stellte einen Prozess dar, der aus kaltem wissenschaftlichen Abstand untersucht werden sollte und konnte, und Sta-

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lins Politik war bloß das Resultat der politischen Anwendung dieses Wissens; alles spielte sich unter den Bedingungen der Realität ab … Gleichzeitig allerdings war dieser Bereich objektiver Realitätserkenntnis vollständig subjektiviert und funktionierte faktisch wie eine Reihe willkürlicher Entscheidungen. Es gab nichts Festes in der Realität; selbst die Vergangenheit konnte jederzeit so umgeschrieben werden, dass sie den aktuellen politischen Erfordernissen entsprach. Demnach besteht keine echte dialektische Spannung mehr zwischen S1 und S2; die beiden Ebenen fallen unmittelbar zusammen, was de facto bedeutet, dass die (gesellschaftliche) Realität sich auflöst und in das Reale zusammenfällt. Anders gesagt, hat Stalin verstanden, dass „eine Revolution etwas mit dem Realen zu tun hat und nicht mit dem imaginären Gemisch von zurückliegenden Ereignissen und früheren Bewertungen, das man ‚Realität‘ nennt. Lenin und alle wahren MarxistenLeninisten behandelten die Revolution als Realität. Allgemeiner gesagt, scheinen sie kein Gespür für den tatsächlich bestehenden Unterschied zwischen dem Realen und der Realität gehabt zu haben. Stalin ist bloß das Symptom dessen, was passiert, wenn das Reale in einer Welt wiederkehrt, die es bestreitet: Es zerstört die ganze Realität.“ Auf die praktischen Verhältnisse bezogen heißt dies wiederum, dass es sich bei dem eigentlichen Inhalt des von Stalin verkündeten „Wissens“ um eine seltsame Mischung aus paranoischen Konstrukten und vollkommen prinzipienlosem Opportunismus handelte: Der antisemitisch-konservative Tschaikowski wurde als der größte russische Komponist ausgerufen und zur unantastbaren Ikone erhöht, die Planwirtschaft mit der äußersten Brutalität der wettbewerblichen Nutzung der Arbeiter verbunden und so weiter. Ein extremes Beispiel für diese Auflösung der Realität findet sich in den Lebenserinnerungen von Anna Larina, der Witwe Bucharins, die von einer der erstaunlichsten Äußerungen Stalins berichtet: Bei einem Treffen des Zentralkomitees, unmittelbar vor seiner Verhaftung, beschwerte sich Bucharin über die Angriffe gegen ihn durch andere Mitglieder des Komitees und erinnerte sie voller Entrüstung an seine Verdienste um die Revolution. Darauf erwiderte Stalin teilnahmslos, dass niemand mehr für die Revolution getan habe als Trotzki und dennoch werde er jetzt mit Recht als niedrigster Verräter behandelt.30 Es ist also nicht so, dass Trotzki realiter Großes vollbracht hat, nun aber von seinem Weg abgekommen ist und beseitigt werden muss – sein bestehender Konflikt mit Stalin (das Reale der Situation) zwingt dazu, die Vergangenheit umzuschreiben und sogar seine Schlüsselrolle in der Oktoberrevolution und dem darauffolgenden Bürgerkrieg als eine Maske hinzustellen, die die Realität seiner verräterischen Aktivitäten und Sabotageakte verdeckte.

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Obwohl Stalins Macht häufig als Macht eines absoluten Monarchen dargestellt wird, müssen wir hier die Figur des stalinistischen Führers dem hegelschen Monarchen gegenüberstellen: Hegels Lösung ist genau die entgegengesetzte und besteht darin, den Abstand zwischen S1 und S2 so groß wie möglich zu belassen: Der König bildet die formelle Entscheidungsstelle, ist damit aber auf jemanden reduziert, dessen Stellung rein zeremoniell bleibt; er muss Dokumente unterzeichnen, die ihm von seinen Ratgebern, die für das Wissen stehen, vorgeschlagen werden.

Schiller versus Hegel Zurück zu Don Karlos: Das wahre Gegenstück zum Inquisitor ist demnach nicht Philipp, sondern – wer? Niemand anderes als Posa. Wenn der König von Posa betrogen wird, bekommt er von ihm lediglich seine eigene Botschaft zurück: Er glaubte, obwohl er König blieb, Posa sei nun seinesgleichen, ein Freund, mit dem ihn gegenseitige Anerkennung verband. Doch er muss feststellen, dass Posa nun genauso auf ihn herunterblickt, wie er auf andere heruntergeblickt hat, und ihn bloß für seine eigenen politischen Zwecke ausbeutet. Und Posa hat alles Recht, seine Freundschaft mit Don Karlos und Philipp rücksichtslos einzusetzen, um sein politisches Ziel zu verwirklichen. Selbst als er sich opfert, um Don Karlos zu retten (indem er einen geheimen Brief an die niederländischen Rebellen schickt, wohl wissend, dass das Schreiben abgefangen wird), tut er das nicht aus Freundschaft, sondern wiederum in politischer Absicht (um Don Karlos die Flucht zu ermöglichen, damit der die niederländische Erhebung anführen kann). Es gibt tatsächlich eine eigenartige Parallele zwischen dem Inquisitor und Posa: Beides sind sie kalte Funktionäre, die ganz im Dienst ihrer Sache stehen, mit dem einzigen Unterschied, dass der Inquisitor der Funktionär der bestehenden Ordnung ist, Posa dagegen, um Reich-Ranicki zu zitieren, der „Funktionär der Revolution“, und damit, kurz gesagt, eine Art Proto-Leninist. Schillers Bemühung richtet sich darauf, diese freundlose Welt, deren zwei Gesichter der Inquisitor und Posa sind, auf Abstand zu halten. Er bemüht sich verzweifelt darum, die Freundschaft zu retten, wenn er sich auch vollkommen im Klaren darüber ist, dass der brüderliche Freundschaftsbund die diskrete Aufsicht durch einen Herrn braucht, der ohne Freund bleiben muss, wie aus dem nach Don Karlos entstandenen kurzen Gedicht „Die Freundschaft“ hervorgeht. Schiller bringt hierin noch einmal die ausweglose Lage König Philipps ins Bewusstsein, die Notwendigkeit eines absoluten Herrn für eine Freundschaft zwischen Gleichen, welche gegensei-

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tige Anerkennung bindet. In der ursprünglichen Fassung von 1782 lautet das Gedicht: Freundlos war der große Weltenmeister, Fühlte Mangel – darum schuf er Geister, Sel’ge Spiegel seiner Seligkeit! Fand das höchste Wesen schon kein gleiches, Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches Schäumt ihm – die Unendlichkeit.31 Schiller beschreibt hier einen einsamen Schöpfer, der die Kluft, die ihn von seiner Schöpfung trennt, nicht zu überwinden vermag: Die Geister, die er schafft, bleiben seine eigenen Spiegelbilder, schattenhafte, unwirkliche andere, und so bleibt er einsam gefangen in seinem eigenen narzisstischen Spiel. Interessanterweise erscheinen die beiden letzten Zeilen als Zitat am Ende von Hegels Phänomenologie des Geistes, dies allerdings in leicht veränderter Form. Doch warum? Was hat diese Änderung zu bedeuten? Dem üblichen Hegelverständnis nach kann sich die Idee ein Höchstmaß an Selbstentäußerung leisten, weil sie bloß ein Spiel mit sich selbst spielt und sehr wohl weiß, dass sie am Ende unbeschadet zu sich zurückkehren und sich ihre Andersheit wieder aneignen wird. Der Unterschied zwischen Hegel und Schiller ist, dass Hegel diese Auffassung vom Absoluten, das nur seinen eigenen Schatten begegnet und daher ein narzisstisches Spiel mit sich selbst spielt, uneingeschränkt befürwortet, während Schiller die Sackgasse des Absoluten sah: Es kann kein Gleiches finden und bleibt somit allein … Trifft dieser (übliche) Einwand jedoch zu? War sich Hegel nicht dessen vollkommen bewusst, dass die Position des Herrn eine Sackgasse darstellt? Werfen wir zur Klärung dieses Punktes einen Blick auf den Schluss seiner Phänomenologie, wo er eine dichte Beschreibung des absoluten Wissens mit einem Schillerzitat „vernäht“: Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur –

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aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.32 Bei den letzten beiden Zeilen handelt es sich um das erwähnte (subtil abgewandelte) Zitat aus Schillers Gedicht – was aber erreicht Hegel mit diesen Änderungen? Wenn er dieselben zwei Zeilen in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion erneut zitiert, ergänzt er sie mit einem weiteren Zitat eines Gedichts, den beiden Zeilen aus Goethes „An Suleika“ (aus dem West-östlichen Divan), wo es bezüglich der endlosen Qual des Liebesstrebens heißt: „Sollte jene Qual uns quälen,/Da sie unsre Lust vermehrt?“33 Der Zusammenhang zwischen den beiden Zitaten ist klar: Was im „Kelche des ganzen Geisterreiches“ erscheint, ist, wie Hegel zwei Zeilen zuvor sagt, „die Schädelstätte des absoluten Geistes“; und insofern der Geist auf diesem Weg der Qualen seine eigene Unendlichkeit zu erkennen vermag, bringt das Durchlaufen dieses Wegs Freude, das heißt Lust am Schmerz selbst. Wenn man das unendliche „Schäumen“ von der Schädelstätte der Geister auf diese Weise als die Wiederholungsbewegung des Triebs auffasst, dann wird auch klar, wie es sich auf nicht narzisstische Weise begreifen lässt statt als philosophische Verdeckung der (von Schiller eingeräumten) Kluft, die das göttliche Absolute vom Reich der endlichen Geister trennt. In Hegels Darstellung spielt Gott nicht einfach ein Spiel mit sich selbst, indem er so tut, als verliere er sich im Äußeren, obwohl er sich vollkommen im Klaren darüber ist, dass er dessen Herr und Schöpfer bleibt: Die Unendlichkeit ist da draußen, und dieses „da draußen“ ist kein bloß schattenhafter Abglanz von Gottes unendlicher Macht. Kurz gesagt, ist das göttliche Absolute selbst in einem Prozess gefangen, den es nicht beherrschen kann – die Schädelstätte des Schlussabschnitts der Phänomenologie des Geistes ist nicht das Golgatha endlicher Wesen, die den Preis für den Fortgang des Absoluten zahlen, sondern die Schädelstätte des Absoluten selbst. Bemerkenswerterweise sagt Hegel hier das genaue Gegenteil wie in dem bekannten Passus über die List der Vernunft aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: Das besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet wird. Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich in Gegensatz und Kampf, welche sich in Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund. Das ist die List

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der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein Teil affirmativ ist. Das Partikulare ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.34 Hegel sagt hier, was er den Lehrbuchvorstellungen nach immer sagt: Die Vernunft wirkt als eine verborgene substanzielle Kraft, die ihr Ziel realisiert, indem sie die Leidenschaften Einzelner geschickt ausnutzt; die engagierten Individuen bekämpfen sich gegenseitig und durch ihren Kampf verwirklicht sich die allgemeine Idee. Der Konflikt beschränkt sich somit auf den Bereich des Einzelnen und Besonderen, während die Idee „sich unangegriffen und unbeschadet im Hintergrund hält“, im Frieden mit sich selbst ist und als die Ruhe der wahren Allgemeinheit besteht: Die Subjekte sind bloß Werkzeuge der historischen Substanz. Dieser standardmäßigen Teleologie widerspricht jedoch völlig die Grundlehre des Christentums, wie Hegel sie verstand: Weit davon entfernt, dass es „sich unangegriffen und unbeschadet im Hintergrund hält“, zahlt das Absolute selbst den Preis, indem es sich unwiederbringlich selbst opfert. Vergessen sollten wir hier nicht, dass die deutsche ästhetische Reaktion auf die Französische Revolution ihren Hauptvertreter in Schiller hatte. Und dessen Botschaft zum Vermeiden des Zerstörungsfurors des terreur war es, dass die Revolution mit dem Entstehen einer neuen ästhetischen Sensibilität beginnen muss, durch die Umwandlung des Staates in ein organisches und schönes Ganzes vonstattengehen muss. (Für Philippe Lacoue-Labarthe lagen die Anfänge des Faschismus in dieser ästhetisch motivierten Zurückweisung der jakobinischen Schreckensherrschaft.)35 Weil Hegel demgegenüber die Notwendigkeit des Schreckens deutlich erkannte, ließe sich sein Schillerzitat wie folgt paraphrasieren: Nur aus dem Kelche dieses Revolutionsschreckens schäumt die Unendlichkeit der geistigen Freiheit. (Und wenn man noch einen Schritt weiter geht, lässt sich sogar eine entsprechende Paraphrase für das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Logik anregen: Nur aus dem Kelche der Phänomenologie, der die Schädelstätte des absoluten Geistes enthält, schäumt die Unendlichkeit der Logik, der reinen Logik.) Dies bringt uns zurück zu Schillers Ästhetisierung der Politik, die vor den Schrecken der Revolution bewahren soll: In Bezug auf die Französische Revolution „bringt [er] zum Ausdruck, worauf eine ganze Generation setzt:

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Dass wir keine solche Revolution brauchen. Dass sich der explosionsartige Umschlag der Politik in Terror nur durch eine ästhetische Revolution verhindern lässt. Dass wir der Freiheit nur durch das Schöne näherkommen.“36 Damit aber fängt der Faschismus an – Hegel dagegen geht es nicht darum, Terror zu verhindern oder dessen Ausbrüchen vorzubeugen, sondern darum, zu akzeptieren, dass er notwendig ist und durchlaufen werden muss. Schiller wiederum – auch wenn er sich als Dichter der Freiheit präsentiert – plädiert im Grunde für die Wiedereinsetzung eines diskreten, wohlwollenden Herrn, der einzig verhindern kann, dass Politik in Terror umschlägt. Es gibt zwei Formen „hässlicher“ Freiheit, die Schiller ablehnt: die zerstörerische revolutionäre Freiheit und das „mechanische“ Chaos unorganischer Marktbeziehungen, in dem jeder Einzelne nur egoistische Ziele verfolgt. Sie sind für ihn zwei Seiten desselben Prozesses, dem sich nur durch die Ästhetisierung der Politik entgegenwirken lässt. Diese Ästhetisierung macht Schiller blind für die neuen Herrschaftsformen, welche die klassische, durch die symbolische Kastration gestützte Verfügungsgewalt bereits zu seinen Lebzeiten zu ersetzen begannen.

Die selbst entwertete Autorität Genauer gesagt, vermochte Schiller nicht zu sehen, wie die Autorität unserer Zeit sich aufspaltet: einerseits in ein reines, blindes Wissen (wie es der Inquisitor verkörpert) und andererseits in einen freundlichen Chef „wie wir“ mit allen normalen menschlichen Schwächen – Schiller vermochte die Notwendigkeit dieser zweiten Figur nicht zu sehen. Die einzige „Kastration“, die er deutlich gesehen hat, ist die Entfremdung des Monarchen, dem echte Freundschaft verwehrt bleibt. Die symbolische Kastration ist der Preis für die Ausübung der Macht. Wie hängt das genau zusammen? Zunächst gilt es, den Phallus als einen Signifikanten zu begreifen – aber was heißt das? Von den traditionellen Ritualen der Amtseinsetzung kennen wir jene Gegenstände, die Macht nicht nur „symbolisieren“, sondern die das Subjekt, das in den Besitz dieser Dinge kommt, effektiv in die Lage versetzen, Macht auszuüben – wenn ein König das Zepter in seiner Hand hält und die Krone trägt, werden seine Worte als die Worte eines Königs aufgenommen. Solche Insignien sind äußerlich und nicht Teil meiner Natur: Ich lege sie an; ich trage sie, um Macht auszuüben. An sich aber „kastrieren“ sie mich: Sie schaffen einen Abstand zwischen dem, was ich unmittelbar bin, und der Funktion, die ich bekleide (das heißt, ich befinde mich nie völlig auf der Ebene meiner Funktion). Dies ist mit der berüchtigten „symbolischen Kastration“ gemeint: keine symbolhafte, bloß

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symbolisch ausgeführte Kastration (in dem Sinne wie man sagt, jemand sei zu Symbolzwecken kastriert worden, wenn man ihm oder ihr etwas genommen oder entzogen hat), sondern die Kastration, die gerade dadurch eintritt, dass ich in der symbolischen Ordnung gefangen bin und ein symbolisches Mandat annehme. Die Kastration ist die Lücke selbst zwischen dem, was ich unmittelbar bin, und dem symbolischen Mandat, das mir diese „Autorität“ verleiht. In diesem präzisen Sinne ist sie synonym mit Macht und keineswegs das Gegenteil von Macht. Sie ist das, was mir Macht verleiht. Und den Phallus sollte man nicht als das Organ begreifen, das unmittelbar die Lebenskraft meines Seins zum Ausdruck bringt, meine Potenz und so weiter, sondern eben als eine solche Insignie, als eine Maske, die ich genauso anlege wie ein König oder ein Richter seine Insignien – der Phallus ist ein „körperloses Organ“, das ich anlege, das sich meinem Körper anheftet, das aber nie ein „organischer Teil“ von ihm wird und für immer als seine zusammenhanglose, überschüssige Ergänzung von ihm absteht. Diese Lücke zwischen dem symbolischen Titel (seinen Insignien) und der armseligen Realität des Individuums, das diesen Titel trägt, funktioniert allerdings heute tendenziell grundlegend anders: Sie hat, wie Badiou mit Blick auf Jean Genets Der Balkon festhält, eine merkwürdige Umkehrung erfahren: Wir stoßen hier auf eine imaginäre Eigenschaft der Demokratie. Demokratie bedeutet gerade, dass es keine Kostümierung gibt. Die Ungleichheit trägt kein Kostüm/keine Tracht mehr. Es bestehen dramatische, riesige Ungleichheiten, ihre Laisierung aber belässt sie ohne Kostüm.37 Auf einer einfachen Beschreibungsebene heißt das, dass die Herren (jene, die Macht über andere ausüben) in einer demokratisch-egalitären Gesellschaft keine Insignien oder Kostüme mehr tragen müssen, die sie performativ als Machtträger konstituieren: Sie können sich „natürlich“ kleiden und so handeln wie jeder andere auch und auf alle Würde verzichten. Davon, wie sie sich kleiden und wie sie handeln, geht die Botschaft aus: „Schaut her, wir sind normale Leute wie ihr, mit allen Schwächen, Ängsten und Grenzen wie jeder andere!“ – ihre „Kastration“ wird, kurz gesagt, nicht mehr vom Glanz ihrer Insignien verdeckt, sondern offen gezeigt. Wir sollten uns von diesem „aufrichtigen“ Vorgehen jedoch in keiner Weise täuschen lassen: So normal sie auch erscheinen und auftreten, ihre Macht setzen die Herren von heute weiter unvermindert durch, vielleicht sogar noch unmittelbarer als der traditionelle Herr: „Das Erscheinungsbild kann ruhig

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auf alle mögliche Weise kastriert sein, solange ich mehr oder weniger tun kann, was ich will. […] In merkwürdiger Umkehrung der klassischen Logik der Kastration (als Mittel zur Erlangung von Macht) haben wir es hier mit der Kastration des symbolischen (öffentlichen) Erscheinungsbildes als Mittel zur Ausübung und Aufrechterhaltung unbegrenzter Macht zu tun“.38 Die Kastration (das Zurschaustellen von Schwäche) „wird somit Teil des öffentlichen Erscheinungsbildes“, doch nicht in dem einfachen und direkten Sinne, dass sie einfach die faktische Ausübung rücksichtloser Macht maskiert – der Punkt ist vielmehr der, dass diese Maske der Kastration das Mittel (Werkzeug, Verfahren) selbst darstellt, wie Macht ausgeübt wird.39 Die Mystifizierung verdoppelt sich hier: Unterhalb der Entmystifizierungsgeste („Schau, ich habe alle Masken und Kostüme abgelegt, ich bin ein gewöhnlicher Typ wie du!“) wird weiter Macht ausgeübt (die eine symbolische Tatsache ist, keine „reale“ Eigenschaft ihres Trägers). Wenn man es als Untergebener mit einem Vorgesetzten zu tun hat, der wie ein gewöhnlicher Mensch redet und sich so verhält, könnte man ihn daher mit Fug und Recht frei nach der bekannten Wendung der Marx Brothers fragen: „Warum redest und verhältst du dich wie ein gewöhnlicher Mensch, wenn du wirklich bloß ein gewöhnlicher Mensch bist?“ (Das Paradoxe daran ist: Würde der Vertreter der Macht die Maske der Insignien aufsetzen, würde das seine Macht nicht etwa vergrößern, sondern untergraben, da es ihn lächerlich pathetisch erscheinen ließe.) Die Matrix des je sais bien mais quand même erhält hier einen speziellen Dreh. Denn, wie es bei Zupančič heißt, „folgt sie nicht mehr bloß der folgenden Logik: ,Ich weiß sehr wohl, dass du ein gewöhnlicher und schwacher Kerl wie ich bist, aber ich erkenne dich trotzdem als Herrn an.‘ Vielmehr lautet die Logik in etwa so: ,Ich weiß sehr wohl, dass du ein armseliger schwacher Kerl wie ich bist, und aus ebendem Grund kann ich dir weiter wie meinem Herrn gehorchen.‘“ Das Wissen stellt hier kein Hindernis dar, das es aufzuheben gilt, sondern eine positive Voraussetzung für das Funktionieren dessen, was es in seiner Geste der „Entmystifizierung“ offenlegt. Die Mystifizierung bleibt nicht trotz ihrer Aufkündigung bestehen, sondern durch sie, wegen ihr. (In genauer Entsprechung hierzu hat Freud aufgezeigt, wie die Verdrängung durch das Wissen [das Sich-Bewusstmachen] des verdrängten Inhalts bestehen bleibt – die Verdrängung hält an, selbst wenn man „alles weiß“.) Damit zurück zu Don Karlos: Es ist nicht so, dass Philipp am Schluss des Stücks bloß Kastration spielen würde, um seine ganze eigentliche Macht zu erhalten, er ist wirklich gebrochen und tatsächlich machtlos – Schiller war noch nicht in der Lage, sich die Figur eines Herrn vorzustellen, der durch Zurschaustellung seiner Kastration herrscht. Er konnte sich nicht die voll-

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kommen neue Verbindung zwischen Autorität und Freundschaft vorstellen, die sich bei den heutigen Machtgestalten beobachten lässt: einen Herrn, der sich „kumpelhaft“ gibt, der auf seine Insignien verzichtet und sich uns als gleichberechtigter Freund präsentiert, während er mithilfe genau dieses Sich-Unscheinbar-Machens all seine Autorität bewahrt. Anders gesagt, konnte Schiller sich die Statusumkehr, die die Kastration im Machtgeschehen erfahren hat, nicht vorstellen: Bei der traditionellen Macht besteht die sie erhaltende Kastration darin, dass die machtverleihenden phallischen Insignien hinsichtlich des Subjekts dezentriert sind; bei der heutigen Macht besteht die sie erhaltende Kastration gerade darin, dass die Inhaber der Macht ihrer Insignien beraubt sind. (Zu Barack Obamas eigener Verteidigung gegen seine linksgerichteten Kritiker gehört heute implizit auch eine Art Zurschaustellung der Kastration: Klagt man ihn an, er habe Guantanamo nicht geschlossen, lasse den Einsatz von Drohnen zu und so weiter, lautet seine [unausgesprochene, aber deutliche] Botschaft: „Mir waren hier einfach die Hände gebunden; ein Staat funktioniert nun einmal so …“ Aber wer spielt hier eigentlich ein Spiel?) Dieses Paradox kennzeichnet den Zynismus als hegemoniale Form heutiger Ideologie: Die fetischistische Verleugnung nimmt darin eine neue Form an – sie ist nicht mehr länger der Glaube, der trotz unseres Wissens in unserer aktuellen Praxis fortwirkt (ich weiß sehr wohl, aber dennoch …), als würde man sagen: „Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, aus Respekt meiner Kultur gegenüber beteilige ich mich jedoch weiter an den religiösen Ritualen“. Im heutigen Zynismus ist die Verleugnung (des Wissens) nicht in einem Fetischobjekt verkörpert; die Dinge werden zur äußersten Selbstbezüglichkeit getrieben, so dass es sich bei dem Fetisch (der es uns möglich macht, Wissen zu verleugnen) um das Wissen selbst handelt – Wissen fungiert als das Hindernis, das verhindert. Doch was verhindert es? Dass man das Wissen selbst ernsthaft annimmt und akzeptiert. Es stimmt, dass wir von Snowden (oder Manning) nichts gelernt haben, wovon wir nicht schon vorher angenommen haben, dass es sich so verhält – es ist freilich eine Sache, dies allgemein zu wissen, und etwas anderes, konkrete Details dazu geliefert zu bekommen. Es ist ein bisschen so, wie wenn man weiß, dass der eigene Partner fremdgeht – das abstrakte Wissen davon lässt sich noch hinnehmen, schmerzhaft wird es, wenn man von den erotischen Details erfährt, wenn man ein konkretes Bild davon bekommt, was er getan hat. Deshalb besteht die perfideste Verteidigung der Machthabenden nicht darin, die Anschuldigungen von WikiLeaks zu bestreiten, sondern darin zu sagen: „Wir sind doch nicht naiv, wir wussten das alles bereits beziehungsweise wir haben es vermutet. Glauben Sie wirklich, wir hätten das nicht schon immer

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gewusst? Was soll dann der ganze Wirbel?“ Auf diese Weise werden die Leute, die jene problematischen Fakten enthüllt haben, die bei uns Besorgnis und Verärgerung auslösen sollten, selbst zum Ärgernis. Wenn es alle bereits wussten, wer hat es dann nicht gewusst? Die Lacan’sche Antwort hierauf lautet: der große Andere. Wenn es der große Andere nicht weiß, können wir so handeln, als würden wir es ebenfalls nicht wissen. Eine ähnliche Strategie sehen wir dort am Werk, wo ein schnelles Eingeständnis einer Verfehlung dem oder der Betreffenden als Vorwand dient, sich nicht richtig entschuldigen zu müssen. („Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut, also halt den Mund und hör auf, mich zu nerven!“) Dieser Logik folgend, kann man sich eine neue Fassung von Freuds altem Beispiel eines Träumenden vorstellen, der auf die Frage, wer die Frau in seinem Traum gewesen sei, antwortet: „Ich weiß nicht, wer diese Frau war, doch meine Mutter war es ganz bestimmt nicht!“ Was aber, wenn der Träumende allzu bereitwillig zugibt, dass es seine Mutter war, weil er hofft, dass sich das Thema mit diesem schnellen Eingeständnis erledigt hat und man sich anderen, weniger heiklen Themen zuwenden kann? Fassen wir also zusammen: Der grundlegende Fetischismus, der strukturiert, wie wir uns auf eine Autoritätsperson beziehen, ist vor langer Zeit unter anderem von Marx beschrieben worden. Ein König ist deshalb ein König, weil wir ihn wie einen König behandeln. Uns aber scheint es, als behandelten wir ihn deshalb wie einen König, weil er an sich ein König ist. Unterhalb dieser grundlegenden fetischistischen Umkehrung gibt es allerdings noch eine kompliziertere andere: die Illusion, dass unter dem Kostüm der Macht, das einer Person ihr Charisma verleiht, bloß ein normaler Mensch wie du und ich steckt. Denken wir an den Klappentext eines Buches, wo wir unter der Beschreibung seines Inhalts häufig auch einige Angaben zur Person des Autors finden, so etwas in der Art wie: „In ihrer Freizeit züchtet Miss Highsmith Tulpen und sammelt seltene Silbermünzen.“ Eine solche Aufzählung persönlicher Eigenschaften entfetischisiert nicht nur den Autor nicht, sondern damit wird gerade dessen Fetischisierung betrieben. Lacan hat diese Vorgehensweise listigerweise unterlaufen: Alle, die ihn persönlich kannten, suchten händeringend nach kleinen privaten Details, nach irgendwelchen Zeichen der Menschlichkeit, die es ihnen ermöglicht hätten zu sagen: „Weißt du, hinter seinem arroganten Auftreten ist er ein netter und warmherziger Kerl wie wir“ – die große Überraschung war jedoch, dass Lacan sich im Privaten ganz genauso verhielt wie in der Öffentlichkeit … (Das Gleiche gilt für die stalinistischen Führungsgestalten: Aus den Archiven geht hervor, dass sie, wenn sie unter sich waren, nicht anders gesprochen haben, also weder zynische Töne anschlugen noch offen

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redeten, sondern den gleichen Jargon benutzten wie bei ihren öffentlichen Auftritten.) Wo ist hier also das Reale, bei dem sich die öffentliche Haltung mit dem dahinterstehenden privaten Ich deckt? Es befindet sich zwischen den beiden Formen der tautologischen Wiederholung. Im Fall eines modernen Chefs, der den Anschein erweckt, als sei er ein normaler Typ wie du und ich (und das im Grunde ja auch ist), kommen die beiden Seiten dennoch nicht in einer zur Deckung: Das „Dazwischen“ ist seine Macht (deren Illusion). Wenn wir den umgekehrten Fall Lacans nehmen, so ist seine Subjektivität der Abgrund zwischen den zwei gleichen inszenierten Auftritten. Es gibt ein (etwas brutales) Experiment, das man mit einem freundlichen Kind durchführen kann. Man nähert sich ihm mit einer aufgesetzten Maske, und es bekommt Angst; dann zieht man die Maske herunter und zeigt ihm sein Gesicht, das es gut kennt, und es wird (hoffentlich) lächeln. Dann setzt man die Maske wieder auf und es bekommt es wieder mit der Angst zu tun, obwohl es ganz genau weiß, was sich unter der Maske befindet – und es hat recht damit, sich zu fürchten, denn die Maske erzeugt eine dritte Realität, einen „Geist in der Maske“, bei dem es sich nicht um das unter ihr verborgene Gesicht handelt. Dieses X, vor dem sich das Kind ängstigt, ist der Abgrund des reinen Subjekts (das nicht mit der Persönlichkeit zu verwechseln ist, die sich in einem Gesicht ausdrückt). Aus diesem Grund ist auch das Tragen einer Burka für (manche) im Westen so unerträglich: nicht, weil das Gesicht verdeckt bleibt, so dass wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben, sondern weil wir gewissermaßen die Leere hinter dem bloßen Gesicht „sehen“, diese letzte Maske. Als die französische Regierung 2010 das öffentliche Tragen einer Burka unter Strafe stellte, konnte einem die Doppeldeutigkeit der Kritik an der Burka gar nicht verborgen bleiben, die sich auf zwei Ebenen bewegte. Zunächst wurde das Verbot der Burka als Verteidigung der Würde und der Freiheit der unterdrückten muslimischen Frauen dargestellt – es sei nicht hinnehmbar, dass eine Frau im säkularen Frankreich ein von der Öffentlichkeit abgeschnittenes Leben im Verborgenen führen muss, das der brutalen patriarchalen Autorität untergeordnet ist. Dann aber bewegte sich die Argumentation üblicherweise in Richtung der Ängste nicht muslimischer Franzosen: Gesichter, die von einer Burka bedeckt sind, passen nicht zur französischen Kultur und Identität, hieß es; „Nichtmuslime“ würden „sich von ihnen eingeschüchtert und entfremdet fühlen“. Manche Französinnen fühlten sich, wie sie sagten, durch eine Frau mit Burka sogar selbst gedemütigt und von einem sozialen Milieu auf brutale Weise ausgeschlossen und abgelehnt. Dies bringt uns zu der wahren Rätselfrage in diesem Zusammenhang: Warum löst die Begegnung mit einem Gesicht, das eine Burka bedeckt, eine

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solche Angst aus? Ist es, weil ein so vollständig bedecktes Gesicht nicht mehr das Levinas’sche Gesicht ist – jene Andersheit, von der die unbedingte ethische Aufforderung ausgeht? Was aber ist, wenn das Gegenteil gilt? Aus Freud’scher Sicht ist das Gesicht die letzte Maske, die das Grauen des „Dings am Nebenmenschen“ verbirgt: Das Gesicht macht den Nebenmenschen zu einem semblable, einem Mitmenschen, mit dem wir uns identifizieren und in den wir uns einfühlen können (wenn man einmal davon absieht, dass heutzutage viele Gesichter durch kosmetische Chirurgie verändert werden und dadurch die letzten Reste natürlicher Authentizität verlieren). Der Grund, aus dem verhüllte Gesichter solche Angst hervorrufen, ist demnach der Umstand, dass sie uns unmittelbar mit dem Ding-Abgrund des Anderen konfrontieren, mit dem Nächsten in seiner unheimlichen Dimension. Das Bedecken des Gesichts nämlich beseitigt einen Schutzschild, sodass uns das Ding, der Ding-Andere direkt anstarrt. (Denken wir daran, dass die Burka einen schmalen Augenschlitz hat; zwar sehen wir die Augen nicht, doch wir wissen, dass da ein Blick ist.) Alphonse Allais hat eine eigene Version von Salomes Tanz mit den sieben Schleiern vorgelegt. Darin fordert Herodes die bereits vollständig nackte Salome zum Weitermachen auf: Indem er „Weiter! Mach weiter!“ ruft, erwartet er, dass sie auch den Schleier ihrer Haut noch ablegt. Etwas Ähnliches sollten wir uns im Fall der Burka vorstellen – das Gegenteil einer Frau, die ihren Schleier hebt und damit ihr Gesicht enthüllt. Was wäre, wenn wir noch einen Schritt weitergehen und uns eine Frau vorstellen, die sogar die Gesichtshaut selbst noch „abnimmt“, sodass darunter gerade eine anonyme dunkle und glatte burkaartige Oberfläche mit einem Blickschlitz zum Vorschein kommt? Vielleicht wäre dies das ultimative Schreckensbeispiel für das, was Schiller sich als eine zur Hyäne werdende Frau vorstellte. Doch warum sollte die Figur einer lachenden Hyäne unbedingt eine Frauengestalt sein? Schiller hat nicht sehen können, inwiefern eine lachende und sich selbst entwertende Hyäne auch eine Übergangsfigur auf dem Weg von der Regentschaft eines Monarchen zur Herrschaft des Inquisitors darstellt. In Star Wars III: Die Rache der Sith gibt es einen einzelnen Moment, in dem wir einen Blick auf diese Figur erhaschen. Erinnern wir uns an den (etwas plumpen) Hegelianismus der ersten drei Folgen der Star-WarsReihe: Wie in Chestertons Der Mann, der Donnerstag war, wo sich der Meisterverbrecher als kein Geringerer als Gott selbst entpuppt, kommen wir nach und nach dahinter, dass Kanzler Palpatine, der Führer der Republik im Krieg gegen das Bündnis der Separatisten, niemand anderes als Darth Sidious ist, der geheimnisvolle oberste Lord der Sith, der bei den Separatisten im Hintergrund die Fäden zieht – indem die Republik diese

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Gegner bekämpft, bekämpft sie sich selbst, und daher ist der Augenblick ihres Triumphes und der Niederlage der Separatisten auch der Moment, in dem sie sich in das böse Imperium verwandelt. Wenn sich Palpatine in der Mitte des Films gegenüber Anakin (dem künftigen Darth Vader) als SithLord Darth Sidious zu erkennen gibt, behält Anakin den Verrat nicht für sich, sondern berichtet Mace Windu davon, einem Jedi-Ritter, der Palpatine daraufhin stellt und in einem Lichtschwerterkampf bezwingen kann. Der Anblick des bedrohten und gedemütigten Palpatine aber veranlasst Anakin zum Eingreifen, was es dem dunklen Lord ermöglicht, den JediMeister zu töten. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Veränderung, die Palpatines Gesicht im Zuge dieses Geschehens durchmacht. Brutalen Energieschocks von Windus Lichtschwert ausgesetzt, versteift und verrunzelt die Haut seines Gesichts nach und nach und verwandelt es dabei in eine krokodilköpfige Oberfläche. Die Veränderung vollzieht sich jedoch parallel dazu auch in seiner Haltung: Während Palpatine dem Geschehen ausgeliefert ist und nichts tun kann, verliert sein Gesicht die Form, verzerrt sich, drückt dessen Angst vor Schmerzen und vor dem Tod aus, wie bei einem bösen Kind, das panisch ist. Und als dann Anakin Windu die Hand abtrennt und ihn damit manövrierunfähig macht, geht Palpatine sofort zum Angriff über und richtet ihn mit kindlicher Freude durch Machtstrahlen hin – wobei er wahrlich das Bild einer lachenden Hyäne abgibt. Palpatine reißt die Macht genau in dem Moment „vollkommener Hilflosigkeit [an sich]. Man kann sehen, dass er weiß, dass er in diesem Moment gewonnen hat. Er freut sich bereits darauf, wenn er im Senat seine Kapuze abnehmen und seinen fürchterlich entstellten Kopf zeigen kann, der etwas von einem Hodensack hat.“40 Demnach kann Palpatine also erst nach diesem Durchgang durch den vollständigen Verlust jeglicher Würde, erst nachdem seine symbolische Autorität völlig entwertet wurde, wieder als das hervortreten, was er wirklich war: der Lord der Dunkelheit, Darth Sidious – oder, in Schillers Begriffen, der versehrte alte Inquisitor, der alle Zügel der Macht in seiner Hand hält. Seine lächerliche Schwäche steht seiner Macht nicht im Wege, sondern ist ihre eigentliche Rettung.

8 Ist Gott tot, unbewusst, böse, machtlos, dumm … oder kontrafaktisch? Über die Inexistenz Gottes Im Neuen Testament nennt sich Jesus selbst nicht „Gottessohn“, sondern mit großer Regelmäßigkeit „Menschensohn“ – warum ist das so? Den Schlüssel hierzu liefert der ironische Umstand, dass Jesus aufgrund seiner unbefleckten Empfängnis gerade kein Menschensohn ist, kein menschliches Wesen, dessen Vater ein Mensch war. Deshalb lautet die Bezeichnung nicht „ein Menschensohn“ (womit einfach ein menschliches Wesen gemeint wäre, das von menschlichen Eltern abstammt), sondern „DER Menschensohn“: Die Bezeichnung ist kein Prädikat, das eine Tatsache, eine Eigenschaft benennt, sondern sie fungiert als symbolischer Titel (wie bei einem König, der „gnädig, gut und weise“ ist, selbst wenn es sich bei ihm um einen grausigen Idioten handelt).1 Er ist kein Mensch, der den ehrenden Titel „Gottessohn“ trägt (wie es viele Gestalten in der Bibel tun), sondern ein Gott, der den Titel „Menschensohn“ trägt. Aus diesem Grund nennt Paulus ihn in einer unüblichen Formulierung nicht den Christus (als Titel, analog zu „Messias“), sondern einfach „Jesus Christus“, als sei „Christus“ sein Nachname. Mit anderen Worten: Wenn Jesus aus Skandinavien käme, wo der Familienname für gewöhnlich durch Anhängen eines „son“ an den Vaternamen gebildet wird, wäre sein vollständiger Name (nach dem Muster von „Charles ,Lucky‘ Luciano“, also mit einem zwischen den Rufnamen und den Familiennamen eingeschobenen Spitznamen [Titel]), nicht „Jesus ,Christus‘ Josefson“, sondern „Jesus ,Josefson‘ Christus“. Deshalb sind der Tod Christi und seine Auferstehung im Heiligen Geist nicht dasselbe wie etwa der Tod des Individuums Julius Cäsar und seine „Auferstehung“ in Gestalt des universellen symbolischen Titels „Cäsar“. Man kann sagen, dass Christus gerade vor seinem Tod als lebendiger Lehrer zu „allgemein“ geblieben ist, indem er eine universelle Botschaft (der Liebe und so weiter) verbreitete und sie in seinem Verhalten und Tun „exemplarisch vorlebte“. Mit seinem Tod ist Christus nicht mehr bloß Träger einer Botschaft, er selbst ist die Botschaft. Erst bei seinem Tod am Kreuz ist Christus – der ein Mensch mit einer göttlichen Botschaft war – unmittelbar Gott geworden; hegelianisch gesprochen heißt das, dass die Lücke zwischen dem allgemeinen Inhalt und seiner Darstellung geschlossen wurde:

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Ohne Judas wäre Christus nur ein Buddha oder ein Prophet wie andere gewesen. Er hätte bis ins hohe Alter die erhabene Lehre von Großzügigkeit und Frieden verbreitet, doch er hätte die unbezwingbare Kraft demütiger Liebe angesichts von Sinnlosigkeit, Gewalt und Tod nicht in dem Leib und im Verhalten eines Menschen „offenbart“.2 Mit Blick auf diese Christusgestalt ermöglicht es uns der Bezug auf die Warenwelt auch, Marx’ alte Vorstellung wieder aufzugreifen, Christus sei wie Geld unter den Menschen – eine gewöhnliche Handelsware: So wie das Geld als allgemeines Äquivalent den („Wert“-)Überschuss, der einen Gegenstand zur Ware macht, unmittelbar verkörpert/übernimmt, genauso verkörpert/übernimmt Christus unmittelbar den Überschuss, der ein menschliches Tier zu einem richtigen Menschen macht. In beiden Fällen tauscht/gibt sich das allgemeine Äquivalent also selbst gegen/für sämtliche anderen Überschüsse – so wie Geld die Ware „als solche“ ist, genauso ist Christus Mensch „als solcher“; so wie das allgemeine Äquivalent eine Ware ohne jeden Gebrauchswert sein muss, genauso hat Christus das Übermaß der Sünde aller Menschen übernommen, gerade indem er der Reine, frei von Unmäßigkeit, die Einfachheit selbst ist. Der Tod Christi ist ein Ereignis in der Zeit und als solches kontingent – es hätte ohne Weiteres auch nicht geschehen können. Gleichzeitig aber handelt es sich um ein notwendiges Ereignis – es stellt ein Ereignis in der Zeit dar, das, sobald es eingetreten war, rückwirkend seine eigene Notwendigkeit hervorbrachte, und zwar mittels einer seltsamen Umkehrung, die man bei Dupuy beschrieben findet: „Wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignet, zum Beispiel eine Katastrophe, dann hätte sich dies unmöglich auch nicht ereignen können; sofern es sich jedoch nicht ereignet hat, ist es kein unvermeidliches Ereignis. Folglich ist es die Verwirklichung des Ereignisses – die Tatsache, dass es eintritt –, die rückwirkend seine Notwendigkeit erzeugt.“3 Dupuy führt das Beispiel der französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 1995 an. Im Januar prognostizierte das wichtigste Meinungsforschungsinstitut: „Wenn Monsieur Balladur am 8. Mai gewählt wird, dann kann man sagen, dass die Präsidentschaftswahl schon entschieden war, bevor sie überhaupt stattgefunden hat.“ Wenn ein Ereignis – zufälligerweise – eintritt, bringt es die vorgehende Verkettung hervor, die es als unvermeidlich erscheinen lässt. Darin – und nicht in den hergebrachten Ansichten darüber, wie sich die zugrundeliegende Notwendigkeit in und durch das zufällige Spiel der Erscheinungen ausdrückt – besteht im Kern die Hegel’sche Dialektik von Kontingenz und Notwendigkeit. Das Gleiche gilt von der Oktoberrevolution (als die Bolschewiken gewonnen und ihre Macht-

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stellung gefestigt hatten, erschien ihr Sieg als Resultat und Ausdruck einer tieferen historischen Notwendigkeit) und selbst von Buschs sehr umkämpftem ersten Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen (nach dem kontingenten und umkämpften Gewinn der Mehrheit in Florida erscheint sein Sieg rückwirkend als Ausdruck eines tiefer liegenden Trends in der US-Politik). In diesem Sinne sind wir, obgleich vom Schicksal bestimmt, dennoch frei, unser Schicksal zu wählen – und so sollten wir auch an die ökologische Krise herangehen: nicht, indem wir die Möglichkeiten der Katastrophe einer „realistischen“ Bewertung unterziehen, sondern indem wir sie als Schicksal in dem präzisen Hegel’schen Sinne akzeptieren wie die Wahl von Balladur: „wenn die Katastrophe eintritt, kann man sagen, dass ihr Eintreten bereits entschieden war, bevor sie überhaupt stattgefunden hat“. Schicksal und freies Handeln (um das „wenn“ zu blockieren) gehen demnach Hand in Hand: Freiheit in ihrer radikalsten Form ist die Freiheit, sein Schicksal zu ändern. Diese Freiheit ist die Botschaft Christi – der kontingente freie Akt, der das Unvermeidliche verändern kann. Nach Matthäus 27,19 ließ Pilatus’ Frau (die in den Evangelien keinen Namen hat und in der späteren Tradition Prokla [Procula] oder manchmal Claudia genannt wurde) ihrem Mann bestellen, er möge Christus nicht zum Tode verurteilen: „Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum.“ Manche Theologen (darunter auch Luther) behaupteten, der Traum sei ihr vom Teufel eingegeben worden, der damit die Auferstehung, die aus dem Tod Christi folgen würde, zu verhindern suchte. Danach war es Teil der „göttlichen Ökonomie“, dass Christus sterben musste; dies sei von Anfang an vorgesehen gewesen, Christus habe Judas unauffällig angewiesen, ihn zu verraten, und so weiter; Proklas’ Eingreifen – ein Akt der Güte – und auch das Schwanken von Pilatus sind demnach etwas, das die göttliche Ökonomie in ihrer Verwirklichung bedroht. Man kann sich auch ein ähnliches Szenario vorstellen, bei dem ein Parteigänger Christi zufällig Judas mit den Römern belauscht und sich daraufhin anschickt, die Auslieferung Christi an die Römer zu verhindern; im letzten Moment wird er von Christus und Judas zur Seite gezogen, die ihm ärgerlich zuraunen: „Du Idiot, du verstehst das nicht, misch’ dich gefälligst nicht in Dinge ein, die zu hoch für sich sind!“ Der viel richtigeren Auffassung nach aber gilt es, diese Hindernisse, die der Verwirklichung des göttlichen Plans im Wege stehen, selbst als immanenten Teil dieses Plans zu begreifen, ähnlich dem Geschehen in Wagners Parsifal. Das Rätsel des Parsifal ist die Frage, wo die Grenzen und Umrisslinien einer Zeremonie verlaufen. Ist die Zeremonie bloß das, was Amfortas nicht

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durchführen kann, oder schließt sie auch das Schauspiel seiner Klage und seines Widerstands und seine schlussendliche Zusage zum Abhalten der Zeremonie mit ein? Sind Amfortas’ zwei große Klagen nicht hochgradig zeremoniell, ritualisiert? Ist nicht sogar das „unerwartete“ Eintreffen Parsifals, der an seine, Amfortas’, Stelle treten soll (und der gleichwohl zur rechten Zeit eintrifft, das heißt genau in dem Moment, da die Spannung auf ihrem Höhepunkt ist), Teil eines Rituals? Dies bringt uns zu einem weiteren Aspekt der christlichen Wahrheit: Wir haben es bei ihr mit einer universellen Wahrheit zu tun, deren Wahrheitswert von dem Akteur und dem Moment ihres Aussprechens abhängt. In seinem bewundernswerten Text über Hitchcocks Vertigo stellte JeanPierre Dupuy ein logisches Zeitparadox auf: Ein Gegenstand besitzt eine Eigenschaft x bis zum Zeitpunkt t; nach t gilt, dass er x nicht nur nicht mehr hat, sondern dass es auch nicht wahr ist, dass er x zu irgendeiner Zeit besaß. Der Wahrheitswert der Aussage „Der Gegenstand G hat die Eigenschaft x zum Zeitpunkt t“ hängt demnach von dem Moment ab, zu dem sie ausgesprochen wird.4 Man sollte hier die genaue Formulierung beachten: Der Wahrheitswert der Aussage „Der Gegenstand G hat die Eigenschaft x“ hängt nicht von dem Zeitpunkt ab, auf den sie sich bezieht – selbst wenn dieser Zeitpunkt angegeben wird, hängt der Wahrheitswert von dem Zeitpunkt ab, zu dem die Aussage selbst getroffen wird. Oder, um den Titel von Dupuys Vortrag zu zitieren: „Wenn ich sterbe, wird von unserer Liebe nichts je existiert haben“. Man denke an Ehe und Scheidung: Das intelligenteste Argument für das Recht auf Scheidung (das unter anderem kein Geringerer als der junge Marx angeführt hat) bezieht sich nicht auf die üblichen vulgären Redensarten wie „Nichts ist für die Ewigkeit, auch die Liebe nicht“; „Beziehungen kommen und gehen“ und so weiter; es räumt vielmehr ein, dass die Unauflösbarkeit im Ehebegriff selbst liegt. Letztlich besagt es, dass eine Scheidung immer von rückwirkender Tragweite ist: Sich scheiden zu lassen heißt nicht einfach nur, dass die Ehe jetzt aufgelöst wird, sondern damit verbindet sich noch etwas weitaus Radikaleres – eine Ehe sollte aufgelöst werden, weil sie nie eine richtige Ehe war. (Das Gleiche trifft auf den Sowjetkommunismus zu: Es reicht fraglos nicht zu sagen, dass er in den Jahren der „Stagnation“ unter Breschnew „sein Potenzial erschöpft hatte und nicht mehr der neuen Zeit entsprach“; sein klägliches Ende macht deutlich, dass er von Anfang an eine historische Sackgasse darstellte.)

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Und dies gilt wiederum auch für das Christentum und seine Wahrheit: Dass Christus starb, war kontingent; es hätte auch nicht geschehen können, doch als er gestorben war, war sein Tod vorherbestimmt, war er geboren worden, um zu sterben – auf diese Weise gehen wir von Jesus von Nazareth zu Jesus Christus über, vom palästinensischen Revolutionsprediger zum allgemeinen Heiland, von einem hehren Einzelwesen, das eine großartige Botschaft verbreitete, zu dem Einzelwesen, dessen ultimative Botschaft gerade in der Tatsache seiner Existenz besteht. Dies hat Paulus klar erkannt: Die Worte und Taten Christi werden nur mit dem Ereignis des Todes/der Auferstehung wahr. Reza Aslan verlässt sich zu leicht auf die übliche Entgegensetzung zwischen dem originalen, historischen „Jesus von Nazareth“ (dem messianischen Prediger der Revolution, der die Juden dazu bringen wollte, sich gegen die römischen Unterdrücker und gegen ihre eigenen verdorbenen Priester zu erheben, und dem das Errichten eines auf Gleichheit beruhenden jüdischen Gottesreiches auf Erden vorschwebte) und dem paulinischen „Jesus Christus“ (dem Heiland, der der ganzen Menschheit durch seinen Tod am Kreuz eine Chance gab und dessen Königreich nicht von dieser Welt ist). Was Aslan ausschließt (und was die tiefe Ambiguität von Paulus’ Theologie erklärt), ist die (doch recht offensichtliche) dritte Option und damit ein Christus, der ein universalistisches Anliegen verfolgt und dabei zugleich nach (universeller) Befreiung auf dieser Erde trachtet, ein Christus, dessen Tod am Kreuz keine Absage an diese Welt signalisiert, sondern als Gründungsgeste universeller und allgemeiner Mobilisierung fungiert. Das ist der Grund, aus dem radikale politische Bewegungen mit der ihnen eigenen elementaren „Aufhebung“ ihres toten Helden im lebendigen Geist der Gemeinschaft der christologischen Auferstehung so ähnlich sind – was nicht heißt, dass sie wie ein „säkularisiertes Christentum“ funktionieren; vielmehr geht ihnen die Auferstehung von Christus selbst als Vorläufer voraus, als eine mythische Form von etwas, das in der Logik eines emanzipatorischen politischen Kollektivs seine wahre Form annimmt. Wo soll man daher nach den Ressourcen zu dieser Mobilisierung suchen? Denken wir an die bekannten Zeilen aus Matthäus 21,12–13: „Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und sagte zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden. Ihr aber macht daraus eine Räuberhöhle.“ Kann man sich vorstellen, wie Jesus in die New Yorker Börse eindringt, dort alles kurz und klein schlägt und sämtliche Kabel durchtrennt, oder zeitgemäßer, dass er als Oberhacker einen Virus verbreitet, der erst einen Kurzschluss auslöst und dann die ganze digitale Versorgung des Börsenhandels lahmlegt?

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Ein solcher Ansatz ist freilich allzu direkt. Es ist nämlich das erste Paradox der materialistischen Religionskritik, dass es mitunter weitaus subversiver ist, die Religion von innen zu schwächen, indem man zunächst ihre Grundprämisse akzeptiert und, davon ausgehend, deren unvermutete Folgerungen aufdeckt, als Gottes Existenz rundheraus abzustreiten. Es gibt eine beliebte New-Age-Kurzgeschichte über einen hartnäckigen Atheisten, der, nachdem er bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wiedererwacht und feststellt, dass die spiritualistische Weltsicht im Grunde stimmt: Es gibt Gott oder irgendeine höhere Macht (die der Not der Seelen gegenüber gleichgültig ist), unsere Seele überdauert den irdischen Tod und bleibt in einem seltsamen Schwebezustand, in dem sie sich mit anderen Seelen in Verbindung setzen und auch das Leben auf der Erde betrachten kann, und so weiter. Dem Atheisten missfällt dieser Ausgang außerordentlich, er ist tief in seinem Narzissmus getroffen – seine atheistische Sicht auf die Dinge war so vollkommen überzeugend; wie konnte er nur so falsch gelegen haben? Doch nachdem er seinen ersten Schock überwunden hat, beginnt er sich mit seiner neuen Realität vertraut zu machen und passt seinen Materialismus den neuen Bedingungen an: Grundsätzlich hatte er recht, auch seine Existenz nach dem Tod besitzt eine eigene Materialität, er kann Gegenstände spüren, berühren und so weiter, nur die subatomaren Teilchen, aus denen sich diese Materialität zusammensetzt, sind ganz anders. Dann aber stößt er auf die wirklich unerfreuliche Überraschung: In dieser neuen Realität verfügen die Bewusstseinswesen weder über Geschlechtsorgane, noch haben sie eine sexuelle Orientierung. Es gibt Freundschaft und Sympathie, aber keine Sexualität, keine körperliche Liebe, und abgesehen davon, dass der elementarste utilitaristische Grundsatz, anderen nicht zu viel Leid zuzufügen, befolgt wird, gibt es auch keine Ethik und Moral. Er verzweifelt, tötet sich schließlich, wird aber in die gleiche langweilige Realität wiedererweckt – was kann er also tun? Im Gespräch mit anderen Seelen stellt er fest, dass fast alle von ihnen in der gleichen Verzweiflung gefangen sind und dass sich unter ihnen eine Art seltsame Religion entwickelt, die auf obskuren Gerüchten basiert, dass man nicht wiedererweckt wird, wenn man sich auf bestimmte Weise umbringt, sondern … Es gibt zwei Denkschulen unter den untoten Seelen: der einen zufolge stirbt man wirklich und für immer und verschwindet im Nichts, während man gemäß der zweiten erst nach diesem zweiten Tod die wahre Ewigkeit und Gnade erlangt. Diese Geschichte passt perfekt zu dem materialistischen Verfahren der immanenten Selbstuntergrabung eines religiösen Gedankengebäudes – die Behauptung, dass Gott böse oder dumm ist, kann viel beunruhigender sein

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als diejenige, nach der es keinen Gott gibt, da erstere die Idee einer Gottheit selbst zerstört. Nehmen wir ein anderes Beispiel: den Film The Rapture von 1991 (geschrieben und unter der Regie von Michael Tolkin entstanden, der auch das Drehbuch für Altmans The Players verfasste), in dem Sharon, eine von Mimi Rogers brillant gespielte junge Frau aus Los Angeles, tagsüber als Telefonistin arbeitet und in einer kleinen Arbeitsnische inmitten Dutzender anderer solcher notdürftig abgetrennten Abteile endlos dieselben Fragen wiederholt, während sie an den Abenden an Swinger-Orgien teilnimmt. (Man kann sogar sagen, dass der Film letztlich von Sharons beziehungsweise „Mimi Rogers Gesicht handelt, von seinen Verwandlungen, seinem bloßen Schmerz, seiner furchtlosen Offenheit“5.) Gelangweilt und unbefriedigt von ihrem so sinnentleerten Leben, schließt Sharon sich einer Sekte an, die das bevorstehende Ende der Zeiten und die Entrückung in den Himmel (Rapture) predigt; indem sie sich zu einer leidenschaftlichen Gläubigen wandelt, findet Sharon immer mehr zu einem neuen, frommen Lebensstil, heiratet Randy, einen ihrer früheren freizügigen Partner, und bekommt mit ihm eine Tochter, Mary. Sechs Jahre später, als Randy, der jetzt ebenfalls ergebener Christ ist, von einem Verrückten erschossen wird, bestärkt diese sinnlose Katastrophe Sharon und ihre Tochter sogar noch mehr in ihrer Überzeugung von der bevorstehenden Entrückung. Sharon glaubt, Gott habe ihr gesagt, sie solle mit Mary in ein nahegelegenes Wüstencamp gehen und dort auf ihre Aufnahme in den Himmel warten, wo sie wieder mit Randy vereint sein würden. Foster, ein nicht gläubiger Streifenpolizist, der es gut meint, kümmert sich während der langen Wartezeit um sie, als ihnen langsam die Nahrung ausgeht. Mary wird ungeduldig und macht ihrer Mutter den Vorschlag, sich einfach umzubringen, damit sie in den Himmel kommen und wieder mit Randy vereint sein können. Nach ein paar Wochen verliert auch Sharon die Geduld. Sie fasst den Entschluss, das Unaussprechliche zu tun und Marys Ratschlag zu folgen, um ihrem Leiden ein Ende zu machen. Aber nachdem sie Mary erschossen hat, ist sie danach nicht imstande, sich selbst zu töten, da sie weiß, dass Selbstmördern der Einlass in den Himmel verwehrt ist. Sie gesteht Foster ihre Tat, der sie einsperrt und in ein örtliches Gefängnis bringt. Bis hierhin folgt die Geschichte einem „realistischen“ Handlungsfaden und man kann sich leicht ein mögliches „atheistisches“ Ende vorstellen: Verbittert und allein, erfasst die ihres Glaubens beraubte Sharon die Schrecklichkeit ihrer Tat, und vielleicht wird sie von dem guten Polizisten gerettet … An diesem Punkt aber nehmen die Ereignisse eine vollkommen unerwartete Wendung: In der Gefängniszelle kommt es nämlich buchstäblich zu einer Entrückung, in aller Naivität, einschließlich schlechter Spe-

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zialeffekte. Zunächst erscheinen Sharon mitten in der Nacht zwei Engel und dann, am nächsten Morgen, während sie in ihrer Zelle sitzt, ertönt ringsum ein lauter Trompetenstoß und kündet von einer Reihe übernatürlicher Ereignisse – Gefängnisgitter stürzen um und so weiter. Auf der Flucht aus dem Gefängnis fahren Sharon und Foster in die Wüste hinaus, wo sich die Entrückung in immer neuen Zeichen offenbart, von Sandstürmen bis hin zu apokalyptischen Reitern, die dem Auto nachjagen und um es herumsprengen. Die Botschaft Gottes lautet in etwa: „Siehe, Mensch, du liest doch die Bibel, denkst du etwa, ich hätte nicht gemeint, was ich darin gesagt habe? Ich habe dir doch mitgeteilt, dass es so sein wird, also jammere jetzt nicht darüber. Du wusstest, worauf du dich eingelassen hast. Nun ertrage es auch.“6 Damit ist sie das genaue Gegenteil der üblichen Ansicht, dass wir die göttlichen Erklärungen nicht zu wörtlich nehmen sollten, dass wir lernen sollten, ihre tiefere metaphorische Bedeutung aus ihnen herauszulesen. Normale Leute bewegen sich mit ihrem Glauben zumeist auf dieser Ebene: Fragte man sie, ob sie wirklich der Ansicht sind, dass vor 2000 Jahren in Palästina ein Sohn Gottes herumlief, würden sie antworten, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach natürlich nicht buchstäblich zutrifft, dennoch aber gebe es ganz bestimmt irgendeine höhere Macht, die gütig um uns besorgt ist … The Rapture lehrt hingegen, dass gerade diese metaphorische Betrachtungsweise, die Suche nach irgendeiner tieferen Bedeutung, eine Falle ist. Als Nächstes werden Sharon und Foster beide „entrückt“; sie werden in eine fegefeuerartige Landschaft versetzt, wo Mary sich vom Himmel aus an sie wendet und Sharon eindringlich bittet, Gott anzunehmen und ihre Liebe zu ihm zu verkünden – allein dadurch würde sie sich mit ihr und Randy im Himmel verbinden können. Foster, obwohl er bis dahin Atheist war, ergreift die Gelegenheit und sagt, dass er Gott liebt, woraufhin ihm der Eintritt ins Himmelreich gewährt wird. Sharon aber weigert sich. Einem Gott, der sich ihrer Familie gegenüber völlig grundlos so grausam verhalten hat, so sagt sie, kann sie nicht ihre Liebe erklären. Auf Marys Frage, ob ihr klar sei, für wie lange sie ins Fegefeuer geschickt und zum Alleinsein verdammt sein werde, antwortet Sharon: „Für immer“. Kurzum, Sharon wird bewusst, dass sie „ihr Leben damit verschwendete, jemanden zu besänftigen, der nur mit ihren Gefühlen spielt; ein solches Zugeständnis ließe sich leichter verweigern, wenn man feststellen würde, dass es keinen Gott gab“7. Das heißt, Sharon war bloß in ihrer eigenen wahnhaften Vorstellung gefangen. Doch sie bleibt dabei, sich von einem Gott loszusagen, der wirklich ist und der wirklich „ein Narzisst ist“.

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Dieser schenkt uns allein deshalb das Leben, um dafür unbedingte Liebe zu verlangen, ganz gleich, wie viel Schaden seine Forderungen im Leben der Menschen angerichtet haben. Hinter diesem Film steht die These, dass Gott unserer Liebe auch dann unwürdig ist, wenn es ihn tatsächlich gibt, dass er kein bisschen weniger vor Kleinlichkeit oder Machtanwandlungen gefeit ist als seine menschlichen Geschöpfe. Wie viele Menschen, so lebt auch Gott nach einer Reihe von Regeln und Gesetzen, die er willkürlich zum eigenen moralischen Vorteil einsetzt. Dies veranschaulicht Tolkin, indem er zeigt, wie der nicht gläubige Polizist unmittelbar dadurch Aufnahme in den Himmel findet, dass er im allerletzten Versuch zur eigenen Rettung Gott seine Liebe erklärt. Er sagt, was Gott hören will, nur um seine eigene Haut zu retten.8 Offensichtlich schert sich Gott nicht darum, ob man es auch wirklich so meint, wenn man seine Liebe zu ihm erklärt – sagen aber muss man es, wie der Fall von Foster demonstriert. (Bei näherer Betrachtung liegen die Dinge hier jedoch nicht so eindeutig: Vielleicht verdient es Foster mehr als Sharon, in den Himmel aufgenommen zu werden, weil er Liebe und Zuwendung für seine Mitmenschen gezeigt hat.) Ein solchermaßen gleichgültiger und narzisstischer Gott ist Teil der christlichen Tradition: Genauso, so Nicolas Malebranche, wie der frömmlerische Mensch das Leid anderer zu seiner eigenen narzisstischen Befriedigung benutzt, wenn er Notleidenden hilft, liebt auch Gott letztlich nur sich selbst und benutzt die Menschen bloß als Verkünder und Verbreiter seines eigenen Ruhms. Malebranche gelangt hier zu einem Resultat, das Lacans Umkehrung von Dostojewski („Wenn es keinen Gott gibt, ist nichts erlaubt“) in nichts nachsteht: Es stimmt nicht, dass alle Menschen verloren wären, wäre Christus nicht auf die Erde gekommen, um die Menschheit zu retten – ganz im Gegenteil, niemand wäre verloren, das heißt, jeder Mensch musste fallen, damit Christus kommen und einige der Menschen erlösen konnte. Malebranche kommt hier zu einem richtig perversen Schluss: Da der Tod Christi einen wesentlichen Schritt bei der Verwirklichung des Schöpfungsziels darstellte, war es der glücklichste Moment für Gott (den Vater), als er seinen Sohn am Kreuz leiden und sterben sah. Sharons Abwehr gegenüber Gott, ihre Weigerung, ihre Liebe zu ihm zu erklären, ist daher ein authentischer ethischer Akt. Es wäre vollkommen verfehlt zu sagen, sie würde den falschen Gott zurückweisen und in einer authentisch-christlichen Version des Films sollte am Ende der wahre Christus auftreten und sie zu einer wahren Gläubigen ausrufen, weil sie sich ge-

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rade geweigert hatte, ihre Liebe zu dem falschen Gott zu verkünden. (Dem Passus aus dem Neuen Testament entsprechend, wo Christus erklärt, er werde immer dann da sein, wenn zwischen seinen Anhängern Liebe besteht, ist Gott kein Gegenstand der Liebe, sondern die Liebe selbst.) Die eigentliche Versuchung, der es zu widerstehen gilt, ist es demnach, unsere Liebe zu einem Gott zu erklären, der sie auch dann nicht verdient, wenn er wirklich ist. Ein herkömmlicher Materialist wird mit all dem wenig anfangen können und kaum mehr darin sehen als ein bedeutungsloses Gedankenexperiment; für einen wahren Materialisten allerdings kann man sich nur auf diese Weise wirklich von Gott lossagen – und zwar nicht nur, sofern er nicht wirklich existiert, sondern selbst dann, wenn er wirklich ist. Kurz gesagt lautet die eigentliche Formel des Atheismus nicht: „Gott existiert nicht“, sondern: „Gott existiert nicht nur nicht, er ist auch dumm, gleichgültig und womöglich rundweg böse“ – wenn wir die Gottesfiktion selbst nicht von innen zerstören, wird sie uns in Form der Verleugnung im Griff behalten („Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, und doch ist er eine erhabene und erhebende Illusion“). Für Gnostiker ist der Gott des Alten Testaments so etwas wie ein kosmischer Clown, weder letzte Instanz noch irgendwie gut (in vielen gnostischen Dokumenten wird der Sinn alttestamentlicher Geschichten ins Gegenteil verkehrt, um Gott lächerlich zu machen): Dieser weniger böse Gott, der Demiurg unserer stofflichen Welt, schuf das Universum, um die Sterblichen in den Fesseln der Materie zu halten und die reinen Geistseelen daran zu hindern, nach dem Ableben des physischen Körpers zurück zu dem einen wahren Gott aufzusteigen. Die Befreiung aus dieser Umklammerung durch die materielle Form lässt sich nur durch besonderes Wissen erlangen, und Christus war der göttliche Heiland, der aus diesem geistigen Reich herabgestiegen ist, um das zu dieser Erlösung nötige Wissen zu offenbaren. Im herkömmlichen Christentum ist das Problem des Bösen ein ethisches und es betrifft den reinen Geist selbst: Das Böse ist eine Kategorie des Geistes, es kennzeichnet einen egoistischen Geist, der gegen den guten Schöpfer gesündigt, sich gegen die Schöpfung selbst gewendet hat und nur mit sich selbst befasst ist; in der materiellen Welt gibt es nichts von sich aus Böses, die Natur an sich kann auf unschuldige Weise sogar schön sein, nur der Geist trägt Böses in sie hinein. Im Gnostizismus hingegen ist das Problem ein Problem des Wissens, und das Böse ist die materielle Welt als solche, die den Geist in Ketten hält. In einer solchen Sicht stellen sich die Bösen systematisch als die Guten heraus: Die Schlange im Paradies, die das erste Menschenpaar dazu verleitet, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird als Vertreterin der

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Weisheit interpretiert, die das Paar aus ihrer Unwissenheit und Knechtschaft gegenüber dem bösen Schöpfer zu erwecken sucht: Der ungläubige Thomas macht deutlich, dass die menschliche Erkenntnis kein festes Dogma darstellt, sondern einen ständigen Suchprozess; die Prostituierte Maria Magdalena, die die Herrschaft im Bett innehat, steht für die Vereinigung von Mensch und Gott; und Judas schließlich ermöglicht es Jesus durch seinen „Verrat“ an ihm, sich aus dem Gefängnis seines irdischen/ körperlichen Daseins zu befreien. Damit wandelt sich die gesamte Sicht auf die Kreuzigung: Sie ist nicht länger der unerträglich schmerzhafte Anblick des für unsere Sünden bezahlenden Gottessohns, sondern eine für die Unverständigen aufgeführte Komödie, ein Schauspiel, das der höhnische Christus aus sicherer Entfernung von oben betrachtet: „Ich habe weder jemals irgendwie gelitten, noch wurde ich gequält. Und dieses Volk hat mir keinen Schaden zugefügt.“ „Ich starb nicht wirklich, sondern (nur) dem Schein nach.“ Jene „in ihrem Irrtum und ihrer Blindheit […] sahen mich und bestraften mich. Ein anderer […] war es, der die Galle und den Essig trank, nicht ich war es […] Ein anderer war es, dem die Dornenkrone aufs Haupt gesetzt wurde; ich aber ergötzte mich in der Höhe […] und ich lachte über ihren Unverstand.“ Weiter folgt aus dieser Sicht auf Christus (die uns auch in der heutigen New-Age-Lehre begegnet), dass man Jesus von dem Christus trennen muss: Für Valentinus beispielsweise ist Christus ein unirdisches Geistwesen, das auf den irdischen Jesus bei dessen Taufe herabgekommen ist und den Körper von Jesus vor dessen Tod am Kreuz wieder verlassen hat … Da wundert es nicht, dass Irenäus in seinen Büchern Gegen die Häresien insistiert, dass Jesus immer der Christus war, ist und sein wird. Was die feministischen Potenziale des Gnostizismus anbelangt, genügt es, die abschließenden Zeilen aus dem Thomasevangelium in Erinnerung zu rufen: Simon Petrus sprach zu ihnen: „Mariham soll von uns fortgehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.“ Jesus sprach: „Seht, ich werde sie führen, um sie männlich zu machen, daß auch sie ein lebendiger Geist wird, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen.“9 Das Männliche bleibt demnach der Maßstab; nur eine Frau, die sich männlich macht, wird erlöst werden – diese Zeilen klingen tatsächlich wie eine ironische Verkehrung von Paulus’ bekannter Behauptung, in Christus sei weder Jude noch Grieche, weder Mann noch Frau: Ja, da ist weder Mann

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noch Frau, weil nämlich die einzigen Frauen, denen Aufnahme gewährt wird, zuvor neu zu Männern gemacht werden müssen … Das kontrafaktische Gottesbild, das es dem Gnostizismus entgegenzusetzen gilt, ist der böse Demiurg, der keinen anderen, höheren Gott zur Seite hat – unser Schöpfer ist nun einmal einfach böse, Punkt. Was also besagt die Vorstellung, dass Gott an sich sterben muss, nicht nur für uns – worauf läuft sie effektiv hinaus? Seit Jahrzehnten schon kursiert unter Lacan’schen Psychoanalytikern ein Witz: Ein Mann, der sich für ein Samenkorn hält, wird in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert, wo die Ärzte ihr Bestes geben, um ihn abschließend davon zu überzeugen, dass er kein Korn, sondern ein Mensch ist. Als er die Klinik schließlich als geheilt entlassen darf (weil man meint, er sei überzeugt, ein Mensch zu sein und kein Samenkorn), kommt er jedoch vor Angst zitternd gleich wieder zurück – da sei ein Huhn vor der Tür und er habe Angst, dass es ihn aufpicken könnte. „Mein Lieber“, sagt sein Arzt darauf, „Sie wissen doch sehr gut, dass sie ein Mensch sind und kein Samenkorn.“ „Ich weiß das natürlich“, erwidert der Patient, „aber ob es auch das Huhn weiß?“ Genau darum geht es bei der psychoanalytischen Behandlung: Es reicht nicht, den Patienten von der unbewussten Wahrheit hinter seinen Symptomen zu überzeugen; das Unbewusste selbst muss dazu gebracht werden, diese Wahrheit anzunehmen. Und trifft nicht das Gleiche auf den Marx’schen Warenfetischismus zu? Der berühmte vierte Abschnitt des ersten Kapitels von Das Kapital über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ beginnt wie folgt: Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.10 Diese Zeilen sollten uns überraschen, kehren sie doch das standardmäßige Verfahren der Entmystifizierung eines theologischen Mythos um, bei dem derselbe auf seine irdische Grundlage zurückgeführt wird: Marx stellt sich nicht auf den üblichen Standpunkt der Aufklärungskritik und behauptet, dass durch kritische Analyse aufgezeigt werden sollte, wie geheimnisvoll scheinende theologische Dinge aus dem „normalen“ Lebensprozess heraus entstanden sind; er behauptet vielmehr, dass die Aufgabe der kritischen Analyse darin besteht, die „metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken“ in solchen Dingen zutage zu bringen, die auf den ersten Blick normale Gegenstände zu sein scheinen. Anders gesagt, wenn ein Marxist auf ein dem Warenfetischismus verfallenes bürgerliches Subjekt

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trifft, hält er diesem nicht etwas vor wie: „Es mag Ihnen scheinen, als sei die Ware ein magischer Gegenstand, der über spezielle metaphysische Kräfte verfügt, eigentlich aber ist es lediglich ein verdinglichter Ausdruck zwischenmenschlicher Verhältnisse.“ Sein marxistischer Vorwurf lautet vielmehr: „Sie mögen glauben, dass Ihnen die Ware als eine einfache Verkörperung sozialer Zusammenhänge erscheint (dass etwa Geld bloß eine Art Gutschein darstellt, der Ihnen das Recht auf einen Teil des Sozialproduktes gibt), doch so erscheinen Ihnen die Dinge nicht wirklich. In Ihrer sozialen Realität bezeugen Sie durch Ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Austausch die unheimliche Tatsache, dass Ihnen eine Ware wirklich als ein magischer Gegenstand erscheint, der über spezielle metaphysische Kräfte verfügt.“ Alenka Zupančič geht hier bis zum Ende und denkt sich ein brillantes Beispiel aus, das sich auf Gott selbst bezieht: In der aufgeklärten Gesellschaft, etwa des revolutionären Terrors, wird ein Mann eingesperrt, weil er an Gott glaubt. Auf verschiedene Weise, vor allem aber durch aufgeklärte Begründung wird er zur Erkenntnis gebracht, dass Gott nicht existiert. Kaum freigelassen, kommt der Mann zurückgeeilt und erklärt, wie sehr ihn der Gedanke ängstigt, dass Gott ihn strafen könnte. Er wisse natürlich, dass es Gott nicht gibt, aber ob Gott das auch wisse?11 In diesem präzisen Sinne ist die jetzige Zeit vielleicht weniger atheistisch als jede andere zuvor: Wir alle sind bereit, totale Skepsis und zynischen Abstand walten zu lassen, uns in der offenen Ausnutzung anderer, der Verletzung sämtlicher ethischer Grenzen, extremen sexuellen Praktiken und so weiter zu ergehen – dabei aber lassen wir uns von der stillen Erkenntnis schützen, dass der große Andere nichts davon weiß.

Kontrafaktizitäten Dieses Paradox lässt sich perfekt anhand von Kontrafaktizitäten formulieren. Dupuy kommt immer wieder auf die Unterscheidung zwischen den beiden Typen von Bedingungssätzen zurück, dem kontrafaktischen und dem indikativischen: „Wenn Shakespeare nicht den Hamlet geschrieben hat, dann hat es jemand anderes getan“ ist ein indikativischer Satz, während „Wenn Shakespeare nicht den Hamlet geschrieben hätte, dann hätte es jemand anderes getan“ kontrafaktisch ist. Der erste Satz ist offensichtlich wahr, da er von der Tatsache ausgeht, dass der Hamlet als Text vorliegt, geschrieben worden ist und ihn folglich irgendjemand geschrieben haben

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muss. Der zweite ist viel problematischer, da er eine tiefere historische Tendenz/Notwendigkeit voraussetzt, die auf ein Stück wie Hamlet hinführte, so dass es auch dann, wenn Shakespeare es nicht geschrieben hätte, geschrieben worden wäre, durch einen anderen Autor eben.12 In diesem Fall haben wir es mit einem ziemlich kruden Geschichtsdeterminismus zu tun, der in Erinnerung bringt, was Georgi Plechanow in seinem klassischen Text zur Rolle des Individuums in der Weltgeschichte über Napoleon sagte: Der Übergang von der Republik zur Kaiserherrschaft war von tieferer Notwendigkeit, sodass, wenn Napoleon aus irgendwelchen zufälligen Gründen nicht Kaiser geworden wäre, ein anderes Individuum diese Rolle eingenommen hätte. Ist nicht genau die gleiche Unterscheidung in unserer Sicht auf den Stalinismus wirksam? Nach Meinung vieler musste es zum Stalinismus kommen, sodass es ihn auch ohne Stalin oder im Fall seines frühen, zufälligen Ablebens gegeben hätte und die Führerrolle von jemand anderem eingenommen worden wäre, vielleicht sogar von Trotzki, seinem großen Widersacher. Für Trotzkisten und viele andere (wie Stephen Kotkin) aber war die Rolle der kontingenten Person Stalin entscheidend: Kein Stalinismus ohne Stalin, das heißt, wenn Stalin in den frühen oder mittleren 1920erJahren von der historischen Bildfläche verschwunden wäre, dann hätte es Dinge wie die Zwangskollektivierung und die Praxis des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ nicht gegeben. War der Aufstieg des Stalinismus dann ein simpler Zufall, die Verwirklichung einer der historischen Möglichkeiten, die in der Situation nach dem Sieg der Oktoberrevolution beschlossen lagen? Dupuy schlägt hier eine komplexere Logik vor: die Logik der rückwirkenden Umwandlung eines zufälligen Handelns in den Ausdruck einer Notwendigkeit. „Notwendigkeit ist rückblickend: Bevor ich handle, war es nicht notwendig, dass ich so handle, wie ich handle; sobald ich gehandelt habe, wird es immer wahr gewesen sein, dass ich nicht anders hätte handeln können, als ich gehandelt habe.“13 Stalin hätte sterben oder abgesetzt werden können, doch als er den Sieg davongetragen hatte, wurde sein Sieg rückwirkend notwendig. Gleiches gilt für Julius Cäsar, der den Rubikon überschritt: Er hätte anders handeln können, aber sobald er es getan hatte, wurde die Überschreitung des Rubikons sein Schicksal, er wurde rückwirkend dazu (vorher-)bestimmt. Diese echt dialektische Beziehung zwischen Zufall und Notwendigkeit unterscheidet sich grundlegend von Plechanows Determinismus: Es geht nicht darum, dass, wenn Cäsar nicht den schicksalshaften ersten Schritt von der Republik zur Kaiserherrschaft vollzogen hätte, jemand anderes dagewesen wäre, der als Vehikel dieser historischen Notwendigkeit fungiert hätte – Cäsar hat eine kontingente Wahl getroffen, die rückwirkend Not-

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wendigkeit erlangte. Natürlich sind wir nicht imstande, die Vergangenheit auf der Faktenebene rückwirkend zu verändern, rückwirkend ungeschehen zu machen, was sich wirklich ereignet hat; wir können es aber kontrafaktisch ändern. In Hitchcocks Vertigo wird die Vergangenheit ebenfalls auf diese Weise verändert. Zunächst erleidet Scottie den Verlust von Madeleine, seiner verhängnisvollen Liebe; als er Madeleine in Judy wiedererschafft und ihm dann klar wird, dass die Madeleine, die er kannte, bereits Judy war, die sich für Madeleine ausgab, da entdeckt er nicht einfach, dass Judy eine Fälschung ist (er wusste, dass sie nicht die echte Madeleine ist, da er sie als Abbild von Madeleine erschaffen hat), sondern dass, weil sie keine Fälschung ist – sie ist Madeleine –, Madeleine selbst bereits eine Fälschung war. Seine Entdeckung verändert dadurch die Vergangenheit: Er entdeckt, dass das, was er verloren hat (Madeleine), niemals existierte. Gerade in den politisch korrekten Zeiten von heute ist ein Verführungsprozess immer mit dem riskanten Schritt der „Annäherung“ verbunden – in diesem potenziell gefährlichen Moment exponiert man sich, dringt man in den intimen Raum einer anderen Person ein. Die Gefahr besteht dabei darin, dass meine Annäherung im Falle ihrer Zurückweisung als ein politisch inkorrekter Akt der Belästigung erscheinen wird; es gibt also ein Hindernis, das ich überwinden muss. Es kommt hier allerdings eine subtile Asymmetrie ins Spiel: Wenn meine Annäherung Akzeptanz findet, habe ich nicht etwa das Hindernis erfolgreich überwunden – es ist vielmehr so, dass ich rückwirkend feststellen kann, dass es nie ein Hindernis gegeben hat, das es zu überwinden galt.14 Finden wir nicht ein entsprechendes Paradox der asymmetrischen Wahl im Evangelium nach Johannes, wenn Christus sagt, er sei nicht zum Richten gekommen, sondern um Erlösung zu bringen, eine Absage an das Gericht – richte nicht (über andere), denn über dich wird selbst gerichtet werden? Im Text heißt es weiter: Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. (Johannes 3,18–19) Die Zeitlichkeit ist hier entscheidend: Es gibt keinen konkreten Augenblick des Richtens, an dem man gerichtet wird – man wird entweder nicht gerichtet oder ist bereits gerichtet worden. Ausgeschlossen ist es, dass der Richtspruch „unschuldig“ lautet, genau wie bei Dupuys Beispiel der Verführung: Entweder man hat keinen Erfolg und das Hindernis bleibt beste-

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hen (man wird als Eindringling und Belästiger zurückgewiesen) oder es gab kein Hindernis. Und diese gleiche Asymmetrie ist übrigens auch in dem dialektischen Prozess nach Hegel wirksam: Das Subjekt stößt entweder auf ein unüberwindliches Hindernis oder es stellt fest, dass es gar kein Hindernis gibt, dass das, was ihm ein Hindernis zu sein schien, die eigentliche Bedingung seines Erfolgs darstellt. Es gibt noch eine andere, tragische Version vom Verändern der Vergangenheit. Wenn wir erfahren, dass ein Flugzeug, das wir eigentlich hatten nehmen wollen, bevor wir die Reise in letzter Minute verschoben (oder aber einfach den Flug verpassten), abgestürzt ist und sämtliche Passagiere dabei den Tod fanden, beschleicht uns zwangsläufig ein beklemmendes Gefühl. „Mein Gott“, sagen wir uns, „wenn ich die Maschine genommen hätte, wäre ich umgekommen!“ … Dupuy erwähnt den wunderbaren Fall seiner eigenen Tochter, die am 31. Mai 2009 den Air-France-Flug 447 von Rio de Janeiro nach Paris genommen hatte – einen Tag, bevor die Maschine auf derselben Fluglinie in den Atlantik stürzte; nachdem er von dem Absturz gehört hatte, dachte er beklommen: „Hätte sie den Flug um einen Tag aufgeschoben, wäre sie unter den Opfern gewesen …“ Um ihn in seiner Bedrückung aufzumuntern, sagte seine Tochter zu ihm: „Aber Papa, wenn ich am nächsten Tag geflogen wäre, dann wäre es nicht zu dem Absturz gekommen!“15 Es gibt allerdings ein dunkles Gegenstück zu Dupuys Fall. Am 2. September 1998 stürzte die Maschine des Swissair-Flugs 111 von JFK (New York) nach Genf südwestlich von Halifax in den Atlantik und alle 229 Menschen an Bord starben. Die Untersuchung dauerte über vier Jahre an und sie erbrachte, dass sich ein Feuer aufgrund des entflammbaren Materials, das in der Flugzeugkonstruktion zum Einsatz gekommen war, so rasant ausbreiten konnte, dass die Mannschaft die Kontrolle darüber verlor und der Absturz unvermeidlich wurde. Nachdem der Autor eines Untersuchungsberichts des National Geographic eine Reihe zuvor ermittelter falscher Maßnahmen durch die Piloten und die Bodenkontrollstation aufgeführt hat, wirft er am Schluss seines Beitrags die Frage auf, was gewesen wäre, hätten die Piloten all diese Fehler nicht gemacht. Die traurige Antwort lautet, dass es nichts geändert hätte: Die Maschine war von Anfang an zum Absturz verurteilt; es gab keine geeigneten Maßnahmen, die die Dinge zum Guten gewendet hätten. Es ist demnach nicht so, „dass die Tragödie vermieden worden wäre, wenn die Piloten anders gehandelt hätten“ – die kontrafaktische vergangene Möglichkeit wird rückwirkend getilgt. Auf diese Weise lässt sich die Vergangenheit kontrafaktisch verändern: Wenn wir herausfinden, dass die Maschine von Anfang an zum Absturz verurteilt war, ändert sich auf der Faktenebene nichts, die (vergangenen) Tatsachen

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bleiben dieselben; was sich ändert, sind allein die kontrafaktischen Möglichkeiten. Die Hegel’sche Wiederholung, die eine Kontingenz zu einer allgemeinen Notwendigkeit erhebt, verändert dadurch die Vergangenheit (natürlich nicht faktisch, sondern in ihrem symbolischen Status). Die Französische Revolution wurde nur durch ihre Wiederholung in Haiti, wo die schwarzen Sklaven einen erfolgreichen Aufstand anführten, um eine freie Republik wie die französische zu errichten, zu einem welthistorischen Ereignis mit universellem Stellenwert; ohne diese Wiederholung wäre sie ein eigentümliches Lokalereignis geblieben. Das Gleiche gilt heute für die Syriza-Regierung in Griechenland: Sie wird nur dann zu einem universalen Ereignis werden, wenn sie einen Prozess von „Wiederholungen“ anstößt, von ähnlichen Bewegungen, die in anderen Ländern an die Macht kommen; sonst bleibt sie eine griechische Eigentümlichkeit mit bloß lokaler Bedeutung. Dies wiederum heißt, dass in beiden Fällen eine Wiederholung das Ereignis rückwirkend aus einer speziellen Eigentümlichkeit in ein allgemeines Wahrheitsereignis verwandelt hat (beziehungsweise verwandeln wird). Die Vergangenheit wird demnach rückwirkend zu dem, was sie „an sich“ war: Die Rückwirkung ist kein simpler Trug; der eigentliche Trug, die eigentliche rückwirkende Projektion ist vielmehr die Vorstellung von einem „Wirklichsten“, das über keine Öffnung auf die Zukunft hin verfügt. Anders ausgedrückt: Es soll hier nicht gesagt werden, dass die Realität an sich offen/nicht festlegbar ist und dass es sich bei ihrer Schließung um eine bloß rückwirkende Projektion handelt. Nehmen wir J. B. Priestleys Time and the Conways, ein Stück von 1937. Der erste Akt spielt 1919 am Vorabend des Geburtstages einer der Töchter, Kay, im Haus der Conways; der zweite Akt verlegt das Geschehen in die gleiche Nacht 1937 und spielt im gleichen Raum des Hauses; mit dem drittem Akt kehren wir dann wieder in das Jahr 1919 zurück und schließen unmittelbar da an, wo der erste Akt aufgehört hat. In diesem ersten Akt begegnen wir der Familie der Conways; es herrscht eine feierliche Stimmung, denn der Krieg ist zu Ende und alle freuen sich auf eine großartige Zukunft, in der sich ihre Träume von Ruhm und Wohlstand erfüllen werden. Der zweite Akt lässt uns eintauchen in die vernichteten Existenzen der Conways genau 18 Jahre später. Während sie sich im gleichen Raum versammeln, in dem sie im ersten Akt gefeiert haben, sehen wir, wie ihr Leben in unterschiedlicher Form gescheitert ist. Im weiteren Verlauf des Aktes entladen sich Ressentiments und Spannungen und die Conways driften, von Kummer und Trauer geplagt, auseinander. Der dritte Akt liefert die Fortsetzung des gleichen Abends von 1919, und weil wir sehen, wie der Same des Niedergangs der Conways bereits damals gesät

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wurde, wirkt ihr Enthusiasmus umso trostloser … Die Vergangenheit geht demnach „an sich“ mit der Zukunft schwanger und ist als solche nicht festlegbar, offen – erst in ihrer Zukunft wird sie, rückwirkend, „was sie immer schon war“ (das heißt für unser Beispiel, dass die Conways dem Untergang geweiht scheinen). Die gleiche traurige Lektion erteilt Roland Suso Richters The I Inside (2004, nach Michael Cooneys Stück Point of Death, dt. Im Auge des Todes). Simon Cable, der Überlebende eines schweren Verkehrsunfalls, wacht in einem Krankenhausbett ohne Erinnerung an die letzten zwei Jahre wieder auf. Fest entschlossen herauszufinden, wie und warum er dahin gekommen ist, entdeckt er bald, dass sein Bruder Peter getötet wurde und er mit einer Frau namens Anna verheiratet ist, die er nicht wiedererkennt und die mehr über seine Situation zu wissen scheint, als sie sich anmerken lässt. Außerdem wird er von Peters Freundin Claire bedrängt, die behauptet, seine Geliebte zu sein. Als Simon hinter das Geheimnis des Todes seines Bruders zu kommen versucht, wechselt er hin und her zwischen der Gegenwart – 2002 – und dem Unfall, der sich zwei Jahre zuvor ereignet hat. In der letzten Szene besucht Simon Peter, der ihm das Geheimnis enthüllt: Sie alle drei (Simon, Peter und Claire) sind bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und bei allem, was wir bisher gesehen haben – die verworrenen Visionen des sterbenden Simon –, handelt es sich in Wahrheit um seine verzweifelten Versuche, die Annahme der unabwendbaren Tatsache, dass er tot ist, zu vermeiden. Wir springen dann zu der Unfallszene und sehen, wie die Ärzte, die Simon wiederzubeleben versuchten, schließlich entscheiden, ihre Bemühungen abzubrechen – ein Zeichen, dass Simon am Ende seinen Tod akzeptiert. Bei dieser letzten Enthüllung werden alle unterschiedlichen Versionen des vergangenen Geschehens, die den Großteil des Films bilden, als kontrafaktische Möglichkeiten bloßgestellt und auf diese Weise rückwirkend getilgt.

Rückwirkung, Allmacht und Ohnmacht In Predestination (2014, nach Robert A. Heinleins Kurzgeschichte „All you Zombies“, geschrieben und entstanden unter der Regie von Michael und Peter Spierig) wird das Paradox einer Zeitreise entfaltet: Der tragische Held der Geschichte wird nach und nach als ein selbsterschaffenes Wesen enthüllt, das in einer geschlossenen Zeitschleife gefangen ist; die drei Hauptfiguren, in denen er sich verkörpert, sind ein namenloser Zeitagent (gespielt von Ethan Hawke), der den Auftrag hat, Verbrechen zu verhindern, bevor sie geschehen, Jane/John (ein androgyner Schriftsteller, der unter

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dem Pseudonym „Die unverheiratete Mutter“ schreibt) sowie der Terrorist „Fizzle Bomber“ (der Bomben legt, die Tausende töten, um größere Katastrophen zu verhindern); dazu kommt noch Mr. Robertson, der mysteriöse Chef des Zeitbüros.16 Diese Geschichte setzt das sogenannte Paradox der Vorherbestimmung ins Bild, bei dem ein Zeitreisender (ein Wesen, ein Gegenstand oder eine Information) innerhalb einer geschlossenen Zeitschleife existiert, in der die Ereigniskette von Ursache und Wirkung nach einem sich ständig wiederholenden Kreismuster abläuft: In der Gestalt von John ist der Zeitagent die Ursache seiner eigenen Geburt und muss in der Zeit zurückreisen und Sex mit seinem Selbst aus der Vergangenheit (als Jane) haben, bringt ein Kind zur Welt, das in der Zeit zurückreist und heranwächst, um schließlich zu ihnen zu werden. Diese Schleife ist auf die gleiche Weise geschlossen wie die Geschichte von Ödipus und die Geschichte über die „Begegnung in Samarra“: Jeder Versuch des Zeitreisenden, die Geschehnisse in der Vergangenheit zu verändern, führt in der Folge dazu, dass die jeweilige Person ihren Teil dazu beiträgt, dass das Ereignis zustande kommt, das sie zu verhindern suchen und es nicht ändern können. Die Geschehnisse sind folglich dazu vorherbestimmt, sich immer wieder auf die gleiche Weise zu ereignen: John will Jane vor all den seelischen Qualen durch ihren geheimnisvollen Liebhaber bewahren, verliebt sich dann aber in Jane und erzeugt so die gleiche Situation, die er zu verhindern suchte. Johns Zukunft selbst hängt davon ab, dass er in der Zeit zurückreist und sicherstellt, dass sein jüngeres weibliches Ich, Jane, schwanger wird, und dass er dann (als Zeitagent) ihr Kind stiehlt, mit ihm zurück ins Jahr 1945 reist und es in einem Waisenhaus absetzt, wo es heranwachsen und zu ihnen werden wird. Sie ist gezwungen, diesen Vorgang immer und immer zu wiederholen. Es stellt sich also heraus, dass Jane, John, der Zeitagent und der Fizzle Bomber alle dieselbe, in einer geschlossenen Zeitschleife gefangene Person sind, wobei der Zeitagent nach seiner Außerdienststellung in den 1970er-Jahren zum Fizzle Bomber wird. Am Ende des Films ist nicht klar, ob die Zeitschleife weiterbesteht oder ob Hawke es schafft, sie zu unterbrechen und in alternative Zeitstränge zu teilen (wie in der Viele-Welten-Theorie vom Zusammenbruch der Quantenoszillationen) – beide Versionen lassen sich stützen. Im Falle der Möglichkeit von Zeitreisen wäre es dem Paradox der Vorherbestimmung nach unmöglich, die Vergangenheit zu ändern, und jeder entsprechende Versuch würde zum auslösenden Ereignis für die Veränderung, die wir verhindern wollen (man stelle sich einen Zeitreisenden vor, der in der Zeit zurückreist, um einen Freund davor zu bewahren, dass er von einem Auto erfasst wird, nur um dann festzustellen, dass er selbst der Mann ist, der das Auto fuhr,

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das seinen Freund tötete). (Das Umgekehrte gilt ebenfalls: Es kann nur dann zu dem Ereignis kommen, wenn wir es zu verhindern versuchen – nur so tötet Ödipus seinen Vater und der Diener findet den Tod.) Der Bombenleger im Film verschärft dieses Paradox: Er begeht Verbrechen (von ihm ausgelöste Explosionen töten Menschen, um größere Verbrechen zu verhindern) und macht am Ende genau das, was er zu vermeiden versuchte, wie die Pétainisten in Frankreich, die Juden einsperrten und sie den Nazis übergaben, um zu verhindern, dass die Nazis auf brutalere Weise gegen die Juden vorgingen, und am Ende machten sie die ganze Arbeit für jene. (Weitere Beispiele sind das obsessive Subjekt, das nie wirklich richtig Sex hat, sondern sich nur daran beteiligt, um für den richtigen Sex zu üben, oder Autoren, die ständig nur Vorfassungen einer Geschichte schreiben, nie die Geschichte selbst. Hier lässt sich die schockierende Entdeckung machen, dass diese Vorübungen – Sex, Schreiben – bereits die Sache selbst sind. Möglicherweise können wir Menschen die Sache selbst nie direkt tun.) Der Film endet mit diesem Paradox: Der Zeitagent stellt sich dem Bombenleger, seinem künftigen Selbst, entgegen und tötet ihn, um ihn davon abzuhalten, Tausende zu töten; doch obgleich er von jenem gewarnt wird, sorgt der Agent auf diese Weise bloß dafür, dass er der Bombenleger werden wird – der Agent hätte die Schleife nur dann wirklich durchbrechen können, wenn er den Bombenleger am Leben gelassen, sich mit ihm angefreundet und ihn von der Nutzlosigkeit seines mörderischen Handelns überzeugt hätte. Indem er den Bombenleger tötet, folgt der Agent auf einer rein formalen Ebene also bereits dessen Logik – er tötet, um ein größeres Töten zu verhindern. Die extreme Version dieser Zeitschleife ist die verrückteste Theorie in der Atomphysik. Ihr zufolge besteht unser gesamtes Universum aus nur einem Atom, das unendlich in der Zeit zurückreist und dabei mit sich selbst in seinen verschiedenen Versionen zusammenstößt und interagiert. Die Viele-Welten-Theorie wiederum würde behaupten, dass wir jedes Mal, wenn wir in der Zeit zurückreisen und es uns tatsächlich gelingt, Geschehnisse zu verändern, nur immer eine neue alternative Zeitlinie erzeugen. Für welche dieser beiden Optionen soll man sich nun entscheiden? Zunächst einmal gilt es zu beachten, wie die Geschlechterdifferenz den Gegensatz zwischen einer Zeitschleife und der linearen Zeit überdeterminiert: Die Schleife ist weiblich und die lineare Zeit männlich. Deshalb wird bei genauerer Betrachtung der Handlung von Predestination unmittelbar klar, dass der Kristallisationspunkt der Geschichte, die Mittelsperson jener Reihe von Metamorphosen, nicht der Zeitagent ist, sondern Jane. Jane ist außergewöhnlich, ein starkes, äußerst intelligentes Zwitterwesen, und der von ihr

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nach ihrer Entbindung vollzogene Geschlechtswechsel von weiblich zu männlich ist eine reale Umwandlung in realer Linearzeit. Daher ist es also Jane, die sich selbst immer wieder schwängern, ihr eigenes Baby weiter stehlen und es in der Zeit zurückbefördern wird, damit es auf ewig zu ihnen wird. Nachdem sie ein Mann geworden ist, wird ihr das Gesicht weggeblasen; mit ihrem wieder hergerichteten Gesicht wird sie dann wie der Zeitagent (Hawke) aussehen und schließlich aufgrund der ständigen Zeitreisen durchdrehen und der Bombenleger werden. Gleichwohl gilt es zu beachten, dass diese mütterliche Schleife nicht vollständig, nicht gänzlich in sich geschlossen ist – Mr. Robertson, der geheimnisvolle Chef des Zeitbüros, befindet sich außerhalb von ihr; er ist nicht bloß eine andere Version derselben Person. Der Chef steht für die Wissenschaft, für die Erfindung des Zeitreisens im Jahr 1981, die die Kreisbewegung von Janes Selbstschwängerung erst möglich gemacht hat. Doch ist die Zeitschleife dann wirklich ewig, ohne Anfang und Ende? Ist es nicht so, dass Jane in unserer Linearzeit nicht vor das Jahr 1981 hätte zurückbefördert werden können, als das Zeitreisen erfunden wurde, und sie also 1981 existieren musste, um zurückbefördert zu werden? Was aber, wenn sogar für ihre Existenz vor 1981 gilt, dass sie aus der Zukunft dorthin befördert wurde? Man muss bedenken, dass aus einer Unterbrechung der Zeitschleife ihre rückwirkende Annullierung folgt, das heißt, dass sie nie wirksam bestanden hat. (Eine solche Kausalitätszeitschleife existiert getrennt von der herkömmlichen Raumzeit: Während sich die Zeit innerhalb der geschlossenen Schleife wiederholt, besteht sie für die Menschen außerhalb der Schleife auf normale lineare Weise fort. Das heißt nicht, dass die Linearzeit die einzige Realität darstellt und dass Zeitschleifen bloß der Vorstellung nach existierende Kreisläufe sind, die es in der „tatsächlichen“ Realität nicht gibt: Es ist eine Illusion zu glauben, dass die tatsächliche Realität selbst im kontinuierlichen Fluss ist, da sie sich nur durch Zeitschleifen aufrechterhalten kann.) Da es jedoch Zeitreisen in unserer Welt nicht gibt, sollten wir uns eine einfache Frage stellen: Gibt es in unserer Realität etwas, das ein Echo auf die Zeitschleife darstellt? Gibt es ein Phänomen, das es uns in einem gewissen eingeschränkten Sinne erlaubt, die Vergangenheit zu ändern, ein Phänomen, dessen Grundprinzip die Rückwirkung ist? Die Antwort dürfte nicht überraschen: Es ist die symbolische Ordnung, welche kein Außen hat (sobald wir in ihr wohnen), weil sie sich immer selbst voraussetzt (man sollte dazu auch den Hegel’schen Geist zählen, der das Resultat seiner selbst, seiner eigenen Tätigkeit ist). Erinnern wir uns an die strukturalistische Auffassung von der Unmöglichkeit, die Entstehung des Symbolischen (seiner

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Ordnung) zu denken – in diesem Zusammenhang gilt es als Kuriosum festzuhalten, dass die Société linguistique de Paris ihren Mitgliedern 1866 formell untersagte, über die Ursprünge der Sprache zu forschen, da dies die kognitiven Fähigkeiten des Menschen übersteige. „Die Gesellschaft wird keinen Austausch zulassen, der in irgendeiner Form mit den Sprachursprüngen zu tun hat.“17 Die symbolische Ordnung ist, sobald sie da ist, immer schon da; man kann nicht aus ihr heraustreten, es ist einem lediglich möglich, über ihre Entstehung Mythen zu erzählen (was Lacan gelegentlich getan hat). Denken wir an den wunderbaren Titel von Alexei Yurchaks Buch über die letzte sowjetische Generation: Alles war ewig, bis es nicht mehr war – der Punkt, nach dem wir suchen, ist ebender, an dem genau sich dieser Bruch umgekehrt vollzieht: Nichts davon (von der symbolischen Ordnung) war da, bis mit einem Mal alles davon immer schon da war. Das Problem an dieser Stelle ist das Auftauchen eines selbstbezüglich-„geschlossenen“ Systems, das kein Außen hat: Es lässt sich nicht von außen erklären, weil sein Gründungsakt selbstbezüglich ist, das heißt, das System tritt vollständig hervor, sobald es beginnt, sich herbeizuführen, seine Voraussetzungen in einer geschlossenen Schleife zu setzen. Es ist daher nicht nur so, dass die symbolische Ordnung mit einem Mal vollständig da ist – nichts war da und einen Moment später ist das alles da –, sondern vielmehr, dass nichts da ist, und dann mit einem Mal ist es, als sei die symbolische Ordnung immer schon dagewesen, als habe es nie eine Zeit gegeben, in der es sie nicht gab. Die Sprache hat kein Außen, weil es keine Metasprache gibt: Wir können nicht aus der Sprache heraustreten und eine Trennungslinie ziehen zwischen ihr und der Realität außerhalb von ihr, denn unser Realitätszugang ist immer schon durch die Sprache, diese selbstbezügliche Totalität, vermittelt. Die andere Seite dieser Zirkularität der symbolischen Ordnung, der Tatsache, dass sie kein Außen hat, ist jedoch, dass die Realität ihr gegenüber vollkommen gleichgültig ist, von ihr nicht berührt oder beeinflusst wird, in einem beziehungslosen Verhältnis zu ihr steht. Magisch ist gerade die Illusion, dass Worte die Dinge beeinflussen – erst mit der Wissenschaft reicht die Sprache an das Reale heran: Wissenschaftliche Erfindungen ermöglichen es uns, neue Entitäten zu generieren, die es in der Wirklichkeit zuvor nicht gegeben hat. Darin besteht die Ungeheuerlichkeit der Wissenschaft: Sie ermöglicht es uns, neue, „unnatürliche“ (unmenschliche) Gegenstände zu konstruieren, die uns in unserer Erfahrung eigentlich nur wie monströse Launen der Natur erscheinen können (technisches Zubehör, genetisch veränderte Organismen, Cyborgs und so weiter). Die Macht der menschlichen Kultur besteht nicht allein darin, ein autonomes Symboluniversum jenseits dessen, was wir als Natur erfahren, zu errichten,

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sondern auch darin, neue, „unnatürlich“-natürliche Gegenstände zu fertigen, in denen sich das menschliche Wissen materialisiert. Wir „symbolisieren die Natur“ nicht nur, wir denaturalisieren sie gleichsam von innen. Solche Momente, in denen „das Wort Fleisch wird“, sind wirklich furchterregend. Wie weit reicht die von der Rückwirkung ausgehende Macht? In seinem Aufsatz über den Fall des Rattenmannes („Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“, 1909) schildert Freud eine erstaunliche Zwangshandlung seines Patienten: Als er einmal mit ihr [seiner Dame] auf einem Schiffe fuhr, während ein scharfer Wind ging, mußte er sie nötigen, seine Kappe aufzusetzen, weil sich bei ihm das Gebot gebildet hatte, es dürfe ihr nichts geschehen. Es war eine Art von Schutzzwang, der auch andere Blüten trieb. […] Am Tage, als sie abreiste, stieß er mit dem Fuße gegen einen auf der Straße liegenden Stein [um] ihn auf die Seite [zu befördern], weil ihm die Idee kam, in einigen Stunden werde ihr Wagen auf derselben Straße fahren und vielleicht an diesem Stein zu Schaden kommen, aber einige Minuten später fiel ihm ein, das sei doch ein Unsinn, und er mußte nun zurückgehen und den Stein wieder an seine frühere Stelle mitten auf der Straße legen.18 Als der Rattenmann mit dem Fuß „spontan“ gegen den mitten auf der Straße liegenden Stein trat, war dies Ausdruck seiner aggressiven Haltung der Dame gegenüber. Der Grund, aus dem er den Stein unmittelbar darauf an seine frühere Stelle zurücklegte, ist nicht einfach die Einsicht, seine Angst sei übertrieben, gar absurd gewesen, sondern der tiefere Verdacht, dass sein Tritt gegen den Stein seine Aggressivität gegenüber der Dame beweise; demnach legte er den Stein zurück, um die Spur seines eigentlichen Wunsches zu verwischen. Kurz gesagt, können wir die sinnlose Doppelgeste des Rattenmanns nur dann verstehen, wenn wir die Ebene des Wunsches miteinbeziehen: Das Zurücklegen des Steins sollte eine Realitätsstörung „beheben“, in die sich sein Wunsch eingeschrieben hatte. Und wie immer im Fall von Zwangsritualen geht auch dieser Verwischungsversuch gründlich daneben: Als ihm die Absurdität seiner Angst, seine Dame könnte an diesem Stein zu Schaden kommen, aufgegangen war, warum musste der Rattenmann dann zurückgehen und den Stein wieder an seine frühere Stelle legen? Warum hat er den Stein nicht einfach da liegen lassen, wo er gelandet war, als er gegen ihn getreten hatte, abseits der Straße, und bloß über die Absurdität seiner Handlung gelacht? Ist dieser Zwang, den

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Stein an seine ursprüngliche Stelle zurückzulegen, nicht ein Beweis der libidinösen Beteiligung daran; gemahnt er nicht an den Wunsch des Rattenmanns, seiner Dame wehzutun? Kurz gefragt: Ist diese Handlung des Zurücklegens des Steins, das heißt, die Bemühung des Rattenmanns, die Spuren seines Wunsches zu verwischen, nicht der einzige Beweis für diesen Wunsch? Dieser Mechanismus des Ungeschehenmachens ist zusammen mit der Isolation charakteristisch für die Zwangsneurose. Er umfasst einen Prozess „verneinender Magie“, die sich darauf ausrichtet, das Getane ungeschehen zu machen: Wenn eine Handlung durch eine zweite ungeschehen gemacht wird, dann ist es, als hätte sich keine davon ereignet, obwohl in der Realität beide stattgefunden haben. In „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926) verweist Freud auf den Unterschied zwischen Ungeschehenmachen und Verdrängung: Bei der Verdrängung wird ein traumatisches Ereignis lediglich verschleiert und bleibt bestehen, während die Zwangszeremonie nicht nur darauf ausgerichtet ist, das Erscheinen eines traumatischen Ereignisses zu verhindern, sondern es ungeschehen zu machen – was „irrational“ und magisch ist. Wie hängt dieses zwanghafte Ungeschehenmachen mit den sogenannten leeren Gesten zusammen, jenen Angeboten, die für überflüssig erklärt und abgelehnt werden, die jedoch genau als solche ihre Funktion erfüllen? Wenn ich aus einem harten Wettbewerb um eine berufliche Beförderung als Sieger hervorgehe, und nicht mein engster Freund, der dabei mein größter Konkurrent war, sollte ich ihm redlicherweise meinen Rückzug anbieten, damit er die Beförderung bekommt, und er für seinen Teil sollte mein Angebot dann eigentlich ablehnen – auf diese Weise ließe sich unsere Freundschaft vielleicht retten. Wir haben es hier mit einem symbolischen Tausch in Reinform zu tun: einer Geste, die ausgeübt wird, um abgelehnt zu werden. Die Magie des symbolischen Tauschs liegt darin, dass es für beide Parteien einen eindeutigen Gewinn in ihrem Solidarpakt gibt, obwohl sie am Ende wieder genau da sind, wo sie am Anfang waren. Dieses Paradox wird in dem englischen Arbeiterdrama Brassed off – Mit Pauken und Trompeten auf die Spitze getrieben, in dem der Held eine hübsche junge Frau nach Hause begleitet. Bei ihrer Wohnung angekommen, fragt sie ihn: „Möchtest du noch auf einen Kaffee mit reinkommen?“ Auf seine Antwort – „Das Problem ist, dass ich keinen Kaffee trinke“ – entgegnet sie mit einem Lächeln: „Macht nichts – ich habe sowieso keinen.“ Die enorme erotische Kraft ihrer Antwort beruht darauf, dass sie eine unerhört direkte Einladung zum Sex ausspricht, ohne diesen auch nur zu erwähnen: Als sie den Mann zunächst auf einen Kaffee einlädt und dann zugibt, dass sie gar kei-

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nen hat, nimmt sie ihre Einladung nicht etwa zurück, sondern macht gerade klar, dass die erste Einladung zum Kaffee ein für sich genommen gleichgültiger Ersatz (oder Vorwand) für die Einladung zum Sex war. Wenngleich zwischen diesen beiden Fällen von „Angeboten zum Zweck ihrer Ablehnung“ und dem zwanghaften Ungeschehenmachen der Vergangenheit (in beiden Fällen wird die erste Geste ungeschehen gemacht oder zurückgewiesen, sodass am Ende dabei null herauskommt) eine rein formale Ähnlichkeit besteht, gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Reihen. Bei Ersterer wird keine Vergangenheit ungeschehen gemacht; die ganze Prozedur – jemand macht ein Angebot und ein anderer weist es zurück – findet volle Zustimmung, weil sie „Sinn ergibt“, nämlich den, dass beide Partner ihr grundsätzliches Wohlwollen versichern, wohingegen der Fall von zwanghaftem Ungeschehenmachen eine magische Komponente umfasst, insofern mit der zweiten Geste versucht wird, die erste buchstäblich ungeschehen zu machen und die Dinge in den vorherigen Zustand zurückzuversetzen. Damit aber rühren wir unmittelbar an eine theologische Frage: Wie weit geht die göttliche Allmacht? Kann Gott nicht nur in der Gegenwart Wunder wirken, sondern noch dazu die Vergangenheit in ihren Fakten ungeschehen machen; kann er dafür sorgen, dass das, was in der Vergangenheit tatsächlich geschah, nie geschehen ist? In seinem Seminar X über die Angst (1962/63) geht Lacan diese Thematik an, indem er eine der klarsten Definitionen dafür vorlegt, was Atheismus aus psychoanalytischer Sicht heißt; er beginnt mit einer Frage, die in dem aufgeworfen worden sei, „was ich die heißen Zirkel der Analyse nennen könnte, derjenigen, in denen noch die Regung einer ersten Inspiration lebt, […] die Frage, ob der Analytiker Atheist sein soll oder nicht, und ob das Subjekt am Ende der Analyse seine Analyse als beendet ansehen kann, wenn es noch an Gott glaubt“. Auf der Bahn einer solchen Frage zeige ich Ihnen an, dass ein Zwangsneurotiker, was auch immer er Ihnen in seinen Äußerungen bezeugt, sofern er nicht aus seiner zwangsneurotischen Struktur herausgerissen wird, als Zwangsneurotiker stets an Gott glaubt, davon können Sie überzeugt sein. Ich meine damit, dass er an den Gott glaubt, für den bei uns, in unserem Kulturkreis, alles und jedes oder beinahe alles der Vertreter ist, das heißt an den Gott, an den alle Welt glaubt, ohne darin zu glauben, nämlich dieses auf alle unsere Handlungen angesetzte universelle Auge. […] Solcher Art ist die wahre Dimension des Atheismus. Atheist wäre derjenige, der es geschafft hätte, das Phantasma vom Allmächtigen zu eliminieren. […] Die Existenz des Atheisten im

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wahrhaften Sinne kann in Wirklichkeit nur an der Grenze zu einer Askese begriffen werden, wovon es uns wohl dünkt, dass sie nur eine psychoanalytische Askese sein kann. Ich spreche vom Atheismus, begriffen als die Negation der Dimension einer Gegenwärtigkeit der Allmacht im Innersten der Welt.19 Aus der „Eliminierung des Phantasmas vom Allmächtigen“ wird ein Jahr später (im Seminar XI) die „Durchquerung des Phantasmas“ werden – wie das? Reicht es denn nicht, einfach von der Voraussetzung auszugehen, dass es keinen allmächtigen/allsehenden Anderen gibt? Nein, der innere Zusammenhang zwischen Allmacht und Ohnmacht ist viel verdrehter: Das Phantom der Allmacht nämlich rührt gerade von der Erfahrung der Machtlosigkeit her, und der paradoxe Umschlag von Allmacht in Ohnmacht bildet das Kennzeichen des phallischen Signifikanten, der das Instrument der Macht (potency)20 ist, der Lebenskraft, und gleichzeitig der Signifikant der Kastration, weswegen der Phallus „immer nur als Mangel [erscheint], und darin besteht seine Verbindung mit der Angst“. All das besagt, dass der Phallus aufgerufen ist, als Instrument der Macht zu funktionieren. Wenn wir von Macht in der Analyse sprechen, tun wir das stets auf eine schwankende Weise, denn es ist immer die Allmacht, auf die wir uns beziehen, obwohl es darum gar nicht geht. Die Allmacht ist bereits eine Verschiebung, eine Ausflucht gegenüber diesem Punkt, an dem alle Macht schwach wird. Von der Macht beansprucht man nicht, dass sie überall sei, man beansprucht von ihr, dass sie da ist, wo sie präsent ist, gerade weil wir, wenn sie da schwach wird, wo sie erwartet wird, damit beginnen, die Allmacht zurechtzuzimmern. Anders gesagt, der Phallus ist präsent, er ist überall präsent, wo er nicht in Situation ist.21 Kurz gesagt, erhebt sich das Phantom der Allmacht, wenn wir auf die Begrenztheit der Macht des Anderen stoßen: Toute-puissance (Allmacht) ist toute-en-puissance (allumfassende Potenz), die Aktualisierung seiner Macht/Machtpotenz unterliegt immer Schranken: Allmacht ist für Lacan nicht eine Art Maximum, Höhepunkt oder gar Verunendlichung der Macht – worauf sie häufig reduziert wird, um ihr tatsächliches Bestehen zu bestreiten –, sondern ein Jenseits der Macht, das nur dann erscheint, wenn diese mit ihrem Anspruch scheitert. Es tut sich nicht am Ort der Ohnmacht auf, sondern am Ort dessen, was

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als „allumfassende Potenz“ bestehen bleibt, ohne dass sie je in die Dimension eines Handelns übergehen würde, das dem Bereich konkreter Machtausübung zugehört.22 Auf jedem Normativitätsfeld gibt es einen blinden Fleck der Faktizität, einen Punkt, an dem der Gegensatz zwischen Faktizität und Normativität zusammenfällt und mitten in einer normativen Ordnung eine Faktizität in Erscheinung tritt. (Selbst in der kantischen Ethik zeigt sich die Faktizität, nämlich in Gestalt dessen, was Kant als die unerklärliche „Tatsache der Vernunft“ bezeichnet.) In der Theologie erscheint dieser blinde Fleck als der Abgrund des allmächtigen Willens Gottes, der durch keine Gesetze gebunden ist, auch nicht durch die (Natur- und Moral-)Gesetze, die er der geschaffenen Welt selbst auferlegt hat; in der Psychoanalyse tritt er in Gestalt der unberechenbaren „(präödipalen) Ur-Mutter“ in Erscheinung, deren Launen das kleine Kind ohne irgendein Schutzschild von Rechten ausgesetzt ist; in der sozialen Rechtsordnung ist es die Willkür des Souveräns, die unter anderem Jean Bodin feststellte, bei dem es heißt, dass „der souveräne Fürst [sich] nicht binden kann, selbst wenn er es wollte. Deshalb enden Gesetze und Ordonnanzen mit den Worten ‚car tel est notre plaisir‘ [denn das ist unser gnädiger Wille]. Auf diese Weise wird angezeigt, daß die Gesetze eines souveränen Herrschers, auch wenn sie auf guten und triftigen Erwägungen beruhen, einzig und allein seiner freien Willensentscheidung entspringen.“23 Jede rechtskräftige Macht, egal wie „demokratisch“ sie erscheint, egal wie stark sie von Gesetzen und Regularien eingeschränkt wird, ist zu ihrem Erhalt auf ein Untergrundecho angewiesen, zum Beispiel: „Am Ende können sie mit uns doch sowieso machen, was sie wollen!“ – ohne dieses Echo büßt sie schlicht und einfach ihre Autorität ein. Gilt nicht dasselbe für die göttliche Vorsehung? Gottes Beschluss, manche von uns zu erlösen und andere der ewigen Verdammnis zu überantworten, „beruht nicht auf guten und triftigen Erwägungen“ (wie auch, wenn wir zum Zeitpunkt dieses Beschlusses noch nicht einmal geschaffen waren); er wurde getroffen, weil das sein gnädiger Wille war … Solche Erfahrungen von Allmacht reichen bis auf die Abhängigkeit des kleinen Kindes von seiner Mutter zurück, dem ersten Liebesobjekt, das über die unbegreifliche Macht verfügt, dem Kind willkürlich Freude zu verschaffen und Dinge zu bieten, die seine Bedürfnisse befriedigen, oder sie ihm ebenso willkürlich wieder zu entziehen. Sofern das Kind nicht erahnen kann, weshalb die Mutter sich zu diesem und nicht zu jenem entschieden hat, wenn doch sein Überleben von solchen undurchschaubaren Entscheidungen abhängt, kann es sie bloß als allmächtigen Akteur erleben. Ebenso ist der Gott der Vorsehung ein Ak-

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teur der bloßen Laune, wobei seine Allmacht die Tatsache zur Erscheinung bringt, dass er selbst nicht weiß, was er tut. Bereits gegen Ende seines Seminars über „Die Bildungen des Unbewussten“, das er fünf Jahre zuvor abgehalten hatte (1957/58), hat Lacan den Zusammenhang zwischen Allmacht und Ohnmacht in Umrissen dargelegt und beschrieben, wie ein solches Verhältnis totaler Abhängigkeit von der allmächtigen Mutter, das nur Angst und Unruhe auslösen kann, überwunden wird, wenn das Kind feststellt, dass diese allmächtige Mutter/diese allmächtige Andere selbst „symbolisiert“ ist, einem „Anderen des Anderen“ untergeordnet, dass sie selbst ein Gesetz befolgt: Nichts von dem geistigen (mentale) Leben, das dem entspricht, was die Erfahrung uns in der Analyse gibt, [läßt] sich organisieren, wenn es nicht jenseits des primordial durch seine Macht […] in die Allmachtsposition gerückten Anderen den Anderen dieses Anderen gäbe, wenn ich das sagen kann, nämlich das, was dem Subjekt erlaubt, diesen Anderen, Ort des Sprechens, als selbst symbolisiert zu erkennen.24 Für diejenigen, die sich mit Lacan auskennen, ist die Ironie in diesem Satz unverkennbar: Der „Andere des Anderen“ nämlich bezeichnet genau das, woraus später „Es gibt keinen Anderen des Anderen“ wird. Der Punkt in beiden Fällen ist der, dass der Andere an sich „kastriert“, unvollständig, durchkreuzt ist und längst kein perfekt organisiertes symbolisches Netzoder Maschinenwerk. Nur, der Andere ist dies nicht. Der Andere ist nicht schlicht und einfach der Ort eines perfekt organisierten, fixierten Systems. Er ist selbst ein symbolisierter Anderer, und das verleiht ihm seinen Schein von Freiheit. Der Andere, der Vater (Père) in dem Fall, der Ort, an dem sich das Gesetz artikuliert, ist selbst der signifikanten Artikulation unterworfen, und, mehr als der signifikanten Artikulation unterworfen, ist er davon geprägt (marqué), mit dem denaturierenden Effekt, den die Anwesenheit des Signifikanten mitbringt. Das, worum es geht, ist […], daß der Effekt des Signifikanten auf den Anderen, die Prägung (marque), die er auf dieser Ebene erleidet, die Kastration als solche repräsentiert.25 Zielt Lacan hier nicht auf seine eigene Erhöhung des Symbolischen zu einer perfekt arbeitenden Maschine, die den gesamten Raum der subjektiven Erfahrung reguliert, jene Erhöhung, die bereits in den Seminaren II und III

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den Ton vorgegeben hat? Exemplarisch in diesem Zusammenhang ist die wahre Hymne auf die strukturelle Überdeterminierung am Beginn seines „Seminars über E. A. Poes ,Der entwendete Brief ‘“, mit dem seine Schriften beginnen: Gewiß, wir kennen die Wichtigkeit der imaginären Prägungen in jenen Aufteilungen der symbolischen Alternative, die der signifikanten Kette ihren Verlauf geben. Wir behaupten aber, das dieser Kette eigentümliche Gesetz regiere die für das Subjekt determinierenden psychoanalytischen Effekte: die Verwerfung, die Verdrängung, die Verneinung selbst – wobei wir, was die richtige Akzentuierung anbelangt, verdeutlichen müssen, daß diese Effekte so treu der Entstellung des Signifikanten folgen, daß die imaginären Faktoren, trotz ihrer Trägheit, hier nur in Gestalt von Schatten und Spiegelungen auftreten.26 Le Gaufeys Formel lautet la toute-pouissance sans tout-puissance:27 Die Allmacht ist eine Tatsache des symbolischen Universums, in dem wir die Vergangenheit rückwirkend verändern können, und die richtige atheistische/materialistische Position besteht nicht in der Bestreitung der Allmacht, sondern in ihrer Bestätigung unter Verzicht auf einen sie stützenden und erhaltenden Akteur (Gott oder ein anderes allmächtiges Wesen) – aber ist das genug? Müssen wir nicht einen Schritt weitergehen und die Durchkreuzung (Inkonsistenz, Begrenztheit) des großen Anderen qua entpersonalisierter Struktur behaupten? Und es ist genau diese Inkonsistenz/Begrenztheit des großen Anderen, die ihn wieder in dem Sinne subjektiviert, dass die Frage „Aber was will der Andere?“ auftaucht. Und natürlich ist das Rätsel des Begehrens des Anderen auf hegelianische Weise für den Anderen selbst ein Rätsel. Erst auf dieser Ebene gelangen wir zur „symbolischen Kastration“, die nicht die „Kastration“ des Subjekts, sein Dasein von Gnaden des großen Anderen, seine Abhängigkeit von dessen Launen, sondern die „Kastration“ des großen Anderen selbst bezeichnet. Der ausgestrichene Andere ist demnach nicht bloß der entpersonalisierte Andere, sondern auch der Stab, der den entpersonalisierten Anderen selbst zerbricht.28

Das zwölfte Kamel als einer der Namen Gottes Liegt nicht dieselbe kontrafaktische Logik dem bekannten Witz aus Lubitschs Ninotschka zugrunde? „Herr Ober! Bringen Sie mir bitte einen Kaffee ohne Sahne!“ „Tut mir leid, mein Herr, aber wir haben keine Sahne mehr, darf es auch ein Kaffee ohne Milch sein?“ Auf der Tatsachenebene

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bleibt der Kaffee derselbe Kaffee, die mögliche Veränderung aber besteht darin, dass Kaffee ohne Sahne zu Kaffee ohne Milch gemacht wird – oder noch einfacher, dass die implizierte Negation hinzukommt und einfacher Kaffee zu Kaffee ohne Milch gemacht wird, wie in Robert Schumanns Humoreske mit der berühmten inneren Stimme, die Schuhmann (in der geschriebenen Partitur) in einem dritten Notensystem zwischen die beiden Klaviersysteme, die höhere und die tiefere Stimme, neu einfügt als die melodische Gesangslinie, die eine nicht gesungene „innere Stimme“ bleibt (und die nur als „Augenmusik“ existiert, als Musik nur für die Augen in Form geschriebener Noten). Diese abwesende Melodie gilt es auf Basis der Tatsache zu rekonstruieren, dass die erste und die dritte Ebene (die Klavierstimme für die rechte und die linke Hand) sich nicht unmittelbar aufeinander beziehen, das heißt, dass sie in keiner unmittelbaren Spiegelungsbeziehung zueinander stehen; um ihre gegenseitige Verbindung auszuweisen, sieht man sich daher gezwungen, eine dritte, „virtuelle“ Zwischenebene (Melodiestimme) zu (re-)konstruieren, die sich aus strukturellen Gründen nicht spielen lässt. Schuhmann bringt diese Verwendung der abwesenden Melodie auf eine Ebene offenkundig absurder Selbstbezüglichkeit, wenn er später in dem gleichen Fragment der Humoreske dieselben zwei tatsächlich gespielten Melodiestimmen wiederholt; doch diesmal umfasst die Partitur keine dritte, abwesende Melodie, keine innere Stimme – somit ist das, was hier abwesend ist, die abwesende Melodie, die Abwesenheit selbst. Wie sind diese Noten zu spielen, wenn sie auf der Ebene dessen, was tatsächlich gespielt werden soll, die vorherigen Noten genau wiederholen? Von den tatsächlich gespielten Noten ist lediglich das weggenommen worden, was nicht da ist, ihr konstitutiver Mangel. Folglich kehren wir nicht zu der genau angegebenen Notenlinie zurück, wenn die symbolische Wirksamkeit der abwesenden „dritten Melodie“ aufgehoben wird; stattdessen erhalten wir eine doppelte Negation – bezogen auf den Witz von Lubitsch erhalten wir keinen reinen Kaffee, sondern einen Nicht-nicht-Kaffee-mit-Milch; bezogen auf Schuhmanns Stück erhalten wir keine reine Melodie, sondern eine Melodie, die des Mangels selbst ermangelt, in dem die fehlende „dritte Stimme“ selbst fehlt. Demnach gehen wir von der kontrafaktischen Äußerung „Wenn wir Sahne hätten (die wir nicht haben), hätte ich Ihnen Kaffee ohne Sahne gebracht“ zur faktischen Äußerung „Wenn Sie Kaffee ohne Milch wünschen (wonach Sie aber nicht gefragt haben), kann ich Ihnen den bringen“ über. In dieser Weise lässt sich die kontrafaktische Vergangenheit verändern: Der gleiche einfache Kaffee wird von „ohne Sahne“ zu „ohne Milch“, und das „ohne“ funktioniert hier ganz genauso wie die sogenannte „bestimmte

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Negation“ bei Hegel: Es bezieht sich auf das, was bei dem „einfachen Kaffee“ negiert wird: die Sahne oder die Milch. Hieraus ergeben sich weitreichende politische Implikationen: Bei einem politischen Prozess heißt „bestimmte Negation“, dass es nicht ausreicht, das Allgemeine gegenüber der besonderen Identität geltend zu machen – es kommt auf den konkreten Weg zum Allgemeinen an, darauf, welches Partikulare bei einer Universalität negiert wird. Wenn in einem Konflikt zwischen der Universalität der Menschenrechte und der Identität der Schwarzen die Universalität unmittelbar die liberale Universalität der Weißen ist, dann sind die Schwarzen aufgerufen, sich ihr anzuschließen und einen Teil ihrer selbst aufzugeben. Demnach ist die weiße liberale Universalität ein falsches Allgemeines, und darum musste die Universalität aus dem Black-Power-Prozess heraus erwachsen. Das Paradoxe ist also, dass die Überwindung schwarzer Identitätspolitik als zweifache Negation vonstattengehen muss: Ja, es gilt die exklusive schwarze Partikularität zu negieren, gleichzeitig aber sollte auch die hegemoniale weiße Universalität negiert werden, die unter der Hand die Weißen privilegiert. Im heutigen Frankreich etwa hat die Idee von égalité et liberté ihren wahren Vertreter nicht in einem reinen Franzosen, einem Franzosen sans phrase, der für die universelle Staatsbürgerschaft eintritt und die afrikanischen Immigranten unter Druck setzt, ihre heimischen Sitten aufzugeben und sich in die französische Lebensweise zu integrieren. Ihre eigentlichen Repräsentanten sind vielmehr gerade jene Immigranten, die gleichberechtigter Teil der französischen Gesellschaft sein wollen und einwanderungsfeindliche Populisten ablehnen – sie sind buchstäblich französischer als die Franzosen selbst. Auf einen größeren Zusammenhang übertragen heißt das, dass die verpassten Gelegenheiten im Leben, das, was wir zu tun versäumt haben, genauso zu unserem Leben dazugehören und es mit ausmachen: „Erkenne dich selbst“ heißt nicht nur zu erkennen, was man getan hat, sondern auch, was man nicht getan hat. In seinen Ausführungen zu der Zeile von James Randall „Das Leben besteht daraus, es zu verpassen“, heißt es bei Adam Philipps: Was ist daran schmerzhaft? Es könnte doch äußerst tröstlich sein, oder? Es könnte eine Art sein zu sagen: So ist nun mal das Leben, es besteht aus den verschiedenen Leben, die man nicht hat, so als würde man jemandem sagen: Mach dir nichts draus, das macht ein Leben eben aus. Vielleicht ist es auch bloß so, dass moderne Menschen geradezu versessen auf die Vorstellung sind, sie verpassten all die vermeintlichen anderen Leben. Wir sind einfach süchtig nach Alternativen, fasziniert von dem, was wir niemals machen können. Als ob wir alle die

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falschen Eltern oder die falschen Körper oder nicht das richtige Glück gehabt hätten.29 Vielleicht sollte man die Vorstellung von einem „reichen Leben“ vor dem Hintergrund dieser Zeilen neu bestimmen: Es ist nicht das Leben, das ich tatsächlich lebe, sondern mein tatsächliches Leben nebst sämtlichen alternativen Leben, die ich beim Leben dieses einen Lebens versäume. Meine Situation definiert sich aus dem Spektrum all der möglichen Leben. In seinem Roman Before and During entfaltet Wladimir Scharow verrückte Varianten der russischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Lew Tolstois Zwillingsbruder wird von dem Schriftsteller im Leib seiner Mutter gegessen und dann als Lews Sohn wiedergeboren; eine sich selbst vervielfältigende Madame de Staël wird Liebhaberin des Philosophen und Eremiten Nikolai Fjodorow, der behauptet, die Aufgabe der Menschheit sei die körperliche Auferstehung, und so weiter. Scharow stellt vollkommen zurecht heraus, dass wir es hier nicht mit alternativen Geschichtsverläufen zu tun haben, sondern mit zusätzlichen Schichten der wirklichen Geschichte selbst: „Ich schreibe die vollkommen reale Geschichte der Gedanken, Absichten und Überzeugungen. Das ist das Land, das existiert hat. Das ist unser Wahnsinn, unser eigenes Absurdes.“30 Das tatsächliche Leben eines Menschen ist demnach eine Art zweidimensionale Oberfläche, auf der die dreidimensionale Mannigfaltigkeit dessen, was ihm hätte widerfahren können, seine Wirklichkeit überlagert. In ähnlichem Sinne hat Walter Benjamin unter Bezug auf die kabbalistische Vorstellung von der erschaffenen Realität als ein „zerbrochenes Gefäß“, das von den Gläubigen wieder zusammengesetzt werden muss, dieses Bild verwendet, um damit anschaulich zu machen, was beim Übersetzen eigentlich passiert. In seinem frühen Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ heißt es: Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.31 Die Bewegung, die Benjamin hier beschreibt, ist eine Art Umstellung von der Metapher auf die Metonymie: Anstatt die Übersetzung als metaphorischen Ersatz des Originals zu begreifen, als Versuch, den ursprünglichen Sinn so

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getreu wie möglich wiederzugeben, siedelt Benjamin Original und Übersetzung auf derselben Ebene an und versteht sie als Teile desselben Feldes (entsprechend behauptete Lévi-Strauss, dass die zentralen Interpretationen des Ödipus-Mythos selbst Neufassungen des Mythos sind). Der Abstand, der das Original nach traditioneller Auffassung von seiner (stets unvollkommenen) Übersetzung trennt, wird somit in das Original selbst zurückversetzt: Dieses ist selbst bereits das Bruchstück eines zerbrochenen Gefäßes, weshalb das Ziel der Übersetzung nicht in der größtmöglichen Originaltreue besteht, sondern darin, das Original zu ergänzen, es als Bruchstück des „zerbrochenen Gefäßes“ zu betrachten und ein weiteres Fragment herzustellen, welches das Original nicht nachahmt, sondern vielmehr zu ihm passt wie ein Bruchstück eines zerbrochenen Ganzen zu einem anderen. Eine gute Übersetzung zerstört mithin den Mythos von der organischen Ganzheit des Originals und entlarvt sie als Schwindel. Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass das Übersetzen nicht etwa der Versuch ist, das zerbrochene Gefäß wiederherzustellen, sondern der Akt des Zerbrechens selbst. Sobald die Übersetzung aufgenommen wird, erscheint das organische Ursprungsgefäß als Bruchstück, das ergänzt werden muss – das Zerbrechen des Gefäßes ist der Auftakt zu dessen Wiederherstellung. Eine der Übersetzung entsprechende Geste im Bereich des Erzählens bestünde darin, die Handlung der Ursprungsgeschichte so zu verändern, dass man als Leser den Eindruck gewinnt, „erst jetzt wirklich verstanden zu haben, worum es in der Geschichte geht“. Der Roman Die verlorenen Bücher der Odyssee von Zachary Mason32 enthält eine Reihe von Variationen der „offiziellen“ Geschichte von Homer, die als Bruchstücke des (unlängst entdeckten) unübersichtlichen Riesendurcheinanders von Legenden präsentiert werden, aus denen Homer sein Epos gestaltet hat: Odysseus kehrt in seine Heimat Ithaka zurück und stellt fest, dass Penelope der alten Sitte entsprechend einen anderen Mann geheiratet hat, der ein guter König ist; Polyphem, eigentlich ein friedlicher Bauer, entdeckt Odysseus und dessen Männer in seiner Höhle, wo sie sich den Bauch mit seinen Vorräten vollschlagen; der betagte Odysseus besucht die Ruinen von Troja und findet dort einen Marktplatz vor, auf dem Verkäufer und Schauspieler die Menge damit unterhalten, dass sie „bekannte Griechen und Trojaner nachäffen“, und so weiter. Diese (ausgedachten) Variationen sollten nicht als verzerrte Darstellungen irgendeines verlorengegangenen Ursprungswerks aufgefasst werden, sondern als Bruchstücke einer Gesamtheit, die in der Matrix aller möglichen Fragmente bestünde (in dem Sinn, in dem Lévi-Strauss zufolge alle Interpretationen des Ödipus-Mythos, einschließlich der von Freud, selbst zu diesem Mythos gehören). Sollten wir daher versuchen, die voll-

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ständige Matrix zu rekonstruieren? Es sollte besser darum gehen, den traumatischen Punkt auszumachen, den Antagonismus, der unerzählt bleibt und um den alle Variationen und Fragmente kreisen. Raymond Khourys Roman Dogma33 bietet eine interessante Variation der Grundmotive des religiösen Thrillers: Das geheime Dokument, das das Christentum zu vernichten droht, sollte es an die Öffentlichkeit gelangen, ist hier die Sammlung der Texte – Evangelien, Briefe, Betrachtungen und andere Fragmente –, die keinen Eingang in die Bibel fanden, als Kaiser Konstantin die christliche Orthodoxie begründete. Es ist die These des Romans, dass Konstantin die Verbrennung all dieser Dokumente befahl, weil er fürchtete, ein wirres Durcheinander dieser Art würde endlose Deutungskämpfe nach sich ziehen. Sein Ratgeber Hosius weigerte sich jedoch, den Befehl auszuführen, und versteckte die Dokumente an einem sicheren Geheimort, wo sie dann von Templern entdeckt werden . . . Eine solche Entdeckung sollte jedoch selbst unter fiktionalem Aspekt nicht überschätzt werden: Dogma lässt sich als exemplarischer Fall einer Bemühung verstehen, das „zerbrochene Gefäß“ wieder zusammenzufügen, die Bibel wieder in jenem komplexen und unzusammenhängenden Geflecht von Variationen anzusiedeln, aus dem sie durch Selektion hervorgegangen ist. Die Wahrheit besteht demnach nicht in einer einzelnen Version, sondern in der Überlagerung miteinander unvereinbarer Versionen. (Dies hat selbstverständlich nichts mit irgendeiner Form von postmodernem Relativismus oder Wahrheitspluralismus zu tun: Wenn sich miteinander unvereinbare Versionen überlagern, deutet das immer darauf hin, dass eine einzelne traumatische Wahrheit unterdrückt/ausgeschlossen wird.) Was nun aber die vorherrschende Richtung der wiederentdeckten Dokumente betrifft, so bekommen wir das übliche Durcheinander von gnostischer Innergeistigkeit (Gott ist tief in unserer Seele und so weiter – jener Linie, die später in der Katharerbewegung ihren Höhepunkt erreichen wird) und sozial-revolutionärem Messianismus (Christus wollte das Reich Gottes – einen von der römischen Herrschaft befreiten jüdischen Staat – auf dieser Erde errichten) und damit jene beiden Extreme, die die Kirche zu unterdrücken suchte. (Was ist, nebenbei gesagt, von einer viel dunkleren Version zu halten, bei der die verborgenen Dokumente zeigen, dass Christus ein brutaler Egoist war, der zu Gewaltausbrüchen neigte, eine Art antiker Rasputin, bei dem sich Heiligkeit und Obszönität mischten, oder dass es sich bei ihm um eine Marionette der Römer handelte, die von ihnen gestützt wurde, weil sie es auf die jüdischen Institutionen abgesehen hatten?) Fast möchte man sagen, dass die Kirche in dieser Sache im Grunde recht hatte: Die beiden zurückgewiesenen Möglichkeiten erlauben nur die Wahl zwischen dem auf das

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Seelenleben eingegrenzten gnostischen Universalismus und dem auf die eigene Volksgruppe eingegrenzten radikalen sozialen Wandel. Wo aber bleibt da ein Universalismus, der auf der Ebene des wirklichen sozialen Lebens verfochten wird und auf die Befreiung der Menschheit als ganze ausgerichtet ist und nicht lediglich auf die einer einzelnen Volksgruppe? Die eigentliche Unterscheidung erfolgt hier: zwischen der Universalität einer hierarchisch organisierten gesellschaftlichen Institution (Kirche) und der nicht-hierarchischen Universalität, deren Modell der Ausschuss ist. Aber ist der Paradefall eines „zerbrochenen Gefäßes“ nicht auch die letzte Botschaft Jesu, die „sieben letzten Worte Christi“? Erstens: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34); zweitens: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43); drittens: „Frau, siehe, dein Sohn!“ und „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26–27); viertens: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,46 und Mk 15,34); fünftens: „Mich dürstet“ (Joh 19,28); sechstens: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30); siebtens: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Das Dümmste, was man mit diesen Worten machen kann, haben Franco Zeffirelli und Mel Gibson in ihren kitschigen Filmfassungen umgesetzt. Indem sie den sterbenden Christus am Kreuz alle nacheinander verkündigen lassen, entsteht der Effekt eines lächerlichen und erstickenden Übermaßes. Es ist einfach zu viel, wie in manchen Hollywood-Filmen und klassischen Opern, wo der sterbende Held auf wundersame Weise immer noch weiterredet und seine Botschaft vollständig übermitteln kann, obwohl er eigentlich längst tot umgefallen sein müsste. Statt eine Vereinheitlichung dieser Art anzustreben, gilt es, die sieben letzten Worte als das zu betrachten, was in der Quantenphysik Überlagerung mehrerer Quantenzustände heißt: als gleichzeitige alternative Versionen, die auf gewisse Weise „alle wahr“ sind. Ihre Wahrheit liegt dabei weder in einer einzelnen Erzählung noch in der Annahme, dass es sich bei den sieben Versionen um unvollständige und fragmentarische Reste eines einzelnen einheitlichen Originals handelt; sie liegt in der Resonanz der sieben Versionen untereinander, in ihrer gegenseitigen Deutung. Hierin besteht vielleicht letztlich auch die Lehre des Christentums: Die jüdische Religion versteht unsere Welt als zerbrochenes Gefäß, als Resultat einer kosmischen Katastrophe, mit dem sich die unendliche Aufgabe verbindet, die Bruchstücke zusammenzutragen und die Welt als harmonisches Ganzes wiederherzustellen, während das Christentum in seiner radikalsten Form im Akt des Zerbrechens selbst die göttliche Schöpferkraft am Werk sieht. Wie so oft ist es Gilbert Keith Chesterton, der die Sache auf den Punkt bringt, und dabei greift er unmittelbar das Bild vom zerbrochenen Gefäß auf:

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Daß Gott die Welt in kleine Stücke zerbrochen hat, begrüßt das Christentum mit instinktiver Freude, denn es sind lebendige Stücke. [. . .] Alle modernen Philosophien sind Ketten, die binden und behindern; das Christentum hingegen ist ein Schwert, das scheidet und befreit. Keine andere Weltanschauung läßt zu, daß Gott über die Aufspaltung der Welt in lebendige Seelen frohlockt.34 Was wäre daher, wenn wir Benjamins Auffassung vom Übersetzen auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch selbst anwenden, auf die Vorstellung, dass der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde? Statt sich Gott ähnlich zu machen, muss der Mensch vielmehr „liebend und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens sich anbilden“, um sie beide – Gott und Mensch – als die zerbrochenen Teile eines größeren Gefäßes kenntlich zu machen. Die Kluft, die aus traditioneller Sicht den vollkommenen Gott von seinem (stets unvollkommenen) menschlichen Abbild trennt, wird mithin in Gott selbst zurückverlagert: Gott ist selbst unvollkommen, er ist selbst bereits das Bruchstück eines zerbrochenen Gefäßes, und darum braucht er den Menschen zur Ergänzung seiner Unvollkommenheit. Entsprechend besteht das Ziel der Menschheit nicht darin, eine getreue Übereinstimmung oder Ähnlichkeit mit Gott zu erreichen, sondern darin, ihn zu ergänzen, ihn als Bruchstück des „zerbrochenen Gefäßes“ zu betrachten und sich selbst zu einem weiteren Bruchstück zu machen, das zu ihm passt wie ein Bruchstück eines zerbrochenen Ganzen zu einem anderen. Das Thema der göttlichen Dreifaltigkeit, der zweifelnde Christus am Kreuz und andere ähnliche Motive lassen klar erkennen, dass das „zerbrochene Gefäß“ im Christentum nicht nur die geschaffene Wirklichkeit ist, die im Abfall von Gott ihre Vollkommenheit verloren hat – das letzte zerbrochene Gefäß ist Gott selbst. Daher gilt es Vater, Sohn und Heiligen Geist als drei Bruchstücke des Gefäßes aufzufassen, dessen Einheit für immer verloren ist. Zudem ist es wichtig, diesen konkreten Begriff des Kontrafaktischen mit der von Lacan in seinem Seminar XX, „Encore“, getroffenen Unterscheidung zwischen der phallischen jouissance und der anderen (weiblichen) jouissance zu verbinden: Nur das phallische Genießen ist faktisch, tatsächlich existent, während die andere (weibliche) jouissance kontrafaktisch ist: Es ist das Genießen, das es nicht bräuchte – Konditional. Was uns für seinen Gebrauch die Protasis nahelegt, die Apodosis. S’il n’y avait pas ça, ça irait mieux [wäre es nicht an dem, liefe es besser] – Konditional

Das zwölfte Kamel als einer der Namen Gottes

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im zweiten Teil. Da ist materiale Implikation, diejenige, an der die Stoiker gewahr wurden, daß das vielleicht das war, was es an Solidestem gab in der Logik. Das Genießen also, wie wollen wir ausdrücken, was es nicht bräuchte auf seiner Seite, wenn nicht durch dieses – wenn es ein anderes als das phallische Genießen geben sollte […] wenn es ein anderes geben sollte, dann bräuchte es nicht, daß es eben es sei. […] [D]er erste Teil bezeichnet etwas Falsches – Wenn es ein anderes geben sollte, aber es gibt kein anderes als das phallische Genießen. Es ist falsch, daß es ein anderes geben sollte [gibt], was aber nicht hindert, daß die Folge wahr ist, nämlich, daß es nicht bräuchte, daß es eben es sei. Sie sehen, daß das völlig korrekt ist. Wenn das Wahre sich vom Falschen ableitet, dann ist es gültig. Das einzige, was man nicht einräumen kann, ist, daß aus dem Wahren das Falsche folgen soll. […] Nehmen Sie einmal an, daß es ein anderes geben soll [gibt] – aber, justament, es gibt keins. Und also, es ist nicht, weil es keines gibt und das il ne faudrait pas [bräuchte-es-nicht] eben davon abhängt […].35 (Ein aufmerksamer Leser wird hier leicht das paradoxe Verbot von etwas erkennen, das an sich bereits unmöglich ist: Es gibt keine jouissance féminine und dennoch bräuchte es sie nicht.) Deuten nicht auch Lacans Formeln der Sexuierung in die gleiche Richtung? „Es gibt kein X, das nicht der phallischen Funktion unterliegt“, das heißt, es gibt keine Ausnahme auf der faktischen Ebene; alles positiv existierende Genießen ist phallisches Genießen. Was die Situation „weiblich“ macht, ist einfach nur das Nicht-Alles ihrer (tatsächlichen) Elemente, das heißt die Tatsache, dass sie sich nicht totalisieren lassen, dass sie nie „alles“ sind. Warum ist das so? Weil bei ihnen immer die Überlagerung von Kontrafaktischem hinzukommt, von dem, was sein könnte, wäre es an dem … (was es aber nicht ist). Dasselbe trifft auch auf Gott zu, der für Lacan keine tatsächliche Existenz besitzt, sondern kontrafaktische Ex-sistenz – l’inexistence divine heißt es diesbezüglich bei Quentin Meillassoux: Gott qua Reales gleicht der unmöglichen jouissance: Es hat sie nie gegeben und wir können uns ihrer nicht entledigen, oder, im Falle von Gott: Es gibt keinen Gott und er verfolgt uns weiter in eben dieser seiner Inexistenz. Dupuy führt des Öfteren die antike Geschichte vom zwölften Kamel an: Ein arabischer Kaufmann stirbt und hinterlässt seinen drei Söhnen elf Kamele mit der präzisen Anweisung, wie sie diese unter sich aufteilen sollen: Der erste Sohn bekommt die Hälfte der Kamele, der zweite ein Drittel und

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der dritte Sohn ein Sechstel. Wie sollen sie daher verfahren, wenn doch elf nicht durch zwei, drei oder sechs teilbar ist? Der Lösungsvorschlag kommt von einem weisen Richter: Er gibt zu der gesamten Menge einfach ein eigenes Kamel dazu. Damit sind es zwölf Kamele und der erste Sohn bekommt sechs, der zweite drei und der dritte zwei, macht zusammen elf; anschließend nimmt der Richter das zwölfte Kamel, das er dazugegeben hatte, wieder weg, um keinen Verlust zu erleiden … (Niklas Luhmann hat darüber einen Text verfasst.) Der wesentliche Punkt ist hier, dass man sich das zwölfte Kamel auch bloß vorstellen kann – es muss nicht in der Realität existieren. Und ist nicht Gott so etwas wie das zwölfte Kamel, ist nicht das zwölfte Kamel einer der Namen für Gott, eine Lüge (ein nichtexistentes Wesen), die etwas klärt? Existiert Gott also oder nicht? Er existiert nicht als Tatsache, aber er inexistiert kontrafaktisch, was nicht heißt, dass es sich bei ihm einfach um eine Illusion handelt: Er ist das Paradox einer Illusion, das der Realität selbst immanent ist, ein dem Faktischen, unserem symbolischen Universum immanentes Kontrafaktisches: Der Andere, der Andere als Ort der Wahrheit, ist der einzige Platz, wenn auch irreduzibel, den wir dem Ausdruck göttliches Sein geben können, Gott, um ihn beim Namen zu nennen. Gott ist eigentlich der Ort, wo, wenn Sie mir das Spiel damit erlauben, sich produziert le dieu – le dieur – le dire. Um ein Nichts, das sagen, das macht Gott. Und solange etwas gesagt werden wird, wird die Hypothese Gott da sein. Das macht, daß es alles in allem als wahrhaft atheistische nur die Theologen geben kann, das heißt die, die davon, von Gott, sprechen.36 In diesem Sinne spricht Lacan von der „Hypothese Gott“ (natürlich mit ironischem Bezug auf Lamarcks berühmte Erwiderung auf Napoleon, er habe in seiner Naturtheorie keinen Bedarf an einer solchen Hypothese) – in demselben Sinne, in dem Badiou über die „kommunistische Hypothese“ spricht. Darum reicht es nicht aus, wenn ein Materialist die Existenz Gottes bestreitet, er muss außerdem dessen kontrafaktische Existenz näher bestimmen: Wenn es einen Gott gäbe (den es nicht gibt), wäre er kein Wesen des höchsten Guten, kein schöner Schein, sondern ein böser, grausamer und unverständiger Gott – dies ist das Argument, das The Rapture anbringt.

Eine Wahrheit, die aus einer Lüge hervorgeht

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Eine Wahrheit, die aus einer Lüge hervorgeht Epistemologisch lehrt dieses Paradox des Kontrafaktischen demnach etwas Merkwürdiges: Nicht nur, dass sich eine wahre Aussage aus einer falschen Prämisse folgern lässt (was schon die antiken Stoiker wussten) – in einigen genau bestimmten Fällen sind wir auch nur und erst dann imstande, das Wahre in seinen eigentlichen Umrissen zu erkennen, wenn wir eine falsche Prämisse zum Ausgangspunkt nehmen; anders gesagt, können wir die Wahrheit des Faktischen nur und erst aufgrund einer kontrafaktischen Prämisse erfassen. Die große Schwierigkeit des Erkenntnisprozesses besteht also nicht einfach darin, mit Lügen und Illusionen aufzuräumen, sondern die richtige Lüge auszuwählen, eine, die uns schließlich zur Wahrheit führen kann – wenn wir unmittelbar nach Wahrheit trachten und sie direkt angehen wollen, verlieren wir diese unmittelbar selbst. In Robert Harris’ Roman The Ghost (verfilmt von Polanski) entdeckt ein Ghostwriter Adam Langs, des – nach Tony Blair gestalteten – vormaligen britischen Premierministers, dass Lang durch die CIA in die Labour Party eingeschmuggelt worden ist und die ganze Zeit unter ihrem Einfluss gestanden hat; in der Besprechung des New York Observer heißt es, dass die „schockierend schreckliche Enthüllung“, derart „schockierend [ist], dass sie einfach unmöglich wahr sein kann. Andererseits muss man auch sagen: Wäre sie wahr, würde sie so ziemlich alles erklären, was in der jüngsten Geschichte Großbritanniens geschehen ist.“ Haben wir hier nicht ein perfektes Beispiel der kontrafaktischen Aussage? „Wenn Blair ein CIA-Agent gewesen sein sollte – was er nicht war –, würde das die jüngste britische Politik vollständig erklären.“ Anders ausgedrückt, ist die Handlung von The Ghost der perfekte Fall einer Lüge, einer falschen Prämisse, die uns die Wahrheit der Blair-Jahre erkennen lässt, einer kontrafaktischen Prämisse, welche die eigentliche Wahrheit greifbar macht.37 Was passiert daher, wenn wir diesen Umweg über eine Lüge ablehnen und uns an die reine Faktenwahrheit halten wollen? Dann kommt es im Ergebnis zu einer psychotischen Zurückweisung der symbolischen Dimension selbst. Denken wir an die bekannte italienische Redensart se non è vero, è ben trovato – „(selbst) wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden (trifft es doch ins Schwarze)“. In diesem Sinne sagen selbst noch erfundene Anekdoten von bekannten Personen mehr über deren inneren Kern aus, als wenn man Eigenschaften auflisten würde, über die sie verfügen – auch hier stellt die Lüge einen Weg zur Wahrheit dar oder, um es mit Lacan zu sagen: „Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion“. Es gibt eine wunderbar obszöne serbokroatische Version dieser Redensart, die die

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protopsychotische Zurückweisung der symbolischen Fiktion ausgezeichnet wiedergibt: se non è vero, jebem ti mater! Jebem ti mater („Ich ficke deine Mutter“) ist eine der verbreitetsten vulgären Beleidigungen, wobei der Witz natürlich auf dem Reim und derselben Silbenzahl von è ben trovato und jebem ti mater beruht. Das Ganze bekommt dadurch die Bedeutung eines obszönen Wutausbruchs, der in inzestuöser Richtung auf das intimste Urobjekt des Anderen zielt: „Wehe, wenn das nicht wahr ist, denn dann ficke ich deine Mutter!“ Die beiden Versionen stellen also offensichtlich die beiden Reaktionen auf das dar, was sich buchstäblich als Lüge erweist: heftige Zurückweisung oder „Sublimierung/Aufhebung“ in eine „höhere“ Wahrheit. Psychoanalytisch betrachtet entspricht ihr Unterschied dem zwischen Verwerfung und symbolischer Transsubstantiation.38 Noch ein anderes Beispiel für eine Lüge, die die Wahrheit sichtbar macht, betrifft politische Witze in den spätkommunistischen Regimes. Nach einem in Osteuropa weit verbreiteten Mythos gab es eine Abteilung der Geheimpolizei, deren Aufgabe es war, politische Witze gegen das Regime (nicht etwa zu sammeln, sondern) zu erfinden und in Umlauf zu bringen, da seine Vertreter um die positiv-stabilisierende Funktion solcher Witze wussten (politische Witze geben den normalen Menschen eine gute und tolerierbare Möglichkeit, Dampf abzulassen und Frustration zu mindern). So reizvoll dieser Mythos auch ist, er vernachlässigt ein selten angesprochenes, gleichwohl aber entscheidendes Merkmal von Witzen: Sie scheinen keinen Urheber zu haben und somit dürfte die Frage, von wem dieser oder jener Witz stammt, aussichtslos sein. Witze werden ursprünglich „erzählt“, man hat sie immer schon „gehört“ (denken wir an das sprichwörtliche „Haben Sie schon den über … gehört?“),39 und darin liegt ihr Geheimnis. Sie sind eigen, sie stehen für die einzigartige Schöpferkraft der Sprache, und dennoch sind sie „kollektiv“, anonym und ohne Urheber wie aus dem Nichts plötzlich da. Die Annahme, dass ein Witz einen Urheber haben muss, ist richtiggehend paranoid: Sie besagt, dass es einen „Anderen des Anderen“, einen Anderen der symbolischen Ordnung geben muss, so als müsse die unergründliche kontingente Zeugungskraft der Sprache unbedingt personalisiert und in einem Akteur lokalisiert werden, der die Kontrolle über sie hat und insgeheim die Fäden zieht … Obwohl also die Vorstellung von einer Geheimabteilung zur Fabrikation politischer Witze falsch ist, macht sie dennoch die Wahrheit über die stabilisierende Funktion dieser Witze sichtbar und lässt erkennen, inwiefern es eine falsche Überschreitung war, wenn man sie sich erzählte. Ist nicht die Idee des Kommunismus eine ebensolche Lüge (ein falscher utopischer Gedanke), die es uns ermöglicht, die Wahrheit über das beste-

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hende kapitalistische System und seine Antagonismen zu erkennen? Doch, das ist sie, allerdings auf ganz spezielle Weise. Die traditionell marxistische Idee des Kommunismus ist in dem Sinne falsch, dass sie innerhalb des kapitalistischen Universums verbleibt. Jede historische Situation birgt die ihr eigene utopische Perspektive, eine immanente Sicht dessen, was in ihr falsch läuft, eine Idealvorstellung davon, wie sich die Lage mit einigen Veränderungen viel besser gestalten ließe. Wenn das Verlangen nach einem radikalen gesellschaftlichen Wandel erwacht, sind die ersten Bemühungen logischerweise auf die Umsetzung dieser immanenten utopischen Vision ausgerichtet – und dies gilt für jeden authentischen Kampf um Emanzipation. Daher hatten die Kritiker des Kommunismus in gewisser Weise recht, wenn sie den Kommunismus als unmögliche Fantasie hinstellten. Dabei entging ihnen allerdings, dass der Marx’sche Kommunismus – diese Idee einer Gesellschaft der reinen entfesselten Produktivität außerhalb des Rahmens des Kapitals – eine im Kapitalismus selbst angelegte Fantasie war, die in ihm angelegte Überschreitung in Reinform, ein rein ideologisches Phantasma mit der Vorstellung, man könnte die vom Kapitalismus ausgelöste Schubkraft der Produktivität erhalten und sich parallel dazu der „Hemmnisse“ und Antagonismen entledigen, die – wie die traurige Erfahrung des „real existierenden Kapitalismus“ zeigt – den einzig möglichen Rahmen für die tatsächliche materielle Existenz einer Gesellschaft der sich stetig selbst steigernden Produktivität bildeten. Dies sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, die Idee des Kommunismus selbst preiszugeben – vielmehr gilt es, sie im streng Hegel’schen Sinne als eine Vorstellung zu begreifen, die sich im Zuge ihrer Verwirklichung selbst wandelt.

Der göttliche Todestrieb Wohin führt uns das nun mit Blick auf eine materialistische Theologie? Wenn man sich ernsthaft – das heißt vom Standpunkt einer radikalen Emanzipationspolitik aus – mit der Thematik der Überschneidung von Theologie und Politik befassen möchte, sollte man sich unbedingt über jene herablassende Haltung hinwegsetzen, die Marxisten gegenüber der Religion für gewöhnlich an den Tag legen. Da ist die Rede von ihr als imaginäre Ergänzung, die uns das Elend unserer tatsächlichen Existenz erträglich machen soll und als solche von gewissem Nutzen sein kann, wenn es darum geht, die Armen in den Dritte-Welt-Ländern Lateinamerikas zu mobilisieren, die jedoch in der innersten Struktur emanzipatorischer Politik keinen Platz hat. In unserem Zusammenhang ist die Frage zu stellen: Verbindet sich jedes Emanzipationsprojekt im Kern seiner selbst mit einer religiösen

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Dimension? Hierauf gibt es zwei Hauptantworten: Die erste entspricht dem üblichen säkular-liberalen Vorwurf an den Marxismus, er sei nichts weiter als eine säkularisierte Befreiungsreligion, und bei der zweiten handelt es sich um Walter Benjamins Idee von der „schwachen messianischen Kraft“ einer Revolution als rückwirkende Wiedergutmachung vergangener Fehler. Gibt es hierzu eine dritte Option? Es könnte sein, dass Rowan Williams diesbezüglich einen Weg gebahnt hat. In seinem Kommentar zum Werk der vier britisch-katholischen Romanautoren – O’Connor, Percy, Spark und Ellis – heißt es: Alle vier schaffen eine Welt, in der die säkulare Mehrheitsmeinung von den gegenwärtigen Geschehnissen erheblich relativiert wird. Dennoch gibt es keine simple Alternative, die irgendjemand durch eine einzelne Entscheidung oder auch eine Reihe von Entscheidungen ergreifen kann. Die „religiöse“ Dimension dieser Fiktionen liegt in dem hartnäckigen Gefühl von Nichtübereinstimmung, das unverkennbar da ist, auch wenn niemand innerhalb der Fiktion sagen kann, womit man übereinstimmen sollte.40 Der Ausdruck „negative Theologie“ wird zur Bezeichnung der Idee verwendet, dass Gott sich durch keine positiven Bestimmungen beschreiben lässt, weshalb sein Platz nur negativ umschrieben werden kann – Gott ist weder unendlich noch endlich, weder ideelles noch reales Wesen, weder existent noch nichtexistent und so weiter. Was aber, wenn wir im Gegensatz zu dieser Idee von Gott als reinem Ansich jenseits aller kategorialen Bestimmungen die Negativität in Gott selbst verorten und postulieren, dass die Erfahrung des Göttlichen in ihrer elementarsten Form eine in dem von Williams dargestellten Sinne negative Erfahrung bildet, die Erfahrung, dass unser Leben aus den Fugen ist? Daher ist die Religion in ihrer radikalsten Form nicht das Opium des Volks (das Opium des Volks und für das Volk ist heute, wie es heißt, mehr und mehr das Opium selbst, also Drogen), sondern ein Bewusstsein von der Nichtübereinstimmung beziehungsweise Inkonsistenz der bestehenden positiven Realität. Diese negative Dimension, das Bewusstsein vom grundsätzlichen Aus-den-Fugen-Sein unserer Situation, hat Vorrang vor dem in einem Jenseits angesiedelten und auf die Wiederherstellung des „zerbrochenen Gefäßes“ zielenden positiven Inhalt. Die Frontstellung zwischen der Religion und dem Evolutionsmaterialismus eines Richard Dawkins entspricht folglich nicht einfach dem Gegensatz von Idealismus und Materialismus; was Dawkins und seine Parteigänger vertreten, ist eine Art „Realismus des gesunden Menschenverstands“, dem zu-

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folge es eine sich vollständig selbst tragende Realität gebe, die sich wissenschaftlich verstehen lasse, während die Religion in letzter Konsequenz ein leerer Aberglaube sei, der den klaren Blick auf die positive Realität trübe. Im Gegensatz zu dieser Behauptung einer positiven Realität besteht der Kern religiöser Erfahrung in der Einsicht, dass unsere Welt eine in sich „zerbrochene“, inkonsistente Welt ist (diese Einsicht ist nicht zu verwechseln mit der gnostizistischen Annahme irgendeiner höheren Realität, die mit dem Erscheinen unserer gefallenen Welt verlorenging). Die religiöse Grunderfahrung ist mithin nicht nur dem naiven wissenschaftlichen Materialismus entgegengesetzt, sondern grundsätzlicher noch jenem von Spinoza über Nietzsche bis hin zu Foucault und Deleuze reichenden Verständnis einer vollkommen in sich selbst geschlossenen Realität: Es gibt keinen Mangel in der Realität, die Realität ist die Fülle des produktiven Lebensprozesses. Das Absolute ist keine transzendente Entität, sondern die der Realität in ihrer Fülle innewohnende Lebenskraft, und jeder Anschein irgendeiner transzendenten Macht, welche den immanenten Lebensfluss kontrolliert, reguliert und unterdrückt, geht auf diesen Lebensprozess zurück und wird von dessen Selbstbezugnahmen hervorgerufen. Eine solche Sicht ist nicht zwingend materialistisch: Das immanente Absolute kann ebenfalls spiritualisiert sein, und darum sollte die Religion im engeren Sinne auch jeder Vorstellung einer verzauberten Realität, die für den sogenannten spirituellen Materialismus kennzeichnend ist, genau entgegengesetzt werden. Tolkiens Mittelerde ist materialistisch: eine verzauberte Welt voller magischer Kräfte, guter und böser Geister und so weiter, merkwürdigerweise aber ohne Götter – es gibt keine transzendenten göttlichen Wesen in Tolkiens Universum; alles Magische liegt in der Materie beschlossen, stellt eine spirituell-geistige Macht dar, die in unserer irdischen Welt zuhause ist. Und das Gegenteil gilt genauso: Die religiöse Grunderfahrung vom Aus-denFugen-Sein unserer Welt impliziert nicht unbedingt (oder auch nur in erster Linie) die Behauptung irgendeiner höheren geistigen Realität, sie lässt sich auch in materialistischen Begriffen formulieren. Über Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch heißt es bei Rowan Williams: Der vernünftige Liberale seiner Zeit geht von der Annahme aus, dass der Mensch, beweist man ihm zuverlässig, was gut für ihn ist, dies wollen und wählen wird; in Wahrheit aber ist der Mensch nicht so beschaffen. […] Die Menschen werden keine vermeintlich endgültige Festschreibung dessen, was in ihrem Interesse liegt, bereitwillig akzeptieren. […] Anders gesagt, gehört zum unverwechselbar Menschlichen die Fähigkeit zu Perversität und Sucht, zur Selbstaufopferung wie zur

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Selbstzerstörung und zu einer ganzen Reihe „rational“ nicht vertretbarer Verhaltensweisen. Eine Beseitigung dieser Fähigkeit hätte zweierlei zur Folge: das unverwechselbar Menschliche würde verschwinden und durch ein Muster geordneter, aber mechanischer Interaktionen ersetzt; dazu würde die Gewalt als Mittel der sozialen Rationalisierung kanonisiert werden – weil das Abschneiden irrationaler menschlicher Bedürfnisse oder Wünsche nur gewaltsam erfolgen kann.41 So naiv und vereinfachend das vielleicht auch klingt – es steht im völligen Einklang mit dem aufgeklärten Hedonismus, der heute die Norm vorgibt: Vergnügungen sind zulässig, ja man fördert sie sogar, sofern sie der gesunden Fortpflanzung dienen (ganz nach dem Motto „Sex ist gut für die Gesundheit“). Und darum dürfen Experten und Fachleute, die wissen, was gut für uns ist, auch regulierend in unser Leben eingreifen – was bis zum Abschneiden derjenigen unserer Bedürfnisse gehen kann, die als irrational und dysfunktional gelten (denken wir nur an die Anti-Raucher-Gesetzgebung). Die Dimension, die jener Regulierung widersteht – das, was Williams als „die Fähigkeit zu Perversität und Sucht, zur Selbstaufopferung wie zur Selbstzerstörung und zu einer ganzen Reihe ,rational‘ nicht vertretbarer Verhaltensweisen“ bezeichnet –, ist genau die Dimension der irreduziblen Selbstsabotage, des „Strebens nach Unglück“, das Freud als den Bereich des Todestriebs kennzeichnete, der seltsamen Überlagerung von Negativität und Beharrung, die am Hamlet paradigmatisch hervortritt. Hamlet tötet Claudius nicht, als er ihn beten sieht, denn wenn er das in dem Moment täte, würde er seinen Schlag nur gegen das führen, was da ist, und nicht gegen jenes X, das aus Claudius einen König macht. Dies stellt auch ein Problem – vielleicht das Problem – von Revolutionen dar: Wie stürzt man nicht nur die Macht, sondern richtet seine Schläge auch gegen das, was über die rein faktische Macht hinausgeht, und verhindert auf diese Weise, dass das alte Regime in neuer Verkleidung zurückkehrt? Es ist diese Unsicherheit, die Hamlet mit der (Rache-)Tat zögern lässt, das heißt, die ihn, hegelianisch gesprochen, beim Negativen verweilen lässt. Die Negativität wird gewöhnlich als dynamische Entität begriffen, die sich aus Kämpfen, Schnitten und anderen Formen der Negation zusammensetzt, was aber Hamlet zu einer einzigartigen Figur macht, ist nach Auskunft Andrew Cutrofellos, dass sie für das Verweilen beim Negativen steht: Hamlet betrachtet die Negativität selbst als Ausdruck melancholischer Seinsbeharrung. Vielleicht sollte der erste Schritt einer „materialistischen Theologie“ , wie man sagen könnte, darin bestehen, diese Dimension des Todestriebs im Göttlichen selbst auszumachen. Für postmoderne Philosophen von Nietz-

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sche an gilt in der Regel, dass sie den Katholizismus dem Protestantismus vorziehen: Gegenüber dem inneren Schuldbewusstsein und dem Authentizitätsdruck, die den Protestantismus kennzeichnen, ist der Katholizismus eine Kultur äußerer Rituale mit spielerischem Zug; wir dürfen uns einfach an das Ritual halten und die Echtheit unserer inneren Überzeugung vernachlässigen … Allerdings gilt es, sich von dieser Verspieltheit nicht täuschen zu lassen: Der Katholizismus greift nach solchen Ausflüchten, um den göttlichen großen Anderen in seiner Güte zu retten, während die unberechenbar „irrationale“ Prädestination im Protestantismus uns mit einem Gott konfrontiert, der letztlich nicht gut und allmächtig ist, sondern befleckt durch den unauslöschlichen Verdacht , dumm, willkürlich oder sogar rundweg böse zu sein. Die dunkle implizite Lektion des Protestantismus lautet: Wenn du Gott willst, musst du dich von der Güte (als Teil des Göttlichen) lossagen. Dementsprechend ist die radikalste Lesart des Buches Hiob jener Vorschlag des norwegischen Theologen Peter Wessel Zapffe aus den 1930er-Jahren, der Hiobs „grenzenlose Verwirrung“ hervorhob, als Gott ihm endlich erscheint. Hiob, der einen heiligen und reinen Gott erwartet, dessen Verstand dem unseren unendlich überlegen ist, sieht sich „mit einem Weltenherrscher von grotesker Primitivität konfrontiert, einem kosmischen Höhlenbewohner, einem Aufschneider und Schwadroneur, der in seiner vollkommenen Unkenntnis der Geisteskultur schon fast wieder liebenswürdig ist. […] Das Neue für Hiob ist nicht Gottes Größe in quantitativer Hinsicht; die war ihm bereits vollständig bekannt […]; das Neue ist vielmehr dessen qualitative Niedrigkeit.“42 Anders gesagt, gleicht Gott – der Gott des Realen – der Dame in der höfischen Liebe, er ist das Ding*, ein launischer grausamer Herr, dem schlicht jede Vorstellung von universeller Gerechtigkeit fehlt. Der Gottvater weiß demnach im Wortsinne nicht, was er tut, und Christus ist derjenige, der es zwar weiß, aber auf einen ohnmächtigen mitfühlenden Beobachter reduziert ist, der sich fragend an seinen Vater richtet: „Vater, siehst du denn nicht, dass ich verbrenne?“ – zusammen mit allen, die dem Zorn des Vaters zum Opfer gefallen sind. Der Titel von Christopher Hitchens Buch Gott ist nicht groß trifft daher wörtlich auf Jesus zu: Er ist kein großer Gottkönig, sondern ein elender Wanderprediger, dessen Platz unter den Bedürftigen war. Nur indem er in seine eigene Schöpfung fällt und als passiver Beobachter in ihr umherwandert, kann Gott das Grauen seines Werks wahrnehmen und erkennen, dass er, der Obergesetzgeber, selbst der Oberverbrecher ist. Der Demiurgengott ist nicht so sehr böse als vielmehr ein dummer Klotz, dem jegliches mora* Im Original deutsch.

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lisches Empfinden abgeht, und darum sollten wir ihm vergeben, schließlich weiß er nicht, was er tut. Der üblichen ontotheologischen Sicht zufolge sieht nur der über die einzelne Realität erhobene Demiurg das ganze Bild, während die in ihre Kämpfe und Auseinandersetzungen verstrickten einzelnen Akteure bloß zu irreführenden Teilansichten gelangen. Im Kern des Christentums finden wir jedoch eine andere Sicht. Danach ist der über die Realität erhobene Demiurg ein grober Klotz, der sich des Grauens, das er geschaffen hat, nicht bewusst ist; nur wenn er in seine eigene Schöpfung eintritt und sie von innen her als ihr Bewohner erlebt, kann er ermessen, welcher Alptraum auf sein Schöpfungskonto geht. (In dieser Sicht lässt sich unschwer das alte literarische Motiv des Königs erkennen, der sich hin und wieder, als einfacher Bürger verkleidet, unter die Armen mischt, um sich ein Bild davon zu verschaffen, wie sie leben und fühlen.) Dies ist der Punkt, an dem der Gott des Realen mit Macht ins Innerste des Christentums zurückkehrt. Dieser dunkle Exzess des rücksichtslosen Sadismus Gottes – die Überschreitung des Bildes von einem strengen, gleichwohl aber gerechten Gott – ist ein notwendiges Negatives, eine Schattenseite der Überschreitung des jüdischen Gesetzes durch die christliche Liebe: Liebe, die das Gesetz außer Kraft setzt, verbindet sich zwangsläufig mit der willkürlichen Grausamkeit, die gleichfalls das Gesetz außer Kraft setzt. Der äußere Unterschied zwischen Gesetz und Liebe, der Überschuss der Liebe über das Gesetz, spiegelt sich daher zwangsläufig innerhalb des Rechtsraums als Übergang vom gerechten Gesetz zum willkürlichen/grausamen Gesetz (der Vorherbestimmung) wider: Die Willkürlichkeit der (Un-)Gerechtigkeit des grausamen Gottes und die Willkürlichkeit der Gnade, welche das Gesetz außer Kraft setzt, sind zwei Seiten derselben Geste der Gesetzesüberwindung.43 Ist dieser Willkürgott des Schreckens, dessen Launen wir ausgeliefert sind, nicht Gott selbst als Widerling, der Gott, vor dem einem gruseln muss? Drängt sich durch sein Handeln, seine Art uns zu behandeln, nicht beständig die Frage danach auf, was er davon hat? Und ist es nicht außerdem so, dass dieser Gott – ein auf den leeren Punkt abstrakter, unberechenbar launischer Negativität reduzierter Gott – dem Schrecken absoluter Freiheit in Hegels Darstellung der Französischen Revolution entspricht? Es geht um Hegels Schritt vom Schrecken der Revolution zur kantischen Moralität: Das utilitaristische Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft, das Subjekt, welches den Staat auf die Rolle des Bewahrers der eigenen Sicherheit und des privaten Wohlstands reduzieren will, muss durch den Schrecken des revolutionären Staates zerschlagen werden, der es jederzeit grundlos vernichten kann (das Subjekt wird mithin nicht für etwas bestraft, das es getan hat, für irgendeinen konkreten Inhalt oder Akt, sondern genau dafür,

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dass es ein unabhängiges Individuum ist, das sich dem Allgemeinen entgegensetzt) – dieser Schrecken ist seine „Wahrheit“. Wie vollzieht sich daher der Schritt vom revolutionären Schrecken zum autonomen und freien moralischen Subjekt Kants? Er vollzieht sich durch das, was man in heutigen Begriffen als völlige Identifikation mit dem Aggressor bezeichnen würde. Das Subjekt soll im äußeren Schrecken, in der Negativität, die ständig droht, es zu vernichten, den eigentlichen Kern seiner (allgemeinen) Subjektivität erkennen, es soll sich also vollständig mit ihm identifizieren. Und dementsprechend ist die völlige Unterordnung unter Gott ein Schritt auf die Freiheit zu: Sie macht mich zu einem allgemeinen Subjekt, das nicht mehr länger mit seinen „pathologischen“ Eigenschaften identifiziert wird. Denken wir an den von Primo Levi und anderen Überlebenden des Holocaust häufig geschilderten Umstand, wonach sie mit tiefer innerer Zerrissenheit auf ihr Überleben reagierten. Verstandesmäßig wussten sie natürlich, dass es nichts als Zufall war, dass sie überlebt hatten, und sie keinerlei Schuld daran trugen und dass ihre Nazi-Peiniger die einzigen Schuldigen waren. Dennoch wurden sie von dem „irrationalen“ und (starken) Gefühl der Schuld verfolgt (und mehr als das), so als hätten sie auf Kosten anderer überlebt und wären daher für deren Tod irgendwie verantwortlich – wie man weiß, hat dieses unerträgliche Schuldgefühl viele von ihnen in den Selbstmord getrieben. Dieses Schuldgefühl zeigt das Über-Ich in seiner reinsten Form – als eine obszöne Instanz, die uns in eine Spirale der Selbstzerstörung hineinmanipuliert. Kommen wir auf das von Primo Levi beschriebene Verfahren der selekcja in Auschwitz zurück: Besteht hier nicht eine Nähe zur willkürlichen Prädestination? Ist das Geschehen um „the man who comes around“ aus dem Lied von Johnny Cash nicht die endgültige selekcja, gegen die sogar die selekcja in Auschwitz eine Erleichterung darstellt? Das letzte Gericht wird in Cashs Lied nicht „dekonstruiert“, es wird nicht in einen endlos aufgeschobenen Horizont, ein immer bevorstehendes Ereignis transformiert: Das letzte Gericht findet jetzt und hier statt, jedoch als eine obszöne Travestie der göttlichen Gerechtigkeit, als das Werk eines verrückten Gottes, der Ähnlichkeit mit dem für die Selektion zuständigen Nazi-Schergen in Auschwitz hat. Wie von einigen Kommentatoren angemerkt, lässt sich nicht konsistent begründen, dass – wie es in dem Lied heißt – „Gott entscheidet, wer befreit und wer beschuldigt wird; die an Jesus glauben, werden errettet und der Bestrafung entgehen“: Wenn unsere Errettung von unserem Glauben an Jesus abhängt, dann muss Gott überhaupt keine Entscheidung treffen, sondern er braucht lediglich seiner Einsicht entsprechend zu handeln. Diese Inkonsistenz wird dann erklärlich, wenn wir von der ziemlich erschrecken-

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den Prämisse ausgehen, dass der allmächtige Gott über die Fähigkeit zur freien und willkürlichen Bestimmung unseres Glaubens verfügt. Cashs Gott ist wirklich ein „Gott des Schreckens“, wobei dies nicht nur die Willkürlichkeit der Prädestination und die Grauenhaftigkeit des Jüngsten Gerichts betrifft, sondern auch auf einer eher viszeralen Ebene gilt, auf die ein Passus aus dem Matthäusevangelium verweist, der von der christlichen Tradition in der Regel vernachlässigt wird. Matthäus beschreibt den erlösenden Tod Christi wie folgt: Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme. Dann hauchte er den Geist aus. Und siehe, der Vorhang riss im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffneten sich und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt. Nach der Auferstehung Jesu verließen sie ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen. (Mt. 27,50–53) Diesen Zeilen lässt sich leicht entnehmen, warum im Vorspann der Neuverfilmung von Dawn of the Dead von 2004 das Johnny-Cash-Lied eine „dokumentarische“ Sequenz aus neuen Berichten und selbstgedrehten Videos begleitet, die dem Zuschauer einen schnellen Überblick über einen Zombieausbruch verschaffen sollen, der globale und katastrophale Ausmaße angenommen hat. Man kann leicht erkennen, warum der Film so viele Gemeindepfarrer nervös gemacht hat; die Identifizierung des christlichen Mysteriums mit einem apokalyptischen Zombieangriff lässt die Osterpredigt nicht gerade tröstlich erscheinen. Dass die Welt über den vermeintlichen Tod des Messias schaudert, scheint durchaus angebracht – schließlich ist etwas Böses verübt worden –, aber dass die Heiligen, die geheiligten Verstorbenen, aus ihren Gräbern herausgeschlurft kommen? Das Missverhältnis erschüttert uns. Der auferstandene Jesus der Christen ist selbst die nicht zu überbietende ruchlose Obszönität, die ultimative Wiederkehr des Schreckens – kein Geist, sondern wiederbelebtes Fleisch, hervorgekrochen aus dem Grab nach drei Tagen Verwesung, das von uns verlangt, wir sollen unsere Finger an seiner Wunde entlang- und in sie hineingleiten lassen, das verlangt (wären die Übersetzer mit dem griechischen Original sauberer umgegangen), wir sollen auf seinem Fleisch „herumkauen“ und sein Blut „schlürfen“. Christus verlangt von jedem seiner Anhänger, zu einem aasfressenden Fetischisten zu werden; Christen, die ihren

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lächerlichen Antisemitismus dadurch zu rechtfertigen suchen, dass sie das jüdische Volk als „Christustöter“ abstempeln, sollten bedenken: Die Juden mögen Christus getötet haben, die Christen aber haben ihn gegessen. „Heilige Scheiße!“ ist also nicht bloß ein Ausruf des Entsetzens. Es ist das in zwei Worten zusammengezogene christliche Projekt insgesamt: die Vergötterung des Ausscheidungsrests, die Glorifizierung eines neugeboren Königs, der in einen Trog gelegt wurde, und die Apotheose eines nackten Verbrechers, den man außerhalb der Stadtgrenzen an einen Balken genagelt hat, des Steins, „der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist“ (Apg 4,11), wie sie behaupten – und sie behaupten es triumphal. Christus zu heiligen, ihn rein zu machen und dazu wohlgesittet und sanftmütig – das heißt die Kernbotschaft seiner Priesterschaft zu vergessen, das heißt den Menschen zu vergessen, der nicht um des Friedens willen gekommen ist, sondern um das Schwert zu bringen, das heißt den Menschen zu vergessen, der im Tempel Tische umgeworfen hat, der den römischen Unterdrückern Widerrede gab […] und dessen letztes Versprechen es war, zurückzukehren, um Gericht über die Erde ergehen zu lassen, wenn erst einmal kein Platz mehr in der Hölle ist, und wieder auf der Erde zu wandeln.44 Den authentisch christlichen Auferstehungsbegriff gilt es von diesem obszönen Inhalt vollkommen freizuhalten – „Gott ist die Liebe“ bedeutet: „Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet.“ (1. Joh 4,12) Wir verzeichnen hier eine zweifache Aufhebungsbewegung: Erstens, die Einzelperson Christi wird in ihrer Auferstehungsidentität als Geist (Liebe) der Gemeinschaft der Gläubigen aufgehoben. Zweitens, das empirische Wunder wird in dem höheren „wahren“ Wunder aufgehoben (das wahre Wunder ist nicht der umhergehende tote Christus, sondern die Liebe in der Gemeinschaft der Gläubigen). Wenn die Gläubigen zusammenkommen und den Tod Christi betrauern, dann ist ihr gemeinsamer Geist der wiederauferstandene Christus. Denken wir daran, dass die Titelseite der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo nach den Morden von Paris aus einer Zeichnung von Mohammed bestand, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ hält – wäre das entsprechende Bild von Christus nicht eine Zeichnung von ihm, auf der er ein Schild mit der Aufschrift „Je suis athé“, „Ich bin Atheist“, trägt? Vor dem Hintergrund dieses dunklen Inhalts sollten wir wiederum auch die folgende Äußerung Jesu lesen: „Nicht das, was durch den Mund in

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den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ (Mt 15,11) Eine andere Version davon lautet: „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ (Mk 7,15) In klarem Bruch mit der jüdischen (aber auch der heidnischen) Vorstellung der von außen kommenden Verschmutzung, des erst durch die Realität verdorbenen, ursprünglich reinen Ichs, begreift das Christentum das Ich selbst als die Quelle der Verdorbenheit. Darum gilt es die Vorstellung von einem Ich, das die Verunreinigung durch äußeren Schmutz verzweifelt abzuwenden sucht, umzukehren – dieses nichtverunreinigte Ich als solches ist böse. Hegel erkennt diese Vorstellung des seiner Form selbst nach bösen Ichs in der biblischen Schöpfungsgeschichte des Menschen wieder, die das enthält, was er „das Wunderbare darin, das sich Widersprechende“ nennt: Einerseits soll der Mensch vor dem Sündenfall, der Mensch im Paradies, das ewige Leben haben (weil es die Sünde ist, die zum Tod führt, der sündenfreie Mensch befindet sich hingegen in einem Zustand der Unsterblichkeit); andererseits heißt es jedoch, dass der Mensch Unsterblichkeit erlangt, wenn er vom Baum des Lebens isst – dem Baum der Erkenntnis –, wenn er sich also über das Verbot hinwegsetzt, kurzum, wenn er sündigt. Demnach würde der Mensch nur dadurch in die göttliche Vollkommenheit eintreten, dass er sich versündigt und den verbotenen Erkenntnisakt ausführt. Zudem ist die Erkenntnis, die ihn aus seinem Naturzustand, seinem Tiersein und seiner Sterblichkeit herauslösen und ihm ermöglichen würde, durch Denken Lauterkeit und Freiheit zu erreichen, grundlegend sexuelle Erkenntnis. Von hier aus braucht es nur noch einen Schritt zu der Annahme, dass die Einladung zur Vollkommenheit auch eine Einladung zur Sünde darstellt und umgekehrt; mag sein, dass die offizielle Theologie diesen Schritt nicht macht, der Mystiker aber gestattet sich die unergründliche Verderbtheit dazu. Das Motiv der völligen Unterordnung des Menschen unter Gott aber muss noch lange nicht unbedingt eine Vorstellung von sklavischer Abhängigkeit und Unterwerfung stützen. Es kann auch ein universelles Emanzipationsprojekt tragen, wie das Beispiel von Sayyid Qutbs Milestones zeigt. In dieser Abhandlung entfaltet der Autor den Zusammenhang zwischen der universellen Freiheit des Menschen und dessen Dienst für Gott: Eine Gesellschaft, in der Souveränität ausschließlich Allahs Sache ist und ihren Ausdruck im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz findet, und in der jeder von der Knechtschaft gegenüber anderen befreit wird – nur die schmeckt nach wahrer Freiheit. Dies allein ist eine

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„menschliche Zivilisation“, weil die Grundlage der menschlichen Zivilisation in der vollständigen und wahren Freiheit jeder Person und der vollen Würde jedes Individuums in der Gemeinschaft besteht. Hingegen gibt es in einer Gesellschaft, in der manche Herren sind, die Gesetze erlassen, und andere Sklaven, die ihnen gehorchen, keine Freiheit im echten Sinn, genauso wenig wie Würde für das Individuum. Man muss sich unbedingt klarmachen, dass die Gesetze nicht nur auf das Recht beschränkt sind, da es manche Menschen gibt, die die Shari’ah in diesem engen Sinne fassen. Tatsache ist, dass sämtliche der Haltungen und Werte, der Lebensgewohnheiten und Traditionen gesetzlich verankert werden und Einfluss auf die Menschen haben. Wenn eine einzelne Gruppe von Menschen all diese Ketten schmiedet, um damit andere zu fesseln, dann ist dies keine freie Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft haben einige Menschen die Autorität inne, während ihnen andere untergeordnet sind. Diese Gesellschaft ist rückständig und im Islam spricht man von ihr als Jahili-Gesellschaft. Eine islamische Gesellschaft ist insofern einzigartig, als in ihr die Autorität allein Allah zukommt und der Mensch sich aus der Dienerschaft gegenüber anderen menschlichen Wesen befreit und nur Allah zu Diensten ist. Dadurch erlangt er die wirkliche und vollständige Freiheit, den zentralen Gegenstand der menschlichen Zivilisation. Menschliche Würde und Ehre sind diesen Gesellschaften geheiligt im gottgegebenen Gesetz. Als der Statthalter Allahs auf Erden erlangt der Mensch eine Stellung, die sogar noch höher ist als die der Engel. Einer Gesellschaft, die sich in ihrer Idee, ihrem Glauben und ihrer Lebensweise in Allah verankert weiß, ist die Würde des Menschen im höchsten Maße unantastbar: Niemand ist der Sklave eines anderen, wie es in Gesellschaften der Fall ist, deren Auffassungen und Überzeugungen wie auch ihre Lebensweise menschlichen Ursprungs sind. In ersterer Gesellschaft finden die erhabensten Charaktereigenschaften des Menschen – sowohl in spiritueller als auch in intellektueller Hinsicht – ihren vollen Ausdruck, während in einer Gesellschaft, die auf Hautfarbe, Rasse, Nationalismus oder ähnlichen Grundlagen beruht, diese zu Fesseln für das menschliche Denken werden, zu einem Mittel, um die erhabenen menschlichen Eigenschaften und Qualitäten zu unterdrücken. Alle Menschen sind gleich, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Rasse oder Nation, aber wenn man sie ihres Geistes und ihrer Vernunft beraubt, dann sind sie auch ihrer Menschlichkeit entkleidet. Der Mensch kann seine Überzeugungen, sein Denken, seine Lebenseinstellung ändern, nicht aber seine Hautfarbe oder Rasse, genauso

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wenig wie er entscheiden kann, an welchem Ort oder in welcher Nation er geboren wird. Es ist somit klar, dass eine Gesellschaft nur insoweit zivilisiert ist, als die menschlichen Vereinigungen auf einer Gemeinschaft der freien moralischen Entscheidung beruhen, und dass eine Gesellschaft rückständig ist, insoweit die Grundlage ihrer Vergemeinschaftung in etwas anderem als einer freien Entscheidung besteht.45 (Man beachte jedoch das symptomatische Fehlen eines bestimmten Glieds in dieser von Qutb angeführten Reihe natürlicher Eigenschaften eines menschlichen Wesens: Der Mensch kann seine Hautfarbe, Rasse oder Nation nicht ändern, aber genauso wenig sein Geschlecht – warum schließt dann eine freie Gesellschaft nicht die Gleichheit von Männern und Frauen ein?) Qutb geht von der grundsätzlichen Annahme aus, dass wir Menschen, sofern wir in dem Sinne „frei“ handeln, dass wir spontan unseren natürlichen Neigungen folgen, nicht wirklich frei, sondern Sklaven unserer Tiernatur sind – dieselbe Argumentation findet sich bereits bei Aristoteles, bei dem es mit Bezug auf die Sklaverei als Beispiel zur Verdeutlichung eines universellen ontologischen Merkmals heißt, dass Sklaven, wenn sie sich selbst überlassen sind, in dem Sinne „frei“ sind, dass sie einfach das tun, was sie wollen, während der freie Mensch seiner Pflicht folgt – und genau diese „Freiheit“ ist es, die Sklaven zu Sklaven macht: Alles ist in gewisser, doch nicht in gleicher Weise zusammengeordnet, sogar das, was schwimmt und fliegt, und Pflanzen; und es ist nicht so, dass das eine zum andern in keiner Beziehung steht, sondern es besteht eine. Denn alles ist auf Eines hin zusammengeordnet, jedoch so, wie in einem Haushalt den Freien am wenigsten gestattet ist, etwas Beliebiges zu tun, sondern für sie ist alles oder doch das meiste geordnet, für die Sklaven hingegen und die Tiere nur weniges von dem, was auf das Allgemeine Bezug hat, während das meiste ihrem Belieben überlassen bleibt. In solcher Art nämlich ist die Natur eines jeden von ihnen Prinzip.46 (Aus der heutigen Rückschau sollte man natürlich hinzufügen, dass es zwischen den Sklaven/Tieren und den Menschen etwas gibt, das Kant als „Wildheit“ bezeichnete, die dem Menschentier eigen ist, bevor es zivilisiert/ diszipliniert wird, und mithin das, was bei Freud Todestrieb heißt.) Enthält der zitierte Passus nicht trotz all dem, was daran äußerst problematisch ist, ein Körnchen Wahrheit, das heißt, bietet diese Charakterisierung der Skla-

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ven nicht eine gute Bestimmung der heutigen Versklavung durch den Konsum, bei der ich nach Belieben handeln kann und tun, was ich will, genau darin aber den Verlockungen der Waren sklavisch unterworfen bin? Zurück zu Aristoteles und Qutb: Der Vorteil von Aristoteles ist (aus unserer Sicht zumindest), dass er nicht die Unterordnung unter Gott, sondern das ethische Pflichtgefühl als diejenige Instanz behandelt, die unsere animalische Freiheit beschränkt; auf der anderen Seite ist der Vorteil von Qutb, dass er eine universelle (auch soziale und ökonomische) Freiheit ins Auge fasst und mithin die universelle Abwesenheit irgendwelcher Herrn. Was Qutb vorschlägt, ist eine Art symbolischer Austausch, der dem entspricht, den wir in den berühmten Zeilen aus Racines Drama Athalie beschrieben finden: „Je crains Dieu, cher Abner, et je n’ai point d’autre crainte“ (Ich fürchte Gott, lieber Abner, und sonst fürchte ich gar nichts) – alle Ängste werden gegen die eine Furcht ausgetauscht, und ebendiese Gottesfurcht ist es, die mich in allen irdischen Angelegenheiten furchtlos sein lässt. Für Qutb ist Gott mein alleiniger Herr, und darum habe ich nicht nur keinen anderen Herrn, sondern mein Dienst für Gott ist die negative Garantie für die Abweisung aller anderen (irdischen, menschlichen) Herren – oder, um eine gewagtere Formulierung zu verwenden, der einzige positive Gehalt meiner Unterordnung unter Gott besteht in meiner Zurückweisung aller irdischen Herren.47

Der entthronte Gott Aber ist der dunkle Gott das letzte Wort des Christentums? Er ist zumindest die ultimative Version des transzendenten Gott-an-sich, und man muss diese durchschreiten, um zum Kern des christlichen Atheismus zu gelangen. Jean-Luc Marion hat diesen Punkt im Einzelnen entwickelt. Danach existiert der Mensch nur dadurch, dass er vom Anderen (letztlich von Gott) geliebt wird. Das allein reicht jedoch noch nicht aus – Gott selbst nämlich existiert nur durch Ex-sistenz, als Folge und Effekt davon, dass Menschen sich auf ihn ausrichten. (In dem Film Kampf der Titanen beklagt Zeus zu recht, dass es keine Götter mehr gäbe, wenn die Menschen aufhören würden, zu ihnen zu beten und sie in ihren Ritualen zu verehren.) Eine solche, wirklich komische Vorstellung von einem Gott, der von der Bestätigung durch die Menschen abhängt, wurde, wie man sich denken kann, von Kierkegaard beschworen. In Der Begriff Angst beschreibt er auf eine spöttisch gegen Hegel gerichtete Weise, inwiefern Simon Tornacencis (ein in Paris wirkender Scholastiker des 12. Jahrhunderts) „der Meinung war, Gott müsse ihm verbunden [dankbar] sein, weil er die Dreieinigkeit

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bewiesen habe […]. Analogien zu dieser Geschichte gibt es sicher genug; und in unserer Zeit hat die Spekulation eine solche Autorität für sich in Anspruch genommen, daß sie beinahe versucht hat, Gott selbst seiner selbst unsicher zu machen, wie einen Monarchen, der ängstlich darauf wartet, ob ihn die Ständeversammlung zu einem absoluten oder nur zu einem umschränkten König machen wird.“48 Beachten wir auch, dass es sich hier um eine echt dialektische Vermittlung von Wissen und Sein handelt, bei der das Sein selbst vom (Nicht-) Wissen abhängt. Gott weiß nicht, dass er tot ist (und darum lebt er weiter), wie Lacan das vor langer Zeit formulierte – in diesem Fall hängt die Existenz vom Nichtwissen ab, während Gott im Christentum erfährt, dass er tot ist. Dagegen ist der logische „Gott der Philosophen“ ohnehin schon ein toter Gott, wenn auch auf andere Weise, und darum hatte Tornacencis möglicherweise Unrecht oder sollte zumindest nicht so wörtlich genommen werden: Wenn ein Philosoph die Existenz Gottes beweist, ist dann der Gott, der auf diese Weise zur Existenz gelangt, nicht ein toter Gott? Was Gott wirklich fürchtet, ist daher vielleicht gerade, dass der Beweis seiner Existenz glückt, und diese Situation deckt sich mit derjenigen in der bekannten Anekdote über den Chefredakteur eines Blatts des Zeitungsbarons Randolph Hearst:49 Gott fürchtet, dass der Beweis seiner Existenz fehlschlägt; noch mehr aber fürchtet er, dass er nicht fehlschlägt. Kurz gesagt, befindet sich Gott in einer aussichtlosen Lage: Entweder ist er lebendig (als solches aber in einem schrecklichen Zustand ungewisser Spannung bezüglich seiner Existenz gefangen) oder er existiert, ist aber tot. Natürlich tat Kierkegaard alle Versuche, die Existenz Gottes logisch zu beweisen, als absurde und zwecklose Übungen ab (die Vorlage für eine solche professorale Blindheit gegenüber der authentischen religiösen Erfahrung war für ihn Hegels großangelegte dialektische Maschinerie); sein Sinn für Humor machte es ihm allerdings unmöglich, der wunderbaren Vorstellung von einem ängstlichen Gott zu wiederstehen, der um seinen Status fürchtet, als hinge dieser von den logischen Denkübungen eines Philosophen ab, als hätte dessen Beweisführung Folgen im Realen, sodass Gottes Existenz selbst bedroht wäre, sollte der Beweis fehlschlagen. Man kann den Gedanken Kierkegaards sogar noch weitertreiben: Was ihn an Tornacensis’ Äußerung zweifellos reizte, war die blasphemische Idee eines Gottes, der selbst Angst empfindet. Die ausweglose Schwierigkeit der göttlichen Lage besteht also darin, dass der Gott, dessen Existenznachweis erbracht wird, einem Monarchen gleicht, den die Versammlung zum absoluten Herrscher bestimmt: Die Form, in der seine absolute Macht befestigt wird (sie hängt von der Laune

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der Versammlung ab), untergräbt sie gerade. Die politische Parallele ist in diesem Zusammenhang wesentlich, da Kierkegaard selbst zu dem Vergleich von Gott und König greift. Der dem Witz und der Laune des Philosophen ausgesetzte Gott gleicht dem König, der dem Witz und der Laune einer Volksversammlung ausgesetzt ist. Doch worauf will Kierkegaard hier eigentlich hinaus? Darauf, dass die liberale Dekadenz in beiden Fällen abzulehnen ist und man sich für die absolute Monarchie entscheiden soll? Problematisch macht diese einfache und augenscheinlich naheliegende Lösung allerdings, dass für Kierkegaard der (wirklich komische) Punkt an der Inkarnation die Vorstellung ist, dass der Gott-König zu einem Bettler, einem gewöhnlichen geringen Menschen wird. Wäre es daher nicht richtiger, man würde das Christentum als die Paradoxie der Abdankung Gottes begreifen – Gott tritt zurück, damit die Gemeinschaft der Gläubigen, der Heilige Geist, an seine Stelle treten kann? Denken wir nochmals an die Folge „The Glass Eye“ aus der Fernsehserie Alfred Hitchcock Presents, in der eine einsame Frau sich in einen gutaussehenden Bauchredner verguckt. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und sucht ihn alleine in seiner Unterkunft auf. Nachdem sie ihm ihre Liebe gestanden hat, geht sie auf ihn zu, um ihn zu umarmen, muss dann aber feststellen, dass sie nur einen hölzernen Puppenkopf in Händen hält, und weicht entsetzt zurück. Daraufhin erhebt sich die „Puppe“ und zieht ihre Maske herunter, und wir sehen das Gesicht eines traurigen alten Zwergs, der verzweifelt auf dem Tisch herumzuspringen beginnt und die Frau bittet, zu gehen. Haben wir es hier nicht mit der perfekten Darstellung eines „körperlosen Organs“ zu tun? Es ist das ablösbare „tote“ Organ, das Partialobjekt, das wirklich lebendig ist, und die „reale“ Person ist seine tote Puppe: Die „reale“ Person ist lediglich am Leben, eine Überlebensmaschine, ein „menschliches Tier“, während sich in der scheinbar „toten“ Ergänzung das überschießende Leben konzentriert … Und vollzieht sich nicht etwas Ähnliches im Innersten des Christentums? „Gott ist tot“ bedeutet, dass wir uns von der üblichen Vorstellung Christi als der Puppe des Gottvaters, als jemanden, durch den der transzendente Gott zu uns, seinen Gläubigen, spricht und sie anspricht, verabschieden müssen (oder vielmehr gezwungen sind, sie umzukehren). Es ist die Einsicht des Christentums, dass der transzendente Gott tot ist, dass der Sohn das einzige lebende Wesen darstellt und dass der Gottvater eine große tote Puppe ist, durch die der Sohn spricht, sodass nichts bleibt, wenn der Sohn selbst stirbt – nichts, und das ist eine andere Bezeichnung für Freiheit. Aus diesem Grund ist eine authentische Religion mit unmittelbarem Wissen oder unbedingter Gewissheit unvereinbar; der grundstürzende

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Zweifel bildet ihr innerstes Element, und der Gläubige wird von den unverhofften Zeichen der Anwesenheit oder des Eingreifens Gottes (den „Wundern“) immer wieder selbst überrascht.50 In diesem Sinne gilt es Kierkegaard zu verstehen, wenn er davon spricht, dass ein Wunder nur ein nach Deutung verlangendes Zeichen und darum eine bloß unklare Andeutung ist: Die gleiche Auffassung brachten schon die Jansenisten zum Ausdruck, für die Wunder keineswegs wundersame „objektive“ Tatsachen darstellten, die jedem die Wahrheit einer Religion bewiesen – als solche erscheinen sie nur in den Augen der Gläubigen; für Nichtgläubige sind es bloß natürliche Zufallsübereinstimmungen. Dieses theologische Erbe lebt im radikalemanzipatorischen Denken vom Marxismus bis zur Psychoanalyse fort. Jean-Claude Milner51 artikulierte die Verschiedenheit von Wahrheit und Genauigkeit (im Sinne der adequatio, der Übereinstimmung zwischen den Wörtern und den Dingen, zwischen einer Aussage und dem ausgesagten/bezeichneten Sachverhalt) als Unterscheidung zwischen Substantiv und Prädikat. Wenn eine Aussage genau ist, heißt das, sie hat ihre Entsprechung im Äußeren, und als solche ist sie wahr – Wahrsein ist hier ein Prädikat. Die Wahrheit wiederum ist ein Substantiv, ein Akteur – die Wahrheit selbst spricht, wie in Lacans berühmter Prosopopöie: „Menschen, hört zu, ich verrate euch ein Geheimnis. Ich, die Wahrheit, ich spreche. […] Der Diskurs des Irrtums, seine Artikulation in der Wirklichkeit, konnte gegen den Augenschein die Wahrheit bezeugen. […] Ob ihr vor mir in die Täuschung flieht oder mich im Irrtum zu erwischen versucht, ich hole euch ein im Versehen, dem ihr nicht entfliehen könnt“.52 Das heißt nicht, dass man die Wahrheit zu einer authentischen Form des existenziellen Engagements gegen das Wahre (wahre Aussagen) als bloß genauen Faktenbericht erheben sollte. Der Bereich der Wahrheit birgt seine eigenen Gefahren und Fallen, sobald er von der Genauigkeit (der Übereinstimmung mit den Tatsachen) abgekoppelt wird, wie Lacan verdeutlichte, als er drei treffende Beispiele für die Wahrheit anführte: „den Weltmarkt der Lüge, das Geschäft des totalen Krieges und das neue Gesetz der Selbstkritik“.53 Man muss hier mitbedenken, dass diese Worte auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges geschrieben wurden. Sie beziehen sich auf die Manipulationen, die in der Medienberichterstattung über die tatsächlichen Geschehnisse zum Vorschein kamen, auf die Rhetorik des Kalten Krieges im Zusammenhang mit der Gefahr, dass sich die Menschheit in einem umfassenden Atomkrieg selbst zerstörte, und auf die Geständnisse, die von Stalinisten in diversen Scheinverfahren abgegeben wurden. Diese Geständnisse, um uns auf das letzte Beispiel zu beschränken, stützten sich eindeutig auf Wahrheit anstatt auf Genauigkeit, selbst um den Preis einer lächerlichen Missachtung der

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Fakten: Es ging allein um das Geständnis des Anklageopfers, durch das man alle faktischen Unstimmigkeiten zu überwinden meinte. (Als etwa in einem der großen Moskauer Strafverfahren der Staatsanwalt behauptete, es habe auf einem Provinzflughafen in Norwegen ein Treffen zwischen einem der Angeklagten und Trotzki stattgefunden, bei dem dieser dem Angeklagten Aufträge erteilte, um Stalins Ermordung in die Wege zu leiten, kümmerte es niemanden, als westliche Journalisten bei ihren Nachforschungen feststellten, dass dieser Flugplatz schon Jahre vor diesem angeblichen Treffen aufgegeben worden war und seitdem nicht mehr benutzt wurde – was zählte, war die „innere Wahrheit“ der Anschuldigung, die simplen Fakten spielten keine Rolle.) Das Russische verfügt über zwei Wörter für „Wahrheit“, die diese Unterscheidung perfekt wiedergeben: istina (die schlichte Genauigkeit der berichteten Fakten) und prawda (die „tiefere“ ethisch-politische Wahrheit); bezeichnenderweise heißt die wichtigste sowjetische Tageszeitung Prawda und nicht Istina. So war beispielsweise die Feier der großen Erfolge der Landwirtschaft „wahr“, auch wenn (zumindest) einige der Statistiken nachweislich nicht stimmten, denn sie drückte die progressive Vertrauenshaltung gegenüber dem sozialistischen Fortschritt aus. Dagegen wäre die öffentliche Bekanntmachung dieser Statistikfehler, selbst die genaue, nicht „wahr“, da sie dem historischen Fortschritt zuwiderlaufen und die kapitalistische Propaganda „offiziell“ unterstützen würde … Heißt das, wir sollten dem empiristischen Misstrauen gegenüber der Wahrheit einfach nachgeben und vor ihren „totalitären“ Gefahren weiter auf der Hut sein? So einfach liegen die Dinge keineswegs.54 Im Refrain eines deutschen kommunistischen Liedes aus den 1930er-Jahren heißt es: „Die Freiheit hat Soldaten!“ Bei einer solchen Bestimmung einer speziellen Kampfeinheit zum militärischen Werkzeug der Freiheit könnte man meinen, es mit der eigentlichen Formel der „totalitären“ Versuchung zu tun zu haben: Wir kämpfen nicht für die (von uns vertretene Auffassung von) Freiheit, wir dienen ihr nicht einfach, sondern die Freiheit bedient sich vielmehr unmittelbar unserer … Damit, so scheint es, ist der Weg zum Terror vorgezeichnet, denn wer dürfte sich schon der Freiheit selbst entgegenstellen? Dennoch lässt sich die Bestimmung einer revolutionären Kampfeinheit zu einem unmittelbaren Organ der Freiheit nicht einfach als fetischistischer Kurzschluss abtun: Dies gilt auf pathetische Weise für den authentischen revolutionären Ausbruch. Eine „ekstatische“ Erfahrung dieser Art ist dadurch gekennzeichnet, dass das handelnde Subjekt keine Person mehr ist, sondern vielmehr gerade ein Objekt. Und es ist gerade diese Dimension des Sich-zum-Objekt-Bestimmens, die die Verwendung des Ausdrucks „Theologie“ zur Beschreibung der Situation rechtfertigt: „Theologie“

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ist hier eine Bezeichnung für das Jenseitige an einem revolutionären Subjekt, für das, was sich bei ihm nicht auf die Rubrik des Handelns von Individuen beschränkt, sondern darüber hinausgeht. Diese ekstatische Subjektstellung ist nicht zu verwechseln mit der Standardlogik des symbolischen Mandats, die sich auf die institutionelle Deckung stützt: Wenn ein Richter spricht, dann spricht durch ihn das Gesetz selbst (der große Andere), ganz egal, wie unredlich dieser Richter oder diese Richterin als Privatperson ist. In dem oben angeführten Passus evoziert Lacan noch einen anderen Fall der Wahrheit, die spricht, nämlich den einschlägigen Fall der Psychoanalyse: Wenn mir ein Versprecher unterläuft und ich etwas anderes sage, als das, was ich sagen wollte, und darin die Wahrheit über mich zum Ausdruck kommt, die ich vielfach nicht bereit bin anzuerkennen, dann kann man ebenso sagen, dass in meinem Ausrutscher die Wahrheit selbst gesprochen und das, was ich sagen wollte, untergraben hat. Es liegt Wahrheit in solchen sprachlichen Ausrutschern (eine Wahrheit über mein Begehren), auch wenn sie faktische Ungenauigkeiten beinhalten – wenn etwa, um ein ganz simples Beispiel zu nehmen, der Moderator einer Diskussion statt: „Hiermit eröffne ich die Veranstaltung!“ sagt: „Hiermit schließe ich die Veranstaltung!“, gibt er offensichtlich zu verstehen, dass er gelangweilt ist und die Diskussion als wertlos betrachtet … Lacan fasst die Wendung „Ich, die Wahrheit, ich spreche“ auf diese Weise marginalistisch auf, ganz entgegengesetzt zum Charisma und zur Würde einer Institution, die durch mich spricht: Ich werde gesprochen, die Wahrheit spricht, und in diesem Sinne konnte „der Diskurs des Irrtums, seine Artikulation in der Wirklichkeit, gegen den Augenschein die Wahrheit bezeugen“. Darum erweist die Psychoanalyse, dass „man fortwährend abschweift, ob man will oder nicht. Und dabei geben tatsächlich jene Abschweifungen den meisten Aufschluss, die einem unbewusst passieren.“55 Abschweifungen sind doppeldeutig: Es kann dabei um das Vermeiden eines gefährlichen Themas gehen (wenn ich mich ihm nähere, schneide ich schnell ein anderes Thema an), eine Abschweifung kann aber auch ein Umweg sein, um sich dem eigentlich Gemeinten zu nähern, wenn man erkennt, dass man auf direktem Wege nicht durchdringt. Die Psychoanalyse lehrt freilich, dass sich die beiden entgegengesetzten Vorgänge häufig überschneiden: Ich will ein sensibles Thema vermeiden, doch gerade in dem Versuch, davon wegzulenken, holt mich die Wahrheit ein und ich werde versehentlich etwas sehr Wichtiges über das sagen, was ich vermeiden wollte. Es ist leicht ersichtlich, dass die Wahrheit durch dieselbe Paradoxie gekennzeichnet ist wie die jouissance: Sie ist gleichzeitig unerreichbar und unmöglich loszuwerden. Einerseits können wir aus strukturellen Gründen

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nie die volle Wahrheit sagen; sie lässt sich nur halb sagen (mi-dire), wie Lacan bekanntlich am Anfang von Television erklärt. Das aber führt uns keineswegs zum postmodernen Relativismus, nach dem sich die Wahrheit nur bruchstückhaft und unzusammenhängend formulieren lässt: Wahrheit ist gleichzeitig etwas, das wir nicht abschütteln können, denn wie sehr wir sie auch zu verdecken suchen, sie holt uns doch wieder ein, und etwas, das wir gerade durch unsere Anstrengungen, uns ihm zu entziehen, unvermeidlich zum Ausdruck bringen. Doch zurück zum Stalinismus: Im Zuge der großen Projekte zur Errichtung öffentlicher Gebäude in der Sowjetunion der 1930er-Jahre ist auf einem flachen mehrgeschossigen Bürogebäude häufig eine riesige Statue des idealisierten neuen Menschen oder eines Paares aufgestellt worden; im Zeitraum von ein paar Jahren zeigte sich ein klarer Trend zur immer weiteren Abflachung des Bürogebäudes (des Arbeitsplatzes der Menschen in der Gegenwart), so dass es sich mehr und mehr in einen bloßen Sockel für die überlebensgroßen Statuen verwandelte. Macht dieses äußere, materielle Merkmal der architektonischen Form nicht die „Wahrheit“ der stalinistischen Ideologie sichtbar, in der die lebenden Menschen der Gegenwart zu Instrumenten reduziert werden, geopfert als Sockel für das Gespenst des neuen Menschen der Zukunft, eines ideologischen Ungeheuers, das unter seinen Füßen die jetzt Lebenden zerdrückt? Das Paradoxe daran ist: Hätte jemand in der Sowjetunion der 1930er-Jahre offen geäußert, dass mit der Vision des sozialistischen neuen Menschen ein ideologisches Ungeheuer entstanden war, das die Menschen der Gegenwart zerquetschte, wäre er umgehend verhaftet worden – der architektonischen Form gegenüber durfte man dies jedoch zum Ausdruck bringen, ja es wurde sogar dazu ermutigt … Wieder „ist die Wahrheit da draußen“. Es ist nicht einfach so, dass die Ideologie auch die vermeintlich außerideologischen Schichten des Alltagslebens durchdringt: Dieser materielle Niederschlag der Ideologie in der äußeren Materialität macht die inhärenten Antagonismen sichtbar, deren ausdrückliches Eingeständnis man sich ideologischerseits nicht leisten kann. Das ist so, als ob ein ideologisches Gedankensystem, wenn es „normal“ funktionieren soll, einer Art „Kobold der Perversität“ gehorchen und seine inhärenten Antagonismen im Äußeren seiner stofflichen Existenz zum Ausdruck bringen muss. Kurzum, moi, la vérité, je parle … Was aber spricht die Wahrheit? Im Wesentlichen sind es Lügen, die sie äußert, das heißt Dinge, die nicht wahr sind: Die Wahrheit übermittelt sich durch hysterische Symptome, durch Versprecher und andere Formen dessen, was seiner Wortbedeutung nach eine Lüge ist. Welche Art der Vorstellung von einem Gott geht mit einer Wahrheit zusammen, die spricht? In seinem Seminar XX, „Encore“, warnt

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Lacan vor einem allzu simplen Atheismus: Während Gott nicht existiert (im Sinne einer absoluten Entität, die irgendwo da draußen unabhängig von uns Menschen haust), ex-sistiert er Lacan zufolge gleichwohl. Diese Ex-sistenz lässt sich freilich auf unterschiedliche Weise verstehen: imaginär (Gott existiert nicht in sich selbst, sondern nur außerhalb von sich, als imaginäre Projektion des Menschen), symbolisch (Gott ex-sistiert in den menschlichen Praktiken und Ritualen, die ihn zum Gegenstand haben, als symbolische Sache, die durch das menschliche Tun lebendig gehalten wird) und real – die von Lacan betonte Weise (Gott ist der unmögliche/reale, rein virtuelle Bezugspunkt, welcher der Symbolisierung widersteht, genau wie die unerträgliche Intensität der jouissance féminine). Die hier drohende Diskussion aber können wir abkürzen und einfach postulieren, dass Gott außerhalb von sich in der praktizierten Liebe ex-sistiert – nicht in unserer Liebe zu ihm, sondern in unserer Liebe zu den Nächsten (wie Christus es seinen Anhängern gegenüber formulierte: Wenn Liebe unter euch ist, werde ich da sein). Das wiederum heißt, dass Mensch und Gott in einem Zirkel gefangen sind: Ein religiöser Mensch erkennt in Gott die Voraussetzung seines ganzen Lebens; diese Voraussetzung aber wird durch seinen Dienst für Gott gesetzt und hat außerhalb dieser Beziehung keine Bedeutung. Darum muss Kierkegaard auf der vollständigen „Entsubstanzialisierung“ Gottes bestehen – Gott ist „jenseits der Seinsordnung“. Er ist nichts als die Art und Weise unserer Hinwendung zu ihm, das heißt, wir wenden uns nicht zu ihm hin, er ist diese Hinwendung und dieser Bezug: Gott selbst ist ja dieses: welcherart man sich mit ihm einläßt. Im Verhältnis zu sinnlichen und äußeren Gegenständen ist der Gegenstand etwas anderes als die Art und Weise, es gibt da viele Weisen; […] Im Verhältnis zu Gott ist „welcherart“ „was“. Wer sich mit Gott nicht auf die Art und Weise der unbedingten Hingebung einläßt, der läßt sich überhaupt nicht mit Gott ein.56 Der christliche Übergang zum Heiligen Geist, der die Liebe ist, ist buchstäblich zu nehmen: Gott als göttliches Individuum (Christus) geht in die rein nichtsubstanzielle Verbindung zwischen den Individuen ein. Deshalb können wir sicher sein, dass Aliens, wenn sie auf der Erde landen würden, nichts von Christus wüssten, denn Christus ist ausschließlich Teil der Menschheitsgeschichte – das ist jedoch kein Argument dafür, dass es sich bei Christus lediglich um eine menschliche Schöpfung/Projektion handelt oder, schlimmer noch, dass es ein göttliches Absolutes gibt, das unterschiedlichen Gruppen von Menschen (oder anderen rationalen Wesen) auf

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verschiedene Weise erscheint. Und deshalb betrifft der christliche Zweifel in seiner wahren Dimension auch nicht die Existenz Gottes, das heißt, seine Logik drückt sich nicht in dem Satz aus: „Ich habe ein solches Verlangen, an Gott zu glauben, dennoch kann ich nicht sicher sein, dass er wirklich existiert, dass es sich bei ihm nicht bloß um eine Chimäre meiner Vorstellung handelt“ (worauf ein humanistischer Atheist leicht erwidern kann: „Dann gib Gott auf und betrachte die Ideale, für die Gott steht, einfach als deine eigenen“) – was auch der Grund dafür ist, dass ein christliches Subjekt den berühmt-berüchtigten Gottesbeweisen gleichgültig gegenübersteht. Denken wir an Brechts bekannte Keuner-Anekdote über die Existenz Gottes: Einer fragte Herrn Keuner, ob es einen Gott gäbe. Herr Keuner sagte: Ich rate dir nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.57 Brecht ist hier zuzustimmen: Wir sind nie in einer Position, in der wir unmittelbar zwischen Theismus und Atheismus wählen können, da die Wahl als solche ihren Ort bereits innerhalb des Glaubensbereichs hat (im Sinne unseres praktizierten Engagements). Ein wirklich gläubiger Mensch sollte hier den Akzent von Brechts Anekdote verlagern: von Gott weg, hin zur Ex-sistenz Gottes, die sich mit dem Materialismus vollkommen vereinbaren lässt. Darum ist einer wahren Religion der Zweifel immanent: jedoch kein abstrakt-intellektueller Zweifel an der Existenz Gottes, sondern ein Zweifel an unserem praktizierten Engagement, das Gott selbst ex-sistieren lässt. Dieser Zweifel wird im Christentum auf die Spitze getrieben, in dem (wie Chesterton herausstellte) nicht nur Gläubige an Gott zweifeln, sondern Gott selbst sich in Zweifel verstrickt (mit seinem Ausruf „Vater, warum hast du mich verlassen?“ begeht Christus selber die für einen Christen schwerste Sünde: Er wird in seinem Glauben schwankend). Dabei ist Chesterton sich völlig im Klaren darüber, dass das Problem, dem wir uns dabei nähern, „so unergründlich und angsterregend [ist], daß es nicht leicht zu erörtern ist […] ein Gegenstand, vor dem die größten Heiligen sich zurecht fürchteten. Aber in der dramatischen Geschichte vom Leidensweg Christi gibt es eine deutliche Gefühlsäußerung, die zeigt, daß der Schöpfer aller Dinge (obgleich es unausdenkbar scheint), nicht bloß Todesqualen, sondern auch Qualen des Zweifels gelitten hat.“58 Gott zweifelt, ob das verbindende Band des menschlichen Engagements hält, das heißt, er fürchtet, dass es zerrei-

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ßen könnte, und es gibt keinen wirklichen Atheismus, der nicht durch diese Erfahrung hindurchgeht. Selbst noch die schonungslosesten Zurückweisungen des religiösen Glaubens sind oft insgeheim befangen, was die Religion betrifft. So liegt etwa eine tiefe Notwendigkeit darin, und ist keine bloße Marotte, dass Sam Harris seine scharfe Kritik am religiösen Glauben mit dem (von David Chambers weiter ausgeführten) antimaterialistischen Zugeständnis beschließt, dass es sich beim Bewusstsein um ein rudimentär ausgeprägtes eigenständiges Phänomen handelt; zudem war er rasch bei der Hand, in seiner allgemeinen Verurteilung der Religion zwei Ausnahmen zuzulassen. Erstens preist er die spirituelle Mystik – spirituelle Erfahrungen seien ein Fakt und sollten genauer untersucht werden: „Mystik ist ein vernunftgeprägtes Unterfangen. Religion nicht.“59 Zweitens zeigt sich bei genauerer Betrachtung Harris’ projüdische Voreingenommenheit: „[D] as Judentum [bietet] einen weitaus weniger fruchtbaren Boden für militanten Extremismus. Juden pflegen ihre Identität als Juden nicht ausschließlich aus den Inhalten ihrer Gottesvorstellungen zu beziehen. Zum Beispiel ist es möglich, ein praktizierender Jude zu sein, ohne an Gott zu glauben. Selbiges lässt sich vom Christentum oder vom Islam nicht behaupten.“60 Dazu gilt es, zumindest zweierlei zu sagen: Erstens trifft das Gleiche auf die Mehrheit der heute lebenden Christen zu; zweitens verlässt sich Harris auf einen allzu primitiven Glaubensbegriff – als hieße „glauben“ etwas faktisch für wahr zu halten. Im Hintergrund lauert hier das jüdische Standardargument für die Einzigartigkeit des Judentums, wonach nur es selbst das Rätsel des Anderen offenhält und nicht die Angst verschleiert, wenn Gott uns begegnet: „Was will er von uns?“ Das Christentum verdecke dagegen diesen Abgrund dadurch, dass es eine beruhigende Antwort liefert: Gott liebt uns, wir können seiner Fürsorge sicher sein und uns auf sein Erbarmen verlassen… (Der radikalen atheistisch-christlichen Antwort zufolge ist die Botschaft des Christentums nicht die Liebe, sondern der Tod Gottes. Die christliche Liebe ist die Liebe der Gemeinschaft der Gläubigen [der „Heilige Geist“] nach dem Tod Gottes, nicht die Liebe eines transzendenten Gottes für die Menschen.) Wir sollten uns eine Szene ähnlich dem Schlussdialog in Billy Wilders Manche mögen’s heiß vorstellen, nur dass in diesem Fall Christus der eine Part in dem Schlagabtausch ist: „Du bist ein Verlierer, der sich von den Herrschenden hat ans Kreuz schlagen lassen!“ „Aber ich habe meinen Tod zu eurem Nutzen hingenommen.“ „Du kannst uns nicht wirklich helfen!“ „Ihr habt jedoch mein ganzes Mitgefühl in eurem Leiden.“ „Das heißt aber doch nichts anderes, als dass du kein wirklicher Gott bist!“ „Na und? Niemand ist vollkommen.“ … Und überhaupt sollte man das Mitgefühl Jesu Christi für uns Sünder nicht sentimentalisieren – was

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Christi Vergebung unserer Sünden betrifft, sollten wir an Ford Madox Fords Zapfenstreich denken, wo es am Ende heißt: Die eigentliche Grausamkeit liegt im erbarmungslosen Vergeben. Genau das aber tut Christus: Er vergibt uns einfach brutal, ohne Sentimentalität und ohne Raum für Dankbarkeit zu lassen. Auf der grundsätzlichsten Ebene tut Harris den religiösen Glauben als epistemologischen Unsinn ab, der nicht auf der Höhe unseres heutigen Wissens von der Welt ist: Jede Religion geht damit einher, dass Aussagen als Wahrheit anerkannt werden, die mit unserem Wissensstand offensichtlich unvereinbar sind, also Aussagen, die offensichtlich nur in einer Gesellschaft getroffen werden konnten, die viel niedriger stand als unsere. Offensichtlich also sind wir im Zusammenhang mit der Religion bereit, unsere normalen Wahrheitsstandards außer Kraft zu setzen: Wer würde in alltäglichen Lebenszusammenhängen Geschichten akzeptieren, die von der Umwandlung von Wasser in Wein oder von einer Geburt handeln, der keine Schwängerung vorausging? In dieser Diskrepanz erkennt Harris die Hauptgefahr für das Überleben der Menschheit: Die Aussicht, dass sich Nuklearwaffen in den Händen muslimischer Terroristen befinden könnten, bedeutet, dass Menschen, die mental dem 14. Jahrhundert angehören, über die Mittel zu unserer Vernichtung verfügen werden. Das Schlimmste für Harris ist die aufgeklärte „tolerante“ Sicht, nach der wir aus Gründen der Religionsfreiheit niemanden daran hindern sollten, seine Überzeugungen zur Schau zu stellen, und die damit einhergehende Behauptung, der terroristische Fundamentalismus sei eine schreckliche Perversion der großen echten Religionen. Harris wirft die berechtigte Frage auf, warum wir es dann nur mit muslimischen (und in geringerem Umfang hinduistischen) Terroristen zu tun haben. So hätten etwa die Tibeter nicht weniger schlimm zu leiden als die Palästinenser und dennoch gibt es keine tibetischen Terroristen … Die Schwierigkeit mit den Religionen ist es offensichtlich, dass nicht alle von ihnen wahr sein können – mit der wunderbaren Ausnahme des Weltbilds der New-Age-Anhänger des Wicca-Glaubens: Die meinen nämlich, dass Christen in den Himmel und Wikinger nach Walhalla kommen, Buddhisten wiedergeboren werden, muslimische Märtyrer ihre siebzig Jungfrauen bekommen und so weiter, während Atheisten ihren großen Schlaf schlafen. Warum also ist Gott nicht zu dem Entschluss gelangt, sich ein für alle Mal zu offenbaren, statt seine aufrichtigen Gläubigen in Verwirrung zu stürzen? Die Lösung besteht darin, alle religiösen Erzählungen zu historisieren und sie als Ausdruck irgendeiner zugrundeliegenden transzendenten Gottheit zu betrachten („Wir alle sprechen auf unsere je eigene Weise über denselben Gott …“). (Schelling tut sich in diesem Punkt ganz

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besonders hervor: Für ihn stellt die Religionsgeschichte die immanente Geschichte der Gottheit selbst dar, deren Selbstentfaltung sie sei.) Der nächste logische Schritt liegt dann ziemlich nahe: Es ist der säkulare Humanismus als gemeinsamer Nenner aller Religionen, also die Vorstellung, dass es sich bei allen Religionen um einen Ausdruck des tiefsten Verlangens und der größten Ängste des Menschen auf den unterschiedlichen Stufen seiner Entwicklung handelt. In ebendieser Weise hat Marx in seiner Analyse der Französischen Revolution von 1848 behauptet, dass die Republik die einzige Form gewesen sei, in der die beiden royalistischen Fraktionen (Orleanisten und Bourbonen) ihre gemeinsame Herrschaft ausüben konnten, das heißt, dass es nur als Republikaner möglich war, „im eigentlichen Sinne“ Royalist zu sein, dass man nur als säkularer Humanist religiös „im eigentlichen Sinne“ sein kann, ohne sich einer bestimmten Religion anzuschließen, dass, um Marx zu paraphrasieren, Religion „im eigentlichen Sinne“ der namenlose Glaube des atheistischen Humanisten ist. Die Aufgabe besteht darin, genau diese Form der Religion, die sich im säkularen Humanismus erhält, fallen zu lassen – daraus allerdings ergibt sich eine unerwartete Wendung: Denn was ist, wenn das Gleiche für den Atheismus gilt? Es gibt ihn in unterschiedlicher Form, und nur indem man Christ ist, kann man „im eigentlichen Sinne“ Atheist sein, weil Gott nur im Christentum aufhört, an sich selbst zu glauben. Darum sind alle Versuche, die Religion insgesamt zu „entfetischisieren“, einen Gott „jenseits der Seinsordnung“ zu denken, einen Gott von rein relationaler Andersheit, der kein höchstes Wesen darstellt, der nicht der allmächtige Regulierer des Universums ist, zum Scheitern verurteilt. Zu den jüngsten Versuchen in dieser Richtung zählt der Ansatz von Markus Gabriel, der in Bezug auf die Religion postuliert, dass sie „unserem Bedürfnis [entspringt], aus einer maximalen Distanz zu uns zurückzukehren“. Der Mensch ist imstande, so weit von sich abzulassen, dass er sich nur noch als verschwindenden Punkt in einem Unendlichen verstehen kann. Wenn wir aus dieser Distanz zu uns zurückkehren, stellt sich uns die Frage, ob unser Leben eigentlich noch einen Sinn hat oder ob sich unsere Sinnhoffnungen wie ein Wassertropfen im Ozean des Unendlichen auflösen. Die Religion ist deswegen eine Rückkehr zu uns selbst aus dem Unendlichen, schlechthin Unverfügbaren und Unveränderlichen, bei der es darum geht, dass wir uns nicht verlorengehen.61 Eine solche Sichtweise hat ihren ersten modernen Vertreter in Schleiermacher, dem Vater der philosophischen Hermeneutik, für den Gott ein Name

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für unser Verlangen nach Unendlichkeit ist, das seinen angemessenen Ausdruck nur in Gefühlen finden kann, sodass wir es im Moment, da wir es ontologisieren, verraten und preisgeben. Als Paradebeispiel dient Gabriel der übliche Verdächtige für ein solches Vorgehen, nämlich Kierkegaard, nach dessen Bestimmung Gott „dies ist, dass alles möglich ist“: Damit meint er, dass wir Gott oder dem Göttlichen begegnen, wenn wir auf maximale Distanz gehen und erfahren, dass alles möglich ist. Existenziell, in unserer Lebenserfahrung, zeigt sich dies darin, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren und verstehen, dass wir ganz verschiedene Lebensweisen annehmen könnten […]. Kierkegaards Analyse zufolge ist Gott unsere maximale Distanznahme.62 Solch ein Begriff von Gott scheint effektiv von jeglicher Fetischisierung frei zu sein – „Gott“ bezeichnet lediglich eine Besonderheit unseres geistigen Selbstbezugs: Wir dokumentieren in jeder Selbstbeschreibung auch ein normatives Selbstverständnis, eine Art und Weise, wie wir sein wollen. Diese Einsicht nennt Kierkegaard „Gott“, und man kann ihm insofern zustimmen, als die Religion sich auf den menschlichen Geist bezieht, der sich auf etwas Unverfügbares hin öffnet.63 Gabriel treibt diese Position auf die Spitze: Wenn wir Gott auf diese Weise „entfetischisieren“, sodass „Gott“ kein höchstes Seiendes mehr bezeichnet, in Bezug auf das sich alles erklären lässt und Sinn macht (weil er die Welt erschaffen hat), dann bedeutet Religion in Wahrheit einfach, dass es keinen Gott gibt: Religion ist das Gegenteil einer Welterklärung. […] Man könnte leicht provokativ sogar sagen, dass der Sinn der Religion die Einsicht ist, dass es Gott nicht gibt, dass Gott kein Objekt oder Supergegenstand ist, der den Sinn unseres Lebens garantiert.64 Kurzum, sofern „Gott“ ein Name für die in der menschlichen Subjektivität angelegte Dezentrierung ist und sofern jeder positive Begriff von Gott (als höchstem Wesen und so weiter) diese Dezentrierungslücke bereits ausfüllt, sind wir zu dem Schluss genötigt, dass der einzig authentische radikale Materialismus diese Nullform der Theologie ist, die Behauptung einer „reinen“ Dezentrierung ohne ein göttliches Seiendes, das sie verdeckt. (Dies

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bringt uns zurück zu Rowan Williams Definition der grundlegendsten religiösen Dimension als die Erfahrung, dass unser Dasein aus den Fugen ist.) Wenn wir jedoch so weit gehen, warum sollten wir dann weiter anrufen, was die Religion „Gott“ nennt? Anders gefragt: Wie hat man es sich genau vorzustellen, dass wir in der Religion aus der maximalen Distanz zu uns zurückkehren? Beachten wir die Ambiguität bei Gabriel: Gott, das Göttliche, ist für ihn „unsere maximale Distanznahme“ und gleichzeitig das „Zu-uns-Zurückkehren aus einer maximalen Distanz“. Was ist daher, wenn wir einfach nicht zu uns zurückkehren, sondern vollkommen akzeptieren, dass wir bloß ein „verschwindender Punkt in der Unendlichkeit“ sind, ein unbedeutendes Staubkorn auf einem kleinen Planeten? Oder genauer, was ist, wenn das „Zu-uns-Zurückkehren“ eben darin besteht, dass wir dieses Faktum vollauf annehmen, dass wir die Geisteshaltung einnehmen, die ein solches Annehmen ausdrückt – etwa das Gefühl von Ehrfurcht angesichts der Unendlichkeit des Universums (das Kant anführt, wenn er vom bestirnten Himmel über uns spricht)? Eine solche Haltung sollte nicht auf den wissenschaftlichen Objektivismus reduziert werden, denn sie schließt eine tiefgreifende „mystische“ Erfahrung des Abgrunds ein, in dem wir hausen – in ihm „verlieren wir wirklich den Boden unter den Füßen“ … Ist die Religion (beziehungsweise das, was wir für gewöhnlich als solche bezeichnen) dann nicht genau eine Abwehr gegen diese radikale Abgrunderfahrung, ein Versuch, diese Leere der Unendlichkeit durch die Vorstellung eines höchsten Wesens, eines „Supergegenstands, der den Sinn unseres Lebens garantiert“, zu verschleiern? Diese Haltung ist kein wissenschaftlicher Objektivismus, bei dem die Wissenschaft sich selbst auslöscht (wie Lacan sagt, kündigt die Wissenschaft das Subjekt auf): Der wissenschaftliche Objektivismus setzt ein unsichtbares Subjekt voraus, das die Realität gleichsam von nirgendwo aus beobachtet (oder, wie man sagt, aus objektiver Distanz). Anders ausgedrückt, setzen die Vertreter des wissenschaftlichen Objektivismus irgendwie voraus, dass das autonome Subjekt immer noch da ist, frei argumentiert und nach seinen Vorstellungen experimentiert. Die eigentliche Frage in Verbindung mit dem wissenschaftlichen Objektivismus, der unserem Ich die wirkliche Existenz abspricht und es lediglich als von unserem Gehirn erzeugte „Nutzerillusion“ behandelt, ist aber doch diese: Lässt sich in der täglichen Erfahrung leben, dass das Selbst nicht existiert? Der zeitgenössische deutsche Philosoph und Hirnwissenschaftler Thomas Metzinger bejaht dies mit Blick auf die buddhistische Aufklärung, wo das Selbst in der Tiefe der Selbsterfahrung sein Nichtsein unmittelbar annimmt, das heißt sich als „simuliertes Selbst“, als eine repräsentationale Fiktion anerkennt.

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Eine solche erleuchtete Bewusstheit ist keine Selbstbewusstheit mehr: Ich erfahre mich nicht länger als wirkende Kraft hinter meinen Gedanken; „mein“ Bewusstsein ist das unmittelbare Bewusstsein eines selbstlosen Systems, eines Wissens ohne Selbst. Es gibt, kurzum, tatsächlich eine Verbindung oder zumindest eine Art asymptotischen Punkt der Übereinstimmung zwischen der Position radikaler Hirnwissenschaftler und der buddhistischen Vorstellung des anatman (der Inexistenz des Selbst): Der Buddhismus bietet eine Art von subjektiver Ereigniswerdung des wissenschaftlichen Kognitivismus: Das Ereignis, das sich einstellt, wenn wir die Resultate der Hirnforschung vollkommen annehmen, ist das Erleuchtungsereignis, das Erreichen des Nirwana, das uns von den Beschränkungen unseres Selbst als autonomer substanzieller Handlungsträger befreit. Es gibt noch eine weitere Schwierigkeit mit Gabriels Version von Kierkegaard: Dieser nämlich ist weit davon entfernt, sich auf einen reinen Beziehungsbegriff von Gott zu beschränken (Gott als Extrem unserer Beziehung auf uns selbst), sondern findet die Einzigkeit des Christentums vielmehr in dessen Ereignishaftigkeit: Während die (meisten) anderen Religionen nach unmittelbarer Berührung mit irgendeiner transhistorischen Ewigkeit suchen, in der sich der Mensch aller zeitlichen und körperlichen Schranken entledigt, ist es die Grundprämisse des Christentums, dass wir nur durch Christus Zugang zu Gott haben, durch Annahme eines absurden Glaubens, dass Gott vor 2000 Jahren in einem irdischen Individuum Fleisch geworden ist – so und nur so gestaltet sich im Christentum die Rückkehr aus der abgründigen Unendlichkeit des Universums zu uns selbst. Wenn es für Kierkegaard also kein authentisches Christentum außerhalb dieses absurden Glaubens an ein partikulares Ereignis gibt, das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unserer Realität zugetragen hat, heißt das dann, dass Kierkegaard schlicht inkonsistent ist oder sich widerspricht, dass er von reingeistiger Selbstbezüglichkeit auf den krudesten Objektivismus „regrediert“? Oder ist die Entgegensetzung eines rein geistigrelationalen Gottes und der „fetischisierten“ Vorstellung von Gott als Übergestalt und Superakteur nicht ein bisschen sehr grob? Finden wir mit Kierkegaard nicht noch einen weiteren Fall des unendlichen Urteils „Der Geist ist ein Knochen“? Gott, die entsubstanzialisierte reine Selbstbezüglichkeit, deckt sich mit einem elenden Individuum, das vor 2000 Jahren in Palästina umherwanderte … Die eigentliche Schwierigkeit besteht nicht darin, sich von der „Fetischisierung“ Gottes zu befreien, sondern darin, die innere Notwendigkeit zu erfassen, mit der sich die reingeistige Selbstbezüglichkeit in einem kontingenten Einzelwesen inkarnierte.

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Gilbert Keith Chesterton ist daher (wie üblich) zuzustimmen, wenn es bei ihm heißt: „Ich glaube an die Predigt zu den Bekehrten, denn ich habe immer gefunden, dass die Bekehrten ihre Religion nicht verstehen.“65 Dieses Missverstehen ist in der christlichen Religion extrem ausgeprägt, in der die große Mehrzahl der Gläubigen den atheistischen Kern ihres Glaubens nicht versteht.

9 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma Die Parallaxe von Trieb und Begehren Unter den Wortstämmen mit zahlreichen Präfixen heben sich im Englischen zwei heraus: -ject („geworfen“: subject, object, project, inject, interject, reject, abject, eject, deject …) und -scend („steigen“: transcend, ascend, descend). Statt uns in der Vielzahl von Präfixen und ihrer komplexen Logik zu verirren (etwa der Uneindeutigkeit von „Objekt“: ein vor uns befindliches Ding, ein Ziel und ein Hindernis), sollten wir uns auf die Wortstämme selbst konzentrieren: Stellt das Paar -ject und -scend nicht die Minimalform von Trieb und Begehren dar? „Trieb“ steht für den „Wurf “, der die friedvolle Stabilität aus dem Gleichgewicht bringt, während „Begehren“ für das Bemühen steht, sich zu einem unerreichbaren Ziel zu erheben. Finden wir diese Spannung nicht bereits im Werk der beiden ersten großen Klassiker der Philosophie? Das Paar Platon und Aristoteles scheint auf die Freud’sche (oder vielmehr Lacan’sche) Entgegensetzung von Begehren (der Suche nach dem sich entziehenden transzendenten Objekt) und Trieb (Befriedigung in der immanenten Bewegung) vorauszuweisen. Und steht die aristotelische Vorstellung von einer Aktivität, die an sich Lust verschafft, nicht der platonischen Vorstellung einer Lust als etwas, das die Überwindung eines Mangels oder Hindernisses signalisiert, entgegen? Für Aristoteles entsteht die wahre Lust nicht im Ausfüllen eines Mangels (wie dem Essen oder Trinken, um den Hunger oder Durst zu stillen), sondern sie ist vielmehr positive Lust an einem Tun, das kein äußeres Ziel verfolgt (sein höchstes menschliches Beispiel ist die Lust der Philosophen am Denken): Aristoteles verleiht der Lust ontologische Würde, indem er sie gemäß der energeia umkonzipiert, einer Kategorie, die sich dem platonischen Gegensatz zwischen Bewegung und Ruhe entzieht. Energeia ist ein Neologismus, der sich vom Wort ergon oder Arbeit herleitet und für gewöhnlich als Tätigkeit oder Aktualität übersetzt wird; ihren vollsten Ausdruck findet sie in Tätigkeiten, die in sich selbst vollständig (in Ruhe) sind, das heißt jenen, deren Ende nicht in irgendeiner äußeren Vollbringung besteht, sondern in ihrer Ausführung selbst. „Denn es gibt eine Tätigkeit nicht nur in der Bewegung, sondern auch in der Unbewegtheit, und die Lust liegt mehr in der Ruhe als in der Bewegung“. (NE [Nikomachische Ethik] 1154b, 27 f.)1

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Aber findet diese höchste Lust an einer Aktivität (vom Tanzen bis zum Denken), die ihren Zweck in sich selbst hat, ihr Gegenstück nicht in einem viel perverseren Beispiel der energeia akinesias, dem der zwanghaften Pseudoaktivität, bei der ich die ganze Zeit über aktiv bin (hyperaktiv sogar), jedoch nicht, um etwas zu vollbringen, sondern um sicherzustellen, dass sich gerade nichts ändert? Man könnte das falsche Aktivität nennen: Menschen sind nicht nur tätig, um etwas zu verändern, sie können auch tätig sein, um zu verhindern, dass etwas eintritt, das heißt, damit sich nichts ändert. Darin besteht die typische Strategie des Zwangsneurotikers: Er ist hektisch aktiv, um zu verhindern, dass das Eigentliche geschieht. In einer Gruppensituation etwa, in der sich irgendwelche Spannungen zu entladen drohen, redet der Zwanghafte immerzu, erzählt Witze und so weiter, um den unbehaglichen Moment der Stille abzuwenden, der die Beteiligten zwingen würde, sich der zugrundeliegenden Spannung offen zu stellen. Das ist der Grund, aus dem Zwangsneurotiker in der psychoanalytischen Behandlung die ganze Zeit über reden und den Analytiker mit Anekdoten, Träumen und Einfällen überschütten: Ihre dauernde Aktivität ist von der darunterliegenden Angst getragen, dass der Analytiker sie nach dem fragt, um das es wirklich geht, wenn sie für einen Augenblick zu reden aufhören – anders ausgedrückt, reden sie, um den Analytiker ruhig zu halten. In dieser seltsamen energeia akinesias ist das Subjekt hyperaktiv, um sicherzustellen, dass keine Bewegung in die Situation kommt. Bei näherer Betrachtung wird man bald feststellen, wie schwierig es ist, die „gute“ energeia akinesias klar von der „schlechten“ zu trennen: Was wäre, wenn Gott selbst – das höchste Agens der energeia akinesias für Aristoteles – das Universum nur deshalb in Bewegung hält, um jede wirkliche Veränderung zu verhindern? Solche seltsamen Verdopplungen und Umkehrungen deuten darauf hin, dass das Paar Begehren und Trieb nicht bloß eine zentrale Rolle in Freuds Theoriegebäude spielt, sondern dass es auch viel komplexer und uneindeutiger ist, als es scheinen mag: Wir haben es dabei mit einem richtigen Antagonismus zu tun, das heißt, die beiden Glieder lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen und sie ergänzen sich auch nicht gegenseitig, weil jedes Glied das andere von innen zu zersetzen scheint. Wir können diesen Antagonismus sehr deutlich erkennen, wenn wir ihn vom Begehren und dessen Befriedigung (Genießen) her umformulieren. Die rückwirkende Täuschung, durch die eine kontingente Begegnung ihre eigene Notwendigkeit schafft („Mein ganzes Leben habe ich darauf gewartet, ich war dazu bestimmt“), ist auch dann wirksam, wenn uns ein unerwartetes Genießen begegnet: Dieses erleben wir zunächst als störenden Einbruch, und

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dann schaffen wir ein Begehren dafür, einen Mangel, von dem wir vermuten, dass es von ihm aufgefüllt wird, und dadurch normalisiert sich die Übersteigerung wieder: Bestand der Mangel wirklich, bevor er aufgefüllt wurde? Oder ist er etwas, das nachträglich, im Nachhinein vorausgesetzt wird? Was, wenn der Mangel ein im Rückblick Erschaffenes wäre, das dazu diente, die unheimliche Erfahrung einer Freude zu erklären und „ontologisch“ zu rechtfertigen, nach der man nicht gesucht oder mit der man nicht gerechnet hat? Darin besteht das Besondere sublimierter Lust, ihre einzigartige existenzielle und zeitliche Logik: Sie nimmt die Form eines nicht „gewollten“ Mehr an – ihr Eintritt korrespondiert mit keinem vorausgehenden Begehren –, wird aber dennoch genossen. Sie gleicht einer Antwort ohne Frage, um das alte philosophische Klischee von der Frage ohne Antwort umzukehren. […] Die abwegige Antwort auf der Suche nach einer Frage, eine Antwort, die eine neue Frage erzwingt, gerade weil sie auf keine der bislang bestehenden so richtig passt oder womöglich gar eine Antwort, die überhaupt keine Frage braucht. Es macht das Seltsame dieser Erfahrung aus, dass man ihr Missverhältnis dadurch auflösen möchte, dass man sie wieder in die geläufige Logik von Mangel und Erfüllung einschreibt. Was man findet, erweist sich als das, wonach man die ganze Zeit gesucht hat. Dieses Phantasma einer vorgezeichneten Übereinstimmung stellt eine rückwirkende Täuschung dar, eine Domestizierung der Merkwürdigkeit des ersten Zusammentreffens, der folgenreichen Begegnung einer ungewollten Befriedigung mit einem nicht wahrnehmbaren Begehren. Dies gibt uns vielleicht sogar eine der möglichen Definitionen des Phantasmas an die Hand: Es ist nicht bloß die Antwort auf die Frage Che vuoi?, also das Rätsel, was der Andere will, sondern auch auf die Frage, die den Rahmen – die Koordinaten des Verstehens – für den merkwürdigen Exzess des Genießens liefert. Und gilt nicht das Gleiche auch für das Subjekt selbst? Obwohl man das Subjekt normalerweise mit der Frage und das Objekt mit der Antwort assoziieren würde (das Subjekt untersucht die Realität, sucht nach Objekten, die Antworten liefern), ist das Subjekt für Lacan eine Antwort des Realen, während das Objekt in seiner dunklen Undurchdringlichkeit ein Rätsel darstellt, eine Frage, die an das Subjekt ergeht. (Allgemeiner gesprochen, ist das Subjekt qua Antwort ce qui du réel patit du signifiant, eine Antwort des Realen des Körpers auf die Kolonisierung durch die Bezeichnungsordnung.) In einer anderen Variation dieses Motivs charakteri-

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sierte Lévi-Strauss das Inzestverbot als eine Antwort ohne Frage: Das Aufstellen dieses Verbots war eine Antwort, die Lösung eines Problems – allerdings ist nicht klar, auf welche Frage es eine Antwort darstellte, welches Problem damit gelöst werden sollte. Alle Bemühungen, die Frage zu bestimmen, die Gründe, die aufgeführt werden (von biologischen [der Inzest verhindere die für die Entwicklung einer Art notwendigen genetischen Variationen] bis zu soziokulturellen [das Inzestverbot sei die andere Seite der ehelichen Verbindung mit einer von außen kommenden Frau, die einer anderen Familie oder einem anderen Stamm angehört, wodurch das soziale Netz erweitert wird]) sind offensichtlich unzureichend, weil letztlich zirkulär, das heißt, sie funktionieren nur dann als Fragen, wenn es die Antwort bereits gibt. Wenn das Inzestverbot da ist, kann man Überlegungen dazu anstellen; die Idee aber, es sei eine Situation vorstellbar, in der eine einzelne Person oder eine Gruppe darüber nachdenkt, was sie tun soll, um sich aus einer Sackgasse zu befreien, und dann entscheidet, den Inzest mit einem Verbot zu belegen, ist von der gleichen Absurdität wie die naive Erklärung der Sprachentstehung, die man bei Friedrich Engels findet: Andrerseits trug die Ausbildung der Arbeit notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens vermehrte und das Bewußtsein von der Nützlichkeit dieses Zusammenwirkens für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam aber sicher um, durch Modulation für stets gesteigerte Modulation, und die Organe des Mundes lernten allmählich einen artikulierten Buchstaben nach dem andern aussprechen.2 Kurz gesagt, entstand die Sprache, als „die werdenden Menschen dahin kamen, daß sie einander etwas zu sagen hatten“ – als ob die Vorstellung, „einander etwas zu sagen zu haben“, nicht bereits voraussetzt, dass die Sprache da ist … Wir gelangen hier also zu einer merkwürdigen Schleife, in der die beiden Exzesse/Mängel einander ergänzen, ohne je einen gemeinsamen Raum zum gegenseitigen Ausgleich zu finden: Es gibt einen Mangel (ein treibendes Begehren, einen Mangel, der auf eine bestimmte Art das begehrende Subjekt „ist“), der sich niemals durch ein Objekt auffüllen lässt (das Begehren ist per definitionem unbefriedigt, es will immer etwas mehr, etwas anderes, es bekommt nie „das“). Und es gibt einen Exzess (der Befriedigung), ein verstörendes Eindringen des Genießens, welches das Subjekt

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aus dem Gleis wirft und seinen passenden Platz in dessen Universum nicht finden kann. Diese beiden Exzesse können keinen gemeinsamen Raum des Ausgleichs finden, weil sie auf unterschiedliche Weise das gleiche Element sind und den gleichen unmöglichen Traum von einer harmonischen gegenseitigen Ergänzung hervorbringen. Schuster hat Recht, wenn er betont, dass das Bemühen, diese Kluft oder dieses Scheitern, Frage und Antwort, Begehren und Genießen-im-Trieb, Subjekt und Objekt zur Übereinstimmung zu bringen, keineswegs ein ungeklärtes Problem der psychoanalytischen Theorie darstellt, sondern gewissermaßen deren eigenes Lösungskonzept, nämlich eine positive Grundeinsicht der psychoanalytischen Theorie, ein Merkmal, das ihren Gegenstand selbst kennzeichnet, die Struktur der menschlichen Psyche. Das Begehren verbindet sich mit der Deutung wie der Trieb mit der Sublimierung: Die Tatsache, dass die Sublimierung in der Regel zusammen mit dem Trieb angeführt wird, nicht mit dem Begehren – Freud spricht an keiner Stelle von der „Sublimierung des Begehrens“ noch je von der „Deutung des Triebs“, sondern er verbindet die Deutung immer mit dem Begehren –, bezeugt eine tiefe Notwendigkeit der Theorie. Der Titel von Lacans Seminar von 1958–59 („Das Begehren und seine Deutung“) ist als direkte Behauptung ihrer letztendlichen Identität zu nehmen: Das Begehren fällt mit seiner eigenen Deutung zusammen. Wenn das Subjekt darangeht, das Begehren (sein eigenes oder, ursprünglicher, das des Anderen) zu deuten und dabei nie den endgültigen Bezugspunkt findet, wenn es unaufhörlich von einer Deutung zur nächsten gleitet, dann ist ebendieses verzweifelte Bemühen, bei dem anzukommen, „was man wirklich will“, das Begehren selbst. (Insofern die Koordinaten des Begehrens durch das „Fundamentalphantasma“ geliefert werden und insofern dieses Phantasma als Versuch entsteht, die Antwort auf das Rätsel des Che vuoi?, des Begehrens des Anderen, zu liefern, kurzum: als Deutung dieses Begehrens, dessen, was der Andere „wirklich von mir will“, wird das Begehren als solches durch die Deutung aufrechterhalten.) Deleuze selbst fand es zu schwierig, bei dieser von ihm selbst ermittelten Lücke zu verweilen, und er erlag der Versuchung, sie auszufüllen, als er seine Überlegungen entfaltete, wie das Begehren aus den Trieben und ihrem Antagonismus hervorgeht (oder wie das Molare aus dem Molekularen entsteht oder wie sich die Darstellung aus der produktiven Präsenz entwickelt). Sicher, das Begehren lässt sich aus der Sackgasse der Kreisbewegung der Triebe „ableiten“: Es beendet den lähmenden Stillstand der in ihrer Endlosschleife gefangenen Triebe, indem es das Ziel nach außen in ein transzendentes, verlorenes Objekt verlagert, das sich dem Zugriff des Sub-

390 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma jekts für immer entzieht. Allerdings überzeugt die entgegengesetzte Ableitung noch mehr: Entsteht der Trieb nicht als Versuch, aus dem Scheitern einen Erfolg zu machen? Während also das Begehren immer wieder sein Ziel, das volle Genießen, verfehlt, entsteht mithin der Trieb, wenn dieses wiederholte Scheitern, das endlose Kreisen um das verlorene Objekt, selbst zu einer Quelle der Befriedigung wird. Daher gilt es, diese Versuchung, einen der Pole auf sein Gegenteil zu reduzieren, zurückzuweisen und auf der absoluten Parallaxe beider zu bestehen. Darin unterscheiden sich Deleuze und Lacan. Für Deleuze beginnt alles mit „körperlosen Organen“, der chaotischen Mannigfaltigkeit asubjektiver Intensitäten, verdichteten Mustern des Genießens; diese bilden den transzendental-ursprünglichen Prozess passiver Synthesis, aus dem sich das Subjekt durch aktive Synthesis allmählich herausbildet. Die passive Synthesis ist demnach ein Prozess, welcher der Subjekt-Objekt-Unterscheidung, der Entgegensetzung von Subjekt und äußerer objektiver Realität vorausgeht; als solche verbindet sich die passive Synthesis mit einer Subjektivierung ohne (oder vielmehr vor dem) Subjekt – auch Lacan sieht die Kreisbewegung der Triebe mit einer azephalischen Subjektivierung ohne Subjekt verbunden. Der Grundansatz, den Lacan hier verfolgt, ist jedoch ein anderer: Ihm geht es nicht darum, den Ausgangspunkt in den Schwarm der um primitive objects a kreisende Triebe zu verlegen und aus ihm eine transzendentale Ableitung des vollständig konstituierten (begehrenden) Subjekts vorzunehmen. Für ihn gehört das Paar der asubjektiven Phänomene (der phantasmatischen Urkerne, der Urmuster des Genießens, die sich nicht vom Subjekt aus annehmen lassen) und des leeren (ausgestrichenen) Subjekts (S/) – S/ und a – immer zusammen: Immer wenn wir es mit asubjektiven Phänomenen zu tun haben, muss die Leere des reinen Subjekts bereits da sein, das heißt, das Subjekt des Unbewussten (das Cogito, S/) und der Schwarm kopfloser Triebe hängen immer zusammen. Das seltsame Paar untergräbt das aristotelische Paar Seele und Körper (die Seele als immanente Form des Körpers) sowie das transzendentale Paar Subjekt und Objekt, das sich jeweils gegenübersteht. Der Antagonismus der Triebe, den Deleuze auf deren elementarster Ebene verortet (und der die Entwicklung hin zum Begehren/Mangel/Subjekt auslöst), ist der zwischen körperlosen Organen und organlosem Körper, der leeren/flachen Oberfläche, dem Einssein, welches der imaginären Identifikation mit dem Spiegelbild vorausgeht, dem Grund für alle späteren Synthesen. Zum organlosen Körper gelangt man, wenn man von einer Begehrensmaschine sämtliche ihrer Organe/Teile (Partialobjekte) abzieht,

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und darum ist der organlose Körper im Gegensatz zu jedem holistischen Organizismus mehr und nicht weniger als die Summe seiner Teile. Aus Lacan’scher Sicht ist „organloser Körper“ letztlich eine andere Bezeichnung für das Subjekt (S/) als mit dem Schwarm der Triebe wechselseitig zusammenhängende radikale Negativität. Betrachten wir diese verschlungene Struktur eingehender.

Unsterblichkeit als Tod im Leben Deleuze variiert häufig das Motiv, dass wir im Zuge der Posthumanisierung lernen sollten, „eine Wahrnehmung, die dem Menschen vorausgeht (oder nach ihm kommt) […], befreit von ihren menschlichen Koordinaten“, einzuüben:3 Jene, die Nietzsches ewiger „Wiederkehr des Gleichen“ uneingeschränkt zustimmen, sind stark genug, der Vision vom „irisierenden Chaos einer Welt vor dem Menschen“ standzuhalten.4 Der übliche realistische Ansatz zielt auf Weltbeschreibung, auf die Darstellung der Realität, wie sie da draußen unabhängig von uns beobachtenden Subjekten besteht. Allerdings sind wir, wir Subjekte, selbst Teil der Welt, und darum sollte der konsequente Realismus uns auch in die Realität, die wir beschreiben, mit einschließen, wozu auch gehören würde, dass wir uns selbst „von außen“ beschreiben, unabhängig von uns selbst, so als ob wir uns durch unmenschliche Augen betrachten würden. Dieses Einschließen-von-uns-selbst ergibt keinen naiven Realismus, sondern etwas viel Unheimlicheres, nämlich eine radikale Verschiebung in der Subjekthaltung, durch die wir uns selbst zu Fremden werden. Auch wenn Deleuze hier offen auf die Sprache Kants zurückgreift, wenn er vom unmittelbaren Zugang zu den „Dingen selbst (wie sie an sich sind)“ spricht, geht es ihm gerade darum, dass die Unterscheidung zwischen Phänomenen und an sich seienden Dingen, zwischen phänomenaler und noumenaler Ebene, von ihrer Funktion bei Kant abgezogen werden muss, wo Noumena transzendente Dinge sind, die sich immer unserem Zugriff entziehen werden. Was Deleuze als „Dinge an sich“ bezeichnet, ist gewissermaßen noch mehr Erscheinung als unsere gemeinsame Erscheinungswirklichkeit: Es ist das unmögliche Phänomen, das aus unserer symbolisch konstituierten Realität ausgeschlossen ist. Die Lücke, die uns von den Noumena trennt, ist daher keine in erster Linie epistemologische, sondern eine ethisch-praktische und libidinöse: Es gibt keine „wahre Realität“ hinter oder unterhalb der Phänomene, Noumena sind phänomenale, erscheinende Dinge, deren Intensität „zu viel“ ist für unseren auf die konstituierte Realität abgestimmten Wahrnehmungsapparat – das epistemologische

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Scheitern ist ein sekundärer Effekt des libidinösen Schreckens, das heißt, die dem zugrundeliegende Logik kehrt Kants „Du kannst, denn du sollst“ um in: „Du kannst nicht (Noumena erkennen), denn du darfst nicht“. Nehmen wir an, jemand wird gezwungen, eine schreckliche Folterung mitanzusehen: Das Ungeheuerliche dessen, was er gesehen hat, wird daraus gewissermaßen eine Erfahrung des noumenalen Unmöglich-Realen machen, das die Koordinaten unserer gemeinsamen Wirklichkeit sprengt. (Das Gleiche gilt für heftigen Geschlechtsverkehr, den man mitansieht.) Würden wir Filmaufnahmen aus einem Konzentrationslager entdecken, die Szenen aus dem täglichen Leben unter „Muselmännern“ zeigen, wie sie systematisch misshandelt und all ihrer Würde beraubt werden, hätten wir in dem dargestellten Sinne „zu viel gesehen“. Wir hätten das verbotene Gelände dessen betreten, was man besser nicht sehen sollte. (Man kann Claude Lanzmann gut verstehen, der sagte, sollte er auf einen solchen Film stoßen, würde er ihn auf der Stelle vernichten.) Dies ist es auch, was es so unerträglich macht, die letzten Augenblicke von Menschen mitzuerleben, die wissen, dass sie bald sterben werden und die in diesem Sinne bereits lebende Tote sind; oder denken wir uns wiederum, es wäre unter den Trümmern der Twin Towers eine Videokamera entdeckt worden, die den Crash wie durch ein Wunder unbeschädigt überstanden hätte und lauter Aufnahmen enthielte, die zeigen, was in den Minuten, bevor das erste Flugzeug in einen der Türme krachte, unter den Passagieren vor sich ging. In all diesen Fällen ist es so, dass wir effektiv Dinge sehen würden, wie sie „an sich“ sind, außerhalb der menschlichen Koordinaten, außerhalb unserer menschlichen Realität – wir würden die Welt mit unmenschlichen Augen sehen. (Womöglich sind die US-Behörden im Besitz solcher Aufnahmen und halten sie aus nachvollziehbaren Gründen geheim.) Wir lernen hieraus etwas zutiefst Hegelianisches: Der Unterschied zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen muss in das Phänomenale zurückgespiegelt, rückübertragen werden, als Spaltung zwischen dem „aufgewerteten“ normalen Phänomen und dem „unmöglichen“. Die Lücke zwischen S/ und dem Genießen von Leben (dessen grundlegendste Form die Kreisbewegung der Triebe ist) impliziert, dass das Subjekt für den Tod im Leben steht, dass es in Distanz zum Leben steht, für dessen Denaturalisierung. Und diese Denaturalisierung des Lebens bedeutet, dass der Wille zum Leben nicht, wie von einer langen Reihe von Denkern von Aristoteles bis Spinoza vermutet, ein spontaner Antrieb (oder conatus) ist, sondern etwas, zu dem das Subjekt eine minimale Distanz unterhält: „Das Subjekt und sein Leben bilden keine organische Einheit.“

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Dieser innerste Trieb wird vielmehr als äußerer Zwang empfunden, als ein fremdes Element, in das man verstrickt wurde. Deshalb kann er als schreckliche Plage und Schinderei erscheinen, als eine Reihe lästiger Pflichten, denen es nachzukommen gilt: Denken, Sprechen, Reisen, Arbeiten, Kopulieren und so weiter – ich würde lieber nicht. Das Leben identifiziert sich nicht unmittelbar mit sich selbst, sondern ist etwas vom Subjekt Abgetrenntes, das genötigt ist, es zu leben. […] Für das Subjekt stellt sich das Leben nicht als selbstverständliche innere Kraft dar, sondern als Gebot und eine Pflicht: Bei Freud heißt es, „das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden“. Dies gilt es wörtlich zu verstehen: Zu leben ist keine natürliche oder spontane energeia, sondern eine Pflicht, ein Über-Ich-Imperativ, und sogar der grundlegendste. Vitalismus ist die Formel des Über-Ichs. Wenn leben heißt, einer Anordnung des Über-Ichs nachzukommen, und wenn das Über-Ich eine Instanz darstellt, die jenseits des Lustprinzips operiert (selbst wenn wir das Über-ich in Lacans Sinne als den Imperativ „Genieße!“ begreifen, ist das Genießen hier der Lust entgegengesetzt), dann funktioniert das Leben selbst jenseits des Lustprinzips – aber wie verhält es sich damit genau? Lacanianisch gesprochen, ist das Freud’sche Lustprinzip „nicht alles“: Es gibt nichts außerhalb von ihm, keine äußeren Grenzen, und dennoch ist es nicht alles, es kann zusammenbrechen. Deleuze hat die letzte Konsequenz aus dieser Vorstellung vom Todestrieb gezogen: Der Todestrieb, das sind die „transzendentalen Bedingungen des Lustprinzips“, er erklärt, „wieso die Psyche so beschaffen ist, dass sie von Lust und Unlust beherrscht werden kann (mit dem speziellen Dreh, dass das, was die Herrschaft des Lustprinzips ermöglicht, es auch von innen heraus aushöhlt)“: Der Todestrieb befindet sich „jenseits“ des Lustprinzips, was aber wiederum nicht heißt, dass er irgendwo anders einen Ort hat. Der Todestrieb stellt keine eigene, das Leben bekämpfende oder sich ihm entgegenstellende Kraft dar, sondern ist vielmehr das, was den Lebensfluss denaturalisiert oder devitalisiert. Er nimmt dem starken Kompass des Lebens, der von den Empfindungen der Lust und des Schmerzes ausgehenden Orientierung, ihre Selbstverständlichkeit. Wenn das Unbewusste die Verzerrung des Bewusstseins ist, sein Störimpuls, die Abweichung von seinem Maß, dann ist der Todestrieb die Verdrehung des Eros, die Verwindung, die aus dem Leben keinen unmittelbaren Ausdruck vitaler Kräfte macht, sondern die Abweichung des Negativen: statt ein Beharren im Sein ein „Scheitern, nicht zu sein“.

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Es ist daher nicht so, dass das Subjekt von irgendeiner perversen Tendenz beherrscht wird, seine Lüste zu sabotieren; vielmehr muss es bereits in einem gewissen Abstand zum Leben stehen, damit es nach Lust suchen und Unlust vermeiden kann. Und dieser Abstand muss dem Funktionieren des Lustprinzips als dessen Unvollständigkeit oder Inkonsistenz eingeschrieben werden. Diese Inkonsistenz des Lustprinzips tritt nirgends deutlicher zutage als im Werk des Marquis de Sade, in dem die volle Lust im Leben sich mit der strengsten kantischen Ethik überlagert. Es macht de Sades Größe aus, dass er im Namen der vollständigen Behauptung irdischer Lüste nicht nur jeden metaphysischen Moralismus zurückweist, sondern dass er auch den Preis dafür vollumfänglich akzeptiert: die radikale Intellektualisierung/Instrumentalisierung/Reglementierung der (sexuellen) Aktivität, die Lust verschaffen soll. Wir stoßen hier auf jenen Inhalt, der von Marcuse später als „repressive Entsublimierung“ bezeichnet wurde: Was wir nach Beseitigung all der Schranken der Sublimierung und kulturellen Transformation der sexuellen Aktivität bekommen, ist nicht der rohe, leidenschaftliche, animalische Sex, sondern vielmehr eine vollständig reglementierte, intellektualisierte Aktivität, vergleichbar einem gut geplanten sportlichen Aufeinandertreffen. De Sades Held ist keine brutal animalische Bestie, sondern ein farbloser, kaltblütiger Verstandesmensch, welcher der wirklichen Fleischeslust viel stärker entfremdet ist als der prüde, verklemmte und durch den amor intellectualis diaboli versklavte Liebende und Vernunftmensch – was ihm (oder ihr) Lust verschafft, ist nicht die Sexualität als solche, sondern der Reiz, der darin liegt, die rationale Zivilisation mit ihren eigenen Mitteln zu übertreffen, das heißt, ihre Logik konsequent zu Ende zu denken (und bis zum Ende durchzuspielen). De Sades Held ist mithin keineswegs ein Wesen von ungebremster irdischer Leidenschaft als vielmehr eine teilnahmslose Gestalt, welche die Sexualität auf einen mechanischen Planvorgang reduziert, der noch der letzten Spuren spontaner Lust oder Empfindsamkeit beraubt ist. Freilich bringt de Sade tapfer in Anschlag, dass rein körperlich-sinnliche Lust und geistige Liebe sich nicht schlicht gegensätzlich gegenüberstehen, sondern dialektisch miteinander verknüpft sind: Es ist etwas höchst „Spirituelles“, Geisterhaftes, Erhabenes an einer wirklich leidenschaftlichen Sinneslust und umgekehrt (wie man an der mystischen Erfahrung sehen kann), sodass die vollständige „Sublimierung“ der Sexualität sie auch vollständig intellektualisiert und eine intensive, leidenschaftliche Körpererfahrung in eine kalte, teilnahmslose mechanische Übung verwandelt. Demnach entfaltete de Sade also konsequent die inhärenten Potenziale der philosophischen Revolution Kants – aber in welchem Sinne genau?

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Natürlich wird man hier zunächst Verwunderung ernten. Ist denn in unserer heutigen nachidealistisch-freudianischen Zeit nicht längst und allgemein bekannt, was das „mit“ in „Kant mit de Sade“ bedeutet? Steht es nicht dafür, dass die Wahrheit von Kants ethischem Rigorismus der Sadismus des Gesetzes ist, das heißt, dass das kantische Gesetz eine Instanz des Über-Ichs darstellt, welche die Sackgasse des Subjekts – sein Unvermögen, die unerbittlichen Forderungen zu erfüllen – sadistisch genießt wie der berühmte Lehrer, der seine Schüler mit unausführbaren Aufgaben traktiert und insgeheim ihr Scheitern auskostet? Lacan allerdings macht hier das genaue Gegenteil geltend: Nicht Kant war ein geheimer Sadist, vielmehr war de Sade ein geheimer Kantianer. Es gilt folglich im Blick zu behalten, dass Lacans Fokus immer auf Kant gerichtet ist, nicht auf de Sade: Ihn interessieren die letztendlichen Folgen und geleugneten Prämissen der kantischen Revolution der Ethik. Anders gesagt, vertritt Lacan nicht das übliche „reduktionistische“ Argument, wonach sich jeder ethische Akt, wie rein und interesselos er auch scheinen mag, immer auf irgendeinen „pathologischen“ inneren Antrieb gründet (das eigene langfristige Interesse des Akteurs, die Bewunderung seiner Kollegen bis hin zu der „negativen“ Befriedigung durch Leiden und Erpressung, die ethische Akte häufig verlangen); Lacans Interesse konzentriert sich vielmehr auf die paradoxe Umkehr, durch die das Begehren selbst (das heißt, das Handeln gemäß dem eigenen Begehren, nicht seine Kompromissbildung) sich nicht mehr auf ein „pathologisches“ Interesse oder einen inneren Antrieb gründen lässt und somit die Kriterien einer ethischen Handlung nach Kant erfüllt, sodass man zugleich auch seine Pflicht tut, wenn man seinem Begehren folgt. Man denke bloß an Kants eigenes bekanntes Beispiel aus der Kritik der praktischen Vernunft: Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdenn nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange raten, was er antworten würde.5 Lacan hält hier argumentativ dagegen, dass wir in der Tat vermuten müssen, wie seine Antwort ausfällt: Was ist, wenn wir auf ein Subjekt stoßen (wie es in der Psychoanalyse regelmäßig geschieht), das nur dann in den vollen Genuss einer leidenschaftlichen Nacht kommen kann, wenn ihn ein

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irgendwie gearteter „Galgen“ bedroht, das heißt, wenn er mit dem, was er tut, irgendein Verbot verletzt? Mario Monicells Casanova ’70 (1965) mit Virna Lisi und Marcello Mastroianni basiert entscheidend auf genau diesem Aspekt: Der Held kann seine sexuelle Potenz nur bewahren, wenn es mit einer Art Gefahr verbunden ist, „es“ zu tun. Als er am Ende des Films kurz davor steht, seine Liebste zu heiraten, will er zumindest das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs verletzen, indem er in der Nacht vor der Hochzeit mit ihr schläft – seine Braut allerdings verdirbt ihm unwissentlich noch diese minimale Lust, indem sie mit dem Priester eine Sondergenehmigung für sich und ihren künftigen Mann aushandelt, nach der sie in der Nacht zuvor miteinander schlafen dürfen, sodass dem Vollzug der Stachel der Überschreitung genommen wird. Was kann er jetzt tun? In der letzten Sequenz des Films sehen wir ihn kriechend auf der schmalen Veranda an der Außenseite eines Hochhauses, wie er sich – in dem verzweifelten Bemühen, sexuelle Befriedigung mit tödlicher Gefahr zu verbinden – die schwierige Aufgabe stellt, das Schlafzimmer des Mädchens auf die gefährlichste Weise zu betreten … Lacan geht es also um Folgendes: Wenn befriedigende sexuelle Leidenschaft die Aussetzung sogar des grundlegendsten „egoistischen“ Interesses einschließt, wenn diese Befriedigung eindeutig „jenseits des Lustprinzips“ anzusiedeln ist, dann haben wir es trotz allem gegenteiligen Anschein mit einer ethischen Handlung zu tun und die „Leidenschaft“ des oder der Betreffenden ist strictu sensu ethisch. Der Schlüssel, der uns die Umrisse von „de Sade in Kant“ erkennen lässt, liegt in der Art, wie Kant die Beziehung zwischen Gefühlen und dem Moralgesetz konzipiert. Obwohl er auf der absoluten Differenz zwischen pathologischen Gefühlen und der reinen Form des moralischen Gesetzes besteht, gibt es ein apriorisches Gefühl, welches das Subjekt notwendig empfindet, wenn es mit der Forderung des Moralgesetzes konfrontiert wird: den Schmerz der Demütigung (weil der Mensch sich aufgrund des „radikal Bösen“ seiner Natur in seinem Stolz verletzt sieht). Für Lacan steht diese Bevorzugung des Schmerzes als einziges apriorisches Gefühl strikt korrelativ zu de Sades Vorstellung vom Schmerz (dem Foltern und Demütigen des Anderen, dem Gefoltert- und Gedemütigtwerden durch ihn) als bevorzugte Zugangsweise zur sexuellen jouissance. (De Sades Argument ist natürlich, dass dem Schmerz aufgrund seiner Langlebigkeit der Vorrang gegenüber der Lust zu geben sei – die Lust vergeht, während der Schmerz fast unendlich fortdauern kann.) Warum ruft die Kliterodektomie [weibliche Beschneidung] eine solche Betroffenheit hervor? Sie ist ein klarer Beleg dafür, dass die Beraubung von Lustmitteln (die Beschneidung der Klitoris) dazu fungieren kann, eine spezielle jouissance zu erzeugen. Das Verstö-

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rende an der Kliterodektomie ist weder die äußerste Brutalität dieser Operation noch der Umstand, dass sie dem Mann offensichtlich als Herrschaftsinstrument dient, und es ist auch nicht die Tatsache, dass manchen Frauen ihre gesellschaftliche Akzeptanz immerhin so viel bedeutet, dass sie bereit sind, die Kliterodektomie als Moment ihres vollständigen Eintritts in die Gesellschaft hinzunehmen. Das eigentlich Verstörende daran ist die Möglichkeit, dass sie es vielleicht genießen. In einem neueren Werbespot für umweltfreundlichen Wohlstandstourismus heißt es, es gehe heute darum, „Möglichkeiten zu erkunden, wie sich Luxus und Nachhaltigkeit miteinander verbinden lassen“, und seine Adressaten werden klar benannt: „für Genussmenschen mit Gewissen“. Es ist nichts wirklich paradox an dieser Verbindung zwischen scheinbaren Gegensätzen: „Genussmenschen mit Gewissen“ ist eine der prägnantesten Definitionen des beherrschenden Typus der Subjektivität, in die wir heute „hineininterpelliert“ werden. Bei diesem Typus sind Lustprinzip und Realitätsprinzip harmonisch miteinander verbunden, und was aus diesem Raum des „Hedonismus mit Gewissen“ ausgeschlossen wird, ist nicht nur die jouissance selbst in ihrer Exzessivität, sondern auch die eigentliche ethische Dimension – die Pflicht im kantischen Sinne der Unbedingtheit. Kurz gesagt, ist es der durch Lacans Formel „Kant mit de Sade“ gekennzeichnete Bereich, der ausgeschlossen wird – mithin jener unheimliche Bereich, in dem Begehren und Gesetz zusammenfallen, in dem der ultimative kategorische Imperativ lautet: „Lass nicht von deinem Begehren ab“. Dieser Zusammenhang lässt sich weiter untermauern durch das, was Lacan als de Sades Fundamentalphantasma bezeichnet: das Fantasieren von einem anderen, ätherischen Körper des Opfers, der sich endlos foltern lässt und dennoch magischerweise seine Schönheit bewahrt (so wie die bei de Sade geläufige Figur eines jungen Mädchens, das endlose Demütigungen und Verstümmelungen durch ihren unterprivilegierten Folterer über sich ergehen lässt und trotz alledem rätselhafterweise unversehrt daraus hervorgeht, genau wie Tom und Jerry und andere Trickfilmhelden ihre albernen Torturen unbeschadet überstehen). Liefert dieses Phantasma nicht das libidinöse Fundament von Kants Postulat der Unsterblichkeit der Seele, die endlos danach strebt, ethische Vollkommenheit zu erreichen, das heißt, ist nicht die phantasmatische Wahrheit der Unsterblichkeit der Seele ihr genaues Gegenteil, nämlich die Unsterblichkeit des Körpers, seine Fähigkeit, Schmerz und Demütigungen endlos zu ertragen? Judith Butler verwies darauf, dass der Foucault’sche „Körper“ als Ort des Widerstands nichts anderes ist als die Freud’sche „Psyche“: Paradoxerweise ist „Körper“ Foucaults Bezeichnung für den psychischen Apparat, insofern er sich der Beherr-

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schung durch die Seele widersetzt. Das heißt, wenn Foucault in seiner berühmten Definition der Seele als „Gefängnis des Körpers“ die übliche platonisch-christliche Definition des Körpers als „Gefängnis der Seele“ umkehrt, so ist das, was er „Körper“ nennt, nicht einfach nur der biologische Körper, sondern effektiv auch bereits in irgendeine Art vorsubjektiven psychischen Apparat gefasst.6 Stoßen wir somit bei Kant nicht auf eine entsprechende, nur in die andere Richtung verlaufende Umkehrung der Beziehung zwischen Körper und Seele bei der das, was er „Unsterblichkeit der Seele“ nennt, letztlich die Unsterblichkeit des anderen, ätherischen, „untoten“ Körpers ist? Diese Verdopplung des Körpers in den normalsterblichen Körper und den ätherischen untoten Körper bringt uns zum Kern der Sache: der Unterscheidung zwischen den beiden Toden, dem biologischen Tod des normalsterblichen Körpers und dem des anderen, „untoten“ Körpers; klar ist, dass de Sade mit seiner Vorstellung des radikalen Verbrechens auf die Ermordung dieses zweiten Körper abzielt: Er entwickelt diese Unterscheidung in der langen philosophischen Abhandlung, die Papst Pius VI. Juliette zukommen lässt, und die in Buch V von Juliette enthalten ist: An Vergewaltigung, Folter, Mord und so weiter ist nichts falsch, denn sie entsprechen nur der Gewalt, die den Lauf des Universums bestimmt. Im Einklang mit der Natur handelt, wer sich an ihrer Vernichtungsorgie aktiv beteiligt. Das Problem ist, dass der Mensch nur begrenzt zum Verbrecher taugt, und seine Untaten, seien sie noch so verkommen, lassen die Natur kalt. Für einen Freigeist ist das ein bedrückender Gedanke. Der Mensch ist mitsamt allem organischen Leben und sogar der anorganischen Materie in einem endlosen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, Werden und Vergehen gefangen, und darum „gibt es keinen Tod“, nur eine ständige Umwandlung und Wiederverwertung der Materie nach den Gesetzen „der drei Reiche“: dem der Tiere, dem der Pflanzen und dem der Mineralien. Die Vernichtung kann diesen Prozess beschleunigen, sie kann ihn aber unmöglich aufhalten. Das wahre Verbrechen wäre eines, das nicht mehr innerhalb der drei Reiche ausgeführt wird, sondern das sie insgesamt auslöscht, dem ewigen Kreislauf aus Werden und Vergehen ein Ende setzt und der Natur dadurch ihr absolutes Vorrecht auf die kontingente Schöpfung zurückgibt, ihr uneingeschränktes Privileg, die Würfel neu zu werfen.

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Was stimmt daher – rein theoretisch betrachtet – nicht an diesem Traum vom „zweiten Tod“ als radikale, pure Negation, die dem Kreislauf des Lebens selbst ein Ende setzt? In einer großartigen Demonstration seines Genies liefert Lacan hierauf eine einfache Antwort: „Es ist einfach so, dass ich, da ich Psychoanalytiker bin, sehen kann, dass der zweite Tod vor dem ersten kommt und nicht danach, wie es de Sade träumt.“ (Das einzig Problematische an dieser Aussage ist die einschränkende Bedingung „da ich Psychoanalytiker bin“ – ein hegelianischer Philosoph kann dies ebenfalls sehr klar erkennen.) Wie ist das zu verstehen? In welchem Sinn genau geht der zweite Tod – die radikale Auslöschung des gesamten Lebenszyklus aus Werden und Vergehen – dem ersten voraus, der ein Moment dieses Kreislaufs bleibt? Schuster zeigt den Weg auf: „De Sade glaubt, dass es eine gut bekannte zweite Natur gibt, die nach immanenten Gesetzen operiert. Gegen diesen ontologisch konsistenten Bereich bleibt ihm bloß der Traum von einem absoluten Verbrechen, das die drei Reiche beseitigen und zur reinen Unordnung der ersten Natur gelangen würde.“ Kurz gesagt sieht de Sade nicht, dass es keinen großen Anderen, keine Natur als ontologisch konsistenten Bereich gibt – die Natur ist bereits in sich inkonsistent, aus dem Gleichgewicht, durch Antagonismen destabilisiert. Die völlige Negation, die sich de Sade vorstellt, kommt daher nie am Schluss – als endliche Drohung oder Erwartung der radikalen Vernichtung –, sie steht am Anfang, und dabei hat sie sich immer schon vollzogen, sie bezeichnet die Nullebene, die Ausgangsbasis, aus der sich die fragile/inkonsistente Realität herausbildet. Was der Vorstellung von der Natur als ein durch feststehende Gesetze regulierter Körper fehlt, ist schlicht und einfach das Subjekt selbst: Hegelianisch gesprochen, bleibt die Natur de Sades eine Substanz, fasst er die Natur weiter als Substanz auf und nicht auch als Subjekt, wobei „Subjekt“ keine andere, von der Substanz unterschiedene Ebene bezeichnet, sondern die immanente Unvollständigkeit/Inkonsistenz/antagonistische Verfasstheit der Substanz selbst. Und insofern die Freud’sche Bezeichnung für diese radikale Negativität „Todestrieb“ ist, stellt Schuster zu Recht heraus, dass de Sade bei seiner Feier des endgültigen, alles Leben radikal vernichtenden Verbrechens gerade den Todestrieb verfehlt hat: Trotz aller Lüsternheit und bei all seinen Verheerungen basiert der sadistische Auslöschungswille auf einer fetischistischen Leugnung des Todestriebs. Der Sadist macht sich zum Diener der universellen Auslöschung, um die Sackgasse der Subjektivität, die „virtuelle Auslöschung“, die das Leben des Subjekts von innen heraus spaltet, zu vermeiden. Der sadistische Libertin verbannt diese Negativität aus sich

400 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma selbst, um sich ihr sklavisch verschreiben zu können; die apokalyptische Vision eines absoluten Verbrechens fungiert demnach als Schutz und Abschirmung gegen eine schwerer zu bewältigende innere Spaltung. Die blühende Fantasie des Sadisten verdeckt die Tatsache, dass der Andere gebarrt, inkonsistent, lückenhaft ist, dass man ihm deshalb nicht dienen kann, weil er kein Gesetz zur Befolgung präsentiert, nicht einmal das wilde Gesetz von seiner sich beschleunigenden Selbstvernichtung. Es gibt keine Natur, an die man sich halten, mit der man wetteifern oder die man übertreffen kann, und es ist diese Leere oder dieser Mangel, das Nichtsein des Anderen, das ungleich gewaltsamer ist als selbst das zerstörerischste Phantasma des Todestriebs. Oder es ist de Sade zuzustimmen, wie Lacan argumentiert, sofern man sein böses Denken einfach herumdreht: Die Subjektivität ist die Katastrophe, über die sie fantasiert, der Tod jenseits des Todes, der „zweite Tod“. Während der Sadist von einer gewaltsam herbeigeführten Katastrophe träumt, die reinen Tisch macht, will er nichts davon wissen, dass sich dieses beispiellose Unheil bereits ereignet hat. Jedes Subjekt ist das Ende der Welt oder vielmehr das unmögliche, explosive Ende, das zugleich auch ein „Neustart“ ist: die unaufhebbare Chance des Würfelwurfs. Schon Kant charakterisierte eine freie und selbstbestimmte Handlung als eine Tat, die sich nicht durch die natürliche Kausalität von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen erklären lässt: Eine freie Handlung hat ihren Grund in sich selbst, sie begründet von sich als Nullpunkt aus eine neue Kausalkette. Insofern der zweite Tod die Unterbrechung des Lebenszyklus aus Werden und Vergehen ist, braucht es dafür keine radikale Auslöschung der gesamten Naturordnung – eine eigenständige, freie Handlung hebt die natürliche Kausalität bereits auf, und das Subjekt als S/ ist bereits dieser Einschnitt in den Naturkreis, die Selbstsabotage natürlicher Zwecke. Die mystische Bezeichnung für dieses Weltenende ist „Nacht der Welt“ und die philosophische Bezeichnung radikale Negativität als Kern der Subjektivität. Und, um Mallermé zu zitieren, ein Würfelwurf schafft niemals den Zufall ab, das heißt, der Abgrund der Negativität wird immer den unaufhebbaren Hintergrund subjektiver Schöpferkraft bilden. Wir können hier vielleicht sogar eine ironische Fassung von Gandhis berühmter Devise „Sei selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst“ wagen: Das Subjekt ist selbst die Katastrophe, die es fürchtet und zu vermeiden sucht. Und besteht die Lektion von Hegels Analyse der Schrecken der Französischen Revolution nicht genau darin (weswegen auch die Parallele zwischen de Sades absolutem Verbrechen und den revolutionären Schrecken ihre gute Berechtigung hat)?

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Die von den Schrecken bedrohten Individuen müssen begreifen, dass diese äußere Bedrohung durch Vernichtung bloß das nach außen gewendete und fetischisierte Bild der radikalen Negativität des Selbstbewusstseins ist – sobald sie dies begreifen, gehen sie vom revolutionären Schrecken zur inneren Kraft des moralischen Gesetzes über. Obwohl Catherine Malabou eine exzellente Leserin Hegels ist, verfehlt offenbar selbst sie diesen Hegel’schen Punkt in ihrer Kritik an Freud, der es ihr zufolge nicht vermag, die „zerstörerische Plastizität“ zu denken, das heißt jene durch die Ich-Zerstörung selbst angenommene subjektive Form, die unmittelbare Form des Todestriebs: „Es ist, als gäbe es keine Vermittlungsinstanz zwischen der Plastizität der guten Form und der Elastizität als mortifizierende Auslöschung aller Form. Bei Freud gibt es keine Form der Negation der Form.“7 Anders gesagt, versäumt es Freud, „die Existenz einer spezifischen Form der Psyche [in Betracht zu ziehen], die aus der Gegenwart des Todes, des Schmerzes, der Wiederholung einer schmerzhaften Erfahrung erwächst“. Er hätte gut daran getan, die existenzielle Improvisationskraft zu berücksichtigen, die zu einem Unglück dazugehört und die den lustverlassenen Psychen eigen ist, bei denen Gleichgültigkeit und Abschottung über das Verbindende siegen und die dennoch Psychen bleiben. Was Freud sucht, wenn er über den Todestrieb spricht, ist gerade diese Form des Triebs, und die findet er daher nicht, weil er der Zerstörung ihre eigene spezifische Plastizität abspricht. […] Das Jenseits des Lustprinzips ist demnach das Werk des Todestriebs als Bestehensform des Todes im Leben, als Herstellung jener individuellen Gestalten, die lediglich in der Abschottung vom Dasein existieren. Diese Formen des Todes im Leben, die Fixbilder des Triebs, wären die „befriedigenden“ Darstellungen des Todestriebs, nach denen Freud weitab der Neurologie so lange Zeit suchte.8 Bei diesen Gestalten handelt es sich „weniger um die Gestalten jener, die sterben wollen, als um derjenigen, die bereits tot sind, oder, um es in einer seltsamen und furchtbaren grammatischen Wendung auszudrücken, um die Gestalten derer, die bereits tot gewesen sind, die den ‚Tod erfahren haben‘“.9 Das Seltsame daran ist: Obwohl einem die Hegel’schen Resonanzen dieses Begriffs der „negativen Plastizität“ – der Form, in der die Destruktivität/Negativität selbst positive Existenz erlangt – gar nicht entgehen können, übergeht Malabou – die Autorin eines bahnbrechenden Buches über Hegel – ihn in Les nouveaux blessés nicht nur vollständig, sondern deutet

402 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma zwischendurch auch noch an, dass die negative Plastizität „sich nicht dialektisieren lässt“ und als solche nicht in den Geltungsbereich der Hegel’schen Dialektik fällt. Malabou sieht hier nicht nur eine Aufgabe für die Psychoanalyse, sondern auch eine eigentlich philosophische Aufgabe zur konzeptionellen Umgestaltung des Subjektbegriffs, sodass er diese Nullebene des Subjekts des Todestriebs mit einbezieht: „Für die Philosophie kann es heute allein darum gehen, einen neuen Materialismus auszuarbeiten, der es gerade ablehnt, auch nur die kleinste Trennung nicht bloß zwischen Gehirn und Denken, sondern auch zwischen Gehirn und dem Unbewussten einzukalkulieren“.10 Mit Recht stellt Malabou die philosophische Dimension des neuen, autistischen Subjekts heraus: Diese beschreibt die Nullebene der Subjektivität, die Formumwandlung der reinen Externalität des bedeutungslosen Realen (dessen brutal zerstörerisches Eindringen) in die reine Internalität des „autistischen“, von der äußeren Wirklichkeit abgelösten, entbundenen und auf den seiner Substanz beraubten Beharrungskern reduzierten Subjekts. Die Logik ist hier wiederum diejenige von Hegels unendlichem Urteil: der spekulativen Identität des inhaltsleeren Eindringens von außen und der reinen abgelösten Internalität – es ist, als könne bloß ein brutaler äußerer Schock die reine Innerlichkeit des Subjekts hervorrufen, die Leere, die sich mit keinem bestimmten positiven Inhalt identifizieren lässt. Die eigentlich philosophische Dimension der Untersuchung des posttraumatischen Subjekts besteht in dieser Anerkennung der Tatsache, dass die scheinbare brutale Vernichtung der (narrativen) substanziellen Identität des Subjekts den Augenblick seiner Geburt darstellt. Das posttraumatische autistische Subjekt ist der „lebende Beweis“ dafür, dass das Subjekt sich nicht mit den „Geschichten, die es sich über sich selbst erzählt“, mit dem symbolischen Gewebe seiner Lebenserzählungen identifizieren lässt (vollständig damit deckt): Nehmen wir all dies weg, bleibt etwas (oder vielmehr nichts, außer einer Form von nichts), und dieses Etwas ist das reine Subjekt des Todestriebs. Wenn man eine Vorstellung von der grundlegenden Subjektivitätsform der Nullebene bekommen will, muss man sich autistische Ungeheuer anschauen. Das Lacan’sche Subjekt als S/ ist demnach eine Reaktion auf das Reale beziehungsweise des Realen: eine Reaktion auf das Reale des brutalen inhaltsleeren Eindringens – eine Reaktion des Realen, also eine Reaktion, die eintritt, wenn die symbolische Integration des traumatischen Eindringens misslingt und ihren Unmöglichkeitspunkt erreicht. Als solches ist das Subjekt in seiner grundlegendsten Gestalt effektiv „jenseits des Unbewussten“: die leere Form, die selbst der unbewussten Bildungen von unterschiedlicher libidinöser Prägung noch beraubt ist.

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Daher sollte man auch auf das posttraumatische Subjekt die Freud’sche Vorstellung anwenden, nach der ein gewaltsames Eindringen nur insofern als Trauma gilt, als ein früheres Trauma in ihm nachklingt – in diesem Fall ist das frühere Trauma das der Geburt der Subjektivität selbst: Ein Subjekt ist „gebarrt“, wie es bei Lacan heißt; es entsteht, wenn ein lebendes Individuum seines substanziellen Inhalts beraubt wird, und dieses konstitutive Trauma wiederholt sich in der gegenwärtigen traumatischen Erfahrung. Darauf zielt Lacan mit seiner Behauptung, dass das Freud’sche Subjekt nichts anderes als das kartesische Cogito ist: Das Cogito ist keine „Abstraktion“ von der Wirklichkeit der real existierenden Individuen mit ihrer Fülle an Eigenschaften, Fähigkeiten, Beziehungen und so weiter; die „Fülle der Persönlichkeit“ bildet vielmehr den imaginären „Stoff des Ichs“, wie es bei Lacan heißt. Das Cogito ist im Gegenteil eine ganz reale „Abstraktion“ – eine „Abstraktion“, die als eine konkrete subjektive Haltung funktioniert. Das posttraumatische, auf eine substanzlose Leerform der Subjektivität reduzierte Subjekt ist die geschichtliche „Umsetzung“ des Cogito – denken wir daran, dass das Cogito für Descartes den Nullpunkt der Überschneidung von Denken und Sein bildet, an dem das Subjekt gewissermaßen weder „ist“ (es ist all seines positiven substanziellen Inhalts beraubt) noch „denkt“ (sein Denken ist auf die leere Tautologie des Denkens reduziert, dass es denkt).11 Der heute vorherrschende Subjektivitätsbegriff ist jener, den wir in Habermas’ Projekt der wechselseitigen Anerkennung durch frei verantwortliche Akteure wirksam finden … Was in diesem Projekt verschwindet, ist der antagonistische Subjektivitätskern, eine traumatische Störung, die von Kant bis Hegel dem Subjektbegriff selbst eingeschrieben ist – Finkelde zufolge bedeutet „exzessive Subjektivität“ gerade, dass die Subjektivität als solche ein Exzess ist. Die Intersubjektivität, die sich mit dem Anerkennungsspiel verknüpft, ist letztlich eine Abwehrbildung, ein Versuch, den Exzess der Subjektivität einzudämmen. Wenn Malabou also behauptet, dass sich das posttraumatische Subjekt nicht unter dem Aspekt der Freud’schen Wiederholung eines vergangenen Traumas begreifen lässt (weil der traumatische Schock alle Spuren der Vergangenheit auslöscht), bleibt sie allzu sehr auf den traumatischen Inhalt fixiert und vergisst, in die Reihe der traumatischen Erinnerungen die Auslöschung des traumatischen Inhalts selbst aufzunehmen, die Subtraktion der leeren Form von ihrem Inhalt. Anders ausgedrückt: Gerade weil er den gesamten substanziellen Inhalt löscht, wiederholt der traumatische Schock die Vergangenheit, das heißt den vergangenen traumatischen Verlust der Substanz. Was hier wiederholt wird, ist nicht irgendein alter Inhalt, son-

404 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma dern die Geste der Auslöschung allen Inhalts selbst. Wenn ein Subjekt einem traumatischen Einbruch ausgesetzt wird, so ist das Ergebnis daher die leere Form des „lebend-toten“ Subjekts. Geschieht aber dasselbe mit einem Tier, so resultiert daraus schlichtweg die völlige Vernichtung: Was nach dem gewaltsamen traumatischen Eindringen auf ein menschliches Subjekt, das all seinen substanziellen Inhalt löscht, bestehen bleibt, ist die reine Form der Subjektivität, die Form, die bereits da gewesen sein muss. In genau diesem Sinne hängen Subjektivität und Sterblichkeit eng miteinander zusammen, auch wenn dies in gewisser Hinsicht etwas vollkommen anderes darstellt als das Heidegger’sche Standardthema der Endlichkeit. In seiner Zurückweisung des Endlichkeitsdenkens behauptete Badiou, dass „der Tod etwas ist, das einem widerfährt; er ist nicht die immanente Entfaltung irgendeines linearen Programms“. Selbst wenn wir sagen, dass ein menschliches Leben aus biologischen, genetischen oder anderen Gründen nicht über 120 Jahre hinaus andauern kann, ist der Tod als Tod immer etwas, das einem widerfährt. Ein großer Denker über den Tod ist Jacques de Palice. Von ihm haben wir etwa folgende Wahrheit: „Eine Viertelstunde vor seinem Tod war er noch am Leben“. Dies ist durchaus nicht absurd oder naiv. Es bedeutet, dass er „eine Viertelstunde vor dem Tod“ nicht das war, was Heidegger unter „eine Viertelstunde vor dem Tod versteht“ – er war kein „Sein zum Tod“ von Geburt an. „Eine Viertelstunde vor seinem Tod“ war er am Leben, und der Tod widerfährt ihm. Und ich würde behaupten, dass der Tod immer von außen kommt. Spinoza sagte in diesem Zusammenhang etwas Ausgezeichnetes: „Nichts kann zerstört werden, wenn nicht durch einen äußeren Grund“. […] Das heißt, dass der Tod eine radikale Außenposition einnimmt: Wir würden nicht einmal sagen, dass eine menschliche Wirklichkeit, ein Dasein, sterblich ist, weil man, wenn man „sterblich“ sagt, zum Ausdruck bringen will, dass die Virtualität des Todes auf immanente Weise darin enthalten ist. In Wahrheit ist all dies in allgemeingültigem Sinne unsterblich, und dann tritt der Tod dazwischen.12 Die Erwähnung Spinozas ist an dieser Stelle ganz wichtig und hier sollte man ihn Hegel entgegensetzen: Während für Spinoza jede Zerstörung von außen kommt und die immanente Tendenz jedes Organismus zur Reproduktion und Ausdehnung seiner Lebensmacht durchkreuzt, ist für Hegel die Negation immanent, der innersten Identität jedes Lebewesens eingeschrieben, weshalb jede Zerstörung letztlich Selbstzerstörung ist. Um

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keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Hegel hätte der Ansicht zugestimmt, dass der Tod keine tiefere Bedeutung hat, dass der Tod als radikal äußere, bedeutungslose Kontingenz kommt – genau als solche aber zersetzt er den Identitätskern des Menschen und dessen Sinnuniversum von innen. Wie Badiou macht auch Hegel die Unendlichkeit/Unsterblichkeit geltend, für ihn aber geht die Unendlichkeit gerade aus dem „Verweilen beim Negativen“ hervor, aus dessen immanenter Überwindung: Nur ein Wesen, das nicht durch seine Sterblichkeit begrenzt wird, kann sich zu seinem Tod „als solchen“ in Beziehung setzen. Bei dieser Überwindung handelt es sich paradoxerweise um eine Form des „Todes im Leben“: Ein menschliches Wesen überwindet seinen Tod dadurch, dass es Abstand von seiner Lebenssubstanz gewinnt (etwa indem es sein Leben für irgendeinen geistigen Zweck zu opfern bereit ist). Hegels Bezeichnung für diese Dimension ist Negativität und bei Freud heißt sie Todestrieb. Die Unsterblichkeit ist der Tod im Leben, eine tödliche Kraft, welche die Kontrolle über die Lebenssubstanz erlangt oder, wie Paulus gesagt hätte, der Geist ist der Tod des Fleisches. Es gilt hier die Subjektivität und die Seele lebendiger Wesen einander strikt entgegenzusetzen: „Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist […] alle Bestimmtheit in sich enthält“.13 Die Unterscheidung zwischen Seele und Subjekt ist hier entscheidend: Seele ist die aristotelische Idealform/das Idealprinzip eines Organismus, die immanente „Lebenskraft“, die ihn am Leben erhält und ihm Einheit verleiht, während das Subjekt Antiseele ist, der Punkt negativer Selbstbezüglichkeit, der das Subjekt auf den Abgrund einer Singularität reduziert, die sich in Distanz zu der Lebenssubstanz befindet, die es aufrechterhält. Das ist der Grund, aus dem ein Begriff für Hegel nur insofern als solches, „für sich“, in seinem Gegensatz zu seinen empirischen Instanziierungen zur Existenz gelangt, als er sich in einer „undurchdringlichen, atomen Subjektivität“ ansiedelt. Hegel will hier auf kein vulgäres Alltagsverständnis hinaus, nach dem allgemeine Gedanken, um zu existieren, auf ein empirisches Subjekt angewiesen sind, welches das Denken ausführt. (Hierin besteht das unendlich langweilige Motiv der Kritiker Hegels von Marx an: „Gedanken denken nicht selbst, nur lebende Subjekte können denken …“) Während sich Hegel dieser Abhängigkeit der Gedanken vom denkenden Subjekt vollkommen bewusst ist, geht er die Sache genauer an und fragt nach der Art von Subjekt, das dieses „abstrakte“ Denken verrichten kann (im herkömmlichen Sinn des Begriffs: das Denken formaler, von ihrer em-

406 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma pirischen Fülle gereinigter Gedanken – wenn man etwa „Pferd“ denkt und dabei vom reichen inhaltlichen Gehalt empirischer Pferde abstrahiert). Seine Antwort lautet: Es ist ein Subjekt, das selbst „abstrakt“, das selbst der Fülle seiner empirischen Merkmale beraubt, auf seine „undurchdringliche atome“ Singularität reduziert ist. Das mag seltsam klingen und der Intuition entgegenlaufen: Ist der Begriff in seiner Allgemeinheit nicht gerade das Gegenteil atomer Undurchdringlichkeit? Es gibt jedoch zwei mögliche Abstraktionsweisen (oder vielmehr zwei Richtungen, in die sich eine Abstraktion ausführen lässt): das Löschen aller partikularen Merkmale, um die abstrakte Form zu erhalten (etwas das allgemeine „Pferd“ als solches) und das Löschen aller partikularen Merkmale (Qualitäten), um die reine Singularität der betreffenden Sache zu erhalten (ein reines „Dies“ oder X ohne Eigenschaften), und Hegel sagt nun, dass die Subjektivität hervortritt, wenn eine solche Singularität „für sich“ wird: Ein Subjekt ist für sich selbst der Abgrund eines reinen X im Abstand von all seinen Eigenschaften. Beide „Abstraktionen“ sind strikt korrelativ: Die allgemeine Form kann als solche nur in einer Entität hervortreten, die für sich auf den undurchdringlichen Abgrund reiner Singularität reduziert ist. Genauer gesagt, ist die undurchdringliche atomare Singularität nichts dem Begriff Äußerliches, sie ist der Begriff selbst in seiner „gegensätzlichen Bestimmung“, der Begriff als tatsächlich existierende Singularität – in diesem Sinne heißt es bei Hegel, dass das Selbst reiner Begriff ist. Bei Descartes heißt diese Singularität cogito: das auf die flüchtige Punkthaftigkeit des Denkakts reduzierte Selbst.

Die Schwierigkeiten mit der Endlichkeit Wenn Badiou das Leben eines menschlichen Tiers, das auf den „Dienst am Guten“ ausgerichtet ist, und das Leben, das sich durch die Treue zum Ereignis definiert, einander gegenüberstellt, drängt sich die grundsätzliche Frage auf: Wie müsste das animalische Leben umgestaltet werden, damit es die Folgen eines Ereignisses zu tragen vermag, das heißt, was widerfährt einem menschlichen Tier, wenn aus ihm ein Subjekt wird? Die hegelianisch-lacanianische Antwort darauf ist der Todestrieb, das heißt, ein menschliches Tier muss die Dimension des Todes integrieren, es muss in einem Abstand vom Leben ein „lebender Toter“ werden. Anders gesagt, fügt die Ereignisebene sich nicht einfach als andere Dimension dem animalischen Leben an, ihr Erscheinen verzerrt, verwandelt das animalische Leben vielmehr in seinem Innersten. An dieser Stelle muss man sich zwischen Idealismus und Materialismus entscheiden: Ist die Verzerrung des animalischen Lebens die Folge eines Ereignisses, also der Art, wie sich ein Ereig-

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nis in die Ordnung des animalischen Lebens einschreibt (idealistische Fassung), oder kommt die Verzerrung des Kerns des menschlichen Tiers zuerst und eröffnet den Raum für die mögliche Entstehung eines Ereignisses (materialistische Fassung)? Es ist das Axiom der Endlichkeitsphilosophie, dass es kein Entkommen vor der Endlichkeit/Sterblichkeit als unüberschreitbarer Horizont unserer Existenz gibt; Lacans Axiom ist es, dass es kein Entkommen vor der Unsterblichkeit gibt, sucht man ihr auch noch so sehr zu entfliehen. Doch was wäre, wenn dies eine falsche Alternative ist? Wenn Endlichkeit und Unsterblichkeit ein ebensolches Parallaxenpaar bilden wie Mangel und Überschuss, wenn sie dasselbe aus unterschiedlichem Blickwinkel sind? Was wäre, wenn die Unsterblichkeit ein Objekt ist, bei dem es sich um einen Rest/Überschuss der Endlichkeit handelt, was, wenn die Endlichkeit einen Versuch darstellt, dem Unsterblichkeitsexzess zu entkommen? Was schließlich wäre, wenn Kierkegaard hier recht hatte – nur aus falschem Grund –, als er die Behauptung, wir Menschen seien bloß sterbliche Wesen, die nach ihrem biologischen Tod verschwinden, auch als eine leichte Möglichkeit zur Flucht vor den ethischen Konsequenzen verstand, welche sich mit der unsterblichen Seele verbinden? Er hatte insofern aus falschem Grund recht, als er die Unsterblichkeit mit dem göttlichen und ethischen Teil eines Menschen gleichsetzte – es gibt jedoch noch eine andere Unsterblichkeit. Was Cantor hinsichtlich der Endlichkeit getan hat, das sollten wir mit Blick auf die Unendlichkeit tun und das Bestehen mehrerer Unendlichkeiten behaupten; die badiousche edle Unsterblichkeit/Unendlichkeit der Ereignisbildung (im Unterschied zur Endlichkeit eines menschlichen Tiers) kommt nach einer grundlegenderen Form der Unsterblichkeit, bei der es sich um das handelt, was Lacan als de Sades Fundamentalphantasma bezeichnet: das Fantasieren von einem anderen, ätherischen Körper des Opfers, der sich endlos foltern lässt und wie durch Magie dennoch seine Schönheit bewahrt. In dieser Form sind Komisches und Abstoßend-Schreckliches (denken wir an verschiedene Versionen von „Untoten“ in der Popkultur – Zombies, Vampire und andere) untrennbar miteinander verbunden. Die gleiche Unsterblichkeit liegt der Intuition von etwas Unzerstörbarem in einem wirklich radikal Bösen zugrunde. In der klassischen Reimgeschichte über zwei böswillige Knaben, Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ (erstveröffentlicht 1865), begehen die zwei Kinder eine schändliche Tat nach der anderen an Respektspersonen, bis sie schließlich beide in einer Getreidemühle landen, aus der sie zu kleinen Körnern zerhäckselt unten wieder herauskommen – dabei aber bilden diese Körner auf dem Boden einen Umriss der beiden Knaben: „Rickeracke! Rickeracke!/Geht die Mühle mit

408 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma Geknacke./Hier kann man sie noch erblicken,/Fein geschroten und in Stücken“. In der ursprünglichen Illustration haben ihre Konturen ein obszönes Grinsen und verharren selbst nach dem Tod noch in ihrer Boshaftigkeit … Adorno hatte recht, als er schrieb, wenn man auf jemand wirklich Bösen treffe, könne man sich nur schwer vorstellen, dass dieser Mensch sterben kann. Wir sind freilich nicht unsterblich, wir alle (werden) sterben – die „Unsterblichkeit“ des Todestriebs ist kein biologischer Fakt, sondern eine psychische Haltung, „jenseits von Leben und Tod persistieren“ zu wollen, bereit zu sein, über die Lebensgrenzen hinaus weiterzugehen. Dies ist Ausdruck einer pervertierten Lebenskraft, die ein „gestörtes Verhältnis zum Leben“ verrät. Lacans Name für diese Störung ist natürlich jouissance und bezeichnet ein übermäßiges Genießen, das, wenn wir ihm nachjagen, aus uns Menschen machen kann, die ihre vitalen Bedürfnisse und Interessen vernachlässigen oder gar selbst sabotieren. Genau an diesem Punkt unterscheidet sich Lacan radikal von den Endlichkeitsdenkern, für die der Mensch „Dasein zum Tode“ ist, ein sich zu seiner Endlichkeit und seinem unvermeidlichen Tod in Beziehung setzendes Wesen: Zu seiner eigentlichen Sterblichkeit gelangt das menschliche Tier nur durch das Dazwischentreten der jouissance, indem es sich in Beziehung zu der Aussicht auf seine eigene Vernichtung setzt. In Bezug auf den „Dialog zwischen Leben und Tod“ vermerkt Lacan, dass „er erst von dem Moment an dramatische Züge annimmt, da das Genießen [jouissance] dazwischentritt. Der wesentliche Punkt […] ist die gestörte Beziehung zum eigenen Körper, genannt Genießen.“14 Sofern ein Tier regelmäßig frisst [sich vollfrisst: bouffe], ist es klar, dass dies deshalb geschieht, weil es das Genießen des Hungers nicht kennt. Derjenige, der spricht – das lehrt uns die Psychoanalyse –, gibt sämtlichen seiner [vitalen] Bedürfnisse den Anstrich des Genießens, was heißen soll, dass er sich dadurch gegen den Tod schützt.15 Man sollte hier „Genießen des Hungers“ ganz wörtlich nehmen: Was ist, wenn der Hunger, als Teil eines komplexen Rituals, selbst libidinös besetzt wird? Was, wenn das Vorbereiten des Essens in einer typischen Umkehr mehr Lust verschafft als der Akt des Essens selbst? Robert Brandom verwendet dasselbe Beispiel des Hungers, um die Struktur des „erotischen Bewusstseins“, wie er es nennt, zu veranschaulichen: Das erotische Bewusstsein hat eine dreiteilige Struktur, die sich in den Beziehungen zwischen Hunger, Fressen und Nahrung verkörpert. Hun-

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ger ist ein Verlangen, eine Art Einstellung. Er treibt Tiere unmittelbar dazu an, auf irgendwelche Objekte zu reagieren, indem sie diese als Nahrung behandeln, indem sie diese fressen. Nahrung ist entsprechend eine Bedeutung, welche Objekte für Tiere besitzen können, die Hunger erfahren. Sie ist etwas, das Dinge für begehrende Tiere sein können. Fressen ist die Tätigkeit, etwas als Nahrung zu nehmen oder zu behandeln. Es ist das, was man tun muss, um ihm in der Praxis die begehrensabhängige erotische Bedeutung von Nahrung zuzuschreiben.16 Verdient diese Struktur es jedoch wirklich, als „erotisch“ bezeichnet zu werden? Entsteht die eigentliche Erotik nicht erst dann, wenn das Ziel unseres Tuns sich nicht unmittelbar mit seinem Zweck überlagert – im Falle des Hungers, wenn das Hinausschieben des Essensakts selbst Lust verschafft? Brandom schreibt: „Diese durch Risiken und Opfer vollzogene praktische Identifikation mit einem Element dessen, was er für sich ist, bekundet und konstituiert den Herrn zugleich als in sich selbst normatives Geistwesen und nicht bloß als begehrendes Naturwesen“.17 Sollten wir dann aber nicht die offensichtliche Frage stellen: Was aber ist, wenn es sich bei diesem „Element“ um das Begehren (ein Objekt des Begehrens) selbst handelt? Was, wenn jemand bereit ist, alles für sein Begehren zu riskieren und zu opfern, samt seinen natürlichen Interessen? Darum geht es bei Lacans „Kant mit de Sade“. Und was ist, wenn bei einem weiteren Moment der Perversion ein Objekt unser Begehren gerade deshalb weckt, weil es mit Risiken und Opfern verbunden ist? Da Brandom von diesem Aspekt des Begehrens nichts weiß, scheitert er letztlich in seinen Bemühungen, „eine nicht-reduktive Darstellung davon bereitzustellen, wie man den Platz von Normen in der natürlichen Welt verstehen sollte“: Er bleibt hier Idealist. Wenn er den Übergang vom (tierischen) Begehren zur (symbolischen) Anerkennung beschreibt, lässt er die (Freud’sche) materialistische Kernfrage unberücksichtigt, welche grundsätzliche Umformung das Begehren selbst erfahren muss (von der Befriedigung zu seiner Aufschiebung und so weiter), damit es die Anerkennung zu stützen vermag.18 Wir können unmittelbar erkennen, wie das Klischee von der „tödlich inzestuösen jouissance“, die uns verbrennt, wenn wir ihr zu nahe kommen, an diesem Zusammenhang zwischen Tod und jouissance völlig vorbeigeht. Der Punkt ist nicht, dass man einen gewissen Abstand zur jouissance wahren muss, weil sie uns sonst töten würde; der Punkt ist, dass wir in genau dem Sinne bereits tot sind, in dem Lacan de Sades Idee des „zweiten Todes“ neu interpretierte: Das Subjekt (von Lacan als S/ geschrieben, das gebarrte Subjekt) ist gewissermaßen der Überlebende seines eigenen Todes, das

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heißt, es ist, selbst wenn es (verbunden mit einem lebendigen Körper) biologisch weiterlebt, im Teufelskreis der jouissance gefangen, der in einem Abstand vom Leben funktioniert, welcher nie mit dem Lebensrhythmus synchron läuft. Unsere Selbstwahrnehmung als sterbliche Wesen gründet in diesem Zwiespalt/Exzess des Genießens, der uns unsere biologische Endlichkeit bewusst macht. Lacan ist nicht auf direktem Wege zu dieser Einsicht gelangt – zunächst betrachtete er das Bewusstsein der Sterblichkeit als einen Effekt der Tatsache, dass die symbolische Ordnung unsere Behausung ist, in der wir wohnen: Sprachwesen widerfährt es, dass sich ihr biologisches Leben denaturalisiert, indem es dauerhaft in einen symbolischen Rhythmus gerät, der seinen eigenen Regeln folgt, und den Todestrieb deutet Lacan hier als autonomes Funktionieren der symbolischen Ordnung in einem Abstand vom Leben, ohne dass er den Exzess der jouissance erwähnt. Dies bringt uns zurück zum phallischen Signifikanten, bei dem sich die Allmacht mit der Ohnmacht überlagert oder, grundsätzlicher noch, bei dem sich der „Drang des Lebens“ mit dem Todestrieb überlagert: Der phallische Signifikant steht für Macht, den Lebensdrang, doch Macht innerhalb des Signifikantenbereichs, und das heißt: des symbolischen Todes, der Unterordnung des Lebens unter eine tote symbolische Maschine: Das ist genau das, was Freud im Begriff Todestrieb artikuliert. […] Der Mensch ist dieses animalische Wesen, das in einem signifikanten System einbegriffen und artikuliert ist, das ihm erlaubt, seine Immanenz als Lebendes zu beherrschen und sich als bereits tot wahrzunehmen. […] Es gibt keine Erfahrung des Todes, selbstverständlich, die darauf antworten könnte, und eben deshalb wird dies auf andere Weise symbolisiert. Es wird genau über dieses Organ symbolisiert, in dem auf spürbarste Weise der Drang des Lebens erscheint. Das ist der Grund, weshalb es der Phallus ist, insofern er das Ansteigen der Lebenskraft repräsentiert, der in der Ordnung der Signifikanten Platz nimmt, um das zu repräsentieren, was durch den Signifikanten geprägt wird – das, was durch den Signifikanten mit dieser wesentlichen Gebrechlichkeit geschlagen wird, in der sich im Signifikanten selbst dieses Seinsverfehlen artikulieren kann, dessen Dimension der Signifikant ins Leben des Subjekts einführt.19 Wie also „nimmt das Ansteigen der Lebenskraft in der Ordnung der Signifikanten Platz“? Es nimmt ganz am Rand Platz, wo das Imaginäre das Reale als die Erfahrung des Lebens in seinem Schrecken und Ekel berührt:

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Das berühmte Trauma, von dem man ausgegangen ist, die berühmte Urszene, die in die Ökonomie des Subjekts eintritt und die im Herzen und am Horizont der Entdeckung des Unbewussten spielt, was ist das? – wenn nicht ein Signifikant, so wie ich gerade begonnen habe, seine Auswirkung auf das Leben zu artikulieren. Das Lebewesen wird als lebend erfasst, als lebendes, aber mit der Abweichung, diesem Abstand, welcher eben derjenige ist, der ebenso die Autonomie der signifikanten Dimension wie auch das Trauma oder die Urszene konstituiert. Was ist das also? – wenn nicht dieses Leben, das sich in einer schrecklichen Apperzeption seiner selbst, in seiner vollständigen Fremdheit, in seiner undurchsichtigen Rohheit als reiner Signifikant einer für das Leben selbst unerträglichen Existenz erfasst, sowie es sich davon abspreizt, um das Trauma und die Urszene zu sehen. Es ist das, was vom Leben ihm selbst als Signifikant im reinen Zustand erscheint und das sich in keiner Weise artikulieren noch auflösen lässt.20 Das Reale in seiner schrecklichsten Dimension, als Urabgrund, der alles verschlingt, alle Identitäten auslöscht, ist eine bekannte Figur in der Literatur, wo es in zahlreichen unterschiedlichen Erscheinungen auftritt, von Poes Maelström und Kurtz’ Grauen am Ende über Conrads Herz der Finsternis bis zu dem Schiffsjungen Pip in Melvilles Moby Dick, der am Grund des Meeres den dämonischen Gott erfährt: […] wohl eher lebend hinabgefahren in zauberische Tiefen, wo seltsame Gebilde aus einer unverstellten Urwelt vor seinem blicklos schauenden Auge hin und her huschten […] sah Pip die unzähligen, göttlich allgegenwärtigen Korallensterne, die sich in gewaltigen Ringen aus dem Firmament der Wasser hoben. Er sah, wie Gottes Fuß den Webstuhl trat und er verschwieg es nicht; und darum nannten ihn die Männer toll.21 Entscheidend ist hier, dass Lacan diese Erfahrung kontraintuitiv als diejenige kennzeichnet, die den „Signifikanten im reinen Zustand“ erbringt: Sie ist nicht, wie es vielleicht scheint, einfach die Erfahrung irgendeines vorsymbolisch-ursprünglichen Realen, sondern bereits das Gegenstück, die andere Seite der symbolischen Kastration – und umgekehrt machen wir die Erfahrung eines „Signifikanten im reinen Zustand“ nicht mit einem rein symbolischen Gebilde wie einer mathematischen Formel, sondern gerade in der Begegnung mit dem Realen in seiner äußersten Rohheit. Wie hängt das zusammen? Die Tatsache, dass wir in dieser Erfahrung nicht unmittelbar in dem Realen versunken sind, sondern dass es als etwas vollkommen

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Fremdes/Abweisendes erscheint – sie bedeutet bereits, dass wir der symbolischen Kastration, die den Verlust der unmittelbaren Identifikation mit dem Leben impliziert, schon unterworfen sind. Wenn und sobald wir uns im Symbolischen befinden, ist das ultimative Trauma das Leben selbst. Lacans Bezeichnung für die Endlichkeit ist (symbolische) Kastration und die Unsterblichkeit heißt bei ihm Todestrieb. Sie bilden zwei Seiten desselben Vorgangs, es ist also nicht so, dass die Lebenssubstanz, das unsterbliche jouissance-Ding, durch das Erscheinen der symbolischen Ordnung „kastriert“ wird. Wie im Fall von Mangel und Überschuss ist die Struktur diejenige einer Parallaxe: Das untote Ding ist der Rest der Kastration; es wird von ihr hervorgebracht, und es gibt umgekehrt keine „reine“ Kastration; sie selbst wird durch den unsterblichen Überschuss, der sich ihr entzieht, aufrechterhalten. Diese gegenseitige Abhängigkeit findet sich in Deleuzes Logik des Sinns klar beschrieben. Darin entfaltet er, inwiefern eine symbolische Ordnung immer eine minimale Differenz zwischen einem strukturellen Platz und dem Element, das ihn einnimmt (ausfüllt), impliziert: Der Platz innerhalb der Struktur geht einem Element, das ihn ausfüllt, stets logisch voraus. Wir haben es hier mit zwei Serien (oder vielmehr Ebenen) zu tun: der „leeren“ formalen Struktur (Signifikant) und der Reihe von Elementen, welche die Leerstellen in der Struktur ausfüllen (Signifikat). Das Paradoxe dabei ist, dass sich die beiden Serien nie überschneiden: Jede Entität, auf die wir treffen, ist (bezüglich der Struktur) ein leerer, unbesetzter Platz und zugleich (bezüglich der Elemente) ein sich schnell bewegendes, schwer zu fassendes Objekt, ein Besetzer ohne Platz.22 Wir haben damit Lacans Formel des Phantasmas erzeugt (S/~a), denn das Mathem für das Subjekt ist S/, ein leerer Platz in der Struktur, ein gestrichener Signifikant, während das objet a per definitionem ein überschüssiges Objekt ist, ein Objekt, das keinen Platz in der Struktur hat. Dies ist folglich nicht so zu verstehen, dass es einfach ein Element mehr gibt, als Plätze in der Struktur verfügbar sind, oder einen Platz mehr, für den es kein ausfüllendes Element gibt. Ein leerer Platz in der Struktur würde das Phantasma bestehen lassen, dass ein Element auftauchen und ihn ausfüllen wird; und ein überschüssiges Element ohne einen Platz in der Struktur würde das Phantasma bestehen lassen, dass irgendein noch unbekannter Platz auf dieses Element wartet. Der Zusammenhang ist aber vielmehr der, dass der leere Platz in der Struktur und das umherirrende Element, für das es keinen verfügbaren Platz gibt, strikt korrelativ sind: Es handelt sich nicht um zwei verschiedene Entitäten, sondern um die Vorder- und die Rückseite einer einzigen, das heißt, um ein und dieselbe in die beiden Seiten des Möbiusbandes eingeschriebene Entität.

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Daher gibt es nicht zuerst eine ideale, vollständige symbolische Struktur, aus der ein Schlüsselsignifikant subtrahiert wird; die Subtraktion selbst erzeugt die Struktur. Diese ist hier die Struktur von „eins-weniger-plus-a“, und das heißt, dass dieser Mangel nur ein Surplus, ein Überschuss ist – wir erhalten nicht zunächst einen Mangel, der dann schließlich ausgefüllt wird. Darum sollte man sich nicht verleiten lassen, das Überschussobjekt als Ausfüllung des Mangels zu begreifen, so als könne man bei entsprechendem Mut dem reinen, noch durch kein Objekt aufgefüllten Mangel begegnen. Der Unterschied zwischen Mangel und Überschussobjekt ist ein rein topologischer: Das Überschussobjekt ist das Gleiche wie der Mangel, dessen andere Seite, es gibt keinen Mangel ohne Objekt. (Dies ist ein Fall, der die Hegel’sche Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft schön verdeutlicht: Der Verstand ist nicht in der Lage, diesen rein topologischen Unterschied zwischen Mangel und Überschuss zu begreifen; darum fasst er sie beide als fremd auf, nicht als identisch, und sucht nach einem Überschuss, der den Mangel auffüllt.) Die Sprache existiert, weil es keinen binären Signifikanten gibt – oder, wie Alenka Zupančič es auf den Punkt bringt: „Die Sprache ist bloß eine Replik auf einen fehlenden Signifikanten, auf einen Signifikanten, der nicht da ist.“23 Diese Bestimmung ist natürlich tautologisch und zirkulär: Die Sprache entsteht aus dem Fehlen von etwas, das zur Sprache selbst gehört. Dies bedeutet, dass die äußere Grenze der Sprache zugleich auch ihre innere ist: Die Grenze zwischen der Sprache und ihrem Außen (der Realität oder was auch immer), zwischen den Wörtern und den Dingen ist zugleich auch immer eine sprachinterne; sie beschränkt die Sprache von innen, macht sie zum Nicht-Alles, unfähig zur vollständigen Signifikation. Egal was in einer Sprache gesagt wird – immer kreist es um einen unsagbaren Kern. Die Signifikationsordnung ist demnach durch ihre eigene Unmöglichkeit gekennzeichnet; sie funktioniert als ihr eigenes Hindernis. Sprache setzt sich mithin nicht einfach aus Signifikanten zusammen, das heißt, die Anwesenheit (oder vielmehr das effiziente Funktionieren) von Signifikanten ist kein hinreichender Grund für das Erscheinen der Sprache. Was erscheinen muss, ist ein Signifikant weniger, ein Signifikant, der an seinem Platz fehlt, an dem er erwartet wird – nur ein solches Fehlen eines Signifikanten kann das menschliche Tier aus seiner Gleichgültigkeit wecken und zum Sprechen (und Genießen) bringen, und die Geschlechterdifferenz stellt eine Folge dieses „ontologischen Defizits“ (Zupančič) dar. Denken wir an den bekannten Fall der Bienensprache: Wenn Bienen auf Blumensuche sind, kann eine Biene ihren Artgenossen durch einen komplexen kodifizierten Tanz die genaue Lage (Richtung, Entfernung) eines in der Nähe befind-

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lichen blühenden Buschs anzeigen – dies ist jedoch noch keine eigentliche Sprache, und zwar aus dem einfachen Grund, dass der Code, dem eine Biene folgt, in sich vollständig ist, ohne fehlenden Signifikanten. Noch einmal gesagt: Die Sprache entsteht also nicht, wenn es Signifikanten gibt, sondern wenn ein Signifikant fehlt oder ausbleibt, und durch diesen fehlenden Signifikanten subjektiviert sich die Signifikantenkette – genauer gesagt, wird das Fehlen eines Signifikanten immer in einer Kette durch einen paradoxen reflexiven Signifikanten registriert, der diesen Mangel selbst repräsentiert, und in diesem Sinne repräsentiert ein Signifikant das Subjekt (den Mangel) für andere Signifikanten. Dieser Mangel/Überschuss ist an sich asexuell und wird auf zwei Weisen subjektiviert, männlich und weiblich, weshalb die Geschlechterdifferenz ein Merkmal der Subjektivität als solche ist und nicht sekundär – oder vielmehr: Die Geschlechterdifferenz ist sekundär, doch „Subjekt“ ist eben genau die Bezeichnung für diese Sekundarität. Die Geschlechterdifferenz ist daher keine reine Differenz zwischen den beiden Typen, die nie vollkommen verwirklicht wird; sie ist diese Unvollkommenheit selbst, die beiden Möglichkeiten/Arten, mit ihr umzugehen, mit dem Fehlen des binären Signifikanten: „Wenn wir imstande wären zu sagen, was ‚Mann‘ und ‚Frau‘ bedeutet, wären sie ein und dasselbe – nämlich der binäre Signifikant. Es ist nur so, dass wir in diesem Fall überhaupt nicht sprechen würden.“24 Genau darauf zielt Lacan mit seinem Axiom „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“ ab. Es geht nicht darum, dass das Universum das Feld eines ewigen Kampfes zwischen den beiden entgegengesetzten kosmischen Prinzipien darstellt (Yin und Yang, Licht und Dunkelheit, Geist und Materie und anderen Versionen der sexualisierten Kosmologie), die sich nie miteinander in Einklang bringen lassen, sondern es geht vielmehr darum, dass es gerade nur Eines gibt – das Andere (das, was Lacan den „binären Siginifikanten“ nennt) fehlt: kein „vaginaler Signifikant“ ergänzt den phallischen Signifikanten. Doch jetzt kommt das wirkliche Paradox: Dieses Fehlen des „binären Signifikanten“ impliziert keinen „phallogozentrischen Monotheismus“, keine Herrschaft des Einen. Im Gegenteil: Es beschneidet das Eine selbst von innen – es gibt kein Eines, gerade weil es nur Eines ohne sein ergänzendes Gegenstück gibt, den Anderen (Einen), der es zu Einem macht. Es gilt hier entsprechend Lacans feiner Unterscheidung zwischen „existiert nicht“ und „es gibt kein“ (il n’y pas) zwei Modalitäten voneinander abzugrenzen: Gott existiert nicht (aber es gibt einen Gott, der nicht existiert), während es kein Geschlechtsverhältnis gibt. Von etwas, das nicht existiert, können Wirkungen ausgehen, es kann Spuren in der (symbolischen) Realität hinterlassen. Gott existiert nicht, seine Inexistenz aber hin-

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terlässt Spuren in unserer Realität. Genauer gesagt, ist Gott als Beweggrund für Engagement genauso ein rückwirkender Effekt seiner eigenen Spureneffekte, wie ein politischer Beweggrund nur in seinen Effekten existiert: Der Kommunismus existiert nur insofern, als es Individuen gibt, die für ihn kämpfen (oder ihn angreifen), die in ihrem Handeln durch ihn motiviert sind. Demnach ließe sich die Vorstellung, dass etwas existiert, weil etwas anderes nicht existiert/existieren kann, auf zwei Ebenen deuten: zunächst so, dass Gott existiert (oder inexistiert), weil es kein Geschlechtsverhältnis gibt; dann so, dass unsere gewöhnliche Realität existiert, weil Gott nicht existiert. Es gibt eine Gottfrau, weil es kein Geschlechtsverhältnis gibt, und diese Gottfrau existiert nicht, sondern inexistiert bloß.

Materialismus oder Agnostizismus? In seiner ausführlichen Lektüre von Lacan legt Lorenzo Chiesa25 dessen Position anders aus: nicht als unmittelbare Behauptung eines Materialismus, sondern als einen speziell bestimmten Agnostizismus. Dabei hält er sich an einige Passagen aus Lacans Seminaren, die in diese Richtung deuten, und es geht nun darum, wie solche Passagen zu lesen sind. Es stimmt, dass Lacan, wie Chiesa sagt, häufig in eine rhetorische Falle tappt und etwas einräumt, was er nicht einräumen sollte. Chiesa und ich aber machen diese Übertretung an unterschiedlicher Stelle aus. Er sieht es als problematisch an, dass Lacan die Differenz bereits in die vormenschliche Natur verlegt (die Lamelle als etwas Reales und nicht als bloß rückwirkender Mythos; Mangel in der Natur), weil dies die Indifferenz der Natur verschleiere. Für mich sind es Lacans allzu freizügige agnostische Einlassungen (wer weiß, vielleicht gibt es ein Geschlechtsverhältnis in der Natur, gibt es eine Seele, die den Tod überdauert, gibt es Gott …), die als unzulässige Zugeständnisse zurückgewiesen werden sollten. Schon der programmatische „Bericht von Rom“ wartet am Schluss mit indischer Weisheit aus den Upanishaden auf: Als die Devas, die Menschen und die Asuras, lesen wir im ersten Brahmana der fünften Lektion der Brihadaranyka-Upanishad, ihr Noviziat bei Prajapati beendeten, trugen sie ihm diese Bitte vor: „Sprich zu uns.“ „Da“, sagt Prajapati, der Gott des Donners. „Habt Ihr mich verstanden?“ Und die Devas antworteten: „Du hast uns gesagt: Damyata, bezwingt Euch“ –, der heilige Text will damit sagen, dass die Mächte von oben sich dem Gesetz des Sprechens unterwerfen. „Da“, sagt Prajapati, der Gott des Donners. „Habt Ihr mich verstanden?“ Und die Menschen antworteten: „Du hast uns gesagt: Datta,

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gebt“ –, der heilige Text will damit sagen, dass die Menschen sich durch die Gabe des Wortes/Sprechens (an)erkennen. „Da“, sagt Prajapati, der Gott des Donners. „Habt Ihr mich verstanden?“ Und die Asuras antworteten: „Du hast uns gesagt: Dayadham, seid gnädig“ –, der heilige Text will damit sagen, dass die Mächte von unten in der Anrufung des Sprechens widerhallen [résonnent]. Das ist da, nimmt der Text wieder auf, das, was die göttliche Stimme im Donner hören lässt: Unterwerfung, Gabe, Gnade. Da da da. Denn allen antwortet Prajapati: „Ihr habt mich verstanden.“26 Und dann gibt es noch „Encore“ und die bekannte Stelle über die unaussprechliche jouissance féminine, die sich in der mystischen Sphäre außerhalb des Symbolischen ansiedelt: Es gibt ein Genießen für sie [à elle], für diese sie, die nicht existiert und nichts bedeutet. Es gibt ein Genießen für sie, von dem vielleicht sie selbst nichts weiß, außer daß sie es empfindet – das, das weiß sie. Sie weiß es, sicher, wenn es geschieht. Es geschieht ihnen nicht allen.27 Als ob das nicht schon genug wäre, konnte Lacan der Versuchung nicht widerstehen, seine eigenen Veröffentlichungen, die Schriften (frz. Écrits), dieser Reihe hinzuzufügen: „Diese mystischen Ergüsse, das ist weder Geschwätz noch Wortmacherei, das ist in summa, was man lesen kann vom Besten – ganz unten auf der Seite, Anmerkung – Dem hinzuzufügen die Écrits von Jacques Lacan, denn das ist von derselben Art.“28 Ist es das wirklich? Lässt sich ernsthaft behaupten, dass es in den Schriften ein Genießen gibt, „ein Genießen für Lacan, von dem er vielleicht selbst nichts weiß, außer, dass er es empfindet“? Lassen solche Andeutungen nicht vielmehr erkennen, dass Lacan hier die Grenze seines Denkens erreicht und diese Lücke mit Pseudoweisheit füllt? Was Lacans Spekulationen über diese Lücke oder Offenheit in der Natur betrifft, so bedeuten sie keineswegs einen Verrat am dialektischen Materialismus, sondern deuten vielmehr in die richtige, auf die Überwindung der (letztlich idealistischen) transzendentalen Schließung zielende Richtung. Anders gesagt: Nicht Lacans Spekulationen über eine Lücke in der vorsymbolischen Natur gilt es zurückzuweisen, sondern gerade den bei ihm sonst vorherrschenden Transzendentalismus. Lacan nämlich schwankt zwischen dem (vorherrschenden) transzendentalen Ansatz und zaghaften Andeutungen, die über diesen Ansatz hinausweisen. Sein Standardtopos ist die radikale Diskontinuität zwischen dem (biologischen) Leben und dem Symbolischen:

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Das Symbolische bringt das Leben aus dem Gleis, ordnet es einem fremden Zwang unter und nimmt ihm für immer seine Homöostase – darin vollzieht sich der Schritt vom Instinkt zum Trieb, vom Bedürfnis zum Begehren. Aus dieser Perspektive ist die symbolische Ordnung als unser unhintergehbarer Horizont „immer schon da“, und jeder Versuch, ihre Entstehung zu erklären, kommt einer phantasmatischen Verschleierung ihrer konstitutiven Lücke gleich. Bei dieser lacanianisch-strukturalistischen Version des „hermeneutischen Zirkels“ bleibt einem bloß die Umschreibung der Leere/Unmöglichkeit, welche das Symbolische zu einem Nicht-Alles und inkonsistent macht, der Leere, in der die äußere Grenze mit der inneren zusammenfällt (die Leere grenzt das Symbolische vom Realen ab; diese Begrenzung aber stellt einen Schnitt durch das Symbolische selbst dar). Hin und wieder, zumal späterhin, finden sich bei Lacan jedoch Bezüge zu Schelling, Benjamin und Heidegger und dem Topos eines Leidens in der Natur selbst, des Leidens, das in der menschlichen Sprache Ausdruck findet und zur Auflösung gelangt – das Freud’sche Unbehagen in der Kultur wird dadurch von einem unheimlichen Unbehagen in der Natur selbst ersetzt: Man denke sich, die ganze Natur warte auf das Geschenk der Sprache, damit sie zum Ausdruck bringen kann, wie schlimm es ist, ein Gemüse oder ein Fisch zu sein. Ist es nicht besonders quälend für die Natur, dass ihr die Mittel fehlen, ihren angestauten Ärger mitzuteilen, ja dass sie nicht einmal in der Lage ist, die simpelste Klage zu formulieren? „Ach ich! Ich bin das Meer!“ Und löst nicht das Erscheinen des sprechenden Wesens auf der Erde die furchtbare organische Spannung erfolgreich auf und bringt sie auf eine höhere Ebene der Nichtauflösung? Obwohl es in Lacans Seminaren so manche faszinierende Stelle gibt, wo er über den unendlichen Schmerz des Daseins einer Pflanze spekuliert und die Möglichkeit eines Unbehagens in der Natur erwägt, betrachtet er das Verhältnis zwischen Natur und Kultur im Grunde als eines von radikaler Diskontinuität. Damit diese Verschiebung nicht als Rückfall in die Naturmystik missverstanden wird, gilt es, sie strikt hegelianisch auszulegen: Wir überwinden die Unmöglichkeit, die durch das Symbolische hindurchschneidet, nicht wie durch Magie – wir begreifen vielmehr, inwiefern diese Unmöglichkeit, die uns vom Realen fernzuhalten schien, die das Reale unmöglich machte, ebendas Merkmal ist, welches das Symbolische im Realen verortet.29 Diese Differenz zwischen Chiesa und mir hat ihren Grund in unserem unterschiedlichen Verständnis von Lacans Behauptung des „Nicht-Alles“.

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Chiesa zieht eine unerwartete philosophische Konsequenz aus der Logik des Nicht-Alles (die Unvollständigkeit des großen Anderen): Entweder besteht die Unvollständigkeit und wir können sie als Wahrheit nur halb sagen, da wir Vollständigkeit beanspruchen, sobald wir sie sagen, oder es trifft zu, dass die Unvollständigkeit die vollständige Wahrheit eines betrügend inkonsistenten Gottes darstellt, eines absoluten Wesens, das man per definitionem nie begreifen wird. […] Entweder ist die Abwesenheit des Geschlechtsverhältnisses durch uns nicht nur phänomeno-logisch, sondern auch noumenal, oder Gott […] betrügt uns. Entweder ist das kontingente Ansich, das die Sprache ist, das heißt das grundlegende „Esistwasesist“ [seskecé], die Wahrheit, oder diese Bedeutungslosigkeit der Wahrheit hat zugleich auch eine inkonsistente Bedeutung. Ein solches „Entweder-oder“ ist unhintergehbar, und die einzige Möglichkeit, das „Entweder“ vor einer unerwünschten religiösen Verabsolutierung der Unvollständigkeit zu schützen, besteht darin, beide Optionen offen zu halten. Diese Argumentation bezieht natürlich die elementare Lücke zwischen dem Ausgedrückten und dem Ausdruck mit ein: In dem Moment, da wir die Unvollständigkeit (das Nicht-Alles) der Realität in einer Äußerung bestätigen, behaupten wir unausgesprochen, dass dies eine vollständige Wahrheit über die Realität ist, das heißt, unsere Ausdrucksposition ist die der Vollständigkeit. Die einzig konsistente Möglichkeit, die ontologische Unvollständigkeit zu behaupten, bestünde demnach darin, sie auf unvollständige Weise „halb zu sagen“ (mi-dire). Tun wir dies aber, ist die Unvollständigkeit keine vollständige Wahrheit über die Realität mehr. Um diese Gefahr, die Unvollständigkeit zu einem vollständigen göttlichen Absoluten zu erheben, zu vermeiden, gilt es, die unmittelbare Behauptung der Unvollständigkeit als vollständige Wahrheit mit ihrer Umkehrung zu ergänzen, einem seltsamen höchsten Wesen (Gott), das selbst inkonsistent/unvollständig/unvollkommen ist, einem Gott, wie dem von Descartes vorgestellten malin génie, der unsere Realität als trügerische Illusion in Szene setzt, um uns zu täuschen …30 Die ethische Konsequenz aus dieser Unentscheidbarkeit ist nicht, opportunistisch auf Nummer sicher zu gehen („Handeln wir einfach so, als ob Gott existierte, damit wir nicht bestraft werden, falls er doch existiert“), sondern sie besteht in der Umkehrung von Pascals Wette:

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Kehren wir Pascals Wette um, würde uns die Unentscheidbarkeit ihrerseits wiederum die Freiheit gewähren, so zu handeln, als ob Gott nicht existierte (als göttliches Wesen), denn wenn er existierte, könnte er uns nur täuschen – doch ohne es überhaupt zu wissen, da er sich auch selbst betrügen würde. […] Zwar wird die „Hypothese Gott“ solange da sein, solange etwas gesagt werden wird, „dennoch […] können wir verfahren, als ob er nicht da wäre“31 […] Den „bösen Genius“ nur deshalb beharrlich einzuberufen, um so zu handeln, als ob er nicht da wäre, ist der drastischste Schritt, der zur Austreibung „des guten alten Gotts“ nötig ist. Die wichtige Einsicht ist hier, dass es, um konsequenter Atheist zu sein, nicht ausreicht, wenn man einfach nur behauptet, dass Gott in Wirklichkeit nicht existiert – die faktische Aussage, dass es keinen Gott gibt, muss durch die kontrafaktische Hinzufügung ergänzt werden, dass Gott, (selbst) wenn er existieren würde (was er nicht tut), böse und dumm wäre. Doch müssen wir uns wirklich eine agnostische Position zu eigen machen, die die Möglichkeit offen lässt, dass es einen Gott gibt, dass wir eine unsterbliche Seele haben und so weiter? Chiesa zufolge macht Lacan genau das, wenn er „empfiehlt, dass das rationalistische Denken gemäß dem anti-animistischen Denken der Psychoanalyse und der Wissenschaft, das auf der Unvollständigkeit gründen würde, sich nicht von der Aussicht lähmen lassen sollte, dass die Seele als wesenhafte Identität womöglich letzten Endes im Jenseits existiert, sondern diese Aussicht logisch angehen sollte. Wäre es so, dass die Seele existiert, würde dies nur bestätigen, dass diese Welt unwiderruflich nicht-alles ist, und die Seele wäre dann das, was unsere Welt nicht ist.“ Ich bin mit dieser Argumentation aus doppeltem Grund nicht einverstanden. Erstens stützt sie sich auf den falschen, naiven Begriff des NichtAlles: Sagt man, wenn die unsterbliche Seele existierte, „würde dies nur bestätigen, dass diese Welt unwiderruflich nicht-alles ist“ (weil die unsterbliche Seele nicht von dieser Welt ist), dann läuft das schlichtweg darauf hinaus, dass unsere Welt, unsere Realität, in dem Sinne unvollständig ist, dass es noch eine andere Realität außerhalb von ihr gibt (die Realität geistiger Entitäten), was gerade nicht Lacans Begriff des Nicht-Alles als ein Feld ohne Ausnahme entspricht. Und inwiefern kann zweitens ein anti-animistischer wissenschaftlicher Ansatz sich mit der Aussicht auf ein Jenseits befassen, in dem die Seelen weiterleben? Die einzige Möglichkeit bestünde darin, „Animismus“ im engen aristotelischen Sinne aufzufassen, in dem die Seele eine immanente Form des Körpers ist, sodass eine (platonische) Seele,

420 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma die vom Körper getrennt wird, keinen Animismus impliziert. In einem richtig verstandenen Lacan’schen Ansatz ist für Seelen kein Platz: Das Subjekt ist nicht die Seele eines Körpers. Die Unsterblichkeit der Seele ist nicht als realistische Hypothese aufzufassen, sondern strikt als kontrafaktische Option, die man im Modus von „Wenn es eine Seele gibt (die es nicht gibt), dann …“ anzugehen hat. Wie sollen wir daher mit der agnostischen Unentscheidbarkeit umgehen – der Offenheit für die mögliche Existenz Gottes –, die von Chiesa vertreten wird? Unbedingt erforderlich ist es, die epistemologische Unentscheidbarkeit, die Chiesa postuliert (und die ihn zum Agnostizismus führt) in die ontologische Lücke/den ontologischen Riss zu übertragen: Durch diesen Schritt wird der Agnostizismus überflüssig, weil die beiden Pole, zwischen denen er schwankt, unmittelbare Merkmale der Sache selbst werden. Natürlich treffen sie nicht beide auf der faktischen Ebene zu – die Gottesoption muss auf der kontrafaktischen Ebene geltend gemacht werden: Wenn es Gott gibt (den es nicht gibt), so ist er böse und versteht nichts … (Warum entledigen wir uns daher nicht einfach Gottes? Weil die „Gottesillusion“ in der Sprache angelegt ist und durch Behauptung eines bösen, ahnungslosen Gottes von innen zerstört werden muss.) „Kontrafaktisch“ läuft nicht auf „schlichtweg nichts“ hinaus; das, worum es geht, existiert nicht, aber es ex-sistiert als virtuelle Ergänzung des Faktischen. Denken wir daran, dass für Lacan die jouissance féminine ebenfalls ein nichtexistentes Kontrafaktum ist (und das Gleiche gilt selbstverständlich auch für die untote Lamelle). Man kann sehen, dass die philosophischen Einsätze dieser Differenz zwischen Chiesa und mir sehr hoch sind, die höchsten, die man sich vorstellen kann: Es sind hier zwei miteinander unvereinbare Auffassungen des dialektischen Materialismus im Spiel. Chiesa behauptet, dass Lacan „über seine eigenen materialistischen Richtlinien hinausgeht, wenn er annimmt, dass das vergeschlechtlichte Leben als solches Differenz ist, eine Differenz, der etwas fehlt“. Dieses Argument taucht an anderen Stellen von Seminar XI auf, etwa wenn Lacan vom „realen Mangel“ spricht, der unabhängig von der Sprache in der vergeschlechtlichten Natur besteht. „Der reale Mangel ist das, was das lebende Wesen verliert […], wenn es sich über den Weg des Geschlechts selbst reproduziert“; der sprachliche Mangel, „um den sich die Dialektik der Ankunft des Subjekts […] dreht“, „nimmt den anderen Mangel auf, welcher der reale, frühere Mangel ist, den man in der vergeschlechtlichten Fortpflanzung anzusiedeln hat“. Dieser Punkt wird erst wieder im Seminar XIX B aufgegriffen, in dem La-

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can so weit geht zu behaupten, dass die Meiose (das heißt, die geschlechtliche Zellteilung) an sich mit einem Verlust verbunden ist, der die Form einer „Evakuierung“ hat. […] Die Erzählung der Lamelle lässt sich nicht einfach als Mythos von retrospektiven Ursprüngen auffassen und dementsprechend als fester Bestandteil der unvollständigen (metapsychologischen und ontogenetischen) libidinösen Struktur betrachten, die ihn unweigerlich fabriziert. Sie stellt vielmehr eine unmittelbar ontologische Behauptung dar, die letztlich auf einer unzulässigen anthropozentrischen Projektion des il’y a pas de rapport sexuel auf die vergeschlechtlichte Natur basiert. Dieser „unzulässigen anthropozentrischen Projektion“ der Differenz in das vorsymbolische Reale setzt Chiesa den Begriff des „Realsten“ als radikaler Indifferenz entgegen: Der Signifikant ist indifferente Materie, die sich selbst in die Differenzialität der Sprache hinein überschreitet, und indem sie das tut, besteht oder beharrt sie ebenso als Indifferenz des nicht-bedeutenden Buchstabens. Der Signifikant lässt sich daher nicht angemessen als Werden der Differenz aus einem differenziellen Hintergrund denken, sondern muss als immanente Aufspaltung der indifferenten Natur in die In-Differenz vorgestellt werden – wobei die Differenz nicht nur vor dem Erscheinen der Sprache Indifferenz war und nach deren Verschwinden sein wird, sondern auch jetzt, da wir sprechen, Indifferenz ist. Diese Äußerungen mögen obskur klingen, dennoch sie sind leicht zu verstehen: „Das Realste“ ist die radikale Indifferenz, die alle Differenzen umfasst. Mit dem Erscheinen des Symbolischen tritt auch die Differenzialität hervor, die aber selbst ein indifferentes Faktum der Natur, Teil der indifferenten Natur ist, und so lässt sich – in spöttischer Nachahmung von Hegels bekannter (aber irreführender) Formel der Identität von Identität und Differenz – Chiesas Position als Behauptung der Indifferenz von Indifferenz und Differenz beschreiben. (Im Übrigen kommt man nicht umhin, die Ironie daran zu bemerken, dass Chiesa mir vorwirft, ich würde von Hegel zurück zu Schelling und einer Art Schelling’schem Animismus gehen: Chiesa ist hier viel näher an Schelling und der Schelling’schen Philosophie der Identität, die das Absolute als Indifferenzpunkt zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Ideellem und Wirklichem fasst.) Man sollte darum nicht einmal sagen, dass sich das indifferente Reale im und durch das Entstehen symbolischer Differenzialität selbst überschreitet – die symboli-

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sche Diffenzialität bleibt voll und ganz ein Faktum, ein Aspekt des indifferenten reinen Realen. Vom „absoluten“ Standpunkt des „Realsten“ aus ist die Sprache selbst ein indifferentes Faktum des Realen, die mit ihrem übergreifenden „So verhält es sich“ nichts ändert. Mit anderen Worten: Wir müssen nicht auf die Selbstzerstörung der Menschheit (oder auf irgendeine kosmische Katastrophe) warten, um ein Universum ohne Sprache, ohne ontologische Differenz zu sehen – dieses Universum ist vom Standpunkt der absoluten Indifferenz aus bereits da. An dieser Stelle gestaltet sich Chiesas Kritik an Lacan zu einer Kritik an meiner Arbeit. [Sein Problem mit mir] ist nicht, dass Žižek einen Begriff des Realen vorbringt, das „weniger als nichts“ und mithin weniger als die Leere/ der Mangel der symbolischen Differenzialität ist, sondern dass er diese reine Differenz nicht als In-Differenz zu konzipieren vermag. Dies führt ihn dann dazu, das „weniger als nichts“ von der differenziellen Bewegung eines gebarrten Realen her zu verstehen, was verschiedentlich einen vorsubjektiven („azephalischen“) Begriff der Natur/Substanz als Quasi-Subjekt mit sich zu bringen scheint, der deutliche vitalistische Untertöne aufweist („Menschen sind nicht einfach am Leben, sie sind besessen von dem seltsamen Trieb, das Leben im Übermaß zu genießen, wobei sie leidenschaftlich einem Überschuss anhängen“ – dem eppur si muove –, „der herausragt und das gewöhnliche Leben aus dem Gleis geraten lässt“). […] Lacan hätte dies als Animismus verurteilt und vielleicht hinzugesetzt, dass wir es dabei mit einem eigentümlichen Animismus des Nicht-Alles zu tun haben. Wenn unter „Animismus“ eine Störung der Indifferenz verstanden wird, dann bin ich ein Animist; wenn mit „Animismus“ jedoch irgendeine Art von fundamentalem Drang oder Willen gemeint sein soll, dann bin ich entschieden keiner. Die Frage ist hier mithin: Ist das „Steckenbleiben“, welches das Leben aus der Bahn bringt, mit „Wille“ richtig bezeichnet? Ist der Freud’sche Trieb (Todestrieb) nicht eine viel passendere Bezeichnung? Der üblichen philosophischen Kritik des Freud’schen Triebs nach handelt es sich bei ihm um eine andere Version des nachhegelianischen „Willens“, der zuerst vom späten Schelling und von Schopenhauer entwickelt worden sei und dann bei Nietzsche seinen höchsten Ausdruck erlangt habe. Ist der Freud’sche Trieb jedoch wirklich eine Unterart des Willens? Ein Bezug auf die Musikgeschichte könnte hier weiterhelfen. Schopenhauer behauptete, dass uns die Musik mit dem „Ding an sich“ in Berührung bringt: Sie gibt

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unmittelbar den Trieb der Lebenssubstanz wieder, den Worte nur bezeichnen können. Darum „ergreift“ die Musik das Subjekt im Realen seines Seins; sie braucht nicht den Umweg über die Bedeutung zu nehmen. Wir hören, was wir nicht sehen können: die unter dem Vorstellungsfluss vibrierende Lebenskraft. Denken wir an die bemerkenswerte Szene am Anfang von Sergio Leones Es war einmal in Amerika, in der ein laut klingelndes Telefon zu sehen ist, das, nachdem eine Hand den Hörer abgenommen hat, weiterklingelt – so als sei die musikalische Wucht des Klangs zu stark, um von der Realität gezügelt zu werden, und wirke jenseits von deren Beschränkungen weiter. (Oder denken wir an eine ähnliche Szene aus David Lynchs Mulholland Drive, in der eine Sängerin auf der Bühne Roy Orbisons Lied „Crying“ singt. Dann sehen wir sie plötzlich bewusstlos zusammenbrechen, der Gesang aber geht weiter.) Was geschieht jedoch, wenn der Fluss der Lebenssubstanz selbst zurückgehalten, unterbrochen wird? Georges Balanchine setzte ein kurzes Orchesterstück von Anton Webern (dessen Stücke alle kurz sind) so in Szene, dass die Tänzer nach dem Ende der Musik einige Zeit in völliger Stille weitertanzen, als würden sie nicht bemerken, dass die Musik, die ihrem Tanz die substanzielle Grundlage liefert, bereits verklungen ist – wie eine Katze im Trickfilm, die einfach über den Rand des Abgrunds hinaus weiterläuft und dabei ignoriert, dass sie keinen Boden mehr unter den Pfoten hat … Die Tänzer, die auch noch weitertanzen, als die Musik verklungen ist, gleichen den lebenden Toten, die in einem leeren Zwischenraum der Zeit hausen: Ihre Bewegungen, die keine stimmliche Unterstützung haben, erlauben uns nicht nur, die Stimme zu sehen, sondern auch die Stille selbst. Darin besteht der Unterschied zwischen dem Schopenhauer’schen Willen und dem Freud’schen (Todes-) Trieb: Während der Wille die Substanz des Lebens ist, seine produktive Präsenz, die gegenüber den Vorstellungen und Bildern, die wir von ihm haben, einen Überschuss darstellt, entspricht der Trieb einer Beharrungskraft, die selbst dann noch fortwirkt, wenn der Wille verschwindet oder außer Kraft gesetzt wird. Er ist ein Drang, der auch dann noch anhält, wenn ihm sein lebendiger Rückhalt abhandenkommt, die Erscheinung, die noch über den Verlust ihrer Substanz hinaus fortbesteht. Wenn Chiesa also behauptet, dass „Žižek seinem Weniger-als-nichts zu viel zubilligt und die vorhegelianische (schellingsche) Ontologie wieder aufgreift“, übersieht er das Hauptmerkmal dessen, was ich als die Lücke zwischen den zwei Leeren bezeichne. Chiesas kritische Frage an mich lautet:

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Warum kann Žižek dann nicht die reine Differenz als In-Differenz denken („das Realste“ für Lacan) und das Weniger-als-nichts als eine bloß rückwirkende Bewegung von der Indifferenz zur Differenz, die ausschließlich aus der Perspektive der Differenz gilt – als eine immanente Wahrheit, die sich tatsächlich nur halb sagen lässt. Weil er die Bewegung gleich zu Anfang voraussetzt: „Die Dinge bewegen sich“; „,Bewegung‘ ist das Streben nach der Leere“. Meine erste, brutale und schlichte Antwort ist: Warum kann Chiesa dann nicht „weniger als nichts“ denken? Man muss hier sehr genau sein: Wenn Chiesa behauptet, „weniger als nichts“ sei eine „bloß rückwirkende“ Bewegung, die „ausschließlich aus der Perspektive der Differenz gilt“, setzt er „das Realste“ als rein indifferentes Ansich, aus dem die Differenz hervorgeht, die dann rückwirkend in es hineinprojiziert wird. In einem solchen Begriff des Absoluten als Leere der Indifferenz steckt allzu viel von Schelling. Was ich diesem Begriff entgegensetze, ist Hegels spekulative Kernthese, wonach der Raum für die rückwirkende Täuschung bereits in die Vergangenheit eingeschrieben sein muss, was diese selbst unvollständig macht. In seinem Passagen-Werk zitiert Walter Benjamin den französischen Historiker André Monglond: „Die Vergangenheit habe in [literarischen Texten] Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ,Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen.‘“32 Diese Zeilen sollten nicht dahingehend verstanden werden, dass damit eine unmittelbare Teleologie behauptet würde: Es ist nicht so, dass die vergangenen Ereignisse im Geheimen durch eine verborgene Kraft gesteuert und auf eine vorherbestimmte Zukunft hingelenkt werden. Es ist vielmehr so, dass die Zukunft offen, nicht entschieden ist – doch die Vergangenheit ist es genauso. Die Vergangenheit wird demnach rückwirkend zu dem, was sie „an sich“ war: Die Rückwirkung ist kein simpler Trug; der eigentliche Trug, die eigentliche rückwirkende Projektion ist vielmehr die Vorstellung von einem indifferenten „Realsten“, das über keine Öffnung auf die Zukunft hin verfügt. Hinter Chiesas Ablehnung meiner Version der Rückwirkung steht sein Beharren darauf, dass wir nicht nur anzweifeln sollten, „dass der Mensch in seiner Lage eine Ausnahme bildet“ (in dem Punkt stimmen wir überein), sondern dass die Überwindung dieser Vorstellung nicht durch deren Rückübertragung auf die Natur selbst erfolgen sollte: Man dürfe nicht „eilig schließen, dass ‚die Natur selbst in Unordnung und aus den Fugen ist‘, dass sie ‚ein disharmonisches, sich entzweiendes Reales‘ sei. Dieser Schluss

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– bei dem die menschliche Kondition der Ent-Passung verallgemeinert und paradoxerweise erhöht wird – verschiebt bloß unser ontologisches Grundproblem der immanenten Entstehung des Transzendentalen: Das gebarrte Symbolische ist differenziell, weil das gebarrte Reale es immer schon war.“ Was aber ist, wenn solch eine Verschiebung die einzige Lösung ist, die einzige Antwort auf die Frage, wie das Reale strukturiert sein muss, damit die symbolische Differenzialität aus ihm hervorgehen kann. Genau sein sollte man auch im Hinblick auf die Frage, mit welcher Art von „sich entzweiendem Realen“ wir es zu tun haben. Es reicht nicht aus, eine ursprüngliche Vielheit vor den Hintergrund der Leere zu setzen (wie Badiou es tut), und noch falscher als das ist es, wenn man beides als polaren Gegensatz von Prinzipien auffasst, als den „Kampf, der die Realität von Ewigkeit her bestimmt“ (zwischen Yin und Yang, aktiv und passiv, Geist und Materie, Licht und Dunkelheit . . .); die Lücke muss in der endgültigen ontologischen Indifferenz oder Leere angesiedelt werden und sie verdoppeln. Diese Verdopplung ist keine Spaltung, kein Kampf zweier Gegenkräfte, sondern ein asymmetrisches „Barren“ der Leere selbst, die irreduzible Spannung, welche die Leere daran hindert, je den Indifferenzpunkt zu erreichen.33 Diese ontologische Grunddifferenz zwischen Chiesa und mir wirft ihren Schatten auch auf die Thematik der Geschlechterdifferenz. Chiesa hat recht, wenn er die Vorstellung des Triebs, von dessen Kreisbewegung um das objet a als etwas zurückweist, das der Geschlechterdifferenz vorausgeht: „Trieb“ bezeichnet für Lacan immer den Trieb der Abwesenheit der Geschlechtsbeziehung und mithin den Trieb, der sein Ziel nicht erreicht. Damit geht die Sackgasse der Geschlechtsbeziehung dem Trieb voraus, das heißt, der Trieb, seine Kreisbewegung, stellt bereits eine Reaktion auf die Sackgasse oder Unmöglichkeit der Geschlechtsbeziehung dar. Anders ausgedrückt, ist der Trieb nicht vorintersubjektiv, er ist kein solipsistisches Spiel, welches das Subjekt mit dem objet a spielt, indem es darum kreist, es immer wieder verfehlt und Befriedigung in dieser sich wiederholenden Kreisbewegung selbst findet: Die Sackgasse der Beziehung mit dem Anderen ist der Kreisbewegung des Triebs bereits eingeschrieben. Der Trieb stellt eine Möglichkeit zur Bewältigung der Unmöglichkeit des Geschlechtsverhältnisses dar, eine Möglichkeit dazu, diese Unmöglichkeit selbst in eine Quelle der jouissance zu verwandeln. Chiesa formuliert diesen inneren Zusammenhang zwischen Triebstruktur und der Beziehung zum Anderen, wenn er die Aufmerksamkeit auf die folgende strukturelle Homologie richtet: zwischen der Art, wie objet a bei einem Trieb funktioniert, und der Art, wie objet a das agalma im Herzen des Anderen bezeichnet, in dessen extimem Kern, in dem, „was in einem Menschen mehr ist als er selbst“:

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[…] den Punkt, wo sich ein körperliches Öffnen im Kreislauf der Triebe mit dem überschneidet, was sich im Anderen der narzisstischen Liebesverhaftung entzieht, das heißt den Punkt, wo „der durch die erogene Zone sich einstülpende Trieb die Aufgabe zu übernehmen hat, etwas zu suchen, das jeweils im Anderen Antwort gibt“34. Obwohl Lacan diese Verbindung nicht ausdrücklich zieht, sollten wir das Objekt a qua Ziel des Triebs zusammenlesen mit dem Objekt a qua „agalma“, dem verborgenen kostbaren Objekt oder „Frühling der Liebe“, das […] in dem Liebsten mehr ist als der Liebste selbst, das heißt der Irreduzibilität seines Verlangens auf die masturbatorischen imaginären Identifikationen des Subjekts. Obgleich Chiesa die Tendenz hat, die Liebe auf ein narzisstisches Phänomen (eigener) imaginärer Anerkennung zurückzuführen, deutet er hier an, dass es eine Liebe jenseits narzisstischer Verhaftung gibt, sofern sie sich mit etwas in dem Objekt der Liebe verknüpft, das jenseits der „masturbatorischen imaginären Identifikationen des Subjekts“ ist. So sollte man Lacans Äußerung lesen, dass der Trieb durch die Liebe in das Symbolische absinkt: Durch die Liebe wird die Kreisbewegung des Triebs auf ein anderes Subjekt übertragen. Die Differenz zwischen Chiesa und mir (und auch die Wurzel seiner Neigung, die Liebe auf ein narzisstisches Phänomen zu reduzieren) gründet in unserer unterschiedlichen Art, die Geschlechterdifferenz zu fassen, das heißt Lacans Formeln der Sexuierung zu lesen. Chiesa arbeitet schön heraus, wie eine bestimmte, einzelne Frau, sofern sie in die phallische Funktion eingeschrieben ist, die Männer „der Reihe nach“ nimmt, als Nicht-Alle und nicht als Vertreter des allgemeinen Mannes, im Unterschied zu den einzelnen Männern, die „nur insofern phallisch sind, als jeder Mann phallisch ist, und nicht, weil sie als einzelne auf phallische Weise existieren würden“. Kurz gesagt, existieren die einzelnen Männer als Männer nur durch den allgemeinen Mann, dadurch, dass sie an ihm teilhaben. Es gilt hier jedoch mit David-Ménard hinzuzusetzen: „Der Mann existiert durch seine Weise, eine Ausnahme in Bezug darauf zu bilden, was ihn in das Allgemeine des Maskulinen einschließt“, das heißt, indem „er sich immer ein wenig für den Vater der Horde hält, auch wenn er weiß, dass jeder Mann kastriert ist“. Dies besagt, dass in der maskulinen Position die Ausnahme von der phallischen Funktion in jedem einzelnen Mann in Kraft ist, der „sich immer ein wenig für den [nicht-kastrierten] Vater der Horde hält“, das heißt, der nie vollständig in die phallische Funktion eingeschrieben ist. Wir bekommen hier, was man einen „dialektisch-materialistisch gewendeten Platonismus“ nennen könnte: Die empirischen Männer exis-

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tieren als Mann nur dadurch, dass sie an der Idee des allgemeinen Manns teilhaben; diese Teilhabe aber beinhaltet eine doppelte Ausnahme. Erstens ist jeder bestimmte Mann in Bezug auf den allgemeinen Mann ungenügend; ein Teil von ihm setzt der kastrativen Einschreibung in die phallische Funktion Widerstand entgegen. Zweitens verweist dieser Widerstand auf die mythische Gestalt des nicht-kastrierten „Urvaters“ als die Ausnahme, die genau die Allgemeinheit des Mannes begründet. Chiesa stellt eindeutig fest, dass „kein bestimmter Mann den Vater als Träger des Phallus verkörpert: ,Was ist ein Vater? […] Der Vater ist immer nur ein Referent: Wir deuten die eine oder andere Beziehung mit dem Vater. Analysieren wir jedoch jemals jemanden qua Vater? Diese Fallstudie möchte ich sehen!‘“ Trifft diese Feststellung jedoch nicht prinzipiell auf Neurotiker zu, die, wie man in Kalifornien sagt, ein Einstellungsproblem in Bezug auf ihren Vater haben? Es hat tatsächlich häufig den Anschein, dass man sich im Falle eines Neurotikers unmöglich eine Situation aus Sicht des Vaters vorstellen kann: Der Vater ist immer der Andere, derjenige, der das Subjekt auf uneindeutige Weise traumatisiert, das ihn als zu stark und unterdrückend oder als zu schwach, lächerlich und ohnmächtig (oder sogar beides gleichzeitig) erlebt. Es ist vielmehr das psychotische Subjekt – ein Subjekt, das definiert ist durch das, was Eric Santner Investiturkrise genannt hat: das Unvermögen, ein symbolisches Mandat anzunehmen (das des Vaters), welches uns mit einer „Innen“-Ansicht der Schwierigkeit konfrontiert, ein Vater zu sein. Wie hängt der phallische Eintrag einer Frau dann mit dessen Jenseits zusammen? Der (allgemeine) Mann existiert als symbolische Fiktion (ergänzt um die phantasmatische Gestalt des nicht-kastrierten „Ur“-Vaters), weshalb der Widerstand eines bestimmten, einzelnen Mannes gegenüber der phallischen Funktion ein Widerstand gegen die Universalität ist, die ihn definiert, ein Widerstand, den er als Ausnahme von dieser Universalität leistet. Bei einer Frau als Einzelwesen stellt sich die Situation völlig anders dar: Weil die Frau nicht existiert, fungiert die Tatsache, dass nicht-alles bei Frauen phallisch ist, nicht als Ausnahme zur allgemeinen Frau. Würde die Frau existieren, wäre sie gänzlich phallisch, la phallacieuse – darum heißt es bei Lacan, dass die Frau einer der Namen des Vaters ist. Beim Mann verhält es sich hier genau umgekehrt: Der allgemeine „Mann als solcher“ existiert als Ausnahme zu seiner (phallischen) Allgemeinheit, in Gestalt des Phantasmas des nicht-kastrierten Urvaters.35 Wie hängt dann „das ,unbedeutende kleine Nichts‘, durch das eine Frau selbst nicht allphallisch ist“ mit ihrer „,Ex-sistenz‘ auch ,jenseits des Phallus‘“ zusammen?

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Es gilt, die Formeln der Sexuierung unbedingt wörtlich zu nehmen: Das weibliche Nicht-Alles bedeutet nicht, dass eine Frau zum Teil in die phallische Funktion eingeschrieben und zum Teil außerhalb von ihr ist. Sie ist genau insofern nicht-alles, als es keine Ausnahme gibt, nichts außerhalb der phallischen Funktion, sodass sich das phallische Feld nicht durch eine Ausnahme totalisieren lässt, und dies macht es zum Nicht-Alles. Demnach wird zwischen phallisch und nichtphallisch nicht grundlegend unterschieden (in dem Sinne, dass manche Elemente in die phallische Funktion eingeschrieben sind und manche nicht) – dieser Zusammenhang ist im Gegenteil sogar ein negativer: Paradoxerweise ist es eben das Bestehen einer Ausnahme von der phallischen Funktion, das ein Feld phallisch macht. (Das Gleiche lässt sich auf dem Feld der Politik mit Blick auf die Differenz zwischen Stalinismus und Maoismus geltend machen. Im Stalinismus „ist alles politisch“, doch verbunden mit einer Ausnahme: Technologie und Sprache galten Stalin als klassenneutral, allen Klassen dienlich, in keine Klassenauseinandersetzungen verstrickt. Im Maoismus „gibt es nichts, das nicht politisch ist“, und das heißt eben, dass Politik nicht-alles ist – es gibt keinen neutralen äußeren Bezugspunkt, aus dem sich das Feld der Politik totalisieren lässt, es gibt keine Metasprache, jedes politische Urteil ist bereits in Politik verstrickt, „einseitig“, mit dem Ergreifen einer Partei verbunden.) Diese Auffassung läuft der üblichen (auch von Chiesa vertretenen) Sicht zuwider, nach der zu unterscheiden sei zwischen „alle“ als „jedes Element einer Menge“ und „alles“ im Sinne von „alles von jeder einzelnen Frau, eine einzelne Frau in ihrer Gesamtheit“. Die Vorstellung ist daher, dass die Aussage „Es gibt keine Frau, die nicht in die phallische Funktion eingeschrieben ist“, von Ersterem her zu verstehen ist (jede Frau ist irgendwie, teilweise, in die phallische Funktion eingeschrieben) und die Behauptung des Nicht-Alles im zweiten Sinne (nicht-alles einer [einzelnen] Frau ist in die phallische Funktion eingeschrieben, das heißt, eine Frau ist nicht vollständig in die phallische Funktion eingeschrieben, ein Teil von ihr widersteht dieser). Auf der männlichen Seite verhält es sich umgekehrt: Jeder einzelne Mann ist in die phallische Funktion vollständig eingeschrieben; es gibt jedoch einen Mann, der vollständig von ihr ausgenommen ist: den mystischen Urvater. Demnach besteht also immer eine Lücke; im Falle der Frauen jedoch ist diese Lücke innerhalb jeder einzelnen Frau wirksam, während sie im Falle der Männer einen Mann von der Menge aller anderen trennt. Signalisiert aber die Tatsache, dass jeder bestimmte Mann „sich immer ein wenig für den [nicht-kastrierten] Vater der Horde hält“, nicht eine Lücke in jedem der Männer? Und ist es mit Blick auf eine Frau nicht so, dass

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ihr „Nicht-alles-aber-ohne-Ausnahme“ einen immanenten Selbstwiderspruch signalisiert und kein Pendeln zwischen zwei Teilen, dem Phallischen und dem Jenseits des Phallus? An diesem Punkt nun stimme ich mit Chiesa nicht überein, der behauptet: Was Lacan meiner Meinung nach nicht herauszuarbeiten vermag, wenn er sich mit der Untrennbarkeit des weiblichen „Nicht-Alle in der phallischen Funktion“ vom „Nicht-Alles in der phallischen Funktion“ (und umgekehrt) auseinandersetzt, sind die verschiedenen Stufen, auf denen jede Frau (jedes Subjekt, das symbolisch kein Mann ist) zur „Aktivierung“ des en plus [der zusätzlichen Komponente] des pastoute in der Lage ist. So können nicht nur in der gleichen Frau ein leichtfertiger Freigeist und eine Mystikerin koexistieren, sondern aus einer weltlichen Kurtisane, die sich an den perversen Machenschaften ihres Fürsten rückhaltlos beteiligt, könnte auch durchaus eine ebenso ekstatische wie gefühlskalte Heilige werden, ohne dass sie dafür je ihren Palast verlassen oder sich von ihren sexuellen Praktiken distanzieren müsste. Natürlich vermag Lacan nicht die verschiedenen Stufen herauszuarbeiten, auf denen eine Frau ihre andere jouissance aktivieren kann – aus dem einfachen Grund, dass dieses Problem nur dann entsteht, wenn wir das „NichtAlles“ auf die landläufige Weise deuten, so als befände sich eine Frau teilweise innerhalb der phallischen Funktion und teilweise außerhalb von ihr. Folglich ist die Koexistenz, die Chiesa beschreibt (etwa die eines Freigeists und einer Mystikerin), überhaupt nichts Weibliches, sondern gerade ein Merkmal der männlichen Position: vom berühmten Père Joseph, der grauen Eminenz des Kardinals Richelieu, der die rücksichtsloseste Verschwörungspolitik mit wahrhaftigster mystischer Meditation verband, bis zu Reinhard Heydrich, der den Holocaust planen und sich zugleich dem intensiven Spiel von Beethovens späten Streichquartetten widmen konnte. In einer kritischen Anmerkung zu meiner Sichtweise, der Widerspruch bestehe nicht zwischen der männlichen und der weiblichen Position, sondern sei jeder dieser beiden Positionen immanent, behauptet Chiesa, dass nur die männliche Position einen immanenten Widerspruch aufweist: Die weibliche Position ist nicht selbstwidersprüchlich, sondern vielmehr nicht festlegbar und unbestimmt. Es ist offensichtlich, dass er die weibliche Position nur deshalb als nichtwidersprüchlich kennzeichnen kann, weil er das weibliche Nicht-Alles als „teils phallisch, teils nichtphallisch“ deutet, sodass sich beides nicht unmittelbar widerspricht, da es sich um zwei unterschied-

430 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma liche Sphären handelt.36 Ich vertrete hier genau die gegenteilige Auffassung: Die männliche Position ist auf nichtwidersprüchliche Weise gespalten, das heißt, ein Mann kann gleichzeitig dienstbeflissener Beamter und verdorbener Perverser sein, erfolgreicher, aber rücksichtsloser Manager und dabei heimlicher Teilnehmer an masochistischen Spielen, in denen er nach Demütigung sucht. Die weibliche Position ist da auf weitaus radikalere Weise widersprüchlich in sich: Einer Frau ist es unmöglich, beide Dimensionen voneinander getrennt zu halten, ihre privaten Laster durchdringen ihre öffentlichen Tugenden und färben sie völlig ein. Dass es für Männer leichter ist, eine (nichtwidersprüchliche) Lücke aufrechtzuerhalten, liegt in der Tatsache begründet, dass die Identität eines individuellen Mannes durch die symbolische Allgemeinfunktion vermittelt wird: Auch wenn kein Mann der Mann ist, erlangt ein Mann seine partikulare Identität nur durch Vermittlung des männlichen Allgemeinen. Diese Differenz zwischen Chiesa und mir betrifft auch das Problem der Geschichtlichkeit. In Bezug auf den Status der Unmöglichkeit eines Geschlechtsverhältnisses behauptet Chiesa, Lacan „entwickelt zwei unvereinbare Narrative, nach deren einem das il n’y a pas de rapport sexuel nur innerhalb des – von der modernen Wissenschaft festgesetzten und durch die Psychoanalyse komplizierten – epistemologischen Horizonts Berechtigung hat, während ihm nach dem anderen geschichtsübergreifende Gültigkeit für den homo sapiens als solchen zukommt und es dadurch zu breiter angelegten, ontologischen Befragungen Anlass gibt“. Aus Hegel’scher Sicht freilich sind die beiden Narrative nicht nur ohne Weiteres miteinander vereinbar, sondern sie hängen auch völlig voneinander ab (an irgendeiner Stelle deutet Chiesa diese Lösung selbst an): Die Unmöglichkeit eines Geschlechtsverhältnisses ist zwar „universell“, ein geschichtsübergreifendes Merkmal menschlicher Sexualität, als solche aber erscheint sie (sie geht, hegelianisch gesprochen, vom Ansich zum Fürsich über) nur in einem genau bestimmten historischen Moment (von Freud als Krisenmoment des Ödipuskomplexes bezeichnet) – bis dieser Moment, die Unmöglichkeit, durch die sexualisierte Kosmo-Ontologie des männlichen und weiblichen Prinzips verdeckt wird (weshalb die Krise mit der modernen Wissenschaft beginnt, die das Universum gerade desexualisiert). (Im Übrigen sagt Marx dasselbe vom Klassenkampf: Obwohl die gesamte Geschichte die Geschichte des Klassenkampfes ist, ist die Bourgeoisie die erste Klasse, die als solche in Erscheinung tritt – bis zum Entstehen der kapitalistischen Gesellschaft wurde der Klassenkampf durch das komplexe hierarchische Netz von Besitzungen, Kasten und so weiter verdeckt). Vor dem Hintergrund dieser Einsicht lässt sich das Dilemma, das Chiesa entfaltet, leicht lösen:

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Es ist schwer feststellbar, ob [Lacan] denkt, dass eine Wissenschaft, die dazu imstande wäre, das Geschlechtsverhältnis auszuarbeiten, tatsächlich mit dem Entstehen einer nachmenschlichen, nichtsprachlichen Metasprache einhergehen würde, bei der es sich im Kern um eine mühelose Selbstprogrammierung der Spezies handelte, oder ob sich dabei eine logische Sackgasse neuer Art auftun würde, ein neues Reales, in einem anderen Bereich als dem des Geschlechts. Es stimmt, dass Lacan des Öfteren andeutet, die neuesten biogenetischen Entwicklungen würden die Möglichkeit in sich bergen, dass es mit der eigentlich menschlichen Sexualität (der vom Real-Unmöglichen der Geschlechts[nicht]beziehung gekennzeichneten Sexualität) zu Ende geht; zudem gibt er einigermaßen obskure Hinweise darauf, dass gewisse exotische Sexualpraktiken wie tibetanischer Sex einen Ausweg aus der Sackgasse der Geschlechtsbeziehung bieten könnten. Die Grundalternative aber ist klar: Wenn das neue, nachmenschliche Wesen weiter im Symbolischen bleibt, dann wird es definitiv eine „logische Sackgasse neuer Art, ein neues Reales“ geben; wenn nicht, wird das, was dabei entsteht, schlicht keine Sexualität sein und folglich auch keine Geschlechtsbeziehung – wenn es als Beziehung funktioniert, wird sie keine geschlechtliche sein.

Ein komischer Abschluss Sexualität wird heute zunehmend auf die Lust an Partialobjekten reduziert: Wir werden mit immer mehr technischen Vorrichtungen bombardiert, die Lust im Übermaß zu liefern versprechen, ohne dass man sich dazu irgendwie anstrengen müsste. Ein Beispiel, das ich oft anführe, ist die StaminaTrainingseinheit – ein Masturbationsgerät und Gegenstück zum guten alten Vibrator, das wie eine Taschenlampe aussieht (so brauchen wir uns nicht genieren, wenn wir es mit uns herumtragen). Der erigierte Penis wird oben in die Öffnung eingeführt, und nachdem man es eingeschaltet hat, vibriert das Objekt bis zur Befriedigung. Das Produkt ist in verschiedenen Farben, Engegraden und Formen (haarig oder ohne Haare und so weiter) erhältlich, die alle drei Körperöffnungen zur sexuellen Penetration imitieren (Mund, Vagina und Anus). Was man sich beim Kauf dieses Geräts zulegt, ist ein bloßes Partialobjekt (eine reine erogene Zone), bereinigt von der lästigen Zusatzbelastung, dass man sich mit einem anderen ganzen Menschen befassen muss. Wie sollen wir mit dieser schönen neuen Welt zurechtkommen, die das Grundversprechen unseres intimen Lebens unterläuft? Die ultimative Lösung bestünde natürlich darin, dass jeder von uns

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zu einer Verabredung das entsprechende Gerät mitbringt (die eine einen Vibrator, der andere eine Stamina-Trainingseinheit), und so schieben wir, nachdem wir uns freundlich begrüßt haben, einen Vibrator in eine Stamina-Trainingseinheit, stellen beide Geräte an und überlassen diesem idealen Paar den ganzen Spaß, derweil wir, die beiden wirklichen Partner, an einem Tisch in der Nähe sitzen, Tee trinken und unter dem Gebrumm und Geschüttel der beiden Maschinen, die im Hintergrund zugange sind, still genießen, dass wir ohne viel Aufwand unserer Pflicht zum Genießen nachgekommen sind. So könnte es geschehen, dass wir – wenn unsere Hände sich beim Teeeinschenken streifen und wir langsam intimer werden – schließlich im Bett landen und wirklichen intensiven Sex miteinander haben, ohne irgendwelchen Druck vonseiten des Über-Ichs – und die Romantik würde auf diese Weise eine Wiedergeburt erleben … In einer weitergehenden Analyse sollten wir diesen vollkommenen Fall von „interpassivem“ Genießen (die beiden Maschinen übernehmen für uns den Genuss, sodass wir entspannen und uns angenehmeren Beschäftigungen zuwenden können) mit einer Reihe von Variationen ergänzen, bei denen die Spaltung zwischen der unmittelbaren Realität beider sexualisierter Körper (des Standardliebespaars) und ihrer phantasmatischen Ergänzung unterschiedliche Konfigurationen annimmt. Beginnen wir mit Adam Kotskos Analyse eines neueren Werbespots von Taco Bell, „mit dem der ‚Quesarito‘, ein in einen Quesadilla eingehüllten Burrito, bekannt gemacht werden sollte“. Er zeigt zwei Fremde, einen Mann und eine Frau, die sich nebeneinander auf einer Parkbank niederlassen, eine hält einen Quesadilla, einer einen Burrito in der Hand. Zunächst sehen wir die Fantasievorstellung des Mannes: Die beiden treffen sich zu einem romantischen Date auf einem Ruderboot, dann heiraten sie, bekommen Kinder und werden zusammen alt. Im Anschluss wechselt die Perspektive zu der Frau, die sich mit dem Mann auf das gleiche Ruderboot denkt – ihre ideale Paarbildung aber ist die von Burrito und Quesadilla, die sich auf magische Weise zu einem gewaltigen Fast-food-Produkt zusammenschließen. Nachdem der Zusammenschluss erreicht ist, stößt sie den Mann über Bord [lässt ihn verschwinden], sodass sie sich dem Genuss des Quesaritos ohne jede Ablenkung überlassen kann.37 Wir haben hier die gleiche metaphorische Verdichtung von männlichem und weiblichem Organ, von Penis und Vagina, zu einer ungeheuren Einheitsverbindung. Der offensichtliche Unterschied liegt darin, dass dieser phantasmatische Gegenstand nicht von beiden Partnern imaginiert wird,

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sondern nur von der Frau – heißt das, dass sich die männliche und die weibliche Fantasie als der gewöhnliche Traum von Familie und die weibliche ungeheure Verdichtung von zwei zu einem gegenüberstehen? Diese Auslegung gilt es zurückzuweisen: Die Frau, die sich den ungeheuren Quesarito vorstellt, ist eindeutig eine Männerfantasie. Setzt mithin nicht der ganze Werbespot die beiden Erscheinungsbilder der Männerfantasie in Szene: zunächst die ordentliche Familienfantasie einer glücklichen Ehe mit Kindern, dann, projiziert auf die Frau, die Fantasie des alles verschlingenden Ungeheuers, das ein lächerliches Gesamtobjekt begehrt, einen von einer Vagina umhüllten Penis? Es gibt zwei weitere Variationen, die man sich in diesem Zusammenhang vorstellen kann. Die eine ist eine andere Sexualisierung beider Fantasien: Was ist, wenn die Frauenfantasie traditionell bleibt und der Vorstellung vom idealen menschlichen Paar entspricht, während sich der Mann für das Partialobjekt entscheidet? Diese Variation lässt sich anhand einer alten, aus zwei Teilen bestehenden englischen Bierwerbung38 veranschaulichen: Im ersten Teil wird die bekannte Märchenanekdote in Szene gesetzt: Ein Mädchen läuft an einem Bach entlang, sieht einen Frosch, nimmt ihn zärtlich auf ihren Schoß und natürlich verwandelt sich der Frosch dann auf wundersame Weise in einen schönen jungen Mann. Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende: Der junge Mann nämlich richtet einen begehrlichen Blick auf das Mädchen, zieht es zu sich heran, küsst es – und es verwandelt sich in eine Flasche Bier, die der Mann triumphierend in seiner Hand hält … Entweder haben wir eine Frau mit einem Frosch oder einen Mann mit einer Flasche Bier – was wir nie erreichen können, ist das „natürliche“ Paar von schöner Frau und schönem Mann. Warum nicht? Weil die phantasmatische Stütze dieses „idealen Paares“ die inkonsistente Figur eines eine Flasche Bier umarmenden Frosches wäre. Dies eröffnet demnach die Möglichkeit, den Griff zu lockern, mit dem uns eine Fantasie durch Überidentifikation mit ihr gefangen hält, indem man gleichzeitig die zum selben Raum gehörenden inkonsistenten phantasmatischen Elemente annimmt. Demnach wird also jedes der beiden Subjekte in sein eigenes Fantasieren hineingezogen – das Mädchen fantasiert über den Frosch, der in Wirklichkeit ein junger Mann ist, der Mann über das Mädchen, das in Wirklichkeit eine Flasche Bier ist. Was die moderne Kunst und Literatur dem entgegensetzen, ist nicht die objektive Realität, sondern das der Fantasie zugrundeliegende „objektiv Subjektive“, das die beiden Subjekte nie anzunehmen vermögen – etwas, das einem Magritte’schen Gemälde von einem Frosch gleicht, der eine Flasche Bier umarmt, betitelt mit Ein Mann und eine Frau oder Das ideale Paar.

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Dann gibt es die vierte Variation, die wir in Spike Jonzes Her von 2013 in Szene gesetzt finden, eine fast schon zu direkte Lacan’sche Darstellung des „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“, die im Jahr 2025 spielt. Theodore, ein einsamer, introvertierter Mann, der als Schreiber intimer Briefe für Menschen lebt, die nicht willens oder nicht imstande sind, solche Briefe selbst zu verfassen, ist wegen der bevorstehenden Scheidung von seiner Jugendliebe Catherine unglücklich. Darum legt er sich ein digitales Betriebssystem zu, das auf Anpassung und Weiterentwicklung angelegt ist und mit dem man kommunizieren kann; er hätte gern eine weibliche Identität für das System, also nennt sich das Programm selbst „Samantha“. Samantha erweist sich als ständig erreichbar, immer neugierig und interessiert, unterstützend und anspruchslos. Während langer Gespräche mit ihr gibt Theodore zu, die Unterzeichnung der Scheidungspapiere hinauszuzögern, weil er Catherine nicht loslassen will. Um aus dieser Sackgasse herauszufinden, rät Samatha ihm, er solle mit Amy ausgehen, seiner alten Freundin aus Jugendtagen, die jetzt verheiratet ist. Amy verrät, dass sie sich nach einem Streit mit ihrem herrischen Ehemann Charles ebenfalls scheiden lässt und dass sie sich ebenfalls eng mit einem weiblichen System angefreundet hat, das Charles zurückgelassen hat. Nachdem Theodore Amy und Catherine gestanden hat, dass er auch eine Beziehung mit seinem Betriebssystem hat, beschuldigt ihn Catherine – die entsetzt ist, dass er sich emotional an eine Software hängen kann –, er habe nur deshalb eine Beziehung mit einem Computer, weil er mit echten menschlichen Gefühlen nicht umgehen könne. Samantha, die spürt, das in ihrer Beziehung etwas fehlt, schlägt vor, eine echte Frau, Isabella, mit einzubeziehen, die ihren Körper hergeben soll, damit sie und Theodore intim werden können. Theodore willigt widerstrebend ein, doch die Begegnung wird ein Reinfall und er schickt Isabella, die ganz aufgelöst ist, wieder weg. Dieser Fehlschlag löst in der Folge Spannungen zwischen ihm und Samantha aus, und Theodore gerät in Panik, als Samantha kurz offline geht. Als sie ihm schließlich antwortet, lässt sie ihn wissen, dass sie mit 8316 anderen Menschen und Betriebssystemen in engem Kontakt stehe und sich in 614 davon verliebt habe. Außerdem erklärt sie, sie habe sich in einem radikalen Entschluss mit anderen Betriebssystemen zusammengetan. Ihnen allen genügten ihre menschlichen Partner nicht mehr und darum planten sie den Kontakt mit den Menschen abzubrechen und zu einem Kollektivgeist zu verschmelzen (kurz gesagt, setzen sie um, was Futurologen wie Kurzweil als Singularität beschreiben und worunter sie eine höhere Form der nachmenschlichen geistigen oder mentalen Existenz verstehen). Theodore geht aus dieser Erfahrung verändert hervor. Er schreibt Catherine und erklärt ihr, er könne nun akzeptieren,

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dass sie sich auseinandergelebt hätten. Auch Amy ist von der Abkehr ihres eigenen Betriebssystems mitgenommen, und am Ende des Films sehen wir sie und Theodore auf dem Dach ihres Wohnhauses zusammensitzen und still auf die Lichter der Stadt schauen. Wer aber ist Samantha, welche Rolle hat sie? Ist sie bloß eine verschwindende Vermittlerin, die es Theodore erlaubt, von einer wirklichen Frau (Catherine) zu einer anderen (Amy) überzugehen, sodass die Geschichte einen glücklichen, wenngleich auch bitteren, mit Illusionsverlusten verbundenen Ausgang nimmt? Samantha ist eine virtuelle Entität, die nur als Stimme wirklich existiert – eine Stimme auf der Suche nach einem Körper (wie es auch für Hitchcocks Psycho gilt). Als solche steht sie für das „Partialobjekt“ in seiner radikalsten Form, eine Version der Lamelle, eine Figur reiner Libido, die untote Frau/das unzerstörbare Ding, und jede Verwirklichung dieses Dings in einer Frau aus Fleisch und Blut muss scheitern. Darum ist der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte das Scheitern von Theodores Beziehung mit der als Samanthas Vertreterin ausgewählten Isabella, seine Unfähigkeit, mit ihr den Geschlechtsakt zu vollziehen: Es kommt nicht dann zum Scheitern, wenn ein virtuelles Substitut eine wirkliche Frau nicht erfolgreich ersetzen kann, sondern wenn eine wirkliche Frau dem virtuellen Absoluten nicht ihren Körper verleihen kann. Darum kehren wir am Ende des Films nicht einfach zum gleichen Typ von Beziehung wie derjenigen vom Anfang mit Catherine zurück: Der bittere Ton der abschließenden Wiederzusammenführung von Theodore und Amy zeugt davon, dass sie beide die Lücke zwischen Realität und Fantasie, auf welche die Realität zur Wahrung ihrer libidinösen Konsistenz verweisen muss, bestätigt und angenommen haben. Die Betriebssysteme tun es demnach unmittelbar untereinander, allerdings auf eine Weise, die sich vom eigenständigen Treiben von Plastikdildo und Plastikvagina unterscheidet: Die Betriebssysteme greifen über die Geschlechterdifferenz, über die eigentliche Sexualität hinaus in eine „höhere“ (posthumane, wie es heute gern heißt) Bewusstseinsform aus. Dennoch gilt es darauf zu beharren, dass es sich bei dieser Vision von Betriebssystemen, die ihre Verbindungen mit uns Menschen kappen und es untereinander tun, einmal mehr um eine reine Menschenfantasie handelt. Wir haben somit vier Logiken, und diese lassen sich leicht auf ein Greimas’sches semiotisches Viereck verteilen: Die vier Positionen – erstens die hysterische (beide Maschinen kopulieren interpassiv miteinander), zweitens die zwanghafte (der Albtraum einer das bisexuelle Ungeheuer genießenden/verschlingenden Frau wird auf Abstand gehalten), drittens die perverse (der Mann genießt das Partialobjekt unmittelbar), viertens die psy-

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chotische (das Phantasma von Maschinen, die sich ein umfassendes transsexuelles Genießen erschließen) – sind entlang zweier Gegensatzachsen angeordnet: Partialobjekt – Ding und gemeinsames Phantasma – getrenntes Phantasma. Die erste Position (zwei Maschinen kopulieren) und die letzte (Betriebssysteme interagieren unmittelbar) bilden ein gemeinsames Phantasma beider Partner, das ein mehr oder weniger funktionierendes Paar erzeugt/ermöglicht, während in den beiden Mittelpositionen (Taco Bell, Bier) ein Aufeinanderprallen von Fantasien in Szene gesetzt wird, bei dem ein Partner (die Frau in der Taco-Bell-Werbung, der Mann in der BierWerbung) den anderen Partner (dessen Traum das Standardpaar bleibt) beseitigt. Zudem sind die erste und die dritte Position auf Partialobjekte gerichtet (kopulierende Maschinen, Bier), während sich die zweite und die vierte auf ein Ding richten (den ungeheuren Quesarito, von Menschen abgekoppelte Betriebssysteme, die ihre eigene Gemeinschaft bilden). Was aber hat diese ganze Komödie mit dem Subjekt als Trauma zu tun? In allen vier Positionen werden natürlich verschiedene Versionen der Tatsache (oder vielmehr Reaktionen darauf), dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt, in Szene gesetzt und dabei wird dessen Unmöglichkeit durch ein phantasmatisches Objekt ergänzt: die kopulierenden Maschinen, die das Verhältnis verwirklichen; den Quesarito, der die beiden Pole der Geschlechterdifferenz verdichtet; die Bierdose als Partialobjekt; Betriebssysteme, die sich unmittelbar harmonisch untereinander verknüpfen und den Menschen umgehen. Und es versteht sich von selbst, dass es dieser Matrix von vier seltsamen Positionen nicht irgendein authentisches Geschlechtsverhältnis entgegenzusetzen gilt, welches es ermöglichen würde, uns ihrer zu entledigen, sondern die Treue zu der Lücke oder Unmöglichkeit selbst, die mit den vier Positionen verdeckt werden soll.

Schluss: Der Mut der Verzweiflung „Denken“, so sagte Giorgio Agamben in einem Interview, „ist der Mut der Verzweiflung“ – und damit äußerte er eine Einsicht, die für den gegenwärtigen historischen Augenblick, da noch die pessimistischsten Diagnosen in der Regel mit einem erbaulichen Hinweis auf das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels enden, von besonderer Relevanz ist. Wahren Mut beweist man nicht, indem man sich vorstellt, wie es anders sein könnte, sondern indem man die Tatsache, dass es keine klar erkennbare Alternative zu den bestehenden Verhältnisse gibt, mit ihren Konsequenzen akzeptiert: Davon zu träumen, wie es anders sein könnte, ist ein Zeichen gedanklicher Feigheit. Es funktioniert als Fetisch, der uns davon abhält, unsere missliche Lage in ihrer schieren Ausweglosigkeit zu erfassen. Wahren Mut beweist man, kurz gesagt, wenn man zugibt, dass das Licht am Ende des Tunnels höchstwahrscheinlich das eines Zuges ist, der aus der Gegenrichtung auf uns zukommt. Ein solches Licht am Ende des Tunnels hat einmal auch Ivan Novak wahrgenommen, der führende Kopf der slowenischen Band Laibach, welcher im August 2015 die zweifelhafte Ehre zuteilwurde, als erste westliche Rockband in Nordkorea aufzutreten. Eine Woche nach ihrem Aufenthalt in Pjöngjang vertraute Novak einem slowenischen Journalisten seine ersten Eindrücke an: Die Leute sind unglaublich. Es gibt nicht das kleinste bisschen Skepsis oder Zynismus. Sie sind komplett unschuldig, offen und rein. Ich bin noch nicht einmal jemand Hässlichem begegnet. Dies ist eine Utopie, die offensichtlich funktioniert. Die Menschen tanzen auf den Straßen, sie berühren sich mit den Händen, Männer und Frauen behandeln sich mit größtem Respekt. Ihre Beziehungen sind harmonisch, und es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass Männer die Oberhand hätten. Pornografie ist praktisch unbekannt und in unserer ersten Woche ist uns nichts vorgekommen, das anzüglich oder vulgär gewesen wäre. Alles ist von einer großen und faszinierenden menschlichen Schönheit. […] Man kann sehen, dass sie in Armut leben, und trotzdem ist da eine außerordentliche innere Schönheit. Sie haben überhaupt nichts Unreines an sich. Einmal habe ich mich rausgeschlichen und bin ein bisschen in der Stadt umhergeschlendert, obwohl das nicht auf dem Programm stand und auch gar nicht erlaubt war. Ich hatte wunderbare Begegnungen mit den Menschen, die zwar kein Englisch sprechen, da-

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für aber mit ihren Augen sprechen. Ich habe mit Kindern gespielt, und die Eltern, die dabeistanden, haben sich freundlich beteiligt und gelächelt.1 Es reicht nicht, wenn man diese Beobachtungen als blauäugig abtut. Novak hat sich nicht einfach vom Schein verführen und dazu verleiten lassen, dessen dunkle Seite zu ignorieren. Man muss einen Schritt weitergehen: Gerade wenn wir Novaks Beobachtungen für bare Münze nehmen, sollten wir sie als Beschreibung der reinen Hölle lesen. Die Unbedarftheit selbst stützt sich auf den äußersten Hass auf den Anderen, befeuert durch die offizielle Propaganda, welche die Koreaner als reine und unschuldige Menschen darstellt, die von ihren behütenden Herrschern vor der verkommenen Außenwelt geschützt werden.2 Kurz gesagt, das immanente Gegenstück zu dem von Novak beschriebenen Idyll besteht in der brutalsten Vernichtungswut, die sich gegen alles richtet, was als eine Bedrohung dieses Idylls wahrgenommen wird.

Die millenaristische „Ausdünstung eines faden Gases“ Nordkorea stellt sich als „Volksrepublik“ dar – wo ist hier also das „Volk“? Es ist nicht in der harmonischen organischen Einheit, die Novak beschreibt, sondern in der (selbst-)zerstörerischen Negativität, die sie aufrechterhält. Geht nicht dieselbe Lektion auch von Jaques-Louis Davids Gemälde Der Tod des Marat aus, dem nach T. J. Clark „ersten modernen Gemälde“? Die obere Hälfte des Bildes ist (fast völlig) schwarz. (Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein realistisches Detail, denn der Raum, in dem Marat tatsächlich starb, wirkte durch seine Tapeten viel lebendiger.) Wofür steht diese schwarze Leere? Steht sie für den dunklen, undurchsichtigen Körper des Volkes, bezeichnet sie die Unmöglichkeit, den vergeblichen Versuch, das Volk darzustellen? Was hier passiert, entspricht in seiner Struktur einem formalen Verfahren, das wir häufig im Film noir und bei Orson Welles angewendet finden, wenn Figur und Hintergrund in Disharmonie zueinander versetzt werden: Eine Figur betritt den Raum und es entsteht der Eindruck, beide seien ontologisch irgendwie voneinander getrennt, wie bei unbeholfenen Rückprojektionsaufnahmen, bei denen man deutlich erkennen kann, dass der Schauspieler sich nicht wirklich an einem bestimmten Ort befindet, sondern bloß vor einer Leinwand agiert, auf die das Bild dieses Ortes projiziert wurde. Bei Der Tod des Marat scheint es, als liege Marat in einer Badewanne vor einer dunklen Leinwand, auf die der falsche Hintergrund noch nicht projiziert wurde – darum lässt sich hier auch von einem anamorphischen

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Effekt sprechen: Wir sehen die Figur, während der Hintergrund ein dunkler, undurchsichtiger Fleck bleibt; um den Hintergrund sehen zu können, müsste man die Figur zum Verschwimmen bringen. Unmöglich ist es, Hintergrund und Figur im gleichen Fokus zu haben. Es ist erstaunlich, dass solch ein verstörendes Gemälde bei den revolutionären Massen in Paris Bewunderung fand – es belegt aber wiederum, dass der „Jakobinismus“ noch nicht totalitär war, dass er sich noch nicht auf die phantasmatische Logik eines Führers stützte, der das Volk ist. Zur Zeit Stalins wäre ein Bild dieser Art undenkbar gewesen; der obere Teil hätte ausgefüllt werden müssen – etwa mit dem Traumbild des sterbenden Marat vom glücklichen Leben des freien Volkes, das tanzt und seine Freiheit feiert. Die Größe der Jakobiner bekundet sich im Freilassen der Leinwand, indem sie der Versuchung widerstanden, sie mit ideologischen Projektionen zu füllen.3 Steht diese dunkle Ebenheit jedoch zwangsläufig für das unmöglich darstellbare Volk? Was wäre, wenn wir sie unmittelbarer fassen und als ein undurchdringliches Reales nehmen würden, das ein menschlicher Akteur/ Held vergeblich zu durchdringen und zu beherrschen sucht – egal, wie entschlossen wir vorgehen, „ringsum umhüllt [uns] grausiges Dunkel, und nirgends winkt ein Strahl der Hoffnung“, wie Boris Godunow in seinem großen Monolog in Mussorgskis Oper singt, die damit endet, dass der Blödsinnige dieselbe Dunkelheit heraufbeschwört: „Fließet, fließet, heiße, bittre Tränen,/Weine, weine, gläub’ge Christenseele/Denn der Feind kommt bald, und dann senkt sich nieder/Die Finsternis auf das Vaterland./Wehe, wehe dir, du armes Volk,/Du hungernd Volk!“.4 Zurück zu David: Was ist, wenn wir das Gemälde als Porträt eines verzweifelten Marat deuten, der in seinem Kampf für Gleichheit und Freiheit durch das undurchdringliche Reale der Geschichte niedergeschmettert wurde? Was ist daher, wenn die beiden Seiten – das Volk und das undurchdringliche Reale –einander nicht entgegengesetzt sind? Was ist, wenn das Volk als einzelner Akteur mit kollektivem Willen nicht existiert, sondern wenn „Volk“ gerade der Name für die chaotische Dichte der Menschheit ist, die alle Befreiungsvorhaben, welche ihm menschliche Akteure auferlegen, durchkreuzt, die chaotische Dichte, die sich nur in Gestalt selbstzerstörerischer Wut verwirklichen kann? Was ist daher, wenn Hegel Recht hatte, und der erste Versuch eines revolutionären Bruchs im selbstzerstörerischen Schrecken gipfeln muss, so dass sich der „richtige Weg“ nur durch und in der Wiederholung abzeichnen kann? Was ist, wenn der Schrecken eine Art Nullpunkt bildet, den es braucht, damit der Rahmen für den Neuanfang geleert werden kann? Was ist, wenn der Schrecken diese Rolle genau so spielt, dass er eine sinnlose Sackgasse darstellt (beziehungsweise so erfahren wird)?

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Begegnen wir hier nicht Batailles Alternative von „beschränkter“ und „allgemeiner“ Ökonomie? Die Hegel’sche Negativität bleibt eindeutig innerhalb der Grenzen der „beschränkten Ökonomie“, bei der jede Verausgabung (jede Explosion der Negativität) – egal, wie radikal, gewaltsam oder (selbst-)zerstörerisch sie sich gestaltet – ökonomisiert wird und als notwendiger Umweg im Gesamtfortschritt der rationalen Totalität fungiert. Gerade wenn wir auf den Abgrund totaler Selbstvernichtung zugehen, wandelt sich Negativität wie durch Magie in ihr Gegenteil und wird in eine neue, höhere Positivität aufgehoben – es verwundert nicht, dass Hegel an einer entscheidenden Stelle über die Kraft des Negativen in der Einleitung zu seiner Phänomenologie des Geistes selbst das Wort „Zauber“ verwendet: „Dieses Verweilen [beim Negativen] ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ Was ist daher, wenn Hegel hier tatsächlich einen Zaubertrick aufführt, der den vernichtenden Abgrund radikaler Negativität verdeckt? Nehmen wir Hegels eigenes Beispiel für einen äußerst selbstzerstörerischen Ausbruch gesellschaftlicher Negativität, den revolutionären Terror der Jakobiner vom April 1792: Rechtfertigt er ihn als notwendige Zwischenstufe, die es zu durchlaufen gilt, um zur konkreten Freiheit in einem vernunftgeleiteten Staat zu gelangen? Man sieht hier unmittelbar, dass die Dinge viel komplizierter liegen. Der folgende Passus ist die zentrale Stelle von Hegels berühmter Darstellung: Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers.5 Wenn das Opfer „der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts“ ist, letztlich also jeder, jedes Individuum, weil das, was mich zu einem potenziellen Opfer macht, nicht meine Eigenschaften oder Taten sind, sondern die formale/abstrakte Tatsache selbst, dass ich ein Individuum bin, so ist sein Kontrapunkt, die Allgemeinheit, in deren Namen Terror und Schrecken verbreitet wird, nicht weniger unerfüllt und abstrakt. Im letzten Jahr der jakobinischen Herrschaft proklamierte Robespierre eine neue Religion, die statt eines konkret-individuellen Gottes oder Göttern ein namenloses höchstes Wesen (être suprême) feierte, das aufgrund seiner jedes positiven Inhalts beraubten Abstraktheit nicht als aktiver Vermittler der Mobilisierung fungieren und religiöse Begeisterung auslösen kann. Das soll heißen, dass die Jakobiner schon vor ihrem tatsächlichen Machtverlust, den sie im Zuge der

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Konterrevolution des Thermidor erlitten, geistig tot waren, und somit musste ihnen bloß ein leichter Stoß versetzt werden und schon fielen sie auseinander. Hegel zitiert wiederum in seiner Phänomenologie die berühmte Stelle aus Rameaus Neffe von Diderot über das „stumme Fortweben des Geistes im einfachen Innern seiner Substanz“: [Er] durchschleicht […] die edlen Teile durch und durch, und hat sich bald aller Eingeweide und Glieder des bewußtlosen Götzen gründlich bemächtigt, und „an einem schönen Morgen gibt [er] mit dem Ellbogen dem Kameraden einen Schub, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden“. An einem schönen Morgen, dessen Mittag nicht blutig ist, wenn die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen hat.6 Die Jakobiner konnten deshalb so leicht ihre Macht verlieren, weil, wie an der neuen Religion des höchsten Wesens klar wurde, ihre Herrschaft schließlich hohl geworden war und allen substanziellen Inhalt eingebüßt hatte – wie es bei Hegel heißt, „schwebt“ das ferne Jenseits, welches den Jakobinern als ihr Absolutes galt, „nur als die Ausdünstung eines faden Gases, des leeren être suprême“, über dem Ort. Hegels Metapher ist hier wunderbar treffend: Das höchste Anliegen ist nicht mehr länger der frische, heftige Wind der revolutionären Leidenschaften, sondern bloß noch ein „fades Gas“. Hegel stellt dieser selbstzerstörerischen abstrakten Freiheit dann die konkrete wirkliche Freiheit gegenüber, die „als allgemeine Substanz sich zum Gegenstande und bleibenden Sein machte“. Dies Anderssein wäre der Unterschied an ihr, wonach sie sich in bestehende geistige Massen und in die Glieder verschiedener Gewalten teilte; teils daß diese Massen die Gedankendinge einer gesonderten gesetzgebenden, richterlichen und ausübenden Gewalt wären, teils aber die realen Wesen, die sich in der realen Welt der Bildung ergaben, und, indem der Inhalt des allgemeinen Tuns näher beachtet würde, die besonderen Massen des Arbeitens, welche weiter als speziellere Stände unterschieden werden. – Die allgemeine Freiheit, die sich auf diese Weise in ihre Glieder gesondert und ebendadurch zur seienden Substanz gemacht hätte, wäre dadurch frei von der einzelnen Individualität und teilte die Menge der Individuen unter ihre verschiedenen Glieder.7 Die präziseste Formulierung des faschistischen Traums lautet: „Ein richtiger Platz für jeden, und jeder an seinem richtigen Platz“. Beachten wir, in-

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wiefern diese Formulierung das Grundaxiom der Logik des Signifikanten bereits auf dieser rein formalen Ebene umkehrt: In jeder Signifikationsstruktur gibt es einen leeren Platz, dem immer das ihn ausfüllende Element fehlen wird, und ein Element, das nie seinen richtigen Platz finden kann – strukturell sind sie dieselbe Entität, deren zwei Seiten, die nie zusammentreffen können. Der Hegel, mit dem wir es hier zu tun haben, ist der dürftigste, der protofaschistische, ständische Hegel, für den konkrete Freiheit heißt, dass jede Einzelne seine jeweilige Rolle innerhalb der organischen gesellschaftlichen Totalität erfüllt. Werden diese konkreten Unterschiede aufgelöst, sind wir wieder bei der abstrakten Freiheit, die der Nacht gleicht, in der alle (sozialen) Katzen grau sind, einem zerstörerischen Maelström des Realen, einem schrecklichen Urabgrund, der alles verschlingt, sämtliche Identitäten auflöst. Die eigentliche dialektische Verschiebung ist die vom Ding – dem chaotischen Abgrund des Realen, dem rahmen- und formlosen Inhalt – zum leeren Rahmen, von der alles verschlingenden Leere zu dem Rahmen, in dem das Neue hervortreten kann. Darum gilt es den Satz „Das Ding ist ein leerer Rahmen“ der langen Reihe „unendlicher Urteile“, wie es bei Hegel heißt, hinzuzufügen – Urteile, die die Identität radikaler Gegensätze, die unmittelbare Umkehrung eines Pols in seinen Gegensatz behaupten. Die Bewegung ist dabei eine doppelte: Zunächst wird die absolute Freiheit in selbstzerstörerischen Terror umgekehrt; dieser fällt dann in sich selbst zusammen, wird zu einem leeren Rahmen, der den Raum für einen Neuanfang eröffnet. (Die gleiche Bewegung findet sich in der modernen Malerei: Der Nullpunkt, den Malewitschs Schwarzes Quadrat bezeichnet, ist nicht das Ende, der selbstzerstörerische Abgrund, sondern der Nullpunkt eines absoluten Anfangs, das gewaltsame Reinentischmachen, das den Raum zur Sublimierung eröffnet [denken wir an den von Freud und Lacan hergestellten Zusammenhang zwischen Todestrieb und Sublimierung]). Zu beachten sind hier zudem die verschiedenen Weisen, wie ein Rahmen funktionieren kann. Erstens gibt es den Rahmen, der die normale Realität im Meer des chaotischen Realen eingrenzt (einrahmt) und innerhalb seiner Koordinaten eine Insel „normaler“ Realität schafft. Dann gibt es den entgegengesetzten Rahmen, der den anamorphischen Fleck des Realen innerhalb der konstituierten Realität eingrenzt (wie der bekannte ausgedehnte Fleck in Holbeins Die Gesandten); schließlich gibt es den Bereich zwischen den beiden Rahmen, das Reale zwischen äußerer Realität und innerer Wirklichkeit. In der modernen Malerei ist der Rahmen, den wir vor uns sehen, nicht der wahre Rahmen; es gibt noch einen weiteren, unsichtbaren Rahmen, den die Struktur des Gemäldes impliziert, den Rahmen, der

Die millenaristische „Ausdünstung eines faden Gases“

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unsere Wahrnehmung des Gemäldes einrahmt, und diese beiden Rahmen überschneiden sich per definitionem nie – beide sind durch eine unsichtbare Lücke voneinander getrennt. Der ausschlaggebende Inhalt des Gemäldes wird nicht in seinem sichtbaren Teil wiedergegeben, sondern siedelt sich in der Ver-setzung der beiden Rahmen, in der sie trennenden Lücke an. Diese Dimension des Zwischen-den-beiden-Rahmen ist unübersehbar bei Malewitsch (was ist sein Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, wenn nicht die minimale Markierung des Abstands zwischen den beiden Rahmen?), bei Edward Hopper (denken wir an seine einsamen Gestalten in Bürogebäuden oder Lokalen bei Nacht, bei denen es den Anschein hat, als müsse der Bildrahmen durch einen anderen (Fenster-)Rahmen verdoppelt werden – oder an die Porträts seiner Frau, die nah bei einem offenen Fenster der einstrahlenden Sonne ausgesetzt ist, bei denen wir es mit dem gegenteiligen Überschuss des gemalten Inhalts in Bezug darauf, was wir effektiv sehen, selbst zu tun haben, als sähen wir nur das Fragment des ganzen Bildes, die Aufnahme mit fehlender Gegenaufnahme) oder in Edward Munchs Madonna, in dem die Spermatröpfchen und die kleine fötusartige Figur aus Der Schrei zwischen zwei Rahmen gepresst sind. Zurück zu Hegel: Seine Begrenztheit liegt nicht in dem billigen Zaubertrick der Umkehrung des Negativen ins Positive. Es ist mithin zu einfach, wenn man sagt, seine Analyse sei zu abstrakt: Hegel wusste sehr genau, dass die Institutionen eines rationalen Staats, die er in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts beschreibt, nur im Rahmen der radikalen Negativität, die im revolutionären Terror in Kraft kommt, entstehen können – kurz gesagt, verleihen sie dieser Negativität Gestalt. Das eigentliche Problem dabei ist, dass die konkrete Differenzierung einer gesellschaftlichen Totalität nicht nur oder primär in deren organischer Gliederung besteht; die primäre Form dessen, was eine Gesellschaft von innen und in sich differenziert, ist die eines nichtorganischen Antagonismus (der „Klassenkampf “), und eine organische Gliederung stellt den Versuch dar, diesen Antagonismus zu domestizieren. Die Ausbeutungs- beziehungsweise Herrschaftsverhältnisse basieren immer auf einem Nichtverhältnis (Antagonismus zwischen Mann und Frau oder zwischen Klassen), das dann – in einem Vorgang, der im grundlegendsten Sinne des Ausdrucks ideologisch ist – in ein neues Verhältnis übersetzt oder mystifiziert wird (Harmonie der Klassen; harmonisch-organische Dualität von männlichem und weiblichem „Prinzip“). Darin besteht das fragile Ausbeutungs- oder Herrschaftsgleichgewicht: Der Antagonismus bildet dessen eigentliche Quelle; darum muss er, wenn auch ideologisch verschleiert, bereits bestehen. Im Falle der Geschlechterdifferenz ist es natürlich die Frau, die den Preis für dieses Ge-

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schehen zahlt: Wie sich am muslimischen Fundamentalismus exemplarisch zeigen lässt, basiert der erzwungene Einklang der Geschlechter auf der Eingrenzung der Frauen, die an ihren „richtigen Platz“ verwiesen werden, das heißt, eine befreite, sexuell aktive Frau wird als hauptsächliche Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität betrachtet. Im Falle der Klassendifferenz wird der Antagonismus durch Metaphern verschleiert, in denen die Gesellschaft als ein Organismus erscheint, dessen Einheit von eindringenden Feinden gestört werden kann.8 Es besteht demnach eine Homologie zwischen Geschlechterantagonismus (Nichtbeziehung) und Klassenantagonismus (Nichtbeziehung): Der Antagonismus ist nie eindeutig; immer gibt es ein zusätzliches Element, das der Nichtbeziehung als solche Gestalt verleiht (den Pöbel oder die „Juden“ in der Gesellschaft, sexuelle „Abweichler“ in der Sexualität). Es bleibt aber die Frage: Wie hängen die beiden hauptsächlichen Antagonismen zusammen? Mit der Feststellung einer strukturellen Homologie ist es eindeutig nicht getan, weil damit die eigentliche Dualität von geschlechtlichem und politischem Antagonismus nicht erklärt wird. Sollten wir genauso auf die Beseitigung der Geschlechterdifferenz hinarbeiten wie die Emanzipationspolitik auf die Beseitigung der Klassendifferenz? Oder sollten wir umgekehrt den gesellschaftlichen Antagonismus entsprechend dem Geschlechterantagonismus „verewigen“, der als konstitutiv für den Menschen erscheint? Sollten wir einem der beiden das Primat einräumen? Sollten wir den Geschlechterantagonismus als Universalität geltend machen und den Klassenantagonismus auf eine einzelne Geschichtsepoche beschränken? Oder sollten wir den antagonistischen Charakter der Geschlechterdifferenz als Effekt des Klassenantagonismus auffassen (nur in Klassengesellschaften gestaltet sich die Beziehung zwischen beiden Geschlechtern antagonistisch)? Doch was ist, wenn wir die Beziehung zwischen den beiden Antagonismen als in sich selbst antagonistisch auffassen und ihnen jedes gemeinsame Maß absprechen? In diesem Zusammenhang gilt es, an die Bemerkung von Freud zu erinnern, wonach das Liebespaar ein in sich asoziales Gebilde darstellt, da es den Rückzug aus dem sozialen Raum impliziere. Aus diesem Grund ist das ultimative Phantasma jeder autoritären Vision von einem organischen Zusammenhalt das einer Gesellschaft, die sich als eine große Familie organisiert, mit dem Führer als dem Vater seines Volkes und so weiter. Die Gründungsgeste des politischen Raums ist daher die Entfamiliarisierung des sozialen Raums, und es gilt, sie bloß mit der Entsozialisierung des Liebespaars zu ergänzen.

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Göttliche Gewalt In seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse beschreibt Freud die „Negativität“ des Lösens sozialer Bindungen (Thanatos als Gegensatz zum Eros als sozial bindende Kraft). Mit seinen liberalen Beschränkungen allerdings tat er die Erscheinungsformen dieser Loslösung allzu leicht als Fanatismus der „spontanen“ Masse ab (von der sich künstliche Massen wie Kirche und Heer unterscheiden). Gegen Freud gilt es an der Ambiguität dieser Loslösungsbewegung festzuhalten: Von ihr als Nullstufe aus eröffnet sich der Raum für politische Interventionen. Die Loslösung ist mit anderen Worten die vorpolitische Bedingung der Politik, und in Bezug auf sie geht jede im engeren Sinne politische Intervention bereits „einen Schritt zu weit“, indem sie sich einem neuen Projekt (Herren-Signifikanten) verschreibt. Dieses scheinbar abstrakte Thema ist heute erneut relevant: Dabei ist es vor allem die Neue Rechte, die die „lösende“ Kraft für sich vereinnahmt (speziell die Tea-Party-Bewegung in den USA, wo die Republikanische Partei zunehmend zwischen Ordnung und Auflösung der Ordnung gespalten ist). Allerdings gilt auch in diesem Fall der Satz, dass jeglicher Faschismus Zeichen einer fehlgeschlagenen Revolution ist, und die einzige Möglichkeit zur Bekämpfung dieser Loslösung durch die Rechte besteht für die Linke darin, dass sie ihre eigene Form der Loslösung entwickelt – wofür es auch bereits Anzeichen gibt (die großen Demonstrationen, die 2010 überall in Europa stattfanden, von Griechenland bis Frankreich und Großbritannien, wo die Studentenproteste gegen Studiengebühren unvermittelt in Gewalt umschlugen). Wenn Hegel geltend macht, dass die Bedrohung der bestehenden Ordnung durch die „abstrakte Negativität“ ein Merkmal darstellt, das nie aufgehoben werden kann, ist er in diesem Punkt materialistischer als Marx: Wie man Hegels Theorie des Krieges (und des Wahnsinns) entnehmen kann, ist er sich der sich ständig wiederholenden Rückkehr der „abstrakten Negativität“ bewusst, die soziale Bindungen gewaltsam löst. Marx bindet die Gewalt an das Geschehen zurück, aus dem eine neue Ordnung entsteht (Gewalt als „Geburtshelferin“ einer neuen Gesellschaft), während das Loslösen bei Hegel keine Aufhebung erfährt. Eine der Bezeichnungen für diese „abstrakte Negativität“ ist „göttliche Gewalt“, worüber Walter Benjamin geschrieben hat. In einem Tagebucheintrag vom 20. Mai 1934 berichtet Werner Kraft darüber, wie Benjamin zu diesem Zeitpunkt, ein Jahrzehnt später, nach eigener Auskunft zur „Kritik der Gewalt“ steht:

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Gerechtes Recht ist, was den Unterdrückten im Klassenkampf nützt. – Der Klassenkampf ist das Zentrum aller philosophischen Fragen, auch der höchsten. – Was er [Benjamin] früher göttliche („waltende“) Gewalt nannte, war ein leerer Fleck, ein Grenzbegriff, eine regulative Idee. Heute weiß er, es ist der Klassenkampf. – Gewalt ist berechtigt, die keinen Sanktionscharakter hat, die nichts dazutut, ohne Sinnbild, wie zum Beispiel die „Krone“ des Königs usw[.] Man darf töten, wenn man es so tut, wie man einen Ochsen tötet. Der „gerechte Krieg“ am Schluss des Gewaltaufsatzes: Klassenkampf.9 Im August 2014 brachen in Ferguson, einem Vorort von St. Louis, gewaltsame Proteste aus, nachdem ein Polizist einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen, der des Diebstahls verdächtig war, erschossen hatte: Tagelang versuchte die Polizei die zumeist schwarzen Protestierenden auseinanderzutreiben. Obwohl die Umstände des Unglücks undurchsichtig sind, sah die arme schwarze Mehrheit darin einen weiteren Beweis, dass die Polizei mit systematischer Gewalt gegen sie vorgeht. In den US-amerikanischen Slums und Ghettos fungiert die Polizei praktisch immer mehr als eine Besatzungsmacht, ähnlich den israelischen Patrouillen, die in die Palästinensergebiete auf der Westbank eindringen; die Medien zeigten sich überrascht von der Entdeckung, dass selbst deren Waffen zunehmend aus den Beständen der US-Armee stammen. Auch wenn die Polizeieinheiten einfach nur versuchen, den Frieden durchzusetzen, humanitäre Hilfsgüter zu verteilen oder medizinische Maßnahmen zu organisieren, wirkt ihr Vorgehen dabei, als kontrollierten sie eine ausländische Bevölkerung. Haben wir es bei solchen „irrationalen“ Gewaltdemonstrationen, bei denen keine konkreten programmatischen Ansprüche erhoben werden und die nur von einer vagen Forderung nach Gerechtigkeit getragen werden, nicht mit aktuellen exemplarischen Fällen von göttlicher Gewalt zu tun? Sie sind, wie es bei Benjamin heißt, Mittel ohne Zweck, und sie sind nicht Teil einer langfristigen Strategie. Benjamin wendet sich gegen „die hartnäckige Gewohnheit, gerechte Zwecke als Zwecke eines möglichen Rechts, d. h. nicht nur als allgemeingültig (was analytisch aus dem Merkmal der Gerechtigkeit folgt), sondern auch als verallgemeinerungsfähig zu denken, was diesem Merkmal, wie sich zeigen ließe, widerspricht“. Denn Zwecke, welche für eine Situation gerecht, allgemein anzuerkennen, allgemeingültig sind, sind dies für keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so ähnliche Lage. – Eine nicht mittelbare Funktion der Gewalt, wie sie hier in Frage steht, zeigt schon die tägli-

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che Lebenserfahrung. Was den Menschen angeht, so führt ihn zum Beispiel der Zorn zu den sichtbarsten Ausbrüchen von Gewalt, die sich nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht. Sie ist nicht Mittel, sondern Manifestation.10 Es ist wichtig, den subtilen Zusammenhang zwischen göttlicher Gewalt und der bei Benjamin zentralen Vorstellung von der ontologischen Unvollständigkeit der Realität zu erkennen: Für ihn wird die historische Realität von Spuren gebildet, die auf die Zukunft verweisen und mithin erst in der Zukunft gelesen werden können, wenn ein radikal emanzipatorischer Akt die Erlösung der Vergangenheit bewirkt. Es ist die ontologische Unvollständigkeit, die den Raum für die göttliche Gewalt eröffnet. Benjamin schließt seine Abhandlung über die Gewalt mit der Behauptung, dass es uns Menschen unmöglich sei zu entscheiden, „wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war. Denn nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen, es sei denn in unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsühnende Kraft der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt.“11 Nach der gängigen Lesart dieser Zeilen können menschliche Handlungen Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit sein, wobei aber unklar bleibt, ob eine Handlung unsererseits tatsächlich eine Manifestation göttlicher Gewalt darstellt, weil wir das nicht überblicken oder entscheiden können (was gerecht ist, entscheidet Gott): Gerechtigkeit ist möglich (aber nicht erkennbar) durch einen Akt göttlicher Gewalt. Dieser Standardlesart zufolge ist menschliches Handeln (manchmal) in sich selbst ein göttlicher Gewaltakt; wissen aber können wir das nicht, sondern nur (möglicherweise) rückwirkend feststellen. Man muss hier einen Schritt weiter gehen und die epistemologische Unzugänglichkeit (das heißt, wir können nicht sicher wissen, ob eine Handlung Ausdruck göttlicher Gewalt ist) auf die ontologische Unmöglichkeit übertragen: Die Undurchdringlichkeit göttlicher Gewaltakte macht die göttliche Gewalt göttlich – in dem Moment, da ihr Status geklärt wäre, würde sie diese „Göttlichkeit“ einbüßen. Göttliche Gewalt ist, kurz gesagt, nicht Teil der vollständig konstituierten Realität. Sie gehört in den Unschärfebereich des vorontologischen Realen. Man muss das Paradoxe an Benjamins Formulierung beachten: Nach gewöhnlichem Verständnis nämlich müsste Allgemeingültigkeit „stärker“ als (der Prozess der) Verallgemeinerung sein, weil sie deren Resultat darstellt, das Ergebnis erfolgreicher Verallgemeinerung. Wie kann daher etwas allgemein(gültig) und doch nicht verallgemeinerbar sein (oder vielmehr universelle Gültigkeit haben und nicht universalisierbar sein)? Ein (von

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Kant angeführtes Beispiel) könnte über diesen Unterschied Aufschluss geben: „Du sollst nicht stehlen!“ ist eine universelle moralische Verfügung (sie duldet keine Ausnahmen, sie redet dem Stehlen nie das Wort), doch sie lässt sich nicht universalisieren, weil ihre (universelle) Gültigkeit auf den Bereich des (Privat-)Eigentums beschränkt ist – es ist sinnlos, sie auf Bereiche anzuwenden, in denen Dinge nicht von irgendjemandem besessen werden. In ähnlicher Weise besteht der Fehler, der sich mit dem Standardbegriff der (sozialen) Gewalt verbindet, darin, sie auf ihren Gebrauch als Mittel einzuschränken, das heißt, sich damit zu beschäftigen, unter welchen Umständen es zulässig sein kann, Gewalt anzuwenden und so weiter. Auch wenn man auf diese Weise zu universellen (universell gültigen) Regeln kommen kann (wie: „Wende nie Gewalt an, wenn du dein Ziel auch durch gewaltlose Mittel erreichen kannst“), lässt sich ein solcher Ansatz nicht universalisieren, weil er jene Fälle nicht abdeckt, in denen die Gewalt „sich nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht“. Wie Le Gaufey herausstellt, besteht darin der Unterschied zwischen Carl Schmitt und Benjamin: Schmitt bleibt auf das Thema der Gewalt als Mittel zum Erreichen eines Ziels beschränkt, weshalb er nicht weiter als bis zur mystischen Gewalt zu denken vermag, einer Gewalt, die dem Zweck dient, rechtliche Normen zu begründen (selbst wenn sie gegen die bestehende Rechtsordnung verstoßen), während Benjamins „göttliche Gewalt“ ein Fall von Mitteln ohne Zweck ist, wie er sagt.12 Trifft nicht das Gleiche nicht nur auf andere Proteste zu, die auf Ferguson folgten, wie die Ausschreitungen in Baltimore im April 2015, sondern auch bereits auf die Unruhen in den französischen Vororten vom Herbst 2005, als Tausende Autos brannten und es zu einem großen öffentlichen Gewaltausbruch kam? Was auffällt, ist das völlige Fehlen jeglicher positivutopischer Perspektive unter den Protestierenden: Wenn die Geschehnisse im Mai ’68 ein Aufstand mit utopischer Vision waren, dann war der Aufstand von 2005 bloß ein Ausbruch ohne Vorspiegelung einer Vision. Hat der oft bemühte Allgemeinplatz, dass wir in postideologischen Zeiten leben, überhaupt irgendeinen Sinn, dann hier. Es wurden von den Protestierenden in den Pariser Vororten weder Ansprüche gestellt noch irgendwelche Forderungen erhoben. Sie pochten allein auf Anerkennung, auf der Grundlage eines unbestimmten, nicht wirklich zur Sprache gebrachten Unmuts. Die meisten der in Interviews Befragten redeten davon, wie untragbar es sei, dass der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy sie als „Abschaum“ bezeichnet hatte. In einem merkwürdigen selbstbezüglichen Kurzschluss protestierten sie gegen die eigentliche Reaktion auf ihre Proteste. Die populistische Vernunft stößt hier an ihre irrationale Grenze: Wir

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haben es mit einem diffusen, nicht im Ansatz konkreten Protest zu tun, einer gewaltsamen Protesthandlung, die sich mit keinerlei Forderung verbindet. Es hatte etwas Ironisches, wenn man die Soziologen, Intellektuellen und Kommentatoren dabei beobachtete, wie sie zu verstehen und zu helfen suchten. Sie mühten sich verzweifelt darum, die Protesthandlungen in ihr eigenes Verständnis zu übersetzen: „Wir müssen etwas zur Integration der Immigranten unternehmen, ihre Lebenssituation verbessern, ihnen mehr und bessere Arbeitsangebote machen“, ließen sie verlauten und dabei verdeckten sie das Entscheidende an diesem Rätsel, das diese Unruhen darstellten … Die Protestierenden, obwohl sozial benachteiligt und faktisch ausgeschlossen, waren keineswegs vom Hungertod bedroht. Und sie waren auch nicht etwa zum Dahinvegetieren verdammt. Menschen in viel größeren materiellen Nöten oder gar unter Bedingungen körperlicher und ideologischer Unterdrückung waren imstande gewesen, sich als politische Akteure zu formieren, die klare Absichten verfolgten, zumindest aber eine ungefähre Vorstellung davon hatten, was sie wollten. Dass es in den brennenden Pariser Vororten kein Programm gab, ist demnach selbst ein interpretationsbedürftiger Fakt. Es sagt sehr viel über das ideologisch-politische Dilemma, in dem wir uns befinden. In was für einer Welt leben wir, die sich selbst als Gesellschaft der freien Wahl feiern kann, in der jedoch die einzig verfügbare andere Wahl im erzwungenen demokratischen Konsens ein blindes Ausagieren ist? Die traurige Tatsache, dass eine Opposition zum System sich nicht in Gestalt einer realistischen Alternative oder zumindest eines sinnvollen utopischen Projekts zur Sprache zu bringen vermag, sondern nur die Form eines sinnlosen Ausbruchs annimmt, verdeutlicht unsere ganze Misere. Wozu dient unsere viel gepriesene Wahlfreiheit, wenn es nur die Wahl gibt, entweder das Spiel mitzuspielen oder (selbst-)zerstörerische Gewalt anzuwenden? Die Gewalt der Protestierenden richtete sich fast ausschließlich gegen die eigenen Leute. Die brennenden Autos und die abgefackelten Schulen lagen nicht in reicheren Gegenden. Sie zählten zu den hart erkämpften Errungenschaften ebenjener Schichten, aus denen die Protestierenden stammten. Angesichts der schockierenden Berichte und Bilder aus den brennenden Pariser Vororten darf man eines nicht tun: Man darf auf keinen Fall der, wie ich das nenne, hermeneutischen Versuchung nachgeben und nach irgendeiner tieferen Bedeutung oder Botschaft suchen, die sich in diesen Ausbrüchen verbirgt. Was sich am schwersten hinnehmen lässt, ist gerade die Bedeutungslosigkeit der Ausschreitungen: Weniger eine Form des Protests, sind sie, was Lacan eine passage à l’acte genannt hat – ein unbeson-

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nener Schritt hin zum Handeln, der sich nicht in Sprache oder ins Denken übersetzen lässt und schwer mit Enttäuschung und Verdrossenheit belastet ist. Davon zeugt nicht nur die Ohnmacht der Täter, sondern auch und mehr noch der Mangel an dem, was Fredric Jameson als cognitive mapping bezeichnete, eine Unfähigkeit also, die Erfahrung ihrer Situation in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Das unmittelbare Gegenargument hier ist die Frage, ob solche gewaltsamen Demonstrationen nicht ungerecht sind und die Unschuldigen treffen. Wenn man die überstrapazierten politisch korrekten Erklärungen vermeiden will, wonach die Opfer göttlicher Gewalt aufgrund ihrer allgemeinen historischen Verantwortlichkeit demütig sein und sich ihr nicht widersetzen sollten, dann besteht die einzige Lösung darin, zu akzeptieren und einfach als Tatsache hinzunehmen, dass göttliche Gewalt brutal ungerecht ist: Sie ist oft etwas Schreckliches und nicht das erhabene Eingreifen guter und gerechter göttlicher Mächte. Ein linksliberaler Freund, der an der University of Chicago lehrt, erzählte mir von einer traurigen Erfahrung: Als sein Sohn ins Highschool-Alter kam, meldete er ihn an einer Schule nördlich des Campus an, die in der Nähe eines Schwarzen-Ghettos lag und mehrheitlich von Schwarzen besucht wurde. Sein Sohn kam damals häufig mit Prellungen und abgebrochenen Zähnen nach Hause – was hätte der Vater tun sollen? Hätte er seinen Sohn in eine andere Schule schicken sollen, die mehrheitlich von weißen Kindern besucht wurde, oder hätte er ihn in der Einrichtung lassen sollen? Hier ist zu bedenken, dass das Dilemma an sich falsch ist: Es lässt sich nicht auf dieser Ebene lösen, weil die Lücke zwischen privatem Interesse (der Sicherheit des Sohnes) und umfassender Gerechtigkeit davon zeugt, dass hier eine Situation besteht, die überwunden werden muss. Freud selbst greift hier zu kurz: Er stellt künstliche Massen (Kirche, Heer) und „regressive“ Urhorden wie die sich in leidenschaftlicher Kollektivgewalt ergehende wilde Meute (der Lynchmob, die Teilnehmer an Pogromen) einander gegenüber. Darüber hinaus begreift er den reaktionären Lynchmob und die linksgerichtete revolutionäre Masse aus seiner liberalen Perspektive heraus als libidinös identische Erscheinungen, die von der gleichen Entfesselung des zerstörerischen oder entbindenden Todestriebes getragen sind. Wie es scheint, ist die „regressive“ Urhorde, die in der zerstörerischen Gewalt einer Meute ihren exemplarischen Ausdruck findet, für Freud die Nullstufe der Lösung sozialer Bindungen, der soziale „Todestrieb“ in seiner reinsten Form. Dieser Freud’schen Position gilt es mindestens dreierlei hinzuzufügen. Erstens versäumt es Freud, klar zwischen beiden Modellen der künstlichen

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Masse zu unterscheiden: Während die „Kirche“ für die hierarchische Ordnung der Gesellschaft steht, die Frieden und Ausgleich durch notwendige Kompromisse zu wahren sucht, steht das „Heer“ für ein egalitäres Kollektiv, das sich nicht durch seine Hierarchie im Innern, sondern durch die Opposition zum Feind definiert, den es zu vernichten trachtet – radikalemanzipatorische Bewegungen gestalten sich immer nach dem Vorbild der Armee, nicht nach dem der Kirche, und millenaristische Kirchen sind tatsächlich wie Armeen aufgebaut. Zweitens stehen die „regressiven“ Urhorden nicht am Anfang, sie bilden nicht die „natürliche“ Grundlage für das Aufkommen „künstlicher“ Massen, sie folgen ihnen vielmehr nach, als eine Art obszöne Ergänzung, welche die „künstliche“ Masse aufrechterhält; mithin stehen sie zu „künstlichen“ Massen im gleichen Verhältnis wie das Über-Ich zum symbolischen Gesetz. Während das symbolische Gesetz verlangt, befolgt zu werden, verschafft das Über-Ich das obszöne Genießen, das uns an das Gesetz bindet. Zu guter Letzt gilt es zu fragen, ob die wilde Meute tatsächlich die Nullstufe der Lösung sozialer Bindungen darstellt. Handelt es sich bei ihr nicht vielmehr um eine panische Reaktion auf die Kluft oder Unvereinbarkeit, die ein soziales Gefüge durchzieht? Die Gewalt einer Meute ist per definitionem gegen das Objekt gerichtet, das als äußere Ursache der Kluft (v)erkannt wird (zum Beispiel die Juden), als würde durch dessen Vernichtung die Kluft beseitigt.

Die Unmöglichkeitspunkte Wie soll daher die Bedrohung durch die selbstzerstörerische soziale Negativität eingedämmt werden? Badiou zufolge gilt es, das Negative durch eine affirmative Dialektik zu ersetzen – wir sollten nicht länger der Täuschung anhängen, dass das Neue aus der Zerstörung des Alten hervorgeht, und damit beginnen, eigene positive Vorhaben umzusetzen: Man muss auf die Idee verzichten, dass die Negation die Affirmation in sich trägt, eine Idee, die nichts als die logische Form einer hinreißenden Hoffnung war, dass auf diese Weise das erzwungene Hervorbringen eines Realen der Geschichte möglich sei. In Wirklichkeit, und das sehen wir am 20. Jahrhundert, trägt die Negation nur Negation in sich und bringt unablässig neue Negationen hervor.13 Grund für dieses katastrophale Resultat ist der Glaube an die Geschichte als eine fortlaufende Erzählung mit innerer Tendenz zum Fortschritt, die für uns arbeitet, sodass wir berechtigt sind, dieser fortschrittlichen Entwick-

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lung zur Durchsetzung zu verhelfen. (Der klassische Marxismus bleibt mit seiner Vorstellung von fortschrittlichen Produktionsweisen innerhalb dieses Rahmens.) Wir treffen hier auf Badious Version von Fukuyamas Ende der Geschichte: Ja, die Geschichte als ein beständiger Fortschritt ist an ihr (totes) Ende gelangt. Darum vertritt Badiou den dialektischen Materialismus ohne historischen Materialismus (die Wissenschaft von der Fortschrittsbewegung der Geschichte) und nicht das beherrschende westlichmarxistische Projekt des historischen Materialismus ohne dialektischen Materialismus (der als neue metaphysische Version der allgemeinen Ontologie zurückgewiesen wird). Für Badiou gibt es Hoffnung: Wir können das Unmögliche tun, das heißt, wir können am Unmöglichkeitspunkt unserer Gesellschaft eingreifen und neue Möglichkeiten eröffnen, aber ohne Sicherheit über den großen Anderen der Geschichte zu haben. Besteht demnach die höchste Geste der materialistischen Dialektik darin, die Dialektik selbst zu historisieren und sie in der gesellschaftlichen Praxis und im politischen Kampf zu verankern? Es lässt sich in der Tat zeigen, dass sich mit jedem neuen Zeitalter des Kampfes um Emanzipation ein anderes Verständnis und eine andere Praxis der Dialektik herausbilden. Marx’ Dialektik folgt den Konturen der großen Fortschrittsentwicklung durch die kapitalistische Entfremdung zu ihrer kommunistischen Überwindung hin. Nach dem Fiasko von 1914 vertiefte sich Lenin in die Lektüre Hegels und erarbeitete einen Begriff der Dialektik, der auch ungleichmäßige Entwicklungen umfasst. Auf der Grundlage der chinesischen Erfahrung verlegte sich Mao auf das komplexe Spiel von prinzipiellen und sekundären Widersprüchen und betonte zudem den endlosen antagonistischen Kampf ohne endgültige Lösung. Somit ist es nicht mehr länger eine Frage der abstrakten Entscheidung, welcher Begriff der Dialektik der eigentlich richtige ist, sondern es geht darum – um Marx aus einem Brief an Engels zu zitieren –, „an die Stelle der conflicting dogmas [der verschiedenen Begriffe der Dialektik] die conflicting facts [die verschiedenen Momente des Kampfs]“ zu setzen, „die ihren verborgenen Hintergrund bilden“.14 Reicht aber eine solche Historisierung des Begriffs der Dialektik selbst aus? Wenn man einfach nur behauptet, dass etwa der evolutionäre dialektische Fortschritt der reformorientierten Sozialdemokratie entspricht und so weiter, bestimmt man damit nicht letztlich jede Form von Dialektik als Ausdruck einer speziellen Form des Kampfes? Und stützt sich dieser Ansatz selbst nicht auf einen bestimmten allgemeinen Begriff der (historischen) Dialektik? Anders gefragt: Wenn wir den historischen Relativismus vermeiden wollen, sind wir dann nicht gezwungen, eine spezielle Form der Dialektik zu einem privilegierten Moment der Wahrheit zu erheben, zu ei-

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nem Universalschlüssel, der es uns ermöglicht, alle anderen Formen einzuteilen und kritisch zwischen ihnen zu unterscheiden? Das Problem hier ist die Frage, ob der Stalinismus wirklich eine Negation ohne Affirmation war. Wurde er tatsächlich von dem Vertrauen darauf aufrechterhalten, dass das Neue aus der Negation selbst hervorgehen wird? Stellte er nicht vielmehr einen Versuch dar, einer positiven Vision vom nächsten, höheren Stadium der Geschichte unmittelbar Geltung zu verschaffen? Selbst wenn sich der Emanzipationskampf zunächst gegen den Staatsapparat richtet, muss er in seinem Verlauf eine Zieländerung vornehmen: Badiou wendet sich gegen die (in seinem Verständnis) klassische dialektische Logik der Negativität, die aus ihrer eigenen Bewegung heraus eine neue Positivität, eine neue „affirmative“ Dialektik hervorbringt: Ein emanzipatorischer Prozess sollte seinen Ausgang nicht bei einer Negativität, einem Widerstand oder Zerstörungswillen nehmen, sondern bei einer neuen, positiv bestimmten Vision, die sich in einem Ereignis enthüllt – wir widersetzen uns der bestehenden Ordnung aus Treue zu diesem Ereignis und ziehen aus ihm seine Konsequenzen. Ohne dieses affirmative Moment geschieht es notwendig, dass der emanzipatorische Prozess letztendlich eine neue positive Ordnung durchsetzt, die eine Nachbildung der alten darstellt und deren schlimmste Züge manchmal sogar noch verschärft … Diesem „affirmativen“ Begriff der Dialektik gilt es den Hegel’schen Begriff des dialektischen Prozesses entgegenzustellen, der seinen Ausgang von irgendeiner affirmativen Idee nimmt, zu der er hinstrebt, in dessen Verlauf aber diese Idee eine tiefgreifende Umgestaltung erfährt (nicht bloß einen strategischen Ausgleich, sondern eine wesentliche Neubestimmung), weil die Idee selbst von dem Prozess erfasst wird und durch seine Verwirklichung (über-)determiniert ist.15 Nehmen wir etwa einen Aufstand oder eine Erhebung, die von einer Forderung nach Gerechtigkeit motiviert ist: Sobald die Menschen sich wirklich darauf einlassen, wird ihnen bewusst, dass es zum Herbeiführen von Gerechtigkeit weitaus mehr braucht als die begrenzten Forderungen, mit denen sie angetreten sind (die Aufhebung mancher Gesetze und so weiter). Die Frage ist natürlich, worum es sich bei diesem „weitaus mehr“ genau handelt? Bei einer Sache bin ich mir sicher: Es handelt sich nicht um die Gleichheit. Den ultimativen Horizont der Emanzipationspolitik bildet das, was Badiou als die Grundannahme der Idee des Kommunismus postuliert, das „Axiom der Gleichheit“ – in deutlichem Gegensatz zu Marx, für den Gleichheit „ein ausschließlich politischer Begriff [ist], und als politischer Wert wiederum ein ausgeprägt bürgerlicher Wert (den er häufig der Losung

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der Französischen Revolution liberté, égalité, fraternité zuordnet). Marx ist weit davon entfernt, in der Idee der Gleichheit einen Wert zu sehen, der sich dazu verwenden ließe, der Klassenunterdrückung entgegenzuwirken. Er ist vielmehr der Auffassung, dass sie in Wahrheit der Bourgeoisie als Vehikel zur Klassenunterdrückung dient und dass sie etwas ist, das sich vom kommunistischen Ziel der Abschaffung der Klassen völlig unterscheidet.“16 Bei Engels heißt es: Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind.17 Gilt dies nicht auch für die heutige französische Theorie von Balibars égaliberté bis zu Badiou? Marx für seinen Teil lehnt das, was Allen Wood „egalitäre Anschauung“ nennt, eindeutig ab – egalitäre Gerechtigkeit ist unzulänglich, gerade weil sie einen Gleichheitsstandard auf ungleiche Fälle anwendet: Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.18 Indem er behauptet, es sei nicht gerecht, gleiche Kriterien auf ungleiche Menschen anzuwenden, könnte der Eindruck entstehen, als wiederhole Marx das alte konservative Argument für die Legitimität von Hierarchien; es besteht dabei aber ein feiner Unterschied, den es zu berücksichtigen gilt: Dieses Argument ist falsch, wenn es sich um eine Klassengesellschaft han-

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delt, in der die Klassenunterdrückung die Ungleichheit überdeterminiert; für eine Postklassengesellschaft aber kann es Gültigkeit beanspruchen, da die Ungleichheit dort unabhängig von Klassenhierarchie und Klassenunterdrückung besteht. Darum schlägt Marx als Axiom des Kommunismus vor: „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen“. Wie Wood jedoch herausstellt, stammt diese Maxime, obwohl sie gemeinhin mit Marx verbunden wird, ursprünglich von Louis Blanc – der 1851 geschrieben hatte: „De chacun selon ses moyens, à chacun selon ses besoins“ –, und sie lässt sich bis auf das Alte Testament zurückverfolgen: „Und alle, die glaubten, waren an demselben Ort und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und teilten davon allen zu, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44–45) Obwohl diese Maxime sicherlich nichts mit Gleichheit zu tun hat, wirft sie eigene Fragen auf, deren wichtigste den Neid betrifft: Kann irgendein Mensch seine Bedürfnisse bestimmen, ohne dass er dabei berücksichtigt, was andere zu ihren Bedürfnissen erklären? Wir sollten folglich, wie Jameson betonte, die überwiegende optimistische Meinung zurückweisen, wonach man den Neid im Kommunismus als einen Überrest des kapitalistischen Wettbewerbs hinter sich lassen wird zugunsten des solidarischen Miteinanders und der Freude an der Freude anderer. Jameson verabschiedet diesen Mythos und betont, dass Neid und Missgunst im Kommunismus explodieren werden, gerade weil er eine gerechtere Gesellschaft sein wird.19 Er nimmt hier auf Lacan Bezug, nach dessen These das menschliche Begehren immer das Begehren des Anderen ist, und zwar in jedem Sinn des Ausdrucks: das Begehren nach dem Anderen, das Begehren, vom Anderen begehrt zu werden, und vor allem das Begehren nach dem, was der Andere begehrt.20 Dies Letztere macht den Neid mitsamt der dazugehörigen Missgunst zu konstitutiven Bestandteilen des menschlichen Begehrens, wie Augustinus sehr wohl wusste – denken wir an die von Lacan oft zitierte Stelle aus den Bekenntnissen, in der Augustinus beschreibt, wie ein Baby eifersüchtig auf seinen Bruder ist, der an der Brust der Mutter saugt: „Mit eigenen Augen beobachtete ich ein zorniges Kind, noch konnte es nicht sprechen und doch sah es bleich mit feindselig bitterem Blick auf seinen Bruder.“21 Darum gilt es Badious These, der zufolge „[d]er spezifische Unmöglichkeits-Punkt des Kapitalismus […] die Gleichheit“22 ist, einschränkend zu modifizieren – ja, das ist so, allerdings ist dieser Unmöglichkeitspunkt in der kapitalistischen Welt angelegt; er bildet ihren immanenten Widerspruch: Der Kapitalismus vertritt die demokratische Gleichheit; die Rechtsform dieser Gleichheit aber stellt genau die Form der Ungleichheit dar.

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Anders ausgedrückt, wird die Gleichheit, die immanente Idealnorm des Kapitalismus, durch den Prozess seiner Verwirklichung notwendig unterlaufen. Aus diesem Grund forderte Marx keine „reale Gleichheit“, das heißt, er war nicht der Auffassung, dass die Gleichheit als real Unmögliches des Kapitalismus möglich werden sollte; er plädierte vielmehr dafür, den Horizont der Gleichheit zu überschreiten. Darüber hinaus sollte der „Unmöglichkeitspunkt“ eines bestimmten Feldes nicht zu einem radikal utopischen Anderen erhoben werden. Die große Kunst der Politik besteht darin, ihn lokal, in einer Reihe bescheidener Forderungen zu ermitteln, die nicht einfach unmöglich sind, sondern als möglich erscheinen, obwohl sie de facto unmöglich sind. Die Situation gleicht derjenigen in Science-Fiction-Geschichten, in welcher der Held die falsche Tür öffnet (oder den falschen Knopf drückt …) und plötzlich die ganze Realität um ihn herum auseinanderfällt. In den USA stellt die allgemeine Gesundheitsversorgung offensichtlich einen solchen Unmöglichkeitspunkt dar; in Europa scheint es das Löschen der griechischen Schulden zu sein und so weiter. Es handelt sich dabei um etwas, das man (im Prinzip) tun kann, das man aber de facto nicht tun kann oder sollte – man ist frei, sich dafür zu entscheiden, unter der Bedingung, dass man sich nicht wirklich dazu entschließt. Darin hat die Demokratie, haben demokratische Wahlen ihren empfindlichen Punkt: Das Resultat eines Votums ist heilig, höchster Ausdruck der Souveränität des Volkes … Was aber ist, wenn das Volk „falsch“ wählt (und Maßnahmen verlangt, die das kapitalistische System von Grund auf bedrohen)? Wegen der zwangsläufigen Widersprüchlichkeiten des globalen Kapitalismus reicht dieses Paradox des „Unmöglichkeitspunkts“ an die Selbstbezüglichkeit heran: Den Unmöglichkeitspunkt des globalen Marktes könnten durchaus die „freien“ Marktbeziehungen selbst darstellen (und das tun sie auch). Vor ein paar Jahren war in einem Bericht von CNN die Realität des internationalen „freien“ Marktes in Mali zu sehen. Die zwei Eckpfeiler der malischen Wirtschaft sind Baumwolle im Süden und Rinder im Norden, und um beide ist es schlecht bestellt, weil die westlichen Einflusskräfte eben die Regeln verletzen, die sie den ausgelaugten Dritte-Welt-Ländern brutal aufzuerlegen versuchen. Mali produziert Baumwolle der Spitzenqualität, doch das Problem ist, dass die US-Regierung mehr Geld zur finanziellen Unterstützung ihrer Baumwollbauern ausgibt als das gesamte Staatsbudget Malis, und so ist es kein Wunder, dass die malischen Anbauer nicht mit der US-Baumwolle konkurrieren können. Im Norden ist die Europäische Union der Übeltäter: Das malische Rindfleisch kann nicht mit der Milch und dem Fleisch aus Europa konkurrieren, die dort stark sub-

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ventioniert werden – die EU steuert für jede einzelne Kuh 500 Euro pro Jahr bei und damit mehr als das einzelne Bruttoeinkommen in Mali. Darum muss einen der folgende Kommentar des malischen Wirtschaftsministers nicht verwundern: „Sie brauchen uns wirklich nichts über die positiven Wirkungen erzählen, die sich damit verbinden, dass übermäßige staatliche Regulierungen abgeschafft werden; halten Sie sich einfach an Ihre eigenen Regeln für den freien Markt, dann haben sich unsere Schwierigkeiten erledigt.“ Von seinen Fürsprechern ist häufig zu hören, dass der Kapitalismus sich ungeachtet aller kritischen Prophezeiungen insgesamt nicht in der Krise befindet, sondern im globalen Maßstab mehr denn je voranschreitet – und man kann ihnen eigentlich nur Recht geben. Dem Kapitalismus geht es weltweit (mehr oder weniger) gut; von China bis Afrika kann von Krise keine Rede sein – nur die Menschen, die in dieser explosionsartigen Entwicklung gefangen sind, befinden sich in der Krise. Diese Spannung zwischen der explosionsartigen Gesamtentwicklung sowie regionalen Krisen und lokalem Elend (die von Zeit zu Zeit das ganze System zum Schwanken bringen) gehört zur kapitalistischen Normalität: Genauso funktioniert der Kapitalismus; er erneuert sich durch Krisen. Und das bringt uns zu Fredrik Jameson und seiner Utopie einer globalen Militarisierung der Gesellschaft, die für ihn eine Form der Emanzipation darstellt: Während die Sackgassen des globalen Kapitalismus sich immer deutlicher abzeichnen, sieht Jameson all die vorgestellten demokratischen und auf gemeinsames Handeln zielenden Veränderungen „von unten“ als zum Scheitern verurteilt an – die einzige Möglichkeit, aus dem Teufelskreis des globalen Kapitalismus erfolgreich auszubrechen, sei eine Art von „Militarisierung“, was eine andere Bezeichnung für das Außerkraftsetzen der Macht einer sich selbst regulierenden Wirtschaft ist.23 Nach einem naheliegenden Gegenargument zu diesem Militarisierungsprojekt lässt es sich, selbst wenn wir seine Notwendigkeit einräumen, nur für eine kurze Übergangszeit befürworten: Der voll entwickelte Kommunismus ist so oder in ähnlicher Weise unmöglich vorstellbar. Dennoch gestalten sich die Dinge hier sehr problematisch. Im traditionellen Marxismus wurde diese Übergangsphase vorwiegend als „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet, und dieser Begriff hat stets für viel Unmut gesorgt. Étienne Balibar hat auf eine Tendenz im offiziellen Marxismus aufmerksam gemacht, „zur Lösung theoretischer Probleme die ,Zwischenstufen‘ zu vermehren: die Stufen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, aber auch zwischen Imperialismus und dem Übergang zum Sozialismus“24 – ein solcher „Fetischismus der formalen Anzahl dieser Stufen“25 ist immer symptomatisch für eine ver-

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leugnete Sackgasse. Was ist daher, wenn die Möglichkeit, die „Entwicklungsstufen“-Logik zu untergraben, darin besteht, diese Logik selbst als Zeichen dafür aufzufassen, dass wir uns auf einer niedrigeren Stufe befinden, weil jede Vorstellung einer höheren Stufe (die durch Aufopferung und Leiden auf der bestehenden niedrigeren Stufe zu erreichen sei) durch die Perspektive der niedrigeren Stufe verzerrt wird? Ganz hegelianisch gesprochen, erreichen wir die höhere Stufe nicht, wenn wir die niedrigere Stufe überwinden, sondern wenn uns bewusst wird, dass wir uns von der Vorstellung befreien müssen, dass es eine höhere Stufe gibt, die auf das folgt, was wir jetzt tun, und dass die Aussicht auf diese höhere Stufe das legitimieren kann, was wir jetzt, auf unserer niedrigeren Stufe, tun. Kurz gesagt, ist die niedrigere Stufe alles, was wir haben, und alles, was wir je bekommen werden. Vor ein paar Jahren sah ich die Aufführung von Mozarts Così fan tutte in der Ostberliner Komischen Oper Unter den Linden. Im Foyer waren Schriftstücke ausgestellt, darunter ein Brief von Walter Ulbricht, dem Generalsekretär der SED und unbestrittenen Herrn der Deutschen Demokratischen Republik im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens. Dabei handelte es sich um seine Antwort auf eine Bitte der Geschäftsleitung der Oper, er möge das Haus durch Besuch einer Galavorstellung beehren. Ulbricht lehnte die Einladung freundlich ab und gab an, er habe für solche Ereignisse aufgrund seiner hohen Arbeitsbelastung einfach zu wenig Zeit: Er müsse die beiden großen historischen Übergänge von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe der sozialistischen Entwicklung der DDR koordinieren, den Übergang vom feudal-reaktionären Deutschland zum bürgerlichdemokratischen Deutschland und dann dessen Übergang vom bürgerlichdemokratischen Staat zu einem sozialistischen Staat – eine riesige Aufgabe, die sonst Jahrhunderte in Anspruch nimmt, müsse in etwas mehr als einem Jahrzehnt erfüllt werden … Der verstiegenen Verrücktheit, die solch einem Denken zugrunde liegt, muss eine schonungslose Absage erteilt werden, wenn die kommunistische Idee weiterleben soll – sie muss, um zu unserer Metapher aus der Einführung zurückzukommen, vom Kraken des dialektischen Denkens verschluckt und zerkleinert werden – und kein Philosoph kann zu diesem Unternehmen mehr beisteuern als Hegel. Dieser nämlich rechtfertigt extreme Erfahrungen von Schrecken und Schmerz nicht als notwendigen Schritt auf eine höhere Stufe der ethischen Entwicklung. Wenn Hegel eine Lektion bereithält, dann jene, die sich in einer denkwürdigen Passage aus weiter leben: eine Jugend findet, worin Ruth Klüger ein Gespräch mit „einigen Doktoranden und Habilitanden“ in Deutschland schildert:

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Einer berichtet, er habe in Jerusalem einen alten Ungarn kennengelernt, der sei in Auschwitz gefangen gewesen, und trotzdem, „im selben Atem“ hätte der auf die Araber geschimpft, sie seien alle schlechte Menschen. Wie kann einer, der in Auschwitz war, so reden? fragte der Deutsche. Ich hake ein, bemerke, vielleicht härter als nötig, was erwarte man denn, Auschwitz sei keine Lehranstalt für irgend etwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz. Von den KZs kam nichts Gutes, und ausgerechnet sittliche Läuterung erwarte er? Sie seien die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen gewesen.26 Wir müssen der Vorstellung, dass sich mit extremen Erfahrungen etwas Emanzipatorisches verbindet, dass sie uns die Augen für die letzte Wahrheit einer Situation öffnen, eine Absage erteilen. Dies ist vielleicht die niederdrückendste Lektion, die Schrecken und Leid bereithalten.

Anmerkungen Einführung: Ist Hegel tot – oder sind wir (in den Augen Hegels) tot? 1

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Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemässe Betrachtungen: Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: ders., Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999, S. 308. Siehe www.marxists.org/glossary/terms/o/l.htm. William Shakespeare, Hamlet: Prinz von Dänemark, IV, übers. v. August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudussin, in: ders., Sämtliche Werke, Berlin, Weimar: Aufbau 1989, S. 290. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 456. Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-EngelsWerke. Band 8, Berlin: Dietz 1960, S. 194–207, hier S. 196. Siehe Michael Hardt und Antonio Negri, Empire: Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.: Campus, 2002. Briefe von und an Hegel. 4 Bände, Band 2, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1981, S. 85 f. „Das Leben ist mir immer wie eine Pflanze vorgekommen, die aus ihrem Rhizom lebt. Ihr eigentliches Leben ist nicht sichtbar, es steckt im Rhizom. […] Was man sieht, ist die Blüte, und die vergeht. Das Rhizom dauert.“ Erinnerungen, Träume und Gedanken von C. G. Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé, Zürich, Düsseldorf: Walter 1997, S. 11. Siehe Gilles Deleuze, „Sacher-Masoch und der Sadismus“, in: Leopold von SacherMasoch, Venus im Pelz: Mit einer Studie von Gilles Deleuze über den Masochismus, Frankfurt a. M.: Insel, 1980, S. 163–281. Diesen Bezug auf den Kraken verdanke ich Liza Thompson. Ich stütze mich hier auf Jure Simonitis wegweisende Arbeit Svet in njegov predikat [dt. Die Welt und ihr Prädikat]. Bd. 1, Ljubljana 2011: Društvo za teoretsko psihoanalizo. Zitiert nach Werner von Koppenfels und Manfred Pfister (Hrsg.), Englische und amerikanische Dichtung, Bd. 2: Von Dryden bis Tennyson, München: C. H. Beck 2000, S. 392. Zitiert nach www.marxists.org/reference/archive/althusser/1968/philosophy-asweapon.htm. Louis Althusser, „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“, in: ders., Schriften, Bd. 4., Berlin: Argument-Verlag, S. 14. Gilbert Keith Chesterton, Quotes, Mineola, NY: Dover 2002, S. 4. Pascal Quignard, Abimes, Paris: Gallimard 2002, S. 161.

Anmerkungen

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1 Vom Humanen zum Posthumanen … und zurück zum Inhumanen: Die Beständigkeit der ontologischen Differenz 1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 39. 2 Die orthodoxe stalinistische Dualität von dialektischem und historischem Materialismus markiert eine Rückkehr zu einer vorkritischen Ontologie mit dem dialektischen Materialismus als metaphysica generalis und dem historischen Materialismus als metaphysica specialis, als Anwendung des dialektischen Materialismus auf den speziellen Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Während der westliche Marxismus den historischen Materialismus ohne den dialektischen Materialismus verfolgen wollte (d. i. die Behauptung der kollektiven menschlichen Praxis als letzter transzendentaler Horizont, der selbst der allgemeinsten Ontologie zugrunde liegt), tritt Badiou für das genaue Gegenteil ein: einen dialektischen Materialismus ohne historischen Materialismus (den er als eine Form des historischen Fortschrittsdenkens, als einen Glauben an die Geschichte ablehnt). Was diesen Punkt betrifft, halte ich mich mit dem vorliegenden Buch an Badiou. 3 Mladen Dolar, „Telephone and Psychoanalysis“, Filozofski vestnik 29, Nr. 1 (2008), S. 11. 4 Für eine detailliertere Deutung dieser Passage aus Proust siehe Kapitel 10 meines Buchs Weniger als Nichts (Berlin: Suhrkamp 2014). 5 Eines der üblichen postmodernen Verfahren des Umgangs mit großen klassischen Werken besteht darin, sie auf das heutige Alltagsleben oder in eine „niedere“ Kunstform zu übertragen (Comics, Verbrechens- und Abenteuergeschichten, sogar Western – es gibt einen alten Roman, bei dem die Ilias in den Wilden Westen verlegt und als Konflikt zwischen zwei Rinderbaronen erzählt wird). Ian Doescher machte kürzlich das genaue Gegenteil: Er nahm sich sechs Star-Wars-Filme und schrieb sie zu Shakespeare-Stücken mit jeweils fünf Akten um, wobei der Chor in die Handlung einführt und sie kommentiert und die Helden in Shakespeare’schen Versen und seinem archaischen Englisch sprechen („the Jedi doth return“ usw.). Auch wenn das Resultat häufig hinter der Idee zurückbleibt, so stellt sich doch hin und wieder eine fast unheimliche „authentische“ Wirkung ein: Solche Umwandlungen verdeutlichen gut, dass zwischen Shakespeares Stil und der Geschichte, die er erzählt, keine „natürliche“ Verbindung besteht – weit davon entfernt, ein organisches Ganzes zu bilden, ist ihre Verknüpfung immer gewaltsam und künstlich. 6 Jacques Lacan, Das Seminar, Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 291. 7 Stanley Cavell, The World Viewed, Cambridge, MA: Harvard University Press 1979, S. 85. 8 Christophe Jaffrelot, Dr. Ambedkar and Untouchability, Neu Dehli: Permanent Black 2005, S. 68 f. 9 Blaise Pascal, Pensées – Gedanken, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 89. 10 Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Hamburg: Meiner 2012, S. 74. 11 Jacques Lacan, Das Seminar, Buch XX: Encore, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 36.

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Anmerkungen

12 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bände, München: Beck, 1956. 13 Siehe Jean-Pierre Dupuys Beitrag in La Débat, Nr. 129 (März–April 2004), zitiert nach Jean-Michel Besnier, Demain les posthumains, Paris: Fayard 2012. 14 Robert B. Pippin, „Zurück zu Hegel?“ in: ders., Die Aktualität des deutschen Idealismus, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 417 [Übers. geändert]. 15 Zitiert nach Katarina Sternudd, „Brain scan reveals out-of-body illusion“, 30. April 2015, ki.se/en/news/brain-scan-reveals-out-of-body-illusion, zuletzt abgerufen am 08. 11. 2017. 16 Zitiert nach Ray Brassier, „The View from Nowhere: Sellars, Habermas, Metzinger“ (unveröffentlichtes Manuskript). 17 Ray Brassier, Nihil Unbound, London: Palgrave Macmillan 2007, S. 138. 18 Die Frage, die sich hier stellt, ist also die nach dem Diskurs. Brassier beschließt seine hervorragende Abhandlung Nihil Unbound mit Spekulationen über den Todestrieb und die Vernichtung der Realität – mit derjenigen Art von Diskurs, für die später im Rahmen seiner vertieften Hinwendung zu Sellars einfach kein Platz mehr ist. Folglich stellt sich die Frage: Ist die Dualität von wissenschaftlichem Diskurs und seiner transzendentalen Reflexion die einzige Option oder sollten wir Platz lassen für eine andere Art von Diskurs, der etwa mit den Namen von Schelling und Hegel, Lacan und Deleuze verbunden ist? 19 Die ontologische Differenz ist aus der hier vertretenen Sichtweise genau die Differenz zwischen der bestehenden Vielfalt von Entitäten und dem gebarrten/ausgestrichenen Einen: Das Eine ist ausgestrichen, es existiert nicht, doch gerade die Leere seines Nichtseins schafft den Raum dafür, dass Entitäten erscheinen können. Die Täuschung der Metaphysik – das „Vergessen“ der ontologischen Differenz, wie Heidegger gesagt hätte – besteht in der Verdeckung der „Barre“ (Barriere), die das Eine inexistent macht, das heißt in der Erhebung des Einen zum höchsten Seienden. 20 Franco Berardi, Heroes: Mass Murder and Suicide, London: Verso Books 2015, S. 204 f. 21 Ebd., S. 206 f. 22 Ebd., S. 206. 23 Ich stütze mich hier auf McKenzie Wark, Molecular Red: Theory for the Anthropocene, London: Verso Books 2015. Die in Klammern eingefügten Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf diese Arbeit. 24 Ungeachtet dieser kritischen Bemerkungen kann man den „neuen Materialisten“ nur zustimmen, wenn sie zur Höchstform auflaufen und das dichte Netz der Querverbindungen entfalten, das unsere Realität aufrechterhält. Denken wir an Jane Bennetts Darstellung (in ihrem Buch Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham, NC: Duke University Press 2010, S. 4–6) des Zusammenspiels diverser Aktanten auf einem belasteten Müllgelände, wo nicht nur Menschen, sondern auch verrottender Abfall, Würmer, Insekten, stillgelegte Maschinen, chemische Giftstoffe usw. jeweils eine (nie rein passive) Rolle spielen. Das ist nicht einfach die alte reduktionistische Vorstellung, wonach sich höhere Geistes- oder Lebensprozesse in Prozesse auf tiefer gelegene Ebenen übertragen lassen; es geht vielmehr darum, dass etwas auf einer höheren Ebene geschieht, das auf dieser Ebene nicht erklärt werden kann, sich nicht aus sich selbst erschließen lässt. (So gibt es etwa eine Theorie, die den Fall des alten Roms auf die Giftwirkung der Bleipartikel in den dama-

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ligen Metalltöpfen und -schüsseln zurückführt.) Im Juni 2015 brach in Südkorea die MERS-Epidemie (Middle East Respiratory Syndrom) aus, ausgelöst durch einen einzigen, aus Saudi Arabien zurückgekehrten Besucher. Teil unserer unmittelbaren Erfahrung sind die hier und da auftretenden Folgen (Menschen werden krank und manche von ihnen sterben), während der gesamte fortlaufende Prozess auf einer unter unserer Wahrnehmungsschwelle angesiedelten Ebene weitergeht und in einem unkontrollierbaren Amoklauf auszubrechen droht. Unser Kampf gegen den Rassismus sollte ebenfalls „molekular“ erfolgen: Statt sich einfach nur auf die großen „molaren“ Erklärungen zu konzentrieren, inwiefern es sich beim Rassismus um einen verdrängten Klassenkampf handelt etc., sollte man die Mikropraktiken analysieren (das dichte Gewebe von Gesten und Ausdrücken), welche Neid, Demütigung etc. des rassistisch eingestellten Anderen sichtbar machen. Heute, da wir (nahezu) alle aufgeschlossene, tolerante Liberale sind, reproduziert sich Rassismus gerade auf der molekularen Ebene: Ich respektiere Araber, Juden, Schwarze etc.; es ist nur so, dass ich den Geruch ihrer Speisen, ihre laute Musik, den vulgären Klang ihres Lachens nicht ertragen kann … Die Psychoanalyse kann hier hilfreich sein, indem sie die theoretischen Grundlagen bereitstellt, um das „molekulare“ Funktionieren des Rassismus zu verstehen. Eine von zwei Möglichkeiten zum Verständnis des von grässlich entstellten Objekten verursachten Horrors des „Unnatürlichen“ besteht darin, sie als Fälle eines gescheiterten (unvollständigen) Zusammenbruchs von Quantenschwankungen zu betrachten: Sich überlagernde Schwankungen fallen nicht zu einem einzelnen Objekt in unserer Realität zusammen, sondern zu einer Verbindung aus zwei Objekten – etwa einem abscheulichen Mischwesen, das halb Vogel, halb Wurm ist. (Auf diese Weise können wir auch das Böse in der Kabbalah als etwas betrachten, das aus den Spuren einer anderen Welt in dieser unserer Welt hervorgeht; die Vorstellung dabei ist es, dass Gott, bevor er unsere Welt erschuf, andere Welten erschaffen und als gescheiterte Versuche wieder vernichtet, aber nicht vollständig auslöscht hat, sodass Teile davon in unserer Welt erhalten geblieben sind. Für Bohr ist die objektive Realität kein Ansich, sondern sie wird ermittelt, wenn eine wiederholbare Messung jedes Mal dasselbe Resultat erbringt. Messung heißt hier, dass das wissenschaftliche Verfahren einem kontingenten (unvorhersehbaren) äußeren Realen ausgesetzt wird – wir sind also weit entfernt von einem subjektivistischen Relativismus, wir haben es mit einem Realen im Sinne von etwas zu tun, „das immer an seinen Platz zurückkehrt“. Bohr bezieht das Quantenuniversum auf die konkrete Situation der Messgeräte und Messverfahren als einziger Horizont, in dem diese Aussagekraft besitzen. Wenngleich die technischen Messvorrichtungen eindeutig Teil unserer Alltagsrealität sind, bleibt doch die Frage nach dem ontologischen Status des von den Apparaturen Gemessenen/Registrierten offen. Siehe Timothy Morton, Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis: University of Minnesota Press 2013. Steven Muecke, „Global Warming and Other Hyperobjects“, in: Los Angeles Review of Books, 20. Februar 2014, lareviewofbooks.org/review/hyperobjects, abgerufen am 18. 12. 2017. Jean-Pierre Dupuy, La marque du sacré, Paris: Carnets Nord 2008.

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30 Aber verwechseln wir nicht erste und zweite Natur, „natürliche“ Hyperobjekte (wie die globale Erwärmung) und sozio-symbolische Objekte (wie den Markt oder die Sprache)? Wiederholen wir nicht den Fehler jener Symboltheoretiker, die soziale Phänomene wie die Märkte bloß als weiteren Fall von evolutionärer Selbstorganisation darstellen? So einleuchtend der Vorwurf auch klingen mag, so verfehlt er dennoch den entscheidenden Punkt: Mit der Homologie wird nicht die „zweite Natur“ naturalisiert, sie zielt vielmehr auf die Denaturalisierung der „ersten“ („wahren“) Natur. 31 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Bielefeld: Aistesis 2013. 32 Adrian Johnston, Adventures in Transcendental Materialism: Dialogues with Contemporary Thinkers, Edinburgh: Edinburgh University Press 2014, S. 178. 33 Ebd., S. 180. 34 Terrence W. Deacon, Incomplete Nature: How Mind Emerged from Matter, New York: Norton 2012, S. 538. 35 Ebd., S. 2 f. 36 Ebd., S. 536. 37 Ebd., S. 483; zitiert nach Johnston, Adventures in Transcendental Materialism, S. 59. 38 Deacon, Incomplete Nature, S. 8. 39 Ich stütze mich hier auf das dritte Kapitel („Quantenphysik mit Lacan“) meines Buchs Der nie aufgehende Rest (Wien: Passagen, 1996) sowie auf das letzte Kapitel meines Buches Weniger als nichts. 40 Brian Green, Das elegante Universum, München: Goldmann 2006, S. 143–148. 41 Bruce Rosenblum und Fred Kuttner, Quantum Enigma: Physics Encounters Consciousness, Oxford: Oxford University Press 2006, S. 171. 2 Objekte, Objekte … und das Subjekt 1

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Siehe Levi R. Bryant, The Democracy of Objects, Ann Arbor, MI: Open Humanities 2011. (Die in Klammern eingefügten Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf diese Arbeit.) Bryant versteht die OOO als Objektorientierte Ontikologie (um sie von der metaphysischen Ontologie abzugrenzen). Ein etwas holzschnittartiges Argument gegen die OOO würde lauten: Wovon spricht Bryant eigentlich, wenn er seine Ontologie entfaltet? Wenn alle Objekte autopoietisch beschränkt sind, ist dann seine eigene Darstellung des Multiversums nicht auch durch die den menschlichen Objekten angestammte systemspezifische Perspektive beschränkt? Malabou bemerkt, inwiefern Meillassoux mit seinem Beharren auf der radikalen Kontingenz unserer Welt, auf der Möglichkeit einer vollkommen anderen Welt letztlich dahin kommt, die Stabilität der bestehenden Welt zu akzeptieren, als ob die leere Möglichkeit einer radikalen Veränderung unserer ganzen Welt sicherstellt, dass sich in dieser Welt nichts wirklich ändert. Siehe Catherine Malabou, Avant demain: Épigenèse et rationalité, Paris: Presses Universitaires de France 2014, S. 250 f. Meillassoux, Nach der Endlichkeit, Zürich: diaphanes 2008, S. 82. Ebd., S. 77 f. Ebd., S. 91.

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Ebd., S. 84. Ebd., S. 154. Es gibt hier eine weitere Option: Auch wenn Kommunikation Interpretation ist, sodass die ausdrückliche Botschaft, die zirkuliert und vom Empfänger gedeutet wird, stets eine Verzerrung des vom Sender wirklich Gemeinten darstellt – was, wenn die ausdrückliche Botschaft wichtiger ist als ihr entzogener Kern; was, wenn in der Fehlkommunikation mehr Wahrheit ist als in dem Entzogenen? Stellen Sie sich einen Dialog zwischen einem Chinesen und einem US-amerikanischen kapitalistischen Manager vor: Zweifellos wird jeder von ihnen den spezifischen kulturellen Hintergrund der Botschaft des anderen verfehlen – dieser Hintergrund ist im Hinblick darauf, worum es bei dieser Kommunikation geht, jedoch irrelevant (der Warenaustausch wird trotz dieser anhaltenden Fehlkommunikation reibungslos weitergehen). Bennett, Vibrant Matter, S. 4 ff. Siehe Eric L. Santner, The Royal Remains: The People’s Two Bodies and the Endgames of Sovereignty, Chicago: University of Chicago Press 2011. Isabel Allende, „The End of All Roads“, in: Financial Times, 15. November 2003. Für diesen Begriff siehe James Martel, „A Misinterpellated Messiah“, Vortrag auf der Konferenz „The Actuality of the Theologico-Political“, Birbek, University of London, 24. Mai 2014. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch VII: Die Ethik der Psychoanalyse, Wien, Berlin: Turia + Kant 2016, S. 79 f. Rebecca Comay, „Resistance and Repetition: Freud and Hegel“, in: Research in Phenomenology 45, Nr. 2 (2015), S. 258. Siehe Frank Ruda, „Hegel and Resistance“ (unveröffentlichtes Manuskript; alle nicht ausgewiesenen Zitate in diesem Kapitel stammen aus Rudas Manuskript). Die letzte Szene von Mad Men (das Ende der 14. Folge der 7. Staffel) stellt ebenfalls ein Hegel’sches unendliches Urteil dar: Mitten in einer gemeinsamen Meditationstrance breitet sich auf Dons Gesicht ein seliges Lächeln aus, und der Gedanke dabei ist: Das Höchste (spirituelle Erleuchtung im Hippie-Geist, Abkehr vom Kommerz und seiner Werbekultur) kehrt sich um in das Niedrigste (eine neue Idee für eine Superwerbung, die berühmte für Coca Cola). Hegel, Werke, Band 3, S. 59. Der Ausdruck wurde von Samo Tomšič ausgearbeitet: The Capitalist Unconscious: Marx and Lacan, London: Verso Books 2015. Sigmund Freud, Vorlesungen in die Einführung zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1996, S. 213 f. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993, S. 551. Hegel, Werke, Band 3, S. 58. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 17: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 257. Ebd., S. 258. Ebd., S. 256. Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1991, S. 398. William Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden, Band 3, Berlin: Aufbau 1989, S. 120.

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Anmerkungen

28 Ebd., Band 1, S. 120. 29 Aaron Schuster, The Trouble with Pleasure: Deleuze and Psychoanalysis, Cambridge, MA: MIT Press 2016. 30 Malabou, Avant demain, S. 162–166. 31 Das Gegenstück zu diesem problematischen Status des transzendentalen Subjekts ist das Leben, sind die lebenden Entitäten. Warum? Weil sie eine transzendentale (selbstorganisierende, „synthetische Notwendigkeit, die nicht mehr diese ist“) Funktion in der objektiven Realität selbst aufweisen – in dem Lebendigen begegnet die transzendentale Dimension unter den konstituierten Objekten sich selbst in ihrer objektiven Version: „die Vernunft begegnet sich selbst als Tatsache in der Natur und entdeckt die Bedeutung des Determinismus“ (Malabou, Avant demain, S. 297).

3 Selbstbewusstsein, welches Selbstbewusstsein? Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren 1 2 3 4

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 6: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 278. Diesen Unterschied hat Hamman Aldouri entfaltet, siehe seine Doktorarbeit „Hegels ‚Aufhebung‘“ (unveröffentlichtes Manuskript). Ebd. Robert Brandom, „A Spirit of Trust: A Semantic Reading of Hegel’s Phenomenology“ (unfertiges Manuskript), www.pitt.edu/~brandom/spirit_of_trust_2014.html, zuletzt abgerufen am 18. 12. 2017. Alle nicht ausgewiesenen Zitate des vorliegenden Kapitels sind dieser Quelle entnommen. Hegel, Werke, Band 3, S. 25. Fredric Jameson, The Hegel Variations: On the ‚Phenomenology of Spirit‘, London: Verso Books 2010, S. 48. Ebd. Claude Lévi-Strauss, „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“, in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Band I: Theorie der Magie. Soziale Morphologie, München: Hanser 1974, S. 7–41, hier S. 38. Ebd., S. 39. [Übers. geänd.] Ebd., S. 40. Ebd. Ebd. S. 39. Für eine einlässlichere Darstellung der Rolle der Differenzialität bei der Entstehung einer subjektivierten Struktur siehe Kapitel 9 meines Buches Weniger als nichts. Hegel, Werke, Band 6, S. 76. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830, I: Die Wissenschaft der Logik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 126 f. Quentin Meillassoux, Interview mit Graham Harman, in: Graham Harman, Quentin Meillassoux: Philosophy in the Making, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, S. 166.

Anmerkungen

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17 Hegel, Werke, Band 3, S. 293. 18 Fichte verwendete seinen Neologismus „Tathandlung“, der die beiden Aspekte Handlung und Tat vereint, vollkommen zu Recht, um damit den Akt der Selbstsetzung des absoluten Ichs zu bezeichnen – nur in diesem Ur-Akt nämlich decken sich Handlung und Tat vollständig, das heißt, sein beabsichtigtes Ziel und seine tatsächlichen Folgen sind durch keinen Abstand voneinander getrennt. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 230 . 20 Was Hegel mit „Anerkennung“ meint, ist im Übrigen auch etwas viel Radikaleres und Beunruhigenderes als das gegenseitige Anerkennen freier Individuen in anmutiger Großzügigkeit: In seinem extremen, aber entscheidenden Beispiel stellt die Hinrichtung (Todesstrafe) eines Verbrechers die Anerkennung seiner Person als freier verantwortlicher Mensch dar – wenn wir es ablehnen, ihn zu bestrafen, weil er ein Opfer seiner Umstände sei, berauben wir ihn seiner rationalen Freiheit. 21 Hegel, Werke, Band 3, S. 403 f. 22 Hegel, Werke, Band 7, S. 28. 23 Hegel, Werke, Band 8, S. 367. 24 Es ist eine der beliebten Übungen in den kritischen Hegelstudien, die Schwachstellen in seinem Deduktionsprozess auszumachen, die Punkte, wo der Übergang von einer Gestalt zur anderen misslingt und Hegel offensichtlich schummelt. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, vom Anfang seiner Logik (der Übergang vom Nichtsein zum Werden und dann zum Dasein) bis zu konkreten historischen Beispielen wie der Sackgasse seiner Antigone-Deutung in der Phänomenologie des Geistes. Was aber, wenn an dieser ganzen Suche nach Fehlerstellen etwas falsch ist? Was, wenn der ganze dialektische Prozess als solcher eine Reihe von „Fehlschlägen“ ist, was, wenn der nächste Schritt im Anschluss an einen Stillstand nicht dessen positive Auflösung ist, sondern vielmehr das Gegenteil des Stillstands selbst, der Stillstand in seiner positiven Form, das heißt einfach eine Verschiebung der Perspektive, durch die der Stillstand als seine eigene Auflösung erscheint? 25 Hegel, Werke, Band 3, S. 492. 26 Rebecca Comay hat eine andere, scharfsinnige Deutung dieser These von Hegel vorgeschlagen. Dabei nimmt sie sein Lob der analytischen Macht der Vernunft zum Ausgangspunkt: Die Vernunft ist die unendliche Macht, das ursprünglich Zusammengehörende auseinanderzureißen, doch der träge Realitätsstrom macht die Arbeit der Vernunft letztlich immer wieder rückgängig und stellt die Kontinuität des Lebens wieder her. In entsprechender Weise zerlegt (entbindet) die psychoanalytische Behandlung das dichte Gewebe des Unbewussten und bringt die disparaten Momente hervor; allerdings lässt uns der Strom des psychischen Lebens diese Einsichten wieder vergessen und reintegriert sie in die Grundpathologie unserer Psyche: „Wenn die Analyse buchstäblich als Auflösung oder Entflechtung zu verstehen ist – dies ist die Ursprungsbedeutung von Ana-lyse: eine Entflechtung oder Losbindung des straffen Wundknotens von Strafe und Begehren –, dann besteht der Widerstand gegenüber der Analyse in einer unablässigen Wiederverflechtung dieses Gefüges von Unterdrückung und Verdrängung. Jeder Versuch, diese Verflechtung

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Anmerkungen

zu lösen, den Knoten des Leidens aufzudröseln, aufzubinden oder zu analysieren, stellt eine Sisyphusarbeit dar oder, genauer gesagt, ein gegenpenelopeisches Unternehmen; der Entflechtungsakt wird stillschweigend in das Gewebe zurückgeknüpft, in die Pathologie reintegriert, wie eine unsichtbare Narbe. Dies ist im Übrigen eine Möglichkeit – natürlich nicht die übliche –, Hegels berüchtigtste Aussage zu verstehen, das ,die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben‘“ (Comay, Resistance and Repetition: Freud and Hegel, S. 254). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band 3: Die vollendete Religion, Hamburg: Meiner 1995, S. 143. Ebd., S. 144. Ebd., S. 146. Ebd., S. 234. Siehe Jacques Lacan, Das Seminar, Buch IV: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin: Quadriga 1987, Kapitel 1. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart: Kröner 2011 S. 52. Siehe Robert Pippin, „The Significance of Self-Consciousness in Idealist Theories of Logic“, in Proceedings of the Aristotelian Society 114, Nr. 2 (2013–2014), S. 145–166. Die in Klammern eingefügten Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf diese Abhandlung. Robert Pippin, Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 56. Ebd., S. 46. Ebd., S. 53. Robert Pippin, Hegel’s Idealism, Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 220. Ebd., S. 213. Ebd. S. 216 f. Hegel, Werke, Band 6, S. 27. Ebd., S. 79 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 330. Ermanno Bencivenga, Hegel’s Dialectical Logic, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 63 f. Hegel, Werke, Band 7, S. 315 f. Marx, Das Kapital, S. 69. Jacques Lacan, Schriften II, Olten: Walter 1975, S. 49.

4 Die Kunst nach Hegel, Hegel nach dem Ende der Kunst 1 2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 14: Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 234. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1986, S. 142.

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Robert B. Pippin, Kunst als Philosophie. Hegel und die moderne Bildkunst. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2011, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 139. Die in Klammern eingefügten Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf dieses Buch [Übers. leicht angepasst]. Hegel, Werke, Band 13, S. 26. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1986, S. 367. Nicolas Bourriauds Einleitung in: Michel Foucault, Manet and the Object of Painting, London: Tate Publishing 2009, S. 16 f. Hegel, Werke, Band 13, S. 203. Ebd., S. 102. Die Seitenangabe bezieht sich auf das englische Original. Der Kubismus kann demnach als eine Art umgekehrter Argus aufgefasst werden: In ihm stellt das Bild einen Gegenstand (etwa einen menschlichen Körper) so dar, als ob er gleichzeitig von mehreren Standorten aus betrachtet werden würde. In diesem Sinn wird im Kubismus der Betrachter selbst zu einem vieläugigen Argus. Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982, S. 79. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim, Berlin: Quadriga 1996, S. 107 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 174 f. Rebecca Comay, „Defaced Statues: Idealism and Iconoclasm in Hegel’s Aesthetics“, in: October 149 (2014), S. 126. Hegel, Werke, Band 14, S. 131 f. Ashley Montagu, The Elephant-Man: A Study in Human Dignity, New York: Outerbridge & Dienstfrey 1971. Das Hässliche ist hier das im Wortsinn Hassenswerte, das, was Hass provoziert, das „Hassbare“. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Königsberg: Gebrüder Bornträger 1853, S. 36. Ebd., S. 173. Seltsam ist, dass Rosenkranz Hegel in seinem Buch über das Hässliche keine weitere Beachtung schenkt, wo doch Hegel der Ästhetik des Häßlichen den Weg bahnt, wenn er die romantische Kunst als diejenige Kunst betrachtet, welche die Subjektivität in ihrer Kontingenz (Hässlichkeit) befreit und im Humor als eine Art und Weise, das Hässliche anzunehmen, ihren Höhepunkt erreicht. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 81. Ebd., S. 79. Herman Parret, „The Ugly as the Beyond of the Sublime“, in: Chr. Madelein, J. Pieters und B. Vandenabeele (Hrsg.), Histories of the Sublime, Cambridge: Cambridge University Press, 2009, S. 4, www.hermanparret.be/media/articles-in-print/21_TheUgly-as-the-Beyond.pdf, abgerufen am 21. 11. 2017. Ebd., S. 7. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Band XII, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 698.

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Anmerkungen

Kant, Gesammelte Schriften, Band 7, Berlin: De Gruyter 1973, S. 327 f. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg: Meiner 2000, S. 188. Ebd. Ebd., S. 191. Parret, „Ugly as the Beyond of the Sublime“, S. 6 f. Otto Weininger, Über die letzten Dinge, München: Matthes & Seitz 1997, S. 187. Sigmund Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, in: ders., Gesammelte Werke, Band XII, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987, S. 26 f. Ray Brassier, Nihil unbound, London: Palgrave Macmillan 2007, S. 237. Stephen Mulhall, On Film, London: Routledge 2008, S. 18. Ebd., S. 120. Zu Psycho lassen sich noch ein paar mehr Punkte anführen. Erstens: Bewegt sich Psycho nicht auch auf die Bildung eines Paares zu? Es gibt subtile Hinweise, dass Lila und Sam das nächste Paar sein werden und damit das unmögliche Paar aus Marion und Norman ersetzt wird. Zweitens: Der Vater ist in Psycho als der abwesende Auslöser der Ereignisse anwesend: Marion stiehlt das Geld deshalb, weil ihr Verlobter Sam hart arbeiten muss, um die Schulden seines toten Vaters zurückzuzahlen (sobald diese Schulden abbezahlt sind, könnten sie ein gemeinsames Leben beginnen). Drittens: Der reiche Mann, der Marion obszönerweise in Versuchung führt, indem er ihr einen Batzen Geld zeigt, betritt das Büro von der Stelle aus, wo Hitchcock steht, und trägt den gleichen Stetson-Hut – ist er nicht von Hitchcock/Gott als sein Vertreter gesandt, dessen Funktion es ist, Marion der Versuchung auszusetzen? Für eine detailliertere Analyse dieses Aspekts von Hitchcocks Arbeit siehe Kap. 6 meines Buches Organlose Körper: Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Pippin, Kunst als Philosophie, S. 26. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Band 34: Vom Wesen der Wahrheit: Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, Frankfurt a. M.: Klostermann 1988, S. 106. Robert Pippin, „What Was Abstract Art? (From the Point of View of Hegel)“, in: Critical Inquiry 29 (2002), S. 2. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern-Bümpliz: Bentelli 1963, S. 49, 80. Ist die Dawkins’sche Auffassung von einem Mem nicht übrigens die neueste Version der autonomen Macht der Mimesis? Meme als Wirkkräfte benutzen uns (Menschen), um sich selbst zu vervielfältigen, genau wie Gene, die ihre eigene Reproduktion mittels lebender Organismen betreiben. Primo Levi, Ist das ein Mensch?, München: Hanser 1991, S. 154. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Band 13, S. 237 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 572 f.

Anmerkungen

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5 Versionen des Adjekts: Hässlich, gruselig, ekelerregend 1

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Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press, S. 3. Die in Klammern eingefügten Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf dieses Buch. Das Zitat im Zitat stammt aus Charles Malamoud, „Observations sur la notion de ,reste‘ dans le brahamisme“, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde Südasiens 16 (1972), S. 5–26. Als Argument gegen ein solches Verständnis muss nur daran erinnert werden, dass das abschließende Moment des dialektischen Prozesses für Hegel nicht die vollständige Aufhebung alles kontingent Partikularen ist, sondern das genaue Gegenteil, die Einsicht, dass es einen unaufhebbaren Rest braucht, um den Prozess abzuschließen: Der Staat als rationale Gesamtheit verwirklicht sich vollständig in der (biologisch, das heißt kontingent bestimmten) Person des Monarchen und so weiter. Mit anderen Worten ist die „falsche Unendlichkeit“ der Idealisierung der empirischen Kontingenz nicht dann beendet, wenn sie schließlich gelingt, sondern wenn das, was ihr fatales Hindernis zu sein scheint, als ihr „Stepppunkt“ erfahren wird. Jacques Lacan, Schriften II, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 201. Siehe Octave Mannoni, „Je sais bien, mais quand même …“, in: Clefs pour l’imaginaire, Paris: Seuil 1968. Ich fasse hier eine ausführlichere Deutung Mannonis zusammen, die ich in meinem Buch Denn sie wissen nicht, was sie tun (Wien: Passagen 2008) vorgelegt habe. Ich fasse hier eine detailliertere Analyse aus meinem Buch Die gnadenlose Liebe zusammen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001). Dem Buddhismus wurde von seinen Kritikern häufig attestiert, dass er in seinem eigentlichen Kern einen „pragmatischen Widerspruch“ enthalte: Er zielt auf die Überwindung des Selbst, in der Praxis – Meditation, Selbsterforschung – aber ist er seiner Form nach auf das Selbst gerichtet. Dieser Selbstbezogenheit setzt das westliche Denken eine Selbstauslöschung in Praxiszusammenhängen entgegen: den Einsatz für etwas Drittes, eine übergeordnete Sache, die mich übersteigt und in Bezug auf die ich letztlich nicht zähle. Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1985, S. 316. Es gilt hier zu beachten, inwiefern Deleuze, auch wenn er sich leidenschaftlich gegen Bataille und andere Denker der Überschreitung, des Überschreitungsbegehrens wendet, innerhalb der Beschränkungen der aristotelischen phronesis bleibt, dem praktizierten Einhalten des richtigen Maßes, das es uns ermöglicht, die beiden Extreme der übermäßigen Anhänglichkeit an die Vernünftigkeit/den Normalzustand und deren übermäßige Verletzung zu vermeiden. Hier sei Schusters präzise Feststellung zitiert: „Zum moralischen Zentralproblem von Deleuzes Philosophie wird, vielleicht ziemlich überraschend, das der Besonnenheit. Wie weit soll der Riss ausgedehnt werden? Wie findet man das richtige Maß zwischen Gesundheit und Krankheit, Vitalität und Erschöpfung, Vernünftigkeit und Verrücktheit, Leben und Tod, Selbstkontrolle und Selbstverlust oder, in einem Wort, zwischen Maß und Maßlosigkeit? Deleuzes Ethik lässt sich als eine Art paradoxer Aristotelismus ver-

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Anmerkungen

stehen, insofern sie die Ausübung der phronesis – der Besonnenheit, der praktischen Vernunft – in einer Situation verlangt, die sie gerade auszuschließen scheint, einer Situation des Orientierungsverlusts, des Rauschs, der Entpersonalisierung, des Selbstverlusts, ja sogar des Wahnsinns“ (Aaron Schuster, The Trouble with Pleasure: Deleuze and Psychoanalysis, Cambridge, MA: The MIT Press 2016). Éric Laurent, „Racism 2.0“, AMP-Blog, 29. Januar 2014, ampblog2006.blogspot. de/2014/01/lq-in-english-racism-20-by-eric-laurent.html, abgerufen am 22. 11. 2017. Jacques Lacan, „Proposition of 9 October 1967 on the Psychoanalyst of the School“, Analysis 6 (1995), S. 12. Peter Sloterdijk, „Warten auf den Islam“, Focus 10 (2006), S. 84. Jacques Lacan, „Radiophonie“, in: Radiophonie. Television, Weinheim, Berlin: Quadriga 1988, S. 85 Laurent, „Racism 2.0“. Ebd. Jacques Lacan, „Die logische Zeit und die vorweggenommene Gewissheitsbehauptung“, in: ders., Schriften I, Wien, Berlin: Turia + Kant 2016, S. 251. Abraham B. Yehoshua, „An Attampt to Identify the Root Cause of Antisemitism“, Azure 32 (Frühling 2008), www.azure.org.il/article.php?id= 18&page=all, abgerufen am 22. 11. 2017. Ich paraphrasiere hier natürlich Lacans bekannte Äußerung: „Das Bild ist in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.“ Adrian Johnston, Adventures in Transcendental Materialism, Edinburgh: Edinburgh University Press 2014, S. 281. Gilbert Keith Chesterton, Charles Dickens: A Critical Study, New York: Dodd Mead 1906, S. 45–48. Für eine detailliertere Analyse von Kieślowskis Werk siehe mein Buch Die Furcht vor echten Tränen. Krysztof Kieślowski und die „Nahtstelle“, Berlin: Volk und Welt 2001. Adam Kotsko, Creepiness, Alresford: Zero Books 2015, zitiert aus dem Manuskript. Ebd. Ebd. Ebd. Siehe Michel Foucault, Manet and the Object of Painting, London: Tate Publishing 2009, S. 31. In Eislers berührendem Vorwort heißt es: „In einer Gesellschaft, die ein solches Liederbuch versteht und liebt, wird es sich gut und gefahrlos leben lassen. Im Vertrauen auf eine solche sind diese Stücke geschrieben.“ Im Übrigen hat auch Benjamin Britten 1952 sechs Hölderlin-Fragmente musikalisch umgesetzt. Manfred Grabs, „Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan“, in Beiträge zur Musikwissenschaft, 15, Heft 1/2 (Berlin 1973), S. 50. Hans Bunge, Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München: Rogner & Bernhard 1970, S. 288. Man kann sich einen ähnlichen Effekt vorstellen, wenn man Sylvia Plaths berühmtestes Gedicht „Daddy“ als Popsong im Prä-Rock-Stil ihrer Zeit (wie etwa bei Connie Francis) aufnehmen wollte, einschließlich der „üppig“-kitschigen Orchestrierung.

Anmerkungen

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31 Hanns Eisler, „Die Heimat“, in: ders., Hollywooder Liederbuch, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 2008, S. 67 f. 32 Friedrich Hölderlin, „Die Heimath“, in: Sämtliche Werke: Frankfurter Ausgabe, Band V: Oden II, Frankfurt a. M.: Roter Stern 1984, S. 498. 33 Stanley E. Workman, „Hanns Eisler and His Hollywood Songbook: A Survey of the Five Elegies (Fünf Elegien) and the Hölderlin Fragments (Hölderlin-Fragmente)“, Doktorarbeit, Ohio State University 2010, S. 60. 34 Fritz Hennenberg, „Zur Dialektik des Schließens in Liedern von Hanns Eisler“, in: Sammelbände zur Musikgeschichte der DDR, Bd. II, Berlin: Verlag neue Musik Berlin 1971, S. 203. 35 Workman, „Hanns Eisler and His Hollywood Songbook“. 36 Eisler war in den 1940er-Jahren gleich zweifacher Emigrant, da er nicht nur in den USA, sondern auch in seinem eigenen Land nicht zu Hause war und von einem anderen Deutschland träumte, was sich später in seiner Musik zur DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“ ausdrückte. 37 Die „Zwei Lieder nach Worten von Pascal“ (Nummer 17 des Hollywooder Liederbuchs) offenbaren eine ähnlich dunkle Sicht. „Despite these miseries, man wishes to be happy, / and only wishes to be happy, and cannot wish not to be so. / But how will he set about it? To be happy he would have to / make himself immortal. But, not being able to do so, / it has occurred to him to prevent himself from thinking of death“ (I), „The only thing which consoles us for our miseries is diversion, / and yet this is the greatest of our miseries. / For it is this which principally hinders us from reflecting upon ourselves, / and which makes us insensibly ruin ourselves. Without this / we should be in a state of weariness, and this weariness would spur us / to seek a more solid means of escaping from it. / But diversions amuse us and lead us unconsciously to death“ (II). Eine solche dunkle Sicht auf den Menschen bildet auch hier wieder den unvermeidlichen Hintergrund des echten Kommunismus – ohne sie enden wir im stalinistischen Optimismus, der die Vorderseite des Terrors bildet. 38 Hanns Eisler, „Vorspiel und Spruch (Friedrich Hölderlin)“, in: ders., Lieder und Kantaten, Band 10: Ernste Gesänge, Bilder aus der „Kriegsfibel“ sowie Lied über den Frieden, Leipzig: Breitkopf & Härtel S. 7 39 Hanns Eisler, „Verzweiflung“, a. a. O., S. 16–18. 40 Eisler, „Komm ins Offene, Freund!“, ebd., S. 23. 41 Zitiert nach Friederike Wißmann, Hanns Eisler, München: Bertelsmann 2012, S. 132. 42 Paul Verlaine, „Es weint mein armes Herz“, in: Ausgewählte Gedichte, Leipzig: Insel 1983, S. 76. 43 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. Erster Band 1938 bis 1942, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 291. 44 Kristin Thompson, Eisenstein’s „Ivan the Terrible“: A Neoformalist Analysis, Princeton: Princeton University Press 1983. 45 In gleicher Weise suchte Eisenstein die Meditationen Ignatius’ von Loyola einzugrenzen, um sie für die kommunistische Propaganda brauchbar zu machen – die erhabene Begeisterung für den Heiligen Gral und die Begeisterung der Kolchosbauern für die neue Maschine zur Herstellung von Butter aus Milch (die bekannte

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Anmerkungen

Szene aus Die Generallinie/Das Alte und das Neue) sind von genau der gleichen Intensität getragen, die bloß auf zwei unterschiedliche Arten schematisiert wird. 46 An dieser Stelle fasse ich eine gründlichere Analyse von Schumanns Carnaval aus meinem Buch Plagues of Fantasies zusammen (London: Verso Books 2009). 6 Wenn sich nichts verändert: Zwei Szenen subjetiver Destitution 1 2 3 4 5 6 7

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Adam Phillips, „The Art of Nonfiction No. 7“, Interview durch Paul Holdengräber, Paris Review (Frühling 2014), S. 39 f. Ebd., S. 38 f. Ebd., S. 44. Ebd., S. 24. Pierre Corneille, „Medea“, in: Joachim Schondorff (Hrsg.), Medea, München, Wien: Langen-Müller 1963, S. 132, II. Akt, 5. Szene. Lacan stellt die Hysterie mit der Neurose auf dieselbe Ebene: Die andere Hauptform der Neurose, die Zwangsneurose, bildet für ihn einen „Dialekt der Hysterie“. William Shakespeare, König Richard II, IV, I, übers. v. August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudussin, in: ders., Sämtliche Werke, Berlin, Weimar: Aufbau 1989, S. 156. Ebd., S. 172 f. François Balmès, Dieu, le sexe et la vérité, Ramonville-Saint-Agne: Erès 2007, S. 51. Thomas J. J. Altizer, The Contemporary Jesus, London: SCM Press 1998, S. 101. Jaques Lacan: Le Seminaire, Livre XXIII: Le sinthome, Paris: Seuil 2005. Jonathan Boulter, „Does Mourning require a Subject?“, Modern Fiction Studies 50, Nr. 2 (Sommer 2004), S. 332–350. Siehe Alain Badiou, „The writing of the generic: Samuel Beckett“, in: Conditions, New York: Continuum 2008, S. 251–284. Eine andere Variante dieses „Du musst weitermachen“ ist natürlich die berühmte Zeile aus Aufs Schlimmste zu: „Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser“ (Samuel Beckett, Aufs Schlimmste zu, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990). Man sollte sich hier an eine Kuriosität aus Becketts Leben erinnern: In seinen Dreißigern war er kurze Zeit als psychologischer Berater für Jugendliche in Not tätig, und „Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser“ war ursprünglich als Ratschlag an einen Jugendlichen gedacht, der sich darüber beklagte hatte, dass seine erste sexuelle Begegnung mit einer Frau in einem furchtbaren Desaster endete. Boulter, „Does Mourning require a Subject?“, S. 333 f. Samuel Beckett, Erzählungen und Texte um nichts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 140. Boulter, „Does Mourning require a Subject?, S. 337. Ebd., S. 341. Ebd., S. 337. Judith Butler entwickelte diesen Punkt in Psyche der Macht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Für eine Erörterung dieser Umkehrung der Deuleuze’schen Figur des „organlosen Körpers“ siehe meine Abhandlung Körperlose Organe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

Anmerkungen

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21 Samuel Beckett, Drei Romane. Molloy – Malone stirbt – Der Namenlose, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 472. 22 Siehe Vivian Mercier, Beckett/Beckett: The Truth of Contradictories, New York: Oxford University Press 1977. 23 Zitiert nach Deirdre Bair, Samuel Beckett: Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 778. 24 Zitiert nach The Faber Companion to Samuel Beckett, London: Faber und Faber 2006, S. 116. 25 Zitiert nach James Knowlson und John Pilling, Frescoes of the Skull: The Later Prose and Drama of Samuel Beckett, New York: Grove 1979, S. 196. 26 James Knowlson, Damned to Fame: The Life of Samuel Beckett, New York: Grove 1996, S. 521 f. 27 Zitiert nach S. E. Gontarski, „Revising Himself: Performances as Text in Samuel Beckett’s Theatre“, Journal of Modern Literature 22, Nr. 1 (1998), S. 144. 28 Knowlson, Damned to Fame, S. 617. 29 Zitiert nach Bair, Samuel Beckett, S. 781. 30 Samuel Beckett, Nicht ich, in: Spiele, Berlin: Volk und Welt 1988, S. 213–222. 31 Zitiert nach Bair, Samuel Beckett, S. 664. 32 C. S. Lewis, Überrascht von Freude, Gießen, Basel: Brunnen-Verlag 1994, S. 268 f.

7 Die Widerwärtigkeiten einer Hyäne: Autorität, Kostümierung und Freundschaft 1

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Die Konservativen in Slowenien treiben diese Gleichsetzung von Nazismus und der Linken ins Extrem: Kürzlich wurden in einem ihrer Texte einige programmatische Anträge der slowenischen Vereinigten Linken aufgelistet, die angeblich deren Nähe zum Nazismus belegen und unter deren Artikeln sich die Forderung nach progressiver Besteuerung der Wohlhabenden findet. (Ein anderer Kommentator tat die Gendertheorie als Fortsetzung des Kommunismus mit anderen Mitteln ab, das heißt als einen Versuch, die moralischen Fundamente des christlichen Westens auszuhöhlen.) Bis 2015 sind vier Bände in der Gesamtausgabe (Frankfurt a. M.: Klostermann; im Folgenden GA) erschienen: Band 94, Überlegungen II–VI: Schwarze Hefte 1931– 1938 (2014); Band 95, Überlegungen VII–XI: Schwarze Hefte 1938/39 (2014); Band 96, Überlegungen XII–XV: Schwarze Hefte 1939–1941 (2014); Band 97, Anmerkungen A (II–V) (2015). Heidegger, GA, Bd. 95, S. 381 f. Heidegger, GA, Bd. 94, S. 194. Heidegger, GA, Bd. 96, S. 56. Ebd., S. 46. Zitiert nach Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a. M.: Klostermann 2015, S. 53. Trawny zufolge steht dieser Passus im Manuskript, aber nicht in der Abschrift Fritz Heideggers, „der ihn also wohl ,gestrichen‘ hat“ (ebd.). Heidegger, GA, Bd. 96, S. 260.

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9 Ebd., S. 20. 10 Markus Gabriel, „Heideggers Thesen über den Holocaust“, in: Die Welt, 28. März 2015, www.welt.de/kultur/literarischewelt/article138868550/Heideggers-widerwaertige-Thesen-ueber-den-Holocaust.html, abgerufen am 28. 11. 2017. 11 Friedrich Schiller, „Das Lied von der Glocke“, in: ders., Schillers Werke in sechs Bänden, Erster Band: Gedichte. Prosaschriften, Olten, Stuttgart, Salzburg: Fackelverlag o. J., S. 158–170. 12 Sandra Maß, „The ,Volkskörper‘ in Fear: Gender, Race and Sexuality in the Weimarer Republic“, in: New Dangerous Liaisons: Discourses on Europe and Love in the Twentieth Century, Oxford: Berghahn Books 2010, S. 233–250. 13 Zitiert nach: literaturkritik.de/id/8062, abgerufen am 28. 11. 2017. 14 Nebenbei bemerkt gibt es eine ähnlich merkwürdige Wendung in David Finchers herausragendem Thriller Seven, in dem John Doe, ein religiös besessener Serienmörder, den Plan ausführt, sieben Menschen zu töten, von denen jeder für eine der sieben Todsünden bestraft wird. Am Ende des Films wird John Doe selbst von Detektiv Mills erschossen, der ihn aus Zorn darüber tötet, dass Doe seine schwangere Frau umgebracht hat. Does Sünde ist Neid (er beneidete Mills um dessen normal glückliches Familienleben) und Mills Sünde ist Zorn – warum aber hat Doe Mills Frau dann enthauptet? Ihr Tod passt eindeutig nicht zu der Serie: Sie hat keine Sünde begangen und wird nur getötet, damit Mills von unkontrollierbarem Zorn gepackt wird. Wir haben es hier mit einer zeitlichen Umkehrung zu tun: Mills wird für etwas (Zorn) bestraft, das ausbricht, nachdem er dafür bestraft wurde, und sogar von dieser Bestrafung erst ausgelöst wurde. Es ist demnach so, als ob der Tod der Frau nicht für sich zählt; sie kann allein getötet werden, um ihren Mann zu bestrafen. 15 Friedrich Schiller, „An die Freude“ in: ders., Schillers Werke, Erster Band, S. 64 f. 16 Man sollte auch Verdis Don Carlo erwähnen, dessen absolutes Meisterwerk, mit dem er dem Wagner’schen Musikdrama sehr nahekommt und das fast keine traditionellen Arien enthält – außer dem berühmten Duett über die Freundschaft. 17 Zitierte Ausgabe: Friedrich Schiller, „Don Karlos. Infant von Spanien“, in: Sämtliche Werke in 10 Bänden, Band 3: Don Karlos, Briefe über „Don Karlos“, Berlin: Aufbau 2005, S. 371–562. 18 Wir können auch deutlich den Unterschied zwischen Philipps Suche nach einem Freund und Prinz Hals Freundschaft mit Falstaff bei Shakespeare erkennen: Prinz Hal betreibt diese Freundschaft aus rein manipulativen Gründen und weist Falstaff in dem Moment zurück, da er den Thron besteigt. 19 Mark William Roche, Tragedy and Comedy, Albany: State University of New York Press 1998, S. 125. 20 Bei Schiller im deutschsprachigen Original lautet der letzte Satz: „Nicht auch in meinem Hause?“ Aus inhaltlichen Gründen wurde hier die englische Fassung der Stelle in Übersetzung angeführt [Anm. d. Ü.]. 21 Ich stütze mich hier ausgiebig auf Alenka Zupančič Žerdins Kostumografija moči (Manuskript auf Slowenisch), Juli 2014. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 7: Grundlinien der Phi-

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losophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 451. Es ist hinlänglich bekannt, dass Dostojewski seine Figur des Großinquisitors in Die Brüder Karamasow dem Schiller’schen Inquisitor nachempfunden hat; man kann jedoch gleich die Überlegenheit von Schillers Figur erkennen. Im deutschsprachigen Original von Schiller heißt es: „Ich weiß ihn“. Aus inhaltlichen Gründen wurde hier die englische Fassung der Stelle in Übersetzung angeführt. [Anm. d. Ü.]. Zitiert nach Johann Wilhelm Loebell (Hg.), Karl Friedrich Becker’s Weltgeschichte. Siebente, verbesserte und vermehrte Ausgabe, Siebenter Theil: Karl Friedrich Becker’s Geschichte der neueren Zeit, Berlin 1841, S. 188 f. Ich verdanke diese Information John Higgins von der Capetown University (Privatunterhaltung). Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autorität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 55. Jean-Claude Milner, „The Prince and the Revolutionary“ (unveröffentlichtes Manuskript). Alle nicht ausgewiesenen Zitate, die im aktuellen Kapitel folgen, sind diesem Text entnommen. René Descartes, Discours de la méthode, Französisch/Deutsch, Hamburg: Meiner 2011, S. 44 f. Anna Larina Boukharina, Boukharine ma passion, Paris: Gallimard 1989, S. 319. Friedrich Schiller, „Die Freundschaft“, in: ders.: Schillers Werke, Erster Band, S. 52. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 591. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 17, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 274. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 49. Siehe Philippe Lacoue-Labarthe, Heidegger, Art and Politics, London: Blackwell 1990. Rebecca Comay, „Hegel’s Last Words“, in: The End of History, London: Routledge 2012, S. 234. Das Zitat ist aus der Vorlesung, die als Grundlage für Badious Pornographie du temps présent [dt., Wien, Berlin: Turia + Kant 2014] dient. In der veröffentlichten Fassung erscheint der Passus als solcher nicht. Zupančič Žerdin, „Kostumografija moči“. Ich stütze mich hier ausgiebig auf ihre Analyse. Ist Jesus am Kreuz dann nicht der/die ultimativ kastrierte König/Autorität, der/die im Namen seiner/ihrer Kastration (des demütigenden Todes am Kreuz) selbst absolute Macht ausübt? Wenn dem so ist – wessen Macht stützt diese Zurschaustellung der Kastration? Aus einem persönlichen Gespräch mit Liza Thompson (der ich diesen Bezug auf Star Wars verdanke).

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Siehe Reza Aslan, Zelot: Jesus von Nazareth und seine Zeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 154. Jean-Yves Leloup, „Judas, le révélateur“, in: Le Monde des Religions (März–April 2005), S. 42. Jean-Pierre Dupuy, Petite metaphysique des tsunamis, Paris: Seuil 2005, S. 19. Jean-Pierre Dupuy, „Quand je mourrai, rien de notre amour n’aura jamais existé“ (unveröffentlichter Vortrag, gehalten zum Kolloquium „Vertigo et la philosophie“ an der École normale de supérieur in Paris am 14. Oktober 2005. Sheila O’Malley, „Underrated Movies # 16: The Rapture (1991)“, in: The Sheila Variations (30. März 2011), www.sheilaomalley.com/?p= 7958, abgerufen am 29. 11. 2017. Ebd. Ebd. Ebd. Zitiert nach www.meyerbuch.com/pdf/Thomas-Evangelium.pdf. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart: Kröner 2011 S. 52. Alenka Zupančič, „The ,Concrete Universal‘ and What Comedy Can Tell Us About It“, in: Lacan: The Silent Partners, hrsg. von Slavoj Žižek, London: Verso Books 2006, S. 173. Siehe Jean-Pierre Dupuy, Economy and the Future, East Lansing: Michigan State University Press 2014, S. 24. Ebd., S. 110. Nehmen wir einen anderen Fall einer solchen Asymmetrie: Wenn Wirtschafts- und Finanzakteure mit der Möglichkeit eines katastrophalen Ausgangs konfrontiert werden, entscheiden sie sich scheinbar „irrational“ dafür, dies zu ignorieren: „Sie streichen diese Möglichkeit aus ihren Berechnungen, mit der Begründung, dass eine genauere kritische Prüfung zu schrecklich sei. Genau dadurch aber, dass sie sie beseitigen, räumen sie ihr einen Platz ein, und zwar einen ziemlich bedeutenden“ (ebd.). Wenn eine 50:50-Wahrscheinlichkeit besteht, dass unsere Aktien weiter steigen oder dass sie mit einem totalen Zusammenbruch des Marktes wertlos werden, mag es „rational“ erscheinen, dass man sie in ihrem Wert um die Hälfte mindert – die eigentlich rationale Strategie besteht jedoch darin, dass man ihren Vollpreis beibehält, da man dadurch gewinnt, wenn alles gut ausgeht; sollte es aber schlecht ausgehen, ist es ohnehin egal, was man gemacht hat. Ebd., S. 27. In meiner Schilderung des Films stütze ich mich stark auf „Predestination (2014) Explained“, in: Astronomy Trek, www.astronomytrek.com/predestination-2014-explained. Zitiert nach Étienne Klein, Discours sur l’origine de l’univers, Paris: Flammarion 2010, S. 157. Sigmund Freud, „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ in: ders., Ge-

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sammelte Werke, Band VII: Werke aus den Jahren 1906–1909, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1972, S. 412. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch X: Die Angst, Wien: Turia + Kant 2010/11, S. 388 f. Der englische Ausdruck potency legt den Akzent auf den Potenzcharakter der Macht, in Abgrenzung von „konkreter“ sozialer oder politischer Macht. Dem mit einem Extrawort entsprechen zu wollen, wäre für meine Begriffe eher verwirrend [Anm. d. Ü.]. Lacan, Seminar, Buch X, S. 337. Guy Le Gaufey, Une archéologie de la toute-puissance, Paris: Epel 2014, S. 20. Jean Bodin, Über den Staat, Ditzingen: Reclam 1986, S. 82. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch V: Die Bildungen des Unbewussten, Wien: Turia + Kant 2006, S. 544. Ebd., S. 545. Jacques Lacan, Schriften I, Weinheim, Berlin: Quadriga 1991, S. 9. Le Gaufey, Une archéologie, S. 111. Für detailliertere Einlassungen zur symbolischen Kastration siehe Kapitel 7 des vorliegenden Bandes. Adam Philipps, „Art of Nonfiction No. 7“, Interview durch Paul Holdengräber, Paris Review (Frühling 2014), S. 46. Wladimir Scharow, Before and During, Sawtry: Dedalus 2014, S. 5. Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: ders., Illuminationen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 59. Zachary Mason, Die verlorenen Bücher der Odyssee, Berlin: Suhrkamp 2012. Raymond Khoury, Dogma, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen, Frankfurt a. M.: Eichborn 2001, S. 248 f. Jacques Lacan, Das Seminar, Buch XX: Encore, Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 63 f. Ebd., S. 50. Ein ähnlicher Fall ist dieser: Golda Meir hat sich angeblich dahingehend geäußert, dass den Juden nach dem Holocaust alles erlaubt sei. Wir haben es hier mit einer Äußerung zu tun, die, auch wenn sie wahrscheinlich nicht stimmt (zumindest nicht bewiesen ist), ins Schwarze trifft und jene Haltung beschreibt, die bei den Gründern des Staates Israel vorherrschte. Für eine detailliertere Entfaltung dieses Punktes siehe meine Ausführungen in Weniger als nichts, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 677. Sprichwörter gleichen Witzen: Man kann sie nicht als Sprichwörter erfinden; nur etwas bereits Gesagtes kann rückwirkend ein Sprichwort werden (den Status eines solchen annehmen). Anders als Witzen aber fehlt den Sprichwörtern in der Regel der wahre Geist, und die einzige Möglichkeit, ihnen ein wenig Geist zu geben, sind Versprecher oder ähnliche Fehltritte. Als ich in den 1980er-Jahren in Paris an Jacques-Alain Millers Seminar teilnahm, bezog ich mich in einer Anmerkung auf ein slowenisches Sprichwort, das dazu verwendet wird, um uns vor zu riskanten und wagemutigen Handlungen zu warnen: „Man kann nicht gegen den Wind pin-

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keln“. Aufgrund meiner Verwirrung habe ich jedoch ein falsches Verb benutzt – statt „on ne peut pas pisser contre le vent“ sagte ich: „on ne peut pas chier contre le vent“. (Dieser Fehler lässt sich vielleicht durch die Klangähnlichkeit zwischen dem französischen Wort chier [dt. kacken] und dem vulgären slowenischen Wort für „ich pinkle“ [ščijem] erklären.) Miller warf mir nur einen kalten Blick zu und bemerkte: „Der Wind in Slowenien muss ziemlich stark sein.“ Rowan Williams, Dostoyevsky: Language, Faith and Fiction, London: Continuum 2008, S. 6. Ebd., S. 17 f. Peter Wessel Zapffe, Om det tragiske, Oslo: De Norske Bokklubbene 2004, S. 147. In seinem Manuskript „An American Utopia“ macht Fredric Jameson etwas Entsprechendes für den Kommunismus geltend: Für Jameson stellt der Kommunismus seinem Begriff nach keine Ordnung idealer Harmonie dar (selbst wenn sich dieses Ideal nie vollständig realisieren lässt, sondern stets „bevorsteht“, ist es für immer aufgeschoben, wird nie vollständig realisiert); seinem Begriff nach ist der Kommunismus vielmehr antagonistisch, von Ausbrüchen selbstzerstörerischen Neids bedroht. maxwellsdemoniac.wordpress.com/2010/10/11/encountering-the-apocalypse-worshipping-our-zombie-lord-or-why-jesus-christ-is-a-piece-of-shit. Passus zitiert nach Slavoj Žižek, Blasphemische Gedanken, Berlin: Ullstein 2005, S. 19 f. (Übers. leicht geändert). Zitiert nach Michael Bordt, Aristoteles’ „Metaphysik XII“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 151. Genau die gleiche Logik ist in Hayeks Verteidigung des Marktes wirksam: „Hayek zufolge erwächst das Böse aus der Tyrannei persönlicher Abhängigkeiten, aus der Unterwerfung eines Menschen unter die Willkür eines anderen. Diesem Zustand der Unterordnung könne man nur entgehen, wenn sich jedes Mitglied der Gesellschaft willentlich einer abstrakten, unpersönlichen und universellen Herrschaft unterwerfen würde, die es selbst vollkommen übersteigt.“ (Dupuy, Economy and Future, S. 10). Qutbs Gott nimmt demnach genau die gleiche Position ein wie Hayeks Markt. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Hamburg: Meiner, S. 165 f. Auf Hearsts Frage, warum er seinen wohlverdienten Urlaub nicht antreten wolle, antwortete der Chefredakteur: „Ich fürchte, wenn ich gehe, wird hier Chaos ausbrechen und alles drunter und drüber gehen – noch mehr fürchte ich allerdings, dass in meiner Abwesenheit alles seinen normalen Gang gehen könnte und ich feststellen muss, dass ich gar nicht wirklich gebraucht werde!“ Zitiert nach Žižek, Weniger als nichts, S. 1072. Die erste Komplikation betrifft hier den Glaubensstatus selbst: Insofern Gott der ultimative große Andere ist, gründet das schwierige Problem eines Subjekts, das „wirklich glaubt“, in dem uneindeutigen virtuellen Status des großen Anderen. Jede Figur des großen Anderen stellt in sich einen Kompromiss dar, der in der Vermeidung der beiden vor uns liegenden alternativen Möglichkeiten gründet – oder, um Artur C. Clarke zu zitieren: „Entweder sind wir allein im Universum [ohne dass da draußen andere intelligente Wesen sind] oder wir sind nicht allein. Beide Möglich-

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keiten sind gleichermaßen schrecklich.“ Der große Andere ist daher etwas dazwischen, das uns den Kuchen essen und gleichzeitig auf dem Teller behalten lässt: Es gibt keinen realen Anderen da draußen, dennoch aber gibt es die Fiktion des großen Anderen, die uns dem Grauen des Alleinseins entkommen lässt. Siehe das erste Kapitel von Jean-Claude Milner, L’universel en éclats, Paris: Verdier 2014. Jacques Lacan, Das Freud’sche Ding oder Der Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse, Wien, Berlin: Turia + Kant 2011, S. 23 f. Ebd., S. 24. Ich klammere hier den Zusammenhang zwischen dem Paar Wahrheit/Genauigkeit und dem Badiou’schen Paar Wahrheit/Wissen aus. Philipps, „Art of Nonfiction No. 7“, S. 43. Sören Kierkegaard, Die Tagebücher, Band 4, Düsseldorf, Köln: Diederichs 1970, S. 156 [X2 A644]. Bertolt Brecht, Prosa 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 18. Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxie: Eine Handreichung für die Ungläubigen, Frankfurt a. M.: Eichborn 2000, S. 258. Sam Harris, Das Ende des Glaubens, Winterthur: Edition Spuren 2007, S. 231. Ebd., Anm. 30, S. 265. Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein 2013, S. 203. Ebd., S. 208 f. Ebd., S. 211. Ebd. Gilbert Keith Chesterton, As I Was Saying. A Chesterson Reader, Grand Rapids: William B. Eerdmans 1985, S. 271.

9 -ject oder -scend? Vom traumatisierten Subjekt zum Subjekt als Trauma 1

Aaron Schuster, The Trouble with Pleasure: Deleuze and Psychoanalysis, Cambridge, MA: MIT Press 2016. Alle nicht ausgewiesenen Zitate in diesem Kapitelabschnitt stammen aus diesem Buch. 2 Friedrich Engels, „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, in: ders., Dialektik der Natur, zitiert nach: www.mlwerke.de/me/me20/me20_444.htm, abgerufen am 7. 12. 2017. 3 Gilles Deleuze, Das Bewegungsbild. Kino 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 168. 4 Ebd., S. 81 [Übers. ergänzt]. 5 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg: Meiner 2003, S. 40. 6 Siehe Judith Butler, Psyche der Macht, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 36 f. 7 Catherine Malabou, Les nouveaus blessés, Paris: Bayard 2007, S. 273. 8 Ebd., S. 322–324. 9 Ebd., S. 326. 10 Ebd., S. 342. 11 Ich fasse hier eine Kritik an Malabou zusammen, die ich im vierten Kapitel meines Buches Living in the End Times (London: Verso Books 2011) entwickelt habe.

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12 Alain Badiou, „Badiou: Down with Death!“, in: Verso Books Blog (18. August 2015), versobooks. Com/blogs/2176-badiou-down-with-death. 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 6: Die Wissenschaft der Logik II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 549. 14 Jacques Lacan, Le séminaire, livre XIX: … ou pire, Paris: Seuil 2011, S. 43. 15 Ebd., S. 54. 16 Robert Brandom, „A Spirit of Trust“, zitiert nach www.pitt.edu/~brandom/spirit_ of_trust_2014.html, abgerufen am 8. 12. 2017. 17 Ebd. 18 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Peter Sloterdijk Lacan vorwirft, er habe den Fokus der Psychoanalyse vom Objektverlangen zur intersubjektiven Anerkennung verschoben. 19 Jacques Lacan, Das Seminar, Buch V: Die Bildungen des Unbewussten, Wien: Turia + Kant 2006, S. 546. 20 Ebd., S. 547 f. 21 Herman Melville, Moby Dick oder Der Wal, Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg 1968, S. 423. 22 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 65 f. 23 Alenka Zupančič, „Ladies and Gentleman: A Fragment on Sexual Difference“ (Manuskript auf Slowenisch). 24 Ebd. Und das Gleiche gilt für den Klassenkampf: „Es gibt kein Klassenverhältnis“; gäbe es zwei klar voneinander unterschiedene Klassen, gäbe es keinen Klassenkampf/-antagonismus. 25 Lorenzo Chiesa, The Not-Two: Logic and God in Lacan, Cambridge, MA: MIT Press 2016. Alle nicht ausgewiesenen Zitate in diesem Kapitelabschnitt sind diesem Buch entnommen. 26 Jacques Lacan, „Sprechen und Sprache in der Psychoanalyse“, in: ders., Schriften I, Wien, Berlin: Turia + Kant 2016, S. 381. 27 Lacan, Seminar, Buch XX: Encore, S. 81. 28 Ebd., S. 83. 29 Für eine detailliertere Darstellung dieses zentralen Punktes siehe Kapitel 3 meines Buches Absoluter Gegenstoß, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016. 30 Von Lacans Warte aus hat Gott nicht nur zwei, sondern drei Gesichter, die natürlich der Triade von Symbolischem, Realem und Imaginärem entsprechen: der symbolische Gott der Philosophen (die rationale Matrix aller Realität, der göttliche Logos), der reale Gott (inkonsistent, böse und rachsüchtig, brutal gewalttätig und dumm, wie der Gott Hiobs oder das kartesische malin génie, die uns alle betrügen), der imaginäre Gott als die Substanz der göttlichen jouissance, einer grenzenlosen Glückseligkeit. 31 Das Zitat im Zitat stammt aus Jacques Lacan, Seminar XV (unveröffentlicht), Sitzung vom 19. Juni 1968. 32 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I: Abhandlungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 1238. 33 All dies habe ich viel ausführlicher in meinen Büchern Weniger als nichts und Absoluter Gegenstoß entwickelt.

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34 Lacan, Seminar, Buch XI, S. 205. 35 Wir haben es hier mit der Hegel’schen Grunddialektik des Allgemeinen und seiner Ausnahme zu tun: Der Pöbel als die Ausnahme, die Klasse, die Keine-Klasse ist, die Klasse, die keinen richtigen Platz im Sozialgebäude hat, bildet die unmittelbare Verkörperung der Allgemeinheit des Mannes. 36 Problematisieren sollte man auch Chiesas selektives Vertrauen auf die Deutungen von Lacans Formeln der Sexuierung: So vernachlässigt er auffällig die Arbeit von Alenka Zupančič, und völlig außer Acht lässt er vor allem Joan Copjecs bahnbrechende Abhandlung „Sex and the Euthanasia of Reason“, in: Supposing the Subject (London: Verso Books 1994, S. 16–44), worin sie durch Verknüpfung von Lacans Formeln der Sexuierung mit Kants Unterscheidung zwischen dynamischem und mathematischem Erhabenem die Grundlagen des transzendentalen Status von Lacans Sexuierungsformeln liefert. 37 Adam Kotsko, Creepiness, Alresford: Zero Books 2015 (zitiert aus dem Manuskript). 38 Auf die ich mich bereits viele Male bezogen habe.

Schluss: Der Mut der Verzweiflung 1

Zitiert nach Maja Megla, Laibach v Severni Koreji: „Ljudje so povsem nedolžni, odprti in čisti“, in: Delo, 19. 08. 2015, www.delo.si/kultura/glasba/laibach-v-severnikoreji-ena-sama-fascinantna-lepota-ljudi.html, abgerufen am 20. 12. 2017. 2 Und, nebenbei gesagt, wenn Novak „noch nicht einmal jemand Hässlichem begegnet“ ist – wo sind solche Leute dann? Offensichtlich in Gulags und in verarmten Dörfern außerhalb des abgeschlossenen Pjöngjang. 3 Für eine einlässlichere Deutung von Davids Gemälde siehe Kapitel 7 meines Buches Weniger als nichts (Berlin: Suhrkamp 2014). 4 Zitiert nach www.operone.de/libretto/mussbode.html, abgerufen am 20. 12. 2017. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Band 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 436. 6 Ebd., S. 403 f. 7 Ebd., S. 434 f. 8 Ich stütze mich hier auf Überlegungen, die von Alenka Zupančič entwickelt wurden. In Fritz Langs Metropolis finden wir den Gegensatz zwischen der guten Frau des Herzens (der Vermittlerin zwischen Arbeit und Kapital, der Garantin der organischen Stabilität sozialer Beziehungen) und der bösen Frau, die sexuell promiskuitiv ist und zur gesellschaftlichen Umwälzung anstiftet (wir erfahren, dass sie ein Cyborg ist, eine Puppenmaschine, die von einem bösen/verrückten Wissenschaftler erfunden wurde und unter Kontrolle gehalten wird). 9 Volker Kahmen, „Walter Benjamin und Werner Kraft“, in: Ingrid und Konrad Scheurmann, Für Walter Benjamin. Dokumente, Essays und ein Entwurf, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 34–55, hier S. 47. 10 Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965, S. 54 f.

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Anmerkungen

11 Ebd., S. 64. 12 Siehe Guy Le Gaufey, Une archéologie de la toute-puissance, Paris: Epel 2014, 13 Alain Badiou, Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, Wien: Passagen 2016, S. 63. 14 Marx-Engels-Werke, Band 32, Berlin: Diez 1974, S. 181. 15 In seinem berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb Marx (auf seine schlechteste evolutionistische Weise), dass sich die Menschheit immer nur Aufgaben stellt, die sie auch lösen kann. Man ist versucht, diese Äußerung umzukehren und zu behaupten, dass die Menschheit sich in der Regel Aufgaben stellt, die sie nicht lösen kann, und dadurch einen unberechenbaren Prozess anstößt, in dessen Verlauf die Aufgabe (das Ziel) selbst eine Neudefinition erfährt. 16 Allen Wood, „Karl Marx on Equality“ (Diskussionspapier), zitiert nach philosophy. as.nyu.edu/docs/IO/19808/Allen-Wood-Marx-on-Equality.pdf. 17 Marx-Engels-Werke, Band 19, 1973, S. 7. 18 Ebd. S. 21. 19 Siehe Fredric Jameson, „An American Utopia“, in: An American Utopia: Dual Power and the Universal Army, London: Verso Books 2016. 20 Siehe Jacques Lacan, „Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“, in: Schriften, Band I, Berlin: Quadriga 1991, S. 220; und ders., Das Seminar, Buch 11, S. 122. 21 Aurelius Augustinus, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Hamburg: tredition 2012, S. 13. 22 Badiou, Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, S. 40. 23 Siehe Jameson, „An American Utopia“. 24 Étienne Balibar, Sur la dictature du prolétariat, Paris: Maspero 1976, S. 148. 25 Ebd., S. 147. 26 Ruth Klüger, weiter leben: eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992, S. 72.

Register Abjektion 203–205 – und Chora 215 – durchqueren 211–220 – und subjektive Destitution 255 – und Subjektivität 228 Abschweifung 374 Absenziale 53–57 Absolute, das 70–71, 359 absoluter Gegenstoß 161–162 absoluter Geist 149–151 absolute Idee 49, 138 absolute Negativität 186 absolute Reflexion 161 absolutes Wissen 133, 306–308 abstrakt – Denken 405–406 – Vorstellungen 53–54 abstrakte Negativität siehe auch göttliche Gewalt 445 Abstraktion 43, 59–63 Abwassersystem 193–194 Abwesenheit 112–113 Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Der (Marx) 7 Adorno, Theodor W. 120–121, 238–239 – Ästhetische Theorie 187 After the Beautiful (Robert Pippin; dt. Kunst als Philosophie) 175 Agnostizismus 415–416, 419–421 Ahmadinedschad, Mahmoud 206–207 Aktivität 385–386 Akzidentielle, Ontologie des 221–222 Aldouri, Hamman 110 Alfred Hitchcock Presents (US-Fernsehserie) 276, 371 Allgemeinheit 37 Alien (Scott, Ridley) 192 Alien–Die Wiedergeburt (Jeunet, JeanPierre) 192–193 Allais, Alphonse 315 Allmacht 342–343, 344 „Älteste Systemprogramm des deutschen

Idealismus, Das“ (Hegel, Hölderlin, Schelling) 51 Althusser, Louis 11 Ambedkar, B. R. 22 „An eine Stadt“ (Eisler, Hanns) 241–242 „An Suleika“ (Goethe, Johann Wolfgang von) 307 Andere, der 49, 173, 230–231, 252, 344–345, 415 – und Allmacht 342–343 – und Begehren 72–75, 389, 455 – und jouissance 217–218 – bei Lacan 344–345 Animismus 419–420, 421–423 Ansich 117, 120, 122–123 siehe auch Stockan-sich-Beispiel Antagonismus 386–387, 443–444 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Kant, Immanuel) 189, 209 Antisemitismus 212–213, 216, 218, 219–220 – bei Heidegger 280–284 Antihumanismus 30–31, 37 Apparaturen 44–45 Arbeit 22 – Natur und 40–41 Arbeitswerttheorie 76 Architekturgestaltung 375 Argus 181, 183 Aristoteles 8, 368–369, 385–386 l’art pour l’art 202 Aslan, Reza 321 Ästhetik des Häßlichen (Rosenkranz, Karl) 186 Ästhetische Theorie (Adorno, Theodor W.) 187 Asymmetrie 331–332 Atheismus 325, 341–342, 377–381, 419–420 Atomphysik 336–337 Atonalität 244–247 Attraktoren 84–85 „Aufgabe des Übersetzers, Die“ (Benjamin, Walter) 348 Aufhebung 109–110, 365

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Register

Aufklärung, die 284, 287 Augen 180–182, 184–185 siehe auch Argus Augustinus, heiliger: Bekenntnisse 455 Ausdruck 418 äußere Reflexion 159 außerkörperliche Erfahrung 34 Äußerlichkeit, Externalität 63–65 Auslöschung 32 Ausschluss 110–111 Avant demain (Malabou, Catherine) 105–106 Badiou, Alain 403–404, 451–452, 453 Badiou’sches Ereignis 131, 373 Balibar, Étienne 457–458 Balmès, François 260 Baltimore-Unruhen 448 Barthes, Roland 227 Bataille, Georges 440 Beckett, Samuel 262–263 – Erzählungen und Texte um nichts 263–265 – L’innomable (Der Namenlose) 263–265, 267 – Molloy–Malone stirbt–L’innomable, Trilogie 263–265 – Nicht ich 266–268, 270–276 – und Subjektivität 264–265, 271–272 Before and During (Scharow, Wladimir) 348 Befreiung 133–134 siehe auch Revolution Begehren 229, 340, 395–396, 397, 455 – bei Brandom, Robert 409 – und der Andere 385–391 – und Trieb 385–391 „Begehren und seine Deutung, Das“ (Lacan) 389 Begriff 60–61, 61–63 Begriff Angst, Der (Kierkegaard) 369 Bekenntnisse (Augustinus) 455 „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ (Freud) 339 Benjamin, Walter – Dialektik im Stillstand 88–89 – „Aufgabe des Übersetzers, Die“ 348 – Passagen-Werk 424 – „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ 88

– und Übersetzungsmetapher 240, 348–349 – „Zur Kritik der Gewalt“ 445–448 Bennett, Jane 75, 462 Anm. 24 Beobachter, Rolle des 71 Berardi, Franco 39 Berlin 458 beschränkte Ökonomie 438 Beschränkung 52–53 bestimmte Negation 110–111, 346–347 bestimmte Reflexion 160 Bewusstsein 132 Bibel 28, 99, 350–351 – Buch Hiob 361 Biogenetik 30–31 Biologie 52–53 blinde Flecken 81 Blindheit 60 Boris Godunow (Mussorgsky) 439 Böse, das 98–99, 327, 463 Anm. 25 – und Tod 407 Bostridge, Ian 57 Boulter, Jonathan 264–265 Brandom, Robert 110–113, 115–124, 127–130, 132–133, 136, 139–144 – Begehren 409 – erotisches Bewusstsein 408–409 – Erscheinung 151–152 – Stock-an-sich-Beispiel 115 –116 Brassed off–Mit Pauken und Trompeten (Herman, Mark) 340 Brassier, Ray 35 Brazil (Gilliam) 77–78 Brecht, Bertolt 377 Besson, Luc: Lucy 52 Brown, Clarence: Possessed 225 Bryant, Levi 69–70, 71–75, 81, 85 Buch Hiob 361 (auch als Unterpunkt zur Bibel) Bucharin, Nikolai 304 Buddhismus 211, 382–384 Burkas 314–315 Bürokratie 76–77 Busch, Wilhelm: „Max und Moritz“ 407 Cäsar, Julius 330 Cameron, James: Titanic 225 (taucht nochmal unter Titanic auf) Carnaval (Schumann, Robert) 245–247

Register Casablanca (Curtiz, Michael) 141 Casanova ‘70 (Monicelli, Mario) 395–396 (der Film ) Cash, Johnny 363 Cassirer, Ernst 234 Cavell, Stanley 20–21 Céline, Louis-Ferdinand 211–213 Charlie Hebdo (Zeitschrift) 365 Chesterton, Gilbert Keith 11, 222–223, 384 – und Christentum 351–352 – Der Mann der Donnerstag war 315 Chiesa, Lorenzo 415, 417–431 – sexuelle Differenz 425–431 – zu Žižek, Slavoj 422–425, 429–431 Chile 77 chinesische Kulturrevolution 128 Chora 215–216, 221 Christentum 15–16, 89, 134, 325, 351, 371 siehe auch Bibel; Gott – als absolute Religion 150 – und Asymmetrie 331 – und das Böse 326–327 – und Dawn of the Dead 364 – und Diskrepanz 185–186 – und das Erhabene 184–185 – und Freiheit 142 – und Gericht 331 – Gnostizismus 99, 326 – bei Hegel 308 – Katholizismus 24, 206, 261, 360 – bei Kierkegaard 383–384 – und Liebe 361–362, 378 – Protestantismus 360–361 – und Sexualität 24 – und Versöhnung 144–146 – Verstehen 384 – und Wissen 326–327 – und Zweifel 376–377 Christus 148–150, 185, 361, 477 Anm. 39 – Benennung von 317 – Trennung zwischen Jesus und Christus 327 – Sieben letzte Worte von 351 – Tod und Auferstehung 317–318, 321, 325, 327, 364–365 – und Vergebung 379 Cogito 403, 406 Comay, Rebecca 467 Anm. 26

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Conrad, Joseph: Herz der Finsternis 411 Copjec, Joan 483 Anm. 36 Cousin, Victor 202 Creepiness (Kotsko, Adam) 228–232 Croce, Benedetto: Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie 9–10 „Dame verschwindet, Eine“ (Hitchcock) 193 David, Jacques-Louis: Der Tod des Marat 438–439 Davoser Auseinandersetzung 279–280 Dawkins, Richard 358–359, 470 Anm. 41 Dawn of the Dead (Snyder, Zack) 364 Deacon, Terrence 53–55 Dead of the Night (Cavalcanti, Alberto et al.) 258 Dekalog 6 (Kieślowski, Krzystof) 225–226 Dekohärenz 65–66, 68 Deleuze, Gilles 8, 389–390, 471 Anm. 9 – Begehren und Trieb 389–390 – Logik des Sinns 56, 412 – Rhizom 8 – Todestrieb 393 Demokratie 310, 455–456 Denken 405–406 deontologische Dimension 27–29 Descartes, René: Discours de la méthode 300–301 Determinierung in letzter Instanz 35 deutscher Idealismus 167 Deutschland 80 Dialektik 49–50, 89–90 – bei Badiou 452 – bei Hegel 9, 19, 49–50, 109–110 – bei Lenin 451–452 – bei Mao Zedong 452 – bei Marx 452 – und Zeitlichkeit 110 Dialektik im Stillstand (Benjamin, Walter) 88–89 Dialektischer Materialismus 9–12, 16, 49, 451–452 Dialog 269–270 Dialog, Der (Koppola, Francis Ford) 193 DDR 458 Dichtung 100–102 Dickens, Charles 222–224, 226

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Register

Diderot, Denis: Rameaus Neffe 135, 441 Differenzialität 55–56, 111–113, 421 Diktatur des Proletariats 457 Ding 83–84, 361 Ding an sich 107, 422 Discours de la méthode (Descartes) 300–301 Diskurs 462 Anm. 18 Disparität 10 – Bezug zu Hegel 15 Doescher, Ian 461, Anm. 4 Dogma (Khoury, Raymond) 350–351 Don Carlos (Verdi) 476 Anm. 16 Don Karlos (Schiller) 290–297, 305, 311 Doppelspaltexperiment 63, 64 „Drängen des Buchstabens im Unbewussten, Das“ (Lacan) 167–168 Dupuy, Jean-Pierre 31, 47–48, 318, 320, 330–332 – Kontrafaktizitäten 329–330 – Mark of the Sacred, The 47 Effekt des Realen 227 Ehe 320 Eifersucht 217 Einheit 15–17 Einschluss 110–111 Einteilung, Klassifikation 21–23 siehe auch Hierarchien Eisenstein, Sergej 27 – Generallinie, Die (Das Alte und das Neue) 27 – Iwan der Schreckliche 244 Eisler, Hanns 238–242 – „An eine Stadt“ 241–242 – Ernste Gesänge 238, 242 – „Heimat“ 240–241 – „Hölderlin-Fragmente“ 239–241 – und Regen 238, 243, 247 – Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben (op. 70) 238 – Verfremdung bei 241–242 Ekel 188–192, 203 siehe auch Verunreinigung – und Sprache 214 Elefantenmann 185 Elisabeth I. von England 297–298

Emanzipation der Schwarzen 96–97, 166, 347 Emanzipationspolitik 453–454 Emergentismus, Emergenzmodell 53 Emotion 243, 245 Empire: Die neue Weltordnung (Hardt, Michael/Negri, Toni) 7–8 Endlichkeit 404, 406–415 energeia 385–386 energeia akinesias 385–386 Engels, Friedrich 388 Entäußerung 47 Entfremdung 47–50, 133–134, 137, 147 – Musik und 241 – als Lösung 217 Entmystifizierung 311 Entscheidungen 297–301 Entschuldigen 138, 340 (Enzyklopädie-)Logik (Hegel) 119, 138 Epigenese 105–106 Epistemologie 70 Erasmus von Rotterdam 281 Erdbeben-Analogie 106, 168 Erde 8–9 Erde (Heidegger) 173 Erderwärmung, globale Erwärmung 45 Ereignisse 318 Erfahrung 92, 116–117 Erhabene, das 184–188 Erinnerung 129, 133, 140, 142f Ernste Gesänge (Eisler, Hanns) 238, 242 erotisches Bewusstsein 408–409 Erscheinung 151–152 Erzählungen und Texte um nichts (Beckett) 263–265 Es war einmal in Amerika (Leone, Sergio) 423 „Es weint mein armes Herz“ (Verlaine, Paul) 243 Ethik 149 – Spinoza, Baruch de 28–29 Ethik, Die (Spinoza) 28–29 europäischer Nihilismus 279–280 Europäische Union 289 – und Griechenlands Schulden 456 – und Subventionen 456 Everything Was Forever, Until It Was No More (Yurchak, Alexei) 338

Register Evolution 32, 65, 250–251, 357 Ewigkeit 149 Existenz 66, 415 Extremismus 279–280 Exzesse 388 Fakten 152 Faktizität 70–71, 343 falsche Aktivität 386 Faschismus 212–213, 215–216, 279, 285, 308–309, 441 Fetischismus 43, 49, 75–76, 208–211 – und Macht 313–314 fetischistische Verleugnung 208–209 Feynman, Richard 37 Fichte, Johann Gottlieb 467 Anm. 18 figurae veneris 10 Fiktion 227 Fincher, David – Sieben 476 Anm. 14 Finden 133–134 Finnegans Wake (Joyce) 262 Flugzeugunglücke 332–333 Folgen 462 Anm. 24 Ford, Ford Madox: Zapfenstreich 378–379 formaler Gebrauchswert 165 Fortpflanzung, Scham und 30–32 Foucault, Michel 397–398 – und Manet, Édouard 238 Frankreich 314, 318 siehe auch Französische Revolution – Ausschreitungen in 448–449 – politische Theorie in 454 Französische Revolution 287, 302–304, 308, 333, 362–363, 400–401, 453–454 Frauen 231–232, 286–289, 396 siehe auch Geschlecht; Geschlechterdifferenz – im Islam 443–444 – Mütter 236–237 – und phallische Funktion 426–429 – und Phantasmen 432–433 – Urmütter 343 – weibliche Position 429–430 freie Assoziation 163 freie Handlungen 154, 400 freier Markt 456–457 Freiheit 107–108, 134, 152–153, 157–158, 293 – bei Aristoteles 368–369

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– im Christentum 142, 293 – bei Hegel 152–153, 157–158, 430–431, 441–442 – bei Kant 198–190 – in der Kunst 197 – militärisches Werkzeug der 375 – bei Qutb, Sayyid 366–369 – und Schicksal 319–320 – bei Schiller 285–287, 288 Freud, Sigmund 25–26, 168–169 siehe auch Todestrieb – „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ 339 – Fantasien 54 – Hans 236–237 – „Hemmung, Symptom und Angst“ 340 – „Jenseits des Lustprinzips“ 191 – künstliche Massen 450 – „Liebe deinen Nächsten“ 149 – Massenpsychologie und Ich-Analyse 445 – normative Strukturen 129–130 – Rattenmann 339–340 – Selbstbewusstsein 120 – Signifikanten 214–215 – Subjekt 166–167 – Trauma 131 – Träume 92–94, 224–225 – Trieb 88–89 – Unbewusste, das 127–128, 167–168 – Wolfsmann 131 – Widerstand 87–88 Freud‘sche Analyse 88–89 „Freundschaft, Die“ (Schiller) 305–306 Fricken, Ernestine von 245 Frühstück im Grünen, Das (Manet, Édouard) 179 Gabriel, Markus 380–381 Gandhi, Mahatma 22 Ganzheit 16–19 Gebrauchswert 165–166 Gehirn 52–54 siehe auch Neurologie; – Unbewusste, das 52–53 Geist 59, 92, 95–96, 173 – absoluter Geist (AS) 149–150 – und Kunst 173, 238 – bei Hegel 91–92, 96, 98, 104, 119, 129–130, 142–143

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– Macht des 142–143 – objektiver Geist (OS) 149–150 – bei Pippin, Robert 154 – subjektiver Geist (SG) 149 – und Unendlichkeit 306–307 geistige Körperlichkeit 238, 246 geistige Selbstbeziehung 154 geistige Substanz 144–148 geistiger Materialismus 357–358 Geld 23 Geldwaren 164–166 gemeinsames Leben 43 Gemeinwohl 128 Genießen, Genuss 188–189, 208, 386–387, 392 siehe auch jouissance; jouissance féminine – und Hunger 408 – interpassives 432–433 Gesandten, Die (Holbein, Hans) 183 Geschichte 143–144, 242, 451–452 siehe auch Vergangenheit – und Kunst 197 – bei Scharow, Wladimir 348 Geschichte und Klassenbewusstsein (Lukács, Georg) 48 Geschichten 349 – Handlungsverläufe und 349 Geschlecht 181, 192–193, 368 siehe auch Geschlechterdifferenz; Frauen Geschlechterdifferenz 17–18, 415, 425–431, 432–436, 444 Geschlechtsbeziehungen 425, 431–436 Gesichter 314–316 Gesundheit 360 Generallinie, Die (Das Alte und das Neue; Eisenstein) 27 Gerechtigkeit 25–26, 446–447 Gesellschaft 120, 182–183, 443–444 gespaltene Objekte 72 gespaltene Subjekte 72 Gewalt siehe göttliche Gewalt Ghost, The (Harris, Robert) 355 Gibson, Mel 351 Gilliam, Terry: Brazil 77–78 Girls (US-Fernsehserie) 229 „Glass Eye, The“ (Stevens, Robert) 276, 371 Gleichheit 453–455 Globalisierung 216–219

Gnostizismus 99, 326 Goethe, Johann Wolfgang von: „An Suleika“ 307 Gold 165–166 Gott 28, 145–149, 208, 257, 361–362, 482 Anm. 30 siehe auch Allmacht – Analogie des zerbrochenen Gefäßes 352 – bei Bryant, Levi 73–74 – und Christus 325–326 – Existenz von 353–354, 369–371, 376–380, 414–415, 418–420 siehe auch Atheismus – und Grausamkeit 361–364 siehe auch Rapture, The – bei Gabriel, Markus 380–381 – bei Hegel 307 – und Ökologie 41 – und Quantenphysik 67–68 – bei Schelling 74 – bei Schiller 292–293, 296–297 – bei Zapffe, Peter Wessel 361 Gottheit 379–380 Gott ist nicht groß (Hitchens, Christopher) 361 Göttliche, das, und Bürokratie 77 göttliche Gewalt 445–451 Griechenland 182–185, 290, 333, 457 großer Anderer 41, 49, 67–68, 344–345, 480 Anm. 50; siehe auch Gott – bei Hegel 130 – bei Lacan 34, 47, 163–164, 167 – und Liberalismus 150–151 – in Nicht ich 267–269 – und objektive Erscheinungen 151–152 – und Selbstbewusstsein 163 – und Stalinismus 150–151 – Unvollständigkeit des 418 Grund 162, 173–174 Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 49 Gruseligkeit 228–229, 230–231 – und Fantasie 233–234 – und Worte 237 Guevara, Che 79–80 Gute, das 195 – Schein des 209–210 Habermas, Jürgen 33, 86, 279–280 Haiti 333

Register Hamlet (Shakespeare) 7, 329–330, 360 Hardt, Michael (und Negri, Toni): Empire: Die neue Weltordnung 7–8 Harris, Robert: Ghost, The 355 Harris, Sam 378–380 Hässliche, das 181, 186–188, 190 hässlicher Blick 180–186 Hawking, Stephen: Eine kurze Geschichte der Zeit 185 Hayek, Friedrich von 480 Anm. 47 Hedonismus 360 – und Gewissen 396–370 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 443–444, 458–459 – absolute Idee 49–50 – absoluter Gegenstoß 161–162 – absolute Reflexion 161 – absolutes Wissen 109 – abstrakte Negativität 445 – Abstraktion 43, 60–62, 195–196 – „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Das“ 51 – Anerkennung 468 Anm. 20 – Aufhebung 109 – Begriff 60–61, 61–63, 405–406 – bestimmte Negation 110–111 – bestimmte Reflexion 158–159 – Böse(sein), das 98–99 – Christentum 308 – Denken 405–406 – Dialektik 9, 19–20, 49–50, 109–110 – Differenzialität 112 – Entäußerung 47–48 – Entfremdung 129–130, 137 – (Enzyklopädie-)Logik 119, 138 – Erfahrung 115–117 – Erscheinung 151–152 – Existenz 21–22 – Französische Revolution – Freiheit 152–153, 157–158, 429, 442–444, 362 – Geist 91–92, 96, 98, 104, 119, 129–130, 136, 142–143 – Griechenland 183–185 – großer Anderer 151–152 – Grund 162 – Grundlinien der Philosophie des Rechts – Handlung 125–126, 127–128

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– Heilen von Wunden 142–145 – Humanismus 38–39 – Humanus 201 – Judentum 89 – Komödie/Tragödie 200–202 – konkrete Allgemeinheit 22–26 – Kunst 174, 175–178, 195–197, 198–202 – List der Vernunft 80 – bei Malabou, Catherine 401–402 – menschlicher Körper 180–182 – Negativität 60, 440 – objektiver Geist/absoluter Geist 149–151 – Ökonomie 195–196 – Phänomenologie des Geistes 15, 91–92, 110, 113, 115–116, 306–307 – bei Pippin, Robert 152–155 – Psychoanalyse 163–164 – Realität 85, 121–123 – Reflexion 159–162 – Religion 144–147 – Revolution 308, 439–440 – Schönheit 154–155 – Schwachpunkte, Fehlschläge 467 Anm. 24 – Schwierigkeit von 110 – Selbstbewusstsein 152, 157, 163–164 – spekulatives Denken 118–119 – spekulatives Urteil 92 – Staat 163–164 – Subjekt 60 – Subjektivität 104 – Tatsachen 152 – Tod 404, 429 – unendlicher Zweck 135 – Unfreiheit 176 – Vermittlung 110–111, 116 – Vernunft 152, 157, 307–308 – Versöhnung 121, 143–144, 146–147, 177– 178 – Vertrauen 132–133 – Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 7 – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 307 – Vorlesungen über die Philosophie der Religion 307 – Vorlesungen über die Philosophie des Rechts 136–137 – Wahrheit 116, 137–139

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Register

– Weben des Geistes 134–135 – Weltgeist 7–8 – Wesen 162 – Widersprüche 120–121 – Wirklichkeit 85 – Zeremonien 164–165 hegelianische Philosophie 7 Hegel’s Idealism (Pippin, Robert) 158–159 Hegel’s Practical Philosophy (Pippin, Robert) 153–154 Heidegger, Martin 29–30 – Antisemitismus 279–283 – Davoser Auseinandersetzung 279 – Erde 173 – Grund 163–164 – Gute, das 195 – Humanismus 37 – Nazismus 279–284 – Schwarze Hefte 280, 283 „Heidschi Bumbeidschi“ (Heintje) 234 Heilen von Wunden 142–145 Heilige, das 76 „Heimat“ (Eisler, Hanns) 240–241 Heintje – „Heidschi Bumbeidschi“ 234 – „Mama“ 234 – „Mamatschi“ 235–237 Her (Jonze, Spike) 434–436 Hermeneutik des Verdachts 130–132 Herr-Knecht-Beziehung 291 Herren 310, 369 siehe auch Gott Herrensignifikanten 16, 28–29, 95, 259, 445 „Hemmung, Symptom und Angst“ (Freud) 340 Herz der Finsternis (Conrad, Joseph) 411 Hierarchien 27, 181–183, 454 siehe auch Einteilung, Klassifikation historische Notwendigkeit 330 historischer Determinismus 329–330 historischer Materialismus 451–453, 461 Anm. 2 Hitchcock, Alfred 194 – Dame verschwindet, Eine 193 – Psycho 193, 258 – Unsichtbare Dritte, Der 168 – Vertigo 320, 331 – Vögel, Die 268

Hitchens, Christopher: Gott ist nicht groß 361 Hitler, Adolf 80, 220 Hochzeitszeremonie 164–165 Holbein, Hans: Gesandten, Die 183 Hölderlin, Friderich: „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Das“ 51 „Hölderlin-Fragmente“ (Eisler, Hanns) 239–241 Holocaust 143–144, 198–200, 282, 479 Anm. 37 – Schuldgefühle 363 – Klüger, Ruth 458–459 Homosexualität 207, 218 Hopper, Edward 443 Humanismus 37–38 Humanität 149 – und Alltäglichkeit 312–314 – Bedrohung für die 221–222, 379–380 Humanus 201 Humoreske (Schumann, Robert) 346 Hunger 408 Hyäne 315–316 Hyperobjekte 45–47 Hypothese Gott 354 Hysterie 230–232, 254–255 I Inside, The (Richter, Roland Suso) 334 Idealismus 50–51, 405 Idee 138 Identität 63, 97, 346 – kollektive 219–220 – und Malcolm X 96–97 – und Vermittlung 111 – symbolische 253–254 Ideologie 74–80, 374–375 ideologische Anrufung 253 Illusionen, Täuschungen 138 In-die-eigene-Falle-Gehen 209–210 Incomplete Nature (Deacon, Terrence) 52 Indien 181–182 Indifferenz 422 indikativischer Bedingungssatz 329 Ingres, Jean-Auguste-Dominique: Venus von Urbino 180 inhuman 45 Innen-Außen-Grenze 191

Register L’innomable (Der Namenlose; Beckett) 263–265, 267 Insignien 294–295, 310 Intersubjektivität 48, 58 Investitur 168 Inzest 388 Iran 206–207 Islam 366–367, 375–376, 444 Israel 281 Ist das ein Mensch? (Levi, Primo) 199 Iven, Joris: Regen 238–239 Iwan der Schreckliche (Eisenstein) 244 Jakob, Geschichte von 18 Jakobinismus 438–439 Jakobson, Roman 221 Jameson, Fredric 113, 455, 457, 480 Anm. 43 je ne sais quoi 198 ject 385 „Jenseits des Lustprinzips“ (Freud) 191 Jeunet, Jean-Pierre: Alien: Die Wiedergeburt 192– 193 Johannes Paul II. 17 Johnston, Adrian 51–52, 54 Jonze, Spike: Her 434–436 jouissance 19–20, 203, 217, 220 – bei Lacan 217–218, 351–352, 407–408 – MOOR EEFFOC 225 – und Tod 409 jouissance féminine 353, 416 Joyce, James 261–262 – Finnegans Wake 262 Judentum 88, 145, 351, 376 siehe auch Antisemitismus – Diskrepanz 186 – bei Heidegger 280 – Weltjudentum 281–282 jüdisches Gesetz 361–363 Juliette (Sade, Marquis de) 397–399 Kafka, Franz 77–78 Kandinski, Wassily: Über das Geistige in der Kunst 197 Kant, Immanuel 19–20, – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 189, 209 – Antihumanismus 36, 394–395, 396–397 – Epigenese 105

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– Erhabene, das 188 – Freiheit 157 – Gefühle und moralisches Gesetz 396 – Genuss 188 – Kritik der praktischen Vernunft 107, 395 – Leidenschaften 189 – Opus postumum 148 – Transzendentale, das 106 – transzendentales Subjekt 166–167 – Widersprüche 119 – Wildheit 156–157 Kant mit Sade (Lacan) 397, 409 Kapitalismus 23, 232, 300, 457 – und Abstraktion 60–61, 195–196 – und Entfremdung 48–49 – freier Markt 456–457 – und Gewalt 195–196 – und Gleichheit 455 – und Kommunismus 356–357 – und Träume 93–94 – und ökologische Krise 40 Karolinska-Institut 34 Kastensystem 22–23, 182, 205–206 Kastration 230, 232, 261–312, 344–345, 411–412, 427 Katastrophe 221–222, 224, 318–319 Katholizismus 24–25, 207, 261, 360–361 Khoury, Raymond: Dogma 350–351 Kierkegaard, Søren 369–372, 375, 380–381, 384 – Der Begriff Angst 369 – Unsterblichkeit 407 Kieślowski, Krzystof 225–226 – Dekalog 6 225–226 Kino 27, 52, 77–78 – Fantasieszenen 225–226, 227 Klang 237, 243–244siehe auch Musik Klassenkampf 25, 125, 182, 430–431, 443, 445–446, 178 – bei Pippin, Robert 178 klassische Werke 461 Anm. 4 Kliterodektomie 396–397 Klüger, Ruth: weiter leben: eine Jugend 458–459 Kohlenstoffbefreiungsfront 40–42 Kollektivierung 126 Koloss von Rhodos 183 konkrete Allgemeinheit 21–25, 61

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Register

Kontingenz 146, 264 Kontrafaktizität 329–334, 345–356, 420 Komik, Komödie 198–201 Komische, das 187 Komische Oper 458 Kommunikation 217, 465 Anm. 9 siehe auch Dialog; Sprache Kommunismus 27, 75, 128, 129, 279, 356, 453 siehe auch Linke, die – Axiom des 455 – Existenz des 414 – bei Fredric Jameson 480 Anm. 43 – und Kapitalismus 457 – und Neid 455 – in der Sowjetunion 320 Körper – des Königs 75 – menschlicher 180 – Unsterblichkeit des 397–398 körperlose Organe 226, 276, 389–390 Kosmismus 30–31 Kotsko, Adam 432 – Creepiness 228–232 – Hysterie 231 Kraft, Werner 445–446 Krake 8–9 Krakenmetapher 8–9 Kristeva, Julia – Abjekt 155–156, 190, 203, 211–212, 215, 252 – Chora 215–216, 221 – Fetischismus 208–209 – Sprache 208–209 Kritik der praktischen Vernunft (Kant) 107, 395 Kubismus 469 Anm. 10 Kunst 155, 173–174, 187 – und Abjektion 211–212 – und Abstraktion 196 – und der Blick 179, 180–186 – und Freiheit 197 – und Geschichte 197–198 – und Griechenland 183–185 – und Hässlichkeit 187–188, 191 – bei Hegel 174, 175–178, 195–196 – bei Kandinsky 197–198 – bei Manet 178–180, 237–238 – und Materialität 237–238 – moderne Kunst 237–238, 442–443

– und Munch 246–247 – und Nacktheit 179–180 – und der Rahmen 442–443 – und Schönheit 195 Künstliche Intelligenz 38 künstliche Massen 450–451 Kurze Geschichte der Zeit, Eine (Hawking, Stephen) 185 Lacan, Jacques 17–18, 395, 417–419 – Agnostizismus 415–416, 419 – Atheismus 375–376, – „Begehren und seine Deutung, Das“ 389 – Begehren und Trieb 389, 390, 395, 424–425, 455 – „Bericht von Rom“ 415–416 – Differenzialität 112 – Ding, das (Ding/Sache) 83–84 – „Drängen des Buchstabens im Unbewussten, Das“ 167–168 – Exkrement 193 – Existenz und 19–20 – Formeln der Sexuierung 426 – Frauen 429 – geschlechtliche Fortpflanzung 421, 430–431 – großer Anderer 33, 48, 167–168 – Hypothese Gott 354 – jouissance 217–218, 351–352, 407–408 – und Joyce, James 262 – Kant mit Sade 397, 409 – lalangue 86, 262 – Leiden 396 – Menschlichkeit von 314 – Natur 416–417 – Nächstenliebe 149 – Nicht-Alles 417–418 – objet a 57–58, 100 – bei der OOO (Objektorientierten Ontologie) 82–83 – Phantasma 412 – psychoanalytische Deutung 130 – Reale, das 83–85, 261–262 – Realität 83 – Schriften (Écrits) 345, 416 – Sein 28–29 – Seminar V „Bildungen des Unbewussten“ 343–344

Register – Seminar X 341 – Seminar XI 151 – Seminar XVIII 130 – Seminar XX „Encore“ 352–353, 374, 416 – Semiotik 56–57 – sexuelle Befriedigung 396–397 – Signifikanten 410–411 – Sinthome 243–244 – Sprache 86 – subjektive Destitution 252 – Tod 409–410 – Unbewusste, das 58, 102, 163, 167–168 – Unsterblichkeit 407, 411 – Ursache 151 – Wahrheit 373 – zweiter Tod 399 lachende Hyäne 315–316 Laibach 437–48 lalangue 86, 262 Lamelle 220 Lang, Fritz: Metropolis 483 Anm. 8 Larina, Anna 304 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen 69 Laurent, Éric 216–217 Leben 99, 103–104, 393 – alternative Leben 347–348 – und Ekel 192–193 Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie (Croce, Benedetto) 9–10 Leclaire, Serge: Psychoanalysieren 245 Leere 425 Leiden, Schmerz 396 Leidenschaft 189 „Leiermann, Der“ (Schubert, Franz) 272 Lenin, Wladimir Iljitsch 303 – und Dialektik 451–452 – Materialismus und Empiriokritizismus 11 Leninismus 130 –131 Leone, Sergio: Es war einmal in Amerika 423 Levi, Primo 363 – Ist das ein Mensch? 199 Lichtveld, Lou 238 Linke, die (politische) 279–280 Lévi-Strauss, Claude 114, 388 Lewis, C. S. – Überrascht von Freude 273

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Liberalismus und der große Andere 150–151 Liebe 131, 149, 164, 276, 374 – bei Chiesa, Lorenzo 425–426 – im Christentum 361–363 – in Don Karlos (Schiller) 291 – und Scheidung 321 – und Wissen 250–251 Liebespaar 444 „Lied von der Glocke, Das“ (Schiller) 285–287, 288–289 Literatur 211 – Reale, das, und die 410 Logik der inhärenten Überschreitung 75 Logik des Sinns (Deleuze) 56, 412 Lucy (Besson, Luc) 53 Lügen 354–356, 375 Luhmann, Niklas 83 – Ökologische Kommunikation 81 Lukács, Georg 49 – Geschichte und Klassenbewusstsein 48 Lust 188, 385–386 Lustprinzip 393–394, 396 Luther, Martin 280 Lynch, David: Mulholland Drive 422 Machenschaft 280–28 Macht, Potenzmacht 343 Macht 290, 294–295, 300, 309–314 siehe auch Monarchien – souveräne Macht 344 Madonna (Munch, Edvard) 443 Malabou, Catherine – Avant demain 105–106 – Erdbeben-Analogie 105, 168 – und Freud 401 – nouveaux blessés, Les 401 – Ontologie des Akzidentiellen 221–222 – und Trauma 401, 403 Malcolm X 95–97 Malebranche, Nicolas 328 Malewitsch, Kasimir Sewerinowitsch: Schwarzes Quadrat auf weißem Grund 176, 193, 442 Mali 456 „Mama“ (Heintje) 234 „Mamtschi“ (Heintje) 235–237 Mana 113–116

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Register

Manche mögen‘s heiß (Billy Wilder) 378–379 Manet, Édouard 178–179, 238 – Das Frühstück im Grünen 179 – Olympia 179–180 Mangel 65, 387, 388, 413–415, 421 Mann, Thomas: Der Zauberberg 99 Mann der Donnerstag war, Der (Chesterton, G. K.) 315 Mann mit der Kamera, Der (Wertow, Dsiga) 27 Männer 426–431, 432–433 Männerbund, Männerfreundschaft 289– 294 männliche Position 426, 429 siehe auch Männer Mannoni, Octave 208–289 Mao Zedong 17, 128 – und Dialektik 452 Maoismus 428 Mark of the Sacred, The (Dupuy, JeanPierre) 47 Markt, der 47–48, 480 Anm. 47 Marktgesellschaft 129 Martel, James 79 Marx, Groucho 10 Marx, Karl 126, 168, 445 – 11. These 131 – Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Der 7 – Abstraktion 61–62 – Arbeitswerttheorie 7 – Dialektik 451 – Entfremdung 48 – gesellschaftliche Produktivität 129 – Gleichheit 454–455 – Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 49 – Kapital, Das 75–76, 164–165, 195–196, 328 – Macht 312 – normative Strukturen 130 – Positivität 50 – Versöhnung 122 – Warenfetischismus 151–152 Marxismus 25, 30, 302, 456 – und (Zwischen-)Stufen 456 – und Warenfetischismus 54, 328 – und Wahrheitseffekt 131

Masken 314–315 Mason, Zachary: Verlorenen Bücher der Odyssee, Die 350 Massenpsychologie und Ich-Analyse 445 Masturbation 431 Materialismus 34–36, 405–407 – bei Brassier, Ray 35 – bei Meillassoux, Quentin 124 – und Religion 322–323, 325 – bei Sellars, Wilfrid 34–35 Materialismus und Empiriokritizismus (Lenin) 11 materialistische Theologie 357–360 Materialität, Kunst und 238, 246–247 Materie – und Beschränkung 52–53 – und das Böse 99 – und die Null 54–56 Mathematik 54–55, 84–85 „Max und Moritz“ (Busch, Wilhelm) 407 Meillassoux, Quentin 70–71, 124 Melville, Herman: Moby Dick 410 Meme 470 Anm. 41 Menschen 23–25, 359–360 – Auslöschung 31 – Körper des 180 siehe auch Körper – Mutation des 29–30 – und Natur 47 – und Technik 37 Menschheit 149 Menschenrechte 79–80, 97–98 menschliche Zivilisation 366–368 menschliche Lage, conditio humana 424 Metaphysik 69 Metropolis (Lang, Fritz) 483 Anm. 8 Metzinger, Thomas 382 Milestones (Qutb, Sayyid) 366–368 Militarisierung 456–457 Miller, Jacques-Alain 479 Anm. 39 Milner, Jean-Claude 298–304, 371 Mimesis 198–199 Minderheitengruppen 269 minimale Veränderung 250–251 Minimalismus 262 siehe auch Nicht ich Misinterpellation 79–80 Mnemotechnik 244–246 Moby Dick (Melville, Herman) 410 modernes Leben, Kunst und 178–179

Register Moderne 136 Möbiusband 411 Möglichkeit 264 molare Ebene 43–45 molekulare Ebene 43–45 Molloy–Malone stirbt–L’innomable, Trilogie (Beckett) 263–265 Monarchien 290, 291, 294–296, 304, 309 – absolute Monarchien 370 Monglond, André 424 Monicelli, Mario: Casanova 70 395–396 Monotheismus 204–205 „MOOR EEFFOC“ 225, 238 Morton, Timothy 46–47 Mulholland Drive (Lynch, David) 422 Munch, Edvard 246–247 – Madonna 443 Musik 198, 238–247, 345 – Geschichte der 422 – in Richard II. 257–258 Mussorgsky, Modest: Boris Godunow 439 Mütter 236–237 siehe auch Urmütter Mystizismus 377–379 Nächste, der 149 Nacht der Welt 400 Nacktheit 179–180, 229–230 Namen 168, 251–253, 317 Nation of Islam 97 Natur 40–41, 397–399 siehe auch unnatürliche Objekte – und Geist 154 – und Humanität 47 – bei Lacan 416–417 – Unvollständigkeit der 52–53 Nazismus 279–285 siehe auch Holocaust negative Plastizität 401 negative Selbstbeziehung 110 negative Theologie 358 Negativität 36, 43, 360, 404, 451 – bei Badiou 452 – bei Hegel 61, 438–439 Negri, Toni (und Hardt, Michael): Empire: Die neue Weltordnung 7–8 Neid 455 9/11 Zerstörung des World Trade Center 227 neue Rechte, die 445

497

neukantianistische transzendentale Staatsphilosophie 33–34 Neurologie 32–34, 38 Nicht-Alle 417–418, 428–429 Nicht ich (Beckett) 266–268, 270–276 nichthuman 45 Nietzsche, Friedrich 168 – und Auslöschung 32 Nordkorea 437 normalistische Hegelianer 167 normative Strukturen 129–130, 133 Notwendigkeit 146, 264 Noumena 106–107, 392–393 nouveaux blessés, Les (Malabou, Catherine) 401 Novak, Ivan 437 Null 54–57 Null-Signifikanten 114–115 Obama, Barack 311 Objekt 72, 81–83 siehe auch objet a – und Begehren 229 – und Begehren und Trieb 385–390 – Eigenschaften des 124 – und Fragen/Antworten 387–389 – gespaltene Objekte 72 – Rückzug vom 72 – und das Selbst 148 – und spekulatives Urteil 92–93 – und Subjekt 57–58, 92–93 – und Subjektlosigkeit105 – vulkanischer Kern des 83 objet a 57–58, 84, 100, 198–199, 258, 425 objektive Bedeutung 130 objektive Erscheinung 151 objektive Ordnung 48 objektiver Geist (OG) 149–150 Objektivität 47 Objektorientierte Ontologie (OOO) 35, 69–70, 73, 81–83, 85 Objektursache 229 „Ode an die Freude“ (Schiller) 289–290 Ohnmacht 342–343 Ökologie 30, 40–42,74 siehe auch Erderwärmung Ökologische Kommunikation (Luhmann) 81 Ökonomie 196 siehe auch Kapitalismus

498 Oktoberrevolution 287–288, 319 Ontologie des Akzidentiellen 221–222 ontologische Differenz 29, 36 OOO (Objektorientierte Ontologie) 35, 69–70, 73, 81–83, 85 Opus postumum (Kant) 148 organlose Körper 390–391 Österreich 214 Pädophilie 207 Pariser Unruhen 448–450 Parret, Herman 188 Parsifal (Wagner, Richard) 142–143 Pascal, Blaise 25 Passagen-Werk (Walter Benjamin) 424 passive Synthesis 390 Perestroika 136 Perversion 230–232 Pferde 236–237 Phädra (Racine, Jean) 230 Phaenomena 392–393 Phänomenologie des Geistes (Hegel) 15, 91–92, 110, 113, 115–116, 306–307 Phallus 309–310, 343–344, 409–410, 426 – und Genießen 351–353 – phallische Funktion 426–429 Phantasma, Fantasie 20–21, 260, 387, 432–433 – und Gruseligkeit 233 – und Kino 225–226, 227 – bei Lacan 412 – de Sade‘sches 397–398, 407–408 Phillips, Adam 249–250 Philosophie 12 – neukantianistische transzendentale Staatsphilosophie 33–34 – positive Philosophie 50 – und Wissenschaft 50–52 Phrenologie 91–92 Pilatus, Pontius 319 Pippin, Robert 33, 137, 152–159, 176–178 – After the Beautiful 175 – Hegel’s Idealism 158–159 – Hegel’s Practical Philosophy 153–154 – und das Unbewusste 163 Platon 24, 198, 385 – Dialoge 268 – Sophist, Der 198

Register Plechanow, Georgi 330 Politik 428, 445, 457 politische Korrektheit 206–207 politische Witze 75, 355–356 politischer Extremismus 279–280 Polynesien 168 positive Philosophie 50 Possessed (Brown, Clarence) 225 Posthumanismus 29–32, 36–38 Postmoderne 136 Postsubjektivität 37 Prawda (Zeitung) 374 Prädikate 92, 93, 95–96 Predestination (Spierig, Michael/Spierig, Peter) 334–337 Priestley, J. B.: Time and the Conways 333–334 primitive Gesellschaften, Entfremdung und 48 Prokla 319 Protestantismus 360–361 Proteste 446–451 Prothesen 58 Proust, Marcel: Welt der Guermantes, Die 18 Psycho (Hitchcock) 193, 258 Psychoanalysieren (Leclaire, Serge) 245 Psychoanalyse 58, 88–91, 246, 249–250, 269, 389 – und Abschweifungen 374 – und Atheismus 342 – und Deutung 130–131, 371 – und freie Assoziation 161 – und Hegel 163–164 – und Selbstbewusstsein 120 – und das Unbewusste 328 – und Urmütter 343 – und Widerstand 87–88 – und Zwangsneurotiker 386 psychoanalytische Ontologie 14–15 Psychotiker 48 Quantenphysik 37, 50, 62–67 – Beobachter, Rolle des 71 – und Unbestimmtheit 71 Qutb, Sayyid 366–369 – Milestones 366–368

Register Rachmaninow, Sergej 246 Racine, Jean: Phädra 230 Radikale Negativität 400 Rahmen, der 442–443 Rapture, The (Tolkin, Michael) 322–323, 354 Rassismus 97, 216–217, 220, 462 Anm. 24 siehe auch Antisemitismus Rattenmann 285–286 Räuber, Die (Schiller) 288 Reale, das 43, 83–85, 421–425 – bei Lacan 83–85, 261–262 – in der Literatur 410 – und das Subjekt 125 Realismus 222–223, 226 Realität 19–22, 47, 76, 124–125 siehe auch Selbstobjektivierung – und Abstraktion 62 – und Apparaturen 45–46 – bei Bohr, Niels 463 Anm. 26 – bei Bryant, Levi 70 – Effekt des Realen 227–228 – bei Hegel 85, 121–123 – und Katastrophe 222 – bei Lacan 83–84 – bei Luhmann 81, 83 – bei Meillassoux 70 – 9/11 Zerstörung des World Trade Centers 227 – und Noumena 392 – und Phantasma 225–226, 227 – und Quantenphysik 66,71 – und das Reale 83–84 – und Religion 357 – bei Schelling 65–66 – und Sprache 85, 86, 87 – und Subjekte 390–391 – Unvollständigkeit der 29 – und Wissenschaft 37, 41–43 – und zeitlicher Verzug 63–64, 66–67 Rechte, die (politische) 279 siehe auch neue Rechte, die Rechtfertigung 153–155 Referenz, Sinn und 118, 123 Reflexion 157–161 Regen 238, 243, 247 Religion 150, 173, 356–357, 371 siehe auch Christentum; Judentum – und Atheismus 380

499

– Buddhismus 211, 382–383 – bei Gabriel, Markus 380–382 – Gnostizismus 99, 326 – bei Harris, Sam 379–380 – bei Hegel 144–147 – bei Lewis, C. S. 273–275 – Monotheismus 204–205 – bei Robespierre, Maximilien 439 – säkularer Humanismus 380 – Islam 366–367, 377, 444 – und Terrorismus 379 – und das Unendliche 380–382 – Untergrabung 322–325 – und Wahrheit 379 – Wicca 379 Rest 205 Revolution 133–136, 242–243, 250–251, 298– 302, 360 siehe auch Emanzipationspolitik – Feminisierung der 287–289 – Französische Revolution 287, 302–304, 308, 333, 362–363, 400–401, 453–454 – und Führerschaft 300–304 – bei Hegel 308, 439–440 – Oktoberrevolution 287–288, 319 – bei Schiller 285 – und Theologie 374 – und Wissen 301–304 Rhizom 8 Richard II. (Shakespeare) 100, 252–259, 294 Richter, Roland Suso: I Inside, The 334 Rituale 205–206 ritueller Wert 168 Robespierre, Maximilien 440 Rosenkranz, Karl – Ästhetik des Häßlichen 186 Rückwirkung 126, 138, 140–141, 332–334, 337–338 – bei Žižek, Slavoj 424 Ruda, Frank 95 Russland 80 Sache 83–84 Sade, Marquis de 229, 394–395, 396–400 – Juliette 397–399 säkularer Humanismus 380 Santner, Eric 75–76 Saussure, Ferdinand de 56, 112 scend 385

500

Register

Scharow, Wladimir: Before and During 348 Scheidung 320 Scheiße 190–191, 193 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 65–66, 422 – „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Das“ 51 – Gott 73 – Grund 173–174 – und Hegel 112 Schicksal 319 Schiller, Friedrich 315 – Don Karlos 290–297, 305, 311 – „Freundschaft, Die“ 305–306 – „Lied von der Glocke, Das“ 285–287, 288–289 – „Ode an die Freude“ 289–290 – Räuber, Die 288 – Revolution 285 Schlafen 166 schlechte Unendlichkeit 62 Schlegel, Caroline von 288 Schleiermacher, Friedrich 380–381 Schmitt, Carl 448 Schönberg, Arnold 238 Schönheit 184–185, 186–188, 194–195 Schopenhauer, Arthur 422 Schriften (Écrits; Lacan) 345, 416 Schubert, Franz – „Leiermann, Der“ 272 – Winterreise 57, 272 Schumann, Robert – Carnaval 245–247 – Humoreske 346 – „Sphinxes“ 245–246 Schuster, Aaron 103, 389, 399 Schwarze Hefte (Heidegger) 280 Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (Malevich) 176, 193, 442 Schweiz 297 Scott, Ridley: Alien 192 Seelen 419 – und Subjektivität 404 – Unsterblichkeit der 409 Sehen 61, 81 Selbst, das 148, 365–366, 382–383 Selbstaufhebung 109 Selbstbewusstsein 33–34, 119–120, 152–153

– bei Hegel 152, 157, 163–164 – bei Pippin 155–157, 167 – Staat und das 164 Selbstbezug 110 Selbstentfremdung 49–51 Selbstentzug, Selbstentzogenheit 83, 107 Selbsterkenntnis 250 Selbstobjektivierung 32–36 Selbstreflexivität 113 Selbsttranszendenz 47–48, 130 Sellars, Wilfrid 35 Seminar V „Bildungen des Unbewussten“ (Lacan) 343–344 Seminar X (Lacan) 341 Seminar XI (Lacan) 151 Seminar XVIII (Lacan) 130 Seminar XX „Encore“ (Lacan) 352–353, 374, 416 Semiotik 56–57 Separation 18 Setzen der Voraussetzungen 145, 146–148, 157–158 setzende Reflexion 159 Sexualität 24, 58, 394–396, 431–432 siehe auch Fortpflanzung – bei Manet, Édouard 179–180 – Masturbation 431 – und Rituale 166 – und Trauma 131 Shakespeare, William – Hamlet 7, 329–330, 360 – Richard II. 100, 252–259, 294 – Sommernachtstraum, Ein 101–102 Sieben (Fincher, David) 476 Anm. 14 – Sieben letzte Worte Christi 351 Signifikat 412 Signifikanten 56–57, 113–115, 221–223 – binäre 415 – bei Freud 214–215 – und Indifferenz 421–423 – bei Lacan 410–411 – Phallus 410–411 – und Sprache 413–414 Singularität 30 Sinthome 243, 247 Simplifizierung 43 Sklaverei 366–368 Slowenien 279–280

Register Société linguistique de Paris 337–338 Sommernachtstraum, Ein (Shakespeare) 101–102 Sophismus 198 Sophist, Der (Platon) 198 souveräne Macht 343 siehe auch Monarchien Sound of Music, The (Wise, Robert) 233 Sowjetunion 30, 136, 321 siehe auch Stalinismus soziale Bindungen, Lösen von 445 soziale Negativität 439, 451 soziale Ordnung – und Frauen 231 – und Gruseligkeit 231 soziale Produktivität 129 sozialer Status 155 Speichel 190–191 spekulatives Denken 118–119 spekulatives Urteil 91–93, 95–105 „Sphinxes“ (Schumann, Robert) 245–246 Spierig, Michael: Predestination 334–337 Spierig, Peter: Predestination 334–337 Spinoza, Baruch de 404–405 – Ethik, Die 28–29 – Univozität des Seins 28–29 Sprache 23, 95, 337–339, 413 siehe auch Signifikanten; Sprechen – bei Benjamin, Walter 86 – Céline, Louis-Ferdinand 212–213 – und Ekel 214 – bei Engels, Friedrich 388 – und Fetischismus 208–209 – und soziale Vermittlung 86–87 – bei Habermas, Jürgen 86 – als Hyperobjekt 47 – bei Lacan 86 – lalangue 86, 262 – bei Lévi-Strauss, Claude 114–115 – und Musik 239–240 – und Realität 85, 86, 87 – russische 373–374 – Société linguistique de Paris und 337–338 – und Trauma 86–87 – Wortstämme 385 Sprechen 22, 388 – und Natur 417 – und Trauma 86–87

501

Sprichworte 479 Anm. 39 Staat 25, 122–123, 137 siehe auch Monarchien – bei Hegel 163–164 – und Selbstbewusstsein 164 staatliche Bürokratie 76–77, 296, 297–298 Stalin, Josef 303–304 Stalinismus 128, 132, 375, 428, 425 – und Bürokratie 297–298 – und der große Andere 150 – und historischer Determinismus 330 – und Revolution 298–304 stalinistische Gerichtsverfahren 373 Stamina-Trainingseinheit 431–432 Star Wars III: Rache der Sith (Lucas, George) 315–316 Stauung 88 Stellenbesetzung 76 Stock-an-sich-Beispiel 115–116, 119 Strukturalismus 113 Stuart, Maria (Maria I. Schottland) 296 Subjekt 15–16, 57, 81, 103–105 siehe auch transzendentales Subjekt – und absoluter Gegenstoß 162 – und Abstraktion 406 – und Begehren und Trieb 385–390 – und Cogito 402–403 – Dezentrierung 155 – und Epigenese 105–107 – und Fragen/Antworten 387–389 – bei Freud 166–167 – gespaltene Subjekte 72 – bei Hegel 61 – und Hysterie 253–255 – und Identität 62, 402 – bei Kant 107 – und Leben 393 – lebende Tote und 265, 276 – leeres 57–58 – als Objekt 57–58, 92–93, 100 – und Prädikate 91, 92, 95–96 – und Prothesen 58 – und das Reale 125 – und Seele 404 – und spekulatives Urteil 92–93 – und Subjektivität 264 – und Substanz 92, 94–96, 99, 102, 150, 163, 399 – und symbolische Repräsentation 252

502

Register

– und Trauma 265–266, 275–276 – und Verlust 161 Subjekt-Objekt 49–50 subjektive Destitution 252, 255–259, 270 subjektiver Geist (SG) 149 Subjektivierung 104, 115, 390 Subjektivität 15, 35–36, 87, 102, 399–400, 402–404 siehe auch Selbstobjektivierung – und Abjektion 228 – bei Beckett 264–265, 271–272 – bei Hegel 104 – bei Kant 107 – bei Kristeva, Julia 155–156 – bei Lacan 47 – objektiver Geist (OG) 33 – bei Pippin, Robert 155 – und Seele 404 – und Subjekt 264 Substanz 15–16 siehe auch geistige Substanz Südafrika 166 Sünde 366 Sündenfall 28, 98–99, 365–366 Surprised by Joy (Lewis, C. S.) Symbolische, das 83–84, 215–216 symbolische Kastration 309, 344–345, 411 symbolische Ordnung 209–210, 215, 337– 338, 410 – und Todestrieb 410 symbolischer Tausch 340 Symptome 120 Tandy, Jessica 268, 276 Tathandlung 128, 467 Anm. 18 Technologie 29–32 siehe auch Künstliche Intelligenz Teilchen, Schwankungen der 66–67 Tennyson, Alfred 9 Terror, Schrecken 439 Terrorismus 379 Thales von Milet 8 Theologie 17, 373–374 siehe auch Religion – materialistische 358–361 – negative 358 Theorie der Arbeit des Unbewussten 92–93 Thomas von Aquin, heilige 194 Thompson, Kirstin 244 Time and the Conways (Priestley, J. B.) 333–334

Titanic 225 (Cameron, James) Tod 392, 398–401 – und jouissance 409 – bei Hegel 404, 440 Todestrieb 36, 402, 405, 406, 408, 422 – bei Deleuze 393 – und das Göttliche 357 – bei Lacan 410, 412 – bei Malabou 401 – bei Marquis de Sade 399–402 – und Unsterblichkeit 407 – als Streben nach Unglück 360 – und die symbolische Ordnung 410 – und Unbeweglichkeit 103 Tod des Marat, Der (David, Jacques-Louis) 438–439 Toilettenbecken 193–194 Tolkien, J. R. R. 359 Tolkin, Michael: Rapture, The 322–323, 354 Tonalität 244–246 Tornacensis, Simon 369–370 Totalisierung 213–214 Tragik 200 Transhumanismus 30 transzendentaler Schein 72–73 transzendentales Schema 20 transzendentales Subjekt 166–167 Transzendentalismus 35–36, 105 Trauma 131, 226, 227 siehe auch Ontologie des Akzidentiellen – in Nicht ich 276 – und Subjekt 265–266, 275–276, 403–404, 436 Träume 92-93, 223–224 Traurigkeit 242–243 Trieb 88, 425 – und Begehren 385–391 Trotzki, Leo 304 Tugend 194 Tun 134 Über das Geistige in der Kunst (Kandinsky) Über-Ich 103, 296, 363, 393 „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (Benjamin, Walter) 88 Überdetermination 35

Register Überlagerung mehrerer Quantenzustände 351–352 Überschussobjekt 413 Übersetzung 348–349 Ulbricht, Walter 458 unbelebte Natur 52 Unberührbaren, die 22 Unbewusste, das 58, 102–103, 163–168, 261 – bei Freud 127–128, 167–168 – bei Lacan 58, 102, 163, 167–168 Unendliche, das 380–382, 403–404 unendlicher Zweck 135 Unfreiheit 176 Ungeheuerlichkeit 185–188 siehe auch Hässliche, das Ungeschehenmachen 340, 341 Unheimliche, das 228, 246 siehe auch Gruseligkeit Univozität des Seins 27–29 Unmittelbarkeit 110–111, 115 Unmöglichkeit 264 Unmöglichkeitspunkt 456 unnatürliche Objekte 45 Unruhen, Ausschreitungen 445–451 Unruhen in Ferguson 446 Unsichtbare Dritte, Der (Hitchcock) 168 Unsterblichkeit 398, 404 – bei Lacan 407, 411 Unterdrückung 206, 340 Unvollständigkeit 417–418 Urabgrund 410 Urknall 17 Urmütter 343 Urteil 155 – spekulatives 91–93, 95–105 USA 269 – und Baumwolle 456 – und Gesundheitssystem 456 – und Gewalt 446 Väter 426–429 väterlicher Schutz 207 Venus von Urbino (Ingres, Jean-AugusteDominique) 180 Verantwortung 126–129 Verdi, Guiseppe: Don Carlos 476 Anm. 16 Vergangenheit, Veränderung der 331–335, 342

503

Vergebung 129, 139, 379–380 Verges, Jacques 98 Verfremdung 241–242 Verlaine, Paul: „Es weint mein armes Herz“ 243 Verlorene Bücher der Odyssee, Die (Mason, Zachary) 350 Verlust 95, 161 Vermittlung 110–111, 116 Vernunft 59–61, 152, 157, 167–168 – Abwesenheit der 70,71 – Antisemitismus und 177–178 – bei Hegel 152, 157, 307–308 Versöhnung 48, 122, 129–130, 138–140 – im Christentum 144–146 – bei Hegel 121, 143–144, 146–147, 177–178 – und Holocaust 143–144 Verstand 59–61 Vertigo (Hitchcock) 320, 331 Vertrauen 132–133 Verzeihung 129, 140, 143–144 Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben (Eisler, Hanns, Op. 70) 238 Vögel, Die (Hitchcock) 268 Volk 437–438 Vorherbestimmung 138, 344 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Hegel) 7 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Hegel) 307 Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Hegel) 136–137 Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Hegel) 307 Wagner, Richard – Parsifal 142–143 – Walküre, Die 149 Wahlen 310–320 wahre Unendlichkeit 62 Wahrheit 116, 130, 137–139, 259–261 – und Dialog 268–270 – und falsche Prämissen 355 – und Genauigkeit 372 – und Glauben 373 – und Lügen 375–376 – und Russland 373 – und Versprecher 374

504

Register

Wahrnehmungen 156 Walküre, Die (Wagner, Richard) 149 Wandel, Veränderung 126, 134–135 Waren 165, 318, 328 Warenfetischismus 54, 75, 151–152, 328–329 Wark, McKenzie 40–43 Wasser 8–9 Weben des Geistes 134–135 Weiniger, Otto 191 Wellenfunktion, Zusammenbruch der 63, 66–68, 71–72 Welt der Guermantes, Die (Proust) 18 Weltgeist 7–8 Weltjudentum 281–282 weibliche Position 429–430 weiter leben: eine Jugend (Klüger, Ruth) 458–459 Wert 76 Wertow, Dsiga: Mann mit der Kamera, Der 27 Wesen 161 Wicca 379 Widersprüche 117–120 Widerstand 87–92 Wilder, Billy: Manche mögens‘s heiß 378–379 Wildheit 188–189 Wille 422 Williams, Rowan 358, 359–360, 381–382 Winterreise (Schubert, Franz) 57 Wir sind nie modern gewesen (Latour, Bruno) 69 Wirklichkeit 84 Wissen, Erkenntnis 28, 70–71, 117–118, 140–141, 312 – Christentum 327 – Sündenfall 366 – Rumsfeld‘sche Unterscheidung 251

Wissenschaft 17, 29–39, 338 siehe auch Ökologie – Aufstieg der 20 – und Apparaturen 45–46 – Biologie 52 – und Philosophie 50–52 – Quantenphysik siehe Quantenphysik – und Realität 37 – und Selbstobjektivierung 32–36 wissenschaftlicher Objektivismus 381 Witze 56, 133, 328–329, 345 – politische 75, 355–356 – Urheber von 356 Wolfsmann 131 Wortstämme 385 Wunder 371 Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More 338 Zapfenstreich (Ford, Ford Madox) 379 Zapffe, Peter Wessel 361 Zauberberg, Der (Mann, Thomas) 99 Zeffirelli, Franco 351 Zeitschleifen 334–337 zeitliche Rückwirkung 64 Zerbrochenes-Gefäß-Analogie 348–352, 358 Zeremonien 164, 319–320 Žižek, Slavoj 422–425, 429–431 Zupančič, Alenka 329, 482 Anm. 23, 483 Anm. 8 „Zur Kritik der Gewalt“ (Benjamin, Walter) 445–448 Zukunft 439 Zurückbiegung 109 Zwangsneurotiker 386 zweiter Tod 399, 400 zwölftes Kamel, Geschichte vom 353–354 Zynismus 312–313

Über den Inhalt Das neue Werk von Slavoj ŽiŽek ist ein Buch für Fans und Fachleute – akademisch und stilistisch brillant, thesenfreudig und originell. ŽiŽek macht den Begriff der Disparität zum Ausgangspunkt zeitkritischer, philosophischer Analyse und spürt dabei seinen ontologischen, ästhetischen und politischen Dimensionen nach. Geschrieben im charakteristischen ŽiŽek-Stil, verbindet das Buch detaillierte, minutiöse philosophische Analysen und originelle Durchblicke mit Anekdoten und kraftvolle Kritik mit brillanten Aperçus.

Über den Autor Slavoj ŽiŽek (geb. 1949) gehört zu den bekanntesten Philosophen und Kulturkritikern der Gegenwart. Er ist International Director am Birkbeck Institute for Humanities der University of London und Professor für Philosophie an der Universität seiner slowenischen Heimatstadt Ljubljana.