Diktaturvergleich als Herausforderung: Theorie und Praxis [1 ed.] 9783428497157, 9783428097159

Durch den nahezu weltweiten Zusammenbruch des Kommunismus ist die Diktaturforschung im allgemeinen, die Totalitarismusfo

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German Pages 333 Year 1998

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Diktaturvergleich als Herausforderung: Theorie und Praxis [1 ed.]
 9783428497157, 9783428097159

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Diktaturvergleich als Herausforderung

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 65

Diktaturvergleich als Herausforderung Theorie und Praxis

Herausgegeben von Günther Heydemann und Eckhard Jesse

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Diktaturvergleich als Herausforderung : Theorie und Praxis I hrsg. von Günther Heydemann und Eckhard Jesse. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 65) ISBN 3-428-09715-7

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09715-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

INHALTSVERZEICHNIS Günther Heydemann und Eckhard Jesse Einführung ................ ·---------_. ____ .. ------------ -- ·······-···---- ·----------------------·· Eckhard Jesse 1917 - 1933 - 1945 - 1989 Totalitarismus

Das 20. Jahrhundert als Zeitalter des

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Markus Huttner Totalitarismus und säkulare Religionen- Die Anfange der Totalitarismusdiskussion in England --- ·---------·----- ------------------·--·--------------------------------- 41 Achim Siegel Diktaturvergleich und Totalitarismustheorie-ZurWeiterentwicklung des Totalitarismuskonzepts von Carl Joachim Friedrich --- ------------- ---------- ------- 75 Lothar Fritze Herrschaft und Konsens - Über Stabilitätsbedingungen von Weltanschauungsdiktaturen __________________________ ___ ___________ _____ _____ _____ ___________ 95 Klaus-Dieter Müller Handlungsbedingungen von Systemgegnern. Widerstand in den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts 121 Rainer Eckert Vorläufer der parlamentarischen Demokratie? Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR

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Wolfgang-Uwe Friedrich Kaderpolitik als totalitäres Herrschaftsinstrument- Das Nomenklaturasystem in der DDR ---·----------- --- ---- -- ------- ------ ---- ---- ------- -- ---- ---- -------------·-- 169 Steffen Kailitz Anregung oder Ärgernis? "Hitlers willige Vollstrecker" aus totalitarismustheoretischer Sicht 187

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Inhaltsverzeichnis

Günther Heydemann Integraler und sektoraler Vergleich- Zur Methodologie der empirischen Diktaturforschung __.... ______ ........ ... ___ ..... _.. __.... .. _... .. .... .. ...... .............. .... .. 227 Thomas Schaarschmidt Vom völkischen Mythos zum "sozialistischen Patriotismus"- Sächsische Regionalkultur im Dritten Reich und in der SBZ/DDR ................... .......... 235 Christopher Beckmann Zweierlei Gleichschaltung. Die Durchsetzung des Machtanspruchs von NSDAP und SED auf kommunaler Ebene

259

Georg Wilhelm Zweierlei Obrigkeit - Die Haltung der Leipziger Pfarrerschaft nach 1933 und 1945

283

Oliver Wemer Ein Betrieb in zwei Diktaturen: Die Bleichert Transportanlagen GmbH/ VEB VTA Leipzig im Dritten Reich und in der SBZ/DDR. ____________ ....... ____ 303 Auswahlbibliographie .. ___ ...... _____ .. _.................... _...... ... _____ .............. ____ .. 321 Herausgeber und Autoren······-········· ····································--·--·-·········· 331

Günther Heydemann und Eckhard Jesse EINFÜHRUNG 1. Aktualität der Thematik

Die Phase nach dem nahezu weltweiten Untergang des Kommunismus gehört zu den "Wendezeiten der Geschichte".' Dieser hat eine bis heute anhaltende wissenschaftliche, publizistische und auch politische Diskussion ausgelöst, die einerseits neue Ergebnisse zutage fördert, andererseits aber auch viele Emotionen freisetzt. In Frankreich - und nicht nur dort - hat das im Herbst 1997, achtzig Jahre nach der Oktoberrevolution erschienene "Schwarzbuch des Kommunismus" hohe Wellen geschlagen.2 Die einen sehen in ihm eine erschütternde Bilanz der kommunistischen Verbrechen, halten diese Aufarbeitung filr höchst nützlich und überfällig. Die anderen wehren sich vehement dagegen, den Kommunismus auf eine Stufe mit dem Faschismus bzw. dem Nationalsozialismus zu stellen. Diese Auseinandersetzung ist überaus notwendig. Intellektuelle müssen sich - nicht nur in Frankreich - selbstkritisch die Frage stellen, ob sie zur Relativierung der einen Variante des Totalitarismus beigetragen haben. Zu einer solch selbstkritischen Sicht ist der Berliner DDR-Forscher GertJoachim Glaeßner noch nicht gelangt. "Der Blick auf die kommunistischen Systeme war - von Ausnahmen abgesehen - zu lange von Dichotomien beherrscht, als daß eine Neuauflage unter neuen Vorzeichen wünschbar und erkenntnisfOrdemd wäre. Der ruhmlose aber eben auch (weitgehend) gewaltfreie Kollaps kommunistischer Regime macht dies Denkmuster obsolet. Der politischen Rede vom 'Sieg des Westens' entspricht in der Wissenschaft eine Wiederbelebung von Demokratievorstellungen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus herausgebildet hatten: eine idyllisch-harmonistische Hypostasierung des Demokratiebegriffs. Systemkollaps und demokratietheoretischer Reduktionismus gehen hier Hand in Hand." 3 Ist diese Reaktion eines fUhrenden Vertreters der systemimmanenten Forschung, der "vor 1989" den diktatorischen Charakter kommunistischer Staaten wie etwa der DDR nur timide zur 1 So Karl Dietrich Bracher, Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 19871992, Stuttgart 1992. 2 Vgl. Stephane Courtois u.a. (Hrsg.), Le Livre noir du communisme. Crimes, terreur, repression, Paris 1997 (demnachst in deutscher Übersetzung: München 1998). 3 Gert-Joachim Glaeßner, Demokratie nach dem Ende des Kommunismus. Regimewechsel, Transition und Demokratisierung im Postkommunismus, Opladen 1994, S. 99 f.

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Günther Heydemann und Eckhard Jesse

Sprache gebracht hat\ tatsächlich angemessen? Wer Demokratievorstellungen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus herausgebildet haben, das Wort redet, "leistet einer "idyllisch-harmonistischen Hypostasierung des Demokratiebegriffs" keineswegs Folge. Im übrigen ist das Demokratieverständnis des Westens von dem des Kommunismus innerlich unabhängig. Jenes ist nicht bloß die Reaktion auf dieses. Wer sein Augenmerk auf die eine Ausprägung des Totalitarismus richtet, wäscht damit die andere nicht weiß. Sorgen dieser Art sind unbegründet. Im Gegenteil lenkt die wissenschaftliche Analyse der einen Form des Totalitarismus zugleich den Blick auf die andere. Die Parallelen sind allzu augenflillig. 5 Vor zwei Gefahren muß allerdings gewarnt werden: Weder ist es angezeigt, zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als bedürfe es keiner "Vergangenheitsbewältigung" etwa in der Kommunismusforschung im allgemeinen und in der DDR-Forschung im besonderen,6 noch erscheint es sonderlich sinnvoll, das "Kind mit dem Bade auszuschütten" und in einer Art "Bilderstürmerei" den Eindruck zu erwecken, als habe die Wissenschaft gänzlich versagt. Wer darauf abstellt, kein Ansatz habe den Untergang des Kommunismus prophezeit, macht sich die erste Position zu eigen. Schließlich ging es nicht zuletzt darum, die mangelnde demokratische Legitimität kommunistischer Systeme beim Namen zu nennen, aber eben das ist vielfach ausgeblieben. Wer hingegen nicht anzuerkennen bereit ist, daß auch die Kommunismusforschung beträchtliche Leistungen aufzuweisen hat, flillt in die zweite Kategorie. Denn bereits vor 1989 ist es einem Teil der einschlägigen Wissenschaft trotz widriger Umstände gelungen, Schwächen kommunistischer Systeme zu erfassen - zum Teil unter Rekurs auf Totalitarismustheorien. Der Zusammenbruch des Kommunismus stellt auf vielen Gebieten eine Zäsur dar. Womit kaum jemand gerechnet hatte, ist eingetreten: Die in den 70er und 80er Jahren vielfach geringgeschätzte Totalitarismusforschung ist mittlerweile weitgehend rehabilitiert. War bereits vor dem Schlüsseljahr 1989 eine gewisse Abkehr von der Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs feststellbar, so nimmt seither die einschlägige Forschung vermehrt auf den Totalitarismusbegriff Bezug7, auch wenn es nach wie vor Autoren gibt, die heftige, ja polemische Kritik 4 Vgl. ders., Die andere deutsche Gesellschaft. Gesellschaft und Politik in der DDR, Opladen 1989; ders., Sozialistische Systeme. Einfllhrung in die Kommunismus- und DDR-Forschung, Opladen 1982. 5 Bezeichnenderweise erschien bis Ende der 80er Jahre keine Hitler-Biographie in der Sowjetunion. 6 Nicht frei von apologetischen Zügen ist der folgende Beitrag: Ders., Das Ende des Kommunismus und die Sozialwissenschaften. Anmerkungen zum Totalitarismusproblem, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 922-936. Siehe auch ders., Kommunismus - Totalitarismus - Demokratie. Studien zu einer sakularen Auseinandersetzung, Frankfurt!M. 1995.

7 Vgl. etwa die folgenden drei Sammelbande: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996; Alfons Söllner/Ralf

Einftlhrung

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an ihm üben. 8 Nun ist dieser Befund an sich ebenso noch kein Beleg fiir die Plausibilität des Konzepts, wie der Verzicht auf diesen Ansatz kein Indiz ftlr seine Unwissenschaftlichkeit ist. Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs ist, wie wir hinlänglich wissen, die Geschichte eines stark von politischen Konstellationen und Konjunkturen beeinflußten Konzepts. Die Renaissance des Totalitarismusbegriffs gilt nicht nur fllr die Bundesrepublik Deutschland. In Rußland etwa macht ein dickleibiger Reader über "Totalitarismus im Europa des 20. Jahrhunderts" die Entstehung und das Scheitern totalitärer Systeme begreitbar9 , wie überhaupt in Osteuropa das Totalitarismuskonzept in der öffentlichen Meinung und in der Wissenschaft große Aufmerksamkeit findet. Obwohl heutzutage vielfach nüchterner über dieses Thema gesprochen wird, besteht nach wie vor ein Informationsdefizit In Deutschland sorgten "Hitlers willige Vollstrecker" 10 ein Jahr zuvor fiir ähnlichen Wirbel wie in Frankreich das "Schwarzbuch des Kommunismus", jedenfalls in der Öffentlichkeit. Wie immer man die wissenschaftliche Plausibilität des GoldhagenBestsellers einschätzen mag- es hat auf massive Weise die Befiirchtung widerlegt, nach dem Untergang des Kommunismus erlahme das Interesse fiir die deutsche Ausprägung des Totalitarismus. In den USA und in England gehört der Vergleich zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland seit Jahren zur wissenschaftlichen Tagesordnung. 11 Auch wer den Begriff des "Totalitarismus" fiir wenig geeignet ansieht, kommt nicht umhin, das Analysekonzept der modernen Diktaturen ernst zu nehmen. Die Totalitarismusforschung hat in den 90er Jahren nicht zuletzt durch den Untergang des Kommunismus in der Sowjetunion und in Europa beachtliche Erkenntnisse erbracht. Die Vergleiche zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus haben aufschlußreiche Parallelen und Unterschiede zutage

Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Achim Siegel (Hrsg.), Das Totalitarismuskonzept nach dem Ende des Kommunismus, Weimar u.a. 1998. Der Band ist aus der folgenden Studie hervorgegangen: Ders. (Hrsg.), The Totalitarian Paradigm after the End of Communism. Towards a Theoretical Reassessment, AmsterdamAtlanta 1998. 8 Vgl. u.a. Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfllngen bis heute, Darmstadt 1997; Michael Schönegarth, Die Totalitarismusdiskussion in der neuen Bundesrepublik 1990 bis 1995, Köln 1995. 9 Vgl. Jakow Drabkin/Nelli Komolowa (Hrsg.), Totalitarismus im Europa des 20. Jahrhunderts. Aus der Geschichte der Ideologien, Bewegungen, Herrschaftssysteme und ihrer Überwindungen, Moskau 1996 (deutsche Übersetzung). 10 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

11 Vgl. etwa Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History ofthe Cold War, New YorkOxford 1995; lan Kershaw/Moshe Lewin (Hrsg.), Stalinism and Nazism. Dictatorship in Comparison, Cambridge u.a. 1997

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Günther Heydernann und Eckhard Jesse

gefördert. 12 Das gilt etwa flir die empirische Forschung zur Ermittlung analoger Strukturelemente, z.B. mit Blick auf das unmenschliche Lagersystem. Man denke an die Studien von Gerhard Armanski, Wolfgang Sofsky, Ralf Stettner, Robert Streibei/Hans Schafranek und Tzvetan Todorov. 13 Freilich stehen der Forschung immer noch zahlreiche Hindernisse im Wege, und seien es bloß Schwierigkeiten bei der Erschließung des Quellenmaterials. Schließlich ist das Konzept der "Politischen Religion" in letzter Zeit 14 mehrfach für die Totalitarismusforschung unter Anlehnung an frühere Veröffentlichungen15 nutzbar gemacht worden, nicht zuletzt deshalb, um zu erklären, wieso totalitäre Diktaturen zumindest zeitweise Unterstützung selbst von denen erfahren haben, die unterdrückt wurden. Repression ging auch mit Enthusiasmus einher. Das Heil, das aufgrund der behaupteten Einsicht in den Ablauf der Geschichte versprochen wurde, löste ein beträchtliches Maß an Glaubensbereitschaft aus. Man kann totalitäre Herrschaft jedenfalls nicht auf die Ausübung von Terror reduzieren, muß vielmehr die Verflihrungskraft totalitärer Ideologien in Rechnung stellen. 16 Ein drittes Beispiel: Die Forschung zur Interaktion zwischen den totalitären Bewegungen und Systemen ist in den letzten Jahren intensiviert worden. Man denke nur an die drei großen Studien von Ernst Nolte, Fran~ois Furet und Eric Hobsbawm 17, die insgesamt das 20. Jahrhundert zu erfassen suchen und bei aller 12 Vgl. etwa die Belege bei Steffen Kailitz, Der zweite Frühling der Totalitarismusforschung, in: Uwe Backes!Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 9, Baden-Baden 1997, S. 215-232. 13 Vgl. Gerhard Armanski, Maschinen des Terrors. Das Lager (KZ und GULAG) in der Moderne, Münster 1993; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993; Ralf Stettner, "Archipel GULag": Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant, Paderbom u.a. 1996; Robert Streibei!Hans Schafranek (Hrsg.), Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULAG, Wien 1996; Tzevetan Todorov, Facing the Extreme. Moral Life in the Concentration Camps, New York 1996. 14 Vgl. Hans Maier (Hrsg.), "Totalitarismus" und "Politische Religionen" . Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. I, Paderbom u.a. 1996; ders./Michael Schäfer (Hrsg.), "Totalitarismus" und "Politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. II, Paderbom u.a. 1997; ders., Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg!Brsg. 1995; Hermann LObbe (Hrsg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, DUsseldorf 1995; Michael Ley/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim/Mainz 1997.

15 Zum Beispiel an die von Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hrsg. von Peter J. Opitz, München 1993.

16 Siehe dazu Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Die Verftlhrungskraft des Totalitären. Saul Friedländer, Hans Maier, Jens Reich und Andrzej Szczypiorski auf dem Hannah-Arendt-Forum 1997 in Dresden, Dresden 1997. 17 Vgl. Ernst Nolte, Der europäische BUrgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Mit einem Brief von Fran~is Furet an Ernst Nolte im Anhang, München 1997~; Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Fran~is Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996.

Einfllhrung

II

Unterschiedlichkeil und Umstrittenheil des Ansatzes den totalitären Bewegungen und Systemen einen breiten Platz in ihrer Darstellung einräumen. Auch in dem Band über "Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert" 18 wird in einer Reihe von Beiträgen den Wechselwirkungen zwischen den beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts mit viel Gewinn nachgegangen, um nur ein weiteres Beipiel aus einer expandierenden Gattung zu nennen. Auf allen genannten drei Gebieten gibt es freilich nach wie vor viele "weiße Flecken" - aber nicht nur dort. Zahlreiche Fragen harren weiterhin der Beantwortung. Um nur wenige zu nennen: Macht es einen Sinn, nach wie vor den Begriff "Stalinismus" zu verwenden 19, oder ist dies ein Beleg fur eine in mancher Hinsicht beschönigende Sichtweise des kommunistischen Herrschaftssystems, als sei dieses erst später pervertiert worden? Hat es im Dritten Reich wie in der Sowjetunion modernisierende Tendenzen gegeben? Läßt sich der Ansatz von der polykratischen Struktur des Nationalsozialismus mit Gewinn auf kommunistische Systeme übertragen? Wie ist es mit der These von der Singularität der Verbrechen des Nationalsozialismus bestellt? Zu den besonderen Notwendigkeiten der modernen Diktaturforschung gehört schließlich die Verklammerung zwischen Theorie und Praxis. Diese stellt geradezu eine Herausforderung für den Diktaturvergleich dar - und ein Defizit. Es gilt, die Herausforderung anzunehmen. 2. Aufbau des Bandes Der Band will eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen. Es ist das Anliegen der Herausgeber, sie zusammenzufiihren. Denn eine Theorie, die ihre Triftigkeit nicht an der politischen Wirklichkeit zeigen kann, bleibt blutleer. Und einer noch so kohärenten Beschreibung eines diktatorischen Systems ohne theoretischen Zugriff mangelt es an Originalität. Entsprechend den Intentionen der Herausgeber ist das Sammelwerk zweigeteilt. Zunächst geht es stärker um theoretische Probleme, die anschließend eine Erprobung durch empirische Beiträge findet. Im übrigen schließen sich die Ansätze nicht aus, sondern ergänzen sich. Das 20. Jahrhundert gilt gemeinhin als das "Zeitalter des Totalitarismus". Was es damit auf sich hat, erörtert Eckhard Jesse in seinem Beitrag "19171933-1945-1989. Das 20. Jahrhundert als Zeitalter des Totalitarismus". Der 18 Vgl. Matthias Vetter (Hrsg.), Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996.

19 Vgl. beispielsweise Hans-Henning Schröder, Der "Stalinismus"- ein totalitäres System? Zur Erklärungskraft eines politischen Begriffs, in: Osteuropa 46 (1996), S. 150-163; Manfred Hildermeier, Interpretationen des Stalinismus, in: Historische Zeitschrift 264 ( 1977), S. 655-674; Hannelore Horn, Der Stalinismus und seine Ursachen, in: U. Backes/E. Jesse (Anm. 12), S. 65-96.

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Günther Heydemann und Eckhard Jesse

erste Teil ist vorwiegend demokratietheoretisch angelegt. Der Verfasser prüft einerseits, inwiefern sich totalitäre Staaten des 20. Jahrhunderts, zumal die "Großtotalitarismen" des Bolschewismus und des Nationalsozialismus, von früheren autokratischen Systemen unterscheiden und fragt mit Blick auf die unterschiedlichen Diagnosen von Francis Fukuyama und Samuel P. Huntington20 andererseits, ob zukünftig ähnlich ausgerichtete Herrschaftsformen u.a. mit Blick auf den "Kampf der Kulturen" noch möglich sind oder ob das vielzitierte "Ende der Geschichte" erreicht ist. Insgesamt erscheint es als berechtigt, das zu Ende gehende Jahrhundert als "Zeitalter des Totalitarismus" zu apostrophieren, auch wenn es in der Vergangenheit ähnliche Formen der Willkürherrschaft gegeben hat und zukünftig wahrscheinlich geben wird. Der zweite Teil ist stärker zeitgeschichtlich ausgerichtet. Jesse illustriert anhand der vier Schlüsseljahre 1917, 1933, 1945, 1989 den Sieg und den Niedergang des Bolschewismus wie des Nationalsozialismus - jener zwei totalitären Herrschaftstypen, die das 20. Jahrhundert maßgeblich durch Terror und Verfiihrungskraft geprägt haben, aber keineswegs zwangsläufig waren. In einer tour d'horizon soll die verschlungene Entwicklung mit ihren Parallelen und Verschiedenheiten durchmessen werden, unter besonderer Berücksichtigung der Wechselbeziehung der zwei Diktaturen, die in dieser Form wohl der Vergangenheit angehören. Der demokratische Verfassungsstaat, ein kompliziertes und nicht spannungsfreies Gebilde aus konstitutionellen und demokratischen Elementen, hat sich zwar am Ende des von tiefen Erschütterungen geprägten Jahrhunderts durchgesetzt, aber dieser Befund bietet keine Gewissenheit flir eine dauerhafte Überwindung totalitärer Gefahren. Die Geschichte ist offen. Der Beitrag von Markus Huttner, "Totalitarismus und säkulare Religionen. Die Anflinge der Totalitarismusdiskussion in England", lenkt den Blick auf ein überraschendes Desiderat der ideen- und theoriegeschichtlichen Totalitarismusforschung. Obwohl der Totalitarismusansatz nach 1945 weithin als Geistesprodukt angelsächsischer Autoren galt, stellt die Aufnahme und Entfaltung des Konzepts in Großbritannien - in auffallendem Kontrast zur US-amerikanischen und zur französischen Totalitarismusdebatte21 - nach wie vor eine terra incognita dar. Die Geschichte zum Begriff "totalitär" im Englischen beginnt 1926 mit dem faschismuskritischen Buch "Italy and Fascismo" des exilierten ehemaligen Führers des Partito Popolare ltaliano, Luigi Sturzo. Generell wurde der Neologismus in Großbritannien seit den späten 20er Jahren vornehmlich von solchen Autoren verwandt, die in engem Kontakt zu Vertretern der antifaschistischen Emigration standen, wobei das Wissen um die antifaschistischen Ursprünge dieser Formel jedoch sehr bald verloren ging. Die Anflinge einer Deu20 Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. 21 Vgl. dazujetzt u.a. A. Soellner/R. Walkenhaus/K. Wieland (Anm. 7), S. 141-192 (USA) und S. 195-235 (Frankreich).

Einführung

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tungstradition, welche die religionsähnlichen Züge totalitärer Bewegungen und Regime in den Mittelpunkt rückt, vollzog sich durch das Traktat des Politiktheoretikers Eric Voegelin über "Die politischen Religionen", im April 1938 in Großbritannien erschienen, zusammen mit dem wesentlich umfangreicheren Werk des Publizisten Frederick A. Voigt ("Unto Caesar"), in dem Nationalsozialismus und Kommunismus in vergleichender Perspektive als zwei konkurrierende Erscheinungsformen moderner Säkularreligionen gedeutet werden. Diese seit langem in Vergessenheit geratene Pionierarbeit, eine der frühesten monographischen Abhandlungen zur Totalitarismusthematik, hat auf totalitarismuskritische Denker wie Franz Borkenau und Richard Löwenthai eingewirkt. Voigts Buch ist somit eine Nahtstelle im Austausch der Theorien und Konzepte, über die religionsvergleichende Deutungsmuster in die auf Systemvergleich gerichteten totalitarismustheoretischen Ansätze eingedrungen sind. Mit dem Aufsatz "Diktaturvergleich und Totalitarismustheorie. Zur Weiterentwicklung des Totalitarismuskonzepts von Carl Joachim Friedrich" sucht Achim Siegel nachzuweisen, daß sich die methodologischen Mängel, die am wohl einflußreichsten Theorem der Totalitarismustheorie kritisiert worden sind, beheben lassen, wenn man Friedrichs Ansatz als funktionalistische Theorie totalitärer Systeme reinterpretiert. Dessen bekannter, zusammen mit Zbigniew Brzezinski entwickelter Sechs-Punkte-Katalog bestimmter Merkmale, die totalitäre Diktaturen charakterisieren, hat nach Siegels Auffassung nichts an seiner Erklärungskraft verloren, da Friedrich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre sein Totalitarismuskonzept modifiziert hat, um auch nach-stalinistische Regime in Osteuropa darin einbeziehen zu können 22 • Indem er das Merkmal "terroristisch operierende Geheimpolizei" durch "voll entwickelte Geheimpolizei" ersetzte, trug Friedrich dem Tatbestand Rechnung, daß in bereits längere Zeit bestehenden Diktaturen- wie z. B. post-stalinistischen -eine mit offenem Terror vorgehende Geheimpolizei gar nicht mehr nötig ist, um den Machterhalt zu sichern und die permanente Beeinflussung und Kontrolle der Gesellschaft zu gewährleisten. Die frühere, systemstabilisierende Funktion offenen Terrors wird abgelöst durch die veränderte Wirkungsweise der übrigen Faktoren, die indes nach wie vor Bestimmungsmerkmale totalitärer Diktaturen bleiben. Damit enthält Friedrichs und Brzezinskis Konzept nicht nur die Konstruktion eines Begriffs totalitärer Diktatur, sondern ansatzweise auch eine funktionalistische Theorie totalitärer Systeme, die auf der Annahme eines Regelkreiszusammenhangs zwischen den einzelnen Hauptfaktoren basiert.

22 Vgl. dazu die folgende Kontroverse: Achim Siegel, Der Funktionalismus als sozialphilosphische Konstante der Totalitarismuskonzepte Carl Joachim Friedrichs. Methodologische Anmerkungen zur Entwicklung von Friedrichs Totalitarismuskonzepts in den sechziger Jahren, in: Zeitschrift ftlr Politik 43 (1996), S. 123-144; Lothar Fritze, Unschärfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Anmerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Diktatur, in: Zeitschrift ftlr Geschichtswissenschaft 43 ( 1995), S. 629-641.

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Lothar Fritze geht in seinem Essay "Herrschaft und Konsens. Über Stabilitätsbedingungen von Weltanschauungsdiktaturen" der nach dem Umbruch von 1989/90 erneut aktuell gewordenen Frage nach, wieso moderne, totalitäre Diktaturen eine vergleichsweise lange Stabilität aufzuweisen vermochten. Nach Fritze ist die potentiell immer wieder mögliche Entstehung solcher Diktaturen vor allem darauf zurückzufuhren, daß es offenen, liberalen Gesellschaften nicht oder nur unvollständig gelingt, elementare menschliche Sinnbezüge und Wertkategorien zu befriedigen - eine Folge, so die These, des Übergangs von traditionalen Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften. Der damit verbundene zivilisatorische Fortschritt habe jedoch zu einem Verlust an bestimmten Sinnorientierungen, an Formen intellektueller Sicherheit, kollektiver Identität und sozialer Geborgenheit gefuhrt, den Weltanschauungsdiktaturen durch totalitäre bzw. utopisch-messianische Ideologien teilweise durchaus zu befriedigen vermögen. Deshalb können sie nicht nur eine bestimmte politische Integrationskraft erzeugen, sondern bieten den Menschen auch eine gewisse Alltagsnormalität vorausgesetzt, ihr jeweiliges Wirtschafts- und Sozialsystem sichert der breiten Bevölkerungsmehrheit ein ausreichendes, materielles Auskommen. Indem sie darüber hinaus Werte und Ziele verbindlich definieren und damit der Gesellschaft eine Homogenität der Ansichten, Bestrebungen und Normen verordnen, desintegrieren sie zugleich diejenigen, die sich ihrem Herrschaftssystem und ihren Normen nicht fugen wollen, wobei letzteres wiederum durchaus systemstabilisierende Wirkung zeitigen kann. Nicht selten erwuchs daraus, wie sich am Beispiel der NS-Diktatur bzw. real-sozialistischer Diktaturen zeigte, eine Art lebenspraktischer Erträglichkeil von Weltanschauungsdiktaturen. Indem sie ihre Anziehungskraft aus der Kompensation von Modemitätsdefekten existentieller, sozialer und geistig-seelischer Art beziehen, die offene, pluralistische Gesellschaften geradezu zwangsläufig mit sich bringen, wohnt ihren Ideologieangeboten nach wie vor ein nicht zu unterschätzendes Verfuhrungspotential inne. 23 Mit den spezifischen Rahmenbedingungen von Widerstand in der Sowjetunion, im Nationalsozialismus und der DDR befaßt sich Klaus-Dieter Müller in dem komparativ angelegten Beitrag "Handlungsbedingungen von Systemgegnem. Widerstand in totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Europa". Der Autor erweitert die bisherige Differenzierung in Friedens- und Kriegsetappen um ein Vier-Phasen-Modell, das aus Herrschaftsübemahme, Herrschaftssicherung, voll funktionierender Herrschaft sowie einer Auflösungs- bzw. Ablösungsphase besteht. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß es zwischen diesen verschiedenen Phasen der drei Diktaturen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede gegeben hat, die zu ebenso unterschiedlichen Handlungsbedingungen filr die jeweilige Opposition bzw. den dortigen Widerstand filhrten, kommt Müller zu dem folgenden Befund: Die Machtergreifung gelang allen drei Diktaturen nur in 23 Vgl. ausfilhrlicher Lothar Fritze, Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Verhalten in der realsozialistischen Diktatur, bisher ungedruckte politikwissenschaftliche Habilitationsschrift, Chemnitz 1997.

Einführung

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einer Ausnahmesituation. Während der zweiten Phase der Herrschaftssicherung waren zwar am ehesten Möglichkeiten zur Abwendung oder Milderung der Diktaturen gegeben, entsprechender Widerstand traf aber auch gleichzeitig auf wachsenden Zuspruch bei der Bevölkerung; zudem konnten sich die diktatorischen Regime eine Schein-Legitimation verschaffen. In der voll entwickelten totalitären Herrschaft war Widerstand am wenigsten möglich, da sich nahezu alle Bereiche der inzwischen unterworfenen Gesellschaften unter Kontrolle befanden und der Sicherheitsapparat umfassend ausgebaut worden war. Auch wenn ihr Ende jeweils sehr unterschiedlich gewesen ist, so stiegen in der Aufbzw. Ablösungsphase doch wieder die Chancen auf eine Änderung der Regime; dabei war der innere Auflösungsprozeß schon weit fortgeschritten, zumal wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme als verstärkende Faktoren hinzutraten. Müller gelangt zu dem Schluß, daß ein erfolgreicher Umsturz nach der Etablierung totalitärer Regime äußerst schwer zu bewerkstelligen ist. Daraus ergibt sich: Vor allem im Vorfeld ihrer Etablierung müssen demokratische Gegenkräfte ansetzen. Ausgehend von der historischen Tatsache, daß in Diktaturen totalitärer Prägung Repression und widerständiges Verhalten oft in einem komplizierten Wechselverhältnis zueinander stehen, plädiert Rainer Ecker! in seinem Beitrag "Vorläufer der parlamentarischen Demokratie? Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR" dafiir, den synchronen und diachronen Vergleich zwischen Diktaturen als grundsätzliche Möglichkeit geschichts- und politikwissenschaftlicher Analyse anzuerkennen und dabei Widerstand und Opposition als konstitutive Elemente jeder diktatorischen Herrschaft ebenso wie den Alltag der Bevölkerung gleichgewichtig zu berücksichtigen. Dabei kann ein kritischer Umgang mit der bisherigen Erforschung des Widerstands gegen das NS-Regime als heuristisches Modell für die Untersuchung von Widerstand, Opposition und alltäglichen Verhaltensweisen der DDR-Bürger durchaus dienlich sein. Eckert konstatiert, daß hierzu bislang kaum komparatistisch angelegte Arbeiten vorliegen und macht auf grundlegende historische wie strukturelle Unterschiede zwischen beiden deutschen Diktaturen aufmerksam, nennt zugleich eine Reihe von Forschungsthemen, die sich für einen Vergleich zwischen NS- und SED-Diktatur besonders eignen, etwa widerständiges Verhalten von Kirchen und Christen, von Arbeitern und Bauern oder die Problematik der Emigration bzw. Ausreise als Widerstand. Dabei gilt es durchweg, die wechselseitige Interdependenz von Terror bzw. Repression und widerständigem Verhalten herauszuarbeiten. Gelingt dies, könnte nicht nur die letztlich fruchtlose Gegenüberstellung von Totalitarismus und "moderner Diktatur" überwunden, sondern auch der Blick fiir den spezifischen Charakter des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts geöffuet werden. Dieser Beitrag ergänzt den thematisch etwas breiter angelegten von Müller. Die marxistisch-leninistische Machttheorie entwickelte das Modell der "Diktatur des Proletariats". Gemäß diesem Modell sollte die Herrschaft durch

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Parteikader, nach sowjetischem Vorbild auch Nomenklaturkader genannt, ausgeübt werden. Wo/fgang-Uwe Friedrich untersucht in seinem Aufsatz "Kaderpolitik als totalitäres Herrschaftsinstrument Das Nomenklaturasystem in der DDR" die diesbezügliche Praxis der SED. Bekanntlich hat Stalin die Kader als den "Kommandostand der Partei" bezeichnet - die SED übernahm dieses HerrschaftsmodelL Als Kader galten "Menschen, die die Verantwortung fiir die Leitung eines Kollektivs tragen". Zu ihren Hauptaufgaben zählte die "Durchftlhrung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse, der Gesetze und Verordnungen der staatlichen Organe". Bereits 1945 begann die KPD mit einer entsprechenden Kaderrekrutierung, die in den 50er Jahren zu einer systematischen Durchdringung aller staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche (mit Ausnahme der Kirchen) ftlhrte. Das politische Leitungspersonal wurde 1955 in der rund 7.000 Positionen umfassenden "Hauptnomenklatur des ZK der SED" erfaßt In den 80er Jahren belief sich die Zahl auf rund 4.500 Positionen. Neben dieser obersten Ebene gab es die Bezirks- und die Kreisnomenklaturen. Das Kadersystem war dadurch vertikal und horizontal strukturiert, die SED-Führung regierte diktatorisch. Die Kader fungierten als ihr Herrschaftsinstrument Als entscheidendes Kriterium der Elitenrekrutierung galten Parteilichkeit und sozialistisches Bewußtsein. Geringere Bedeutung besaßen die fiir eine Funktionselite typischen Kriterien von Fachwissen und Sachkompetenz. Prägende Motive fiir Karrieren waren ideologische Konformität und Loyalität gegenüber der Parteiftihrung. Kader wirkten somit in der DDR nicht als eine eigenständige Leistungs- und Funktionselite, deren Mobilität durch das Konkurrenzkriterium reguliert wurde, sondern als Leitungs- und Verwaltungsstab der SED-Machtelite. Die Kaderpolitik der SED verstieß dadurch gegen das Gebot einer zweckrationalen Verwaltung. Die politische Stagnation in der DDR hatte nach Friedrich hierin eine ihrer wesentlichen Ursachen. Seit 1996 sorgt der amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen mit seinem Werk "Hitlers willige Vollstrecker" international ftlr Furore, insbesondere in Deutschland. Während zahlreiche GeschichtswissenschaftleT der Studie große Schwächen vorwarfen, hielten sich Politikwissenschaftler in der öffentlichen Debatte auffallend zurück. Dem Beitrag von Steffen Kaifitz "Anregung oder Ärgernis? 'Hitlers willige Vollstrecker' aus totalitarismustheoretischer Sicht" werden Goldhagens Thesen im weiteren Sinne aus politikwissenschaftlicher, im engeren Sinne aus der Sicht moderner Totalitarismustheorie einer umfassenden Kritik unterzogen. Seine Leitfrage lautet: Gibt das Werk Anregungen ftlr die Erforschung des Völkermords an den Juden, oder bereitet es nur Ärger durch die Verbreitung falscher Thesen? Kailitz sieht Goldhagens Kernthese einer hinreichenden Erklärung des Völkermords an Juden durch einen "eliminatorischen" Antisemitismus "der Deutschen" ftlr unhaltbar an. Das Buch, das faktisch eine Kollektivschuldthese verficht, sei voller Widersprüche, weise fundamentale methodische Schwächen auf und ignoriere die Bedeutung des totalitären Herrschaftssystems. Die bisherigen Ausftlhrungen der Totalitarismusforschung zu den Vollstreckern und ihren Motiven fielen zudem ebenfalls dürf-

Einführung

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tig aus. Empirische Vergleiche fehlten. Das Buch könne allerdings, gerade weil es wegen ärgerlicher Mängel Widerspruch provoziert, die weitere Erforschung der Tat- und Tätermotivation von Genoziden anregen. Auf welche Weise ist es Diktaturen gelungen, "ganz gewöhnliche" Deutsche und Russen in Massenmörder zu verwandeln? Wer diese Frage zu beantworten sucht, müsse sich intensiv mit der Genozidforschung vertraut machen. 24 Offenbar übten nicht nur kommunistische, sondern auch völkische Utopien - Kailitz erinnert an die "ganz gewöhnlichen" Serben25 - eine große Anziehungskraft aus. Der zweite, empirische Teil des Bandes ist konkreten Vergleichsstudien zwischen der NS- und SED-Diktatur gewidmet, die zwar auf unterschiedlichen Feldern angesiedelt, aber gleichwohl exemplarisch sind. Der Beitrag von Günther Heydemann "Integraler und sektoraler Vergleich. Zur Methodologie des empirischen Diktaturvergleichs" leitet zum empirischen Vergleich über. Darin werden zunächst grundsätzliche Möglichkeiten des Diktaturenvergleichs erörtert, einschließlich entsprechender Vergleichstypen auf der Basis bekannter Totalitarismustheoreme. Hinsichtlich des Vergleichs der NS- mit der SEDDiktatur, der wiederum eine spezielle Variante des klassischen Diktaturenvergleichs zwischen Kommunismus und Faschismus bzw. Nationalsozialismus darstellt, unterscheidet Heydemann in methodologischer Hinsicht zwischen einem ganzheitlichen, integralen und einem partiellen, sektoralen Vergleich26 • Während ersterer beide diktatorischen Herrschaftssysteme in ihrer Gesamtheit, d.h. mit ihren Hauptmerkmalen, übergreifenden Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden komparativ zu erfassen sucht, greift der sektorale Vergleich nur ganz bestimmte Strukturen und Mechanismen beider Diktaturen heraus, etwa Institutionen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft oder das Verhalten von sozialen Schichten und Berufsgruppen in ihrer jeweiligen Lebensund Alltagswelt Voraussetzung fiir den sektoralen Vergleichsansatz ist allerdings, daß ein ausreichendes Maß an Kompatibilität bei den ins Auge gefaßten Vergleichsobjekten aus beiden Diktaturen vorliegt. Daß die empirisch gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse von selektiven bzw. sektoralen Vergleichen später wiederum in den ganzheitlich-integralen Vergleich zurückgefilhrt werden können und diesen gegebenenfalls zu präzisieren vermögen, unterstreicht trotz ihrer unterschiedlichen komparativen Ansätze den inneren Zusammenhang beider Vergleichstypen.

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1996.

Vgl. u.a. Yves Temon, Der verbrecherische Staat. Völkennord im 20. Jahrhundert, Harnburg

25 Vgl. Jan Willern Honig!Norbert Both, Srebrenica. Der größte Massenmord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Monehen 1997. 26 Vgl. ausftlhrlicher Günther Heydemann/Christopher Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs, in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 12-40.

2 Heydcmann I Jesse

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Die folgenden vier Aufsätze zum empirischen Diktaturvergleich zwischen dem NS- und dem SED-Regime beruhen methodisch auf der Basis eines sektoralen Vergleichs und geben Zwischenergebnisse gegenwärtig laufender Forschungsarbeiten wieder. Als Fallbeispiele beziehen sie sich ausschließlich auf die Region Sachsen sowie die Großkommune Leipzig. Während die ersten beiden Beiträge auf regionaler Ebene sächsische Vereine sowie einen Landkreis in Sachsen zwischen beiden Diktaturen vergleichend untersuchen, setzen sich die zwei anderen Aufsätze mit einer kirchlichen Institution sowie einem Industriebetrieb auf kommunaler Ebene auseinander. Die Reihe der empirischen Studien eröffnet Thomas Schaarschmidt mit dem Beitrag "Vom völkischen Mythos zum 'sozialistischen Patriotismus' . Sächsische Regionalkultur im Drittem Reich und in der SBZ/DDR". Komparativ untersucht werden die Heimat-, Natur- und Geschichtsvereine in Sachsen, insbesondere die Verteidigung ihrer Handlungsspielräume gegen die intendierte Instrumentalisierung durch das NS- wie das SED-Regime. Beide Diktaturen unternahmen in der Tat den Versuch, die Vereine "gleichzuschalten", sie fur ihre politisch-ideologischen Ziele einzuspannen und gleichzeitig zu kontrollieren. Wenn zunächst die teilweise Integration der Vereine in neu geschaffene regional-kulturelle Organisationen im Nationalsozialismus leichter zu bewerkstelligen war, weil in ihnen unübersehbare Affinitäten zur völkischen Bewegung mit ihrer charakteristischen "Blut- und Boden"- Ideologie bestanden, so fiel es den kommunistischen Machthabern nach 1945 wesentlich schwerer, die sächsischen Heimat-, Natur- und Geschichtsvereine in die einzige, staatlich legitimierte Organisation einzugliedern, den von der KPD/SED geschaffenen "Kulturbund". Obwohl sie nach der NS-Zeit fast durchweg moralisch diskreditiert waren und ihr Vereinsleben eine kriegsbedingte Erosion erlitten hatte, besaßen sie dort bis Ende der 50er Jahre ein Übergewicht und konnten daher ihre traditionellen Aktivitäten fortsetzen. Erst danach gelang es der SED, die ehemaligen Vereine ihrem politisch-ideologischen Machtanspruch zu unterwerfen, sie zu kontrollieren, reglementieren und instrumentalisieren. Die fortgesetzten Bemühungen dieser Traditionsvereine, ihre Autonomie in beiden Diktaturen jeweils zu wahren, sind unübersehbar und zeigen exemplarisch, daß totalitäre Diktaturen häufig nur eine begrenzte Durchdringung der ihr unterworfenen Gesellschaft zu erzielen vermögen. In Christopher Beckmanns Regionalstudie "Zweierlei Gleichschaltung. Die Durchsetzung des Machtanspruchs von NSDAP und SED auf kommunaler Ebene" steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit beide Staatsparteien in ihrem totalitären Anspruch tatsächlich existierende politische Kräfteverhältnisse und traditionelle Verwaltungsstrukturen in Kommunen und Gemeinden aufbrechen konnten, um den jeweils propagierten Machtanspruch faktisch durchzusetzen. Exemplarisch untersucht wird der östlich von Leipzig gelegene sächsische Landkreis Grimma während der NS- und SED-Zeit. Dabei zeigt sich, daß NSDAP wie SED während der Phase der Machtergreifung und -etablierung vor

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Ort, d.h. in Städten und Gemeinden, auf weitgehend konstant gebliebene politische Lager stießen, die bei der Umsetzung ihres totalitären Machtanspruchs berücksichtigt werden mußten. Anfangs jedenfalls ging die SED, den Rückhalt der SMAD hinter sich wissend, wesentlich rigoroser vor als die NSDAP nach 1933/34; entsprechend kam es nach Kriegsende zu einem fast vollständigen Austausch der lokalen Funktionseliten. Nach den Wahlen von 1946 in der SBZ sah sich die SED indes vor ähnliche Probleme gestellt wie die Nationalsozialisten gut zehn Jahre zuvor, hatte sie sich doch ebenfalls mit - jedenfalls halbwegs - demokratisch legitimierten Gemeindekörperschaften auseinanderzusetzen, deren Zusammensetzung den eigenen politischen Wunschvorstellungen keineswegs entsprach. Nicht zuletzt auf Anraten der sowjetischen Besatzungsmacht akzeptierte sie deshalb in einer Übergangsphase altgediente, bürgerliche Kommunalpolitiker als Bürgermeister, behielt sich jedoch selbst - nach dem "Prinzip des zweiten Mannes" - jeweils eine Schlüsselposition vor und betrieb weiterhin die Aufsplitterung (="Differenzierung") des bürgerlichen Lagers. Erst nach den Wahlen von 1950, die den dominierenden Einfluß der SED absicherten, setzte eine konsequente "Gesinnungsverwaltung" ein, wie dies die Nationalsozialisten nach ihrer Machtergreifung im Landkreis sukzessive vorexerziert hatten. An einem weiteren Fallbeispiel untersucht Georg Wilhelm in dem Aufsatz "Zweierlei Obrigkeit. Die Haltung der Leipziger Pfarrerschaft nach 1933 und 1945" eine bedeutende kirchliche Institution im Hinblick auf die zweimalige Etablierung und Existenz einer Diktatur. Auf der Grundlage der Ephoralberichte, d.h. der Protokolle ihrer Konferenzen, vermag Wilhelm zu belegen, daß es der Leipziger Pfarrerschaft während der Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung keineswegs leicht fiel, eindeutig Position zu beziehen. Zwischen dem Gedankengut des Nationalsozialismus und den im Protestantismus dieser Zeit vorherrschenden theologischen und politischen Strömungen gab es Überschneidungen, die u.a. in der Absage an das "System von Weimar", den Bolschewismus und das katholische Zentrum bestanden. Gleichzeitig barg die nationalsozialistische Ideologie durch ihre Überhöhung von Blut und Rasse indes erhebliche Reibungspunkte. Dies führte bei der Mehrheit der Pfarrer in Leipzig zu einem Zwiespalt zwischen theologischer Ablehnung und politischer Befiirwortung des Nationalsozialismus. Nach Kriegsende hingegen stellte Antikommunismus die vorherrschende Grundhaltung der Pfarrerschaft dar, gepaart mit Mißtrauen gegen ein von außen oktroyiertes politisches und gesellschaftliches System. Sind somit gegenüber der NS- und der SED-Diktatur markante Unterschiede hinsichtlich der Einstellung der Leipziger Pfarrer zu verzeichnen, so war deren Haltung gegenüber dem Versuch beider Regime, einheitliche und ausschließlich unter ihrer Kontrolle stehende Jugendorganisationen aufzubauen, von Anfang an einhellig. Hatte die Pfarrerschaft in Leipzig 1933/34 noch gegen die Eingliederung ihrer kirchlichen Jugendverbände in die NS-Jugendorganisationen rebelliert, so beschritt sie nach 1945 den Aufbau der "Jungen

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Gemeinde" und wollte somit das Verbot eines konfessionellen Jugendverbandes unter dem SED-Regime umgehen. Mittels einer Unternehmensgeschichte vermag Oliver Werner mit dem Beitrag "Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Die Bleichert Transportanlagen GmbH I VEB VTA Leipzig im Dritten Reich und in der SBZ/DDR" aufzuzeigen, daß Betriebe als eigendynamische Wirtschaftsorganisationen weder im Nationalsozialismus noch in der DDR völlig "stillgelegt" werden konnten, vielmehr ihre Leitungen, trotz des jeweils unterschiedlichen politischen und ökonomischen Anpassungsdrucks, darauf angewiesen blieben, weiterhin betriebsspezifische Interessen wahrzunehmen. Obwohl es im NS-Staat nie zu einer Verstaatlichung der Produktionsmittel wie in der DDR gekommen ist, lassen sich im Verhalten der Betriebsleitung unter beiden Diktaturen markante Ähnlichkeiten wahrnehmen. Während der NS-Kriegswirtschaft wie auch in der DDR-Planverwaltungswirtschaft wurden von den Betriebsleitungen immer wieder informelle Beziehungen zu staatlichen Stellen oder anderen Produktionsunternehmen aufgebaut und genutzt, um etwa Materialdefizite zu überbrücken. Dieses Vorgehen setzte sich selbst dann fort, als das Unternehmen ab 1954 fest in das Gefüge der zentral gelenkten Wirtschaft der DDR eingegliedert worden war und im Betrieb selbst eine charakteristische Vermengung von staatlichen und ökonomischen Strukturen stattfand. Ähnliches gilt fiir die Personalpolitik. Wo es möglich blieb, suchten die jeweiligen Betriebsleitungen nach wie vor selbständig Entscheidungen zur Stärkung der innerbetrieblichen Effizienz zu treffen, auch wenn die Stellung des VEB VTA seit Mitte der 50er Jahre entscheidend vom Kontrollzugriff staatlicher und parteilicher Gremien geprägt wurde. Die Schaffung von Vertretungssurrogaten anstelle freier Gewerkschaften und Betriebsräte im Dritten Reich wie in der SBZ/DDR rückte zudem betriebliche Sozialleistungen als Regulationsmechanismen in den Vordergrund. Bei aller Unterschiedlichkeit stellt es fiir beide Diktaturen ein gemeinsames Merkmal dar, daß sie durch ihren unbegrenzten Kontrollanspruch gesamtwirtschaftlich nicht zu bewältigende Steuerungsprobleme schufen. Die konkreten Vergleichsergebnisse der vier empirischen Studien fallen unterschiedlich aus und widerlegen damit von vornherein, daß diktaturvergleichende Forschungen keineswegs zu undifferenzierten oder gar einseitigen Ergebnissen bzw. Bewertungen fiihren müssen, wie Kritiker noch immer argwöhnen. Trotz aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Fallbeispiele als Vergleichsgegenstände treten ähnliche bzw. sogar analoge Strategien und Vorgehensweisen von NSDAP und KPD/SED in beiden Diktaturen deutlich hervor, etwa hinsichtlich der Behandlung des Autonomieanspruchs von Vereinen als freiwilligen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen oder Durchsetzung und Etablierung ihres Machtanspruchs auf kommunaler Ebene. Das gilt fiir Institutionen gesellschaftlicher Großorganisationen, wie z. B. den Kirchen; es gilt aber auch filr wirtschaftliche Unternehmen wie Betriebe, die sich dem politischen und ideologischen Ausschließlichkeitsanspruch der beiden "Staatsparteien" zu ent-

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ziehen oder diesen zumindest zu reduzieren suchten. Dies illustriert, auf welche Hemmnisse totalitäre Diktaturen stoßen, ohne dabei die suggestive Wirkung der von ihnen propagierten Ideologien zu unterschätzen, verstärkt durch die Androhung und Ausübung von Repression. Zugleich wird dadurch belegt, daß die von ihnen erstrebte totalitäre Durchdringung der Gesellschaft und ihrer Einrichtungen keineswegs immer gelingt, sondern vielmehr häufig abgebremst bzw. abgewehrt werden kann - zumindest zeitweise. Differenzierte vergleichende Ansätze bleiben fiir die weitere, moderne Zeitgeschichtsforschung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend von großer Bedeutung. Nicht von ungefahr ist das ausgehende 20. Jahrhundert als eine Epoche bezeichnet worden, die vom "Kampf zwischen Diktatur und Demokratie" (Jorge Semprun) geprägt gewesen ist. Der Band geht zurück auf ein Symposium der Fachgruppe Geschichtswissenchaft der Gesellschaft fiir Deutschlandforschung, das der Historiker Günther Heydemann (Leipzig), Leiter dieser Fachgruppe, und der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse (Chemnitz) in Leipzig am 9. und 10. Mai 1997 ausgerichtet haben.27 Er legt Zeugnis von der fruchtbaren Kooperation zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Disziplinen ab. Die auf der Veranstaltung gehaltenen Vorträge wurden überarbeitet und um zwei Beiträge ergänzt. Die Auswahlbibliographie soll dem Interessierten die Möglichkeit bieten, sich mit der Materie weiter vertraut zu machen. Leipzig/Chemnitz, im Februar 1998

27 Vgl. Uta Stolle, Fragwürdig und fruchtbar: der Totalitarismusbegriff Leipziger Symposion zu "Theorie und Praxis des Diktaturvergleichs", in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 801-803.

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1917- 1933-1945- 1989 DAS 20. JAHRHUNDERT ALS ZEITALTER DES TOTALITARISMUS I. Einführung Das Thema - das 20. Jahrhundert als Zeitalter des Totalitarismus - ist gegenwärtig in aller Munde. Streit entzündet sich an dieser Auffassung kaum noch. Sie ist nahezu ubiquitär geworden. Hat sich seit den tektonischen Umwälzungen des Jahres 1989 ein "stiller Sieg eines Begriffs" 1 vollzogen - nämlich des Totalitarismusbegriffs? Und stimmt es, wie Klaus-Dietmar Henke meint, der Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts fiir Totalitarismusforschung, daß sich das Totalitarismuskonzept "stillschweigend durchgesetzt" habe, die politischen Lager sich somit "verflüchtigen"2 ? Man könnte viele eindrucksvolle Beispiele dafiir nennen, die Ergebnisse der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages über die "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"3 etwa, ebenso Äußerungen von Jürgen Habennas, eines ruhrenden Linksintellektuellen, der heutzutage ganz selbstverständlich von einem "antitotalitären Konsens"4 spricht oder - um den Blick über Deutschland hinaus zu richten - an die Doppelbiographie von Alan Bullock über die "Parallelen Leben" von Hitler und Stalin einerseits, an das "Ende der Illusion" Frant;:ois Furets andererseits, der die Rolle des Kommunismus im 20. Jahrhundert analriert, mit Blick auf seinen zeitweiligen Konkurrenten, den Nationalsozialismus. In der Tat hat sich die Entwicklung weitgehend "still" vollzogen, aber der Terminus "Sieg" erscheint unangebracht. Zum einen deshalb, weil ein wissenschaftlicher Streit keine militärische Auseinandersetzung bedeutet; zum andem, 1 So Jürgen Braun, Stiller Sieg eines Begriffs, in: Das Parlament vom 11./18. November 1994. 2

Zitiert nach afk., Aufklärung wissenschaftlich nüchtern. Hannah-Arendt-lnstitut in DresdenNergleichende Diktaturforschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom I. April 1997. 3 Vgl. Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, neun Bde. in 18 Teilbänden, Baden-Baden- Frankfurt/M. 1995.

4 Jürgen Habermas, Die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte der beiden deutschen Diktaturen filr den Bestand der Demokratie in Deutschland und Europa, in: Ebd., Bd. IX, S. 690. 5 Vgl. Alan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991 ; Fran~ois Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München- Zürich 1996.

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und vor allem, weil die momentane Zustimmung zum Totalitarismusbegriff nicht notwendigerweise auf einem tief verankerten Konsensus im intellektuellen Milieu der Bundesrepublik basieren muß. So steht die reservierte Haltung gegenüber der Extremismusforschung in einem merkwürdigen Gegensatz zur breiten Akzeptanz der Totalitarismusforschung. Der Vergleich zwischen der PDS und den REP ruft mehr Empörung hervor als der zwischen der DDR und dem NS-System, obwohl jener mindestens soviel Berechtigung hat wie dieser. Die GrUnde fiir die Diskrepanz liegen augenscheinlich auf der Hand. In dem einen Fall handelt es sich im Kern um ein vergangenes Phänomen, in dem anderen um ein höchst gegenwärtiges. Insofern sollte man die generelle Aufgeschlossenheit gegenüber der Totalitarismusforschung nicht überbewerten. Vielleicht ist sie nur ein augenblicklicher Reflex auf den Untergang der kommunistischen Systeme. Der Totalitarismusbegriff ist bekanntlich stark konjunkturell bedingt.6 Die Übernahme der einstigen Reizvokabel selbst von vielen ihrer Kritiker läßt noch nicht zwingend auf die dauerhafte Akzeptanz des Begriffs schließen. Allerdings hat der Totalitarismusbegriff keineswegs einen Siegeszug ohnegleichen angetreten. Um nur ein Beispiel von mehreren7 zu nennen: "Die Totalitarismustheorie schließt aus, daß Rassismus und Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft kommen und sich in ihren marginalisierten Randgruppen in je besonderer Form zeigen. Das gerade aber ist der Konsens der internationalen Rassismusforschung. Für die politik- und sozialwissenschaftliche Diskussion ist die Doktrin von den beiden 'Extremismen' unbrauchbar, weil sie perspektivisch alle Unterschiede, auch historisch, einebnet: Spanischer Anarchismus, Trotzkismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus, die deutschen 'Republikaner' , religiöser Fundamentalismus, Scientology - alles gleich oder ähnlich 'totalitär'." 8 Und weiter heißt es bei Burkhard Schröder: "Die Totalitarismusdoktrin verzichtet darauf, die unterschiedlichen Wurzeln der beiden großen 'totalitären' Denksysteme zu erklären."9 Hier wird der Totalitarismusbegriff im Sinne einer politischen "Doktrin" verstanden, seiner wissenschaftlichen Elemente entkleidet und im Sinne von "rot = braun" interpretiert. Unter Berufung auf Christoph Butterwegge, an den sich der Autor übrigens auch sonst anlehnt, lautet die Schlußfolgerung: "Hitlerfaschismus und Stalinismus als totalitäre Regime zu 6 Vgl. beispielsweise Siegfried Jenkner, Entwicklung und Stand der Totalitarismusforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 31/84, S. 16-26. 7 Zu den heftigsten Kritikern der Totalitarismuskonzeptionen gehören u.a. Christoph Butterwegge, Rechtsextremismus , Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996, insbes. S. 64-78; Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfllngen bis heute, Darmstadt 1997; Michael Schönegarth, Die Totalitarismusdiskussion in der neuen Bundesrepublik 1990 bis 1995, Köln 1996.

8 So Burkhard Schröder, Im Griff der rechten Szene. Ostdeutsche Städte in Angst, Reinbek 1997, S. 212. 9

Ebd., S. 213.

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identifizieren, verschafft schwerlich einen Erkenntnisgewinn, der über das Grundwissen eines Hauptschülers hinausgeht." 10 So einfach ist das also. Im übrigen muß der Anhänger des Totalitarismusbegriffs Interesse daran haben, daß dieser frag-würdig im wahrsten Sinne des Wortes bleibt. Denn was ist fiir die Analyse gewonnen, wenn man sich umstandslos auf einen Begriff verständigt, mit dem sich unterschiedliche Konnotationen verbinden? Auch die griffige Formel vom 20. Jahrhundert als "Zeitalter des Totalitarismus" ist es wert, kritisch befragt zu werden. Hat es vor dem 20. Jahrhundert keine totalitäre Herrschaft gegeben? Ist eine solche zukünftig nicht mehr zu erwarten? Die Wendung vom 20. Jahrhundert als dem Zeitalter des Totalitarismus läßt im Grunde in dem einen wie dem anderen Fall nur die Antwort ,ja" zu. Aber ist diese so treffend? Der Themenstellung wohnen also mehr Facetten inne, als man auf den ersten Blick meint. Dem Verfasser geht es zunächst darum, die These zu überprüfen, was damit gemeint ist, daß das 20. Jahrhundert ein Zeitalter des "Totalitarismus" sei, also einer Herrschaftsordnung, die sich offenbar von früheren Despotien grundlegend unterscheidet (Kapitel 2). Der Blick wird nicht nur auf die Vergangenheit gerichtet, sondern auch auf die Zukunft. Schließlich hat Francis Fukuyama davon gesprochen, das "Ende der Geschichte" sei erreicht, Samuel P. Huntington hingegen vor einem Zusammenprall der Kulturen gewarnt. Dann soll anband vierer Schlüsseljahre- 1917, 1933, 1945, 1989- die Bedeutung des "Großtotalitarismus" 11 fiir das 20. Jahrhundert gezeigt werden (Kapitel 3). Solche Schlüsseljahre stellen jeweils den Beginn und das Ende der rechten wie linken totalitären Herrschaft dar. Ist dieser Teil stärker zeithistorisch orientiert, so der vorherige eher demokratietheoretisch. Abschließend soll die Frage erörtert werden, ob es zureichend ist, das 20. Jahrhundert als den Kampf von totalitären Diktaturen zu interpretieren (Kapite14). 2. Totalitarismus als Phänomen des 20. Jahrhunderts? 2. 1 Totalitarismus vor dem 20. Jahrhundert?

Der Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus hat die Forschung in einem zuvor ungeahnten Ausmaß inspiriert, ähnlich wie die Niederschlagung des Nationalsozialismus 1945. Allerdings ist dabei eigentümlicherweise eine Frage so gut wie nicht berührt worden - und zwar diejenige, ob spezifisch das 10

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Ch. Butterwegge (Anm. 7), S. 71 .

Der Begriff stammt von lmanuel Ge iss. Dieser bezeichnet damit die Sowjetunion Stalins und das Dritte Reich Hitlers. Vgl. ders., Die Totalitarismen unseres Jahrhunderts. Kommunismus und Nationalsozialismus im historisch-politischen Vergleich, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Politischer Extremismus in Deutschland und Europa, München 1993, S. 21-37, S. 25.

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20. Jahrhundert als ein Säkulum des Totalitarismus gelten kann. Entweder wurde ein solcher Befund einfach vorausgesetzt oder schlichtweg ignoriert. Bekanntlich hatte u.a. Carl Joachim Friedrich vom "einzigartigen Charakter der totalitären Gesellschaft" gesprochen. Er behauptete, "daß a) die totalitäre Gesellschaft des Faschismus und die des Kommunismus sich in den Grundzügen gleichen, also mehr Ähnlichkeit miteinander als mit anderen Regierungsund Gesellschaftssystemen haben und daß b) die totalitäre Gesellschaft historisch einzigartig und sui generis ist." 12 Die These von der Einzig- und Neuartigkeit des Totalitarismus als Phänomen des 20. Jahrhunderts, die bereits in der Zwischenkriegszeit vielfach vertreten wurde 13 , machte schnell die Runde: Sie resultiert u.a. "aus der unmittelbaren Betroffenheit der Opfer totalitärer Regime. Das tief eingeprägte Erlebnis der Konsequenzen totalitärer Herrschaft läßt den Vergleich mit historischen und gegenwärtigen Formen der Unterdrückung so erscheinen, als solle damit auch die moralische Dimension dieser Vorgänge relativiert und herabgemindert werden."14 Was hat es - aus der Distanz betrachtet und nach dem Untergang der meisten totalitären Regime - mit der Behauptung von der historischen Neuartigkeit totalitärer Systeme auf sich? Viele Argumente, die fiir sie ins Feld gefiihrt wurden, sind auf den ersten Blick, jedoch nicht beim näheren Hinsehen sonderlich triftig. Das gilt etwa fiir die Rolle der Technik. Gewiß hat sich der technische Fortschritt im 20. Jahrhundert ungeheuer gesteigert, zum Nutzen der Diktatoren, aber auch zu ihrem Nachteil. Die Rolle der Technik ist damit offenkundig ambivalent. Sie kann von Diktaturen ebenso mißbraucht wie gegen sie gebraucht werden. Gleiches gilt für die moderne Massengesellschaft, die die Freiheit aufgrund vielfaltiger Zwänge einschränken, sie zugleich fördern kann; auch die Rolle der totalitären Ideologie 15 mit ihrem Absolutheitsanspruch, ihrer Welterklärungsanmaßung und ihrem Endzeitdenken muß kein Spezifikum des 20. Jahrhunderts sein. Wie etwa von Kar! R. Popper oder Norman Cohn gezeigt, wohnen vielen 12 Carl J. Friedrich, Der einzigartige Charakter der totalitären Gesellschaft, in: Bruno Seidei!Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968, S. 178. 13

Vgl. Carlton J.H. Hayes, Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur, in: Ebd., S. 86-100.

14 So Uwe Backes, Totalitarismus - ein Phänomen des 20. Jahrhunderts?, in: Thomas Nipperdey/Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Uirich Thamer (Hrsg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag, Berlin 1993, S. 256. 15

Mit dieser Begründung machte sich u.a. Hannah Arendt dafür stark, totalitäre Herrschaft als Phänomen der Modeme zu betrachten. Vgl. dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986. Zur Kritik an Arendts Theorie von der Neuartigkeit des Totalitarismus siehe u.a. John L. Stanley, Is Totalitarianism a New Phenomenon? Reflections on Hanny Arendt's Origins of Totalitarianism, in: The Review ofPolitics 49 (1987), S. 177-207.

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Weltanschauungen der Vergangenheit totalitäre Elemente inne_l 6 Der deutsche Altertumsforscher Kurt von Fritz hat 1948 den aufschlußreichen Versuch unternommen, Elemente der totalitären Modeme in der Antike aufzuspüren. So sei das Leben der Heloten in Sparta von der Wiege bis zur Bahre streng reglementiert gewesen - ohne jegliche Freiräume. 17 Auch die Monstrosität der Verbrechen und Massaker dürfte kein Spezifikum des 20. Jahrhunderts sein.18 Ist somit der Totalitarismus nicht kennzeichnend fiir das 20. Jahrhundert? Davon kann jedoch keine Rede sein. Kurt von Fritz spricht im Titel seines Aufsatzes von "Totalitarismus und Demokratie" und zeigt damit indirekt einen Weg fiir die Beantwortung der Frage auf, ob totalitäre Herrschaft auch in früherer Zeit vorhanden war. Denn Totalitarismus ist eng an den demokratischen Verfassungsstaat gekoppelt, den Antipoden des totalitären Systems. Der demokratische Verfassungsstaat ist in den letzten Jahrhunderten entstanden als ein Produkt aus einer Reihe von sich nicht spannungslos zusammenfugenden Elementen. 19 So steht das Freiheitsprinzip zum Gleichheitsprinzip zumindest in einem Spannungsverhältnis. Konstitutionelle und demokratische Elemente lassen sich voneinander unterscheiden. Zu den konstitutionellen Bestandteilen gehören Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Freiheit, zu den demokratischen Volkssouveränität und Gleichheit. Sie entstammen einer anderen demokratietheoretischen - späteren - Tradition. Beim demokratischen Verfassungsstaat handelt es sich mithin um einen demokratischen Konstitutionalismus. Nun wäre es verkehrt, das Phänomen des Totalitarismus als das ganze Gegenteil des demokratischen Verfassungsstaates anzusehen und von einem antidemokratischen Antikonstitutionalismus zu reden. Auch der totalitäre Staat fußt wie der demokratische Verfassungsstaat auf zwei Kernbestandteilen - Gewalt, Terror, blutige Unterdrückung einerseits und Massenmobilisierung, Ideologisierung, Rechtfertigung der totalitären Herrschaft andererseits. Diese Synthese fugt

16 Vgl. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., 6. Auf!., München 1989; Norrnan Cohn, Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa, Reinbek bei Harnburg 1988. Siehe auf Deutschland bezogen: Klaus Vondung, Apokalypse in Deutschland, München 1988.

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Vgl. Kurt von Fritz, Totalitarismus und Demokratie im Alten Griechenland und Rom, in: Antike und Abendland 3 (1948), S. 47-74. 18

Vgl. u.a. Imanuel Geiss, Massaker - eine historische Bestandsaufuahme von den ersten Hochkulturen bis in die neuere Zeit, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Bonn 1990, S. 37-57; ders., Massaker in der Weltgeschichte. Ein Versuch über Grenzen der Menschlichkeit, in: Uwe Backes!Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frankfurt!M. Berlin 1990, S. 110-135. 19

Vgl. dazu Uwe Sackes, Liberalismus und Demokratie - Antinomie und Synthese. Zum Wechselverhältnis zweier politischer Strömungen im Vorrnarz. bisher ungedruckte Habilitationsschrift, Bayreuth 1996.

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sich ebensowenig fugenlos zusammen. Denn totaler, schrankenloser Terror läßt sich - bei aller Dialektik - nur schwer blind rechtfertigen. Das totalitäre System stellt die Verleugnung aller konstitutionellen Elemente dar, in der Praxis auch aller demokratischen. Es beruft sich jedoch geradezu auf demokratische Prinzipien und spricht vielfach von der "wahren Demokratie", wobei es einer intensiven Untersuchung bedürfte, ob in diesem Punkt eine Differenzierung zwischen der totalitären Herrschaft von rechts und der von links nötig erscheint. Insofern steht das totalitäre System in mancher Hinsicht in einer näheren Beziehung zum demokratischen als das autoritäre, dem demokratische und pseudodemokratische Elemente von seinem Anspruch her weitgehend fremd sind. Die alte Despotie war weder konstitutionell noch demokratisch, auch nicht pseudodemokratisch. Dagegen ist der Totalitarismus ein postdemokratisches Phänomen - er hat die Demokratie zur Voraussetzung; daß er wegen und trotz seiner pseudodemokratischen Form zutiefst antidemokratisch ist, steht dazu in keinem Kontrast. Die Berufung auf die Massen ist ein wesentliches Charakteristikum totalitärer Herrschaft. Wer daran festhalten will, daß der Totalitarismus ein Spezifikum des 20. Jahrhunderts ist, muß einen engen Totalitarismusbegriff zugrunde legen und sich etwa die Kriterien von Hans Maier zu eigen machen - "die absolute Entgrenzung der Gewalt und ihre ebenso absolute Rechtfertigung; die Existenz 'politischer Feinde', die ohne Schuld, einzig aufgrund ihrer Rassen- oder Klassenzugehörigkeit, wie Schädlinge vernichtet werden dürfen; die Bereitschaft vieler Menschen alles, und sei es das Entsetzlichste, im Dienst der ' neuen Zeit' zu tun; die Ablösung des Rechtsbewußtseins durch die Initiation in die Zwecke der Geschichte - und in alldem der unbeirrbare Glaube an die revolutionäre Notwendigkeit, welcher der entfesselten Gewalt ihr erschreckend gutes Gewissen gibt" 20 . Zu ergänzen bliebe als wesentliches Element die Einbeziehung der Massen - die Pseudolegitimierung der Führung, durch Massenaufmärsche, durch Vertrauensbekundungen, durch Huldigungen, durch 100-Prozent-Akklamationen. Man könnte von einem "Großtotalitarismus" reden, der flir die Herrschaft Stalins und Hitlers zutraf- nicht flir alle Phasen, jedoch flir die 30er Jahre unter Stalin und flir die Kriegsjahre unter Hitler. In diesem Sinne ist der Großtotalitarismus mit seiner "Verbindung von absoluter Gewalt und absoluter Rechtfertigung" 21 ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, aber wohl nicht die eine oder andere schwächere Form des Totalitarismus. Finden sich doch dazu vielfältige Parallelen in früheren Jahrhunderten. 20 Hans Maier, Konzepte des Diktaturvergleichs: 'Totalitarismus' und 'politische Religionen', in: Ders. (Hrsg.), 'Totalitarismus' und 'Politische Religionen'. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderbom u.a. 1996. S. 250.

21 Ders., Totalitäre Herrschaft - neubesehen, in: T. Nipperdey/A. Doering-Manteuffel/H.-U. Thamer (Anm. 14 ), S. 237.

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2.2 Totalitarismus nach dem 20. Jahrhundert?

Hält der Streit der Forschung über die Charakterisierung des 20. Jahrhunderts an- Martin Kriele hat, noch vor dem Jahr 1989, vom Zeitalter der "demokratischen Weltrevolution"22 gesprochen, wandte sich also implizit gegen die Wendung vom totalitären Zeitalter-, herrscht erst recht kein Konsens bei der Frage nach der künftigen Entwicklung. Schreitet der Siegeszug der Demokratien voran, oder drohen neue totalitäre Gefahren? Zwei amerikanische Politikwissenschaftler - Francis Fukuyama und Samuel P. Huntington - haben in den neunziger Jahren dazu spektakuläre Bücher mit unterschiedlichem, ja gegensätzlichem Tenor verfaßt. 23 Während der als Politikberater tätige Fukuyama die westliche Demokratie nach dem Untergang des Kommunismus als finilie Regierungsform ansiehe4 , spricht der in Harvard lehrende Huntington davon, daß künftig massive Konflikte aus dem Kampf der Kulturen hervorgehen. 25 Die wichtigsten Unterscheidungen zwischen den Völkern seien "nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art"?6 Huntington sieht dadurch die westliche Kultur, im christlichen Europa und in den USA beheimatet, u.a. durch die islamische bedroht, Fukuyama hingegen den demokratischen Verfassungsstaat nicht in Gefahr. Beide gehen von einer Art Gesetzmäßigkeit aus, so verschieden, ja gegensätzlich ihre Diagnose auch sein mag. Folgende Aussage drängt sich auf: Die Sozialwissenschaften sind angesichts der Vielzahl an Unwägbarkeiten nur beschränkt zu angemessenen Prognosen in der Lage. So hat das plötzliche Ende des "realen Sozialismus" bekanntlich kaum jemand vorhergesehen?7

22 Martin Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, München 1987. 23

Beide haben ihre Thesen zuerst in einem Aufsatz vorgetragen, der jeweils filr Furore gesorgt hat, obwohl er im Titel noch ein Fragezeichen enthielt. Vgl. einerseits Francis Fukuyama, The End ofHistory?, in: The Nationallnterest 1989, Nr. 16, S. 3-18; Samuel P. Huntington, The Clash ofCivilizations?, in: Foreign AlTairs 72 (1993), Nr. 3, S. 22-49. 24

Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. Das Buch hat eine Fülle von Reaktionen ausgelöst. Vgl. zur Diskussion der Thesen dieses Autors u.a. Alexander Demandt, Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993; Perry Anderson, Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993; Martin Meyer, Ende der Geschichte?, München 1993; Thomas H. Diehi/Carsten Feiler (Hrsg.), Das Ende der Geschichte?! Die "Neue Weltordnung" nach der Systemkonfrontation, Gießen 1994. 25

Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. Auch dieses Werk ist heftig kritisiert worden (u.a. The Clash of Civilizations? The Debate, New York 1993). Vgl. beispielhaft nur Wilfried von Bredow, Konflikte und Kämpfe zwischen Zivilisationen, in: Karl Kaiser!Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die neue Weltpolitik, Baden-Baden 1995, S. 104-111. 26

S. P. Huntington (Anm. 25), S. 21.

Zu den wenigen Ausnahmen gehört Zbigniew Brzezinski, Das gescheiterte Experiment. Der Untergang des kommunistischen Systems, Wien 1989. Allerdings hat selbst Brzezinski die DDR noch kurz vor dem elementaren Umbruch filr stabil gehalten. 27

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Auch wenn totalitäre Systeme derzeit weitgehend von der Bildfläche verschwunden sind, ist es nicht angebracht, die Augen vor künftigen Gefahren zu verschließen. Offenkundig erscheint jedoch folgender Befund: Totalitäre Systeme vom Schlage der kommunistischen Sowjetunion oder des nationalsozialistischen Deutschland mit ihren "objektiven Feinden" (Hannah Arendt) haben keine Wirkungsmacht mehr, können Leidenschaften kaum noch entfesseln. Obwohl in den kommunistischen Systemen der einst revolutionäre Enthusiasmus einer mitunter zynisch-pragmatischen Herrschaftssicherung gewichen war, setzte lange kein grundlegender Wandel in der Einschätzung dieser Systeme bei manchen westlichen Intellektuellen ein. "Letzten Endes bedurfte es des Untergangs der Sowjetunion als Staat und als Regime, damit auch die Idee starb, die Prinzipien der Oktoberrevolution könnten eine bessere Gesellschaft bewirken als die unsere." 28 Die Epoche der beiden Großtotalitarismen ist wohl unabänderlich zu Ende gegangen, was nicht bedeutet, daß diktatorische Gefahren ein für allemal gebannt sind. Der Teufel kommt bekanntlich nicht immer durch dieselbe Tür. Was sich am Ende dieses Jahrhunderts auf dem Balkan abspielt(e) - Massenschlächtereien aufgrundvon Nationalismus-, erinnert in mancher Weise fatal an den Beginn des Jahrhunderts. "Sarajevo" redivivus! 29 Gerade in osteuropäischen Staaten könnten postfaschistische und postkommunistische Tendenzen, sich eigentümlich mischend, zumindest zeitweilig eine Renaissance erleben und damit den demokratischen Verfassungsstaat in den Hintergrund treten lassen. 30 Walter Laqueur sieht keinen zweiten Stalinismus und Hitlerismus ante portas, dafür aber einen Zusammenschluß unterschiedlichster extremistischer Strömungen: "Kommunisten und Faschisten wissen heute, daß sie einige ihrer liebsten Glaubenssätze über Bord werfen müssen, wenn sie noch irgendwo auf dieser Welt wiederkommen wollen. Es ist ihnen auch klar, daß sie sich zusammentun müssen."31 Sollte das wahr werden, bedeutete dies die Auslöschung der Erinnerung an den existentiellen Konflikt zwischen beiden totalitären Kräften auf der Rechten und der Linken. Angesichts mannigfacher Nachwirkungen dieser säkularen Auseinandersetzung fehlen jedenfalls in den westlichen Demokratien dafür die Voraussetzungen. Der Systemwechsel nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verläuft gerade in den osteuropäischen Staaten - die Bedingungen erscheinen hier weitaus günstiger als in den Staaten der fiilheren Sowjetunion - komplizierter als der nach 1945. Die einen wurden schnell kommunistische Diktaturen, die anderen 28

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Furet, Die Vergangenheit einer Illusion, in: Mittelweg 36 5 (1996), Heft 3, S. 89.

29

Vgl. beispielsweise Urs Altennatt, Das Fanal von Sarajevo. Ethnonationalismus in Europa, Paderbom u.a. 1996. 30 31

Vgl. beispielsweise Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt!M. 1994.

Walter Laqueur, Postfaschismus, Postkommunismus, in: Europäische Rundschau 23 (1995), S. 22. Siehe auch ders., Faschismus. Gestern, heute, morgen, Berlin 1997, insbes. S. 328355.

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freiheitliche Demokratien. "Die Paradoxie der heutigen Konstellation liegt darin, daß das Ende auch der zweiten geschichtsmächtigen totalitären Diktatur die transitorische Bedeutung des Jahres 1945 erwiesen hat, doch eine Lösung der Probleme dieses Jahrhunderts im Osten Europas noch immer aussteht, da weder die innere Demokratisierung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, noch die Konsolidierung eines neuen Staatensystems ans Ziel gelangt ist."32 Wird dem Jahr 1989 auch nur eine transitorische Bedeutung zufallen? Wer mit Kar) R. Popper historizistische Gedankengänge ablehne\ in der Geschichte also nicht das Walten von Gesetzmäßigkeiten ausmacht, kann nur zur banal anmutenden Existenz kommen: Die Geschichte ist offen! 3. Zäsuren im 20. Jahrhundert 3. 1 Schlüsseljahre

Angesichts des weitgehenden, wohl unumkehrbaren Zerfalls totalitärer Mächte am Ausgang des 20. Jahrhunderts mag es sinnvoll sein, Einschnitte aufzuspüren, die nicht nur fur diese von Bedeutung waren, sondern auch fur die übrige Welt. Die Jahre 1917, 1933, 1945 und 1989 sind ftir den Aufstieg und den Niedergang der beiden Großtotalitarismen historische Zäsuren. Der Einwand, der sich gegenüber einer solchen Deutung anbietet, liegt auf der Hand: Die Rolle der demokratischen Verfassungsstaaten wird massiv unterschätzt. Doch haben die beiden Großtotalitarismen auch die Demokratien vor existentielle Herausforderungen gestellt, so daß es gerechtfertigt sein mag, von diesen vier symbolkräftigen Epochenjahren auszugehen, zumal sie auch den maßgeblich durch die demokratischen Verfassungsstaaten herbeigefuhrten Untergang der Totalitarismen einschließen. Wer nach Einschnitten sucht, leugnet Kontinuitätslinien nicht notwendigerweise - in realistischer Einschätzung der Erkenntnis, daß eine "Stunde Null" eine Fiktion ist. Periodisierungen sind eigentlich erst dann sinnvoll, wenn ein Ende der Entwicklung erreicht ist. 34 Ein zukünftiges Ereignis kann die vergangene Epoche in einem anderen Licht erscheinen lassen und einmal getroffene Zäsuren verschieben.

32 Horst Möller, Die Relativität historischer Epochen: Das Jahr 1945 in der Perspektive des Jahres 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1819/95, S. 9. 33

34

Vgl. Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1971 1.

Vgl. beispielsweise Amold Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: Ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 9-38.

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3.2 1917 Im Oktober 1917 gelangte in Rußland durch einen Putsch eine Bewegung an die Macht, die jene von ihr verfochtene Idee des Kommunismus auf der gesamten Welt auszubreiten wünschte, auch mit Gewalt. 35 Die "Oktoberrevolution" brachte eine ungefestigte bürgerliche Demokratie zu Fall, die kurz zuvor - in der "Februarrevolution" desselben Jahres - den Zar zur Abdankung gezwungen hatte. Lenin war im April 1917 von der militärischen Führung des Deutschen Reiches nach Rußland gebracht worden, weil man von einem Sieg der mit Geld unterstützen Bolschewisten die Kapitulation Rußlands erhoffte. "Aufbauend auf das noch im Frühjahr beschlossene neue Sofortprogramm wurden die Bolschewiki immer mehr zur populistischen Sammlungsbewegung der Unzufriedenen und Zukurzgekommenen, zur Partei, die allen alles versprach: den Soldaten den Frieden, den Bauern das Land, den Arbeitern die Macht in den Fabriken, den Nationalitäten, wenn sie es denn wollten, die Unabhängigkeit und ein starkes, neues, modernes Rußland obendrein."36 Entgegen der marxistischen Geschichtstheorie war die "proletarische Revolution" in einem stark agrarischen Land zur Macht gekommen. "Möglicherweise hatte der Terror den Kommunismus gerettet, aber er zerfraß dessen ionerstes Mark."37 Die "Neue Ökonomische Politik" ersetzte 1921 den "Kriegskommunismus", der katastrophale Folgen gezeitigt hatte. Durch die Kommunisten wurde 1917 "ein welthistorisch völlig neuartiger Tatbestand geschaffen [...], weil erstmals in der modernen Geschichte eine ideologische Partei in einem Großstaat allein die Macht ergriff und auf glaubwürdige Weise ihre Absicht an den Tag legte, in der ganzen Welt durch die Entfesselung von Bürgerkriegen eine grundlegende Wandlung herbeizufiihren, welche die Erftillung der Hoffuungen der frühen Arbeiterbewegunr und die Verwirklichung der Vorhersagen des Marxismus bedeuten würde" 3 • In vielen Ländern der Welt begann der Kommunismus leidenschaftliche Anhänger zu sammeln, aber eine Machtübernahme anderswo blieb ihm zunächst versagt, abgesehen von der Mongolei (1922). Was Lenin begonnen hatte, setzte Stalin mit dem "Sozialismus in einem Land" fort - den Aufbau eines gigantischen Unterdrückungssystems, das gleichwohl dem Glaubensbedürfuis vieler Anhänger an eine "klassenlose Gesellschaft" nicht widerstreiten mußte. Ein "neuer Mensch" solle geschaffen, eine neue Idee im Namen der Menschheit ins 35

1992/93.

Vgl. das Standardwerk von Richard Pipes, Die Russische Revolution. 3 Bde., Berlin

36 Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderbom u.a. 1997, S. 10. 37 38

R. Pipes (Anm. 35), Bd. 2, 835 .

Ernst Nolte, Der europäische BUrgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987, S. 67.

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Leben gerufen werden. 39 Kommunistische Aufstandsversuche scheiterten, z.B. in Deutschland (1919/1923), auf das die kommunistische Führung in Rußland so große Hoffnungen gesetzt hatte, ebenso in Bulgarien (1923 ), lndonesien ( 1926) und China (1927). Wie immer man die russische Revolution bewertete, ein "welterschütterndes Ereignis"40 war sie allemal.

3.3 1933 Im Jahre 1933 setzte sich in Deutschland mit dem Nationalsozialismus eine Bewegung durch, die in mancher Hinsicht als das Gegenbild (und zugleich in vieler als das Ebenbild) des Kommunismus gelten kann. Die "Machtergreifung" dieser Bewegung wartrotz aller Strukturdefekte (z.B. "verspätete" Demokratisierung, Nationsbildung und Industrialisierung) keinesfalls zwangsläufig und von einer Reihe von Zufallen abhängig, personellen Faktoren etwa.41 Hitler kam zu einem Zeitpunkt an die Macht, als viele meinten, seine Bewegung habe den Höhepunkt überschritten. "Nur dreißig Tage vor seiner Vereidigung zum Reichskanzler schrieben erfahrene und gut informierte politische Beobachter schon an Nachrufen zum Ende seiner Karriere. Die NSDAP hatte nach einem kometenhaften Aufstieg an Dynamik verloren und schien am Rande des Zerfalls. Statt die Ereignisse, die zu seinem Erfolg filhrten, selbst zu gestalten, wurde der künftige Diktator nur durch eine Reihe unvorhersehbarer Entwicklungen, über die er keinerlei Kontrolle hatte, vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit gerettet."42 Intrigen und Tricks anderer, etwa Franz von Papens, ebneten Hitler den Weg zur Macht, der zugleich den Weg in den Krieg bedeutete. Die NS-Bewegung, gleichermaßen antikommunistisch und antisemitisch motiviert, verschrieb sich nach dem Scheitern ihres Putsches 1923 im Gegensatz zu den Bolschewisten einem langen Weg der gleichsam legalen Machterlangung.43 Begünstigt wurde sie durch gesellschaftliche Kräfte, die Hitlers totalitäre Dynamik verhängnisvoll unterschätzten.44 Gleichwohl haben auch Kommuni39 Vgl. Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln u.a. 1996. Für ein Beispiel siehe Benno Ennker, Die An Bilge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln u.a. 1997. 40 So Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München- Wien 1995, S. 91.

41

Vgl. zuletzt sehr detailliert Henry Ashby Turner jr., Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1997.

42 43

Ebd., S. 219.

Insofern ist der verbreitete Terminus "Machtergreifung" ebenso einseitig wie "Machtübertragung". Dieser Ausdruck spielt die Dynamik des Nationalsozialismus herunter, jener unterschlägt die Legalitätsstrategie. 44

Vgl. dazu noch immer erhellend das bereits 1955 erschienene Grundlagenwerk von Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, München 19786 . 3 Heydemann I Jesse

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sten durch ihre Militanz und ihre maßlose Propaganda einen Anteil an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie "als freiwillig-unfreiwillige Komplizen der antidemokratischen Revolution"45 Nach dem 30. Januar 1933 institutionalisierte sich der Einparteienstaat binnen Jahresfrist, und im Juni 1934 rechnete Hitler mit jenen Kräften aus den eigenen Reihen um Ernst Röhm ab, die eine "zweite Revolution" anstrebten. Was kaum jemand fiir möglich gehalten hatte - der Gleichschaltungsprozeß vollzog sich ohne große Widerstände seitens der Gegner des Nationalsozialismus, der es aufgrund von "Verführung und Gewalt" 46 verstand, nahezu jegliche Opposition auszuschalten bzw. an den Rand zu drängen. Ein großer Teil der Bevölkerung konnte Hitler dank seiner tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Erfolge sowie aufgrundseines Charismas nicht widerstehen. 47

3.4 1945 Zwölf Jahre später, 1945, wurde der Nationalsozialismus, nachdem er fast die gesamte Welt in einen verheerenden Krieg gezwungen hatte, blutig niedergerungen, nicht zuletzt dank der kommunistischen Sowjetunion, die auf diese Weise ihren Machtbereich beträchtlich ausdehnen, eine Reihe von Satellitenstaaten errichten und zunächst einen moralischen Bonus im Westen einheimsen konnte. In seiner Endphase nahm der Nationalsozialismus Elemente des Kommunismus an - seines schärfsten Gegners. Ernst Nolte prägte hierftlr den Begriff des "Bolscho-Nationalismus". 48 So machte sich sozialer Egalitarismus auf verschiedenen Feldern breit. Aber auch der Kommunismus stalinscher Prägung zeigte Züge des Nationalsozialismus: Das kommunistische System, das dem eigenen Volk nur instrumentelle Bedeutung bei der Weltbefreiung zumaß, sprach vom "Großen Vaterländischen Krieg", weil sich auf diese Weise die Kraftanstrengungen der darbenden Bevölkerung besser mobilisieren ließen.49 Nach 1945 setzten in vielen Staaten Europas "wilde Säuberungen" ein50, denen manchmal eine Art "Vernichtungsfuror"51 zugrunde lag. Das Abrechnungs45 46 47 48

So ders., Die Krise Europas. 1917-1945, Frankfurt!M. u.a. 1976, S. 39. So Hans-Uirich Thamer, Verfilhrung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986. Vgl. Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, MOnehen 1978. E. Nolte (Anm. 38), S. 525.

49 Die Charakterisierung der Politik Stalins als "Nationalbolschewismus" bei Fran~ois Furet ist insofern mißverständlich, als mit diesem Terminus eine deutsche Strömung um Ernst Niekisch bereits "belegt" ist. Vgl. ders. (Anm. 5), S. 197.

so

Vgl. u.a. Paul Serant, Die politischen Säuberungen in Westeuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Norwegen, den Niederlanden und der Schweiz, Oldenburg - Hannover o.J. (1966); Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zeiten Weltkrieg, MOnehen 1991.

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bedürfnis "bemaß sich nach der Schärfe der Konflikte bei der Durchsetzung und Machtbehauptung von Faschismus und Nationalsozialismus, nach der Dauer und dem totalitären Gleichschaltungsdruck ihrer Herrschaft, der kriminellen Energie, die in den einzelnen Bewegungen steckte, und nicht zuletzt auch danach, ob den faschistischen Systemen und Kollaborations-Regimen vornehmlich von außen, von den Armeen der Anti-Hitler-Koalition, ein Ende bereitet wurde oder ob sie auch von innen, von nationalen Befreiungsbewegungen in blutigem Partisanenkrieg unterhöhlt worden waren."52 • Wo die Kommunisten besonders stark waren, nahmen auch die "Säuberungen" ein hohes Ausmaß an. Führende Repräsentanten des NS-Systems entzogen sich entweder durch Selbstmord der Verantwortung oder erhielten nach 1945 die Todesstrafe. Die Anhänger des Nationalsozialismus sind bis auf den heutigen Tag, wenn sie sich denn überhaupt zu Wort melden, gesellschaftlich gänzlich isoliert und diskreditiert wie die keiner anderen politischen Richtung.

3.5 1989 Das gespaltene Deutschland, in dessen einem Teil die Besetzung in eine (andere) Diktatur mündete und in dessen anderem sie aufgrund des "freundlichen Feindes"53 zumal der USA den Weg fiir den demokratischen Verfassungsstaat ebnete, zeigte anschaulich die unterschiedliche Entwicklung.54 Deutschland wurde als Folge des Kalten Krieges geteilt, nicht als unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges. Die Maueröffnung am 9. November 1989 symbolisierte das Ende des vielbeschworenen "eisernen Vorhangs". Sie wurde durch die faktische Aufgabe der "Breschnew-Doktrin" seitens der Sowjetunion möglich. Der Fall der Mauer wiederum hat diese durch den Verlust ihres wohl wichtigsten Verbündeten derart geschwächt, daß sich die Krise des Kommunismus in der Sowjetunion beschleunigte. Der dilettantische Putsch im August 1991 gegen Gorbatschow von Repräsentanten aus dem Militär, dem Geheimdienst und der Partei führte zum Ende der Herrschaft des Generalsekretärs der KPdSU - aber in einem anderen Sinne als von den Putschisten erhofft. Unter Leonid Breschnew (1964-1982) und unter seinen Nachfolgern Jurij Andropow (1982-1984) sowie 51 So Ekkehard Völkl, Abrechnungsfuror in Kroatien, in: K.-D. Henke/H. Woller (Anm. 50), S. 358-394.

52

Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller, Einleitung, in: Ebd., S. 9.

53

Klaus-Dietmar Henke, Der freundliche Feind: Amerikaner und Deutsche 1944/45, in: Heinrich Oberreuter/Jürgen Weber (Hrsg.), Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, MOnehen-Landsberg am Lech 19%, S. 41-50. 54

Vgl. einerseits: Norrnan M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin - Frankfurt!M. 1997; andererseits: Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995; vergleichend: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt!M. New York 1997. 3*

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Konstantin Tschernenko ( 1984-1985) war es zu einer Periode der "Stagnation" gekommen, unter Michail Gorbatschow nicht zu einer Umkehr. Im Gegenteil: Durch seine Refonnpolitik wurde dem Kommunismus wider Willen die Legitimationsbasis beraubt, statt ihm, wie beabsichtigt, neue Lebenskraft zuzufilhren. Nach Timothy Garton Ash hat der Westen das Ziel einer "Liberalisierung durch Stabilisierung" nicht erreicht, wohl aber eine "Stabilisierung ohne Liberalisierung"55 bewirkt. War es aber nicht umgekehrt? Muß man nicht eher von einer "Liberalisierung ohne Stabilisierung" reden, denn der kommunistische Ostblock hatte sich in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren gewandelt weg vom Großtotalitarismus der Stalin-Zeit, auch durch die Einflußnahme des Westens. Insofern ließe sich das Argument umkehren und von einer "Liberalisierung ohne Stabilisierung" reden. In diese Richtung ging nämlich im wesentlichen die Entwicklung. Intentionen und Auswirkungen drifteten zum Teil auseinander. Was gewollt wurde, trat nicht ein. Was eintrat, war so nicht gewollt. Eine Gemengelage von Gründen - die Unnachgiebigkeit des Westens ebenso wie seine Entspannungspolitik; die wirtschaftliche Schwäche der Sowjetunion wie ihre mit Glasnost und Perestroika gezeigte Refonnbereitschaft - trug zum Niedergang jenes Herrschaftssystems bei, das lange als "uneinnehmbar" galt. Im Gegensatz zum Nationalsozialismus implodierte der Kommunismus. Hinfiillig und entkräftet wie er war, zerbrach er mehr an eigenen Schwächen als an den Angriffen seiner Gegner. Der Versuch, das System von innen heraus zu refonnieren, beschleunigte den Untergang des "Vaterlandes aller Werktätigen". Einerseits machten Verselbständigungstendenzen einstiger Satellitenstaaten dem sowjetischen Kommunismus zu schaffen, andererseits leistete dieser durch Liberalisierung ihnen indirekt Vorschub. Der Domino-Effekt war unübersehbar. Mit den Worten von Timothy Garton Ash, eines maßgeblichen Chronisten der "Refolution": "In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen; vielleicht wird es in der Tschechoslowakei nur zehn Tage dauern.56 Hinzuzufügen bleibt, daß "es" in Rumänien nur - allerdings blutige "zehn Stunden" dauerte. Als Ende Dezember 1991 von den Zinnen des Kreml die rote Fahne eingeholt und die russische Trikolore gehißt wurde, ging eine Epoche zu Ende, die sechsmal so lange gewährt hatte wie das "Tausendjährige Reich". Das Gorbatschow zugeschriebene, allerdings nicht auf Honecker gemünzte Wort "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"57, traf auf ihn zu. 55 Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. xxx. Der Autor bezieht sich nur auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Doch laßt sich die Interpretation auf den Westen und die Sowjetunion insgesamt übertragen. 56 Ders., Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München 1990, S. 401. Mit dem Kunstwort "Refolution" will Garton Ash zeigen, daß die Implosion des Kommunismus eine Mischung aus Revolution und Reform gewesen ist. 57

Gorbatschow soll Egon Krenz am I. November 1989 gestanden haben, der seither vielzitierte Spruch sei auf ihn selber gemünzt gewesen. Vgl. Siegfried Kogelfranz, Diktatoren im Ruhestand. Die einstigen Ostblockchefs im Gespräch, Berlin 1997, S. 30.

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Mehr noch: Seine Politik hat den Untergang des Kommunismus beschleunigt.58 Bezeichnender- und paradoxerweise waren es Intellektuelle aus dem Ostblock, die in den achtziger Jahren fiir eine Revitalisierung des Totalitarismuskonzepts gesorgt haben.59 Die Bilanz des Sowjetkommunismus ist deprimierend, wie nicht nur das jüngst veröffentlichte französische "Schwarzbuch des Kommunismus" verdeutlicht hat. 60 Zbigniew Brzezinski kommt zu folgendem Urteil: "Der Kommunismus hat [... ] insofern versagt, als er sinnlos das kreative Potential der Gesellschaft zerschlagen und das politische Leben erstickt hat, als er flir seine wirtschaftliche Erfolge einen extrem hohen menschlichen Blutzoll verlangt hat, als die wirtschaftliche Produktivität aufgrund der übertriebenen staatlichen Zentralisierung zurückgegangen ist, als das Sozialwesen, das ursprünglich der größte Pluspunkt des kommunistischen Systems gewesen war, durch seine Überbürokratisierung mehr und mehr erlahmt ist und als das wissenschaftliche und künstlerische Leben der Gesellschaft im Würgegriff des Dogmas verkümmert ist." 61 Weil der Befund so desaströs ist, kann nicht damit gerechnet werden, daß innerhalb absehbarer Zeit der Anschluß an den Westen gelingt. Um so wichtiger ist es, daß dieser vielfältige Hilfe leistet, damit es zu keinem Rückschlag in eine Diktatur alter oder neuer Färbung kommt. 3.6 Fazit Der Kommunismus kam eher zur Macht, und seine gleichsam universelle Ausstrahlungskraft endete62 viel später als die des Nationalsozialismus. Seine größere Geschichtsmächtigkeit liegt wesentlich wohl darin begründet, daß sich der Kommunismus wie der demokratische Verfassungsstaat- jedenfalls theoretisch - zu Universalistischen Prinzipien bekennt, im Gegensatz zum Faschismus und Nationalsozialismus. Beim Kommunismus konnte man von "Deformationen" in der Praxis reden, während beim Nationalsozialismus schon die Idee als 58 Insofern haben jene "Dogmatiker" wie Sahra Wagenknecht, Repräsentantin der "Kommunistischen Plattform" bei der PDS, durchaus Recht. Vgl. beispielsweise diesJJOrgen Elsässer, Vorwärts und vergessen? Ein Streit um Marx, Lenin, Ulbricht und die verzweifelte Aktualität des Kommunismus, Harnburg 1996.

59

Gleiches gilt fllr die "Renegaten" des Kommunismus außerhalb dessen Machtbereichs. Vgl. Michael Rohrwasser, Totalitarismustheorie und Renegatenliteratur, in: Alfons Söllner!Ralf Walkenhaus!Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 105-116; ders., Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991. 60

Vgl. Stephane Courtois u.a. (Hrsg.), Le Livre noir du communisme. Crimes, terreur, repression, Paris 1997. 61 62

z. Brzezinski (Anm. 27), S. 273 f.

Davon kann getrost gesprochen werden, ungeachtet der Tatsache, daß nach wie vor vereinzelt kommunistische Staaten bestehen (vor allem die Volksrepublik China, Kuba, Nordkorea).

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"Deformation" galt. Der Zusammenbruch des Kommunismus vollzog sich paradoxerweise einerseits urplötzlich und verlief andererseits friedlich. Hingegen blieben beim Nationalsozialismus nach jahrelangem Kampf gegen äußere Feinde Millionen von Toten auf der Strecke. Ist nach der geschilderten Entwicklung die Auffassung von Klaus Tenfelde, der von einer "Einheit der Epoche" fiir die Zeit "1914 bis 1990" spricht, wirklich stimmig? "[D]ie weltpolitische Konfliktlage um grundverschiedene Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsvorstellungen, die unser Jahrhundert seit 1917 geprägt hat, wird in einer vorstellbaren Zukunft als Episode gedeutet werden. [... ]Gegenüber der Zäsur von 1914 als dem Beginn eines 'Dreißigjährigen Krieges', einer umfassenden 'Modernitätskrise' in Deutschland, verblaßt nunmehr 1917, auch wenn an der These vom Beginn einer Phase des 'Weltbürgerkrieges' manches überzeugend klingt."63 Wer den Kommunismus als "Episode" abzutun gedenkt, vernachlässigt die tiefgreifenden, fern in die Zukunft reichenden Folgen. Im Gegenteil dürfte er weitaus geschichtsmächtiger gewesen sein als der Nationalsozialismus, was sich auch in dem zählebigen Mythos vom Antifaschismus zeigt. Einen solchen Mythos konnte der faschistisch motivierte Antikommunismus niemals hervorbringen.

4. Schluß Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Totalitarismus, das einerseits Massen in seinen Bann zog, andererseits Furcht und Schrecken verbreitete paradoxerweise zum Teil zur seihen Zeit und paradoxerweise auch unter denselben Menschen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die Konstellationen im 20. Jahrhundert waren weitaus komplexer, als es der Rekurs auf die vier ausgewählten Schlüsseljahre 1917, 1933, 1945 und 1989 nahezulegen scheint. Damit fängt man lediglich eine, wenngleich wesentliche historische Linie dieses Jahrhunderts ein. Auch die demokratischen Verfassungsstaaten waren aktiv Handelnde, nicht bloß Reagierende. Dabei wechselten die Interaktionen vielfältig. Mit Blick auf Demokratie und Diktatur ergab sich ein kompliziertes Dreiecksverhältnis. Zeitweilig, etwa Mitte der 30er Jahre, konnte der Eindruck entstehen, als gäbe es Interessenanalogien zwischen der demokratischen Welt und dem Nationalsozialismus. Zwischen 1939 und 1941 waren die beiden Todfeinde einen "Teufelspakt" (Sebastian Haffner) gegen die als "plutokratisch" diffamierten Staaten eingegangen. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion standen die demokratischen Systeme an der Seite der kommmunistischen Sowjetunion, um den Nationalsozialismus zu besiegen. Abermals wechselte die Konstellation, als 63

So Klaus Tenfelde, 1914 bis 1990- Einheit der Epoche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 40/91, S. ll. Das Zitat im Zitat stammt von Amold J. Mayer.

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das Zweckbündnis infolge des Sieges über das NS-System schnell zerbrach. In der Zeit des Kalten Krieges befehdeten sich die demokratischen Systeme und die Sowjetunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa eine Reihe von Satrapenregime errichtet hatte, in einer unerbittlichen Weise. Das Schwinden des Kalten Krieges ging wohl mit der Reduzierung der Konflikte einher, nicht aber mit der Auflösung der Gegensätze, ob man nun von "Entspannung" oder von "ideologischer Koexistenz" sprach. Das "neue politische Denken", wie es etwa zunächst unter Andropow, später in der Gorbatschow-Ära propagiert wurde - im atomaren Zeitalter trete der Systemkonflikt in den Hintergrund64 - war kein Zeichen der Stärke, sondern eines der Schwäche, nämlich ein Vorbote des Niedergangs. Weder die Verschärfung der Konflikte durch den Krieg, wie der Nationalsozialismus praktiziert hatte, noch ihre Milderung - wie beim Kommunismus - konnte das Überleben der totalitären Herrschaft retten. Gewaltherrschaft war im zwanzigsten Jahrhundert auch deshalb totalitär, weil sich Bolschewismus und Nationalsozialismus jedenfalls teilweise aufeinander bezogen. So kam es zu einer Zuspitzung, zu einer Steigerung der totalitären Dynamik. Totalitäre Systeme und Bewegungen ließen viele Menschen schuldig werden. Es ist die Perfidie jener Herrschaftsordnungen, daß aus Opfern auch Täter werden konnten, aus Tätern Opfer und die klare Unterscheidung zwischen Täter und Opferaufgrund der Verfllhrungskraft totalitärer Ideologien bisweilen schwerfällt Das ist eine von vielen Paradoxien, durch die sich das Zeitalter des Totalitarismus auszeichnet - übrigens eine Bezeichnung, die sich, paradox genug, erst durchzusetzen begann, als der Spättotalitarismus, längst kein "Großtotalitarismus" mehr, entkräftet verschied.

64 Vgl. etwa die beiden folgenden Publikationen von einem der engsten Berater Gorbatschows: Georgi Ch. Schachnasarow, Die politische Logik des Nukleaneitalters, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 37 (1984), S. 451-462; ders., Der "Gegensatz der Systeme" als fixe Idee, in: Blätter fUr deutsche und internationale Politik 34 (1989), S. 495-506. Siehe auch ders., Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, hrsg. von Frank Brandenburg, Bann 1996.

Markus Huttner TOTALITARISMUS UND SÄKULARE RELIGIONENDIE ANFÄNGE DER TOTALITARISMUSDISKUSSION IN ENGLAND 1. Schwerpunkte und Desiderate der ideengeschichtlichen Totalitarismusforschung

Als letztes Amtsgeschäft einer langen und überaus ehrenvollen Karriere im britischen Foreign Service verfaßte der englische Berlin-Botschafter Horace Rumhold am 30. Juni 1933 einen ausfUhrliehen Abschlußbericht an das ihm vorgesetzte Londoner Ministerium 1• Wenige Tage vor seinem Abschied aus der Reichshauptstadt war es dem altgedienten Diplomaten sichtlich ein Anliegen, den Entscheidungsträgem in Whitehall noch einmal ein richtungweisendes Grundsatzpapier über den Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft an die Hand zu geben. Der Tenor seiner diesbezüglichen Einschätzungen war eindeutig und ließ filr die Zukunft wenig Gutes erwarten. Wie die allen rechtsstaatliehen Prinzipien hohnsprechenden Verhaftungen prominenter Politiker und die umfassenden Beschlagnahmen nichtnationalsozialistischen Parteivermögens zeigten, bediene sich das neue Regime zunehmend "sowjetischer Methoden" zur Befestigung der eigenen Mache. Den Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs der neuen Machthaber hielt der allen Spekulationen abgeneigte Diplomat filr kaum vorhersagbar. Was jedoch die weitere innenpolitische Ent1 Bericht Sir Horace Rumbolds an Außenminister Sir John Sirnon vom 30. Juni 1933 (Druck: Documents on British Foreign Policy. Second Series, Bd.5, London 1956. S.384-390). Zur Person Rumbolds vgl. James Marshaii-Comwall, Art. "Rumbold, Sir Horace George Montagu", in: Dictionary of National Biography 1941-1950, Oxford 1959, S. 744 f., sowie ausfilhrlicher Martin Gilbert, Sir Horace Rumbold. Portrait ofa Diplomat 1869-1941. London 1973.

2 Documents on British Foreign Policy II/5 (Anm.l), S.385: .,Soviet methods are being used. as exemplified by the arrest of prominent personalities ( ... ) and (...) the continued execution of measures which are in direct conflict with the existence ofwhat may be termed a 'Rechtsstaat'." In fast gleichlautenden Worten hatte wenige Tage vor Abfassung dieses Diplomatenberichts ein Kommentator der Londoner Times das sich etablierende Regime in Deutschland mit dem sowjetkommunistischen Herrschaftssystem verglichen. Vgl. Times vom 21. Juni 1933, S. 15 (Leitartikel "Whither Germany?"): "These methods savour of Bolshevism. So far as the technique of govemment is concemed Germany is indeed in the grip of a Bolshevism that differs from that of Russia chiefly by being national instead of international - as the Soviet variety at least professes to be" (Hervorhebung im Original).

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wiekJung Deutschlands anlangte, könne man - so die Schlußbemerkung des Memorandums - davon ausgehen, daß die Nationalsozialisten auf jene triste Unifonnität zusteuerten, wie man sie bisher nur aus Sowjetrußland kenne 3 • Derartige Parallelisierungen nationalsozialistischer Gleichschaltungspraktiken mit entsprechenden sowjetischen Vorgängen waren durchaus kein Einzelfall in den Deutschlandanalysen britischer Diplomaten. Im Gegenteil: Insbesondere im Zeitraum von März bis Juli 1933 griffen die professionellen Beobachter des Foreign Office immer wieder auf den Vergleich mit dem Sowjetkommunismus zurück, um den in diesem Ausmaß völlig unerwarteten Wandel des politischen Systems in Deutschland zu beschreiben4 • Der Privatsekretär des britischen Königs George V., Clive Wigram, hatte schon Mitte März 1933 gemutmaßt, die Nationalsozialisten fiihrten in Deutschland "eine gefahrliehe Art von Bolschewismus" ein 5 • Zwei Monate später stellte der ftir Wirtschaftsfragen zuständige Attache der Berliner Botschaft, Gerald Pinsent, in einer Lagebeurteilung fest: "The Nazi tyranny is already first cousin to bolshevism."6 Die bei weitem ausführlichste Analyse dieser Art stammt von Rumbold selbst, der sich dabei interessanterweise auf die Auffassungen eines wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Auswärtigen Dienst entlassenen deutschen Rußlandexperten namens Moritz Schlesinger stützte. Die entsprechende Depesche vom 27. April 1933 liest sich wie eine thesenfonnige Zusammenfassung des Totalitarismusansatzes7. Hitlers Herrschaftsmethoden - so heißt es da - seien praktisch identisch mit denen Lenins. Mehr noch, die gesamte politische Philosophie des Hitlerismus - etwa die Idee des alleinigen Existenzrechts und exklusiven Machtanspruchs einer Monopolpartei - sei dem Bolschewismus frappierend ähnlich. In beiden Diktaturregimen hätten die der Herrschaft unterworfenen Massen keine eigene Stimme mehr. Das Leben der Menschen sei von Geburt an fremdbestimmt und ganz auf den von oben eingeforderten blinden Gehorsam abgestellt. In der Londoner Zentrale fanden solche Einschätzungen durchaus Beachtung. So kommentierte ein hoher Beamter des Foreign Office den zitierten Bericht Rumbolds mit der aufschlußreichen Bemerkung, das gängige Gegensatzpaar "Faschismus versus Bolschewismus" gehe an der Realität der damit erfaßten Phänomene vorbei und müsse daher durch das angemessenere Gegensatzpaar "Individualismus versus Kollektivismus" ersetzt werden. Natürlich 3 Documents on British Foreign Policy 1115 (Anm. 1), S.390: "Politically, the National Socialists can reduce this country to the drab uniformity which characterises Soviet Russia." 4 Für das Folgende vgl. Detlev Clemens, Herr Hitler in Germany. Wahrnehmung und Deutungen des Nationalsozialismus in Großbritannien 1920 bis 1939, Göttingen-Zürich 1996, S. 344 f.

D. Clemens (Anm. 4), S. 344. 6

Ebd.

7 Bericht Rumbolds vom 27. April 1933 (Public Record Office, FO 371/16723, C 3991/319/18). Hier zitiert nach der ausfUhrliehen Wiedergabe bei D. Clemens (Anm. 4), S. 344 f.

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wurden solche auf den Vergleich mit dem Sowjetkommunismus abhebenden Deutungen in den 30er Jahren nie zu einer dominanten oder gar politikbestimmenden Komponente des britischen Nationalsozialismusbildes8 . Auch in den deutschlandpolitischen Analysen britischer Diplomaten traten derartige Einschätzungen nach der vermeintlichen Konsolidierung des NS-Regimes relativ rasch wieder in den Hintergrund. Als Ende Oktober 1933 Rumbolds Nachfolger auf dem Berliner Botschafterposten, Eric Phipps, seinen ersten umfassenderen Bericht vorlegte, charakterisierte er den Nationalsozialismus als eine schwer durchschaubare Mixtur unterschiedlichster Ideologeme, die neben faschistischen auch kommunistische Spurenelemente enthalte9 . Bemerkenswert erscheinen diese diplomatischen Quellen vor allem deshalb, weil sie gewissermaßen im Schnittpunktzweier unterschiedlicher Desiderate der Entwicklungsgeschichte des Diktaturvergleichs liegen. Zum einen konzentrierte sich die seit nunmehr etwa drei Jahrzehnten betriebene einschlägige Forschung weitgehend auf die Entfaltung der wissenschaftlich-akademischen Theoriebildung zu dieser Thematik 10 • Infolge dieser aus forschungspraktischen Gründen durchaus vertretbaren Blickverengung ist die naturgemäß sehr viel schwieriger zu erfassende publizistisch-politische Dimension des Diktaturvergleichs nach wie vor nur unzulänglich erhellt 11 • Ungeachtet der en gros zutreffenden These von der "außenpolitischen Konstellationsgebundenheit" 12 des Totalitarismusansatzes sind wir über die Umstände des öffentlichen und damit breitenwirksamen Hervortretens diktaturvergleichender Perspektiven durchaus nicht mit wünschenswerter Klarheit unterrichtet. Welchen Stellenwert etwa hatten solche Betrachtungsweisen in der publizistischen Auseinandersetzung mit Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus? Wann und inwieweit beein8 D. Clemens (Anm. 4), S. 442-447, betont die Vielfalt konkurrierender und widersprilchlicher Erklärungsmuster in der britischen Wahrnehmung Hitlers und seiner Herrschaft. 9 Bericht Phipps' an Maurice Hankey vom 25. Oktober 1933. Hier zitiert nach D. Clemens (Anm. 4), S. 346 f. 10 Die ersten umfassenderen Publikationen zu dieser Thematik stammen nicht von ungeflthr vom Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre, als sich die vergleichend-identifizierend ausgerichtete Totalitarismuskonzeption zunehmender Kritik ausgesetzt sah. Vgl. vor allem Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968; Martin Jänikke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffes, Berlin I 971 ; Walter Schlangen, Die Totalitarismus-Theorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart u.a. 1976. Filr eine den seitherigen Gang der Forschung widerspiegelnde Bestandsaufnahme vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996. 11 Wichtige Ansätze filr eine Ausweitung der erkenntnisleitenden Frageperspektive entwickelt der aus einem gleichnamigen Forschungsprojekt hervorgegangene Beitrag von Hans Maier, "Totalitarismus" und "politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs. in: Vierteljahrshefte filr Zeitgeschichte 43 (1995), S. 387-405.

12 M. Jänicke (Anm. 10), S. 78, der seine weithin akzeptierte These auf eine Auswertung des politikwissenschaftlichen Schrifttums stützt.

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flußte der diktaturvergleichende Ansatz die Meinungsbildung politisch tonangebender Schichten in den mit Diktaturphänomenen konfrontierten Demokratien? Inwieweit ließen sich politische Entscheidungsträger - diese Frage wird durch die eingangs zitierten Diplomatenberichte aufgeworfen - bei der Festlegung einer außenpolitischen Strategie gegenüber neu entstandenen Diktaturregimen von Erfahrungen leiten, die sie im Umgang mit bereits bekannten Herrschaftsformen gemacht hatten? Und wann und inwieweit fanden diktaturvergleichend angelegte Begrifflichkeiten, vor allem natürlich der Totalitarismusbegriff, Eingang in die Sprache der Politik, der Diplomatie und der Medien 13 ? Die Relevanz der hier angerissenen Fragen läßt sich unter anderem an der TrumanDoktrinvom 12. März 1947 aufzeigen, in der die vom OS-Präsidenten perzipierte Bedrohung der individuellen und politischen Freiheit terminologisch mit dem diktaturvergleichenden Allgemeinbegriff "totalitäre Regime" gekennzeichnet wird 14. Das zweite hier anzuzeigende Forschungsdesiderat betrifft - dies fuhrt direkt auf das Thema des vorliegenden Beitrags hin - die Entfaltung und Ausbreitung des diktaturvergleichend angelegten Totalitarismuskonzepts in den unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen. Eine Sichtung des einschlägigen Schrifttums zur Ideen- und Theoriegeschichte des Diktaturvergleichs 15 läßt bestimmte Schwerpunkte der Forschungsbemühungen erkennen. Sehr gut informiert sind wir mittlerweile über die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in der gegen Mussolinis Diktaturbestrebungen gerichteten Publizistik antifaschistischer Oppositionsgruppen16 sowie über die Umprägung dieser ursprünglich antifaschisti-

13 Aufschlußreiche Ergebnisse zum Eindringen des Totalitarismusbegriffs in die politische Terminologie bringt Jens Petersen, Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Hans Maier (Hrsg.), 'Totalitarismus' und 'Politische Religionen'. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn u.a. 1996, S. 15-35, hier S. 22 f. , 31 f.

14 Europa-Archiv 2 (1947), S. 819 f. Wichtige Hinweise zur Bedeutung dieser Proklamation fiir den öffentlichen Diskurs über den Totalitarismus jetzt bei Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History ofthe Cold War, New York-Oxford 1995, S. 73-77.

15 Vgl. zur Orientierung die Forschungsberichte von Uwe Backes/Eckhard Jesse, Totalitarismus - Extremismus - Terrorismus. Ein Literaturftlhrer und Wegweiser zur Extremismusforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1985 2, S. 47-102, 307-315; dies., Totalitarismus und Totalitarismusforschung - Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption, in: Dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 4, Bonn 1992, S. 7-27; Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen, in: Ders. (Anm. 10), S. 9-39.

16 Die grundlegende Studie zur Begriffsgenese ist Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, DUsseldorf 1978, S. 105-128; erneut abgedruckt in: E. Jesse (Anm. 10), S. 95-117. Inzwischen hat Petersen seine Befunde durch weitere begriffsgeschichtliche Belege ergänzt und untermauert. Vgl. ders. (Anm. 13). Vgl. zur Begriffsentstehung ferner Helmut Goetz, Totalitarismus. Ein historischer Begriff, in: Schweizerische Zeitschrift filr Geschichte 32 (1982), S. 163-174, hier S. 163 f. ; Meir Michaelis, Anmerkungen zum italienischen Totalitaris-

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sehen Begriffsbildung in eine positiv belegte Kategorie faschistischen Selbstverständnisses17. Relativ detailliert belegt ist auch das wechselvolle Schicksal der 1930/31 von Carl Schmitt entwickelten Formel vom "totalen Staat" im Dritten Reich 18 • Was die ftlr die Entwicklung des Diktaturvergleichs entscheidende diktaturkritische Version des Totalitarismusbegriffs anbelangt, so haben hier vor allem die Beiträge italienischer und deutscher Emigranten Beachtung gefunden, denen ja in der Tat eine Schlüsselrolle bei der internationalen Verbreitung und Systematisierung der Totalitarismuskonzeption zukommt 19• Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildet die personell wie intellektuell unmittelbar von der europäischen Emigration beeinflußte Totalitarismusdiskussion in den OS-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaften, die etwa 1934/35 einsetzte20 und dann in den 50er Jahren in den zu Jahrhundert-Klassikern avancierten Werken von Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich gipfelte21 • Wie bruchstückhaft die damit erarbeiteten Kenntnisse immer noch waren, zeigte musbegriff. Zur Kritik der Thesen Hannah Arendts und Renzo de Felices, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 62 (1982), S. 270-302, hier S. 292-302. 17 Hierzu M. Jänicke (Anm. 10), S. 20-36; W. Schlangen (Anm. 10), S. 11-15; J. Petersen (Anm. 16), S. 122 f.; H. Goetz (Anm. 16), S. 164-167, sowie zuletzt J. Petersen (Anm. 13), S. 22, 29-32. Ein Beispiel fur die Zählebigkeit der von der Forschung mittlerweile korrigierten Auffassung vom faschistischen Ursprung des Totalitarismusbegriffs lieferte unlängst Horst Möller, der in einer Anhörung vor der zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte eingesetzten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestagsam 3. Mai 1994 erklarte, der fragliche Terminus habe "sich im italienischen Faschismus in der Mitte der zwanziger Jahre" entwickelt, sei "zunächst einmal, auch vom Anspruch her, eine Selbstbezeichnung" gewesen, "bevor er als kritisches Wort fllr faschistische Bewegungen( ... ) verwandt worden" sei. Vgl. Materialien der Enquete-Kommission ,.Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd.IX: Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland, Baden-Baden-Frankfurt/M. 1995, S. 577. 18 Wichtige neue Befunde hierzu bringt jetzt die Arbeit von Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum "Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995, S. 120 f., 198206,401 f. , 412-419,435 f., 458-461, 517-529. Vgl. aus der älteren Literatur M. Jänicke (Anm. 10), S. 36-48; H. Goetz (Anm. 16), S. 167-171. 19 Vgl. M. Jänicke (Anm. 10), S. 61-77; W. Schlangen (Anm. 10), S. 24-45. Zur weitreichenden wissenschaftsgeschichtlichen Wirkung der aus Deutschland emigrierten Politik- und Sozialwissenschaftler vgl. jetzt Alfons Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996. 20 Den Beginn der amerikanischen Diskussion markiert der aus einer Konferenz der American Historical Association hervorgegangene komparatistisch angelegte Sammelband von Guy Stanton Ford (Hrsg.), Dictatorship in the Modem World, Minneapolis!Minnesota 1935, in dem Begriffund Konzeption des Totalitären allerdings nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ein frtlher Beleg filr die Aufnahme des Totalitarismusbegriffs durch die Politische Wissenschaft ist der Eintrag von George H. Sabine, Art. "State", in: Encyclopaedia ofthe Social Sciences, Bd.l4, New York 1934, S. 328-332, hier S. 330.

21 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955; Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957.

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beispielhaft eine 1992 vorgelegte Übersichtsdarstellung von David Bosshart über "Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik'm. Das Frappierende dieser Studie ist, daß sie eine Vielzahl von Texten und Ansätzen in den Kontext der Totalitarismusproblematik rückt, die man außerhalb Frankreichs bis dato kaum zur Kenntnis genommen hatte. Offenbar war die Auseinandersetzung mit der Idee und dem Phänomen des Totalitären in den westlichen Demokratien erheblich vielschichtiger und verzweigter, als es die stark auf bestimmte Traditionen diktaturvergleichender Theoriebildung fixierte Forschung bislang erkennen ließ. Für Großbritannien, ein weiteres Kernland der westlichen Demokratien, liegt eine vergleichbare Überblicksdarstellung zur Entfaltung der Totalitarismusdiskussion bislang nicht vor. Überhaupt sind Beiträge britischer Autoren - damit sind nicht die in Großbritannien lebenden und wirkenden europäischen Emigranten gemeint - in den einschlägigen Bibliographien auffällig unterrepräsentiert; zumindest gilt dies fur die Frühphase totalitarismuskritischen Denkens. Fast mag es scheinen, als habe es im "Mutterland des Parlamentarismus", von dessen politischer Kultur wichtige Impulse fur die Begründung des modernen Demokratiegedankens ausgingen, eine erwähnenswerte Totalitarismuskritik nicht gegeben, sieht man einmal von George Orwell ab, dem insgesamt wohl populärsten Vertreter totalitarismuskritischen Denkens23 • Geradezu plakativ bestätigt wird diese Einschätzung jetzt durch einen aktuellen Sammelband zur Ideengeschichte des Totalitarismuskonzepts, dessen Inhaltsverzeichnis zwar Kapitel über die Theorieentwicklung in den USA, in Frankreich und in Deutschland, jedoch keinen entsprechenden Abschnitt über Großbritannien

22 David Bosshart, Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik, Berlin 1992. Vgl. zu dieser Thematik auch ders., Die französische Totalitarismusdiskussion, in: Mittelweg 36 2 (1993) 5, S. 72-80; erneut abgedruckt in: E. Jesse (Anm. 10), S. 252-260, sowie Pierre Hassner, Le Totalitarisme vu de I'Ouest, in: Guy Hermet/Pierre Hassner/Jacques Rupnik (Hrsg.), Totalitarismes, Paris 1984, S. 15-39.

23 Der Beitrag von Thomas Noetzel, Die angelsächsische Totalitarismusdiskussion, in: Mittelweg 36 3 (1994) 3, S. 66-71, hält in keiner Weise, was der Titel verspricht. Statt eines Überblicks Uber die Entwicklungslinien der "angelsächsischen Totalitarismusdiskussion" werden lediglich einige offenbar willkUrlieh herausgegriffene Beiträge: vorgestellt, die die Totalitarismusproblematik in einen Zusammenhang mit ganz anders gelagerten sozialwissenschaftliehen Modellbildungen zu bringen suchen. Die FrOhgeschichte der angelsächsischen Totalitarismuskritik ist - abgesehen von dem obligatorischen Hinweis auf Arendt und Friedrich - nur durch den etwas ausftlhrlicher behandelten Orwell präsent. Vgl. ebd., S. 66, 69-71. Der einzige wirklich· weiterfllhrende Beitrag zur britischen Totalitarismuskritik stammt von Peter Lassrnan, Responses to Fascisrn in Britain, 1930- 1945, in: Stephen P. Turner/Dirk Käsler (Hrsg.), Sociology Responds to Fascism, LondonNew York 1992, S. 214-240, der sich allerdings auf den Stellenwert des Ansatzes in der in den frUhen 30er Jahren beginnenden wissenschaftlich-akademischen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Faschismus konzentriert.

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ausweist24 . Sollte Orwell recht gehabt haben mit seiner pessimistischen Einschätzung, die in einem liberalen Klima aufgewachsenen britischen lntellektue11en seien geistig unflihig gewesen, totalitäre Phänomene adäquat zu begreifen, weswegen a11e bedeutsamen Analysen auf diesem Feld von kontinentaleuropäischen Autoren stammten, vor allem von "Renegaten" mit lnsiderKenntnissen25? Im Gegensatz dazu hat der Münchener Politikwissenschaftler Hans Maier in jüngster Zeit mehrfach davon gesprochen, gerade angelsächsische Autoren - und damit meinte er amerikanische und eben englische Autoren hätten die Fähigkeit gehabt, das Präzedenzlos-Neuartige totalitärer Systeme besonders hellsichtig und treffend zu beschreiben26 . Diese Unklarheiten in bezug auf den britischen Beitrag zur Totalitarismusdebatte wiegen um so schwerer, als das Totalitarismuskonzept nach dem Zweiten Weltkrieg weithin als ein Geistesprodukt amerikanischerund englischer Autoren galt - eine Einschätzung, die paradoxerweise die neuerliche Rezeption dieses mittlerweile weiterentwikkelten Ansatzes in Italien, dem Ursprungsland des entsprechenden Begriffes, erheblich behinderte27 . Es kann und soll im folgenden nicht darum gehen, ein repräsentatives Gesamtpanorama der britischen Totalitarismusdiskussion zu entwerfen, wie dies David Bosshart filr Frankreich beispielhaft getan hat. Vielmehr sollen einige ausgewählte Beiträge und Diskursszusammenhänge britischer Totalitarismuskritik vorgestellt werden, die heute fast vö1lig in Vergessenheit geraten sind, obwohl man davon ausgehen kann, daß sie zeitgenössisch eine erheblich größere Breiten- und Publikumswirkung hatten als die wissenschaftlich-akademische Theoriebildung zu dieser Thematik. Zeitlich liegt das Hauptaugenmerk auf der Frühgeschichte diktaturvergleichenden Denkens, das heißt den 20er und 30er 24 Vgl. Alfons Söllner!Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 6 f.

25 Diese Ansicht zieht sich wie ein roter Faden durch Orwells publizistische Stellungnahmen. Vgl. nur ders., Inside the Whale (1940), in: Collected Essays, Journalism and Letters, Bd. I: 19201940, Harmondsworth 1970, S. 540-578, hier S. 565 f. ; ders., Brief an Humphry House vom II. April 1940, in: Ebd., S. 580-584, hier S. 583; ders., Wells, Hitler and the World State (1941 August), in: Ebd., Bd. 2: 1940- 1943, Harmondsworth 1970, S. 166-172, hier S. 168 f.; ders., Arthur Koestler (1944 September), in: Ebd., Bd. 3: 1943 - 1945, Harmondsworth 1970, S. 270-282, hier S. 271 f.

26 Vgl. etwa Hans Maier, Die totalitäre Herausforderung und die Kirchen, in: Günther Heydemann!Lothar Kettenacker (Hrsg.), Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat. Fünfzehn Beiträge, Göttingen 1993, S. 33-64, hier S. 34 sowie S. 54, Anm. 6; ders., Totalitäre Herrschaft neubesehen, in: Thomas Nipperdey/Anselm Doering-ManteufTei/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag, Frankfurt!M.-Berlin 1993, S. 233-243, hier S. 234 f.

27 J. Petersen (Anm. 13), S. 33 f., verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß "alle wichtigeren Beiträge der Totalitarismus-Forschung" erst "sehr spät oder Oberhaupt nicht" ins Italienische Obersetzt wurden.

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Jahren, in denen die hinfort verwandten Begriffiichkeiten ausgebildet und erste Vergleiche zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus angestellt wurden 28 . 2. Herkunft und Verbreitung des englischen Totalitarismusbegriffs

Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs war bekanntlich nie ganz dekkungsgleich mit der Herausbildung diktaturvergleichender Betrachtungsweisen. Diese allgemeine Feststellung gilt filr den hier betrachteten Zeitraum in besonderem Maße: Obwohl die seit Mai 1923 nachgewiesene faschismuskritische Wortbildung schon Mitte 1925 im Kontext einer gegen Faschismus und Sowjetkommunismus gleichermaßen gerichteten Apologie des liberalen Verfassungsstaates auftauchte29 , wurde die Totalitarismusformel erst sehr viel später zu einem wirklichen Synonym filr die begriffliche Identifizierung ideologisch entgegengesetzter Diktaturregime. Dennoch filhrt die rein begriffsgeschichtliche Frage nach den Wurzeln und der Herkunft des englischen Totalitarismusbegriffs auf einen Diskussionszusammenhang, der auch ftir die uns hier beschäftigenden Anfänge diktaturvergleichenden Denkens in Großbritannien von Bedeutung ist. Der Terminus "totalitarian" tauchte nämlich nicht erst - wie seit Hans Buchheims vielgelesener Studie über die "Totalitäre Herrschaft" von 1962 immer wieder behauptet wird - im November 1929 in der Londoner Times auf0• Vielmehr findet sich die neugebildete Vokabel schon drei Jahre früher in dem Ende 1926 publizierten Faschismusbuch des damals im Londoner Exil lebenden 28

Zur Bedeutung des genannten Zeitraums vgl.jetzt H. Maier (Anm. II), S. 388-395.

Laut J. Petersen (Anm. 16), S. 122, identifizierte der liberal-demokratische Führer der "Aventin"-Opposition gegen Mussolinis Diktaturbestrebungen, Giovanni Amendola, in dessen publizistischen Stellungnahmen der Neologismus totalitario im Mai 1923 erstmals auftauchte, im Juli 1925 Kommunismus und Faschismus als eine "totalitllre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie". 29

30 Hans Buchheim, Totalitllre Herrschaft. Wesen und Merkmale, MOnehen 1962, S. II. Die Buchheim folgende Literatur machte aus der Belegstelle ein SchiUsselzitat ftlr die Herausbildung des diktaturkritisch-vergleichend angelegten Totalitarismusbegriffs. Vgl. etwa Klaus Hildebrand, Stufen der Totalitarismus-Forschung, in: Politische Vierteljahresschrift 9 (1968), S. 397-422, hier S. 399, der davon ausgeht, "der Begriff 'totaliUir"' sei "wohl erstmals 1929 in einem Artikel der Londoner TIMES" aufgetaucht; M. Jänicke (Anm. 10), S.72; Leonard B. Schapiro, Art. "Totalitarismus", in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 6, Freiburg u.a. 1972, Sp. 465-490, hier Sp. 466; Klaus Hornung, Das totalitäre Zeitalter. Bilanz des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997', S. 49. Der ursprUngliehe Verwendungskontext dieser Belegstelle rechtfertigt den ihr beigemessenen Stellenwert in keiner Weise. Vgl·. Times vom 2. November 1929, S. 7. Die vielzitierte Wendung vom "'totalitarian' or unitary state, whether Fascist or Communist" taucht dort in einer recht unscheinbaren Notiz Ober einen Vortrag des katholischen Universalhistorikers und Religionsphilosophen Christopher Dawson auf, wo sie sich eher auf eine unspezifisch-umfassende Tendenz zur Konzentration und Verdichtung staatlicher Gewalt als auf konkrete Diktaturtendenzen bezieht.

Totalitarismus und säkulare Religionen

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Gründers und bedeutendsten Repräsentanten des Partito Popolare ltaliano, Luigi Sturzo. Wie andere Faschismusanalysen italienischer Emigranten auch konnte Sturzos Buch "Italien und der Fascismus" zunächst nur in englischer, französischer und deutscher Sprache, nicht aber in der italienischen Originalfassung erscheinen31 • Ein Blick in die von Barbara Barclay Carter, einer Sturzo politisch nahestehenden "Christdemokratin'm, besorgten englischen Übersetzung ist in jeder Hinsicht aufschlußreich: Der vom Autor an mehreren Stellen benutzte Totalitarismusbegriff wird zunächst mit dem italienischen Etymon "totalitaria" wiedergegeben 33 • Dann aber greift die Übersetzerio zu der dem italienischen "totalitaria" nachgebildeten Vokabel "totalitarian", um Sturzos Kritik an den totalitären Aspirationen von Mussolinis Gewaltregime adäquat ins Englische zu übertragen 34 • Ganz besonders häufig begegnet man dem Totalitarismusbegriff im neunten, diktaturvergleichend angelegten Kapitel, in dem Sturzo das faschistische Italien und das bolschewistische Rußland unter dem Gesichtspunkt ihrer gemeinsamen Gegnerschaft gegen das Freiheitsprinzip analysiert35 • Sicherlich fungiert die Totalitarismusformel hier noch nicht als allgemeiner Oberbegriff für die seit 1917 entstandenen neuartigen Gewaltregime. Dennoch hat der Begriff schon eine unverkennbare Nähe zur diktaturvergleichenden Betrachtungsweise und wird an einer Stelle, und zwar im Kontext einer Analyse der Verfassung der Russischen Sowjetrepublik vom Juli 1918, sogar explizit auf die Sowjetherrschaft übertragen 36. Es gibt in der Tat gewichtige Indizien dafür, daß man mit Sturzos 1926 erschienener Schrift "Italy and Fascismo" am Beginn der Begriffsgeschichte des Totalitären im Englischen angelangt ist. So filhrt das enzyklopädisch angelegte 31 Luigi Sturzo, ltaly and Fascismo, London 1926. Deutsche Übersetzung: Italien und der Fascismus, Köln 1926.

32 Zur Person vgl. den Hinweis bei David Forgacs, Sturzo e Ia cultura politica inglese, in: Gabriefe Oe Rosa (Hrsg.), Luigi Sturzo e Ia democrazia europea, Roma-Bari 1990, S. 342-347, hier S. 343.

33

L. Sturzo, Italy (Anm. 31), S. 127.

Ebd. S. 128: "totalitarian tendency". Im Unterschied zur englischen verwendet die von dem Philosophen Alois Dempf und seiner Frau besorgte deutsche Übersetzung keine dem italienischen Iotalilario nachgebildete indigene Wortschöpfung. Vielmehr wird Sturzos Totalitarismusbegriff dort unangemessen-umständlich mit substantivischen Wendungen wie Totalitätssystem oder Totalitätstendenz wiedergegeben. Vgl. L. Sturzo, Italien (Anm. 31), S. 119, 201f., 207, 211, 215, 220, 284. Zu den durch diese Übersetzungspraxis verursachten Unstimmigkeiten vgl. Michael Schäfer, Luigi Sturzo als Totalitarismustheoretiker, in: H. Maier (Anm. 13), S. 37-47, hier S. 39f. 34

35 L. Sturzo, Italy (Anm. 31 ), S. 220, 224. Ebd., S. 228, 233, findet sich erstmals die substantivische Form totalitarianism. 36 Ebd. S. 224: "No elements outside the framework of the Soviets possessed rights civil or political; they are nothing, the Soviel is the All. Here is a unilateral and 'totalitarian' conception of the highest order."

4 Heydemann I Jesse

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Markus Huttner

Standardnachschlagewerk zur Etymologie der englischen Sprache neuerdings zwei Zitate aus diesem Buch als früheste bekannte Belege für die Verwendung der Wortbildungen "totalitarian" und "totalitarianism" an 37 • Eine stichprobenartige Untersuchung von englischen Zeitungsnachrichten über Reden und Proklamationen faschistischer Parteifunktionäre deutet ebenfalls darauf hin, daß die Totalitarismusformel erst nach der Publikation von Sturzos Faschismusbuch ins englische Vokabular übernommen wurde. So fand die am Anfang der faschistischen Aneignung des Totalitarismusbegriffs stehende Parteitagsrede Mussolinis vom 22. Juni 1925, in der der Duce seine unbedingte Entschlossenheit zu einer hundertprozentigen Faschisierung Italiens verkündete, durchaus Beachtung in Großbritannien. Allerdings wurde Mussolinis Ausruf "Ia nostra feroce volonta totalitaria" in den entsprechenden Presseberichten - sofern sie überhaupt davon Kenntnis nahmen - durchweg in italienischer Originalsprache wiedergegeben 38 • Die Erkenntnis von der Herkunft der englischen Totalitarismusvokabel aus dem italienischen Antifaschismus ist vor allem deshalbvon Belang, weil damit der ja ohnehin naheliegende Zusammenhang mit der entsprechenden italienischen Wortbildung konkretisiert und präzisiert wird39• Es waren in der Tat die antifaschistischen italienischen Emigranten, in deren "Reisegepäck" der Totalitarismusbegriff seit 1925/26 in die verschiedenen europäischen Sprachen eindrang. Viel entscheidender als die Übernahme der Terminologie des "fuoruscitismo" ist natürlich die Rezeption der damit verknüpften Erfahrungen und Anschauungen, die ja eben - wie angedeutet - nicht nur faschismuskritisch, sondern zumindest ansatzweise auch diktaturvergleichend ausgerichtet waren. Eine wichtige Vermittlungsinstanz zwischen der antifaschistischen Emigration und der britischen Öffentlichkeit war die 1921 gegründete "Liberal Summer School", eine vor allem in das liberale Milieu hineinwirkende Einrichtung akademischer Erwachsenenbildung, die eine Art frühes Diskussionszentrum diktaturkritischen Gedankenguts gewesen zu sein scheint. Vor dieser Institution hielt der ehemalige italienische Ministerpräsident Francesco N itti am 31 . Juli 1925 in Cambridge seinen schon damals stark beachteten Vortrag über den aktuellen 37 The Oxford English Dictionary, Bd. XVIII, Oxford 19892, S. 287, mit Verweisen auf L. Sturzo, ltaly (Anm. 31), S. 220, 233. Der Eintrag zum Stichwort totalitarian wurde gegenOber dem Supplementband der ersten Auflage des ,.Oxford English Dictionary" von 1933, in dem die Vokabel erstmals auftaucht, erheblich erweitert; das Stichwort totalitarianism wurde neu aufgenommen. 38 Vgl. etwa den Leitartikel der Times vom 26. Juni 1925, S.l5 (Überschrift: ,.Signor Mussolini's Apologia"): ,.The 'Duce', however, is quite uncompromising. 'Our so-called ferocious volonta totalitaria', he declared to the Congress, 'will be prosecuted with still greater ferocity', and 'become the dominant principle of our activity'."

39 Jens Petersen hat schon im Herbst 1994 die Vermutung geäußert, Sturzo habe mit seinem Werk "Italien und der Fascismus" "wahrscheinlich ganz erheblich" zur Durchsetzung und Verbreitung des Totalitarismusbegriffs außerhalb Italiens beigetragen. Vgl. seinen Diskussionsbeitrag in: H. Maier (Anm. 13), S. 58.

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Stand des Freiheitsproblems in Europa40 , der dann die wichtigste Grundlage fllr seine im Folgejahr publizierte Schrift mit dem programmatischen Titel "Bolschewismus, Faseismus und Demokratie" bildete41 • Der Leiter und Spiritus Rector der "Liberal Summer School", der Historiker und liberale Politiker Ramsay Muir42 , steuerte 1928 ein Vorwort zu einem weiteren Grundlagenwerk früher Faschismuskritik bei, und zwar zu dem Buch "The Fascist Dictatorship in Italy" des 1925 aus seinem Heimatland emigrierten Florentiner Historikers Gaetano Salvemini43 • Dieser Text ist insofern von Interesse, als er Salveminis fakten- und materialreiche Geschichte des faschistischen Italien um eine Perspektive ergänzt, die in dem Buch selbst gar keine Rolle spielt. Auf den Spuren Nittis und Sturzos entwickelt Ramsay Muir nämlich den Grundgedanken des diktaturkritischen Systemvergleichs: die in der Mißachtung aller Freiheits- und Rechtsprinzipien liegende fundamentale Gemeinsamkeit von Faschismus und Bolschewismus. Ungeachtet aller grundlegenden Unterschiede zwischen Sowjetrußland und dem Italien Mussolinis glichen sich - so seine These - diese Regime doch insoweit, als beide auf einer gesetzlosen Willkürherrschaft basierten, die sich bedenkenlos der Mittel des Terrors und der brutalen Gewalt bediene. In ganz ähnlicher Weise äußerte sich damals der frühere TimesChefredakteur Wiekharn Steed. Dieser einflußreiche Publizist und profilierte Mitteleuropakenner war eine von der Totalitarismusforschung bislang völlig unbeachtete Schlüsselfigur ftlr die Rezeption des Gedankenguts italienischer Emigranten in England44 • Steed war frühzeitig zu der Überzeugung gelangt, daß von der faschistischen Entwicklung Italiens eine weit über den nationalen Rahmen hinausweisende Gefährdung des liberalen Freiheitsgedankens ausging. Dementsprechend bemühte er sich intensiv darum, den Erfahrungen und Einsichten prominenter Mussolinigegner publizistisch Gehör zu verschaffen, um auf diese Weise der in Großbritannien sehr verbreiteten Neigung zu einer wohlwollenden Beurteilung des Faschismus entgegenzuwirken. Die von Steed 40 Zur öffentlichen Resonanz dieses Redeauftritts vgl. den Bericht der Times vom I. August 1925, S. 7 (Überschrift: "Signor Nitti on Fascism"). 41 Francesco Nitti, Bolschewismus, Faseismus und Demokratie, Monehen 1926 (das Vorwort, ebd. S. 7, verweist auf die "Liberal Summer School"). Englische Ausgabe: Bolshevism, Fascism and Democracy, London 1927.

42 Zur Person vgl. Emest Barker, Art. "Muir, (John) Ramsay (Bryce)", in: The Dictionary of National Biography 1941-1950, Oxford 1959, S. 607 f. 43

Gaetano Salvemini, The Fascist Dictatorship in Italy, London 1928.

In dem Biogramm Steeds von A.P. Robbins, "Steed, Henry Wickham", in: The Dictionary of National Biography 1951-1960, Oxford 1971, S. 921-923, werden dessen publizistische und akademische Aktivitäten nach dem Ausscheiden aus der Times-Redaktion Ende November 1922 in keiner Weise angemessen gewürdigt. 44

4•

Markus Huttner

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zwischen 1923 und 1930 herausgegebene Zeitschrift "Review of Reviews" enthält eine Vielzahl von Belegen für dieses Engagement zugunsten einer illusionslos-kritischen Sichtweise von Mussolinis Regime45 • In seinen eigenen Beiträgen bediente sich Steed sowohl des Totalitarismusbegriffs als auch des Vergleichs mit dem Sowjetkommunismus, der filr ihn eine dem Faschismus in vieler Hinsicht ähnliche Bedrohung der Freiheitsidee darstellte46 • Interessanterweise war Steed auch einer der ersten englischen Autoren, die mit größeren Buchpublikationen zur Entwicklung in Deutschland nach Hitlers Machtergreifung hervortraten. Schon im Januar 1934 legte er eine mit "Hitler: Whence and Whither?" betitelte erste Analyse der ideologischen Grundlagen und politischen Praxis des Dritten Reiches vor47 • Wenige Monate später folgte sein zweites Nationalsozialismusbuch mit dem Titel "The Meaning of Hitlerism"48. Beide Bände waren aus Vorlesungen hervorgegangen, die der Autor im Herbst 1933 und im Frühjahr 1934 am Londoner King' s College gehalten hatte. In der Forschung zu den deutsch-englischen Beziehungen in der Zeit des Dritten Reiches haben diese frühen Ansätze britischer Nationalsozialismusdeutung durchaus Beachtung gefunden. Steed gilt dort als einflußreicher Vertreter jener um den Staatssekretär im Foreign Office, Sir Robert Vansittart, gescharten Gruppe notorischer Deutschlandgegner, die zwar frühzeitig vor den von Hitler ausgehenden Gefahren warnten, ansonsten aber mit ihrer simplifizierenden Gleichsetzung von Nationalsozialismus und preußischem Ungeist nur wenig zu einem tiefergehenden Verständnis der NS-Diktatur beitrugen49 • Bei näherem Hinsehen erweist sich Steeds anflingliche Sicht der Entwicklung in Deutschland als sehr viel differenzierter, als es das Klischee vom ideologisch fixierten Deutschlandgegner vermuten läßt. Zumindest in seinen 1934 publizierten Büchern - später hat er sich dann tatsächlich im Sinne einer von Friedrich dem Großen bis Hitler reichenden Kontinuitätslinie des preußisch-deutschen Expan-

45 D. Forgacs (Anm. 32), S. 344, charakterisiert dieses von der Totalitarismusforschung bislang nicht ausgewertete Publikationsorgan als "un canale importante per Ia diffusione ( ...) di una visione piu corretta del fascismo".

46 Vgl. etwa Wiekharn Steed, The Fascist Challenge to Freedom, in: The Contemporary Review 133 (1928), S. 545-554, v.a. S. 545-547. 47

Wiekharn Steed, Hitler: Whence and Whither?, London 1934.

48 Ders., The Meaning ofHitlerism, London 1934.

49 Zuletzt in diesem Sinne D. Clemens (Anm. 4), S. 357f. Vgl. ebenso Angela Schwarz, Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933-39), Göttingen-Zürich 1993, S. 67-71, sowie aus der älteren Literatur Rolf Kieser, Englands Appeasementpolitik und der Aufstieg des Dritten Reiches im Spiegel der britischen Presse ( 1933-1939). Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Winterthur 1964, S. 13-18; Dietrich Aigner, Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis. Die öffentliche Meinung. Tragödiezweier Völker, MUnchen-Esslingen 1969, S. 163-166.

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sionismus geäußert50 - erscheint Steed nicht als Anhänger einer rein "germanozentrischen" Deutung des Nationalsozialismus. Vielmehr begreift er Hitlers und Mussolinis Diktaturen, am Rande auch den Sowjetkommunismus, als Ausprägungen eines universalen Gegenmodells zur westlich-liberalen Zivilisation 51 • Den ideengeschichtlichen Kern dieser neuartigen Herausforderung der Freiheitsidee verortet er - in diesem Punkt zeigt sich der Einfluß der diktaturkritischen Reflexionen italienischer Emigranten - in der totalitären Staatskonzeption. Der Stellenwert dieses Interpretationsansatzes zeigt sich vor allem in Steeds erstem Nationalsozialismusbuch, in dem er auf fast 40 Seiten das Dritte Reich als totalitären Staat beschreibt- dies wohlgemerkt Ende 1933 52• Die Wurzeln des Totalitarismusgedankens fuhrt Steed auf Hege! zurück 53• Bei dessen inhaltlicher Bestimmung folgt er Mussolinis Parole von der Omnikompetenz des Staates, weist aber zugleich darauf hin, daß hinter der etatistischen Totalitätskonzeption mehr oder weniger unausgesprochen der totale Macht- und Kontrollanspruch einer Partei bzw. eines "Führers" stecke54 • Der Vergleich mit dem Sowjetkommunismus spielt in dieser Analyse nur eine ganz untergeordnete Rolle. Immerhin aber läßt Steed keinen Zweifel daran, daß für ihn auch die an einer Stelle explizit als "Russian Bolshevist 'totalitarian' State" bezeichnete Sowjetunion in die Traditionslinie totalitären Politikverständnisses gehöre. Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß der italienisar. Der Marxismus als die zeitlich ältere der beiden Säkularreligionen ist für ihn gewissermaßen der Prototyp dieses neuartigen Phänomens65 . Dementsprechend wird das Konzept der Säkularreligion zunächst im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus entwikkelt, die im Grunde das herausarbeitet, was Leszek Kolakowski später das "prometheisch-faustische" Grundmotiv der marxistischen Lehre genannt hat66 , also deren auf Selbsterlösung des Menschen zielenden utopischen Gehalt67 • Ausgangspunkt ist die kategorische Zurückweisung des vom Marxismus erhobenen Anspruchs auf Wahrheit und Wissenschaftlichkeit. Mit der ihm eigenen Verbindung von allumfassendem Erklärungsanspruch und subjektivunkritischer Art des Denkens und Schlußfolgerns erweise sich der Marxismus als ein moderner Mythos, der von einer zutiefst unkritischen Gläubigkeit getragen sd8 . Ein entscheidendes Indiz für den im Grunde religiösen Charakter des Marxismus sei dessen dichotomische Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten und Handlungszusammenhänge in den Kategorien von "gut" und "böse". In dieser direkten Übertragung absolut gefaßter Moralkategorien auf innerweltlichgesellschaftliche Realitäten erblickt der Autor eine wesensbestimmende Ge63 Ebd., S. 41: "But in no case will terrorism cease either in Russia or in Gerrnany until the secular religiosity, of which it is an instrument, begins to vanish. Modern secular religion is by nature terroristic." 64 Vgl. etwa Norrnan Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fonleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bem-München 1961. 65 F.A. Voigt (Anm. 59), S. 38: "To understand contemporary secular religions, it is necessary to understand Marxism, which was the first of these religions to achieve a widespread domination over the souls ofmen. Only when we have examined Marxism can we proceed to examine National Socialism." 66 Vgl. Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd.l: Entstehung, München-Zürich 1988, S. 466-475, wo zwischen dem "romantischen", dem "prometheisch-faustischen" und dem "aufklärerisch-rationalistischen" Hauptmotiv des Marxismus unterschieden wird. 67

F.A. Voigt (Anm. 59), S. 1-34, 40-54.

68

Ebd., S. l-14.

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meinsamkeit von Marxismus und Nationalsozialismus69 • Die Divergenzen zwischen den als Säkularreligionen charakterisierten Ideologien, wie etwa der universelle Erlösungsanspruch des marxistischen Mythos und der auf Rassenherrschaft des "Ariers" hin angelegte Mythos des Nationalsozialismus werden nicht übersehen, sondern ausdrücklich benannf0 • Im Rahmen eines Vergleichs der beiden Führergestalten Lenin und Hitler - eine solche personalisierende Betrachtungsweise ist typisch fllr das ganze Werk - beschäftigt sich der Autor eingehend mit der unterschiedlichen Stellung der von ihnen repräsentierten Ideologien zum aufklärerischen Rationalitätsprinzip. Sein Ergebnis: Während Hitler und der Nationalsozialismus irrational geleitete Phänomene seien, handele Lenin im Prinzip rational, aber nur innerhalb des durch das marxistische Dogma vorgegebenen engen Rahmens. Dagegen sei er als Marxist grundsätzlich unflihig, die Geltungsprämissen und Methodik der eigenen Lehre zu hinterfragen71 • Im wesentlichen wird also beiden Großideologien dieselbe Grunddisposition zur Gewaltanwendung und zur aggressiv-radikalen Verteufelung ideologisch definierter Gegner unterstellt - eine Einsicht, die unter anderem durch vergleichende Gegenüberstellungen kommunistischer und nationalsozialistischer Propagandastereotypen unterstrichen wird72 . Der Autor dieses Werkes war nicht etwa - wie man vermuten könnte - ein Religionsphilosoph oder ein in politicis dilettierender Kirchenmann. Vielmehr war Frederick Augustus Voigt in den 30er Jahren eine anerkannte Größe unter den britischen Analytikern der internationalen Politik und einer der angesehensten Journalisten seines Landes 73 • Als "diplomatic correspondent" des Manchester Guardian stand er in ständiger Fühlung mit dem Foreign Office und den in 69

Ebd., S.4f.

Ebd., S.78f.: "The difference between the Mandan and National Socialist attitudes towards mankind is inherent in the two myths. The Mandan myth is of a universal Golden Age in which class, nation, and State will vanish (... ) The National Socialist myth is of a Heroie Age, in which men ofmasterful personality will Iead hierarchically organised but racially homogeneous communities. Preeminent amongst these communities will be those of 'Aryan' race, who will have dominion over the mass ofmankind." 70

71 Ebd., S. 55-57. Vgl. auch ebd., S. 39 f.: "Marxism is a child of eighteenth-century 'enlightenment'. lt is a religion of the mind rather than of the emotions (... ) The Marxist is accessible to logical argument as long as it does not affect his premises. His mythical world remains sacrosanct but within that world a narrow reason and a limited realism prevail. The National Socialist rejects the sovereignty ofthe mind, even within the mythologicallimits. and enthrones brutish instinct."

72

Ebd., S. 5 f.; 280 f., Anm. 8: 292, Anm. 33.

Zur Person vgl. die knappen Angaben bei Elizabeth Wiskemann, Art. "Voigt, Frederick Augustus", in: The Dictionary of National Biography 1951-1960, Oxford 1971, S. 1015 f.; A. Schwarz (Anm. 49), S. 411 (mit sachlichen Fehlern, die aus einer ungenauen Übernahme der in der britischen Nationalbiographie enthaltenen Angaben resultieren), sowie ausftlhrlich Markus Huttner, Britische Presse und nationalsozialistischer Kirchenkampf. Eine Untersuchung der "Times" und des "Manchester Guardian" von 1930 bis 1939, Paderborn u.a. 1995, S. 244-253. 73

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London akkreditierten ausländischen Diplomaten. In dieser Position hatte Voigt maßgeblichen Einfluß auf die Kommentierung außenpolitischer und internationaler Entwicklungen im Guardian. Es ist daher kein Zufall, wenn dieses linksliberale Intelligenz-Blatt seine Auseinandersetzung mit den europäischen Diktaturen zuweilen in einer Sprache fiihrte, die eindeutig in der christlichen Anthropologie verwurzelt war74 • Eines der von ihm als Säkularreligionen charakterisierten Phänomene kannte Voigt aus erster Hand: Als langjähriger HertinKorrespondent seiner Zeitung, von 1920 bis 1932, hatte er den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg Hitlers zur Macht hautnah miterlebe 5• So ist es gerade die - auch von der zeitgenössischen Kritik hervorgehobene - Verquickung von religiös-theologischer Gegenwartsdeutung und kenntnisreich vorgetragener politischer Analyse, die den eigenartig-eigenwilligen Argumentationsduktus dieser Schrift "Unto Caesar" ausmacht. Noch wichtiger fiir den hier interessierenden Zusammenhang ist, daß uns der Autor mit seiner Deutung moderner Totalitarismen als säkulare Religionen nicht auf ein Nebengleis, sondern in eine Kernzone diktaturkritischer Reflexion fiihrt. Der Stellenwert dieses religiös-theologischen Interpretationsansatzes wurde jüngst von Hans Maier in das Blickfeld der Forschung gerückt, der ein großangelegtes Projekt zur Deutungsgeschichte moderner Diktaturen auf die Annahme gründete, es habe neben dem Totalitarismusansatz noch andere, relativ eigenständige Konzepte des Diktaturvergleichs gegeben, vor allem dasjenige der "politischen Religionen" 76 . In der Tat begegnet man solchen Vergleichen von modernen Gewaltregimen mit Religionen keineswegs nur bei kirchennahen oder religiös gestimmten Analytikern ihrer Zeit wie Luigi Sturzo77 oder Waldemar Gurian 78 • Vielmehr gehörte eine solche Betrachtungsweise praktisch von An74 Vgl. etwa die Leitanikel in: Guardian vom 5. August 1936, S. 8; 4. Februar 1937, S. 8; 17. Februar 1937, S. 10. Für eine vom nationalsozialistischen Kirchenkampf ausgehende Analyse dieser Zeitungskommentare vgl. M. Huttner (Anm. 73), S. 694-701. 75

Hierzu M. Huttner (Anm. 73), S. 245-248.

Vgl. die aus dem Forschungsprojekt hervorgegangenen Publikationen von Hans Maier, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg u.a. 1995; ders. (Anm. II ); ders. (Anm. 13). Hinweise auf den Stellenwen dieses Interpretationsansatzes finden sich schon im älteren theoriegeschichtlichen Schrifttum, so beiM. Jänicke (Anm. 10), S. 101-106, 178-183. 76

77 Luigi Sturzo, The Totalitarian State, in: Social Research 3 (1936), S. 222-235, hier S. 233. Vgl. zur Bedeutung dieser Deutungsperspektive in Sturzos Auseinandersetzung mit modernen Diktaturregimen M. Schäfer (Anm. 34), S. 44-46. 78 Waldemar Gurian, Totalitarian Religions, in: Review of Politics 14 (1952), S. 3-14; ders., Totalitarianism as Political Religion, in: Carl J. Friedrich (Hrsg.), Totalitarianism. Proceedings of a Conference Held at the American Academy of Ans and Seiences March 1953, Cambridge/Massachusetts 1954, S. 119-129. Hierzu Heinz HUrten, Waldemar Gurian. Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundens, Mainz 1972. S. 155-158; ders., WaldemarGurian und die Entfaltung des Totalitarismusbegriffs, in: H. Maier (Anm. 13), S. 59-70, hier S. 66-69.

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fang an zum Standardrepertoire wissenschaftlicher und publizistischer Diktaturkritik. So taucht das Deutungskonzept der "säkularen Religion" - im Gegensatz zum Totalitarismusbegriff- schon in der Einleitung zur ersten größeren Bilanz vergleichender Diktaturforschung auf, dem 1935 in den USA publizierten Sammelband "Dictatorship in the Modem World". Nach Ansicht des Herausgebers Guy Stanton Ford legitimierten sich moderne Despotien im Unterschied zu Diktaturen älteren Typs mit solchen gezielt kreierten weltlichen Heilslehren 79 . Auf der am 17. November 1939 im Schatten des Bündnisses zwischen Hitler und Stalin in den USA abgehaltenen wissenschaftlichen Konferenz über den "totalitären Staat" - der Totalitarismusbegriff war mittlerweile zur dominanten Interpretationskategorie geworden - beschäftigten sich gleich zwei von sechs Referenten mit den pseudoreligiösen Zügen totalitärer Regime. Für den in die USA emigrierten deutschen Verwaltungswissenschaftler Fritz Morstein Marx waren die totalitären Ideologien Versuche, das durch den neuzeitlichen Religionsverlust entstandene Vakuum durch weltimmanente Glaubensgewißheiten zu fiillen, um so dem durch Entwurzelung des modernen Massenmenschen drohenden Chaos zu wehren 80. Ganz ähnliche Verbindungslinien zwischen dem Aufkommen neuartiger Totalitarismen und epochalen Säkularisierungstrends zog an gleicher Stelle der amerikanische Historiker Carlton J.H. Hayes in seinem mittlerweile zu den kanonischen Texten der Totalitarismusforschung zählenden Vortrag "The Novelty of Totalitarianism in the History of Western Civilization"81. Auch Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski griffen in ihrer klassischen Analyse der totalitären Diktatur auf den Vergleich moderner Legitimationsideologien mit säkularen Religionen zurück 82 . Nur Hannah Arendt verzichtete bewußt auf eine solche analytische Herangehensweise. Für die "grand old dame" der Totalitarismustheorie war es gerade die durch den Verlust "der jenseitigen und der diesseitigen Welt" bewirkte "Weltlosigkeit ohnegleichen", die den entwurzelten und atomisierten Massenmenschen "der fiktiven

79 Guy Stanton Ford, Editor's Foreword, in: Ders. (Anm. 20): "The dictators of the present are not Iineal descendants of the despots and tyrants of the past, ( ...) those of today have a new and powerful technique in mass control through propaganda by radio. movie. press, education, and a secular religion oftheir own making."

°

8 Fritz Morstein Marx, Totalitarian Politics, in: Symposium on the Totalitarian State from the Standpoints ofHistory, Political Science, Economics and Sociology. November 17, 1939. Proceedings of the American Philosophical Society 82 (1940), S. 1-38. hier S. I f., 36 f. Zur Person des Autors vgl. den Eintrag in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. II, MOnehen 1983, S. 833.

81 Carlton J.H. Hayes, The Novelty of Totalitarianism in the History of Western Civilization, in: Symposium on the Totalitarian State (Anm. 80), S. 91-102, hier S. 95 f.. 99 f.

82 Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, New York u.a. 19662, S. 106.

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Welt" der Totalitarismen anheimfallen ließ83 - eine Deutung, die sich nur schlecht mit der im Konzept der Säkularreligion enthaltenen Vorstellung von einer "Divinisierung" innerweltlicher Wirklichkeiten in Einklang bringen läßt84 • Bis vor kurzem glaubte die Totalitarismustheorie recht genau zu wissen, wem sie dieses Interpretament einer verweltlichten und politisierten Religiosität verdankte. Als "locus classicus" wurde gemeinhin ein schmaler Traktat Wiener Staatsrechtiers und Sozialphilosophen Eric Voegelin angeführt, dessen erste, wegen des "Anschlusses" dann nicht zur Auslieferung gelangte Auflage justament zum selben Zeitpunkt erschien wie die wesentlich umfangreichere Abhandlung Frederick Voigts: im April 193885 • Die Gemeinsamkeiten dieser beiden frühen Beispiele einer sozialreligiös argumentierenden Totalitarismuskritik erschöpfen sich im Grunde darin, daß beide Autoren den Aufstieg totalitärer Ideologien als Ausdruck und Symptom einer tiefgehenden geistigen Krise der westlichen Zivilisation deuten. Bei Voegelin geschieht dies in Form einer weit ausgreifenden ideengeschichtlichen Ableitung, die im Geschwindschritt die Jahrhunderte, ja die Jahrtausende durcheilt. Dagegen beschränkt sich Frederick A. Voigts Analyse auf eine phänomenologisch-vergleichende Beschreibung der beiden Hauptformen totalitärer Ideologien in ihrer Gegenwartsgestalt. Eine präzise Antwort auf die Frage nach den Entstehungsvoraussetzungen und der Genese moderner Säkularreligionen bleibt der britische Publizist letztlich schuldig. Obwohl sein Buch "Unto Caesar" mit allen äußeren Insignien einer wissenschaftlichen Abhandlung wie Anmerkungsapparat und Stichwortregister aufwarten kann, ist es im Grunde ein Stück politischer Publizistik, eine mit einem gehörigen Schuß Polemik gewürzte Streitschrift, die mit Formulierungen von aphorismenhafter Eingängigkeit die hybriden und den Menschen korrumpierenden Prätentionen der neuartigen politischen Heilslehren entlarven möchte. Voigts Argumentation ist zwar eloquent, aber nicht immer stringent und systematisch. Der profunden Gelehrsamkeit Voegelins, die es diesem ermöglicht, mit epochenübergreifenden Zusammenhängen und Entwicklungslinien zu jonglieren, hat der Journalist Voigt nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Die zuletzt getroffene Feststellung verdeutlicht allerdings auch die grundsätzliche Problematik von Voegelins Herangehensweise an die politischen Reli83 Hannah Arendt, Elemente und UrsprUnge totaler Herrschaft, München 1986, S. 559-561. Vgl. auch dies ., Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 312 f. 84 Hierzu M. Jänicke (Anm. 10), S. 178 f.; Brigitte Gess, Die Totalitarismuskonzeption von Raymond Aron und Hannah Arendt, in: H. Maier (Anm. 13), S. 264-274, hier S. 270 f.

85 Erich Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938, Stockholm-Berlin 19392• Hier benutzt in der Neuausgabe Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hrsg. v. Peter J. Opitz, München 1993. Zur Person des Autors vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. II (Anm. 80), S. 1193, sowie Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, hrsg. v. Peter J. Opitz, München 1994.

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gionen. Der aus Österreich emigrierte Politiktheoretiker rückt die von ihm untersuchten "innerweltlichen Gemeinschaften" in eine historische Perspektive, die ihren Ausgangspunkt nicht etwa - was noch angängig wäre - bei den politischen Mythen des 18. und 19. Jahrhunderts, bei Rousseau und den französischen Jakobinern86, nimmt, sondern bei den Anflingen der schriftlich überlieferten Menschheitsgeschichte. Die auf diese Weise hergestellten Zusammenhänge und Verbindungslinien sind zwar oft anregend und frappierend, aber in keiner Weise zwingend87 • So ist es nur schwierig einsichtig zu machen, was eine Betrachtung des Verhältnisses von Religion und Politik unter dem ägyptischen Pharao Amenothep IV., später Echnaton genannt, zu einem tiefergehenden Verständnis von Phänomenen des 20. Jahrhunderts beitragen kann 88 • Spätestens im 17. Jahrhundert habe sich - laut Voegelin - jene politisch-religiöse Symbolsprache ausgebildet, die dann später - angefiillt mit anderen, weltimmanenten Inhalten - den modernen Massenbewegungen ihr spezifisches Gepräge gegeben habe89 • Im Ergebnis entgrenzt diese Argumentation das Totalitarismusphänomen nicht nur zeitlich, nämlich in bezug auf ältere historische Erscheinungen, sondern im Grunde auch inhaltlich. Daher scheint es kein Zufall, daß sich neben der Totalitarismusforschung auch die Nationalismusforschung, die ja ebenfalls an religiösen Aspekten ihres Untersuchungsgegenstandes interessiert ist, auf Eric Voegelin als einen ihrer maßgeblichen Ideenspender berufen kann90 . Im Gegensatz dazu entwickelt Frederick Voigt sein Deutungskonzept der "secular religions" in einem strikt totalitarismuskritischen Begründungszusammenhang, und zwar im Kontext eines eingehenden, von den programmatischen Grundschriften Marx', Engels, Lenins und Hitlers ausgehenden Vergleichs totalitärer 86 Grundlegend fllr diese Interpretation ist J .L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln-Opladen 1961; ders., Politischer Messianismus. Die romantische Phase, Köln-Opladen 1963. 87 Vgl. in diesem Sinne auch die grundsätzliche Kritik an Voegelins Denk- und Argumentationsstil bei Hans-Christof Kraus, Eric Voegelin redivivus? Politische Wissenschaft als Politische Theologie, in: Michael Ley/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim bei Mainz 1997, S. 74-88. Für- wohlmeinendere -Rekonstruktionen von Voegelins Konzept der "politischen Religionen" vgl. Peter J. Opitz, Nachwort, in: E. Voegelin, Die politischen Religionen (Anm. 85), S. 69-84; Dietmar Herz, Der BegritT der "politischen Religionen" im Denken Eric Voegelins, in: H. Maier (Anm. 13), S. 191-209. 88 E. Voegelin (Anm. 85), S. 19-27, beginnt seine Abhandlung mit einer Interpretation politischer Religiosität im alten Ägypten. 89

Ebd. S. 49.

Vgl. etwa Wolfgang Schieder, Religion in der Sozialgeschichte, in: Ders.Nolker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd.lll: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göningen 1987, S. 9-31, hier S. 24 f.; 30, Anm. 46; Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992, S. 13, Anm. 16. 90

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Ideologien91 • Daher deckt sich das heute kaum noch bekannte Werk "Unto Caesar" von seiner ganzen Intention und Ausrichtung her viel eher mit dem Grundanliegen der Totalitarismuskritik als die zum Klassiker gewordene Studie Eric Voegelins über "die politischen Religionen". Nun kennt die Theoriegeschichte neben Voegelin noch einen weiteren Begründer des säkularreligiösen Deutungsansatzes moderner Totalitarismen92 • Die französische oder auf Frankreich blickende Forschung verweist in diesem Zusammenhang auf Raymond Aron, dessen diesbezügliche Beiträge fraglos dem "mainstream" diktaturkritischer Theoriebildung zuzurechnen sind93 • Aron verwendete in einer im Mai 1939 publizierten Auseinandersetzung mit den totalitarismuskritischen Thesen des französischen Historikers Elie Halevy eher beiläufig die Wendung "notre epoque de religions politiques" 94 • In einem 1944 publizierten Schlüsseltext "L'avenir des religions seculieres" modifizierte Aron den ursprünglich verwendeten Ausdruck zu "religions seculieres"95 und in dieser terminologischen Form wurde die säkularreligiöse Deutung zu einem Leitmotiv seiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit modernen Diktaturphänomenen96 • Bei dem französischen Meisterdenker erhält dieser Interpretationsansatz eine andere Stoßrichtung als bei Voegelin. Totalitäre Legitimationsideologien sind ftir Aron insofern religiös, als sie die vom Liberalismus erstrebte und auch erreichte Begrenzung der Religion auf den privaten Bereich der Gesellschaft wieder rückgängig zu machen suchen. Weit davon entfernt, die Religion abzuschaffen, veränderten totalitäre Systeme nur ihren Inhalt und machten sie gesellschaftlich omnipräsent97 • 91 Neben Hitlers "Mein Kampf' fungieren die in englischen Ausgaben benutzten Klassikerschriften des Marxismus-Leninismus, so das "Kommunistische Manifest" von Marx und Engels, "Das Kapital" von Marx, "Herrn Eugen DUhrings Umwälzung der Wissenschaft" von Engels, sowie Lenins Schriften "Was tun?", "Materialismus und Empiriokritizismus" und "Staat und Revolution" als Hauptquellen in Yoigts Auseinandersetzung mit dem Phänomen säkularer Religiosität.

92

Vgl. H. Maier (Anm. II), S. 396 f.

Ygl. Jean-Pierre Sironneau, Secularisation et religions politiques, Paris 1982, S. 205 f.; D. Bosshart (Anm. 22), S. 112 f., 118. Beide Studien fuhren den Interpretationsansatz auf Aron zurUck, ohne dabei auf die entsprechende Schrift Voegelins zu verweisen. 93

94 Raymond Aron, Elie Halevy et l'ere des tyrannies, in: Revue de Metaphysique et de Morale (1939), Nr.46, S. 283-307; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Commentaire 8 (1985), S. 328340, hier S. 340. Zur Bedeutung der von Elie Hah!vy ausgegangenen Anstöße filr Arons Konzeption des Totalitären vgl. D. Bosshart (Anm. 22), S. 111-118. 95 Raymond Aron, L'avenir des religions seculieres, in: La France libre (1944), S. 210-217, 269-277, Wiederabdruck in: Commentaire 8 (1985), S. 369-383.

96

Vgl. D. Bosshart (Anm. 22), S. 106, 112 f., 118-126; B. Gess (Anm. 84), S. 264-267.

So die Zusammenfassung von Arons Ansatz bei D. Bosshart (Anm. 22), S. 113, 119 f. Vgl. auch H. Maier (Anm. II), S. 397. 97

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Auch im Falle Arons ergibt sich eine kuriose zeitliche Koinzidenz mit der Veröffentlichung von Frederick A. Voigts Ansichten über die modernen Säkularreligionen. Genau einen Monat, bevor Aron den Ausdruck "religions politiques" erstmals in einem totalitarismuskritischen Kontext benutzte, im April 1939 nämlich, war unter dem Titel "Rendez a Cesar" Voigts Schrift zur selben Thematik auf den französischen Buchmarkt gekommen. Und zwar erschien die französische Übersetzung - was für die damalige Wertschätzung dieses englischen Beitrags spricht- in dem wegen seiner politisch-zeithistorischen Publikationen renommierten Pariser Verlag Calmann-Levy98 , der später einige derbekanntesten Hauptwerke Arons wie "L'Opium des intellectuels" (1955) und "Paix et guerre" (1962) verlegen sollte99 • Eine direkte Beeinflussung von Arons totalitarismuskritischer Theoriebildung durch das damals sehr verbreitete Buch Voigts läßt sich nicht nachweisen und ist aufgrund der recht unterschiedlichen Akzentsetzungen auch wenig wahrscheinlich. Immerhin läßt sich festhalten, daß die These Bossharts, Aron sei der erste gewesen, der "im Zusammenhang mit den Großideologien des zwanzigsten Jahrhunderts" von "religions seculieres" "gesprochen und diesen Begriff thematisiert" habe, nicht einmal fur den vom Autor schwerpunktmäßig untersuchten französischen Sprachraum haltbar ist 100 . Eine genauere Einordnung Voigts in die mit religiös-theologischen Interpretamenten arbeitende Auslegungstradition der Totalitarismuskritik wird dadurch erschwert, daß der englische Journalist - ebenso wie übrigens Raymond Aron davon überzeugt war, er selbst habe diese eigentümlich theologisierende Betrachtungsweise moderner Ideologien entwickelt oder zumindest systematisiert101. Das Fehlen von Hinweisen auf vergleichbare Schriften in dem umfas98 F.A. Voigt (Anm. 60). Der um die Anmerkungen und die Kapitel VI. bis IX. des Originals gekürzten französischen Ausgabe ist ein Vorwort des Verlegers vorangestellt (ebd., S. 7-10). 99 Raymond Aron, L'Opium des intellectuels, Paris I 955; ders., Paix et guerre entre les nations, Paris 1965.

100 D. Bosshart (Anm. 22), S. 118, ebenso S. 113. Bei F.A. Voigt (Anm. 60) wird der Schlüsselbegriff Säkularreligion sowohl mit "religion seculiere" (ebd., S. 12, 55) als auch mit "religion laique" (ebd., 5.60, 70) wiedergegeben.

101 In F.A. Voigts Privatnachlaß, dessen Auswertung mir durch Evelyn E. Barquin (London/Bames) freundlicherweise gestattet wurde, findet sich eine Reihe von Belegen fllr diese Selbsteinschätzung. So wird sein totalitarismuskritisches Hauptwerk im Vorwort zu einer geplanten, aber dann nicht zustandegekommenen Buchausgabe von publizistischen Beiträgen Voigts filr den Manchester Guardian folgendermaßen charakterisiert: "UNTO CAESAR, Constable 1938, was his first book on international affairs - a study of Marxism and Fascism as secular religions, the first time they had been so analysed and compared." Außerdem enthalten die nachgelassenen Papiere des Publizisten Inhaltsskizzen fllr ein nicht über das Entwurfsstadium hinausgelangtes Buch mit dem Titel "ln the Beginning", in dem Voigt seine vermeintliche "Entdeckung" vom säkularreligiösen Charakter moderner Ideologien noch einmal in einem weiteren theologischen und ideengeschichtlichen Kontext darstellen wollte. Für Arons Sichtweise seiner Rolle bei der Entwicklung dieses Deutungsmodells vgl. B. Gess (Anm. 84), S. 265, Anm. 5. Im Gegensatz zu Aron

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senden Anmerkungsapparat von "Unto Caesar" ist allerdings noch kein hinreichender Beleg für die Richtigkeit dieser Selbsteinschätzung. Vielmehr hat der Vergleich ideologiegestützter Regime mit Religionen gerade in der Kommunismuskritik eine lange, bis an den Beginn der 20er Jahre zurückreichende Tradition102. Die von deutschsprachigen Autoren stammenden und allesamt sofort ins Englische übersetzten frühen Standardwerke über den Sowjetkommunismus wie die Bücher des populärwissenschaftlichen Schriftstellers Rene Fülöp-Miller ( 1926) 103 , des Wirtschaftswissenschaftlers Arthur Feiler ( 1929) 104 sowie des katholischen Publizisten Waldemar Gurian ( 1931 ) 105 beschäftigten sich alle mehr oder weniger ausführlich mit diesem Aspekt. Direkte Anhaltspunkte für eine Rezeption eines dieser Werke durch Voigt gibt es freilich nicht. Sehr wahrscheinlich jedoch ist der Verfasser von "Unto Caesar" mit einem anderen, direkt in der Theologie wurzelnden Strang diktaturkritischen Denkens in Berührung gekommen. In den im Umkreis der protestantischen Ökumene angestellten theologisch-sozialethischen Reflexionen über die als Bedrohung der christlichen Kirchen empfundenen politischen und ideologischen Zeitströmungen begegnet man den von Voigt benutzten Interpretamenten schon in den frühen 30er Jahren106. So wies der der dialektischen Theologie Kar! Barths nahestehende und Voigt verwies Eric Voegelin später auf eine -von der Forschung bislang nicht ausgewertete "Vorläuferschrift" der eigenen Studie zu den "politischen Religionen" Vgl. ders., Autobiographische Reflexionen (Anm. 85), S 70, mit Hinweis auf Louis Rougier, Les Mystiques politiques contemporaines et leurs incidences internationales, Paris - Liege 1935

102 Ein frühes Beispiel filr die Interpretation des Kommunismus als säkularer Chiliasmus ist Fritz Gerlich, Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich, MUnchen 1920. Zur Person des Autors vgl Rudolf Morsey, Fritz Gerlich, in. Jürgen Aretz!Rudolf Morsey/Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19 und 20 Jahrhunderts, Bd 7. Mainz 1994, S 21-38, v.a. S. 24 f 103 Rene Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Russland, Zürich u.a. 1926, S I00-104 Zur Person des Autors vgl Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. II (Anm. 80), S 349

104 Arthur Feiler, Das Experiment des Bolschewismus, Frankfurt/M 1929, S 221-232 ln einer 1937 publizierten regimeübergreifenden Interpretation moderner Diktaturen griff Feiler erneut auf die ansatzweise schon in seinem Bolschewismusbuch vorhandene kirchensoziologische Betrachtung zurück. Vgl. ders., The Totalitarian State, in: Findlay Mackenzie (Hrsg.), Planned Society Yesterday, Today, Tomorrow A Symposium by Thirty-Five Economists, Sociologists, and Statesmen, New York 1937, S. 746-774, hier benutzt in der deutschen Übersetzung bei E. Jesse (Anm. 10), S 53-69, hier S 59-61 "Tatsächlich sind diese modernen Diktaturen wie Kirchen- sie benutzen die Organisationsmethoden und Machtmechanismen der Religionsgemeinschaften und versuchen so, ihr neues Credo an die Stelle der herkömmlichen Kirchen und Glaubensrichtungen zu setzen." Zur Person des Autors vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. I, München 1980, S 169 105 Waldemar Gurian, Der Bolschewismus. Einftlhrung in Geschichte und Lehre, Freiburg 1931, S. 174-212. Zur Person vgl. oben Anm. 78.

106 Vgl etwa J Fedotoff, Die Kirche und der Staat. Thesen einer Studiengruppe von russischorthodoxen Theologen, in: Die Kirche und das Staatsproblem in der Gegenwart, Genf 1935, S. 35-

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Schweizer Ökumeniker Adolf Keller bereits Mitte 1934 darauf hin, daß die hinter den Revolutionen des 20. Jahrhunderts steckenden ideologischen Antriebskräfte "trans-politischen" Charakter hätten und daher am angemessensten als säkulare Religionen zu begreifen seien 107. Der prägende Einfluß des mit dem Namen Kar I Barths verbundenen Neuansatzes theologischen Denkens auf Voigt läßt sich zweifelsfrei belegen. In den privaten Tagebüchern des Journalisten wird die erstmalige Lektüre von Barths "Römerbriefkommentar" als ein zutiefst bewegendes Schlüsselerlebnis geschildert 108 . Auch in "Unto Caesar" zitiert Voigt ausführlich aus Schriften des Schweizer Theologen, und zwar neben dem "Römerbriefkommentar" auch aus dem ersten Band der "Kirchlichen Dogmatik"109. Man gewinnt streckenweise fast den Eindruck, als schmiede der Autor seine Argumente gegen die totalitären Ideologien der Moderne aus Versatzstükken der barthianischen Theologie. Der auf den ersten Blick abseitig scheinende Zusammenhang zwischen dieser neuen Form theologischer Reflexion und dem Anliegen der Totalitarismuskritik ist wohl darin zu suchen, daß der von Barth immer wieder betonte "unendliche qualitative Unterschied" zwischen dem 44, hier S. 39 f.: ,.In den Staaten, die von der sozialen Revolution erfasst sind, bildet sich eine neue Machtfonn heran: die ldeokratie, d.h. die Diktatur einer vom Staat zur Ptlicht gemachten Weltanschauung (der totale Staat) (... ) Die ldeokratie ist jene Ordnung, wodurch der Staat sich anmasst, die allein-wahre, allumfassende Weltanschauung zu bestimmen und sie gewaltsam dem nationalen Geistesleben aufzuzwingen." Zu dem von der Totalitarismusforschung bislang nicht zur Kenntnis genommenen frühen Beitrag des Weltprotestantismus zum totalitarismuskritischen Denken vgl. jetzt Annin Boyens, Die ökumenische Bewegung und die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, in: Martin Greschat/Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.), Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1992, S. 19-44, hier S. 22-24. 107 AdolfKeller, Religion and the European Mind, London 1934, v.a. S. 9-21, 96-101. Obwohl Keller fast durchgängig die Begriffe ,.secular religion" und ,.secular eschatology" verwendet, ist diese nur in englischer Sprache veröffentlichte Schrift in diesem Kontext bisher nicht beachtet worden. Der Schweizer Ökumeniker griffbei seinen weiteren Versuchen, den Standort der Kirchen gegenüber den politischen Zeiterscheinungen zu bestimmen, immer wieder auf diese religiöstheologische Sichtweise politischer Mythen und Ideologien zurück. Vgl. ders., Church and State on the European Continent. The Social Service Lecture, 1936, London 1936. Innerhalb der anglikanischen Kirche wurde dieser Deutungsansatz unter anderem von Roger Lloyd, Domkapitular an der Kathedrale von Winchester, aufgegriffen und fortentwickelt. Vgl. ders., Revolutionary Religion: Christianity, Fascism and Communism, London 1938 (den Hinweis auf diese Schrift verdanke ich Michael Schäfer).

108 Vgl. den Tagebucheintrag Voigts vom 26. Oktober 1933: ,.Barth's 'Römerbrief. -I carry it about with me and read and re-read. It is so burdened with thought ... what power, depth and audacity! I cannot assess the influence Barth has upon me - am I the same person I was before I read him? (... ) Thank God I have not attempted to write anything serious until now!"

109 F.A. Voigt (Anm. 59), S. 9 (illustriert die Parallelen zwischen dem intransigenten Umgang kirchlicher Hierarchien mit Häretikern und dem Vorgehen kommunistischer Parteien gegen ideologische ,.Abweichler" mittels zweier Zitate aus der ,.Kirchlichen Dogmatik"), 213 f. (sucht die Vennessenheit aller Hoffnungen auf die Wirksamkeit von weltlichen Sanktionssystemen zur Erzwingung moralischen Verhaltens - vor allem im internationalen Bereich -durch Berufung auf Barths ,.Römerbriefkommentar" zu untennauem). 5 Heydemann I Jesse

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Reich Gottes und den in jeder Hinsicht begrenzten moralischen und religiösen Möglichkeiten des Menschen 110 besonders empfangtich und hellsichtig machte fiir alle Bestrebungen, diese Grenzen im Namen eines quasireligiös legitimierten Prinzips zu mißachten und zu überschreiten. Während das Konzept der "Säkularreligion" rasch Karriere machte und es heute beinahe zu einer Trivialität geworden ist, unter diesem Begriff totalitäre Ideologien nebeneinanderzustellen, geriet Voigts Deutungsentwurf fast ebenso schnell in Vergessenheit. Nur der Berliner Politologe Richard Löwenthal, der Voigt von seiner Londoner Emigrationszeit her kannte 111 , erinnerte später einmal an die Bedeutung dieser totalitarismuskritischen Pionierarbeit Für Löwenthai gehörte der britische Journalist neben Waldemar Gurian und Hermann Rauschning zu jenen religiös und konservativ gestimmten Geistern, die früher als andere die grundlegenden Gemeinsamkeiten moderner Diktaturregime erkannt und analysiert hätten 112 • In seinen eigenen Bemühungen um eine den poststalinistischen Entwicklungen im kommunistischen Machtbereich Rechnung tragende Fortentwicklung des Totalitarismusansatzes griff Löwenthai wiederholt auf den ein Vierteljahrhundert früher von Voigt begründeten Ansatz der "säkularen Religion" zurück113 • Ein Blick auf die zeitgenössische Rezeption von Voigts totalitarismuskritischem Beitrag ergibt ein völlig anderes Bild. Sein Werk "Unto Caesar" scheint nämlich ein richtiggehender buchhändlerischer Verkaufserfolg gewesen zu sein, der schon im Erscheinungsmonat April 1938 zweimal nachgedruckt werden mußte. Im Oktober 1938 erschien dann eine um ein Vorwort erweiterte zweite

110 Vgl. die Zusammenfassung des Grundanliegens von Barths Theologie bei Walter Kreck, Karl Barth, in: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. I 0/2: Die neueste Zeit IV, Stuttgart u.a. 1984, S. 102-122, hier S. 103. 111 Löwenthai hatte Anfang der 40er Jahre fllr einen der von britischem Boden aus operierenden antinationalsozialistischen Schwarzsender gearbeitet, mit deren Beaufsichtigung F.A. Voigt in seiner Funktion als "German adviser" der britischen psychologischen Kriegfiihrung betraut war. Hierzu Conrad PUtter, Deutsche Emigranten und britische Propaganda. Zur Tätigkeit deutscher Emigranten bei britischen Geheimsendern, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 1983, S. 106-137, hier S. 113-117; Gerhard Hirschfeld, Deutsche Emigranten in Großbritannien und ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Klaus-JOrgen MOller/David N. Dilks (Hrsg.), Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, Paderbom u.a. 1994, S. 107-121 , hier S. 114-117. 112 Richard Löwenthal, Totalitäre und demokratische Revolution, in: Der Monat 13 (1960/61) 146, S. 29-40; Wiederabdruck in: B. Seidel/S. Jenkner (Anm. 10), S. 359-381, hier S. 360.

113 Vgl. etwa Richard Löwenthal, Messianism, Nihilism and the Future, in: K.A. Jelenski (Hrsg.), History and Hope, London 1962, S. 37-57, v.a. S. 40-46; ders., The Totalitarian Revolution ofüur Time, hrsg. v. Radio Free Europe, München 1965 (hektogr.); ders., Die totalitäre Diktatur, in: Gegenwartskunde 15 (1966), S. 199-211, hier S. 207.

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und im November 1939 bereits die dritte Auflage 114 . Neben der bereits erwähnten französischen Ausgabe kam das Buch-1938 in einer schwedischen 115 und im Folgejahr auch in einer norwegischen Übersetzung 116 heraus. In England selbst wurde es nicht nur von einschlägigen zeitgeschichtlich-politischen Fachorganen117 und auflagenstarken Rezensionszeitschriften wie dem "Times Literary Supplement" 118 , sondern teilweise auch von den großen Tageszeitungen zur Kenntnis genommen 119 . Wohl keinem anderen der damals schon vorliegenden, hauptsächlich in wissenschaftlichen Journalen, Tagungsbänden und Akademieberichten publizierten Beiträge zur Totalitarismusthematik war eine vergleichbare Medienresonanz beschieden. Die vielleicht interessanteste der vielen Rezensionen von Voigts Buch stammt von einem in England lebenden Emigranten, der seit langem einen festen Platz in der Reihe der frilhen Theoretiker des Totalitarismus beanspruchen darf: von Franz Borkenau 120• Der kommunistische Renegat und frühere Komintern-Mitarbeiter 121 war zu diesem Zeitpunkt zwar schon durch eine aufsehenerregende Kritik am Verhalten der Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg sowie eine Geschichte der Kommunistischen Internationale hervorgetreten122, aber noch nicht durch regimevergleichende Überlegungen. Vielmehr war 1938 dasjenige Jahr, in dem Borkenau den entscheidenden Schritt zu einer wirklich vergleichenden Deutung rechter und linker Diktaturregime vollzog 123 • 114 F.A. Voigt, Unto Caesar. Third Edition with a new Preface, London 1939, erschien als verbilligte Paperbackausgabe und war um ein umfiJngreiches Vorwort erweitert, in dem Voigt die seit Publikation der Erstauflage eingetretenen internationalen Entwicklungen bewertete (ebd., S. XIIXXIV). 115 F.A. Voigt, Given Kejsaren ... Hitler- Mussolini- Stalin, Stockholm 1938. 116 F.A. Voigt,"- Hvad Keiserens er", Oslo 1939.

117 Vgl. etwa Douglas Jerrold, The Things That Are not Caesar's, in: The Nineteenth Century and After 123 (1938), S. 630-640; V.A. Demant, Rezension .. Unto Caesar". Third edition, in: The Nineteenth Century and After 127 (1940), S. 496-499. · 118 Times

Literary Supplement vom 2. April 1938, S. 225 f.

119 Vgl. etwa die Rezension in derTimes vom

I. Aprill938, S. 10.

120 Vgl.

etwa die Würdigungen von Borkenaus Beitrag in den gängigen Überblicksdarstellungen von M. Janicke (Anm. 10), S. 66 f. ; W. Schlangen (Anm. 10), S. 40 f.; Gert-Joachim Glaeßner, Sozialistische Systeme. Einfllhrung in die Kommunismus- und DDR-Forschung, Opladen 1982, S. 45 f.

121 Zur Person vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. I (Anm. 104), S. 80.

122 Franz Borkenau, The Spanish Cockpit. An Eye Wittness Account ofthe Political and Social Conflict of the Spanish Civil War, London 1937; ders., The Communist International, London 1938. 123 So das Ergebnis der Studie von Birgit Lange-Enzmann, Franz Borkenau als politischer Denker, Berlin 1996, S. 146-192, v.a. 155, 160 f. Zur Bedeutung Borkenaus als Totalitarismustheoreti-

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In seiner im Oktober 1938 in der "Sociological Review" erschienenen Besprechung von Voigts "Unto Caesar" wird die Annäherung an diese neue analytische Perspektive unmittelbar greitbar124 • Borkenau bescheinigt dem besprochenen Werk, es arbeite seine Grundthese, daß alle totalitären Regime und Bewegungen als Erscheinungsformen ein und desselben Grundphänomens begriffen werden könnten, mit einer Prägnanz und Überzeugungskraft heraus, die ihresgleichen suchten 125 • Der Erkenntniswert von Voigts theologisierender Betrachtung totalitärer Ideologien als im Kern religiöse Phänomene wird von Borkenau im wesentlichen anerkannt. Kritisiert wird die unangemessene Behandlung von Kar! Marx, die es versäume, zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen der an Marx anknüpfenden Ideologiebildung zu unterscheiden - in der Tat ein zentraler Schwachpunkt in Voigts totalitarismuskritischer Analyse 126 . Gegenüber Voigts Charakterisierung von Marx als geistigem Urheber der säkularreligiösen HeilsIehren hält Borkenau daran fest, daß der Trierer Philosoph zu den großen Anregern der modernen Sozialwissenschaften gehöre, von dessen Denken Impulse von bleibendem Wert ausgegangen seien. Ungeachtet dieses Dissenses hat Borkenau die Bedeutung von Voigts Ansatz für die eigenen Bemühungen um eine vergleichende Deutung des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus später noch einmal an zentraler Stelle hervorgehoben. Im Vorwort seines totalitarismuskritischen Hauptwerks, dem 1940 im Zeichen des Bündnisses zwischen Hitler und Stalin publizierten Band "The Totalitarian Enemy", nennt er neben Rauschning auch Voigt unter denjenigen Autoren, denen er wesentliche Einsichten zu verdanken habe und denen er in seiner Analyse der nationalsozialistischen Geisteshaltung und Ideologie weitgehend gefolgt sei 127 • In eben diesem Kontext greift Borkenau auch das ideologiekritische Konzept des säkularisierten Messianismus auf. Im Unterschied zu Voigt bindet Borkenau diesen Deutungsansatz in eine weitausholende historisch-genetische Betrachtung ein, in der er Verbindungslinien zu den chiliastischen Strömungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, zu den Hussiten und Wiedertäufern zieht 128 . ker vgl. jetzt auch William Jones, The Path from Weimar Communism to the Cold War: Franz Borkenau and "The Totalitarian Enemy", in: A. Söllner/R. Walkenhaus/K. Wieland (Anm. 24), S. 35-52, sowie Peter Schöttler, Das Konzept der politischen Religionen bei Lucie Varga und Franz Borkenau, in: Michael Ley/Julius H. Schoeps (Anm. 87), S. 186-205, hier S. 192-195. 124 Franz Borkenau, Rezension .. Unto Caesar", in: The Sociological Review 30 (1938), S. 421424. Obwohl dieser Text Ober das Schriftenverzeichnis bei B. Lange-Enzmann (Anm. 123), S. 236, zu erschließen ist, wird er dort nicht zur Rekonstruktion der Entstehung von Borkenaus Totalitarismuskonzeption herangezogen. Der mögliche Einfluß Voigts auf diesen frOhen "Klassiker" des Totalitarismusansatzes bleibt somit unbeachtet. 125 F.

Borkenau (Anm. 124), S. 421 f.

126 Ebd., S. 423 127 F.

f.

Borkenau, The Totalitarian Enemy, London 1940, S. 8.

128 Ebd.,

S. 122-136.

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69

Auch dem prominentesten Vertreter totalitarismuskritischen Denkens in Großbritannien waren Voigts Überlegungen zu dieser Thematik bekannt. In seinen publizistischen Beiträgen bezog sich George Orwell mehrmals auf jene identifizierende Deutung von Nationalsozialismus und Kommunismus als säkulare Religionen, allerdings - im Unterschied zu Borkenau - durchweg ablehnend und negativ 129 • Im April 1940 wandte sich Orwell explizit gegen die hinter dem Voigtschen Ansatz steckende Warnung vor weltimmanenten Realisierungen der Reich-Gottes-Idee 130 • Motiviert war diese Ablehnung dadurch, daß Orwell die antiutopistische Stoßrichtung von Voigts Totalitarismusdeutung, die im Menschen in erster Linie ein gefallenes Geschöpf sieht, grundsätzlich mißbilligte. Im Gegensatz zu Voigt blieb Orwell zeit seines Lebens davon überzeugt, daß der Mensch von Natur aus nicht schlecht sei und daß dementsprechend der Glaube an die grundsätzliche Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Gesellschaft nicht nur legitim, sondern geradezu überlebensnotwendig sei. Dieses beharrliche Festhalten an utopisch-sozialistischen Zielsetzungen 131 trübte Orwells unbestechlichen Blick tur die Fehler und Gefiihrdungen des Sozialismus in keiner Weise. Seine publizistischen und literarischen Analysen des tatsächlichen Funktionierens totalitärer Systeme schürfen viel tiefer als Voigts Interpretationsversuch. Andererseits hat Orwell sich nie eingehender mit der positiven Anziehungskraft totalitärer Ideologien befaßt, die für ihn vor allem Formen einer den Wahrheitssinn der Menschen korrumpierenden systematischen Lüge waren.

129 George Orwell, As I Piease (24. März 1944), in: Collected Essays, Joumalism and Letters, Bd. 3: 1943- 1945, Harmondsworth 1970, S. 135-139, hier S. 137; ders., James Bumham and the Managerial Revolution (1946 Mai), in: Ebd., Bd. 4: 1945 - 1950, Harmondsworth 1970, S. 192215, hier S. 195.

130 George Orwell, Notes on the Way (6. April 1940), in: Collected Essays, Joumalism and Letters, Bd. 2: 1940- 1943, Harmondsworth 1970, S. 30-33, hier S. 32: "Seemingly there is no alternative except the thing that Mr Muggeridge and Mr F. A. Voigt, and the others who think like them, so eamestly warn us against: the much-derided 'Kingdom of Earth', the concept of a society in which men know that they are mortal and are nevertheless willing to act as brothers." 131 Die Charakterisierung von Orwells eigener Position als "anti-utopische Orientierung" bei Hans-Christoph Schröder, George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, MOnehen 1988, S. 58 f., triffi nur insoweit zu, als dieser es ablehnte, seine sozialistischen Wertvorstellungen Ober vage Grundgedanken - wie Kampf gegen Unrecht und Ungleichheit - hinaus programmatisch zu konkretisieren. Andererseits rechnete Orwell selbst sich ausdrücklich zu den Utopisten, die ftlr ihn insofern "die echten Bewahrer der sozialistischen Tradition" waren, als sie trotz aller desillusionierenden Realitäten am Glauben an die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen zum Besseren festhielten. Hierzu die auszugsweise Wiedergabe seines am 31 . Januar 1946 in den Manchester Evening News veröffentlichten Rezensionsartikels mit dem bezeichnenden Titel "What is Socialism?" bei Bernard Crick, George Orwell. Ein Leben, Frankfurt/M. 1984, S. 680 f. (dieser SchiOsseitext fllr Orwells politische Grundorientierung wurde nicht in die vierbändige Sammlung seiner Schriften und Briefe aufgenommen).

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Wie anerkannt und verbreitet die religionsvergleichende Deutungsvariante des Totalitarismus damals schon war, läßt sich unter anderem daran ablesen, daß sie auch in einer so nüchternen und- im Gegensatz zu Voigt- im Ton völlig unpoiemischen Behandlung des Diktaturphänomens wie der Mitte 1939 publizierten Studie Alfred Cobbans mit dem schlichten Titel "Dictatorship. lts History and Theory" Berücksichtigung findet 132 • Dieses Buch des an der University of London lehrenden Frankreichhistorikers 133 mUßte in einem Beitrag Uber die "Anfänge der englischen Totalitarismusdiskussion" eigentlich viel ausführlicher gewürdigt werden, als es an dieser Stelle geschehen kann. Denn es handelt sich um einen frühen Versuch einer sowohl ideengeschichtlich als auch phänomenologisch ansetzenden systematisch-vergleichenden Analyse moderner Diktaturen. Der Autor erörtert die nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Gewaltregime im Rahmen einer auch ältere Schichten des Diktaturbegriffs einschließenden Rekonstruktion der Entwicklunglinien neuzeitlichen Staatsdenkens. Dabei unterscheidet er strikt zwischen der Diktatur als einer Regierungsform, die er durch die unumschränkte Herrschaft eines nicht in erster Linie durch dynastisches Erbrecht an die Macht gelangten einzelnen gekennzeichnet sieht 13\ und der totalitären Staatskonzeption. Beide Prinzipien leitet er ideengeschichtlich -allerdings auf völlig unterschiedlichen Wegen -aus dem neuzeitlichen Souveräntitätsgedanken her. In seiner Beschreibung der Gegenwartsgestalt totalitärer Systeme kommt Cobban auch auf deren religiöse ZUge zu sprechen, die filr ihn ein entscheidendes Merkmal moderner Diktaturphänomene ausmachen135. Eine rein politische oder sozioökonomische Analyse könne zwar die totalitarismusspezifischen Herrschaftsmechanismen partiell erhellen, aber keine wirkliche Erklärung für die Entstehung und den Bestand solcher Regime liefern. Wenn man daher Näheres Uber deren BeweggrUnde wissen wolle, müsse man jene exklusiv-religionsähnlichen Glaubenssysteme in den Blick nehmen, mittels derer sich totalitäre Systeme eine Legitimationsbasis verschafften. Dieses religiöse Moment ist für Cobban die letzte, bei weitem nicht von allen modernen Diktaturen erreichte Steigerungsform des Totalitären 136 • Totalitäre Systeme kopierten die geistliche Disziplin religiöser Orden und übertrUgen sie auf Zigmillionen Menschen 137 • Ihr Ziel sei eine Nation von Jesuiten, die nicht dem Stellvertreter Christi, sondern dem Führer dienten. Auch hier also - freilich in 132 Vgl.

Alfred Cobban, Dictatorship. lts History and Theory, London 1939.

133 Zur

Person vgl. William Doyle, Art. "Cobban, A1fred", in: John Cannon u.a. (Hrsg.), The B1ackwell Dictionary ofHistorians, Oxford 1988, S. 88 f. 134 Vgl.

A. Cobban (Anm. 132), S. 24-26.

135 Ebd.,

S. 217-219, 223-225.

S. 217 f.: "With this aspect we reach the ultimate stage oftota1itarianism, though every dictatorship does not necessari1y go as far as this in practice." 136 Ebd.,

137 Ebd.,

S. 225.

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71

ganz anderer Intonation als bei dem endzeitlich-apokalyptisch gestimmten Frederick Voigt - jene Deutung moderner Diktaturen mit quasitheologischen Begrifflichkeiten.

4. Ausblick Wie kommt man nun von den hier behandelten ersten Ansätzen totalitarismuskritischen Denkens in Großbritannien zu dem die Forschung aktuell beschäftigenden Grundanliegen, der Entwicklung von tragfähigen Methoden und Perspektiven des historischen Diktaturvergleichs? Sicherlich tendiert die damals sehr verbreitete ideengeschichtliche Herangehensweise dazu, die Unterschiede zwischen modernen Diktaturphänomenen und älteren historischen Formationen zu verwischen 138 • Das Gewicht religionsvergleichender Betrachtungen hängt natürlich auch damit zusammen, daß die zuletzt vorgestellten Autoren keine bürokratisch erstarrten Gerontokralien poststalinistischen Typs vor Augen hatten, sondern Regime, die durchaus von Hingabebereitschaft und revolutionärer Dynamik getragen zu sein schienen. Allerdings ist die von dem säkularreligiösen Deutungsansatz aufgeworfene grundsätzliche Frage nach der sozialpsychologischen Funktion totalitärer Ideologien unvermindert aktuell. Induzierten diese mit dem Anspruch auf totale Welterklärung ausgestatteten Lehren eine wirkliche Gläubigkeit bei den Menschen, oder waren es - diese Interpretation ergibt sich etwa aus Vaclav Havels Sichtweise des "Lebens in der Lüge" 139 - im Grunde doch nur hohle Attrappen, die dem Selbstbetrug und der Verschleierung von Systemzwängen dienten? Und auch die von vielen frühen Analytikern mehr postulierten als nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Säkularisierungsvorgängen und dem Wirksamwerden weltimmanenter Heilserwartungen scheinen durchaus diskussionswürdig. Dies fuhrt zu dem Bereich, dessen besondere Eignung für komparative Analysen von Diktaturregimen Günther Heydemann und Christopher Beckmann vor kurzem eingehend beleuchtet haben: der Stellung der christlichen Kirchen 140• In der Tat wurde der Antagonismus zur traditionellen Religiosität früh als ein Spezifikum der als Säkularreligionen verstandenen Regime erkannt und dementsprechend enthalten die vorgestellten Schriften, vor allem die Bücher von

138 Grundlegend hierzu Uwe Backes, Totalitarismus- ein Phänomen des 20. Jahrhunderts?, in: T. Nipperdey u.a. (Anm. 26), S. 244-260, hier S. 250-253. 139 Vaclav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Harnburg 1989, v.a. S. 14-29, wo die "Alibifunktion" totalitärer Ideologien herausgearbeitet wird. 140 GUnther Heydemann/Christopher Beckmann, Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs, in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 1240, hier S. 28-39.

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Voigt und Cobban, eine ganze Reihe von vergleichend angelegten Einzelbeobachtungen und Urteilen, die auch heute noch Ansatz- und Ausgangspunkt empirischer Forschungen sein könnten. So entwickelt Alfred Cobban erste Ansätze fllr eine Typologie konfessioneller Reaktionsweisen auf totalitäre Herausforderungen141. Frederick A. Voigt, flir dessen Analyse der Bereich totalitärer Religionspolitik natürlich zentral ist, sieht den Hauptunterschied zwischen dem kommunistischen und dem nationalsozialistischen Umgang mit dem Christentum darin, daß der Kommunismus die Religion offen ablehne und dementsprechend frontal bekämpfe, während Hitler, der sich nach außen hin gerne religiös geriere, die christlichen Kirchen zu Instrumenten seiner im Kern zutiefst widerchristlichen Rassenideologie umzufunktionieren suche 142 . Ergänzt wird diese Gesamteinschätzung durch bemerkenswerte Parallelisierungen kirchenpolitischer Strategien in beiden Totalitarismen. Sowohl Sowjetkommunismus als auch Nationalsozialismus hätten anilinglich versucht, die großen Kirchen mit Hilfe offiziell geförderter regimenaher Gruppierungen gefllgig zu machen. Hier verweist Voigt auf die seit 1922 von den Bolschewisten geförderte "Lebendige Kirche", die flir ihn ein direktes Gegenstück zur protestantischen Kirchenpartei der "Deutschen Christen" darstellt 143 . Nachdem diese Versuche einer Unterwerfung durch Infiltration weitgehend erfolglos geblieben seien, hätten sich beide Regime auf die Förderung offen kirchenfeindlicher Bewegungen verlegt- Voigt nennt hier die sowjetische Gottlosenbewegung und die seit 1934/35 stärker hervortretende neuheidnisch-antichristliche "Deutsche Glaubensbewegung" 144 -, was in beiden Fällen zu einem rapiden Bedeutungsschwund der ursprünglich zur Unterwanderung der Kirchen herangezogenen Gruppen geführt habe. Letztlich hängt jedoch der Erkenntniswert des frühen totalitarismuskritischen Schrifttums nicht allein von der analytischen Brauchbarkeit der darin entwikkelten Perspektiven ab. Die damaligen Vergleiche mögen nicht immer haltbar 141 A. Cobban (Anm. 132), S. 219-222, diagnostiziert eine hohe Resistenz calvinistischreformiert geprägter Länder gegenüber totalitären Versuchungen. Demgegenüber biete der lutherische Protestantismus eine vergleichsweise bessere Ausgangsbasis ftlr die Etablierung einer totalitären Diktatur. Die hier ansatzweise erkennbare vergleichend-typologisierende Herangehensweise an die Stellung der konfessionellen "ChristentOmer" gegenOber totalitären Diktaturen wurde jUngst von Hans Maier durch weiterruhrende Überlegungen fortentwickelt. Vgl. ders., Das totalitäre Zeitalter und die Kirchen, in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), S. 383-411, v.a. S. 408 f. 142 F.A. Voigt (Anm. 59), S. 57-72. 143 Ebd., S. 289, Anm. 29.

144 Zu den angesprochenen Zusammenhängen sowjetkommunistischer Religionspolitik vgl. Etienne Fouilloux, Die bedrohten Ostkirchen, in: Jean-Marie Mayeur (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. 12: Erster und Zweiter Weltkrieg. Demokratien und totalitäre Systeme (19141958), Freiburg u.a. 1992, S. 913-1028, hier S. 936-943. Zur Geschichte der ab 1936 zerfallenen "Deutschen Glaubensbewegung" vgl. zusammenfassend Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, MOnehen 1992, S. 79-103.

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und die Begrifflichkeilen und Deutungsmuster mittlerweile durch viel differenziertere Theoriebildungen ersetzt sein. Im Hinblick auf die Spuren, die die Gewaltregime unseres Jahrhunderts im Bewußtsein der damit konfrontierten Demokratien hinterlassen haben, sollte auch deren Wahrnehmung durch außenstehende Beobachter ein legitimer Gegenstand historischer Diktaturforschung sein. Denn eine wirklich umfassende Rekonstruktion des diktaturkritischen, diktaturvergleichenden und natürlich auch des diktaturaffirmativen Denkens kann - und das ist der eigentliche Sinn einer solchen Untersuchung - tiefe Einblicke in die geistige Physiognomie unseres totalitarismusgeprüften Jahrhunderts eröffnen.

Achim Siegel DIKTATURVERGLEICH UND TOTALITARISMUSTHEORIEZUR WEITERENTWICKLUNG DES TOTALITARISMUSKONZEPTS VON CARL JOACHIM FRIEDRICH 1. Einleitung Polemik und Kritik an Totalitarismusansätzen haben eine lange Tradition, auch und vor allem in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere seit den 60er Jahren schlugen hier die Wogen der Emotionen hoch, die durch die Anwendung des Totalitarismuskonzepts auf kommunistische Systeme erzeugt wurden. Kritik artete häufig in bare Polemik aus, und mancherorts schien sich sogar eine Art "political correctness" einzubürgern, so daß die Verwendung des Totalitarismusbegriffs nahezu tabuisiert wurde. Die Ablehnung des Ansatzes war in der Regel bei denjenigen Intellektuellen am schroffsten, die mit kommunistischen Systemen sympathisierten oder kommunistischen Ideen Wohlwollen entgegenbrachten. 1 Der Grund ist bekannt: Viele Totalitarismuskonzepte - insbesondere Carl Joachim Friedrichs Konzept der "totalitären Diktatur" - enthielten eine starke Behauptung, die als Provokation empfunden wurde: daß kommunistische Systeme einerseits und faschistische (bzw. das nationalsozialistische) Regime andererseits wesensgleich seien und sich nicht nur von liberalen Verfassungsstaaten, sondern auch von traditionellen Autokratien qualitativ unterschieden.2 Nach dem Scheitern kommunistischer Systeme werden diese allgemein sehr viel kritischer bewertet, und die Verwendung der Termini "Totalitarismus" und "totalitär" zur Kennzeichnung jener Systeme ruft bei weitem nicht mehr jenes hohe Maß an Ablehnung hervor, wie es für die Zeit vor 1989 typisch war. Totalitarismuskonzepte werden nun zusehends bereitwilliger verwendet - und zwar auch von solchen Wissenschaftlern, die Totalitarismuskonzepte vor 1989 noch

Mit welchen Mitteln zuweilen auch in wissenschaftlichen Publikationen "Stimmung gegen die Totalitarismustheorie" gemacht wurde, veranschaulichen die Schriften Reinhard Kühnls. Siehe z.B. ders., Die politische Funktion der Totalitarismustheorien in der BRD, in: Martin Greiffenhagen!Reinhard Kühni/Johann Baptist Müller, Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972, S. 7-21, insbes. S. 18. Vgl. Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 15-17.

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strikt abgelehnt hatten-, so daß bisweilen gar von einem "stillen Sieg des Totalitarismusbegriffs"3 gesprochen wird. Diese neuerliche Hochkonjunktur des Totalitarismusbegriffs signalisiert zweifellos eine erfreuliche Entwicklung nämlich die Enttabuisierung einer bestimmten Forschungsperspektive. Allerdings verdeckt die mitunter inflationär anmutende Verwendung des Totalitarismusbegriffs jene konzeptionellen Schwächen, die Totalitarismuskonzepte hatten und haben und deshalb auf berechtigte Kritik gestoßen sind. Am Beispiel von Carl Joachim Friedrichs Konzeption der totalitären Diktatur, die wohl nach wie vor als die einflußreichste gelten kann, werde ich versuchen, die auf methodologische Mängel zielende Kritik an Totalitarismusansätzen in zugespitzter Form zusammenzufassen. Die wichtigste methodologische Unzulänglichkeit sehe ich darin, daß die Behauptung einer Wesensgleichheit kommunistischer und faschistischer Regime erkenntnistheoretisch unzureichend begründet wird. Dabei möchte ich zeigen, daß die Kritik - sofern nicht überzeugend widerlegt - die Tauglichkeit von Friedrichs Totalitarismusansatz als Grundlage eines Diktaturvergleichs in Frage stellt; dies gilt sowohl für seinen klassischen Ansatz aus den SOer Jahren (Abschnitt 2) als auch für die in den 60er Jahren von Friedrich selbst modifizierte Variante dieses Ansatzes (Abschnitt 3). Anschließend werde ich zeigen, daß die methodologischen Mängel behoben werden können, wenn man Friedrichs Ansatz als funktionalistische und auf verschiedenen Abstraktionsebenen argumentierende Theorie totalitärer Systeme reinterpretiert (Abschnitt 4). Da die hier vorgeschlagene Rekonstruktion lediglich die methodologischen Grundlagen der Argumentation betrifft, bleiben die inhaltlichen Aspekte von Friedrichs Aussagensystem nahezu in der alten Form erhalten. Auf der Basis des neuen methodologischen Fundaments erscheint die inhaltliche Modifikation aus den 60er Jahren als stringente Korrektur des klassischen Ansatzes, der durch die historische Entwicklung kommunistischer Systeme nach Stalins Tod falsifiziert war (Abschnitt 5). In der rekonstruierten Form kann der modifizierte Ansatz in seinen Grundzügen noch nicht als falsifiziert gelten. Dies soll anhand einer kurzen Interpretation des Zusammenbruchs des Kommunismus in Europa angedeutet werden (Abschnitt 6).

2. Methodologische Probleme des Totalitarismuskonzepts von Carl J. Friedrich Die Aussage, der Vergleich zweier Gesellschaftsordnungen bedeute noch nicht deren Gleichsetzung, wird überall auf Zustimmung stoßen. Richtig ist ebenso, daß sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen zwei Gesellschaftsordnungen nur festgestellt werden können, wenn beide Gesellschaften zuvor verglichen wurden. Insofern könnte es scheinen, als sei ein Dik-

Jürgen Braun, Stiller Sieg eines Begriffes, in: Das Parlament vom 11./18. November 1994.

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taturvergleich prinzipiell unproblematisch und als kämpften die Gegner eines "Diktaturvergleichs" - man erinnere sich an die Bedenken und Polemiken, die zuweilen gegen einen Vergleich von NS- und SED-Diktatur ins Feld geführt werden4 - gegen Banalitäten. Sieht man sich aber die Ergebnisse von Diktaturvergleichen an, so wird schnell klar, daß derartige Vergleiche nicht so unproblematisch sind, wie es aufgrund der vorstehenden Überlegungen den Anschein haben kann. Denn das Resultat eines interessanten Diktaturvergleichs ist so gut wie nie eine strikt empiristische5 Auflistung irgendwelcher gemeinsamer und irgendwelcher unterschiedlicher Merkmale, auf die man nach und nach gestoßen ist. Vielmehr wird sich fast immer an den Prozeß des Vergleichens des empirisch Vorfindlichen eine bestimmte Art der Kategorisierung und der Gewichtung (bzw. Beurteilung der unterschiedlichen Bedeutsamkeit) einzelner Merkmale oder Merkmalsausprägungen anschließen, die nicht aussschließlich den "objektiven Eigenschaften" dieser Merkmale selbst entnommen ist, sondern eine zusätzliche kognitive Operation des Forschers beinhaltet. Folgt man gängigen Argumenten zeitgenössischer Erkenntnistheoretiker, dann gehen viele solcher "konstruktiven" kognitiven Operationen dem Prozeß des rein empirischen Vergleichens voraus. 6 Diese "Komplikation" führt dazu, daß die meisten Vergleiche von Gesellschaftsordnungen selbst dann, wenn sie ihre Grundkategorien auf ähnliche Weise gebildet haben 7, im Ergebnis Aussagen enthalten, die dieses Vgl. exemplarisch die Bedenken von lan Kershaw, Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft. Möglichkeiten und Grenzen eines Vergleichs, in: Mittelweg 36 3 (1994) 5, S. 55-65. In sehr polemischer Form äußert Wolfgang Wippermann seine Vorbehalte. Siehe etwa seinen Artikel: Zur Kritik der Totalitarismustheorie, in: Der einäugige Blick. Vom Mißbrauch der Geschichte im Nachkriegsdeutsch land, 3. Buchenwald-Geschichtsseminar 1992, S. 15-18, insbes. S. 18. "Empiristisch" wird hier als Bezeichnung ftlr die empiristische Erkenntnistheorie oder - wie Popper es formuliert hat- das "Kübelmodell" wissenschaftlicher Erkenntnis gebraucht. Siehe Karl R. Popper, Kübelmodell und ScheinwerfermodelL Zwei Theorien der Erkenntnis, in: Ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Harnburg 1984', S. 354-375. Nach Popper (sowie der gesamten konstruktivistischen Traditionslinie in der Erkenntnistheorie) ist jede Wahrnehmung in dem Sinne "theoriegesteuert", daß sie grundsätzlich mit Hilfe bestimmter kognitiver Schemata geschieht, die unabhängig vom wahrzunehmenden Gegenstand existieren und daher nicht per se "sachhaltig" sein können. Dies einzuräumen heißt nicht, so weit zu gehen wie die sogenannten "radikalen Konstruktivisten", deren Vertreter manchmal dazu neigen, die Sachhaltigkeit menschlicher Erkenntnis prinzipiell zu bestreiten. Ein "konstruktiver Realismus", wie ihn z.B. Günter Dux im Anschluß an Jean Piaget vertritt (Günter Dux, Die Logik der Weltbilder, Frankfurt/M. 1976), scheint mir angemessener und zudem fllhig, die Abfolge kognitiver Schemata in der Ontogenese und - in groben Zügen - in der Menschheitsgeschichte zu erklären. So wird z.B. die Kategorie "politisches System" in zeitgenössischen Theorien auf eine sehr unterschiedliche Art gebildet: man vergleiche etwa die unterschiedlichen Konnotationen und lmplikationen, die der Begriff "politisches System" (bzw. "Bereich der Politik") bei Hannah Arendt, Carl J. Friedrich oder gar in der modernen soziologischen Systemtheorie, z.B. bei Niklas Luhmann, hat. Hier ist es unmöglich, eine auch nur annähernd übereinstimmende Abgrenzung des

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oder jenes (gemeinsame oder unterschiedliche) Merkmal als "wesentlich", "weniger wesentlich" oder "unwesentlich" fiir die betreffenden Systeme beurteilen; häufig fließen solche Urteile auch nur implizit ein. Derartige Einschätzungen bilden dann oft die Grundlage fiir ein Gesamturteil, wonach die Gemeinsamkeiten der verglichenen Systeme -je nach den vorhergehenden Aussagen - insgesamt als "wesentlich" bzw. "sehr bedeutend", als "weniger bedeutend" oder gar "unbedeutend" einzuschätzen sind. Derartige Qualifizierungen von Merkmalen bzw. Merkmalsunterschieden sind kein Spezifikum von Totalitarismusansätzen, sie finden sich auch und gerade bei Kritikern der Totalitarismustheorie: So hat z.B. Ian Kershaw vor kurzem einige gemeinsame Merkmale zwischen NS-Diktatur und SED-Regime im Verhältnis zu ihren Unterschieden als weniger bedeutend und einen Vergleich deshalb als wenig fruchtbar beurteilt8, und wohl auch Wolfgang Wippermanns Verdikt hinsichtlich eines Vergleichs von NS-Diktatur und SED-Regime beruht implizit auf der Annahme, die Gemeinsamkeiten, die man hier zutage fördern könne, seien flir beide Regime jeweils nur sekundäre Charakteristika, wohingegen die Unterschiede in ihrer Bedeutsamkeit unterschätzt würden. Auch der Totalitarismusansatz Friedrichs enthält Urteile über den Grad der "Wesentlichkeit" bestimmter Merkmale, die totalitäre Diktaturen charakterisieren. Bekanntlich sahen Friedrich und Brzezinski in ihrem klassischen Werk Totalitarian Dictatorship and Autocracy, das 1956 erstmals erschien9, eine totalitäre Diktatur durch "sechs Wesensmerkmale" bestimmt, nämlich 1) eine "totalistische" Ideologie, 2) eine hierarchisch gegliederte Massenpartei, die die staatlichen Organisationen beherrscht, 3) eine terroristisch operierende Geheimpolizei, die auch "objektive Feinde" verfolgt, 4) eine monopolistische Verfiigungsgewalt des Parteistaats sowohl über die Massenkommunikationsmittel als auch 5) über die Kriegswaffen und staatlichen Zwangsmittel, und 6) eine zentrale Lenkung der Wirtschaftsunternehmen. Eine Herrschaftsordnung ist nach Friedrich erst dann totalitär, wenn diese sechs Merkmale gleichzeitig auftreten. 10 Alle sechs "Wesensmerkmale" ließen sich - mit graduellen Unterschieden sowohl in den faschistischen Dikaturen als auch im damals noch stalinistisch Gegenstandsbereichs und Relationierung der darin befindlichen Elemente zu unterstellen. Z.B. ist der Inhalt von Hannah Arendts Begriff "politisches Handeln" bei weitem nicht deckungsgleich mit dem Inhalt desselben Terminus bei Friedrich, und in Luhmanns Systemtheorie gibt es die Kategorie des handelnden Subjekts (in der von Arendt und Friedrich unterstellten Art) überhaupt nicht. Vgl. I. Kershaw (Anm. 4), insbes. S. 55-57. Vgl. Carl J. Friedrich/Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge 1956. 10

C. J. Friedrich (Anm. 2), S. 19 f. Hier wie im folgenden zitiere ich nach der deutschen Ausgabe von 1957.

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geprägten Kommunismus ausfindig machen, und auch in späteren Jahren diente dieser Merkmalskatalog oft als Grundlage von Diktaturvergleichen und von Klassifikationen. Dagegen ist methodologisch nichts einzuwenden. Problematisch wird dieser Ansatz erst, wenn man fragt, warum eigentlich jene sechs Merkmale als "Wesensmerkmale" einer totalitären Diktatur gelten sollen und warum bestimmte Unterschiede wie z.B. die proklamierten Endziele von Kommunismus (klassenlose Gesellschaft) und Nationalsozialismus (homogenisierte Rasse- und Volksgemeinschaft) nur sekundäre Merkmale dieser Regime seien. Zwar registrierte Friedrich durchaus, daß auch inhaltliche Zielsetzungen der jeweiligen Utopie wichtige Einflußfaktoren darstellen.'' Dennoch behauptete er jene sechs Gemeinsamkeiten als Wesensmerkmale und etwaige Unterschiede als sekundäre Aspekte totalitärer Diktaturen. Problematisch hieran ist, daß das Kriterium fiir diese Differenzierung unklar blieb. Friedrich wollte wohl kaum einen bloß nominalistischen Begriff der totalitären Diktatur bilden - dies wird klar, wenn man sich seine Verteidigung des Begriffs ansieht sowie die Art, wie er Vorschläge anderer Autoren zur Modifizierung und Ergänzung des ursprünglichen Merkmalskatalogs diskutiert. 12 Friedrichs Absicht war es ebenfalls nicht obwohl dies in der Literatur oft suggeriert wird 13 -, einen rein normativen Gegenbegriff zum Idealtyp der verfassungsstaatlichen Demokratie zu bilden, d.h. einen Begriff, dessen definierende Eigenschaften den Eigenschaften verfassungsstaatlicher Demokratien möglichst diametral entgegengesetzt sind. Dies kann schon deshalb nicht der Fall sein, da Friedrich das Merkmal "staatliches Gewaltmonopol" als einen der sechs "Wesenszüge" totalitärer Diktatur konzipierte - ein Merkmal, das auch verfassungsstaatliche Demokratien kennzeichnet. Hätte Friedrich also nur einen normativen Gegenbegriff bilden wollen, dann wäre es unvernünftig gewesen, das staatliche "Waffenmonopol" (Friedrich) als Wesensmerkmal einer totalitären Diktatur zu begreifen. Da der Begriff also

II

Vgl. ebd., z.B. S. 17, 24 ff., 257.

12

Siehe Carl J. Friedrich, The Evolving Theory and Practice of Totalitarian Regimes, in: Carl J. Friedrich/Michael Curtis/Benjamin R. Barber, Totalitarianism in Perspective: Three Views, London 1969, S. 123-164; Carl J. Friedrich, Totalitarianism: Recent Trends, in: Problems of Communism 17 (1969), S. 32-43; ders., The Changing Theory and Practice ofTotalitarian Regimes, in: II Politico 33 (1968), S. 53-76. Vgl. hierzu Lothar Fritze, Unschärfen des Totalitarismusbegriffs. Methodologische Anmerkungen zu Carl Joachim Friedrichs Begriff der totalitären Diktatur, in: Zeitschrift filr Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 629-641; Achim Siegel, Der Funktionalismus als sozialphilosophische Konstante der Totalitarismuskonzepte Carl Joachim Friedrichs. Methodologische Anmerkungen zur Entwicklung von Friedrichs Totalitarismuskonzept in den sechziger Jahren, in: Zeitschrift fllr Politik 43 (1996}, S. 123-144, insbes. S. 129, S. 139 f.- Friedrich lehnte manche Vorschläge zur Erweiterung des Katalogs der Wesensmerkmale mit dem Verweis auf die eigentliche "Natur" des Gegenstands "totalitäre Diktatur" ab. Vgl. ebd., S. 140. 13

Vgl. z.B. Peter C. Ludz, Die soziologische Analyse der DDR-Gesellschaft, in: Ders. (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, München 1971, S. 11-23, hier S. II f.

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weder rein nonnativer Art ist noch eine bloße Nominaldefinition darstellt, muß Friedrich den Grund für sein Konzept der sechs Wesensmerkmale in der Natur des Gegenstands ("totalitäre Diktatur") selbst gesehen haben; er hat diese Intuition jedoch nicht eigens erläutert. Damit aber scheint es, als entbehre die kontroversenträchtige Rede von der "Wesensgleichheit" von Nationalsozialismus und Kommunismus (bzw. Stalinismus) einer angemessenen erkenntnistheoretischen Begründung 14, denn die Validität von Intuitionen dieser Art ist nicht ohne weiteres intersubjektiv nachvollziehbar und überprütbar. Dieser Befund gilt gleichennaßen für all diejenigen Kritiker Friedrichs, die ihm vorwarfen, er vernachlässige die "eigentlich wesentlichen Eigenschaften" kommunistischer und faschistischer Systeme und stilisiere vordergründige Gemeinsamkeiten fälschlicherweise zu "Wesensmerkmalen". Solche Kritiken kamen ebenfalls nicht über den Appell an Intuitionen hinaus, blieben also dabei stehen, andere Eigenschaften als "Wesensmerkmale" zu behaupten. Solange aber die Kriterien im unklaren blieben, waren unfruchtbare Debatten zwischen Anhängern und Gegnern des Totalitarismuskonzepts vorprogrammiert. Vergegenwärtigt man sich die praktisch-politischen lmplikationen der seit Ende der 60er Jahre in (West-)Deutschland heftig miteinander konkurrierenden Schulen der "Faschismustheorie" 15 und der "Totalitarismustheorie", dann versteht man, daß diese zusätzliche, politische Dimension den bereits aus erkenntnistheoretischen Gründen unfruchtbaren Streit um das Totalitarismuskonzept nun auch in politischen Grabenkämpfen versinken und damit in kognitiver Hinsicht noch unergiebiger werden ließ. 3. Friedrichs Modifizierung seines Totalitarismusbegriffs Ende der sechziger Jahre

Für viele Wissenschaftler wurde Friedrichs Totalitarismuskonzept noch suspekter, als er dieses in der zweiten Hälfte der 60er Jahre modifizierte. Die auffälligste Veränderung betraf das bisherige Wesensmerkmal "terroristisch operierende Geheimpolizei". Friedrich strich das Attribut "terroristisch operierend" und konzipierte nunnehr eine "voll entwickelte Geheimpolizei" als Wesens-

14

Diese Schlußfolgerung ist implizit enthalten z.B. in L. Fritze (Anm. 12) und Uwe Dietrich Adam, Anmerkungen zu methodologischen Fragen in den Sozialwissenschaften: Das Beispiel Faschismus und Totalitarismus, in: Politische Vierteljahresschrift 16 (1975), S. 55-88. Beide Autoren akzeptieren die Rede von wesentlichen Eigenschaften beider Systeme (bzw. der "Wesensgleichheit") nur in einem nominalistischen Sinne. Eine lediglich nominale "Wesensgleichheit" beider Regimetypen zu behaupten, lag Friedrich aber offensichtlich fern. 15

Vgl. die methodologische Beurteilung des marxistischen Zweigs der "Faschismustheorie" bei U.D. Adam (Anm. 14), S. 67 ff.

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merkmal einer totalitären Diktatur. 16 Friedrich verringerte also den Inhalt des Begriffs "totalitäre Diktatur" (d.h. mit der Streichung des Attributs "terroristisch operierend" reduzierte er die Anzahl der den Begriff definierenden Eigenschaften), wodurch sich der Begriffsumfang erweiterte: Mithilfe des modifizierten Begriffs konnten jetzt auch nach-stalinistische Regime, die Terror nur in marginalem Umfang einsetzten 17 - wie z.B. auch das "reformkommunistische" Polen unter Gomulka -, als "totalitäre Diktaturen" klassifiziert werden. Das hieß aber, daß die nach-stalinistischen kommunistischen Regime, die deutlich mildere und fiir die Bevölkerung kalkulierbarere Unterdrückungsmethoden anwendeten als ihre Vorgänger, und die nationalsozialistische Diktatur als "wesensgleich" galten. Hätte Friedrich den ursprünglichen Totalitarismusbegriff belassen, dann wäre der Begriffsumfang auf die drei "klassischen" totalitären Diktaturen (nämlich den italienischen Faschismus, den Nationalsozialismus, und den stalinistischen Kommunismus) beschränkt geblieben, und die nach-stalinistischen Regime in Osteuropa hätten anders charakterisiert werden müssen. Ein Erkenntnisfortschritt dieser Begriffsveränderung war jedoch nicht ohne weiteres erkennbar, denn eine Erweiterung des Begriffsumfangs bedeutet an sich keinerlei Zugewinn an Erkenntnis. Auch die von Friedrich selbst verfaßten Artikel brachten keine befriedigende Klärung der Frage, worin die kognitiven Vorteile dieser Begriffsveränderung bestehen. Vergegenwärtigt man sich, daß Friedrich auch kein erkenntnistheoretisch zufriedenstellendes Kriterium fiir seine Differenzierung von Wesensmerkmalen und sekundären Merkmalen nannte, dann verwundert dies nicht: Er war offensichtlich desinteressiert an abstrakt-theoretischen und methodologischen Debatten. 18 Es überrascht deshalb 16

Vgl. C. J. Friedrich, Evolving Theory (Anm. 12), S. 126.

17

Da Friedrich und Brzezinski in der Erstausgabe von Totalitarian Dictatorship and Democracy die Verfolgung und gewaltsame Sanktionierung "objektiver Feinde", d.h. willkUrlieh

ausgewählter Gruppen der Bevölkerung, als Charakteristikum einer "terroristisch operierenden Geheimpolizei" konzipierten (vgl. C. J. Friedrich [Anm. 2], S . 19, 122-154), kann man sagen, daß "Terror" in der nach-stalinistischen Ära nur noch in Ausnahmefltllen - die zumeist als solche auch erkennbar waren - angewendet wurde. Ein permanent oder periodisch ausgeübtes (d.h. systematisches) Herrschaftsinstrument stellte "Terror" jedenfalls nicht mehr dar. 18

So etwa wurde oft festgestellt bzw. vermutet, daß Friedrichs Totalitarismusbegriff als idealtypischer zu verstehen sei. Vgl. z.B. Robert Burrowes, Totalitarianism. The Revised Standard Version, in: World Politics 21 (1969), S. 272-294; P. C. Ludz (Anm. 13), S. 12 f; Waller Schlangen, Die Totalitarismustheorie: Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1973, S. 63 ff. Friedrich äußerte sich hierzu jedoch nicht klar; die eigenen Bemerkungen zu methodologischen Aspekten seines Ansatzes lassen jedenfalls seine Abneigung erkennen, den Begriff der totalitären Diktatur als Idealtyp zu bezeichnen (vgl. ders., The Evolving Theory [Anm. 12], S. I 53). Auch die wichtige Frage, ob und in welcher Hinsicht die sechs Wesensmerkmale als Definiens von "totalitäre Diktatur" zu gelten hatten - vgl. die entsprechende, bereits 1968 von Frederic Fleron gestellte Frage (Ders., Soviel Area Studies and the Social Sciences: Some Methodological Problems in Communist Studies, in: Soviet Studies 19 [1968], S. 313-339, hier S. 329)- behandelte er oberflachlieh 6 Heydemann I Jesse

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auch nicht, daß viele Sozialwissenschaftler für Friedrichs Begriffsmodifikation "einen Erklärungsgrund offenbar allein in der politischen Funktion des Begriffs"19 sahen. So schrieb Martin Jänicke in polemischer Zuspitzung: "Die politische Frontstellung ist die alte geblieben. Nur muß offenbar das begriffliche Waffenarsenal von Zeit zu Zeit den neuesten historischen Wandlungen des Feindes durch definitorische Umdeutungen angepaßt werden." 20 Friedrichs Begriffsveränderung galt also überwiegend als Beleg für die "handfesten anti-kommunistischen Tendenzen des Autors"21 ; in jedem Fall schien die Art, wie Friedrich auf die Veränderungen in kommunistischen Systemen reagierte, gegen die kognitive Leistungsfähigkeit des Ansatzes zu sprechen. Die Behauptung einer "Wesensgleichheit" nicht nur der drei klassischen totalitären Diktaturen, sondern auch der nach-stalinistischen Regime schien vielen Wissenschaftlern haltloser denn je. 4. ZurReinterpretation von Friedrichs Ansatz als funktionalistische Theorie totalitärer Systeme

Es läßt sich jedoch zeigen, daß in Friedrichs Ansatz selbst ein Schlüssel zur Lösung des Problems gefunden werden kann. Aus seiner Argumentation kann nämlich ein valides Kriterium rekonstruiert werden, das eine Differenzierung der Einflußfaktoren in "wesentliche" und nur "sekundäre" Faktoren und damit auch die Behauptung einer "Wesensgleichheit" verschiedener Regime rechtfertigen könnte. Im Rahmen einer solchen Rekonstruktion wird auch deutlich, daß Friedrichs Modifikation des ursprünglichen Konzepts in den späten 60er Jahren eine kognitiv stringente Korrektur des klassischen Ansatzes darstellt. Für Friedrich und Brzezinski stellten die sechs "Wesensmerkmale" nicht nur einen bloßen Merkmalskatalog dar, sondern wurden darüber hinaus in einem bestimmten entwicklungstheoretischen Sinn für "grundlegend" gehalten: Sie stellten nämlich - hypothetischerweise - die prägendsten Faktoren dar, die die und ungenau: Er wollte die sechs Wesensmerkmale zwar offenbar als Definiens verstanden wissen, setzte aber im selben Satz das entsprechende Verb "define" in Anfilhrungszeichen. Siehe C. J. Friedrich, Evolving Theory (Anm. 12), S. 124.

19

243.

20

Martin Jänicke, Totalitäre Diktatur. Anatomie eines politischen Begriffes, Berlin 1971, S.

..

Ebd., S. 243 f. Ahnlieh äußerte sich Frederic J. Fleron 1967 auf dem Annual Meeting of the Political Science Association in den USA. Siehe F.J. Fleron (Anm. 18), S. 339, Fn. 84. Negativ Ober diese Begriffveränderung urteilten z.B. auch R. Burrowes (Anm. 18), S. 288, und Volker Gransow, Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz, Frankfurt/M. - New York 1980, S. 46.

21

M. Jänicke (Anm. 19), S. 243.

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strukturelle Entwicklung einer totalitären Diktatur bestimmten. Zwar registrierten die Autoren, wie erwähnt, auch andere wichtige Einflußfaktoren wie etwa die proklamierten Endziele totalitärer Machthaber22 , den Grad der potentiellen wirtschaftlichen Autonomie eines Landes23 , oder die konkrete technologische Entwicklungsstufe in dem betreffenden Land. 24 Dennoch meinten sie, jene sechs Merkmale als die wichtigsten Faktoren interpretieren zu können. Auch in komplexeren naturwissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Theorien stecken zumeist Vorannahmen über den unterschiedlichen "Wesentlichkeitsgrad" von Einflußfaktoren. 25 Rechtfertigen kann man solche Vorannahmen aber erst, wenn sich darauf ein entsprechendes System theoretischer Aussagen gründen läßt, das eine bestimmte Struktur aufweist, die man als Struktur "abnehmender Abstraktion" oder der "Idealisierung und Konkretisierung" bezeichnen könnte. Demnach besteht eine Theorie aus einer Sequenz von Modellen, in welchen jeweils das Zusammenspiel einiger weniger Faktoren simuliert wird. Im ersten (und abstraktesten) Modell werden nur solche Faktoren berücksichtigt, die fur ein bestimmtes Explanandum als primär maßgeblich angesehen werden; dieses erste Modell schließt mittels idealisierender (kontrafaktischer) Annahmen den Einfluß sekundärer Faktoren aus. Diese werden erst in nachfolgenden, d.h. abgeleiteten Modellen einbezogen: das Anfangsmodell wird also stufenweise konkretisiert. Vorannahmen über die Wirkungsweise und den Grad der "Wesentlichkeit" eines Faktors können nur im Verlauf der Theoriebildung und zudem nur indirekt falsifiziert werden. Als falsifiziert müssen Vorannahmen z.B. dann gelten, wenn es nicht gelingt, ein gegebenes Anfangsmodell durch die sukzessive Einbeziehung sekundärer Faktoren so weit der Realität anzunähern, daß diese (mit hinreichend geringen Abweichungen) unter eine der konkretisierten Modellaussagen talJt. Kurzum: Im Zuge der stufenweisen Konkretisierung des Anfangsmodells zeigt sich also, ob eine bestimmte Vorannahme über den Grad der "Wesentlichkeit" eines Faktors gerechtfertigt war. 26

22 23 24

Vgl. C. J. Friedrich (Anm. 2), S. 17, 24 ff, 257. Vgl. ebd., S. 263. Vgl. C. J. Friedrich, Evolving Theory (Anm. 12), S. 132; vgl. ders. (Anm. 2), S. 263.

25

Vgl. Leszek Nowak, The Structure of 1dealization. Towards a Systematic Interpretation of the Mandan ldea of Science, Dordrecht 1980; ders., Das Problem der Erklärung in Karl Marx' "Kapital", in: Jürgen Ritsert (Hrsg.), Zur Wissenschaftslogik einer kritischen Soziologie, Frankfurt/M. 1976, S. 13-45, hier insbes. S. 13-20, 42-45; ders., On the (ldealizational) Structure of Economic Theories, in: Erkenntnis 30 (1989), S. 225-246. 26

Vgl. insbesondere die entsprechenden Kapitel in L. Nowak, Structure of Idealization (Anm. 25), und ders., Structure ofEconomic Theories (Anm. 25).

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In der Tat findet sich bei Friedrich und Brzezinski (im Keim) ein solches Anfangsmodell, mit dem die Entwicklung einer totalitären Diktatur zumindest ansatzweise erklärbar wird. So können die sechs Wesensmerkmale als Hauptfaktoren eines derartigen Anfangsmodells interpretiert werden. Hinsichtlich der Art des Zusammenwirkens dieser sechs Faktoren heißt es bei Friedrich und Brzezinski: "[ ... ] in der Tat sind diese sechs Wesenszüge aus einer Reihe von Eigenschaften zusammengesetzt. Auch sind sie miteinander verkoppelt und unterstützen sich gegenseitig'm, und in der englischen Originalausgabe findet sich noch der Zusatz, "wie es in organischen Systemen üblich ist". 28 Friedrichs Verweis auf Bertalanffys Systemtheorie29 macht zusätzlich deutlich, daß das Zusammenwirken der Hauptfaktoren in einem funktionalistischen, d.h. klassisch-systemtheoretischen Sinne konzipiert wird: Demnach sind die sechs Merkmale flireinander funktional, d.h. sie unterstützen sich in ihrem Funktionieren und ihrer Aufrechterhaltung gegenseitig, sobald sie in der historischen Entwicklung eines Landes einmal eine bestimmte Ausprägung erfahren haben - sie bilden also einen Regelkreis. Zwar steht bei Friedrich und Brzezinski die historisch-empirische Beschreibung der sechs Merkmale eindeutig im Vordergrund, so daß sie nur am Rande als Bestandteile eines "totalitären Regelkreises" thematisiert werden. Dennoch läßt sich aus dem Argumentationszusammenhang rekonstruieren, welche Rückkoppelungsbeziehungen die Autoren zwischen den sechs Merkmalen vermuten. So halten Friedrich und Brzezinski zum Beispiel den Terror aus mehreren Gründen fllr funktional notwendig: Er dient z.B. dazu, die Bevölkerung von widerständigem Verhalten abzuschrecken 30, das aufgrunddes extremen Machtungleichgewichtszwischen Parteielite und Bevölkerung (das sich im dreifachen Monopol des Parteistaats über Zwangsmittel, Massenkommunikationsmittel und die wichtigsten Wirtschaftsunternehmen äußert, d.h. in den Wesensmerkmalen [4], [5] und [6]) normalerweise zu erwarten wäre. In Form von Säuberungen garantiert der Terror der Geheimpolizei, daß M~inungsgruppen in der Partei sich nicht zu offen rivalisierenden Fraktionen organisieren, was die hierarchische Struktur (Wesensmerkmal [2]) und ideologische Einheitlichkeit (Wesensmerkmal [1]) des Parteistaats gefährden würde. 31 Darüber hinaus sind Säuberungen in dem Sinne systemfunktional, daß sie die Mitglieder von Partei- und Funktionselite zur Leistungsbereitschaft anstacheln, die in einem totalitären 27 28 29

30 31

C. J. Friedrich (Anm. 2), S. 19. C.J. Friedrich/Z. K. Brzezinski (Anm. 9), S. 9. C. J. Friedrich (Anm. 2), S. 19 bzw. S. 273, FN 9. Vgl. ebd. S. 122-140, insbes. S. 129 f., S. 140. Vgl. ebd. S. 141-144.

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System wegen des FehJens praktikabler Kontrollmechanismen gegenüber diesen Schichten anderweitig nicht garantiert werden kann.32 Zudem verschaffen intraelitäre Säuberungen der Bevölkerung eine "grimmige Genugtuung darüber, daß die Unterführer, die Bürokraten und die Parteifunktionäre, auch stürzen können"33, was es dem "einfachen Mann" ermöglicht, sich mit dem extremen Machtungleichgewicht zwischen den leitenden Funktionären des Parteistaats und der Bevölkerung abzufinden. Die Hypothese eines Regelkreiszusammenhangs zwischen den sechs Wesensmerkmalen fUhrt - wenn man den möglichen Einfluß externer Faktoren unberücksichtigt läßt - konsequenterweise zu der Annahme, daß ein totalitäres Regime sich im Zeitverlauf einem stabilen Gleichgewichtszustand annähert, so daß es von innen heraus nicht mehr wesentlich zu verändern oder gar zu beseitigen ist. Diese Argumentationsfigur entstammt dem klassischen funktionalistischen Denken, dessen Vertreter dazu neigen, für soziale Systeme eine "Teleologie des Gleichgewichts" zu unterstellen. 34 Wenn nämlich jene sechs Faktoren die wesentlichsten, d.h. prägendsten Aspekte des Systems darstellen, dann kann die nach Art eines Regelkreises ablaufende Reproduktion des Systems durch sekundäre endogene Faktoren höchstens modifiziert, nicht aber grundsätzlich verändert werden. Dieses Argument, das sie~ aus dem Postulat theoretischer Konsistenz des Ansatzes zwingend ergibt, läßt sich mit einer zentralen Überlegung Friedrichs operationalisieren: Die Möglichkeiten totalitärer Machthaber zur "Durchherrschung" und Kontrolle der Gesellschaft sind aus strukturellen Gründen derart umfassend, daß ernsthafter Widerstand, der das Regime geflihrden könnte, normalerweise gar nicht erst entsteht: "Die totalitäre Beherrschung aller Mittel der Massenmitteilung wie auch von Telephon, Telegraph, usw., das vollkommene Monopol aller Waffen und die intensive Überwachung aller Menschen durch die Geheimpolizei mit allen Mitteln moderner Technik, diese und andere für die totalitäre Diktatur typischen Verhältnisse machen es aussichtslos, eine Opposition und Widerstandsbewegung von Belang zu schaffen."35 Zwar gibt es nach Friedrich sogenannte "Inseln der Absonderung", in denen der totalitäre Herrschaftsanspruch aus strukturellen Gründen nur unvollständig 32

Vgl. ebd., S. 142 f.

33

Ebd., S. 144. Zu den Rückkoppelungsbeziehungen, die von den übrigen "Wesensmerkmalen" ausgehen, siehe die entsprechenden Kapitel in C.J. Friedrich (Anm. 2) und inbesondere das Schlußkapitel, in dem sich u.a. wichtige Hypothesen zur Funktionalität einer zentralen Wirtschaftslenkung finden. 34

Vgl. zu diesen Theorien (sowie zu "funktionalistischen Ansätzen" im weiteren Sinne) Jonathan H. Turner, The Structure ofSociological Theory, Homeword 1978, insbes. S. 19-117.

35

C.J. Friedrich (Anm. 2), S. 255.

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verwirklicht werden kann, und es gibt Gelegenheiten flir Sabotagehandlungen und passiven Widerstand, aber "bei all dem" - wie Friedrich meinte - müsse "man sich aber darüber klar sein, daß keine dieser Unternehmungen und Handlungen die Macht eines totalitären Regimes ernstlich bedroht" 36 • Im Rahmen von Friedrichs Ansatz ist der Sturz ausgereifter totalitärer Diktaturen also nur denkbar, wenn äußere Einflüsse - wie z.B. kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Staaten - oder besondere Konstellationen innerhalb eines totalitären Staatenbunds in Rechnung gestellt werden. Für Standardfälle (im methodologischen Sinn), d.h. flir totalitäre Metropolen unter Bedingungen geringer äußerer Einflüsse 37, prognostizierten Friedrich und Brzezinski daher, daß diese Regime ihre totalitären Züge im Trend "zunehmend durchbilden". 38 Eine Rückbildung zu einer traditionellen Autokratie im Zuge des technologischen und ökonomischen Fortschritts - wie dies etwa Modemisierungstheorien behaupteten - hielten die Autoren flir "nicht sehr wahrscheinlich". 39 Lediglich Satellitenländer innerhalb eines totalitären Staatenbunds nahmen sie von dieser Einschätzung aus, denn hier sahen sie Faktoren gegeben, die aus der besonderen internationalen Lage dieser Länder (d.h. aus bestimmten externen Gegebenheiten) resultierten und die im Prinzip bewirken konnten, daß sich die Neigung der Bevölkerung zu widerständigem Verhalten bedeutend erhöhte40, so daß hier ein endogener Zusammenbruch denkbar war. 41 Diese Argumentation soll hier etwas ausführlicher erläutert werden, da ihre Struktur die Vorannahmen der Autoren über den unterschiedlichen "Wesentlichkeitsgrad" bestimmter Faktoren wiederspiegelt. Zwingt eine militärisch stärkere totalitäre Staatsmacht einem militärisch schwächeren Land ein totalitäres System auf und integriert dieses Land als 36

Ebd., S. 251. Friedrich hat nirgendwo eine langfristige Tendenz zur Ausweitung dieser ,.Inseln der Absonderung" angenommen oder gar begrUndet Vgl. ebd., S. 214-234. Deshalb kann Friedrichs Ansatz nicht zu denjenigen ,.Totalitarismus-Theorien" gerechnet werden, die laut Karl Graf Ballestrem jene ,.Gegenkräfte" beschrieben haben, die zum Sturz "totalitärer Systeme" 198991 filhrten. Vgl. Karl Graf Ballestrem, Aporien der Totalitarismus-Theorien, in: Jahrbuch Politisches Denken 1991, Stuttgart 1992, S. 50-67, insbes. S. 66. J7

Zur Kategorie "geringe äußere EinflUsse" zählten die Autoren alle Formen friedlicher Koexistenz. Diese Art der Operationalisierung der Kategorie "geringer äußerer Einfluß" ist, wie unten gezeigt wird, sehr problematisch. 38

39

C. J. Friedrich (Anm. 2), S. 264. Ebd., S. 265.

40

Ebd., S. 251 f. Vgl. hierzu genauer Achim Siegel, Carl Joachim Friedrich's Concept ofTotalitarian Dictatorship: A Reinterpretation, in: Ders. (Hrsg.), The Totalitarian Paradigm after the End ofCommunism. Towards a Theoretical Reassessment, Amsterdam - Atlanta 1998, S. 273-302. 41

C.J. Friedrich (Anm. 2), S. 263.

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"Satelliten" in ein von ihr dominiertes Staatensystem, so ist in diesem Land mit einer (im Vergleich zur totalitären Metropole) erhöhten Neigung zum Widerstand zu rechnen: In Satellitenländern kommt nämlich zum genuin antitotalitären Widerstand, der zu schwach ist, um ein totalitäres Regime gefahrden zu können, stets noch eine weitere Komponente hinzu: Widerstand gegen eine "von außen oktroyierte Fremdherrschaft"42 : "Bei der allgemeinen Betrachtung des Widerstands muß man interne Widerstandsbewegungen von solchen unterscheiden, denen sich der "nationale" Gedanke beimischt. Der interne Widerstand richtet sich gegen den Totalitarismus als solchen, der andere hingegen will einen fremden Eroberer abschütteln. Man muß sich daran erinnern, daß diese Form nationalen Widerstandes nicht nur Widerstand gegen ein totalitäres Regime ist. Denn ein solcher Widerstand ist in dem Geftihl der nationalen Freiheit und des Patriotismus verwurzelt. Das war auch das "Leitmotiv" der Widerstandsbewegungen gegen die deutschen Eroberer im zweiten Weltkrieg, in Frankreich, in Serbien und auch sonst, wie es auch eine Hauptursache des Widerstands in der Sowjetzone ist. Solcher Widerstand hat eine sehr andere psychologische Basis als der aussichtslose interne Widerstand - besonders dann, wenn er kräftig von außen unterstützt wird wie der französische Widerstand nach 1942. Immerhin läßt sich hier nicht scharf unterscheiden, wie sich bei den Aufständen in Ostdeutschland 1953 und in Ungarn 1956 gezeigt hat [... ]." 43 Friedrich und Brzezinski berücksichtigen bei der Analyse derartiger internationaler Konstellationen noch einen zusätzlichen Aspekt, der zu Anfang vernachlässigt werden mußte: den (sekundären) Faktor der proklamierten Endziele totalitärer Machthaber. Wenn - so argumentieren die Autoren - ein Staat, der einem anderen ein totalitäres Regime aufzwingt, statt einer Ideologie mit universalistischen Zielen eine Ideologie mit partikularistischen (z.B. nationalistischen oder rassistischen) Zielen verfolgt, ist der Widerstand der Bevölkerung in dem betreffenden Satellitenland in der Regel noch höher als in der zuvor beschriebenen Situation. Mit dieser Überlegung erklären die Autoren ihren empirischen Befund, daß "die nationalsozialistische Diktatur sehr viel heftigeren Widerstand herausgefordert hat als die Sowjets": "Das nationalsozialistische Programm war, und das ist das Entscheidende, mit Bezug auf die besetzten Länder rein negativ. Daher wurde sich die gesamte Bevölkerung bald darüber klar, daß sie auch auf lange Sicht wenn nicht zur vollkommenen Ausrottung, dann zu einem zweitrangigen Status verdammt sein würde. Die Nationalsozialisten proklamierten dies ganz offen, und ihre Handlungsweise hat gezeigt, wie ernst sie es damit meinten. So kam es denn, daß der Bevölkerung gar nichts anderes übrigblieb als Widerstand zu leisten, da ihre Schulen geschlossen, ihre 42

43

Ebd., S. 253. Ebd., S. 251 f.

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früheren Erwerbsmöglichkeiten weitgehend verloren und ihre Wirtschaft durch Ausbeutung zugrunde gerichtet waren. [... ] Die Sowjets dagegen maskieren ihre Gewalttätigkeit sehr sorgfiiltig, wofür die Geheimhinrichtungen im Walde von Katyn ein Beispiel sind. Zugleich erklären sie laut, daß sie als Freunde des Volkes kämen, und sie proklamieren allgemeingültige Ziele, wie etwa die Industrialisierung, als Aufgabe und geben daher der Bevölkerung auch Hoffnung. Demzufolge ist die politische Opposition in einem schwierigen Dilemma. Widerstand kann weiteres Verhängnis bedeuten, weil er die Sowjets zu radikaleren Maßnahmen verleiten könnte. Auch kann die Jugend, selbst wenn sie dem Regime ablehnend gegenübersteht, nicht übersehen, wie große Vorteile sich aus der Zusammenarbeit insbesondere im nicht-politischen Bereich ergeben. Da ist es dann leicht, die Unterlassung jeden Widerstands vor sich und anderen zu rechtfertigen." 44 Friedrich und Brzezinski berücksichtigen also zusätzlich noch die verschiedenartigen inhaltlichen Zielbestimmungen totalitärer Ideologien und gewichten diese hinsichtlich ihres Einflusses auf Struktur und Dynamik totalitärer Regime. Da die unterschiedlichen Ziele offenbar nur im Zusammenhang mit besonderen internationalen Konstellationen für derart signifikant gehalten werden, daß sie die Struktur und Dynamik totalitärer Regime wesentlich beeinflussen, ist es gerechtfertigt, sie lediglich als sekundäre Faktoren aufzufassen. Friedrichs und Brzezinskis Argumentation weist in dieser Perspektive eine Struktur "abnehmender Abstraktion" auf, d.h. die Argumentation wird mit der sukzessiven Einbeziehung sekundärer Aspekte zusehends komplexer und konkreter. Friedrichs und Brzezinskis Ansatz enthält also nicht nur die Konstruktion eines Begriffs totalitärer Diktatur und historische Illustrationen des Begriffsinhalts, sondern ansatzweise auch eine funktionalistische Theorie totalitärer Systeme. Dies wird zumeist übersehen, was nicht verwundert, da selbst die Autoren die genuin theoretischen Aspekte ihres Ansatzes vernachlässigten und nur am Rande erwähnten. Aber genau dies, nämlich die theoretische Modeliierung der Entwicklung einer totalitären Diktatur ist unerläßlich, damit man bestimmte Vorannahmen über den unterschiedlichen "Wesentlichkeitsgrad" von Faktoren rechtfertigen kann. Andernfalls bleiben diese Vorannahmen bloße Intuitionen, und unfruchtbare Auseinandersetzungen mit Autoren andersartiger Vorannahmen können die Folge sein - insbesondere dann, wenn diese Autoren ihre Vorannahmen ebenfalls unzureichend rechtfertigen.

44

Ebd., S. 254.

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5. Zur Frage der Falsifikation der klassischen Totalitarismustheorie Friedrichs Wie steht es um die Angemessenheit von Friedrichs und Brzezinskis Konzeption totalitärer Herrschaft bzw. einer Theorie, die sich hieraus rekonstruieren läßt? Ist diese Theorie nicht durch die historische Entwicklung falsifiziert worden? Was den ursprünglichen Ansatz aus den 50er Jahren betrifft, so entsprach zwar der Untergang des italienischen Faschismus und auch des Dritten Reiches dem in der Theorie unterstellten Bild, aber die historische Entwicklung kommunistischer Systeme nach Stalins Tod war damit nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen. Denn die nach-stalinistischen Systeme, die sich evolutionär nämlich durch Reformen - aus dem Stalinismus heraus entwickelten, kamen ohne Massenterror und Säuberungen aus. Ja, sie schienen sogar stabiler als die terrorgestützten Systeme der Stalin-Ära. Diese historische Entwicklung widersprach Friedrichs Hypothese eines Regelkreiszusammenhangs zwischen den sechs "Wesensmerkmalen", wie er sie ursprünglich konzipiert hatte. Denn die Annahme eines Regelkreises impliziert, daß die "Zerstörung eines wesentlichen Teils eines Systems die Zerstörung des gesamten Systems zur Folge hat". 45 Wäre Terror also tatsächlich ein Wesensmerkmal in diesem Sinne gewesen wie von Friedrich und Brzezinski ursprünglich behauptet -, dann hätte der Übergang zu den ohne Massenterror auskommenden nach-stalinistischen Systemen gar nicht erfolgen dürfen. Daher modifizierte Friedrich in den sechziger Jahren sein früheres Konzept, indem er das Merkmal "terroristisch operierende Geheimpolizei" durch "voll entwickelte Geheimpolizei"46 ersetzte. Diese Veränderung implizierte, daß die notwendige systemstabilisierende (d.h. potentiellen Widerstand hemmende) Funktion, die Friedrich bislang dem Terror zugemessen hatte, nun der Wirkungsweise der anderen Hauptfaktoren zugerechnet werden mußte - andernfalls hätten noch umfangreichere Änderungen am klassischen Konzept vorgenommen werden müssen. Friedrich argumentierte denn auch, daß in einer "reifen", d.h. etwa 15 Jahre und länger existierenden totalitären Diktatur das Erziehungs- und Bildungswesen sowie die Permanenz der Propaganda47 in Verbindung mit einer "voll entwickelten Geheimpolizei" ausreichten48, damit potentieller Widerstand (unter sonst gleichen Bedingungen) verhindert bzw. erstickt und somit das totalitäre System einem stabilen Gleichgewichtszustand angenähert werden könne. Aus der Perspektive der 60er Jahre 45 46

47

So Friedrich in Anlehnung an Bertalanffy. Vgl. ders. (Anm. 2), S. 273, FN 9. Ders., Evolving Theory (Anm. 12), S. 126.

Die sozialisatorische Funktion des totalitären Erziehungs- und Bildungswesens sowie die Auswirkungen totalitärer Propaganda konzipierte Friedrich offenbar als Teilfunktionen des parteistaatlichen Monopols über die Massenkommunikationsmittel.

48

Vgl. ebd., S. 143-145.

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sah Friedrich Terror zum einen also nicht mehr als unverzichtbar an, weil in reifen Totalitarismen die sozialintegrative Funktion, die der Terror in den Entstehungs- und Reifungsphasen totalitärer Diktaturen tatsächlich hatte, von anderen Wesensmerkmalen (Hauptfaktoren) übernommen werden konnte. Zum anderen betrachtete Friedrich Terror nun auch als potentiell dysfunktional, da er eine im Ausmaß unerwartete Eigendynamik entfalten könne - Friedrich verwies hierbei auf die Dynamik der Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion sowie der Kulturrevolution im maoistischen China. 49 Terror hatte sich also - entgegen seinen ursprünglicher Annahmen - als ein lediglich temporär notwendiges Merkmal erwiesen. Ftir die Aufrechterhaltung einer reifen totalitären Diktatur d.h. zur Aufrechterhaltung eines einmal etablierten totalitären Regelkreises war Terror allerdings entbehrlich. Friedrich faßte seine diesbezüglichen Argumente folgendermaßen zusammen: "Where total change is intended, massive resistance is engendered; to break it, the adversaries of the regime have to be terrorized into submission. [ ... ] The brutal, premeditated violence of the terror becomes thus rationally justified. Such totalitarian terror grows until it reaches the Iimit where it becomes self-defeating, as happened in the Soviet Union in the mid-l930s and again toward the end of Stalin' s rule; it seems to have been reached in Maoist China. lndifference and apathy among the workers are clear signs of it. These may in part be overcome by a vigorous effort at increasing consensus, especially as the efforts at indoctrination through education bear fruit. On this score, obviously a regime which has Iasted more than fifteen to twenty years has a distinct advantage." 50 Diese Änderung seines ursprUngliehen Ansatzes ermöglichte es Friedrich, alle wichtigen übrigen Argumente beizubehalten - insbesondere die Annahme eines Regelkreiszusammenhangs zwischen den Hauptfaktoren; er mußte also im Grunde nur einen der sechs Hauptfaktoren etwas anders konzipieren, damit die reale historische Entwicklung nicht mehr dem theoretisch angenommenen Entwicklungsbild widersprach. Die terroristischen Regime Hitlers und Stalins fielen zwar nach wie vor unter den Begriff der "totalitären Diktatur"; wegen ihres Übermaßes an terroristischer Gewaltanwendung (gemessen am Idealtyp des reifen Totalitarismus) verkörperten sie jedoch nicht länger den Idealtyp eines totalitären Systems, sondern eine deutliche, historisch-genetisch zu erklärende Abweichung davon.51 Die dem neu konzipierten Idealtyp am nächsten stehen49

..

Die Uberlegung, daß der Terror auch dysfunktional werden könne, findet sich zwar bereits im klassischen Ansatz (vgl. C.J. Friedrich [Anm. 2], S. 145); das Ausmaß der durch Säuberungen entstehenden Destabilisierung des Systems schätzte Friedrich in den 60er Jahren aber deutlich höher ein. 50 51

C.J. Friedrich, Evolving Theory (Anm. 12), S. 145. Vgl. ebd., S. 131.

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den Regime sah Friedrich nun in den Regimen der Breschnew-Ära. Friedrichs Modifizierung stellte also eine notwendige Korrektur und - jedenfalls im Rahmen seiner bislang benutzten kognitiven Schemata - einen Erkenntnisfortschritt dar. Es ist daher unangemessen, in bestimmten politisch-propagandistischen Interessen Friedrichs - seinen "handfesten antikommunistischen Tendenzen" (Jänicke)- den Grund für die Veränderung des klassischen Begriffs der totalitären Diktatur zu sehen. 6. Zur Frage der Falsifikation der modifizierten Totalitarismustheorie Friedrichs

Abschließend möchte ich noch auf die neuesten Einwände gegen Friedrichs Totalitarismuskonzept eingehen. Der Zusammenbruch des Kommunismus 1989-91, so heißt es oft, falsifiziere auch den modifizierten Ansatz (und damit ebenso, so können wir nun ergänzend hinzufugen, die modifizierte Konzeption von angeblichen "Wesensmerkmalen" kommunistischer Systeme und die Aussage, NS-System und nach-stalinistische Regime seien "wesensgleich"). In der Tat könnte es auf den ersten Blick scheinen, als ob der Sturz kommunistischer Systeme in Europa, der ja maßgeblich durch Gorbatschows Reformpolitik eingeleitet wurde, auch das modifizierte Konzept falsifiziere. Denn die Beobachtung, daß der Zusammenbruch durch die Perestrojka - aus dem "Innern des Systems" also - induziert wurde 52 , scheint der aus dem Friedrichschen Anfangsmodell folgenden Aussage zu widersprechen, der Zusammenbruch eines totalitären Systems könne keine endogenen Ursachen haben. Vergegenwärtigt man sich aber, daß dieses Anfangsmodell nur die wesentlichsten systeminternen Faktoren simuliert, hingegen den Einfluß sekundärer endogener Faktoren ebenso wie den Einfluß systemexterner Faktoren zunächst unberücksichtigt lassen muß, dann ist dieses Urteil voreilig. Denn man könnte in einem abgeleiteten Modell versuchen, Reformversuche in totalitären Systemen (wie z.B. Gorbatschows Perestrojka) als Reaktion auf bestimmte externe Entwicklungen zu modellieren. So ließe sich plausibel machen, daß die Entstehung und Durchset52

Daß die Liberalisierung im Zuge der Perestrojka (und damit auch die faktische Aufhebung der Breschnew-Doktrin) die entscheidende Voraussetzung für den Sturz der kommunistischen Systeme in Europa war, wird von vielen - wenn nicht den meisten - Beobachtern unterstellt. Interessante Explikationen dieser Unterstellung finden sich vor allem in Ansätzen, die Rationai-ChoiceModelle zur Erklärung der "friedlichen" bzw. "samtenen" Revolutionen verwenden. Vgl. z.B. für den Fall der DDR Kari-Dieter Opp, DDR '89. Zu den Ursachen einer spontanen Revolution, in: Hans Joas/Martin Kohli, Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt!M. 1993, S. 194-221 ; Bemhard Prosch/Martin Abraham, Die Revolution in der DDR. Eine strukturellindividualistische Erklärungsskizze, in: Kötner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 291-301 ; Manfred Tietzei/Marion WeberlOtto F. Bode, Die Logik der sanften Revolution. Eine ökonomische Analyse, Tübingen 1991.

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zung einer entschiedenen Reformpolitik in der Sowjetunion ab 1986 als Reaktion auf den wachsenden technologischen Rückstand der kommunistischen Länder im Vergleich zu den technologisch fortgeschrittensten westlichen Ländern war. Dieser wachsende Rückstand war bereits seit den siebziger Jahren an der sehr viel schnelleren Verbreitung von Mikroprozessoren im Westen ablesbar; am akutesten fiihlbar war er vermutlich in der Militärtechnologie, als die USA in den 80er Jahren daran gingen, ihr SDI-Projekt zu planen. Die innenpolitischen Auswirkungen dieser externen Entwicklung lassen sich anband einer einfachen Überlegung verdeutlichen: Um weiterhin auf Dauer ein atomares Patt halten zu können, hätte die Sowjetunion ihre Rüstungsanstrengungen erheblich steigern müssen und einen noch geringeren Teil des Sozialprodukts fiir Sozialleistungen und die Produktion von Konsumgütern verwenden können. Das hätte - insbesondere im Fall eines länger anhaltenden absoluten Rückgangs an Konsumgütern - die Unzufriedenheit in der Bevölkerung bedeutend erhöht und möglicherweise die Gefahr ernsthafter Unruhen heraufbeschworen. 53 Daher kann man argumentieren, daß den sowjetischen Machthabern nicht viel anderes übrigblieb, als sich auf das Wagnis der Perestrojka einzulassen, um einerseits die außenpolitische Konfliktkonstellation zu entschärfen und andererseits das System im Innern zu reformieren, damit es wirtschaftlich effizienter werde. 54 Aus den früheren, sehr begrenzten Wirtschaftsreformversuchen hatte man offenbar die Lehre gezogen, daß diesmal die Reformen - um einer dauerhaften Effizienzsteigerung willen - nicht bei geringfilgigen Veränderungen im wirtschaftlichen Lenkungssystem stehen bleiben konnten. 55 Aus totalitarismustheoretischer Sicht setzten die systemgeflihrdenden Wirkungen der Reformen ein, als die Massenmedien geöffnet wurden, d.h. als das Informationsmonopol der Partei und damit eines der sechs "Wesensmerkmale" totalitärer Diktaturen auf53

..

Diese Uberlegung erscheint angesichts des Ablaufs vergangener Unruhen in der Sowjetunion durchaus realistisch. Vgl. zu den Unruhen und Streiks seit Ende der fllnfziger Jahre Karl Schlögel, Der renitente Held. Arbeiterproteste in der Sowjetunion, 1953-1983, Harnburg 1984; Betsy Gidwitz: Labor Unrest in the Soviel Union, in: Problems of Communism 31 ( 1982), S. 25-42. 54 ..

Ahnlieh argumentieren z.B. Victor Nee/Peng Lian, Sleeping with the Enemy: A Dynamic Model ofDeclining Political Commitment in State Socialism, in: Theory and Society 32 (1994), S. 253-295, insbes. S. 259f; Anders Aslund, Gorbachev's Struggle for Economic Reform, Ithaca 19912, insbes. S. 12-24. 55

Vgl. z.B. Moshe Lewin, The Gorbachev Phenomenon. A Historical Interpretation, Expanded Edition, Berkeley - Los Angeles 1991. Zu den sowjetischen Wirtschaftsreformen vor I 987 vgl. z.B. Moshe Lewin, Stalinism and the Seeds of Soviel Reform: The Debates of the 1960s, London 1991; Wladyslaw Jermakowicz/Jane Thompson Follis, Reform Cycles in Eastem Europe, 19441987. A Comparative Analysis from a Sampie of Czechoslovakia, Poland, and the Soviet Union, Berlin 1988. Warum die bis 1987 in der UdSSR angestellten partiellen Reformen nur zu einer temporären Effizienzsteigerung fUhren konnten, wird ebd., S. 53 ff. gezeigt; vgl. zu diesem Argument auch die entsprechenden Kapitel in Peter Dobias, Theorie und Praxis der Planwirtschaft, Paderbom 1977; Jänos Komai, Highway and Byways, Cambridge 1995, Kapitel I.

Diktaturvergleich und Totalitarismustheorie

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gehoben wurde. Entgegen der ursprünglichen Absichten der Refonner, jedoch ganz im Sinne der Totalitarismustheorie führte dies dazu, daß Dissens zunehmend häufiger und massiver geäußert wurde und sich immer mehr Widerstand gegen das Regime fonnierte. 56 Da also mit der Öffnung der Massenmedien, um mit Carl J. Friedrich zu sprechen, das "totalitäre Syndrom" bzw. der totalitäre Regelkreis aufgebrochen wurde, mußte dies letztlich zum Zerfall des gesamten Systems flihren. 57 Diese Andeutungen sollten zeigen, daß es möglich ist, den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme im Rahmen des (modifizierten) Totalitarismusansatzes plausibel zu interpretieren. Daß das Anfangsmodell die Genese ernsthafter. Refonnversuche in "totalitären Regimen" nicht erklären kann, ist noch kein Argument gegen die Gültigkeit des gesamten Ansatzes. Da eine solche Erklärung in einem abgeleiteten Modell durchaus gelingen könnte, kann das modifizierte Totalitarismuskonzept Friedrichs in seinen Grundzügen (noch) nicht als falsifiziert betrachtet werden. Dies bedeutet nicht, daß andere Varianten der Totalitarismustheorie (oder auch völlig anders geartete Theorien über die Diktaturen unseres Jahrhunderts) nicht als Grundlage eines Diktaturvergleichs verwendet werden könnten. Andere Theorien, die endogenen Veränderungen totalitärer Systeme einen wesentlich größeren Stellenwert zumessen, mögen unter Umständen den beobachteten Wandel und schließliehen Sturz kommunistischer Systeme sogar überzeugender erklären können und daher angemessenere Kategorien flir einen Diktaturvergleich bereithalten als die Totalitarismustheorie Friedrichs58 ; dies ist jedoch bei weitem nicht offensichtlich und wäre erst noch nachzuweisen. Da gezeigt wurde, daß Friedrichs Ansatz entgegen der gängigen Meinung nicht als falsifiziert zu gelten hat, tut man in jedem Fall gut daran, diesen Ansatz nicht vorschnell zu verwerfen. Friedrichs Theorie kann also - in der rekonstruierten Fonn - weiterhin als Grundlage von Diktaturvergleichen und sogar von Aussagen über die Wesensgleichheit verschiedener "totalitärer Diktaturen" dienen. 56

Vgl. hierzu die an Friedrichs Ansatz orientierte Erklllrungsskizze von Rasma Karklins, Explaining Regime Change in the Soviet Union, in: Europe-Asia-Studies 46 (1994), S. 29-45 . 57

Diese Erklärungsskizze widerspricht allerdings Friedrichs Vorstellungen von der Einflußstärke alljener "externen Faktoren", die im Rahmen friedlicher Koexistenz wirken können. Friedrich konzipierte, wie oben angedeutet (vgl. Anm. 37), externe Faktoren lediglich in Form direkter militllrischer Konfrontationen als imstande, den totalitären Regelkreis nachhaltig zu stören. Vertritt man also eine Erklärung, wie ich sie eben skizziert habe, dann impliziert dies eine Korrektur der Friedrichschen Operationalisierung "relevanter äußerer Faktoren'·. 58

Eine an den Totalitarismuskonzepten Juan Linz' und Hannah Arendts orientierte Erklärungsskizze des Wandels und Sturzes kommunistischer Systeme findet sich z.B. bei Mark R. Thompson, Neither Totalitarian nor Authoritarian: Post-Totalitarianism in Eastem Europe, in: A. Siegel (Anm. 40), S. 303-328.

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7. Zusammenfassung Diktaturvergleiche bergen theoretische Folgeprobleme, wenn sie Annahmen über die unterschiedliche Bedeutsamkeit der untersuchten Vergleichsmerkmale beinhalten und die Inhalte derartiger Annahmen nicht als Selbstverständlichkeiten unterstellt werden können . Etwaige Aussagen über die "primäre" bzw. "sekundäre Relevanz" eines Vergleichsgesichtspunkts sollten durch ein entsprechendes System theoretischer Aussagen gerechtfertigt werden können. Andernfalls bleiben derartige Behauptungen eines "Wesenscharakters" apodiktisch und haben lediglich den Status von Intuitionen. Carl Joachim Friedrichs Totalitarismuskonzept beinhaltet derartige Vorannahmen über den "Wesenscharakter" bestimmter Merkmale, die ihn von einer "Wesensgleichheit" verschiedener totalitärer Diktaturen sprechen lassen. An Friedrichs Argumentation anknüpfend läßt sich jedoch eine Theorie totalitärer Systeme bilden, wobei die Struktur dieser Theorie die Behauptung des "Wesenscharakters" jener sechs Merkmale rechtfertigt - dies natürlich nur für den Fall, daß diese Entwicklungstheorie nicht durch die historische Entwicklung "totalitärer Systeme" falsifiziert ist. Entgegen weitverbreiteter Annahmen können die Kernaussagen in Friedrichs Ansatz (in seiner in den 60er Jahren modifizierten Form) vorerst nicht als falsifiziert angesehen werden. Es gibt daher keinen zwingenden Grund, Friedrichs (modifiziertes) Konzept als Grundlage eines Diktaturvergleichs aufzugeben. Allerdings ist eine weitere Konkretisierung dieser Theorie notwendig, damit ihre Aussagen hinreichend präzisiert werden können.

Lothar Fritze HERRSCHAFT UND KONSENS ÜBER STABILITÄTSBEDINGUNGEN VON WELTANSCHAUUNGSDIKTA TU REN I. Einleitung Die Stabilität von Weltanschauungsdiktaturen kann allein durch den Hinweis auf Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen nicht hinreichend erklärt werden. Selbst die ausgeprägtesten Systeme dieser Art, die Hitler- und die Stalin-Diktatur, konnten auf die Unterstützung, die Zustimmung oder zumindest die Duldung durch breite Volksmassen setzen. Dieses Phänomen ist nicht zu verstehen ohne die Annahme, daß auch derartige Systeme den ihnen ausgesetzten Bürgern Identifikationsmöglichkeiten bieten können, womit zumindest ein Partialkonsens zwischen Herrschern und Beherrschten hergestellt werden kann. Mit der Untersuchung von Voraussetzungen, die ideologiegeleitete Diktaturen ermöglichen und stabilisieren, wird zugleich das Ziel verfolgt, die Verflihrungskraft der Ideen zu erkunden, auf denen sie beruhen. Eine Vergegenwärtigung der Hoffnungen und Illusionen, die durch solche Ideen geweckt werden, kann entsprechende Defizite der modernen westlichen Gesellschaften verdeutlichen. Inwiefern eine vergleichende Erforschung von Diktaturen hierbei hilfreich ist, muß sich erweisen. Soll die Stabilität von sozialen Systemen verstanden werden, dann ist es unverzichtbar, sich auf die Sichtweise der Menschen einzulassen, die in diesen Gesellschaften leben. Ebenso werden wir Weltanschauungsdiktaturen, ihre Entstehung, ihre Stabilität und ihren Untergang, nur dann verstehen, wenn wir die Menschen verstehen lernen, die sich filr sie einsetzten, wenn wir begreifen, warum sich Menschen flir revolutionäre Umstürze begeistern, warum sie sich von entsprechenden Ideen mitreißen lassen, was sie bewegt, sich unterzuordnen und sogar Repressalien zu ertragen, was sie dazu bringt, sich an Verbrechen gutwillig zu beteiligen. Üblicherweise messen die involvierten Menschen Gesellschaften an deren Fähigkeit, ihnen die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zu ermöglichen. Identifikationsmöglichkeiten ergeben sich flir die Menschen in dem Maße, in dem ihre diesbezüglichen Erwartungen erfiillt werden. Die tatsächlichen ldenti-

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fikationen, die in den Diktaturen unseres Jahrhunderts zu beobachten waren, sind dann plausibel erklärbar (so die These, die ich im folgenden vertreten möchte), wenn angenommen wird, daß die in Rede stehenden Systeme in der Lage sind oder waren, "echte" menschliche Bedürfnisse zu befriedigen - also nicht nur solche, die auf diese oder jene Weise in diesen Systemen oder durch diese Systeme erzeugt worden sind. Eine Untersuchung der Bedingungen der Stabilität solcher Systeme sowie der ihnen zugrundeliegenden Ideen hat daher die Bedürfnisse aufzudecken, flir deren Befriedigung sie sich als geeignet erweisen bzw. deren Befriedigung versprochen wird.

2. Grundbedürfnisse als anthropologische Universalien Der Mensch kann als eine integrale Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Vernunftwesen aufgefaßt werden. Damit ist zugleich eine Annahme über die Struktur seiner fundamentalen Bedürfnisse getroffen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige wesentliche Bedürfnisse genannt, die ich als anthropologische Universalien betrachte. Als Naturwesen hat der Mensch ein Interesse an der Reproduktion seiner Existenzbedingungen. Sein Streben ist - wie das Streben jeglicher materieller Systeme - primär auf Selbsterhaltung ausgerichtet. Die Erhaltung seiner selbst ist dem Menschen nicht tatenlos geschenkt. Günstige Existenzbedingungen sind stets knapp und müssen durch zielgerichtetes Handeln hergestellt werden. Die Bewältigung seines Daseins ist fllr den Menschen grundsätzlich ein Problem; ihr Gelingen ist insbesondere stets unsicher und ungewiß. Menschliches Streben nach Existenzsicherung ist daher immer zugleich ein Streben nach möglichst großen Lebenschancen, nach sicherer Reproduktion der Existenzbedingungen. Daseinsbewältigung soll mit hoher Wahrscheinlichkeit gelingen, und der Mensch will sich möglichst gewiß sein, daß sie gelingt. Als Wesen, dessen Selbsterhaltung scheitern kann, strebt er nach Sicherheit und Gewißheit.' Entsprechend dieser anthropologischen Fundamentalkonstante favorisieren viele Menschen gesellschaftliche Bedingungen, die ihnen mit möglichst großer Sicherheit die Reproduktion der notwendigen Existenzmittel gewährleisten. Soziale Sicherheit wird emotional positiv bewertet. . Die biologische Ausstattung des Menschen, wozu Triebe und Grundbedürfnisse, angeborene Verhaltensdispositionen etc. gehören, ist selbst ein sozial vermitteltes Entwicklungsprodukt Stammesgeschichtlich ist der Mensch an ein Natürlich ist der Mensch ebenso unternehmungslustig und risikofreudig; er liebt das Abenteuer und den Nervenkitzel, begibt sich in Gefahren und fordert das Schicksal heraus. Auch solche menschlichen Eigenschaften haben eine wichtige Funktion in der individuellen Daseinsbewältigung. Ihre evolutionäre Entstehung ist unter diesem Gesichtspunkt zu erklären.

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Leben in Kleingruppen mit persönlichen Bekanntschaftsbeziehungen adaptiert. Unter diesen Bedingungen existieren intensive zwischenmenschliche Bindungen und eine starke Identifikation mit der Gruppe. Ein Leben unter solchen Bedingungen empfindet der Mensch als bedürfnisadäquat Als Gesellschaftswesen hat der Mensch ein Interesse an der Herstellung und Aufrechterhaltung notwendiger oder förderlicher sozialer Beziehungen. Er möchte nützliches Glied einer Gemeinschaft sein und als solches anerkannt werden. Insofern es um Anerkennung und Selbstachtung geht, bevorzugt der einzelne solche gesellschaftlichen Bedingungen, die ihm einen möglichst günstigen gesellschaftlichen Status sichern. Daher gibt es in jeder Gesellschaft Bestrebungen, die wahrnehmbaren sozialen Unterschiede zu nivellieren. Als ein soziales Wesen möchte der Mensch Kontakte zu anderen Menschen knüpfen. Für ihn ist die Abwehr geistig-seelischer und psychischer Vereinsamung wichtig, und er schätzt dementsprechend das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Der Mensch sucht nach Daseinsvertrauen durch kollektive Einbindung, nach Halt in einem kollektiven Wir-Gefühl. Dies schließt das Bedürfnis nach Teilhabe an einem gemeinsamen Glauben ein: an gemeinsame Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, an einen kollektiven Glauben an eine zukünftige, bessere Welt. Der Mensch sucht Geborgenheit in einer Gemeinschaft, die eine weltanschauliche Überzeugung teilt. Er will teilhaben an dem Glück, das die Mitarbeit an einem kollektiven Aufbauwerk verspricht. Als Vernunftwesen schließlich ist sich der Mensch seiner Einzelheit und Einzigartigkeit, damit aber auch seiner Isoliertheit und Bedeutungslosigkeit, seiner Unabhängigkeit und Selbstverantwortlichkeit bewußt. Indem er weiß, daß Isolation und Vereinsamung sein Leben bedrohen, strebt er nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und nach Achtung durch andere. Als ein Wesen mit Bewußtsein hat der Mensch Vorstellungen von seiner Zukunft und weiß damit um die Unausweichlichkeit seines Todes. Er kann Möglichkeiten erkennen, Alternativen entwerfen und Pläne machen. Aus diesen Fähigkeiten erwächst sowohl die Hoffnung auf bessere Lebensumstände als auch das Verlangen nach einer transmortalen Zuversicht. Der Mensch möchte die Zukunft voraussehen und mitgestalten, sich in der empirischen Welt verwirklichen, ihm ist aber auch an einer Heilsgewißheit "darüber hinaus" gelegen. Als ein Wesen mit Verstand und Reflexionsflihigkeit entwickelt der Mensch spezifische Orientierungsbedürfnisse. Er möchte sich nicht nur zurechtfinden in der Natur, sondern auch in der Gemeinschaft und schätzt daher soziale Kontinuität und Stabilität. Er wünscht sich Berechenbarkeit im Sozialgefilge, insbesondere Regel- und Normensicherheit

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3. Die defizitäre Befindlichkeit des modernen Menschen Die Möglichkeiten, einige der genannten Bedürfnisse zu befriedigen, haben sich im sozialen Evolutionsprozeß der Menschheit verändert und - so die These - teilweise verschlechtert oder sind zumindest problematisch geworden. Aus soziologischer Perspektive betrachtet, in der nach Veränderungen der sozialen Beziehungen gefragt wird, erscheint für die uns interessierende Frage der Übergang von Kleingruppenverbänden zu anonymen Massengesellschaften sowie der Übergang von traditionalen Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften als bedeutungsvoll. Aus einer weltanschauungsanalytischen Perspektive gefragt, in der Bewußtseins- und Einstellungsänderungen thematisiert werden, rückt vor allem das Moment des Übergangs von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft ins Blickfeld. Diese Prozesse - die teilweise seit Jahrtausenden im Gange sind und in dem geschichtlichen Phänomen, das wir "Modeme" nennen, kulminieren - überlagern sich und können vielleicht (zumindest gilt dies für den abendländischen Westen) als Aspekte eines einheitlichen Prozesses beschrieben werden. Der Prozeß des Übergangs von Kleingruppenverbänden zu anonymen Massengesellschaften ist dadurch gekennzeichnet, daß Menschen nicht mehr auf der Basis persönlicher Bekanntschaft miteinander, sondern vor allem nebeneinander leben. 2 In Massengesellschaften kennt der einzelne nur relativ wenige Gesellschaftsmitglieder persönlich, und er kann nur zu wenigen, die er kennt, persönliche Kontakte aufrechterhalten. Der Prozeß des Übergangs von traditionalen Gemeinschaften zu modernen Gesellschaften ist wesentlich gekennzeichnet durch eine Herauslösung des einzelnen aus traditionalen sozialen Bindungen. Verwandtschaftsbeziehungen und die in diesem Rahmen gegenseitig erbrachten Fürsorgeleistungen verlieren an Bedeutung. Der einzelne muß sich in komplexen sozialen Zusammenhängen zurechtfinden, muß Vertrauensverhältnisse zu ihm unbekannten Menschen herstellen und seine soziale Position selbst bestimmen. Dies alles geht einher mit einem Verlust von Bindungs- und Versorgungssicherheit. Die psychosozialen Folgen dieser Prozesse werden zum einen unter Schlagworten wie "Verlassenheit" oder "Verlorenheit" beschrieben. Den damit angesprochenen Diagnosen ist gemeinsam, daß sie auf eine spezifische defizitäre Befindlichkeit des modernen Menschen hinweisen, auf seine "Unbehaustheit", auf einen Mangel an Geborgenheit und Wir-Gefuhl. Je geringer der Grad der persönlichen Bekanntschaft, um so ausgeprägter das Gefühl, Fremder in der

Zu Problemen der anonymen Massengesellschaft vgl. Irenaus Eibi-Eibesfeldt, Der Mensch das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft, München 1993, bes. S. 105124, 164-167.

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eigenen Gemeinschaft zu sein. Damit verbunden ist ein Vertrauensverlust zwischen den Menschen. Es sinkt der Rückhalt in der Nachbarschaft, und der einzelne ist zunehmend auf sich selbst gestellt. Mit sich abschwächenden Bindungskräften zwischen den Menschen verschärfen sich gleichzeitig die Konkurrenzsituationen. Erscheint der andere primär als Mitkonkurrent um knappe Ressourcen (statt als Gruppenmitglied, mit dem man gemeinsam dieselben Ziele verfolgt), so entsteht Einsamkeit, und es steigt die Neigung, Vorteile auch auf Kosten des anderen zu erlangen - vielleicht sogar mit illegitimen Mitteln. Die Einsamkeit in der anonymen Masse produziert Gefllhle der Unsicherheit und Angst. Notwendige Vertrauensbeziehungen müssen gezielt hergestellt werden. Zum anderen werden die psychosozialen Folgen dieser Prozesse unter den Stichworten "Atomisierung der Gesellschaft" oder "Individualisierung" abgehandelt. Die moderne Massengesellschaft ist arbeitsteilig organisiert. In dem Maße, in dem sich traditionale Lebenszusammenhänge auflösen, Stände- und Klassenschranken fallen oder zumindest immer weniger dem einzelnen seinen Platz innerhalb der Gesellschaft vorab zuweisen, muß er sich diesen Platz selbst suchen, ja erkämpfen. Der einzelne muß sich sein gesellschaftliches MitgliedSein gewissermaßen selbst organisieren; er muß die gesellschaftliche Anerkennung, die er flir seine Selbstachtung nötig hat, sich selbst beschaffen. Indem er die anfallenden Integrationsaufgaben löst, trifft er, bewußt oder unbewußt, Entscheidungen, die seinen Lebenslauf in ausschlaggebender Weise bestimmen. Jeder wird somit in höherem Maße fllr seine Biographie verantwortlich und muß sich in demselben Maße auch ein Scheitern oder Fehlplanungen als persönliches Versagen zuschreiben. 3 Obgleich maßgeblich auf sich selbst gestellt, ist der einzelne auf Chancen angewiesen, um sich in die Gesellschaft einbinden, sein Leben meistem und am - wie auch immer definierten - Erfolgsstreben teilnehmen zu können. Erweisen sich diese Partizipationschancen - vor allem in sozialen Krisenzeiten - als hochgradig defizitär, so fördert dies das Bewußtsein (oder läßt entsprechende Erfahrungen entstehen), in einer solchen Gesellschaft auch scheitern zu können und gleichsam ausgestoßen zu werden. Gesellschaftliche Regelungsdefizite begünstigen Angst und lassen nach anderen Sicherheiten Ausschau halten. Der Prozeß des Übergangs von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine fortschreitende Entfaltung von Rationalität und Individualität, wodurch sich unsere Wahmehmungsweisen, unsere Gefuhlswelten, unsere Anschauungen über die Welt, unsere Stellung zur Gesellschaft verändert haben. Metaphysische Annahmen und religiöse Glaubenssysteme gerieDazu und zu den .,immanente(n) WidersprUche(n) im lndividualisierungsprozeß" siehe Ulrich Beck, Risikogesellschal't. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt!M. 1986, S. 211 ff. 7*

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ten ins Wanken. Bis dahin unbegründet geltende Regeln des menschlichen Zusammenlebens - sei es in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder den Generationen - wurden fragwürdig. Soziale Gepflogenheiten - so etwa in Beruf und Familie - verloren an Einfluß. Den traditionellen politischen Herrschaftsformen wurde zunehmend die Anerkennung verweigert. Dieser Prozeß "findet statt, sobald soziale Institutionen bewußt als Menschenwerk erkannt werden und sobald man ihre bewußte Änderung diskutiert, indem man ihre Eignung flir die Erreichung menschlicher Zwecke oder Ziele untersucht"4 • Die entscheidende Folge des Übergangs zur offenen Gesellschaft war das Auftreten des autonomen Individuums, das autoritativ vorgegebene Normen nicht mehr ungeprüft akzeptiert, sondern nach rationaler Begründbarkeit fragt, das die überkommene soziale Ordnung in Frage stellt und nach Rechtfertigung verlangt. Damit verbunden war eine Relativierung und Pluralisierung von Wertvorstellungen und moralischen Normen. Dieser Prozeß, dessen Wurzeln im antiken Griechenland liegen und der mit Phänomenen verbunden ist, die als "Säkularisierung", "Aufklärung" und "Piuralisierung" beschrieben werden können, mündete in die Herausbildung des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses, wonach es dem einzelnen erlaubt sein muß, in den gebotenen Grenzen, die durch die Inanspruchnahme gleicher Freiheiten durch alle Gesellschaftsmitglieder gezogen sind, nach selbst gesetzten Maßstäben den eigenen Willen und das eigene Tun zu bestimmen. Dieses Freiheitsverständnis hat die neuartige Funktion, "den Menschen der Neuzeit einen Ersatz für das Ordnungsdenken zu bieten, welches in Geltung war, bevor die Berufung auf die 'politische' Funktion der Freiheit aufkam" 5• Die individuelle Freiheit der alten Welt war eine Freiheit innerhalb der Grenzen der tradierten Normen beziehungsweise der gottgewollten Werteordnung. Die "neue" Freiheit der neuen Welt stammt "aus dem Zusammenbruch der alten Welt mit ihrer 'transzendenten', d.h. religiös begründeten Normensicherheit, die auch das soziale Gefuge über Jahrhunderte hinweg gehalten und gestützt hat" 6 . Individuelle Freiheit reduziert sich nicht mehr darauf, vorgegebene Normen zu befolgen oder nicht zu befolgen; sie "soll vielmehr in Gestalt freier Zustimmung das gesellschaftliche Ganze, den Staat, erst erzeugen"7• Freiheit als freie Zustimmung einer überwiegenden Mehrheit wird die neue Legitimierungsquelle staatlicher Macht. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1: Der Zauber Platons, Tübingen 1992, S. 376. Wemer Becker, Elemente der Demokratie, Stuttgart 1985, S. 10. 6

Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 17.

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Der neuzeitliche, "aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" 8 hervorgegangene Mensch hat sich von ungeprüfter Übernahme autoritativ vorgegebener Normen befreit. Er hat gelernt und den Mut gefaßt, "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen"9 . Als vernünftiges Wesen ist er in der Lage, seinen Willen selbst zu bestimmen und nach selbst gesetzten Maximen zu handeln. In dieser Freiheit und Autonomie wurzelt die unverlierbare Würde des Menschen. Menschenwürdig zu leben heißt, von der dem Menschen als vernünftigem Wesen eigenen Fähigkeit zur subjektiven Willensbestimmung nach Verstandesgrundsätzen Gebrauch zu machen. Diese Selbstbefreiung des Menschen aus den Fesseln von Traditionen, Autoritätshörigkeit und überkommenen Herrschaftsstrukturen hat jedoch ihren Preis. 10 Mit dem Untergang bzw. dem Infragestellen der tradierten Legitimations- und Integrationsinstanzen entsteht ein Defizit an Sinngewißheit, Normsicherheit, kollektiver Identität und sozialen Bindungen." Statt sein Verhalten an schlechthin geltenden Standards orientieren zu können, ist das autonome Subjekt zunehmend auf sich selbst verwiesen. Der einzelne steht in neuartigen Entscheidungssituationen; er muß sich seiner Interessen selbst vergewissern, muß zwischen Verhaltensmöglichkeiten selbst wählen, muß sich selbst Ziele setzen und seinem Leben einen Sinn geben. Die dall).it verbundenen Unsicherheitserfahrungen sind die Kehrseite der neugewonnenen Freiheit. 12 Darüber hinaus sind die Ansprüche der Vernunft selbst problematisch geworden. Verstand Descartes seinen methodischen Zweifel noch als Weg, um zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen, so setzt sich immer mehr die Einsicht durch, daß wir auf der Suche nach dem "archimedischen Punkt der Erkenntnis" (Hans Albert) erfolglos bleiben. 13 Alles empirisch gehaltvolle Wissen bleibt

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 9, A 481 . Ebd. 10

Vgl. hierzu auch die Deutung des Fundamentalismus als eine Reaktion auf die Ambivalenzen von Aufklärung und Modernisierung bei Thomas Meyer, Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung, in: Ders. (Hrsg.), Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt/M. 1989, S. 13-22. II

Ralf Dahrendorf spricht in diesem Zusammenhang von den "absoluteren Ligaturen früherer Zeiten", die zerbrechen und zunächst ein Vakuum hinterlassen, das die Bürgergesellschaft nur begrenzt filllen kann. Vgl. ders., Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992, S. 76. 12 13

Dazu vor allem Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a. M.-Berlin 1987. Dazu Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991.

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fallibel. Unser Streben nach Wissen führt nicht zu Gewißheit. Selbstdenken und das Setzen auf Vernunft entlassen uns zwar aus der Beliebigkeit der Tradition, bescheren uns aber auch neue Unsicherheitserfahrungen. Damit setzt sich die Vernunft in ihrem ursprünglichen Anspruch, begründete und sichere Lebensorientierungen zu finden, selbst der kritischen Nachfrage und dem Zweifel aus: Aufklärung und Modeme werden reflexiv. 14 4. Die Suche nach Gewißheit und Teilhabe Auch wenn man nicht in den Fehler verf