Die Welt der Hebräischen Bibel: Umfeld - Inhalte - Grundthemen [2 ed.] 9783170393233, 9783170393240, 9783170393257, 9783170393264, 3170393235

Eine umfassende, zuverlässige und wissenschaftlich aktuelle Einführung in die Welt der Hebräischen Bibel: ihr kulturelle

318 99 9MB

German Pages 524 [525] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Kapitel: Umfeld
§ 1 Bibel und Orient
1. Der Rahmen
2. Die Forschungsgeschichte
3. Die Hebräische Bibel im altorientalischen Kontext
a) Vernetzung der Geschichte Israels und der biblischen Schriften in der altorientalischen politischen »Großwetterlage«
b) Vernetzung der Alltagskultur und Realien Israels und der biblischen Schriften mit der altorientalischen Lebenswelt
c) Vernetzung biblischer Schlüsselkonzeptionen mit altorientalischen Konzepten
Bibliographie
§ 2 Bibel und Archäologie
1. Bezeichnungen, Zeiten und Landschaften
2. Bibelwissenschaft und Archäologie Palästinas
3. Wissenschaftliche Reisen
4. Der Palestine Exploration Fund
5. Feldarchäologie in Palästina
6. Die Rolle der Keramik
7. Das Land der Bibel
8. Ein Beispiel, in dem alles zusammenkommt
9. Der deutsche Beitrag
10. Neue Möglichkeiten
11. Eine Problematik, die bleibt
12. Aussicht
Bibliographie
§ 3 Bibel und Geschichte
1. Die Bibel zwischen Mythos, Legende und Geschichten
2. Warum Geschichte nicht objektiv sein kann
3. Wahrheit und Geschichte
4. Alle Geschichte ist Konstruktion
5. Bibel, Archäologie und Geschichte
6. Geschichte und Heilsgeschichte
7. Nachdenken über Geschichte in der Hebräischen Bibel
Bibliographie
§ 4 Bibel, Judentum, Christentum
1. Kanonische Perspektiven
2. Historische Perspektiven: Schriftwerdung als Reflex religionsgeschichtlicher Dynamiken
3. Hermeneutische Perspektiven: Die doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel und der jüdisch-christliche Dialog
Bibliographie
§ 5 Bibel, Sprache, Schrift
1. Sprachen und Schriften der Bibel
a) Hebräisch
b) Aramäisch
2. Das Schreibmaterial
3. Textproduktion
4. Die Septuaginta
5. Qumran und die Vielfalt der hebräischen Textformen
6. Der Masoretische Text
Bibliographie
2. Kapitel: Literatur
§ 6 Biblische Literaturgeschichte
1. Die Literatur der Hebräischen Bibel in historischer und biblischer Sicht
2. Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda
3. Die Hebräische Bibel als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel und Juda
4. Mündlichkeit und Schriftlichkeit
5. Epochen der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel
6. Die Datierbarkeit biblischer Texte
7. Die Hebräische Bibel als sich selbst auslegende Traditionsliteratur
8. Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte
Bibliographie
§ 7 Kanonbildung
1. Einführung
2. Das Alte Ägypten
3. Der Alte Orient
4. Die Hebräische Bibel als Traditionsliteratur
a) Die Kolophone des Deuteronomiums
b) Esra und die Tora
c) Neh 8: Die Tora auf dem Weg zur Heiligen Schrift
d) Die Propheten und die Schriften
5. Die Bibliothek von Qumran
6. Der Aristeasbrief und die Septuaginta
7. Biblische Kanonbildung im Spiegel jüdischer und christlicher Schriften der hellenistisch-römischen Zeit
8. Die Sammlungen des jüdischen und des christlichen Bibelkanons
9. Synthese
Bibliographie
§ 8 Tora
1. Bedeutung des Wortes
2. Inhalt der Tora
3. Entstehung
4. Gesetze
5. Theologie
Bibliographie
Weiterführende Literatur
Ältere Werke
Neuere exegetische Untersuchungen
§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung
1. Biblische »Geschichtsbücher« - Das Problem der Benennung
2. Alttestamentlicher Glaube und geschichtliche Erfahrung gehören zusammen
a) Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur
b) Geschichte wird theologisch gedeutet
c) Formen, Medien und Gelegenheiten altisraelitischer Erinnerungskultur
3. Von der mündlichen Erinnerungskultur zur Geschichtsschreibung
4. Umfangreichere »Geschichtswerke« im Alten Testament
a) Das deuteronomistische Geschichtswerk (DtrGW)
b) Das chronistische Geschichtswerk (ChrGW)
5. Biblische Geschichtsschreibung und historische Fakten
6. Zusammenfassung
Bibliographie
§ 10 Prophetie
1. Aspekte der Definition von Prophetie im Alten Orient und in der Hebräischen Bibel
2. Vorbemerkungen zur Geschichte der Prophetie im alten Israel
3. ›Vorklassische‹ Anfänge von Prophetie in Israel
4. Entstehung und Entwicklung der Gerichtsprophetie in Israel und Juda unter assyrischer Herrschaft
5. Prophetie im Umfeld der Zerstörung Jerusalems während der babylonischen Herrschaft
6. Prophetische Neuentwürfe und Weiterentwicklungen während der Perserzeit
7. Der Abschluss der Prophetenbücher im hellenistischen Zeitalter
8. Ausblick
Bibliographie
§ 11 Poesie und Weisheit
1. Das Buch der Psalmen
Bibliographie
2. Das Buch der Sprichwörter
Bibliographie
3. Das Buch Hiob
Bibliographie
4. Das Buch Kohelet
Bibliographie
5. Das Hohelied
Bibliographie
6. Das Buch Rut
Bibliographie
7. Ester
Bibliographie
8. Das Buch der Klagelieder
Bibliographie
9. Daniel
Bibliographie
3. Kapitel: Gesellschaft
§ 12 Individuum und Gemeinschaft
1. Einführung
2. Individuum und Verwandtschaft, Ortschaft und Staat
3. Individuum und Gemeinschaft in den Literaturen des Alten Testaments
3.1 Die alttestamentliche Weisheit
3.2 Die Rechtsüberlieferung
3.3 Das Deuteronomium
3.4 Die Priesterschrift
3.5 Kult, Psalmen und Psalter
4. Zusammenfassung und Hermeneutik
Bibliographie
Weiterführende Literatur
§ 13 Familie, Sippe, Stamm
1. Die Familie
a) Der patriarchale Charakter der Familie
b) Die soziale Realität in der Familie
c) Das Haus als Grundeinheit des Wirtschaftens
d) Veränderungen in der Realität der Familien
2. Die Sippe
a) Siedlungsstrukturen und Gemeinschaftsaufgaben
b) Die Sippe als soziale Bezugsgröße
3. Der Stamm
a) Das System der zwölf Stämme
b) Stammeseigenheiten
c) Die Sozialstruktur des Stammes: eine Fehlanzeige
4. Das alte Israel als verwandtschaftsbasierte Gesellschaft
Bibliographie
§ 14 Königtum und Staat
1. Vorklärungen
a) Die Begriffe »Staat« und »Politik«
b) Die Epochen der Geschichte Israels und Judas
2. Der Beginn der Monarchie in Israel und Juda
a) Ein Anfang der Staatlichkeit?
b) Die Frühzeit
Segmentärer Staat
Häuptlingstum
Früher Staat
3. Die monarchische Staatlichkeit in Israel und Juda
4. Die nachmonarchische Staatlichkeit in Israel und Juda
a) Die Übergangsphase
b) Der Bürgerstaat
c) Der Stämmeverband
d) Der Tempelstaat
Bibliographie
§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land
Vorbemerkung
1. Die Konstanten der israelitischen Wirtschaftsgeschichte
a) Geographie und Geomorphologie
b) Klima
c) Ökologie
2. Variable Faktoren der Wirtschaftsgeschichte
3a. Das Bergland in der Eisen-I-Zeit
3b. Die Entwicklung der Wirtschaft unter dem Einfluss des Staates
3c. Der politische Untergang Judas und der Zusammenbruch der Wirtschaft
3d. Die Provinz Juda unter persischer Herrschaft
Bibliographie
§ 16 Krieg und Frieden
1. Das Problem: Die inneren Spannungen in den Beurteilungen des Krieges
2. Die Bewertungen des Krieges im Spiegel der Geschichte
3. Zwischen Krieg und Frieden: Das Paradebeispiel David
3.1 David im deuteronomistischen Geschichtswerk (ca. 550 v. Chr.)
3.2 David in der Chronik (um 300 v. Chr.)
3.3 David in den Psalmen
4. Ein Extremfall: Der Bann
5. Fazit und Ausblick: Wehrhafter Wille zum Frieden
Bibliographie
4. Kapitel: Religionsausübung
§ 17 Orte der Heiligkeit
1. Tempel in der Bronzezeit in Palästina
2. Nomadische Heiligtümer
3. Sinai/Horeb
4. Der Umbruch von der Spätbronze- zur Eisenzeit
5. Das Heiligtum in Schilo
6. Die Lade
7. Das Zeltheiligtum in Jerusalem
8. Der Salomonische Tempel
9. Die Erweiterungsmaßnahmen im Bereich des Salomonischen Tempels
10. Die Kultanlagen des Nordreichs
11. Der Tempel in Arad und die Kultnische in Kuntilet Ajrud
12. Der Untergang des Tempels als theologische Anfrage
13. Der Tempelbauentwurf des Ezechiel
14. Das priesterschriftliche Heiligtum
15. Der Tempelneubau in nachexilischer Zeit
16. Der Salomonische Tempel in den Chronikbüchern
17. Der Tempel auf dem Garizim
18. Der Tempel in Elephantine
19. Der Tempel von Leontopolis
20. Synagogen
21. Der Tempelentwurf des Eupolemos und die Tempelrolle von Qumran
22. Der Herodianische Tempel
Bibliographie
Allgemein:
Zu 1:
Zu 3:
Zu 6-8 (sowie 13, 15, 16, 22):
Zu 13-14:
Zu 17:
Zu 20:
§ 18 Gottesdienst
1. Die (gesetzliche) Regelung des Kultes/des Gottesdienstes
2. Die Kultorte
3. Was gerne vergessen wird
4. Das Kultpersonal
5. Regelmäßige kultische Begehungen
6. Die Gemeinde
7. Die Finanzierung des Gottesdienstes
8. Die Bekleidung des Kultpersonals
9. Die Einstellung zum Gottesdienst und seine Beurteilung - virtuelle Gottesdienste
Bibliographie
§ 19 Opfer und Sühne
1. Zum Thema und seiner Begrifflichkeit
2. Opfer im Alten Testament
Exkurs zur prophetischen Kultkritik:
3. Schuld und Sühne
4. Opfer, Sühne - und Stellvertretung?
Bibliographie
§ 20 Gebet und Gesang
1. Wovon reden wir, wenn wir von »beten« und »Gebet« reden?
2. Gebetsgesten
3. Gebetssituationen
4. Übergang zum Lied/Gesang, zur Musik, zur Liturgie
5. Wichtigste Gattungen und Formen des Gebets
a) Klagegebete/-lieder
b) Hymnen
c) Zum Verhältnis von Gattung und individuellem Text
d) Die berühmteste Gebetssammlung der Welt - die Psalmen
Bibliographie
5. Kapitel: Menschenbilder
§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie
1. Es gibt keinen Begriff für Seele
2. Menschsein ist leiblich
3. Mensch und Tier sind gleichermaßen vergänglich
4. Menschsein ist immer Dasein »in Beziehung«
5. Menschsein ist Dasein in Beziehung zu Gott
6. Es gibt kein menschliches Leben ohne Schuldverstrickung
7. Die selbstkritischen Aspekte biblischer Menschenbilder
Bibliographie
§ 22 Verhältnis der Geschlechter
1. Schöpfungstexte: Der Mensch ist geschlechtlich differenziert
a) Die von Gott erschaffene Geschlechterordnung
b) Das vom Menschen gemachte Geschlechterverhältnis
2. Die Ungleichheit der Geschlechter in und vor dem Recht
a) Patriarchale Ehe
b) Normative Heterosexualität
c) Zur Kultfähigkeit der Geschlechter
3. Die unterschiedlichen Lebensläufe der Geschlechter
a) Männlich und weiblich geboren - zu Mann und Frau gemacht
b) Liebesverhältnisse
c) Gewaltverhältnisse
4. Theologische Implikationen der realen Geschlechterverhältnisse
a) »Wie im Himmel so auf Erden«?
b) Die metaphorische Rede von Gott
5. Resümee: Die Auslegung der Bibel in Geschlechterdemokratien
Bibliographie
§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen
1. Aspekte der Forschungsgeschichte
a) Vom »Vergeltungsdogma« zum »Tun-Ergehen-Zusammenhang«
b) Der Tun-Ergehen-Zusammenhang in der Diskussion
2. »Wer eine Grube gräbt...«: Biblische Aspekte von Tun und Ergehen
a) »Weisheit führt zum Leben«: Vom Sinn der Klugheit
b) »Wenn ein Mann eine Zisterne gräbt«: Von der Funktion des Rechts
c) »Wer andern eine Grube gräbt«: Vom Eingreifen Gottes
3. Rechtes Handeln, Tun und Ergehen
Bibliographie
§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung
1. Einführung
2. Dimensionen zwischenmenschlicher Gewalt
a) Verbale Gewalt
b) Gewalt gegen »Arme«
c) Gewalt gegen Kinder und Eltern
d) Sexualisierte Gewalt
e) Religiös motivierte Gewalt
3. Todesstrafe
4. Gewalt und Gender
5. Überwindung von Gewalt
Bibliographie
§ 25 Schuld und Versöhnung
1. Versöhnung statt Vergeltung
2. Das Bekenntnis der Schuld
3. Das Tragen der Schuld
4. Das Geschenk der Versöhnung
a) Zur narrativen Struktur von Lev 16
b) Zwei komplementäre Riten
Der Blutritus an der kapporæt
Der Sündenbockritus
5. Schuldannahme statt Schuldverdrängung
Bibliographie
§ 26 Leiden und Tod
1. Leiden
2. Tod
3. Ausblick
Bibliographie
6. Kapitel: Gottesglaube
§ 27 Gottes Einzigkeit
1. Zwei Wege zum einen Gott
2. Der Gott des Exodus und die Religion des Nordreichs Israel
a) Ursprungserzählung
b) Propaganda
c) Geschichte
d) Sieg
3. Der Himmelsgott und die Religion des Südreichs Juda
a) Mythos
b) Propaganda
c) Geschichte
4. Die Verknüpfung von Exodus- und Himmelsgott-Religion
a) Verknüpfung
b) Geschichte
c) Folgen
Bibliographie
§ 28 Gottes Offenbarung
1. Offenbarung im Alten Orient
2. Termini für Offenbarung im Hebräischen
3. Offenbarungsinhalte
a) Gottes Selbstoffenbarung
b) Offenbarung der Zukunft
c) Offenbarung der Tora
4. Offenbarungsmedien
a) Traum
b) Repräsentanzen Gottes
c) Vision
d) Ekstase
e) Befragung und Gottesurteil
5. Kriterien der Beurteilung von Offenbarung
Bibliographie
§ 29 Gottes Schöpfung
1. Schöpfung als Thema alttestamentlicher Theologie - ein umstrittener Fall
2. Kosmos, Kult und Lebenskraft: Schöpfungstheologie in den Kultpsalmen
3. Deuterojesaja
4. Der Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,3)
5. Psalm 104: Gott als Geber allen Lebens
6. Die Gottesreden des Hiobbuches (Hiob 38-41): Schöpfungstheologie als Kritik menschlichen Erkennens und als Relativierung der Vorstellung vom Menschen als Ziel der Schöpfung
Bibliographie
§ 30 Gottes Liebe und Zorn
1. Begriffsklärungen
2. Die Unvergleichlichkeit von Zorn und Güte Gottes
a)
b)
3. Gottes Zorn und Gottes »Reue«
a)
b)
4. Gott überwindet seinen Zorn
a)
b)
Bibliographie
§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht
1. Gottes Allmacht
a) Rühmungen von Gottes (All-)Macht
b) Leiden unter Gottes (Über-)Macht
2. Gottes Ohnmacht
a) Irritation über Gottes Untätigkeit
b) Erleichterung über Gottes Nähe zu den Ohnmächtigen
Bibliographie
§ 32 Gottes Zukunft
1. Grundlegung
2. Der »Tag Jhwhs«
3. Der »Messias«
4. Der »Zion«
5. Ausblick
Bibliographie
§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven
1. Was ist und wozu braucht man eine »Theologie des Alten Testaments?«
a) Zum Begriff »Theologie des Alten Testaments«
b) Probleme einer »Theologie des Alten Testaments«
c) Die Aufgabe einer »Theologie des Alten Testaments«
d) Die Bedeutung der Form einer »Theologie des Alten Testaments«
e) Die Frage nach einer »Mitte« des Alten Testaments: Die Beziehungsgeschichte Jhwhs mit Israel und der Welt
2. Die Barmherzigkeit des Schöpfergottes als grundlegende Sinnlinie der Hebräischen Bibel und einer »Theologie des Alten Testaments«
a) Schöpfungstheologischer Monotheismus als theologischer Rahmen des Pentateuchs
b) Die Barmherzigkeit des Schöpfergottes in der Sintfluterzählung als Entsprechung zur Reue Jhwhs in der Sinaiperikope
c) Reflexe der Barmherzigkeit Jhwhs in später Prophetie und im Psalter
d) Bleibende Probleme des schöpfungstheologischen Monotheismus und die Hoffnung auf ihre Lösung
3. Gesamtbiblische Perspektiven
a) Die jüdische(n) Schrift(en) als bleibender Bezugspunkt und Deutehorizont des frühen Christentums
b) Kontinuität und Transformation der »Theologie des AT« in frühchristlichen Schriften
c) Schlussbemerkung
Bibliographie
Anhang
Tabelle zur Geschichte des biblischen Israel
Karte: Regionen und Landschaften Palästinas/Israels
Register
Bibelstellen
Namen und Sachen
Die AutorInnen
Recommend Papers

Die Welt der Hebräischen Bibel: Umfeld - Inhalte - Grundthemen [2 ed.]
 9783170393233, 9783170393240, 9783170393257, 9783170393264, 3170393235

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Walter Dietrich (Hrsg.)

Die Welt der Hebräischen Bibel Umfeld – Inhalte – Grundthemen

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagabbildung: Aus dem De Castro Pentateuch, 14. Jahrhundert 2. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-039323-3 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-039324-0 epub: ISBN 978-3-17-039325-7 mobi: ISBN 978-3-17-039326-4 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Kapitel: Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1 Bibel und Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Berlejung, Leipzig/Stellenbosch 1. Der Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Hebräische Bibel im altorientalischen Kontext . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Bibel und Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ed Noort, Groningen 1. Bezeichnungen, Zeiten und Landschaften . . . . . . . . . 2. Bibelwissenschaft und Archäologie Palästinas . . . . . . 3. Wissenschaftliche Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Palestine Exploration Fund . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Feldarchäologie in Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Rolle der Keramik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Land der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ein Beispiel, in dem alles zusammenkommt . . . . . . . . 9. Der deutsche Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Neue Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Eine Problematik, die bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Aussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Bibel und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Frevel, Bochum 1. Die Bibel zwischen Mythos, Legende und Geschichten 2. Warum Geschichte nicht objektiv sein kann . . . . . . . . 3. Wahrheit und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Alle Geschichte ist Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bibel, Archäologie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 6. Geschichte und Heilsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Nachdenken über Geschichte in der Hebräischen Bibel Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

...... ......

19 19

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

19 21 23 31 32

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

32 34 35 36 36 38 39 40 41 42 43 44 45 46

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

47 50 52 53 54 56 57 58

6 § 4 Bibel, Judentum, Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Ego, Bochum 1. Kanonische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historische Perspektiven: Schriftwerdung als Reflex religionsgeschichtlicher Dynamiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hermeneutische Perspektiven: Die doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel und der jüdisch-christliche Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Bibel, Sprache, Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Rösel, Rostock 1. Sprachen und Schriften der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Schreibmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Septuaginta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Qumran und die Vielfalt der hebräischen Textformen . . . . 6. Der Masoretische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

..

59

..

59

..

62

.. .. ..

67 71 72

. . . . . . .

. . . . . . .

73 77 79 81 83 84 85

2. Kapitel: Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6 Biblische Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konrad Schmid, Zürich 1. Die Literatur der Hebräischen Bibel in historischer und biblischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda . . . . . . . . . . . . 3. Die Hebräische Bibel als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel und Juda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Epochen der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel . . . . 6. Die Datierbarkeit biblischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Hebräische Bibel als sich selbst auslegende Traditionsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 Kanonbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Grätz, Mainz 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Alte Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Alte Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Hebräische Bibel als Traditionsliteratur . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bibliothek von Qumran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Aristeasbrief und die Septuaginta . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Biblische Kanonbildung im Spiegel jüdischer und christlicher Schriften der hellenistisch-römischen Zeit . . . . . . . . . . . . . .

. .

87 87

. .

87 90

. . . .

91 92 93 95

. 97 . 98 . 99 . 101 . . . . . .

101 102 103 104 108 109

. 110

7

Inhalt

8.

Die Sammlungen des jüdischen und des christlichen Bibelkanons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Achenbach, Münster 1. Bedeutung des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Naumann, Siegen 1. Biblische »Geschichtsbücher« – Das Problem der Benennung 2. Alttestamentlicher Glaube und geschichtliche Erfahrung gehören zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von der mündlichen Erinnerungskultur zur Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umfangreichere »Geschichtswerke« im Alten Testament . . . . 5. Biblische Geschichtsschreibung und historische Fakten . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10 Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Leuenberger, Tübingen 1. Aspekte der Definition von Prophetie im Alten Orient und in der Hebräischen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorbemerkungen zur Geschichte der Prophetie im alten Israel 3. ›Vorklassische‹ Anfänge von Prophetie in Israel . . . . . . . . . . . 4. Entstehung und Entwicklung der Gerichtsprophetie in Israel und Juda unter assyrischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Prophetie im Umfeld der Zerstörung Jerusalems während der babylonischen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Prophetische Neuentwürfe und Weiterentwicklungen während der Perserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Abschluss der Prophetenbücher im hellenistischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11 Poesie und Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludger Schwienhorst-Schönberger, Wien 1. Das Buch der Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Buch der Sprichwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Buch Kohelet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 113 113 115 115 115 119 122 125 127 128 128 130 133 135 137 139 140 141 142 143 145 145 150 153 155 155 156 157 158 161 162 164

8

Inhalt

5. 6. 7. 8. 9.

Das Hohelied . . . . . . . . Das Buch Rut . . . . . . . . Ester . . . . . . . . . . . . . . Das Buch der Klagelieder Daniel . . . . . . . . . . . . .

.... .... .... ... ....

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

166 168 169 170 172

3. Kapitel: Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Individuum und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen van Oorschot, Erlangen 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Individuum und Verwandtschaft, Ortschaft und Staat . . . . . . . 3. Individuum und Gemeinschaft in den Literaturen des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Familie, Sippe, Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Kessler, Marburg 1. Die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das alte Israel als verwandtschaftsbasierte Gesellschaft . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Königtum und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Oswald, Tübingen 1. Vorklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Beginn der Monarchie in Israel und Juda . . . . . . . . . . . . 3. Die monarchische Staatlichkeit in Israel und Juda . . . . . . . . . 4. Die nachmonarchische Staatlichkeit in Israel und Juda . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15 Wirtschaft, Stadt und Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christa Schäfer-Lichtenberger, Bethel/Wuppertal Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Konstanten der israelitischen Wirtschaftsgeschichte . . . . . 2. Variable Faktoren der Wirtschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . 3a. Das Bergland in der Eisen-I-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3b. Die Entwicklung der Wirtschaft unter dem Einfluss des Staates 3c. Der politische Untergang Judas und der Zusammenbruch der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3d. Die Provinz Juda unter persischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16 Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Oeming, Heidelberg 1. Das Problem: Die inneren Spannungen in den Beurteilungen des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174 174 174 175 176 183 185 185 186 186 193 196 199 200 200 200 203 206 208 212 214 214 215 217 217 220 225 226 227 230 230

9

Inhalt

2. Die Bewertungen des Krieges im Spiegel der Geschichte 3. Zwischen Krieg und Frieden: Das Paradebeispiel David . 4. Ein Extremfall: Der Bann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit und Ausblick: Wehrhafter Wille zum Frieden . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

4. Kapitel: Religionsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17 Orte der Heiligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zwickel, Mainz 1. Tempel in der Bronzezeit in Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nomadische Heiligtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sinai/Horeb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Umbruch von der Spätbronze- zur Eisenzeit . . . . . . . . . 5. Das Heiligtum in Schilo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Lade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Zeltheiligtum in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Salomonische Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Erweiterungsmaßnahmen im Bereich des Salomonischen Tempels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Kultanlagen des Nordreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Der Tempel in Arad und die Kultnische in Kuntilet Ajrud . . . 12. Der Untergang des Tempels als theologische Anfrage . . . . . . 13. Der Tempelbauentwurf des Ezechiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Das priesterschriftliche Heiligtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Der Tempelneubau in nachexilischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . 16. Der Salomonische Tempel in den Chronikbüchern . . . . . . . . 17. Der Tempel auf dem Garizim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Der Tempel in Elephantine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Der Tempel von Leontopolis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Synagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Der Tempelentwurf des Eupolemos und die Tempelrolle von Qumran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Der Herodianische Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18 Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Peter Mathys, Basel 1. Die (gesetzliche) Regelung des Kultes/des Gottesdienstes . . . 2. Die Kultorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was gerne vergessen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Kultpersonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Regelmäßige kultische Begehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Finanzierung des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Bekleidung des Kultpersonals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

233 239 242 244 246

. 248 . 248 . . . . . . . .

248 249 250 251 252 252 253 253

. . . . . . . . . . . .

254 254 255 255 256 256 257 257 258 259 259 260

. . . .

260 261 261 263

. . . . . . . .

263 264 265 266 268 272 273 273

10

Inhalt

9.

Die Einstellung zum Gottesdienst und seine Beurteilung – virtuelle Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19 Opfer und Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Willi-Plein, Hamburg 1. Zum Thema und seiner Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Opfer im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur prophetischen Kultkritik: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuld und Sühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Opfer, Sühne – und Stellvertretung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 20 Gebet und Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Wagner, Bern 1. Wovon reden wir, wenn wir von »beten« und »Gebet« reden? 2. Gebetsgesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gebetssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Übergang zum Lied/Gesang, zur Musik, zur Liturgie . . . . . . . 5. Wichtigste Gattungen und Formen des Gebets . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel: Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silvia Schroer, Bern 1. Es gibt keinen Begriff für Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschsein ist leiblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mensch und Tier sind gleichermaßen vergänglich . . . . . . . . . 4. Menschsein ist immer Dasein »in Beziehung« . . . . . . . . . . . . 5. Menschsein ist Dasein in Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . . . . 6. Es gibt kein menschliches Leben ohne Schuldverstrickung . . . 7. Die selbstkritischen Aspekte biblischer Menschenbilder . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 22 Verhältnis der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmtraud Fischer, Graz 1. Schöpfungstexte: Der Mensch ist geschlechtlich differenziert 2. Die Ungleichheit der Geschlechter in und vor dem Recht . . . . 3. Die unterschiedlichen Lebensläufe der Geschlechter . . . . . . . . 4. Theologische Implikationen der realen Geschlechterverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Resümee: Die Auslegung der Bibel in Geschlechterdemokratien Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanie Köhlmoos, Frankfurt 1. Aspekte der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Wer eine Grube gräbt…«: Biblische Aspekte von Tun und Ergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

274 275 276 276 277 279 283 286 288 289 289 292 294 296 297 303 305 305 306 306 308 309 310 311 312 314 315 316 318 323 327 329 330 331 332 337

11

Inhalt

3. Rechtes Handeln, Tun und Ergehen . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 24 Gewalt und Gewaltüberwindung . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Schnocks, Münster 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dimensionen zwischenmenschlicher Gewalt 3. Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewalt und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Überwindung von Gewalt . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 25 Schuld und Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Janowski, Tübingen 1. Versöhnung statt Vergeltung . . . . . . . . . . 2. Das Bekenntnis der Schuld . . . . . . . . . . . . 3. Das Tragen der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Geschenk der Versöhnung . . . . . . . . . 5. Schuldannahme statt Schuldverdrängung . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 26 Leiden und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Krüger, Zürich 1. Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . 344 . . . . . . . . . . . . . . 344 . . . . . . . . . . . . . . 346 . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

346 347 354 357 358 360 361

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

362 364 368 371 376 377 378

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

378 383 389 390

6. Kapitel: Gottesglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 27 Gottes Einzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Lang, Paderborn 1. Zwei Wege zum einen Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gott des Exodus und die Religion des Nordreichs Israel 3. Der Himmelsgott und die Religion des Südreichs Juda . . . . 4. Die Verknüpfung von Exodus- und Himmelsgott-Religion . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 28 Gottes Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Klein, Fogarasch/Bern 1. Offenbarung im Alten Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Termini für Offenbarung im Hebräischen . . . . . . . . . . . . . 3. Offenbarungsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Offenbarungsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kriterien der Beurteilung von Offenbarung . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29 Gottes Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Schüle, Leipzig 1. Schöpfung als Thema alttestamentlicher Theologie – ein umstrittener Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 391 . . 391 . . . . . .

. . . . . .

391 392 397 403 406 407

. . . . . . .

. . . . . . .

407 409 409 413 418 420 421

. . 421

12

Inhalt

2.

Kosmos, Kult und Lebenskraft: Schöpfungstheologie in den Kultpsalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deuterojesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Psalm 104: Gott als Geber allen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Gottesreden des Hiobbuches (Hiob 38–41): Schöpfungstheologie als Kritik menschlichen Erkennens und als Relativierung der Vorstellung vom Menschen als Ziel der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 30 Gottes Liebe und Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Jeremias, Marburg 1. Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Unvergleichlichkeit von Zorn und Güte Gottes . . . . . . . . 3. Gottes Zorn und Gottes »Reue« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gott überwindet seinen Zorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Dietrich, Bern 1. Gottes Allmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gottes Ohnmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 32 Gottes Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst-Joachim Waschke, Halle 1. Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der »Tag Jhwhs« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der »Messias« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der »Zion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven . . . Friedhelm Hartenstein, München 1. Was ist und wozu braucht man eine »Theologie des Alten Testaments?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Barmherzigkeit des Schöpfergottes als grundlegende Sinnlinie der Hebräischen Bibel und einer »Theologie des Alten Testaments« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtbiblische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

423 424 427 432

. 433 . 436 . 437 . . . . . .

437 439 443 447 451 451

. . . .

452 458 464 465

. . . . . . .

465 468 471 473 476 478 479

. 479 . 486 . 494 . 501

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Tabelle zur Geschichte des biblischen Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Walter Dietrich Karte: Regionen und Landschaften Palästinas/Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

13

Inhalt

Register . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . Namen und Sachen Die AutorInnen . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

506 506 512 520

Vorwort

»Wo erhalte ich einen knappen, verständlichen, aktuellen und zuverlässigen Überblick über das Ganze der Hebräischen Bibel?« Das fragen etwa Theologiestudierende in ihren ersten Semestern, verwirrt durch die Fülle auf sie einstürzender Informationen; oder Lehramtsstudierende im Fach Religion, oft überfordert durch detailreiche Fachbücher; oder Verantwortliche für kirchliche Erwachsenenbildung, Ausschau haltend nach geeigneter Basisliteratur zur Einführung ins Alte Testament; oder interessierte Laien, konfrontiert mit den vielfältigen Spuren der Hebräischen Bibel im europäischen Kulturerbe. Früher konnten solche Fragen durch Verweis auf Claus Westermanns »Tausend Jahre und ein Tag« oder auch auf Bernhard Langs »Ein Buch wie kein anderes« beantwortet werden. Neuerdings bieten die drei schweren Bände von »Erklärt«, eines allgemeinverständlichen Kommentars zur Neuen Zürcherbibel, hilfreiche Antworten. Auch Thomas Staublis »Begleiter durch das Erste Testament« und UTB»Taschen«bücher wie die von Jan Christian Gertz herausgegebene »Grundinformation Altes Testament« oder Hans-Christoph Schmitts »Arbeitsbuch zum Alten Testament« wären zu nennen. Wer des Englischen mächtig ist, mag auch zu der frisch erschienenen, von John Barton herausgegebenen Einführung »The Hebrew Bible: A Critical Companion« greifen. Der hier vorgelegte Band ist gegenüber all diesen Büchern von anderer, eigener Art. In ihm beleuchten zweiunddreißig ausgewiesene Fachgelehrte – aus dem gesamten deutschen Sprachraum, beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters und verschiedener Konfession – je eine ihnen besonders vertraute Facette der Hebräischen Bibel: zu ihrer Lebenswelt, ihrer kanonische Gestalt, den in ihr versammelten Schriften, ihrer Entstehungsgeschichte und einer Reihe wichtiger, in ihr verhandelter Themen. Die Bereitschaft zur Mitarbeit war durch sehr bestimmte Vorgaben auf eine harte Probe gestellt: Der Raum für die Beiträge war streng begrenzt, Sprache und Stil sollten schön und flüssig, verständlich und präzise sein, Fußnoten sich auf ein Minimum beschränken, dafür knappe Bibliographien zu vertieftem Weiterarbeiten anleiten. Es muss kaum betont werden, wie schwer es ist, unter solchen Bedingungen derart anspruchsvollen Themen wie den hier verhandelten gerecht zu werden. Es ehrt die Beitragenden, dass sie sich diesem Ansinnen ohne Murren unterzogen haben. So wie die einzelnen Beiträge nicht dem Ideal der Vollständigkeit gerecht werden können, so lässt sich auch von dem Buch als Ganzem nicht behaupten, es widerspiegele die gesamte »Welt der Hebräischen Bibel«. Einige wichtige Themenfelder bleiben

16

Vorwort

weitgehend ausgeblendet: etwa die Geschichte Israels in ihren einzelnen Epochen oder die Palästinaarchäologie mit ihrem in letzter Zeit rasanten Erkenntniszugewinn oder die Altorientalistik in ihrem vielfältigen Ertrag für das Verständnis des Alten Testaments oder die Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft in ihren zahllosen Verästelungen, ganz zu schweigen von der enorm facettenreichen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Hebräischen Bibel in Kunst und Literatur. Freilich kommt auch von diesen Bereichen immer wieder etwas in den Blick, so dass die durch den Titel geweckte umfassende Erwartung hoffentlich nicht in zu vielen Punkten enttäuscht wird. Man kann mit diesem Band auf verschiedene Weisen umgehen. Man kann sich mit ihm allein oder in Gruppen befassen (etwa in Lesekreisen oder in Examensrepetitorien). Man kann ihn integral, von vorn nach hinten, man kann aber auch eines oder mehrere der sechs Hauptkapitel – oder auch nur einzelne der zweiunddreißig Paragraphen lesen, je nach Interesse und Bedürfnis. Man kann auch von den Namen der Mitwirkenden ausgehen: Welche von ihnen möchte ich gern im Originalton kennenlernen? Schließlich kann man das Buch mit Hilfe der Register – eines Stichwortund eines Bibelstellenverzeichnisses – auch als Nachschlagewerk nutzen. Darüber hinaus lassen sich jederzeit die aus ihm gewonnenen Erkenntnisse aus anderen Überblicksbüchern wie den oben genannten oder ausgehend von den Einzelbibliographien noch erweitern. Es bleibt an dieser Stelle noch herzlich zu danken: in erster Linie den Autorinnen und Autoren. Die Kooperation mit ihnen war wohltuend unproblematisch, wofür ein Herausgeber nur sehr, sehr dankbar sein kann. (Ziel war es übrigens nicht, sie alle nur einen Stil schreiben oder in strittigen Fragen immer nur einer Meinung sein zu lassen; sie durften in ihrer sprachlichen und sachlichen Eigenart ruhig erkennbar bleiben.) Mein Dank gilt ferner Frau Dr. Renate Klein in Fogarasch/Rumänien für ihr sachkundiges und achtsames Lektorat sowie dem Kohlhammer Verlag, insbesondere Herrn Florian Specker im Lektorat für Theologie, für die kompetente und sorgfältige Betreuung des Bandes von seinen Anfängen bis zu seinem Erscheinen. Mit dem Wunsch, dieses Buch möge seiner Leserschaft die Welt der Hebräischen Bibel in ihrem Reichtum erschließen helfen, verbindet sich eine Bitte. Herausgeber und Autorenschaft freuen sich über Rückmeldungen jeglicher Art (auch kritische!): zur Anlage als ganzer, zu bestimmten Kapiteln oder Paragraphen, zu einzelnen Gedanken und Formulierungen bis hin zu kleinen Schreibversehen. Zuschriften sind erbeten an die e-mail-Adresse [email protected]; alles, was nicht (nur) den Herausgeber betrifft, wird zuverlässig weitergeleitet. Es wäre schön, wenn durch dieses Buch das seit Jahrtausenden anhaltende vieltausendstimmige Gespräch über die Bibel noch ein wenig bereichert würde. Erfreulich rasch wurde eine zweite Auflage der »Welt der Hebräischen Bibel« nötig. Ich bin dem Verlag – und insbesondere Herrn Florian Specker im theologischen Lektorat – dankbar, dass er diese Aufgabe an die Hand genommen hat. Dankbar bin ich auch allen Autorinnen und Autoren des Bandes, die ihre Texte noch einmal durchgesehen, kleinere Mängel behoben, hier und dort Aktualisierungen vorge-

Vorwort

17

nommen, insbesondere: die Literaturlisten angepasst, mitunter auch größere Passagen neu geschrieben haben. Dankbar bin ich besonders Friedhelm Hartenstein, der neu einen Schluss-Paragraphen über die »Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven« beigetragen hat; ein solcher Abschnitt wurde in der Erstauflage verschiedentlich vermisst. Möge der Band in neuer Fassung und neuer Ausstattung weiterhin das ermöglichen, wozu er geschaffen wurde: Einblicke in und Überblicke über die Hebräische Bibel zu gewinnen. Bern, im Herbst 2020

Walter Dietrich

1. Kapitel: Umfeld

§ 1 Bibel und Orient Angelika Berlejung, Leipzig/Stellenbosch

1.

Der Rahmen

Das Alte Testament, die hebräisch-aramäische Bibel (TNK)1, ist eine altorientalische Bibliothek in hebräischer (und z. T. aramäischer) Sprache. Als Sammlung verschiedener Literaturwerke, die aus dem Alten Palästina des ersten vorchristlichen Jahrtausends kommen und dort tradiert wurden, kann das auch nicht anders sein. Denn Palästina verbindet als Landbrücke Nordafrika und Vorderasien, was konkret heißt, dass die Heimat des Alten Testaments mitten am Westrand des Alten Orients liegt: Im Süden grenzt Palästina an Ägypten, im Norden liegen Syrien und Anatolien, im Westen blühen die Küstenstädte, die in der südlichen Levante zu dieser Zeit unter philistäischer, in der nördlichen Levante unter phönizischer Herrschaft waren; auch Zypern, Kreta und »die Inseln« des Mittelmeers können als westliche Nachbarn betrachtet werden. Im Osten schien Mesopotamien vielleicht geographisch weit entfernt gelegen, jedoch bildeten sich dort im ersten vorchristlichen Jahrtausend große, expansive und international agierende Imperien, die von Norden kommend, mit ihren Armeen die syro-palästinische Landbrücke betraten (Assyrer, Babylonier, Perser). Die besondere geographische Lage in einem Korridor brachte es für Palästina frühzeitig mit sich, dass die benachbarten Reiche, die sich weit vor den Staatenbildungen in Palästina2 konsolidiert hatten, immer wieder wirtschaftlich, politisch und militärisch auf diese strategisch wichtige Region ausgriffen, zumeist, um sich

1 Die 24 Bücher der Hebräischen Bibel sind in die drei Teile Tora (Gesetz), Nebiim (Propheten = Josua bis Maleachi) und Ketubim (Schriften) zusammengeordnet, in denen sich die verschiedenen Stadien ihrer Aufnahme in den Kanon und ihr Verhältnis zueinander (das Wichtigste steht am Anfang) niederschlagen. Aus den Anfangsbuchstaben der genannten drei Teile TNK ergibt sich das Wort TaNaK oder Tenakh, das in jüdischer Tradition den hebräischen Kanon bezeichnet. 2 Im frühen 1. Jt. entstanden in Palästina mehrere Staaten: das Nordreich Israel, das Südreich Juda, Moab, Ammon und Edom.

20

1. Kapitel: Umfeld

einen Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen und/oder um Ägypten zu erobern. Beides versprach reiche Beute und war daher sehr lukrativ. Palästina selber war im ersten vorchristlichen Jahrtausend keine unabhängige, selbstverwaltete politische Einheit, sondern entweder in kleine regionale Einheiten als Einzelstaaten mit wechselnden Allianzen zerstückelt, oder (und zum Teil auch gleichzeitig) in Vasallenstaaten, Provinzen oder Kolonien unter der Regie einer benachbarten Großmacht aufgeteilt. Diese Oberherrschaften bzw. Gebietsaufteilungen in der südlichen Levante wechselten sich leicht zeitverzögert zum Aufstieg und Untergang der jeweiligen Machthaber oder Reiche mit Expansionsambitionen ab. Im Zuge dieser fremdherrschaftlichen Dominanzen fanden sich auf palästinischem Boden schon spätestens seit dem 3. Jt. v. Chr. Ägypter, ab dem Ende des 2. Jt.s v. Chr. »Seevölkergruppen« (darunter die Philister aus der Ägäis), etwas später dann Aramäer aus dem Norden3, Assyrer, Babylonier, Perser, und zuletzt noch Griechen und Römer ein. Nicht nur politische Fremdherrschaften und Gebietsansprüche beeinflussten die kulturelle und religiöse Entwicklung Palästinas nachhaltig, sondern auch Handelskontakte mit den verschiedenen Nachbarn, z. B. den philistäischen Stadtstaaten der südlichen Küstenregion, den phönizischen Stadtstaaten der nördlichen Küstenregion, den Bewohnern Zyperns, Griechenlands oder den nord- bzw. südarabischen Stämmen. Palästina hat selber außer dem Mittelmeer im Westen keine natürliche Grenze, denn die Grenzen zu den unmittelbaren Nachbarregionen darf man sich nicht allzu abgeschlossen und scharf vorstellen: Die Übergänge zu den Steppen- und Wüstenregionen des Negev und dem (Palästina nicht zuzurechnenden) Sinai im Süden, im Osten zur jordanischen Wüste oder im Norden zur Küstenregion des heutigen Libanon oder zum heutigen Syrien waren fließend. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass Palästina als Schwellen- und Durchgangsland mit »offenen Grenzen« die besten Voraussetzungen dafür bot, dass für die dortige Bevölkerung interkulturelle Begegnungen, Hochzeiten und entsprechend auch Mehrsprachigkeit an der Tagesordnung waren, insbesondere dann, wenn man als Händler auf Kontakte und Netzwerke angewiesen war oder an einer der zentralen Straßen (z. B. der sog. Via maris) wohnte. Aus dem Gesagten ist deutlich, dass die politische, die Sprach-, Kultur-, Sozial-, Religions- und Theologiegeschichte Palästinas eng mit den Vorgängen und Entwicklungen im Land, jedoch auch mit denen in der näheren (syrisch-phönizisch-arabischen) oder ferneren (ägyptisch-mesopotamisch-griechischen) Umgebung vernetzt waren und ohne Kenntnis derselben nicht sachgemäß beschrieben und verstanden werden können. Die Heimat des hebräischen (und aramäischen) Alten Testaments, des TNK, liegt wie gesagt im Alten Orient. Der Alte Orient ist damit der Verstehenshorizont des Masoretischen Texts, wovon u. a. auch zahlreiche Lehnworte aus den dem Hebräischen verwandten Sprachen (z. B. dem Aramäischen, Akkadischen, Arabischen) zeugen. Für die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta

3 Die hurritischen und hethitischen Reiche dehnten sich nicht bis nach Palästina aus. Sie sind in das Alte Testament durch die Übernahme archaisierender Bezeichnungen für Syrien-Palästina aus dem Sprachgebrauch der Reiche des 1. Jt.s eingedrungen.

§ 1 Bibel und Orient

21

(LXX)4, gilt dies nicht in gleichem Maße. Hier ist auch die griechische Antike mit einzubeziehen. Grundsätzlich ist jede Übersetzung eine Interpretation des Übersetzers und daher von seinem Vorwissen und Kontext, seinen philologischen Kompetenzen, stilistischen Präferenzen und theologischen oder didaktischen Intentionen abhängig. Dies ist auch bei der LXX so, die auf die neue Situation des Judentums in der hellenistischen Zeit reagierte und den hellenistischen Juden ihre normativen Schriften in der inzwischen üblichen griechischen Sprache vorlegte. Sie stellte also für das Gemeinde- und Schulleben des hellenistischen Judentums eine enorme Erleichterung dar. Zugleich wurde durch sie die Hebräische Bibel zum ersten Mal der griechischen Welt vorgestellt. Die Übersetzung der biblischen Bücher begann mit der Tora wohl in der 1. Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. in der zumeist Griechisch sprechenden, jüdischen Diasporagemeinde in Alexandria, wohingegen erst im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte die übrigen Bücher sukzessiv folgten (s. Prolog zu Jesus Sirach um 132 v. Chr., der das Gesetz, die Propheten und manche der Schriften in ihrer griechischen Version kennt). Es gab verschiedene Übersetzer, die mit unterschiedlich guten Sprachkompetenzen in der Ausgangssprache (dem Hebräischen und Aramäischen) und der Zielsprache (dem Griechischen) ausgestattet waren. Dies spiegelt sich darin, dass die Übersetzungsqualität der einzelnen Bücher recht unterschiedlich ist. Aus dieser Entstehungsgeschichte und dem Kontext der Übersetzer ergibt sich schon, dass die Septuaginta, ebenso wie der TNK, eine Bibliothek ist, wenngleich in griechischer Sprache. Sie ist aber weniger eindeutig altorientalisch als vielmehr stärker ägyptisch (s. Alexandria) als auch eben hellenistisch beeinflusst. Damit sind die Akzente deutlich verschoben, und hellenistische Elemente (z. B. griechisches Weltbild, griechische Philosophie) wurden bei der Übersetzung in die Texte mit eingetragen. Es kam somit zu einer Akzentverschiebung in Richtung auf die Aufnahme von Diskursen mit der hellenistischen Welt, faktisch also zu einer Hellenisierung des AT. Doch dies kann im Folgenden außer Betracht bleiben; wir konzentrieren uns ganz auf den Zusammenhang zwischen Hebräischer Bibel und Altem Orient.5

2.

Die Forschungsgeschichte

Mit den Ausgrabungen in Babylon und der Auffindung und Entzifferung der großen babylonischen Weltschöpfungsepen gerieten babylonische Literaturwerke am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jh.s in den Fokus biblischer Forschung. Das babylonische Weltschöpfungsepos Enuma Elisch wurde mit der Schöpfungserzählung, das Gilgamesch-Epos mit der Sintflutgeschichte verbunden. Der Vergleich erbrachte: Die biblische Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a wie die Sintflutgeschichte in Gen 6–9 haben in der babylonischen Literatur Entsprechungen und teilen mit ihr diverse 4 Ihr Name, »Siebzig«, leitet sich von der Tradition ab, dass 72 Älteste aus Jerusalem die Tora auf Ersuchen des Königs Ptolemäus II. Philadelphos (283/2–246 v. Chr.) ins Griechische übersetzt hätten (Aristeas-Brief). Dieser Ursprungsmythos wurde in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten auf alle ins Griechische übersetzten biblischen Bücher ausgeweitet. 5 Vgl. in diesem Band § 4 und § 5.

22

1. Kapitel: Umfeld

Motive, Konzepte und Abläufe. Da relativ schnell klar war, dass die babylonischen Texte die älteren waren, konnte die vermutete Abhängigkeit der verwandten Texte aus Israel und Babylonien nur dahingehend erklärt werden, dass die biblischen Texte auf den babylonischen aufbauten und nicht etwa umgekehrt. Ein wichtiger Meilenstein war Hermann Gunkels Buch »Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit« aus dem Jahr 1895. Nach seinen Einsichten geht die biblische Schöpfungserzählung von Gen 1 auf das babylonische Epos zurück, welches in der »vorprophetischen Zeit« nach Israel gekommen sei. Von den Babyloniern habe man somit sehr viel gelernt. Dieses babylonische Wissen sei aber erst in Israel »mit israelitischen religiösen Gedanken durchdrungen« worden.6 Das babylonische Wissen habe sich inzwischen als Irrtum erwiesen, wohingegen die religiösen Gedanken Israels die babylonischen Mythen eigenständig so umgestaltet hätten, dass sie nach wie vor Grundlage christlichen Glaubens sein können. Noch stärker auf diesen Pfaden wandelte Friedrich Delitzsch, der mit seinen beiden Vorträgen der Jahre 1902 und 1903, die er unter dem Titel »Babel und Bibel« publizierte (und denen sich ein dritter Vortrag 1904 anschloss), den gleichnamigen Streit provozierte. Ihm zufolge stammen zentrale biblische Gedanken und Konzepte aus Babylonien und wurden durch die Entlehnung in das Alte Testament umgegossen und »monotheisiert«. Die Präferenz, die er Babylonien als der älteren, klareren, moralisch-ethisch und kulturell höher stehenden Kultur gab, und der während der Jahre durch Vertreter des sog. Panbabylonismus sich steigernde Eifer, überall in der Hebräischen Bibel babylonische Vorlagen zu entdecken, so dass den biblischen Texten, die als eine jüdische Adaptation der babylonisch-assyrischen Texte angesehen wurden, kaum noch Eigenwert und Originalität zukam, führte schnell zu einer Abwertung des Alten Testaments. Delitzsch selbst hatte anfangs keinen Zweifel daran zugelassen, dass er die weltgeschichtliche Bedeutung des Alten Testaments im Monotheismus sah, wohingegen Babylonien immer polytheistisch geblieben sei.7 Allerdings wurden seine Urteile über das Alte Testament im Laufe seines Lebens immer unsachlicher, antijudaistischer und schärfer, so dass er 1920 klar formulierte, dass das Alte Testament »für die christliche Kirche und damit auch für die christliche Familie vollkommen entbehrlich« sei.8 Schon der erste Vortrag hatte in der Folge eine breite und z. T. sehr emotional geführte öffentliche Diskussion ausgelöst, da besonders konservative christliche und jüdische Kreise die heilsgeschichtliche Bedeutung der Bibel und ihren Offenbarungsgehalt in Frage gestellt sahen. Schon 1904 war das öffentliche und kaiserliche Interesse an Delitzsch jedoch deutlich zurückgegangen. Allerdings verschärften die Vertreter des Panbabylonismus die Auseinandersetzung um das Alte Testament, die immer stärker antijüdische und antisemitische Züge annahm. Nach nun mehr als 100 Jahren nach dem Babel-Bibel-Streit kann als Konsens betrachtet werden, dass lineare literarische Abhängigkeiten alttestamentlicher Texte von mesopotamischen, ägyptischen, syro-aramäischen (oder aber auch von den ab

6 Gunkel, Schöpfung und Chaos, 170. 7 Delitzsch, Babel und Bibel, 18. 8 Delitzsch, Die große Täuschung, 95.

§ 1 Bibel und Orient

23

1928 entdeckten ugaritischen) Texten nur in wenigen Ausnahmen (s. u.) mit Sicherheit festgestellt werden konnten. Was jedoch sehr klar herausgearbeitet werden konnte, ist, wie stark die Hebräische Bibel in Themen, Motiven, Konzepten, Vorstellungen und Abläufen ihrer altorientalischen Welt verpflichtet und verhaftet ist. Die biblischen Autoren brauchten keine mesopotamische oder ägyptische literarische Vorlage, um ihre eigenen Literaturen zu schreiben. Sie waren Teil der altorientalischen Welt, in der bestimmte Motive, Themen und Konzepte zum kollektiven Gedächtnis gehörten, und sie schöpften aus diesem Fundus, um ihre Gedanken in literarische Werke zu fassen. Sie waren dabei eigenständige Schöpfer ihrer Texte, so dass Kategorien wie »entlehnen«, »umgießen«, »kopieren«, »abschreiben« oder gar »fälschen« einfach nur falsch sind. Dass sich bei ihrer Arbeit Anklänge und Übereinstimmungen mit babylonischen, assyrischen, ägyptischen u. a. altorientalischen Literaturwerken und -gattungen ergeben, ja sogar Zitate und Namensgleichheiten möglich sind und man auch dieselbe Bildsprache verwendet, liegt in der Natur der Sache. Wer die Lebenswelt (z. B. die Wüste als Grenzgebiet), den Klima-, Sprach- und Wirtschaftsraum, dieselben kulturell-sozialen Parameter (z. B. Geltung des Gastrechts, Hochschätzung von Tradition, Königtum als Regierungsform, Schultexte), anthropologischen (z. B. patriarchale Strukturen) und religiösen Grundüberzeugungen (z. B. Bestrafung von Sünde durch Gott/die Götter, Gesetzgebung gründet in Gott/den Göttern, Bedeutung der »Weisheit« s. u.) miteinander teilt, teilt auch die Motive, Themen und Konzepte, die in diesem Kulturraum heimisch sind. Die Fragen mögen dabei oft dieselben sein, die Antworten sind es jedoch bei genauem Hinsehen eben gerade nicht.

3.

Die Hebräische Bibel im altorientalischen Kontext

Kein Studium biblischer Geschichte, Motive, Themen oder Konzepte kann als vollständig angesehen werden, wenn der altorientalische und/oder ägyptische Hintergrund nicht mit beleuchtet und bedacht wird. Nur im Rahmen der altorientalischen Geschichte und Religionsgeschichte lassen sich die Besonderheiten der religiösen Konzepte und Überzeugungen der Autoren der alttestamentlichen Schriften herausarbeiten und klar profilieren. Im Folgenden soll dies anhand der a) Vernetzung der Geschichte Israels und der biblischen Schriften in der altorientalischen politischen »Großwetterlage« b) Vernetzung der Alltagskultur und Realien Israels und der biblischen Schriften mit der altorientalischen Lebenswelt, c) Vernetzung biblischer Schlüsselkonzeptionen mit altorientalischen Konzepten kurz und exemplarisch gezeigt werden. a)

Vernetzung der Geschichte Israels und der biblischen Schriften in der altorientalischen politischen »Großwetterlage«

Die Bibliothek der Hebräischen Bibel besteht aus diversen Schriften, die in der Zeit des Zweiten Tempels zu einem Buch zusammengewachsen sind. Mit Ausnahme der

24

1. Kapitel: Umfeld

meisten Psalmen (hier aber noch einmal eigens zu betrachten sind die Geschichtsspsalmen) und der Weisheitsschriften lassen sich in fast allen Büchern zeitgeschichtliche Reflexe und Bezüge aufzeigen. Dabei geht es nirgends darum, eine geschichtliche Chronik der Ereignisse zu entwerfen, als vielmehr darum, Selbstinterpretationen der eigenen Geschichte und theologische Texte unterschiedlicher Zielrichtungen vorzulegen. Alle biblischen Bücher teilen das Bekenntnis des Glaubens an Jhwh ebenso wie das Bestreben, in ihrem Zeugnis andere zu überzeugen. Die Hebräische Bibel entwirft dabei die Geschichte des Gottesvolkes eingebettet in den Anbeginn der Schöpfung der Welt zu Anfang aller Zeit (Gen 1) und ihrer Neuschöpfung am Ende der Zeiten (Jes 60,19), vom Auszug aus Ägypten über den Einzug ins Gelobte Land, über die Gründung der Staaten Israel und Juda samt deren Ende durch die Assyrer bzw. Babylonier bis zur Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels nach dem babylonischen Exil unter persischer Protektion (Esr 1,1–6,18) und dessen Entweihung durch den Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.) durch die Aufstellung des »Gräuels der Verwüstung« (Dan 9,27; 11,31; 12,11; 1Makk 1,41–43; 2Makk 6), wobei seine Wiedereinweihung im Jahre 164 v. Chr. (memoriert im Chanukkafest) im hebräischen Kanon nicht mehr mit aufgenommen ist. Damit sind schon die wichtigsten altorientalischen Reiche genannt, die den Vorderen Orient und die Geschichte Palästinas dominiert haben: Ägypten, Assyrien, Babylonien, Persien und das Reich der Seleukiden. Die dargestellte Zeit, die Geschichten vom Exodus mit dem Zeltheiligtum bis zu dem entweihten bzw. wieder eingeweihten Tempel zur Zeit der Makkabäer erzählt, ist im Wesentlichen mit dem identisch, was man in der Archäologie Palästinas als die Eisenzeit, die babylonisch-persische und hellenistisch-römische Zeit beschreibt. Wie man unschwer erkennen kann, sind in diese Terminologie die jeweils herrschenden Großreiche mit eingeflossen, die in der Tat auch archäologisch ihre Spuren hinterlassen haben. Schon die Anfänge »Israels« waren eng mit den Nachbarn verbunden. Wie auch immer man die genauen Vorgänge rekonstruiert,9 nicht umsonst ist die erste außerbiblische Bezeugung des Begriffs »Israel« auf einer ägyptischen Stele des Pharaos Merenptah zu finden (1208 v. Chr.),10 und einer der zentralen Ursprungsmythen der Entstehung des alten Israel, die Exoduserzählung, zentriert sich um das Reich der Pharaonen. Und auch in den folgenden Epochen setzt sich die enge Verbindung des alten Israel mit seinen näheren (Moab, Edom, Ammon, Aram-Damaskus, Tyros, Ekron, Aschdod, Gaza etc.) und ferneren Nachbarn (Ägypten, Mesopotamische und »Griechische« Reiche) weiter fort. Entweder weil die südliche Levante durch einen Feldzug umgestaltet oder auch nur in Mitleidenschaft gezogen wurde, oder weil die Königreiche Israel (Nordreich) oder Juda (Südreich) Allianzen oder Intrigen mit ihren Nachbarn schmiedeten, kollaborierten oder rebellierten, oder einfach mit ihnen Handel trieben. Auch von interkulturellen Eheschließungen weiß die Hebräische Bibel zu berichten, wenn z. B. Isaak mit Rebekka eine Aramäerin (Gen 25,20), Salomo eine Pharaonentochter (1Kön 3,1) oder Ahab mit Isebel eine

9 Vgl. unten § 3. 10 Siehe TUAT I, 544–552.

§ 1 Bibel und Orient

25

Phönizierin (1Kön 16,31) ehelichen. Politische Verflechtungen zwischen Israel/Juda mit den Nachbarn spiegeln sich vor allem im Kanonteil der (Vorderen und Hinteren) Propheten, wenn die Königsbücher bestimmte Feldzüge oder Tributzahlungen notieren (2Kön 15,19f.; 738 v. Chr. Menahem von Israel zahlt dem Assyrerkönig Tiglat-Pileser III. Tribut11; 734 v. Chr. Ahas von Juda u. a. zahlen demselben König Tribut 2Kön 16,712; 722/0 v. Chr. Fall Samarias 2Kön 17,5f.13), in den Prophetenbüchern (bes. Jeremia und Jesaja) vor diplomatischer Schaukelpolitik und falschen Allianzen gewarnt wird, Fremdvölkerorakel Jhwhs Willen über die Völker bekunden (z. B. Jes 19), wenn das Prophetenbuch Nahum erleichtert über den Untergang des neuassyrischen Reichs frohlockt, wenn Jes 45,1 den Perserkönig Kyros als Messias bezeichnet, u. a. weil damit die verhasste babylonische Herrschaft ein Ende haben wird, oder auch wenn das Edikt des Perserkönigs Kyros (538 v. Chr.) gleich mehrfach überliefert wird (Esr 6,3–5; 5,14; 1,2–4 = 2Chr 36,23). Dieser kurze Durchgang zeigt: Im 1. Jt. geriet Palästina wiederholt in die Einflusssphäre seiner expandierenden Nachbarn, die denn auch sein politisches und wirtschaftliches Geschick bestimmten. Viele der religiösen und politisch-sozialen Vorgänge innerhalb der Levante spielten für die Autoren und Redaktoren des Alten Testaments keine Rolle, da sie ihnen keine Relevanz für die Glaubensgeschichte mit Jhwh zuerkannten. Folgerichtig ließen sie sie weg oder erwähnten sie nur am Rande. Andere wurden mit klaren Bewertungen versehen oder wurden als derart bedeutend angesehen, dass sie gleich mehrfach erzählt wurden, so dass sich Doppelüberlieferungen ergeben, die unterschiedliche Perspektiven zum Ausdruck bringen. Den alttestamentlichen Theologen lag durchwegs an einer theologisch-programmatischen und nicht an einer historisch-deskriptiven Aussage. Um zu erkennen, was die jeweiligen Autoren nun in ihrer Darstellung für wichtig und was sie für unwichtig erachteten, wo sie also ihre Akzente setzten, selektierten, (ver-)schwiegen, umdeuteten oder auch wie sie ihre theologisch-programmatische Aussage gestalteten, ist es wichtig, die biblische Erzählung mit anderen Quellen zu konfrontieren, die aus derselben Lebenswelt stammen, wenn nicht gar dasselbe Ereignis oder dieselben Vorgänge zum Gegenstand haben. Nur so kann man profilieren, was genau einem biblischen Autor am Herzen lag, und was er den nachfolgenden Generationen mitteilen wollte. Das war im seltensten Fall die reine Information über das Stattfinden irgendeines Krieges in irgendeiner Stadt im Vorderen Orient, sondern der Erweis des göttlichen Heilsplans mit seinen Menschen. Die theologische Interpretationsleistung der biblischen Autoren kann vor dem Hintergrund der (Re-)Konstruktion der Ereignisse, wie sie sich unabhängig von ihrer theologischen Interpretation vielleicht »tatsächlich« abgespielt haben (was immer unter dem Vorbehalt der Hypothese bleibt), erst präzise erfasst werden (was ebenso immer hypothetisch bleibt). Das ist nicht immer möglich, da für die historische (Re-)konstruktion mit den Methoden der modernen Geschichtswissenschaft häufig die außerbiblischen Quellen fehlen, die die Vorgänge der Vergangenheit erhellen

11 Dies wurde auf der Seite des Assyrerkönigs ebenso vermerkt, s. TUAT I, 370–373.378. 12 Dito, s. TUAT I, 374f. 13 Dito, s. TUAT I, 378–387.

26

1. Kapitel: Umfeld

könnten. Doch wurden in den letzten Jahrzehnten in dieser Hinsicht große Fortschritte erzielt. Zum einen sind aus Palästina selbst außerbiblische Schriftzeugnisse hinzugekommen, zum anderen wird aus den Nachbarkulturen unaufhörlich neues Textmaterial bekannt, aus dem sich neue Erkenntnisse gewinnen und alte verifizieren oder falsifizieren lassen. Generell gilt: Je mehr man bereit ist, verschiedene Quellenbereiche (archäologische Befunde, biblische und außerbiblische Texte, Bilder), Methoden und die daraus erarbeiteten Interpretationen miteinander ins Gespräch zu bringen, desto differenzierter, plastischer und dichter wird die vergangene Kultur und Gesellschaft Palästinas zu beschreiben sein. Und umso besser werden wir die biblischen Autoren und ihre Schriften verstehen. b)

Vernetzung der Alltagskultur und Realien Israels und der biblischen Schriften mit der altorientalischen Lebenswelt

Die Ergebnisse der Biblischen Archäologie, insbesondere der Ikonographie und des Studiums der altorientalischen Bild- und Realienwelt, können für die Interpretation biblischer Texte von Relevanz sein, wenn es um die Klärung von topographischen Gegebenheiten, Realien, Sozialstrukturen, Technologien, Verkehrswegen, Importen und Handelsstrukturen u. a. m., also der Alltags- und Lebenswelt der Menschen geht, welche die Hebräische Bibel geschrieben haben und für die sie geschrieben wurde. Selbst biblische Ortsangaben (z. B. Mamre) können mehr als ein topographischer Hinweis sein und eine theologische Konnotation enthalten. Um dies zu verstehen, muss man die Topographie Palästinas kennen. Auch die Bildsprache und Metaphorik der Hebräischen Bibel ist der altorientalischen Lebenswelt verpflichtet, so dass sie sich erst voll erschließt, wenn man diesen Hintergrund ausleuchtet. Als Beispiel sei auf die Metaphorik verwiesen, die im Alten Orient, Alten Testament oder in den wenigen einschlägigen epigraphischen Funden aus Palästina benutzt wurde, um Sterben, Tod und Unterwelt zu beschreiben. Im Zusammenhang mit der Rede vom Übergang vom Leben zum Tod und vom Dasein des Toten in der Unterwelt teilen sich Alter Orient und Altes Testament zahlreiche Vorstellungen (z. B. das Schattendasein der Toten in der Unterwelt). Aber auch die Metaphorik diesbezüglich zeigt einen beachtlichen gemeinsamen Fundus, da man eben Bilder aus dem Bereich der Flora (Ps 102,5.12 versengte Kräuter) und Fauna (Ps 102,7 Dohle/Pelikan in der Wüste, Eule in Ruinen, 102,8 einsamer Vogel) der israelitisch-judäischen und altorientalischen Lebens- und Erfahrungswelt (Hiob 13,28 Kleid mit Mottenfraß, 14,11 vertrocknender Fluss; Ps 31,13 zerschlagenes Gefäß, 102,12 länger werdender Schatten) verwandte, um diesen Grenzbereich menschlichen Daseins sprachlich und begrifflich zu erfassen. Eine Metapher, die in mesopotamischen wie alttestamentlichen Texten verwendet wird, um der Rede vom Sterben eines Menschen eine spezielle Nuance und Färbung zu geben, ist der Vogelfang: Der konkrete Vorgang aus dem Bereich der Jagd14 wird aufgenommen, wenn

14 Zur Vogelhaltung und -jagd in Palästina s. Riede, Netz, 339–346.

§ 1 Bibel und Orient

27

das Fangen von Vögeln mit Fallen und Netzen als Bild für den bedrohten und sterbenden Menschen gebraucht wird.15 Der lebendige Mensch wird dabei mit dem freien Vogel assoziiert, der somit zur Metapher für die individuelle menschliche Vitalität (hebr. naepaeš16), steht. Ebenso schnell wie der freie Vogel gefangen werden kann, kann der Tod den Menschen ereilen. So werden Vogelfang und Sterben (wie auch Fischfang und Sterben) z. B. in Koh 9,12 miteinander assoziiert, wenn festgestellt wird: Auch kann der Mensch seine Stunde nicht erkennen. Wie die Fische, die im tückischen Netz gepackt werden und wie die vom Klappnetz gepackten Vögel, so werden die Menschenkinder gefangen zur Stunde des Unheils, wenn es plötzlich über sie kommt.

Der ständig vom Tod bedrohte Mensch entspricht hier dem gejagten Vogel, das schnell zuschnappende Klappnetz zeigt den unvorhersehbaren Zugriff des Todes auf den arglosen Menschen/Vogel an, und die Vogeljagd steht für die Todesgefahr, der der Mensch immer ausgesetzt ist. Eine ähnliche Metaphorik, die das Böse (in Gestalt von Krankheiten, Tod oder Dämonen) wie etwas beschreibt, das den arglosen Menschen jagt, verfolgt und sich über ihn wie ein Fangnetz wirft, findet sich auch in mesopotamischen Texten. Als Opfer auf der Flucht kommt der Gejagte dem Vogel gleich, der den Netzen und Fallen des Vogelfängers zu entkommen sucht. Ist man erst einmal unter dem Netz gefangen, schwinden die Kräfte und erlahmen die Bewegungen, so dass Kraftlosigkeit eintritt und der Tod nahe kommt. Dies veranschaulicht der folgende mesopotamische Text, der zitiert, was der Kranke in einem Krankenritual sprach, das beim Fest der Ischtar und des Dumuzi vollzogen wurde. Es handelt sich um ein Gebet, bei dem der Kranke die Göttin Ischtar bat, ihn von allem Bösen, das ihn einschloss, zu befreien: 68 Alles Böse, das mich erfasst hat und mich stets begleitet, [m]ich befallen hat, 69 mich nicht loslässt wie ein [F]angnetz, [mich bede]ckt, 70 wie ein Netz mich niederwirft, all [mein F]leisch [zum Schwinden bringt,] 71 alle meine Sehnen umkleidet hält, meinen Mund immer wieder ergr[eift ....] (soll Ischtar verjagen)17. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass man sterbende, tote und der Vergänglichkeit ausgelieferte Menschen mit der Metapher des gejagten, und unter dem Netz gefangenen Vogels bezeichnen konnte. Sogar verschiedene Jagdtechniken können durch die unterschiedlichen Netz- und Fallenbezeichnungen mit eingeholt werden: Fallen, die am Boden stehen, und Netze, die von oben geworfen werden, bringen zum Ausdruck, dass man jederzeit aus allen Richtungen unversehens angegriffen werden kann. Wie diese Fallen genau ausgesehen haben, kann man der altorientalischen und ägyptischen Ikonographie entnehmen.18 Die metaphorische Rede vom Vogel im Netz stand für die Deprivation von Leben, Bewegung und Licht 15 16 17 18

Ausführlich dargelegt in Berlejung, Tod und Leben, 465–502. Zum Begriff s. Wolff, Anthropologie, 25–48; Janowski, Die lebendige naepaeš, 51–94. Farber, Beschwörungsrituale, 131/144:68–71, parallel dazu ebd., 196:20’–22’. Siehe dazu die Publikationen von Othmar Keel und seiner Schule, z. B. Keel, Welt der altorientalischen Bildsymbolik.

28

1. Kapitel: Umfeld

und damit für den Menschen, der der Todessphäre anheimgefallen war. Die Rettung konnte (wie bei wirklichen Vogelfallen) nicht etwa durch Eigeninitiative oder durch die Hilfe von Artgenossen, sondern nur durch eine hilfreiche überlegene und fürsorgliche Hand erfolgen, womit sich das Angewiesensein des Menschen auf einen wohlgesonnen Gott ausdrückte. Anders als im Alten Orient, wo eine Vielzahl von Göttern einen Menschen in Todesgefahr bringen, aber auch wieder daraus retten konnten, ist es im Alten Testament Jhwh allein, der dem bedrohten Menschen aus der Gefahr heraushelfen kann. So konnte der Beter in Ps 140,5f., der sich von bösen und gewalttätigen Mitmenschen verfolgt sah, die ihn mit Klappfallen und Fangnetzen (also aus allen Richtungen) verfolgten, nur von Jhwh allein Hilfe erbitten. c)

Vernetzung biblischer Schlüsselkonzeptionen mit altorientalischen Konzepten

An biblischen Schlüsselkonzeptionen, die mit altorientalischen und ägyptischen Konzepten in Beziehung stehen, gibt es eine breite Auswahl. Hier wären z. B. Weltbild-, Ordnungs- und Schöpfungsvorstellungen, die Bundeskonzeption, der sog. »Heilige Krieg«, Todesvorstellungen, Königsideologie, Tempeltheologie, Jurisdiktion und Gesetzgebung, Ethik, Reinheitsvorstellungen oder der große Bereich der Anthropologie zu nennen. Im folgenden Abschnitt soll es jedoch um den Bereich der Weisheit gehen, in dem das Alte Testament am stärksten an der Kultur seiner orientalischen Umwelt partizipiert. Dies gilt zunächst für die traditionelle Weisheit, die von der Vorstellung einer den Kosmos durchwaltenden Schöpfungsordnung geprägt ist, so dass sich der Mensch für ein gelingendes Leben auf feste geltende Regeln der Lebens- und Orientierungsweisheit verlassen kann: Allen voran ist dies der sog. »Tun-Ergehen- Zusammenhang«, der davon überzeugt ist, dass Tun und Ergehen eines Menschen einander bedingen. Aber auch die sog. »Krise der Weisheit«, die sich im Alten Testament in den Büchern Hiob und Kohelet niedergeschlagen hat, ist dem Alten Orient und Ägypten eng verbunden. Weisheit ist ein internationales Phänomen, das in altorientalischen Schriften seit dem 3. Jt. v. Chr. bei den Sumerern und Ägyptern und seit dem 2./1. Jt. v. Chr. im syrisch-aramäischen Raum begegnet. Alttestamentliche Schriften, die der Weisheit zugerechnet werden, lassen sich von der Königszeit bis in die hellenistisch-römische Zeit nachweisen und stehen somit eher am Ende einer Jahrtausende alten Traditionsbildung. Zwischen allen altorientalischen Texten (hierin nun die biblischen eingeschlossen) lassen sich analoge Themen, Motive, Strukturen und Sprachformen erkennen. Gattungen, denen die Weisheitsbücher des TNK sowie die von weisheitlichen Sprach- und Denkmustern geprägten Abschnitte in den übrigen Kanonteilen (z. B. Josefsgeschichte) angehören, haben in Mesopotamien und Ägypten (aber auch Griechenland) Parallelen. Die Frage nach einer möglichen Abhängigkeit alttestamentlicher Texte von der Umwelt stellt sich bei der Vergleichslektüre jedes einzelnen Textes immer wieder neu. Ebenso die, wie man sich die Verbindung und Kontakte altisraelitischer Weisheitskreise und -lehrer zu mesopotamischen und ägyptischen Weisheitstraditionen und -lehrern vorzustellen hat. Wer hat wann von

§ 1 Bibel und Orient

29

wem was gehört oder gelesen? Die Beziehungen zwischen weisheitlichen Texten unterschiedlicher Herkunft sind nicht alle gleich, sondern sehr unterschiedlich komplex. In den meisten Fällen handelt es sich um motivische und thematische Anklänge, die sich damit erklären lassen, dass die Texte in einem gemeinsamen Lebensraum im östlichen Mittelmeergebiet entstanden sind, in dem die Menschen seit dem 3. Jt. v. Chr. dasselbe Weltbild und dieselbe weisheitliche Wirklichkeitsauffassung teilten. Zudem ist es eben so, dass die Weisheit die Grundfragen menschlichen Lebens reflektiert, die zu einem erheblichen Teil ja doch interkulturell und überindividuell identisch sind (z. B. Tod, Leid, Krankheit, Grenzen menschlicher Erkenntnis, Ethik u. v. a.). Im Kontext vergleichbarer gesellschaftlicher und auch geistesgeschichtlicher Gegebenheiten und Veränderungen konnten in verschiedenen Regionen auch unabhängig voneinander analoge Themen- und Motivkomplexe, Konzepte sowie Fragen oder auch ihre Antworten entwickelt werden. Diskurse über dasselbe Thema konnten daneben aber auch sehr unterschiedlich intensiv und mit unterschiedlichen Ergebnissen miteinander geführt werden, so dass sich keine allgemeine Regel der interkulturellen altorientalischen Interaktion formulieren lässt. Mit am eindeutigsten besteht eine literarische Abhängigkeit zwischen der ägyptisierenden Lehre in Spr 22,17–23,11 und der aus dem 12. Jh. v. Chr. stammenden ägyptischen Lehre des Amenemope19, die in Abschriften und Zitaten bis in das 2. Jh. n. Chr. überliefert und rezipiert wurde. Es bestehen inhaltliche und strukturelle Parallelen.20 So entspricht beispielsweise Spr 22,17 dem Anfang des ersten Kapitels von Amenemope. Nach der Einleitung beginnen die Weisungen zum Schutz des Schwachen in Spr 22,22 mit einer Parallele zum Anfang des zweiten Kapitels von Amenemope, mit dem dann der Hauptteil des Buches anfängt. Zudem haben fast alle Verse in Spr 22,17–23,11 eine Entsprechung im ägyptischen Text. Wann die ägyptische Lehre in der biblischen Form verfasst und ins Sprüchebuch integriert wurde, ist nicht eindeutig geklärt. Notwendigerweise stand am Anfang eine Übersetzung des ägyptischen Texts ins Hebräische, doch werden teilweise zwischen dieser ersten Vorlage und der in Spr vorliegenden Textfassung mehrstufige Überlieferungsprozesse diskutiert. Bei allen bislang offenen Fragen, wenn man die beiden Texte nebeneinander legt, wird schnell klar, dass die ägyptische Lehre charakteristisch modifiziert wurde, da sie mit ihrer Ausrichtung des Handelns am Rechtsmaßstab Jahwes »jahwisiert« wurde. Jhwh selber nimmt sich nun der Armen, Witwen und Waisen an (Spr 22,19.23; 23,10f. [mit Textkonjektur]), wobei insbes. Spr 22,19 als Einleitung mit dem Hinweis auf Vertrauen zu Jhwh die folgenden Lehren religiös bzw. jahwistisch motiviert. Der Verfasser von Spr 22,17–23,11 hat das Material aus Amenemope also mit großer dichterischer Freiheit verwendet und es seinen Intentionen entsprechend neu gestaltet. Thematische (aber keine wörtlichen) Übereinstimmungen bestehen zwischen dem Hiobbuch und anderen altorientalischen Texten, die sich mit dem Thema des

19 Übersetzt von Brunner, Weisheitsbücher, 234–256. 20 Siehe Schipper, Lehre, 53–72 und 232–248. Eine Synopse beider Texte bietet Laisney, Amenemope.

30

1. Kapitel: Umfeld

leidenden Gerechten, der Theodizee und der Infragestellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs auseinandersetzen.21 Zu nennen sind aus dem mesopotamischen Bereich die sumerische und babylonische Version »Ein Mann und sein (persönlicher) Gott« (2200 bzw. 1700 v. Chr.), die sog. »babylonische Theodizee« (ca. 1200–1100 v. Chr.)22 und das große Dankgebet an Marduk »ludlul bel nemeqi« (»Preisen will ich den Herrn der Weisheit«; ca. 1300 v. Chr.)23. Doch auch aus Ägypten gibt es Vergleichbares in den »Mahnworten des Ipu-wer« (ca. 2200–2040 v. Chr.)24, dem Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba (Ende 2. Jt. v. Chr.)25, den Harfnerliedern (16.–11. Jh. v. Chr.)26 oder den »Klagen des Bauern«,27 der sein Recht einfordert. Unter der aramäisch überlieferten Literatur aus dem 1. Jt. v. Chr. ist insbesondere noch der Achiqar-Roman28 zu nennen, der wie das Hiobbuch eine rahmende Erzählung mit Weisheitssprüchen verknüpft. Motivparallelen zum Koheletbuch, insbes. dem dort belegten carpe diem-Motiv, finden sich u. a. in den schon erwähnten Harfnerliedern. Allerdings sind bei der Interpretation des Koheletbuchs auch hellenistische Texte (z. B. Gnomik) mit einzubeziehen. Aufs Ganze gesehen lässt sich innerhalb der alttestamentlichen Weisheit eine Entwicklung beobachten, die von einer Alltags- oder Lebensweisheit mit eher impliziter religiöser Fundierung (wie sie im gesamten Orient vorzufinden ist) in der nachexilischen Zeit zu einer theologisch reflektierten Weisheit führt. Diese theologisierte Weisheit, die zumeist in Oberschichtskreisen verortet wird, tritt uns vor allem im schon erwähnten Hiobbuch und in Spr 1–9 entgegen. Diese Theologisierung der Weisheit ist charakterisiert durch die ausdrückliche Begründung weisheitlicher Lebensregeln mit dem Handeln, Wesen und Willen Jhwhs. Der Fokus liegt nun auf der Gottesfurcht, dem individuellen Gottesverhältnis und der (Tora-orientierten) vorbildlichen Ethik, die den Weg des Menschen für ein gelingendes Leben bestimmen sollen. Dazu kommt die Vorstellung von der Personifikation der Weisheit (Frau Weisheit Spr 9) als Mittlerin der Offenbarung Jhwhs, die in ihr Haus einlädt und dem Weisen/Gerechten den Weg des Lebens zeigt. Ihre Gegenspielerin ist Frau Torheit, deren Haus den Eintretenden geradewegs in die Unterwelt befördert. Der Weise wird damit denn auch mit dem Gerechten identifiziert, wohingegen der Tor den Gottlosen bezeichnet. Der wahre Weise ist somit der, der sein Leben an der Tora ausrichtet. Den Bogen zwischen Weisheit und dem Pentateuch29 schließlich schlagen z. B. die späten, post-deuteronomistischen Zusätze zum Buch Deuteronomium. Sie spiegeln die Tendenz der Verbindung von Weisheit und Gesetz in entsprechender Wei-

21 22 23 24 25 26 27 28 29

Siehe einleitend Berlejung, Sin and Punishment, 272–287. Übersetzt in TUAT III, 143–157. Deutsche Übersetzung in TUAT III, 110–135. Neu und besser Oshima, Babylonian Poems. ANET, 441–444. ANET, 405–407. Übersetzt in TUAT II, 905–908. ANET, 407–410. Übersetzt in TUAT III, 320–347. Zur Sapientialisierung der Tora s. Schipper, Hermeneutik, 256–269.

§ 1 Bibel und Orient

31

se, wenn die Gesetzesbefolgung mit weisheitlicher Lebensführung identifiziert wird, so dass die Nachbarvölker Israel als ein weises und verständiges Volk erkennen und preisen (Dtn 4,6): So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten in den Augen der Völker, wovon gilt, wenn sie alle diese Gebote hören, werden sie sagen: Wahrlich, was für ein weises und verständiges Volk, (ist doch) diese große Völkerschaft.

Dtn 4,6–8 positioniert das Gottesvolk im Kontext der Nachbarvölker und benennt seine Besonderheiten aus der eigenen Perspektive heraus, wie sie sich dem spätnachexilischen Schreiber darstellten: Diese sind in der besonderen Nähe des Gottesvolks zu Gott gegeben sowie im Besitz der gerechten Weisungen und Gebote der Tora, die Mose dem Volk am Horeb gab und die auch den anderen Völkern als »weise und verständig« erscheinen werden. Damit ist auf den Punkt gebracht, was am Ende einer langen religions- und theologiegeschichtlichen Entwicklung stand: Gegenüber dem in der vorderorientalischen Umwelt üblichen Polytheismus setzte sich im alten Israel sukzessive die Überzeugung von einem einzigen Gott durch, der von der Welt als seiner Schöpfung wesensmäßig unterschieden und bildlos zu verehren ist. Mit dem Monotheismus wurde zugleich ab der exilischen Zeit eine Universalisierung der Geschichte und des Wirkungskreises Jhwhs verbunden, ohne die unverbrüchliche Bindung Jhwhs an sein von ihm erwähltes Volk aufzugeben. Mit diesem verbinden ihn eine lange gemeinsame Geschichte, besondere Nähe und vor allem die Tora. Über Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte gründeten sich Judentum und Christentum auf dieses Fundament und bezogen die gleichen Texte in den Kanon ihrer heiligen Schriften ein, für die bis heute Gültigkeit beansprucht wird. Die Entscheidung christlicherseits, dem Neuen Testament das Alte – in griechischer Übersetzung und in teilweise anderer Anordnung, gegenüber dem hebräisch-aramäischen Textbestand aber ungekürzt – voranzustellen, entspricht der grundlegenden Bedeutung des Alten Testaments, das auch das Erbe des Alten Orients weiter getragen hat.

Bibliographie Berlejung, Angelika, Tod und Leben nach den Vorstellungen der Israeliten. Ein ausgewählter Aspekt zu einer Metapher im Spannungsfeld von Leben und Tod: Janowski, Bernd/Ego, Beate (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 465–502. Dies., Sin and Punishment. The Ethics of Divine Justice and Retribution in Ancient Near Eastern and Old Testament Texts: Interpretation 69 (2015), 272–287. Brunner, Hellmut, Die Weisheitsbücher der Ägypter. Lehren für das Leben, Düsseldorf/Zürich 2 1988. Delitzsch, Friedrich, Babel und Bibel: Ein Rückblick und Ausblick, Stuttgart 1904. Ders., Die große Täuschung. Kritische Betrachtungen zu den alttestamentlichen Berichten über Israels Eindringen in Kanaan, die Gottesoffenbarung vom Sinai und die Wirksamkeit der Propheten, Stuttgart/Berlin 1920/1921 (Reprint 1934). Farber, Walter, Beschwörungsrituale an Ištar und Dumuzi. Attī Ištar ša harmaša Dumuzi (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Veröffentlichungen der Orientalischen Kommission 30), Wiesbaden 1977.

32

1. Kapitel: Umfeld

Gunkel, Hermann, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12, Göttingen 1895. Janowski, Bernd, Die lebendige naepaeš. Das Alte Testament und die Frage nach der »Seele«: Etzelmüller, Gregor/Weissenrieder, Annette (Hg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston 2016, 51–94. Kaiser, Otto u. a. (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I.1ff., Gütersloh 1982ff. (TUAT). Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich u. a. 41984. Laisney, Vincent Pierre-Michel, Art. »Amenemope, Lehre des«: https://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/66897/ (Zugriff 28.7.2016). Oshima, Takayoshi, Babylonian Poems of Pious Sufferers: Ludlul Bēl Nēmeqi and the Babylonian Theodicy (ORA 13), Tübingen 2015. Pritchard, James Bennett, Ancient Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, Princeton 3 1969 (1950) (ANET). Riede, Peter, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn 2000. Schipper, Bernd Ulrich, Die Lehre des Aménémopé und Prov 22,17–24,22 – eine Neubestimmung des literarischen Verhältnisses: ZAW 117 (2005), 53–72 u. 232–248. Ders., Hermeneutik der Tora: Studien zur Traditionsgeschichte von Prov 2 und zur Komposition von Prov 1–9 (BZAW 432), Berlin/Boston 2012. Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments (Kaiser Taschenbücher 91), Gütersloh 6 1994.

§ 2 Bibel und Archäologie Ed Noort, Groningen

1.

Bezeichnungen, Zeiten und Landschaften

Wer sich ein Bild machen möchte über das Verhältnis von Archäologie und Bibel, begegnet einer verwirrenden Vielfalt von Namen und Zielen, Regionen und zeitlichen Begrenzungen. Wenn unter »Archäologie« vereinfachend die kulturgeschichtliche Deutung von Ausgrabungsergebnissen und Fundstücken verstanden wird, gibt es zwei Bezeichnungen, die geschichtlich bedingt und theoretisch Gegenpole sind. Die traditionelle Bezeichnung Biblische Archäologie verweist auf den Ursprung dieses Wissenschaftszweiges, in dem die Fragestellung oft durch die biblische Überlieferung vorgegeben war und die Ergebnisse damit in Verbindung gebracht wurden. Der Gegenpol ist die Archäologie der südlichen Levante als regionaler Zweig der Vorderasiatischen Archäologie, die methodisch selbstständig und unabhängig von den literarischen Quellen ihre Ergebnisse präsentiert. In der heutigen Praxis liegen beide Vorgehensweisen nicht weit auseinander. Dazwischen liegen Bezeichnungen wie Archäologie Palästinas, wobei (Syrien-) Palaestina traditionell die alten römischen Provinzen westlich und östlich des Jordans meint und nicht die Vielfalt der Bedeutungen im modernen politischen Sprachgebrauch. Ein ähnliches Streben, nicht an moderne Grenzen gebunden zu sein, steckt hinter der Bezeichnung Archaeology of

§ 2 Bibel und Archäologie

33

the Holy Land oder the Land of the Bible, obwohl dort die religiöse Komponente auf jeden Fall in der Namensgebung wieder stärker ist. In diesem Beitrag wird generell die Bezeichnung Archäologie Palästinas benutzt. Es handelt sich dann um die damaligen römischen Provinzen Palaestina (und Arabia). Sie sind deckungsgleich mit Teilen der modernen Staaten Libanon, Syrien, Israel, Jordanien und Ägypten (Sinai). Zeiträume, die erforscht werden, sind unterschiedlich. In der klassischen Biblischen Archäologie richtete man das Augenmerk hauptsächlich auf die Perioden, in denen die biblischen Schriften spielten oder entstanden sind. Waren das früher das zweite Millennium v. Chr. mit Blick auf die Patriarchenerzählungen und die Landnahme Israels und mit spezieller Aufmerksamkeit für den Übergang von der Spätbronzezeit (1550–1150 v. Chr.) zur Eisenzeit I (1250–1000 v. Chr.), danach das erste Millennium v. Chr. mit der Königszeit, so haben neben einem neu erwachten Interesse am Frühjudentum die heutigen Spätdatierungen in der Exegese dazu beigetragen, dass die Zweite Tempelperiode (515 v. Chr. – 70 n. Chr.) ebenfalls archäologisch erhellt wird. Die Archäologie Palästinas bzw. der südlichen Levante, die stärker gebietsorientiert war, erschloss auch die früheren Perioden. Die beiden besten Kompendien sind das Handbuch von Helga Weippert (1988) und das von Margreet Steiner und Ann Killebrew herausgegebene Oxford Handbook (2014). Sie setzen beide viel früher ein: Weippert schon im Paläolithikum (ab 700.000 v. Chr.) und Steiner/Killebrew im Neolithikum (ab 8000 v. Chr.). In Palästina ist eine wichtige Determinante für die Archäologie – und nicht nur für sie – die Landschaft und ihre einzigartige Struktur. Auf einem relativ kleinen Gebiet finden sich hier gewaltige Unterschiede, die die Entfaltung menschlicher Aktivität sowohl ermöglichen als auch verhindern. Am einfachsten lässt sich das Land in vier von Norden nach Süden verlaufende Streifen einteilen. An der Mittelmeerküste gibt es eine flache Küstenebene (1), die im Süden bis zu 40 km breit ist, aber im schmalsten Teil nur 10 km. Neben dieser Küstenebene erhebt sich im Querschnitt das westjordanische Bergland (2) mit Spitzen um 1000 m ü. M., um danach steil abzufallen zum Jordantal. Dieser Jordangraben, der dritte Streifen (3), gilt bei Jericho und beim Toten Meer als tiefste Senke der Welt, etwa 380 m u. M. Sie ist Teil des Syrischen Grabenbruchs vom Orontes über das Jordantal und das Tote Meer durch die Araba zum Roten Meer und zum Ostafrikanischen Graben. Die vom Mittelmeer kommenden Winde und Wolken regnen nur auf der Westseite des Zentralgebirges ab. Extreme Gegensätze werden so sichtbar. Wer auf dem Ölberg bei Jerusalem nach Westen schaut, sieht grüne Täler und Hügel. Wer nach Osten schaut, sieht die absolute Trockenheit der vegetationslosen Wüste Judas. Diese Konstellation ermöglicht extreme Temperaturunterschiede. In Jerusalem auf etwa 800 m ü. M. kann es regnen oder selbst schneien, während 20 km weiter in Jericho 400 m u. M. Temperaturen bis zu 40° C gemessen werden. Geht man weiter im Querschnitt, steigt nach dem Jordantal und dem Toten Meer das transjordanische Gebirge (4) an mit Spitzen bis zu 1700 m. Es ist höher als das westjordanische Gebirge, erleichtert aber durch verschiedene Hochebenen die Transportmöglichkeiten. Im Osten fällt das Gebirge langsam bis zur großen syrischen und arabischen Wüste ab. Diese Struktur des Landes bedingt Transport-, Reise- und Handelsmöglichkeiten, vor allem aber auch die Möglichkeit zu militärischen Unternehmungen. Eigentlich

34

1. Kapitel: Umfeld

gibt es nur zwei Verbindungen, die überregionale Bedeutung hatten. Die eine führte als die sogenannte Königsstraße von Saudiarabien über die ostjordanischen Hochebenen nach Damaskus. Die zweite, für die Geschichte Palästinas wohl folgenreichere, war die nach Jes 8,23 benannte via maris, die in späterer Interpretation als »Weg am Meer« verstanden wurde. Sie führte von Ägypten und Gaza am Meer entlang, überwand den Karmel und ging weiter nach Norden entweder an der phönizischen Küste entlang oder durch das obere Jordantal nach Damaskus und erreichte später den Eufrat und Mesopotamien. Die damaligen Großmächte, Ägypten und die Reiche auf dem Boden Mesopotamiens – Assyrien, Babylonien und weiter östlich Persien – bestimmten aufgrund der geographischen Bedingungen das Geschick Palästinas als Durchgangsland, Aufmarschgebiet und potentielles Schlachtfeld. Durch die kontinuierliche Vorherrschaft dieser Großmächte wurde Palästina entweder von der ägyptischen oder von der mesopotamischen Seite beansprucht und konnte auf dem Boden Palästinas nie ein Großreich entstehen. Mehr noch, in den viertausend Jahren vom zweiten Millennium v. Chr. bis heute hat es auf dem Boden Palästinas nur etwas mehr als vierhundert Jahre selbstständige Staaten gegeben.

2.

Bibelwissenschaft und Archäologie Palästinas

Die Bibelwissenschaft und die Archäologie Palästinas sind durch eine lange, im letzten Jahrhundert oft mühsame Beziehung miteinander verbunden. Die Wurzeln reichen sehr weit zurück. Anknüpfend bei den Wallfahrten nach Jerusalem in der Zeit des Zweiten Tempels, entwickelte sich ab dem 4. Jh. ein christliches Pilgerwesen ohnegleichen. Heilige Orte wurden in einer bestimmten Reihenfolge besucht, Gebete und Texte rezitiert, ein Mehr an Heilserleben erwartet und gefunden. Bei dieser gesteigerten Erwartung, Glauben, biblische Erzählungen und Orte miteinander zu verbinden, war Historizität in modernem Sinne nicht das höchste Ziel. Tradition und die Interessen und Kenntnisse von lokalen Mönchen und Priestern beherrschten das Feld. Abweichende oder spätere Erkenntnisse hatten kaum Einfluss auf den Grad der Verehrung eines heiligen Ortes. »Die alten Itinerarien ... können es im Einzelnen zeigen, wie damals durch die Lektüre der heiligen Schrift Bäume und Steine sich belebten und zu Stätten heiliger Erinnerung wurden, wie die Gräber sich auftaten und ihr Inhalt zum Mittelpunkt der christlichen Gemeinde wurde.«30 Diese bunte Mischung von biblischer Tradition, theologisch bestimmter Geographie und heiligen Orten, von wirtschaftlichen Interessen und Marktwirkung inmitten einer einzigartigen Landschaft und einer immer wechselnden politischen Szenerie brachte Quellen hervor, die auch heute einen faszinierenden Einblick in eine beginnende Palästinawissenschaft bieten. Der Bischof Eusebius von Caesarea (etwa 260–339) verfasste ein ausführliches Kompendium biblischer Ortsnamen und ihrer Lokalisierung in Verbindung mit den

30 Thomsen, Loca Sancta, 5.

§ 2 Bibel und Archäologie

35

Erzählungen des Alten und Neuen Testaments. Diese Schatzkammer antiker Landeskunde wurde von Hieronymus ins Lateinische übersetzt und seinerseits kommentiert. Heutzutage liegen auch Übersetzungen in moderne Sprachen vor. Eine weitere ergiebige Quelle ist die 1884 aufgefundene Mosaikkarte in der St. Georgs-Kirche von Madeba in Jordanien, die ursprünglich etwa 93 m2 groß war. Die Karte stammt aus dem 6. Jh. und zeigt das Land vom Libanon bis nach Oberägypten und vom Mittelmeer bis zur syrischen Wüste. Mit den vielen Details, den Angaben der römischen Meilensteine, den Texten und den Vignetten einer Reihe von Groß- und Kleinstädten demonstriert sie, wie in der byzantinischen Zeit die Topographie der Bibel verstanden wurde. Vor allem die berühmte Vignette Jerusalems zeigt, wie präzise die Mosaizisten gearbeitet haben. Eine exakte Kopie der Karte findet sich im Archäologischen Institut der Universität Göttingen.

3.

Wissenschaftliche Reisen

Bis zum 19. Jh. sind die Quellen hauptsächlich literarisch. Neben den Itinerarien der Pilger sowie der arabischen und christlichen Literatur während und nach den Kreuzzügen entsteht eine blühende Literatur der wissenschaftlich Reisenden. Carsten Niebuhr bereiste 1761–1767 den Orient inklusive Persien, Indien und Arabien im Auftrag des dänischen Königs. Ulrich Jasper Seetzen (Musa el-Hakim) tat sich 1802–1810 hervor; er gab sich als Muslim aus, erreichte Mekka, schickte archäologische Fundstücke zurück nach Gotha und kopierte Inschriften. Johannes Ludwig Burckhardt (Scheich Ibrahim) reiste ebenfalls vermummt als Muslim. Er wollte ursprünglich nach Afrika, bereiste dann aber den Orient 1809–1817, entdeckte die langgesuchte Stadt Petra, erwarb Manuskripte, studierte Pflanzen und Tiere, beschrieb das Leben der Beduinen und fertigte kartographische Skizzen an. Die Tagebücher und abenteuerlichen Reisebeschreibungen solcher Männer waren eine Goldgrube für die alttestamentliche Wissenschaft. Nicht umsonst war es der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis, der die Reisen von Carsten Niebuhr initiierte. Reisebeschreibungen wurden von namhaften Alttestamentlern wie Wilhelm Gesenius und Heinrich Ewald herausgegeben oder kommentiert. Die Faszination für den Orient machte sich auch auf politischer, ja militärischer Ebene bemerkbar. Bei seinem Feldzug nach Ägypten und Palästina (1798–1801) nahm Napoleon 167 Wissenschaftler und Künstler mit, um Ägypten nicht nur zu erobern, sondern auch zu beschreiben. Wichtig war, dass die Aufklärung für neue Zugänge im Denken und Wahrnehmen sorgte. Als um 400 n. Chr. die fromme Pilgerin Etheria die Mönche am angeblichen Mosegrab fragte, woher sie denn wüssten, um welches Grab es sich handle, antworteten sie: »So wie es uns die älteren, die hier gewohnt haben, gezeigt wurde, so zeigen wir es euch; diese älteren aber sagten, sie selbst hätten es wieder von älteren erfahren ... .«31 Die kirchliche, mündliche Tradition war die Hüterin der Wahrheit.

31 Etheria, Peregrinatio Aetheriae, 132.

36

1. Kapitel: Umfeld

Dagegen beschrieb knapp 1500 Jahre später der Vater der modernen biblischen Topographie, Edward Robinson, sein Vorgehen folgendermaßen: »...unsere Erkundigungen so viel wie möglich nicht von den Legenden der Mönche und anderer Fremder, sondern von den eingeborenen Arabern des Landes einzuziehen ...«.32 Für Robinson galt jetzt die arabische Tradition als autochthon. Er befragte Bauern und Dorfbewohner nach den arabischen Namen ihrer Siedlungen, von Bergen, Tälern und Flüssen, entdeckte vielerlei Kontinuität zwischen den biblisch-hebräischen und den modern-arabischen Namen und konnte so eine Vielzahl von topographischen Identifizierungen vornehmen. So wurde die kirchliche Tradition durch die Feldarbeit mit den arabischen Einwohnern des Landes als führende Instanz abgelöst.

4.

Der Palestine Exploration Fund

Als um die Mitte des 19. Jh.s die alten Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens durch die ersten Ausgrabungen sichtbar wurden, verstärkte dies auch den Drang, mehr vom Heiligen Land selbst zu wissen. Einer der Wendepunkte war 1865 die Gründung des Palestine Exploration Fund in London. Die Ziele des PEF waren Landeskunde in breitestem Sinne, darunter das Studium der Sitten und Gebräuche in Palästina, der Topographie, der Geologie, der Botanik, der Zoologie und der Meteorologie. Eines der wichtigsten Ergebnisse war die Vermessung des Landes und die Anfertigung von zuverlässigen Karten durch den Survey of Western Palestine (1872–1877). Die 26 Kartenblätter (1880) wurden ergänzt von drei Bänden mit tausenden Ortsnamen, Daten und Beschreibungen, wie es der Zielsetzung des PEF entsprach.33 Charles Warren und Claude Condor waren die Autoren des vierten Bandes über Jerusalem, in dem die äußerst abenteuerlichen Ausgrabungen von Warren und Charles Wilson in Jerusalem beschrieben wurden.34 Mit diesen Ausgrabungen wurde der Grundstein gelegt, Archäologie in Palästina als das Studium der materiellen Hinterlassenschaft zu verstehen.

5.

Feldarchäologie in Palästina

In der Praxis waren die Anfänge der Feldarchäologie in Palästina nicht einfach. Der erste bedeutende Schritt wurde von den »Tunnelgräbern« in Jerusalem gesetzt. Charles Warren als Pionieroffizier der britischen Armee versuchte, mit Hilfe von Schächten die Fundamente der herodianischen Stütz- und Umfassungsmauern des Tempelberges zu erreichen, erforschte die Wassersysteme Jerusalems und hinterließ trotz mancher Fehldeutungen genaue Aufzeichnungen, die später ausgewertet und korrigiert werden konnten. Eine zweite Phase fing an mit der Arbeit des Ägyptologen William Matthew Flinders Petrie, später fortgesetzt von Frederick Bliss

32 Robinson, Palästina II, 345. 33 Conder/Kitchener, Memoirs. 34 Warren/Conder, Survey of Palestine.

§ 2 Bibel und Archäologie

37

(1858–1937), auf Tell el-Hesi (124.106) ab 1890. Er war der erste Archäologe in Palästina, der den schichtweisen Aufbau eines Ruinenhügels als Möglichkeit nutzte, eine alte Siedlung zu datieren. Was sich später tausendfach bewähren sollte, war die Entdeckung, dass eine Siedlung nach einer Verwüstung durch militärische Gewalt, Erdbeben, Feuer, Regen, Erosion oder andere Naturgewalten so gut wie immer an der gleichen Stelle wieder aufgebaut wurde. Der Grund dafür ist einfach. Die Gründung einer Stadt oder Siedlung wurde bestimmt von der lebenswichtigen Bedingung einer ausreichenden Wasserversorgung. Wenn dies möglich war an einer verkehrsgünstigen (Handel) oder strategischen Lage (Angriff und/oder Verteidigung), fand der Wiederaufbau an der gleichen Stelle statt, und wurde exakt auf den Ruinen der verwüsteten Siedlung erneut gebaut. So entstand Schicht auf Schicht, mit der ältesten Bebauung als unterster Schicht und der neuesten, jüngsten Bewohnung als oberster Schicht. Bei diesen Ruinenstätten als künstlichen Hügeln (Tell) in der Landschaft Palästinas sind 20 Wohnschichten nicht ungewöhnlich. Dazu kam, dass Flinders Petrie entdeckte, dass in den verschiedenen Schichten die (Haushalts-)Keramik sich wandelte. So konnte anhand von Entwicklungen und Änderungen bei Kochtöpfen, Vorratsgefäßen und anderer Haushaltskeramik durch die Fundlage eine relative Datierung gewagt werden. Kochtopf A ist älter als Kochtopf B, weil A in einer älteren Wohnschicht gefunden wurde. Ein solcher Vergleich sagt etwas über das Verhältnis der Keramikstücke zueinander aus, aber ermöglichte noch keine Datierung, die in absolute Jahreszahlen umgesetzt werden konnte. Aber auch dafür hatte Flinders Petrie eine Lösung. Auf Tell el-Hesi, nahe an der Grenze zu Ägypten, fanden sich ägyptische Artefakte, die durch inschriftliches Material in Ägypten datiert werden konnten. So wurde durch die Verbindung von Wohnschicht (Stratum) und typologisch analysierbarer Keramik eine relative Datierung und durch andere ägyptische Fundstücke eine Umsetzung in absolute Jahreszahlen möglich. Es sind diese Verknüpfungen, die der Palästinaarchäologie zu Grunde liegen. Bis jetzt war aber nur die Rede vom Prinzip einer Datierung und, wie oft bei solchen Durchbrüchen, führte die Verabsolutierung zu verhängnisvollen Fehlern. Auch wenn das Prinzip der aufeinanderfolgenden Wohnschichten (Stratigraphie) stimmt, ein Tell gleicht nicht einem regelmäßig aufgebauten Schichtkuchen. Andere Materialien werden gebraucht, Teile der neuen Bebauung sind höher als andere, Fundamente werden an einer Stelle tiefer in eine frühere Schicht eingelassen, Erdbeben können Schichten verrutschen lassen, Bebauung fand nur partiell statt oder alte Materialien wurden wieder benutzt. Das alles erfordert eine sorgfältige Beobachtung und eine äußerst genaue Stratigraphie und zeigt zugleich, wie unregelmäßig eine Schicht aufgebaut sein kann. Als nach der Entdeckerfreude sich ein System entwickelt hatte, in dem man annahm, dass Schichten wie einfache, horizontale Plattformen aufgebaut waren, entwickelte sich daraus eine Grabungspraxis, die annahm, dass alle Objekte, die auf einer bestimmten Tiefe anzutreffen waren, zu einer Schicht gehörten. Die falschen Datierungen häuften sich, und der vermeintliche Fortschritt verkehrte sich ins Gegenteil. Es waren die Amerikaner George Andrew Reisner (1867–1942) und Clarence Stanley Fisher (1876–1941), die in eine andere Richtung gingen. Sie verbanden einzelne, übereinstimmende Fundgruppen der Keramik auf einem Grabungsareal miteinan-

38

1. Kapitel: Umfeld

der und bestimmten so die Schicht oder das Stratum. Die schematisch festgelegte Schichtfolge wurde fallengelassen, das Ziel war jetzt die Datierung breitflächiger Architektur. Es war dann die britische Archäologin Kathleen Kenyon (1906–1978), die wieder zu der Stratigraphie, der genau festgelegten Folge der Wohnschichten, zurückkehrte. Bei ihren Ausgrabungen in Jericho (1952 bis 1958) und Jerusalem (1961 bis 1967) perfektionierte sie die von Mortimer Wheeler übernommene stratigraphische Methode und praktizierte sie in beiden wichtigen Ausgrabungsorten. Ihre Grabungen waren nicht durch große (Ober-)Flächengrabungen gekennzeichnet, sondern durch das Graben in Quadranten von meistens fünf mal fünf oder höchstens zehn mal zehn Meter. Die Stege zwischen den Quadranten ließ sie stehen, und an ihnen konnte man ein äußerst genaues Profil ablesen, das mit den Funden im Quadranten verbunden wurde. Obwohl die Methode auch Nachteile hat, wurden durch die im Kontext studierten Objekte und die Verbindung mit den nahen vertikalen Profilen kontrollierbare Aussagen möglich. Das bedeutet, strikt genommen, dass die Archäologie Palästinas erst seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts über kontrollierbare und nachprüfbare Daten aus den Ausgrabungen verfügt.

6.

Die Rolle der Keramik

Es wurde schon auf die wichtige Rolle einer Analyse der Tongefäße bei Ausgrabungen hingewiesen. Nicht die Aufsehen erregenden Fundstücke, nicht einmal die Architektur, sondern die Tongefäße, besonders die Gebrauchskeramik, wurden das Mittel par excellence, um die Geschichte eines Ruinenhügels zu bestimmen. Tongefäße wurden klassifiziert nach der Form und der Dekoration eines Kruges, Topfes oder einer Schüssel. Die dabei auftretenden Variationen wurden dann in einer typologischen Reihe festgelegt und chronologisch bestimmt. Die Umsetzung der relativen Zeitbestimmung in absolute Jahreszahlen war das wichtigste Instrument zur Datierung einer Siedlung. Mit Hilfe externer Daten (meistens literarischer Quellen) wurde eine bestimmte Gebrauchskeramik mit einer bestimmten, meist ethnisch definierten, Trägergruppe verbunden. Wenn nun in der typologisch festgelegten Reihe der Gefäße eine signifikante Änderung auftrat, wurde nach der Ursache gesucht und diese meistens in der Ankunft neuer Bevölkerungsgruppen gefunden. Das braucht nicht falsch zu sein, doch werden dabei zwei wichtige Faktoren übersehen. Erstens führte die Verbindung bestimmter Gefäße mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe dazu, dass ein Umkehrschluss gewagt wurde. Auffällig dekorierte Gefäße wurden so z. B. den Philistern zugewiesen. Aber umgekehrt versuchte man auch zu zeigen, dass dort, wo diese Keramik gefunden wurde, die Philister anwesend waren und dominierend auftraten. Aber Gebrauchskeramik braucht nicht sprunghaft gewechselt zu werden bei einer neuen Herrschaft. Formen können nebeneinander bestehen. Bestimmte Luxusware kann bei Eliten unterschiedlicher Gruppen modisch geworden sein. So können verschiedene Erklärungsmodelle nebeneinander bestehen. Der zweite Faktor ist die Weise, in der die Typologisierung der Gefäße zustande kam. Form und Dekoration haben das Endprodukt im Blick und typologisierten nach kunstgeschichtlichen Kriterien. Welche Ursachen aber

§ 2 Bibel und Archäologie

39

beigetragen haben zur Entstehung eines Gefäßes, blieb außer Betracht. Dazu braucht es eine Analyse des Materials, der Tonsorte, und die Frage, ob dieser Ton lokal präsent ist oder nicht. Die Magerung der Tonsorte, die Technik der Anfertigung (handgeformt, Gussform, langsam oder schnell drehende Scheibe), die Rolle der Tradition bei Form und Dekoration und die Marktsituation bestimmen weitgehend die Produktion. Nur in einer zusammenhängenden Analyse von Material, Technik, Form, Dekoration, Nachfrage und Angebot können Änderungen in der Gebrauchskeramik gedeutet und mit einer bestimmten Trägergruppe verbunden werden. Und dabei ist noch nicht auszuschließen, dass bestimmte Gefäße von den Töpfern unterschiedlichen Gruppen angeboten wurden. Die genaue Stratigraphie eines Ruinenhügels und die breite Analyse der Tongefäße bleiben die wichtigsten Instrumente einer feldarchäologischen Untersuchung. Die Entwicklung methodischer Genauigkeit, die Hilfe von naturwissenschaftlichen Techniken und die gigantische Vermehrung des Grabungsmaterials und der Daten haben dazu beigetragen, die meisten Fehler aus der Vergangenheit zu korrigieren. Trotzdem blieben bei Missachtung der oben genannten kritischen Rückfragen immer noch Fehler möglich, die auch heutzutage zu immer neuen Diskussionen über die (Un)möglichkeiten archäologischer Aussagen führt.

7.

Das Land der Bibel

Dazu kommt eine spezifische Problematik, die mit Palästina als Land der Bibel zu tun hat. Auch in den angrenzenden Kulturen von Mesopotamien und Ägypten gibt es reichlich literarische Quellen: Archive und Inschriften. Sie wurden mehrheitlich im 19. Jh. ans Tageslicht gebracht, entziffert und gedeutet. Auch sie konnten in der modernen Zeit missbraucht werden von lokalen Herrschern, die sich mit den früheren Königen und Pharaonen identifizierten. Die Texte selbst aber gehörten klar der früheren Zeit an und haben – abgesehen von literarischen und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten – keine Bedeutung mehr für heutiges Denken und Glauben. Ganz anders die biblischen Texte, die nach einer beispiellosen Rezeptionsgeschichte bis heute für viele Menschen eine wie auch immer geartete Gültigkeit besitzen. Um die wechselhafte Geschichte zwischen Bibel und Archäologie zu skizzieren, kehre ich zurück zu der Gründung des Palestine Exploration Fund (PEF) 1865. Der breite Rahmen der Zielsetzung »to illustrate the Bible« war bemerkenswert. »No country should be of so much interest to us as that in which the documents of our Faith were written ... At the same time no country more urgently requires illustration. The face of the landscape, the climate, the productions, the manners, the dress, and modes of life of its inhabitants«35 sollten Forschungsziele sein. Dies alles war additiv gedacht, nicht apologetisch. Als aber einige Jahre später die amerikanische Schwesterorganisation gegründet wurde, fügte man zu der primären Zielsetzung noch »and to defend the Bible« zu. Damit wurde eine fatale

35 Prospekt des PEF vom 1.10.1865, abgedruckt in Conder/Kitchener, Survey I, 7.

40

1. Kapitel: Umfeld

Denkrichtung formuliert, die mithilfe der Archäologie die historische Wahrheit der Bibel gegen die historisch-kritische Wissenschaft verteidigen wollte. Dabei wurde von einer Seite behauptet, dass »archaeology confirmed the substantial historicity of Old Testament tradition«,36 während auf der anderen Seite Martin Noth vor einer Engführung der Begriffe warnte, weil nur ganz bestimmte Ziele in den Blick genommen wurden. Denn mit dem Ergebnis der Archäologie war meistens eine Datierung gemeint, und mit »Bibel« Ereignisse oder Vorgänge, die durch eine Verbindung mit einer archäologischen Datierung als historisch erwiesen galten.37 So entbrannte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein wissenschaftlicher Streit, in dem der Vorwurf »so nihilistic an attitude« von jenseits des Atlantik die deutsche historisch-kritische Bibel- und Palästinawissenschaft traf.38 Der Streit hatte große Folgen. Erstens hatten die amerikanischen Archäologen großen Einfluss auf die sich entwickelnde Archäologie in dem neuen Staat Israel. Der Fokus auf Historizität aus letztendlich religiösen Interessen der amerikanischen Archäologie deckte sich mit den nationalen Interessen Israels auf der Suche nach Identität und historischer Kontinuität. Zweitens erhielten popular-wissenschaftliche Darstellungen der Grabungsergebnisse im Kollektivgedächtnis eines breiteren Publikums einen viel größeren Platz als diffizile, differenzierte Verhandlungen der historischkritischen Fachliteratur. Inhaltlich musste aber die auf Historizität fixierte Biblische Archäologie sich letztendlich geschlagen geben. Ob man nun die eingestürzten Mauern von Jericho gefunden haben wollte, anhand von Brandschichten in verwüsteten Städten die Landnahme als historisch erwiesen ausgab, das hohe Alter der Erzväterzählungen meinte beweisen zu können oder Beweise für die Historizität der Sintflut sammelte und auswertete: Das alles konnte widerlegt werden. Inzwischen sind die Gegensätze abgebaut. Diesseits und jenseits des Atlantik wird intensiv nachgedacht über die Spielregeln der Palästinaforschung und der Archäologie der südlichen Levante. Auch in Israel ist eine neue Generation Archäologen herangewachsen, die die Bibel nicht mehr als Leitfaden zur historischen Rekonstruktion benutzt.

8.

Ein Beispiel, in dem alles zusammenkommt

Manchmal, aber nur selten, bilden literarische, feldarchäologische und ikonographische Quellen zusammen ein Mosaik, auf dem ein historisches Bild sichtbar wird. 2Kön 18,13–16 erzählt, wie 701 v. Chr. der assyrische König Sanherib in einem Feldzug alle festen Städte Judas eingenommen hat, nachdem Hiskija, der König von Juda, gegen ihn einen Aufstand angezettelt hatte. Der bedrängte Hiskija machte Sanherib das Angebot, ihm jeden Tribut zu zahlen, den er verlangte, um das noch nicht eroberte Jerusalem zu retten. Dazu setzte er alle Kostbarkeiten aus Palast und Tempel ein. San-

36 Albright, Archaeology, 169. 37 Noth, Grundsätzliches, 7–22. 38 Dazu Noth, Beitrag, 263 = 35, Anm. 2.

§ 2 Bibel und Archäologie

41

herib befand sich in dem Moment in Lachisch (Tell ed-Duwer 135.108), etwa 30 km südöstlich von Aschkelon und 50 km südwestlich von Jerusalem. Die Eroberung von Lachisch ist einer der seltenen Fällen, in dem alle Quellen ein übereinstimmendes Bild erlauben und sich ergänzen. Die biblische Nachricht wird unterstützt von dem Feldzugsbericht des Sanherib: »46 mächtige ummauerte Städte sowie die zahllosen kleinen Städte ihrer Umgebung belagerte und eroberte ich durch das Anlegen von Belagerungsdämmen, Einsatz von Sturmwiddern, Infanteriekampf, Untergrabung, Breschen und Sturmleitern.«39 Die Belagerung wird auf einem Relief im Palast des Sanherib in Ninive in allen Details gezeigt.40 Die dort zu sehende, von den Assyrern gebaute Rampe, auf der sich die Rammböcke an die Stadtmauer heranführen ließen, wurde bei den Ausgrabungen aufgefunden. An der Stelle, wo die Assyrer eingebrochen sind, findet sich auf der Innenseite der Mauer noch ein letzter Versuch der judäischen Verteidiger, eine eigene Rampe aufzubauen, um den Durchbruch zu verhindern. Dazu wurde Erde aus allen Teilen der Stadt zusammengetragen. Kleinfunde wie Pfeilspitzen und ein assyrischer Helmkamm demonstrieren das dramatische Geschehen. Hier fügen sich biblische und assyrische Texte, die Ausgrabungsergebnisse und das einzigartige ikonographische Material widerspruchslos zusammen.

9.

Der deutsche Beitrag

Es waren die Kolonialmächte England und Frankreich, später auch die USA, die eine intensive Ausgrabungstätigkeit im Vorderen Orient entfalteten. Zwar gab es auch deutsche Initiativen in Megiddo, Jericho und Sichem, aber ein Neuanfang war nach den beiden Weltkriegen schwierig und teilweise unmöglich. Erst ab den siebziger Jahren des 20. Jh.s konnten deutsche Archäologen sich wieder an Ausgrabungsprojekten in Israel beteiligen. Heutzutage gibt es mehrere deutsche Projekte in Israel und Jordanien. Trotz wichtiger Beiträge lag hier aber nicht die eigentliche Kraft der deutschen Wissenschaft. Als zwölf Jahre nach der Gründung des Palestine Exploration Fund der Deutsche Palästina Verein 1877 gegründet und 1900 die Stiftungsurkunde des Deutschen Evangelischen Institutes für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes ratifiziert wurde, begann mit den Direktoren Gustaf Dalman (1855–1941), Albrecht Alt (1883–1956) und Martin Noth (1902–1968) die Erarbeitung einer Landeskunde, die ihresgleichen sucht. Dalman erforschte und beschrieb die Welt Palästinas am Anfang des 20. Jh.s und zeigte mit seinen Bänden über »Arbeit und Sitte in Palästina«, die auch jetzt noch eine Fundgrube sind, wie Vergangenes bis in seine Zeit hinein weiterlebte. Albrecht Alt zielte ab auf eine historisch-dynamische Synthese der Spezialdisziplinen Kartographie, Geologie, Klimatologie, Botanik und archäologische Oberflächenforschung als Beitrag zur historischen Geographie und Siedlungs- und Territorialgeschichte.41 Diese Tradition machte das Deutsche Insti-

39 Der dritte Feldzug Sanheribs, TUAT I/4, 389: III 19b–23. 40 Ussishkin, Conquest of Lachish, Abb. 62–89. 41 Alt, Stand und Aufgaben, 3–23.

42

1. Kapitel: Umfeld

tut einzigartig. Es fand ein Brückenschlag statt zwischen geduldiger, kritischer Analyse der literarischen Quellen und der Landeskunde im weitesten Sinne.

10.

Neue Möglichkeiten

In der Feldarchäologie ist in den letzten Jahrzehnten sehr viel erreicht worden. Die Fixierung auf den einzelnen Tell wich Regionalprojekten. Die Zeiten sind vorbei, in denen geplant wurde, Megiddo (Tell el-Mutesellim 167.221) Schicht für Schicht komplett abzutragen, womit das Oriental Institute aus Chicago 1925 einen Anfang machte. Denn, wie gut auch dokumentiert wird, ausgraben bleibt eine Tätigkeit, bei der eine Schicht abgetragen, und das heißt: vernichtet wird. Allmählich wuchs die Einsicht, dass es weise sein kann, Material für spätere Forschungen unberührt zu lassen. Wie nötig das sein kann, zeigen große Grabungen wie Megiddo und Hazor (Tell el-Qedah 203.269) wo in den letzten Jahren neue Ausgrabungen begonnen wurden, teils um strittige Ergebnisse früherer Expeditionen korrigieren zu können. Wenn nicht nur ein Tell, sondern eine Region Objekt eines Projektes ist, entsteht die Möglichkeit, auch die ökologischen, wirtschaftlichen, machtpolitischen und sozialen Aspekte eines Gebietes zu studieren. Wenn die Wasserversorgung und die Bodenverhältnisse, die Möglichkeit für Agrarwirtschaft und Viehzucht, die Produktionsmöglichkeiten und Handelsbeziehungen, die strategische Lage und die Machtposition den umgebenden Dörfern und Städten gegenüber, die Sozialschichtung der Bevölkerung in einem breiteren Rahmen untersucht werden, können Aussagen über die Gesamtsituation in einem bestimmten Kulturraum während einer bestimmten Periode gemacht werden. Das erfordert Spezialisierung, die in der Archäologie längst zum Alltag gehört, aber auch den Blick für übergreifende Fragestellungen. Die Publikation einer Ausgrabung war lange Zeit die Achillesferse der Unternehmung. Grabungskampagnen brachten so viel Material ans Tageslicht, dass man über vorläufige Berichte – und öfters nicht mal das – nicht hinauskam. Die Dokumentation einer Grabung, die im Idealfall das exakte Vorgehen vom Anfangszustand bis zur erarbeiteten Situation in der Kampagne schriftlich, zeichnerisch und fotografisch festlegt, hat durch die Möglichkeit digitaler Datenerfassung einen gigantischen Sprung vorwärts gemacht. Online-Datenbanken sind auf dem Vormarsch. Zum Beispiel erfasst die Databank ADEMNES42 in Tübingen zur Zeit archäobotanische Daten von 533 Orten im Vorderen Orient. Die Frage nach der Datierung von Funden und Wohn- oder Brandlagen in einer Ausgrabung bildete oft die Verbindung zu den Fragen der literarischen bzw. biblischen Überlieferung. Dabei war die Umsetzung einer relativen in eine absolute, unseren Jahreszahlen entsprechende Datierung das Hauptproblem. Denn hiermit war oft eine historische Deutung verbunden, wozu sich die Archäologen nichtarchäologischer Argumente bedienten.

42 ADEMNES: Archaeobotanical Database of Eastern Mediterranean and Near Eastern Sites.

§ 2 Bibel und Archäologie

43

Eine Hilfe für eine absolute Datierung bieten heutzutage naturwissenschaftliche Methoden. Unter den bekanntesten ist die 14C-Radiokohlenstoffmethode. Sie ist jetzt auch für die historischen Perioden und nicht nur für die Prähistorie wichtig, weil nach Ausschaltung bestimmter Fehlerquellen präzisere Aussagen gemacht werden können und weniger Material benötigt wird. Für die Datierung von Tongefäßen hat sich die Thermolumineszenzdatierung bewährt. Dabei wird die gespeicherte Strahlungsenergie gemessen, die freigesetzt wird bei der Erhitzung des Festkörpers auf 300 bis 400° C. Diese Strahlungsmenge, durch den Brand des Gegenstandes auf null reduziert, nimmt danach wieder zu, und zwar proportional zur Zeit. Wird beim Auffinden des Tongefäßes durch erneutes Erhitzen diese Strahlungsmenge gemessen, so kann die Zeit errechnet werden zwischen dem erstmaligen Brand – in den meisten Fällen mit dem Herstellungsdatum identisch – und der Erhitzung nach dem Auffinden der Probe. Aber auch hier ist mit Fehlerquellen zu rechnen. Die dendrochronologische Altersbestimmung setzt voraus, dass der Holzzuwachs bei Bäumen diachron ungleich, synchron aber gleich ist, während die unterschiedlichen Jahrringbreiten über größere Gebiete miteinander vergleichbar sind. Weil Standardchronologien für diese Region nicht komplett vorhanden sind, ist die Methode nur partiell einsetzbar. Trotzdem hat der Einsatz naturwissenschaftlicher Techniken zu großen Fortschritten in der Grabungspraxis geführt.

11.

Eine Problematik, die bleibt

Dass sich die Debatte trotz des Einsatzes von 14C-Datierungen letztendlich um das Verhältnis von Feldarchäologie und literarischer Überlieferung dreht, zeigt der Kasus der sog. High and Low Chronology. Damit wird die Datierung von Schichten und Architekturresten vor allem in Megiddo und deren Zuweisung an Salomo gemeint (High Chronology). Werden die materiellen Reste jedoch den Omriden (Omri, Ahab), ein Jahrhundert später zugeteilt (Low Chronology), entsteht ein total anderes Geschichtsbild der Königszeit in Israel. Dann sind es nicht mehr die Davididen, die auf der Landbrücke zwischen Nil und Euphrat ein blühendes Staatswesen errichteten, sondern die Omriden. Es begann alles mit den Philistern. Anhand der Verbreitung der lokal gefertigten Mykene IIIC 1b Keramik als direkter Vorläufer der philistäischen Tongefäße schloss Israel Finkelstein, dass sie erst gegen Ende der Regierungszeit Ramses’ VI., 1135 v. Chr., erschien. Das Auftauchen der eigentlichen Philisterware geschah dann am Anfang des 11. Jh.s. Das reichte, um die übliche Chronologie etwa ein Jahrhundert herunterzudatieren.43 Danach folgte das kritische Hinterfragen der Monumentalarchitektur in Megiddo in den Schichten VB, VA/IVB. Der Bauherr war nicht länger Salomo aus der identitätsstiftenden davidischen Dynastie in Juda, sondern die biblisch negativ beurteilten Herrscher aus dem Nordreich Omri und Ahab.44 Die Zuweisung an Salomo war vor allem die Folge einer direkten Ver-

43 Finkelstein, Philistines, 213–239. 44 Finkelstein, United Monarchy, 177–187. Dazu Kletter, Chronology, 13–54.

44

1. Kapitel: Umfeld

bindung zwischen der Monumentalarchitektur und der biblischen Notiz 1Kön 9,15.19, nach der Salomo u. a. in Megiddo Mauersysteme verstärkte und Reiter- und Wagenstädte baute. In der Debatte kamen auch 14C-Daten in der renommierten Zeitschrift Science zum Einsatz.45 Eine Schlüsselrolle erhielt die 14C-Datierung von Getreidekörnern und Olivenkernen aus Tel Rehov (197.207) und die Verwüstung dieser Ortslage um 920 v. Chr. Nach dem Jerusalemer Archäologen Amihai Mazar war das Ende von Tel Rehov V dem Feldzug des Pharaos Schoschenk zu verdanken, und reichte die Eisenzeit IIA (klassisch 1000–900 v. Chr.) in einer Revised Traditional Chronology von 980 bis 840 v. Chr. und nicht von 900 bis 840 v.Chr., wie Finkelstein es wollte. Auffällig ist, dass nicht die Accelerator Mass Spectrometry (AMS) und die langsamere, aber genauere Proportional Gas Counting (PCG) mit ihren präzisen 14CDatierung das Endergebnis bestimmten. Bei der historischen Umsetzung wurde aber wieder auf Pharao Schoschenk zurückgegriffen, der nach den biblischen Texten ein Zeitgenosse Salomos/Rehabeams war und damit die Tür öffnete für Salomo redivivus. Bei aller Objektivität einer 14C-Datierung gelang die historische Umsetzung nur durch ein literarisches Argument. In diesem Zusammenspiel von Archäologie und Bibel gibt es keine puren, sondern nur interpretierte Fakten.

12.

Aussicht

William Dever hat darauf hingewiesen, dass die Fragestellungen rund um Bibel und Archäologie, obwohl in den Medien und beim weiteren Publikum immer gut für verstärkte Aufmerksamkeit, in der praktischen Arbeit in Israel und Jordanien heute eine viel kleinere Rolle spielen. Er schätzt, dass mindestens 75 Prozent der archäologischen Arbeit und Publikationen nichts mit der biblischen Überlieferung zu tun haben.46 Anthropologische Ansätze sind Gemeingut geworden. Ethnische Fragestellungen können unbefangener angegangen werden als in früheren Jahrzehnten. Siedlungsarchäologische Untersuchungen sind frei von dem Zwang, eine bestimmte historische Rekonstruktion beweisen zu müssen. Neue Aufmerksamkeit für eine tribale Gesellschaft ist imstande, Kontinuität und Änderung in einer soziologischen Schichtung präziser zu beschreiben. Spezialisierte Datenbanken können Auskunft geben über Vergleichsmöglichkeiten in einem viel größeren Rahmen als vorher. Das alles trägt dazu bei, diese spezifische Landbrücke, ihre Struktur, ihr Hinterland, ihre Bewohner, ihre Kultur und ihre Religionsgeschichte viel genauer zu beschreiben, als es früher möglich war. Es war dringend notwendig, dass die archäologischen Fragestellungen und die biblische Überlieferung erst einmal voneinander getrennt wurden. Wo jetzt methodische Selbstständigkeit auf beiden Seiten ausgereift ist, geht es aber auch um die Notwendigkeit, beide miteinander ins Gespräch zu bringen. Das setzt auf exegetischer Seite voraus, dass die behutsame Suche nach geschichtlichen Hintergründen

45 Mazar u. a., Science 300 (2003) 315–318; 302 (2003) 568. 46 Dever, Future?, 350.

§ 2 Bibel und Archäologie

45

offen bleibt für Ergänzung aus der ganzen Palette der archäologischen Feldforschung, aber auch, dass dieser geschichtliche Hintergrund nicht aus dem Fragenkatalog exegetischen Bemühens verschwindet. Auf archäologischer Seite setzt ein solcher Dialog voraus, dass nicht vorschnell nach einer historischen Umsetzung der archäologischen Daten mit fachfremden Argumenten gegriffen wird.

Bibliographie ADEMNES: Archaeobotanical Database of Eastern Mediterranean and Near Eastern Sites als Teil eines Projektes Climate, Agriculture and Society (Freiburg und Tübingen). Albright, William Foxwell, Archaeology and the Religion of Israel, New York 51969. Alt, Albrecht, Stand und Aufgaben der Palästinaforschung: ZDPV 52 (1929), 3–23. Conder, Claude Reignier/Kitchener, Horatio Herbert, Memoirs of the Topography, Orography, Hydrography and Archaeology, I Galilee, II Samaria, III Judaea, London 1881–1883. Dever, William G., Does `Biblical Archaeology` Have a Future?: Levi, Thomas. E. (Hg.), Historical Biblical Archaeology and the Future: The New Pragmatism, London 2010, 350–360. Etheria, Peregrinatio Aetheriae. Übersetzt von K. Vretska. Eingeleitet von H. Pétré, Stift Kloster Neuburg 1958. Finkelstein, Israel, The Date of the Settlement of the Philistines in Canaan: Tel Aviv 22 (1995), 213–239. Ders., The Archaeology of the United Monarchy: an Alternative View, Levant 28 (1996), 177–187. Finkelstein, Israel u. a., Comment on 14C dates from Tel Rehov: Iron Age Chronology, Pharaohs, and Hebrew Kings: Science 302 (2003), 568. Kletter, Raz, Chronology and United Monarchy: A Methodological Review: ZDPV 120 (2004), 13–54. Mazar, Amihai u. a., 14C dates from Tel Rehov: Iron Age Chronology, Pharaohs, and Hebrew Kings: Science 300 (2003), 315–318. Ders., Response to Comment on 14C dates from Tel Rehov: Iron Age Chronology, Pharaohs, and Hebrew Kings: Science 302 (2003), 568. Mittmann, Siegfried/Schmitt, Götz (Hg.), Tübinger Bibelatlas, Stuttgart 2001. Noth, Martin, Grundsätzliches zur geschichtlichen Deutung archäologischer Befunde auf dem Boden Palästinas: Palästina Jahrbuch 34 (1938), 7–22 = Wolff, Hans-Walter (Hg.), Noth, Martin, Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde, Bd. I, Neukirchen-Vluyn 1971, 3–16. Robinson, Edward, Palästina und die südlich angrenzenden Länder. Tagebuch einer Reise im Jahre 1838 in Bezug auf die biblische Geographie unternommen von E. Robinson und E. Smith, II, Halle 1841. Steiner, Margreet/Killebrew, Ann (Hg.), The Oxford Handbook of the Archaeology of the Levant. 8000–332 BCE, Oxford 2014. Thomsen, Peter, Loca Sancta: Verzeichnis der im 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr. erwähnten Ortschaften Palästinas mit besonderer Berücksichtigung der Lokalisierung der biblischen Stätten I, Halle 1907. Ussishkin, David, The Conquest of Lachish by Sennacherib, Tel Aviv 1982, Abb. 62–89. Vieweger, Dieter: Archäologie der Biblischen Welt, Gütersloh 42012. Warren, Charles/Conder, Claude Reignier, The Survey of Palestine: Jerusalem/London 1884, Nachdruck Jerusalem 1970. Weippert, Helga, Palästina in vorhellenistischer Zeit (Handbuch der Archäologie, Vorderasien II/1), München 1988.

46

1. Kapitel: Umfeld

Zwickel, Wolfgang, Einführung in die biblische Landes und Altertumskunde, Darmstadt 2002.Ders. u. a. (Hg.), Herders Neuer Bibelatlas, Freiburg u. a. 2013.

§ 3 Bibel und Geschichte Christian Frevel, Bochum Geschichte und Geschichten liegen in der Bibel nah beieinander. Begibt man sich auf die Suche nach Geschichte, trifft man auf Geschichten und in Geschichten findet man Geschichte. Das ist mehr als ein Wortspiel, denn würde man die Bibel nur einer der beiden Seiten zurechnen, hätte man schon ihren Anspruch verkürzt. Die Bibel hat selbst eine Geschichte und ist ohne Bezug zur Geschichte nicht zu verstehen. Trotzdem ist die Bibel ebenso wenig ein Geschichtsbuch wie sie in ihren Geschichten aufgeht. Im Verhältnis von Bibel und Geschichte geht es offenbar um Grundlegendes sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf das Verständnis der Bibel. Fragt man zuerst einmal, wie die Bibel selbst über Geschichte redet, stellt man verwundert fest, dass die Bibel gar keinen Begriff für Geschichte kennt, denn Abstraktbildungen sind im biblischen Hebräisch eher selten. Neben anderen Bezeichnungen ist am ehesten von den debārîm die Rede, was als »Worte, Angelegenheiten, Gegebenheiten« übersetzt werden kann. In den Königsbüchern ist häufig von den dibrê hajjāmîm die Rede (1Kön 14,19.29; 15,7.23.31 u. ö.), was als »Chronik« oder »Buch der Geschichte« übersetzt wird. Neben den debārîm, in denen Geschichten und Geschichte zusammenkommen, zeigt das Wort sefӕr die gleiche Nähe. Es kann im biblischen Hebräisch »Buchrolle, Schriftstück, Inschrift«, aber auch »Erzählung« meinen. In den Königsbüchern ist häufiger von einem »Buch (sefӕr) der Könige Israels/Judas« die Rede, in dem sich Informationen zu den Regierungen der einzelnen Könige finden lassen sollen (1Kön 11,41; 2Kön 14,15; 24,5 u. ö.). Abgehoben von »Erzählung« kommt der Begriff »Geschichte« im Sinne eines Zugriffs auf die Vergangenheit auch in Bibelübersetzungen eher selten vor. In Dtn 32,7, wo z. B. die Einheitsübersetzung den Begriff »Geschichte« benutzt (»Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen, frag die Alten, sie werden es dir sagen.«), übersetzen andere den im Hebräischen verwendeten Ausdruck dôr wedôr wörtlicher mit »von Generation zu Generation« (Elberfelder) oder »die Jahre der vergangenen Generationen« (Zürcher). Aber es ist klar, dass es um das aus der Vergangenheit her in die Gegenwart hinein Überlieferte geht. Wenn es im alten Israel einen Ort für die Geschichte und die Entstehung eines Geschichtsbewusstseins gegeben hat, dann wahrscheinlich am ehesten am Königshof, wo Archive und Listen geführt wurden. Betraut waren damit die Beamten und Schreiber, die sich um die diplomatische Dokumentation in den Archiven kümmerten. Ein Beispiel bietet die Estererzählung, in der die Weisen, die den König beraten, als diejenigen gekennzeichnet werden, die sich »in der Geschichte auskennen« (Est 1,13, Einheitsübersetzung). Wörtlich sind das vom hebräischen Text her diejenigen,

§ 3 Bibel und Geschichte

47

die sich auf »die Zeiten« verstehen (jod’ê hā’itîm). Bezogen auf eine höfische Geschichtsschreibung benutzen die meisten Übersetzungen daher in 1Chr 29,29 den Begriff »Geschichte«. So etwa die Zürcher Übersetzung: »Und die Taten Davids, des Königs, die früheren und die späteren, sieh, sie stehen geschrieben in der Geschichte Samuels, des Sehers, und in der Geschichte Natans, des Propheten, und in der Geschichte Gads, des Sehers.« Doch im Hebräischen steht auch dort der Plural debārîm – »Worte, Taten«.

1.

Die Bibel zwischen Mythos, Legende und Geschichten

Die Bibel erzählt wundervolle Geschichten, etwa von Abraham, von König Salomo oder von dem Propheten Jona. Dabei findet sich in der Bibel Glaubwürdiges und weniger Glaubwürdiges. Schon von daher kann das Verhältnis von Bibel und Geschichte kein einfaches sein. Wenn etwa Abram mit 318 Kriegern, die alle in seinem Haus als Sklaven geboren sind, gegen eine Koalition von vier stattlichen Königen siegreich kämpft (Gen 14,14f.), Salomo 700 Frauen und 300 Nebenfrauen hat (1Kön 11,3) oder Jona drei Tage im Bauch eines Fisches überlebt (Jona 2,1), kommen Fragen auf. Sind das Tatsachen, bloße Übertreibungen oder einfach erfundene Details? Für sog. Fundamentalisten ist in der Bibel bis ins kleinste Detail alles wahr, für andere ist die ganze Bibel bloß Erfindung, Fiktion oder Allegorie. Die einen versuchen mit allen Mitteln nachzuweisen, dass die in der Bibel erzählten Sachverhalte sich so zugetragen haben können, etwa dass das Reich Salomos tatsächlich vom Eufrat bis Gaza (1Kön 5,4) bzw. von Lebo-Hamat bis zum Bach Ägyptens (1Kön 8,65) gereicht oder die Königin von Saba ihn aus Südarabien tatsächlich im 10. Jh. v. Chr. in Jerusalem wegen seiner großen Weisheit besucht haben könnte (1Kön 10). Die anderen halten das für bloße Legenden und betonen, dass es eine Königin von Saba zur Zeit Salomos noch gar nicht gegeben haben kann und zudem in Syrien und im Libanon andere Herrscher als Salomo das Sagen hatten.47 Der Besuch der Königin von Saba mag also eine Legende sein, doch es besteht kein Zweifel, dass es Ägypter, Babylonier, Philister oder Aramäer gegeben hat, die alle in der Bibel erwähnt werden. Auch wenn keine Reste vom ersten Jerusalemer Tempel erhalten sind, weisen doch die Zerstörungen in Jerusalem und im Umland darauf hin, dass auch der Tempel von den Neubabyloniern 587/86 v. Chr. zerstört worden ist. Und wenn der israelitische König Ahab (871–852 v. Chr.) in einer Inschrift des Assyrers Salmanassar III. (859–824 v. Chr.) im Jahr 853 v. Chr. als Gegner in einer Koalition unter der Führung Hadad-Esers (ca. 875–845 v. Chr.) aus Aram-Damaskus genannt wird, lassen sich wenig Zweifel anbringen, dass »alles« nur Erfindung sei. Man mag darüber diskutieren, ob Abraham eine historische Person gewesen ist, die sich von Ur in Chaldäa nach Kanaan bewegte und bei den Eichen von Mamre wohnte (Gen 12,1–3; 13,18); doch dass der in den Makkabäerbüchern (1Makk 1,1; 6,2 u. ö.) erwähnte Makedonier Alexander der Große (356–323 v. Chr.) eine historische Figur war, wird

47 Vgl. dazu Finkelstein/Silbermann, David, 150–158.

48

1. Kapitel: Umfeld

man nicht bestreiten können. Aber vieles von dem, was über Alexander »berichtet« wird, ist Legende, etwa auch die bei dem jüdischen Schriftsteller Josephus zu findende Angabe, dass er bei seinem Zug in die südliche Levante in Jerusalem vorbeigeschaut habe (Jos. Ant. XI, 329–339). Umgekehrt sind z. B. viele geographische Details in den Erzelternerzählungen (Gen 12–36) keine bloße Erfindung. Wo aber verläuft die Grenze zwischen Mythos, Legende und Bericht? Dass Gott die Welt nicht in sieben Tagen und schon gar nicht im Jahr 4004 v. Chr. erschaffen hat, legt die wissenschaftlich gut begründete Evolutionslehre nachdrücklich nahe. Erzählungen über eine große Flut gibt es in vielen Kulturen, u. a. im GilgameschEpos oder im babylonischen Atramḫasis-Epos, was zu Beginn des 20. Jh.s n. Chr. den sog. Bibel-Babel-Streit ausgelöst hat, in dem es um die Frage nach der Originalität der biblischen Überlieferung vor dem Hintergrund der älteren Parallelüberlieferungen ging.48 Die Fluterzählungen spiegeln eher die Beschäftigung mit der Entstehung von Kultur überhaupt, als dass sie sich auf ein geschichtliches Flutereignis beziehen.49 Um die Frage, ob Abraham und Sara historische Personen im frühen zweiten Jahrtausend waren, wurde ebenfalls heftig gestritten, doch nachdem die biblische Wissenschaft die Entstehung der Abraham-Überlieferung in das fortgeschrittene erste Jahrtausend datiert hat, ist es darum doch ziemlich still geworden, und die historische Existenz Abrahams gilt den meisten als unwahrscheinlich.50 Beim Exodus, sicher der wirkmächtigsten Erzählung der Bibel, schwankt die Forschung zwischen Fiktion und Erinnerungsfigur, und zuletzt hat Jan Assmann gegen die breite Skepsis festgehalten, dass sich im Mirjam-Lied in Ex 15,21 ein geschichtlicher Haftpunkt für die Entstehung der Exodustradition finden lässt: »Ein besonderes Ereignis wird es gegeben haben, das von den Betroffenen als rettende Intervention JHWHs erfahren wurde und an das sich dann eine legendenhafte Erinnerung knüpfte.«51 Aber weit darüber hinaus kommt man nicht (s. u.). Die Erzählungen von der sog. Landnahme der Israeliten sind im Großen und Ganzen nicht als Bericht zu lesen. Nach dem Zusammenbruch der spätbronzezeitlichen Stadtkultur entsteht eine frühe Dorfkultur in und aus Kanaan und nicht in einer großen Einwanderungswelle, wie sie die Exoduserzählung uns glauben machen will.52 Dass David eine historische Figur war und in Jerusalem regierte, lässt sich seit einer 1993 gefundenen Inschrift von Tel Dan, die im 9. Jh. v. Chr. ein bytdwd »Haus Davids« bezeugt (HTAT 116), nicht mehr sinnvoll bezweifeln, aber dass er ein großer König im 10. Jh. v. Chr. in Jerusalem war, ist damit noch lange nicht erwiesen. Alle Versuche, ihn zum Herrscher eines international bedeutsamen Großreichs zu machen, wie die Bibel es etwa in 2Sam 8 schildert, sind bisher archäologisch und historisch gescheitert.53 Wenn es aber kein geeintes

48 49 50 51

Siehe dazu Gebauer, Babel-Bibel-Streit sowie in diesem Band oben § 1. Vgl. dazu Baumgart, Sinflut; Gertz, Genesis, 231–236. Vgl. dazu Mühling, Abraham, 30–76. Assmann, Exodus, 51. Zur Umformung von Geschichte in Mythos als einer Grundform des kulturellen Gedächtnisses auch Ders., Gedächtnis, 50.75–78. 52 Vgl. Frevel, Geschichte, 67–127. 53 Vgl. 150 Jahre Biblische Archäologie, 26–36; Frevel, Geschichte, 135–148.

§ 3 Bibel und Geschichte

49

Königreich gegeben hätte, würde auch die in 1Kön 12 geschilderte Reichsteilung zur Legende. Jerobeam I., der in 1Kön 11–12 maßgeblich mit der Abspaltung des sog. Nordreichs in Verbindung gebracht wird, dürfte von dem weit späteren Jerobeam II. (787–747 v. Chr.) her entworfen worden sein. Zwar geht die aus der Perspektive des Südens erzählte Geschichte Judas von einer ungebrochenen dynastischen Kontinuität von David bis Zidkija aus, doch bei genauerem Hinsehen handelt es sich dabei eher um eine Rückprojektion als um eine historische Wirklichkeit.54 Denn ob es überhaupt einen König Rehabeam gegeben hat, ist ebenso unsicher wie etwa, dass Ahasja von Juda (845 v. Chr.), Joram von Juda (847–845 v. Chr.) oder Joasch von Juda (840–801 v. Chr.) Davididen, das heißt Glieder des davidischen Königsgeschlechts, gewesen sind. Sie sind eher Omriden und Nimschiden aus Samaria, die im Filialkönigtum Juda in Jerusalem für einige Zeit regierten. Das unterstreicht in historischer Sicht die große Bedeutung der Omriden für die Staatenbildung Israels und Judas. Mit ihnen steht man auch außerbiblisch auf immer festerem Boden. Der wahrscheinlich erst unter Omri (882–871 v. Chr.) gegründete Nordstaat Israel wird etwa in der moabitischen Mescha-Inschrift (HTAT 105) oder der Monolith-Inschrift Salmanassars III. (HTAT 106) aus dem 9. Jh. v. Chr. erwähnt. Da ist noch lange keine Rede von Juda als politisch wahrgenommener Größe. Der Südstaat Juda ist erst ein Jahrhundert später belegt, wenn die Tributzahlung des Königs Ahas (741–725 v. Chr.) aus dem »Land Juda« (kurIa’udāyā) an den Assyrer Tiglat-Pileser III. (745–727 v. Chr.) genannt wird (HTAT 140), die auch biblisch in 2Kön 16,7f. Erwähnung findet. Aber selbst ab dem 8. Jh. v. Chr. lässt sich oft schwer zwischen Legende und Geschichte unterscheiden, wenn etwa König Manasse (696–642 v. Chr.), der aller Wahrscheinlichkeit nach als assyrischer Vasall (HTAT 188.191) ein sehr erfolgreicher judäischer König war, in der Darstellung der Bibel geradezu verteufelt wird (2Kön 21,1–18). Dass die Bibel Tendenzliteratur ist und sich biblische Darstellung und Geschichte nicht einfach gleichsetzen lassen, hält sich auch für die Darstellung nach dem Untergang Jerusalems 587 v. Chr. durch. Zwei Beispiele sollen dafür genügen. Der Vorstellung, dass in Deportationswellen (597/96, 587/86 und 582 v. Chr.) die ganze Bevölkerung aus Juda weggeführt worden (2Kön 25,21; vgl. Jer 13,19; 20,4; 52,27; Klgl 1,3; 2Chr 36,20) und das Land anschließend menschenleer gewesen sei (Jer 44,22), wird schon biblisch durch die Darstellung widersprochen, dass Jeremia nach seiner Freilassung »mitten unter dem Volk« bleibt, »das im Land übrig geblieben war« (Jer 40,6). Das Land war weder leer noch vollständig zerstört, sondern die Zerstörung war regional begrenzt. Jerusalem und sein Umland waren besonders betroffen.55 Dass der Perserkönig Kyrus 539 v. Chr. mit einem Erlass (2Chr 36,22–23; Esr 1,1–4) alle Exilierten zur Rückkehr aufgefordert habe und diese anschließend in einem »großen Treck« nach Jerusalem zurückgezogen seien, muss ebenso wie das »leere Land« als Mythos eingestuft werden. Die Rückkehr wird vielmehr nur langsam erfolgt sein. Zudem bezeugen Dokumente aus dem Muraššû-Archiv und aus al-Yaḫūdu

54 Vgl. Frevel, Geschichte, 135–323. 55 Vgl. Lipschits, Fall, 206–236; mit weit dramatischerer Zerstörung rechnet Faust, Judah, 21–32.

50

1. Kapitel: Umfeld

in Babylonien (HTAT 274–281)56 sowie von der Nilinsel Elephantine in Ägypten (HTAT 283–294), dass auch viele Judäer »im Exil« geblieben sind und eine Diaspora bildeten. Auch wenn das Exil kein Zuckerschlecken war, so haben sich doch viele der Exilierten – das bestätigen die erwähnten Dokumente – gut integriert, wenn ihnen auch bestimmte Positionen (z. B. am Tempel in Babylon) vorenthalten blieben. Die biblische Darstellung ist gefärbt und verfolgt bestimmte Interessen. Daher brechen zu Recht immer wieder Fragen auf, wie das Verhältnis von Bibel und Geschichte genauer zu bestimmen ist. Dieses geht nicht in der Frage der Historizität des Erzählten (»Ist das wirklich so gewesen?«) auf, doch hängt daran mehr als nur eine Einschätzungsfrage. Sowohl für das jüdische als auch das christliche Selbstverständnis bietet die Bibel nicht nur Geschichten, sondern hat auch einen Bezug zur Geschichte, und dies ist konstitutiv für den Glauben. Denn es gehört zu den Grundüberzeugungen des Glaubens, dass Gott Israel in der Geschichte erwählt hat und sich in der Geschichte offenbart. Kann das Verhältnis von Geschichten und Geschichte näher bestimmt werden? Vielleicht ist die Trennung von Geschichte und Geschichten am Ende gar nicht so sinnvoll, wie es auf den ersten Blick scheint.

2.

Warum Geschichte nicht objektiv sein kann

Wenn über das Verhältnis von Bibel und Geschichte nachgedacht werden soll, ist die erste Frage, was eigentlich Geschichte ist. Darauf gibt es viele unterschiedliche Antworten, und alle sind bedeutsam für die Frage des Verhältnisses von Bibel und Geschichte. Schauen wir auf zwei grundlegende Verständnisse von Geschichte und beginnen mit dem umfassendsten: Geschichte ist das Vergangene, also die Summe all dessen, was gewesen ist. In dieser umfassenden Antwort zeigt sich schon, dass das Reden über Geschichte einen Standort voraussetzt, von dem aus man etwas als Geschichte versteht, und dass sich dieses Etwas von der Gegenwart kategorial durch das Davor unterscheidet. Zugleich leuchtet unmittelbar ein, dass diese Geschichte mehr ist als das, was man fassen kann. Selbst die umfassendste Vorstellung von big data reicht nicht hin, dass die Gesamtheit des Geschehenen in Raum und Zeit gespeichert werden könnte. Die Vergangenheiten als Gesamtheit des Geschehenen sind unwiederbringlich vergangen! So banal diese Einsicht klingt, so ist sie doch der Ausgangspunkt für eine differenziertere Sicht auf das, was Geschichte ist. Denn wenn das Geschehene auch im optimalen Fall nicht wieder in der Form von uns präsent gehalten werden kann, in der es zuvor war, eröffnet sich der Blick auf ein zweites Verständnis. Geschichte ist dann das, was von dem Vergangenen in der Gegenwart präsent gehalten wird. Während in dem ersten Verständnis Geschichte und Geschehen identisch waren, treten die beiden Größen in dem zweiten Verständnis auseinander. Entscheidend wird nun die Differenz: Der einen Geschichte stehen die vielen Geschichten gegenüber.57 »Erzähl mir deine Geschichte!« meint

56 Vgl. Pearce/Wunsch, Documents. 57 Vgl. Assmann, Gedächtnis, 43–44.

§ 3 Bibel und Geschichte

51

nicht die Summe des Erlebten, sondern eine Auswahl des Geschehenen, die in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht und als Ereignisfolge erzählt wird. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Moment der Auswahl des Erlebten, auf das nur über die subjektive Erfahrung des Erzählenden zugegriffen wird. Geschichte in diesem Sinne ist immer selektiv und immer subjektiv. Sie setzt die Gegenwart in ein Verhältnis zur Vergangenheit, indem sie in der Geschichte einen Bezug zu den Vergangenheiten, die vergangen sind, herstellt. Dabei ist es nicht nur das Wissen von dem Geschehenen, sondern vielfach auch das Nicht-Wissen, das den Zugriff auf das Vergangene bestimmt. Das wissen wir aus unserem eigenen Erzählen: Nicht alles, was als Geschichte in der Gegenwart präsent gehalten wird, ist auch geschehen. Indem die Geschichte die Vergangenheit mit der Gegenwart unlösbar verknüpft, verbindet sie das Gewesene zu einem dichten Gewebe, so dass man von einer Textur (lat. textus – »Gewebe, Geflecht«) sprechen kann. Geschichte ist eine selektive, perspektivische und absichtsvolle Textur der Vergangenheit. In der Verknüpfung der Ereignisse wird das Geschehen auf die Gegenwart hin als sinnhaft konstituiert. Der bedeutungsvolle Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, der über den bloßen Lauf der Zeit hinausgeht, ist in und durch die Geschichte geschaffen. Geschichte schafft Kohärenz (von lat. cohaerere – »zusammenhängen«). Geschichte ist immer eine Deutung der Vergangenheit und eine der ganz wesentlichen Sinnressourcen in der Deutung des Lebens. Indem die Gegenwart auf die Zukunft gerichtet und in den Kontext der Vergangenheiten gestellt und so ein Zusammenhang (eine Kohärenz im Gefüge der Zeit) geschaffen wird, findet schon eine Sinnstiftung statt. Mit der Einsicht, dass Geschichte nicht identisch mit dem Geschehenen ist und es keine objektive Geschichte gibt, sondern sich Geschichte im Bezug auf das Vergangene als eine subjektiv gebrochene Konstruktion und Selektion erweist, brechen Spannungen auf. Vor allem stellt sich die Frage, wie es sich mit der Wahrheit der Geschichte verhält, wenn diese nicht mit dem Geschehenen identisch ist. In einem landläufigen Verständnis ist nur das wahr, was gewesen ist, und was nicht gewesen ist, kann nicht wahr sein. Darin unterscheiden sich Fakten und Fiktionen oder Geschichte und Geschichten. Noch einmal zurück zu der Aufforderung »Erzähl mir deine Geschichte!« Wir erwarten dabei, dass das Gegenüber nicht flunkert, sondern die Dinge, wie sie sich zugetragen haben, wahrheitsgetreu wiedergibt. Und unter dieser Voraussetzung wollen wir das, was erzählt wird, für wahr halten. Da wir über stimmige Erzählungen in unserer Welt Kohärenz erzeugen, ist das nur allzu natürlich. Und dabei übersehen wir mit großer Regelmäßigkeit eine ganz zentrale und wichtige Grundunterscheidung: dass nämlich »wahr« und »historisch« nicht das Gleiche sind und dass das, was Wahrheit beansprucht, nicht notwendig geschichtlich gewesen sein muss. Das, was gewesen ist, ist in einer besonderen ureigenen Weise wahr, doch sind die Vergangenheiten vergangen, und diese ureigene Weise des Wahren und Unverfälschten ist unserem Zugriff entzogen. Unser Griff nach der Vergangenheit ist ein Griff nach den Schatten, die diese geworfen hat. Wir bekommen sie nicht mehr zu fassen, was uns zwingt, das Gewesene immer neu zu konstruieren und die Konstruktion zur Wahrheit zu erheben. Doch es bleibt dabei: Das Gewesene und das im Erzählen Gewordene ist nicht das Gleiche. Wahr ist nicht nur das, was war, sondern

52

1. Kapitel: Umfeld

Wahrheit gibt es auch in dem, was sich von dem Gewesenen entfernt und die Schatten der Vergangenheit mit dem Licht der Erzählung überblendet. Die Wahrheit des Erzählten entdeckt sich sogar nur dann, wenn sich die Betrachtung von dem Anspruch löst, das Erzählte als bloßes Abbild des Gewesenen zu betrachten.

3.

Wahrheit und Geschichte

Eine der ersten Fragen, die immer wieder an die Bibel gestellt werden, ist die nach der Historizität des Erzählten. Ist es wirklich so gewesen, wie es die Bibel erzählt? Die Antwort darauf kann eigentlich sinnvoll immer nur »nein« lauten, und zwar aus den prinzipiellen Gründen, die oben entfaltet worden sind. Ist aber deswegen die Bibel weniger wahr? Auch die Antwort auf diese Frage lautet nach dem vorher Gesagten eindeutig »nein«. Denn die Wahrheit des Erzählten liegt offensichtlich jenseits der Frage dessen, was an Gewesenem in der Gegenwart präsent gehalten werden soll. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der »Israel« genannte Erzvater Jakob hatte zwölf Söhne und eine Tochter Dina. Aus den zwölf Söhnen Ruben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon, Gad, Ascher, Josef, Benjamin, Dan und Naftali (Gen 46,8–26) werden die zwölf Stämme Israels, die aus Ägypten aus- und in das Gelobte Land einziehen. Laut Gen 46,27 waren es 70 männliche Personen, die nach Ägypten kamen und sich dort so vermehrten, dass das Land von ihnen wimmelte (Ex 1,7). Ex 12,37 hält dann fest, dass an die sechshunderttausend Mann aus Ägypten auszogen, »nicht gerechnet die Kinder« (vgl. Num 11,21). Die Zählung in Num 1,46 ergibt sogar die genaue Zahl 603.550 für alle wehrfähigen Männer über zwanzig Jahren (vgl. Ex 38,26; Num 26,51). Der biblischen Chronologie zufolge, die den Tempelbau 1200 Jahre nach Abraham datiert, dauerte der Aufenthalt in Ägypten 430 Jahre (Ex 12,40). Aber ist das alles so, wie es erzählt wird, in einem historischen Sinne wahr? Nun kann man Berechnungen anstellen, wie viele Generationen in die 430 Jahre passen und wie viele Kinder und Kindeskinder es geben muss, um von 70 Männern auf die große Anzahl von 600.000 zu kommen. Die Angabe ist erstaunlicherweise selbst bei eingerechnet hoher Kindersterblichkeit gar nicht so unplausibel, wenn man das Bevölkerungswachstum einer prosperierenden Gesellschaft mit ca. 2 % veranschlagt. Doch geht es darum in den angeführten Aussagen? Gen 15,13.16 scheint einer anderen Chronologie zu folgen, in der jedoch mit der Angabe von vier Generationen in Ägypten das exorbitante Wachstum der Bevölkerung auf keinen Fall möglich wäre. Von den Stämmen Israels als große übergreifende Sozialform fehlt sowohl für das zweite als auch für das erste Jahrtausend v. Chr. jeder außerbiblische Beleg. Das erst recht spät in der Literaturgeschichte herausgebildete Zwölfstämmesystem der Größe »Israel« war zu keinem Zeitpunkt der Geschichte Wirklichkeit, zumindest lassen die Quellen das nicht erkennen. Im Gegenteil: Die ägyptischen Quellen kennen die vermeintlich bemerkenswert große Gruppe von Hebräern in keinem ihrer Texte, weder im 15. Jh. v. Chr., wo man den Exodus aufgrund der Angaben in Ex 12,40–41 und 1Kön 6,1 annehmen könnte, noch in der Regierungszeit Ramses II. (1279–1213 v. Chr.), der wegen der Erwähnung der Vorratsstädte Pitom und Ramses (Ex 1,11) als Pharao des Exodus gilt. Eine so große

§ 3 Bibel und Geschichte

53

Gruppe (mit Frauen und Kindern annähernd zwei Millionen Menschen!) wäre wohl kaum in der Wüste von einer Person zu führen gewesen, und wenn doch, hätte sie doch sicher Spuren hinterlassen. Ohne die biblischen Erzählungen käme kein Historiker auf die Idee, dass es ein Ereignis wie den Exodus gegeben hätte. Die Wahrheit der Aussagen zum Exodus und zu den zwölf Stämmen Israels muss jenseits der Frage liegen, ob es sich um historische Tatsachen handelt. Es geht vielmehr um die gemeinsame Abstammung von einem Ahnvater, um die Entwicklung, dass Israel aus allen Stämmen und nicht nur aus Juda besteht und dass die über das ganze Land verstreuten Gruppen eine gemeinsame Abstammung eint. Es geht um eine gemeinsame theologische Perspektive der Erwählung und um die Betonung, dass Gott die Geschichte lenkt. Dem dienen das chronologisch genaue System und die Anbindung der Datierung des Exodus an Abraham und den Tempelbau. Mit der Erwählung Israels durch den Gott Jhwh ist der Auftrag verbunden, eine Größe zu werden, die einen inneren Zusammenhalt aufweist. Es geht um die Einlösung der göttlichen Zusage, dass sich Abrahams Nachkommen vermehren und zu einem großen Volk heranwachsen werden. Die Geschlossenheit der Israeliten als familiensolidarische Verwandtschaftsgruppe, die neben der Abstammung eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Identität eint, soll durch die Erzählung geschaffen werden. In den Texten wird viel eher eine Ordnung als Ideal konstruiert, als dass eine historische Tatsache abgebildet würde. Geschichte, so könnte man zusammenfassen, verfolgt einen Zweck. Sie zielt dabei nicht unbedingt darauf, das Geschehene abzubilden. Zugespitzt formuliert will erzählte Geschichte nicht in erster Linie die Vergangenheit abbilden, sondern die Zukunft verändern. Erneut treten die Geschichte als Summe alles Geschehenen und die Geschichte als das in der Gegenwart Erinnerte und präsent Gehaltene auseinander.

4.

Alle Geschichte ist Konstruktion

Dass es Geschichte an sich nicht gibt, sondern sie eine Kultur- und Deutungsleistung ist, wurde im Anschluss an die Aufklärung im 19. Jh. klar, nachdem die Ansicht, der Historiker wolle »blos zeigen, wie es eigentlich gewesen« (Leopold von Ranke), überwunden worden war. Dass diese Eigentlichkeit nicht zu haben ist, sondern das in der Geschichte Unvergangene durch den »garstigen breiten Graben« (Gotthold Ephraim Lessing) von dem Vergangenen getrennt bleibt, macht die Geschichte faktisch unüberprüfbar. Sinn macht die Geschichte erst, wenn sie auf eine Gegenwart bezogen ist, wie Walter Benjamin in seinem Essay »Über den Begriff der Geschichte« trefflich formuliert hat: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«58 Damit ist alle Geschichte Konstruktion, aber wie unterscheidet sich Konstruktion von Beliebigkeit? »Konstruiren muß man bekanntlich die Geschichte immer […].

58 Benjamin, Begriff, 701.

54

1. Kapitel: Umfeld

Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht konstruirt«,59 hatte Julius Wellhausen in seinen Prolegomena zur Geschichte Israels diese Herausforderung gekontert. Aber was entscheidet darüber, ob etwas gut oder schlecht konstruiert ist? Damit ist die Frage von Quellen und Methoden angesprochen. Prinzipiell sollte eine Geschichts(re)konstruktion alle verfügbaren Daten und Informationen einbeziehen – also Bild- und Schriftzeugnisse und die materielle Kultur, und eben im Fall der Geschichte Israels auch die Bibel. Da keine Geschichtsschreibung ohne Auswahl der zur Verfügung stehenden Informationen auskommt, sollte diese methodisch nachvollziehbar transparent gemacht werden. Dazu gehört immer auch zu sagen, was man alles nicht weiß und welche Informationen fehlen. Ein Teil davon ist selbstverständlich seit dem Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen die Quellenkritik, die den Erkenntniswert einer Quelle aufgrund nachvollziehbarer Kriterien zu beurteilen sucht. Von daher erscheint der Streit um die Verwendung der Bibel als Quelle, der seit den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder heftig geführt wurde, geradezu unverständlich, es sei denn, man setzte voraus, dass die Bibel als unhinterfragte Wahrheit den Ausgangspunkt darstellt und nicht eine Erzählung, sondern die Geschichte wiedergibt. Die holzschnittartig zugespitzten Positionen wurden mit den unglücklichen Bezeichnungen »Minimalisten« und »Maximalisten« belegt.60 Letztere waren diejenigen, die eine Geschichte Israels ganz von der Bibel als Quelle und Norm aus entwerfen wollten, und Minimalisten diejenigen, die die Bibel nur dann als Quelle akzeptieren wollten, wenn sie mit außerbiblischen Zeugnissen zusammenstimmt. In dem erbitterten Streit hatte es sich auch eingebürgert, im Anschluss an das 19. Jh. (Leopold von Ranke) scharf zwischen Primärund Sekundärquellen zu unterscheiden. Während die Primärquellen, wie etwa eine Inschrift, unmittelbar ein Ereignis aus erster Hand bezeugen, sollte das bei den Sekundärquellen, wie vor allem der Bibel, nur nachgeordnet der Fall sein. Diese bot quasi nur Informationen aus zweiter Hand, während den Primärquellen Augenzeugenschaft unterstellt wurde. Doch zum einen ist die Unterscheidung nur bedingt durchführbar, zum anderen gibt es keine objektiven Quellen. Schon ein flüchtiger Blick in die »Geschichtsdarstellung« ägyptischer und altorientalischer Königsinschriften zeigt, dass diese die Geschichte so darstellen, wie es ihnen passt, und sich kein König öffentlich als Verlierer einer Schlacht inszeniert. Jede Information bedarf in der Verwendung für eine Geschichtsschreibung der Interpretation.

5.

Bibel, Archäologie und Geschichte

Für Maximalisten hat die Archäologie höchstens eine dienende Funktion, und Minimalisten spielen die Archäologie häufig gegen die Bibel aus. Bis heute finden sich im Feuilleton und in populärwissenschaftlicher Diktion noch Ansätze, in denen die Archäologie nur die Funktion hat, die Bibel – je nach dem Stellenwert, der ihr

59 Wellhausen, Prolegomena, 383. 60 Siehe dazu Lenderin, Maximalists.

§ 3 Bibel und Geschichte

55

zugemessen wird – entweder zu beweisen oder zu widerlegen. In fundamentalistischen Kreisen ist es beliebt, Beweise für die Bibel im Stil von Werner Kellers 1955 zuerst erschienenem Bestseller »Und die Bibel hat doch recht« zu finden. Das Doch verrät die apologetische Sicht, dass die Bibel an Wert verlieren würde, wenn sie nicht in einem historischen Sinne wahr wäre. Dem Ansinnen liegt meist das Missverständnis zugrunde, der Bibel gehe es um eine oder gar die historische Wahrheit und der Glaube lasse sich beweisen, wenn diese enggeführte Übereinstimmung der Bibel mit der Geschichte aufgezeigt werden könne. Doch so wenig, wie die Bibel ein Geschichtsbuch ist, so wenig kann die Archäologie den Glauben beweisen oder auch nur plausibilisieren (und auch nicht falsifizieren). Die Archäologie ist eine eigenständige Disziplin, die eigene Methoden und Ziele hat. Ihre Funktion sollte nicht auf eine dienende reduziert werden, auch wenn die Pioniere der Biblischen Archäologie (und der Name sagt schon viel!) im 19. Jh. manches Mal den Spaten in der einen und die Bibel in der anderen Hand hielten. Inzwischen ist die Palästinaarchäologie als Unterdisziplin der Vorderasiatischen Archäologie eine hoch komplexe, methodisch vielfältige und gegenwärtig auch zunehmend naturwissenschaftlich geprägte Disziplin.61 Nicht umsonst spricht man unter dem Titel science revolution von einem gegenwärtigen Paradigmenwechsel der Archäologie und meint damit die Datierung über Radiokarbonanalysen (14C), mikroarchäologische DNA-Untersuchungen in Gräbern oder die Analyse von Pollen und Residuen in Gefäßen, um damit etwa Handelsbeziehungen aufzudecken oder den Speiseplan der antiken Bewohner Palästinas zu klären.62 Die gegenwärtige Archäologie ist sozialwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher und technischer geworden und nicht mehr an der Bibel als Leitmedium orientiert (und oft auch nicht interessiert). Die Archäologie hat eine eigene Geschichte, und das im doppelten Sinne: Nicht nur, dass sie sich von der Bibel und den Interessen der Bibelwissenschaft emanzipiert hat, sondern auch, dass sie ihr eigenes Geschichtsbild und ihre eigene Geschichtsrekonstruktion hat. Es wäre allerdings ein Missverständnis, wenn man dieses Bild der Geschichte Israels, weil es stärker auf vermeintlichen Fakten als auf der Bibel beruhe, für immer und ausschließlich historischer halten würde. In der einst sehr kontrovers geführten Diskussion um das Verhältnis von Bibel und Geschichte wird oft betont, dass eine Grundvoraussetzung in der Unterscheidung zwischen dem biblischen Israel und dem historischen Israel liegt (Philip R. Davies). Diese Unterscheidung ist richtig, insofern das biblische Israel nicht das historische Israel ist. Doch auch das archäologische Israel ist nicht das historische Israel, sondern eine, soweit es geht, wissenschaftlich gestützte Konstruktion dessen, was als das historische Israel vorgestellt wird. Es ist richtig, dass das in der Bibel gezeichnete Israel und das historische Israel oft weit auseinandertreten und man sich vergegenwärtigen muss, dass das biblische Israel zu keinem Zeitpunkt eine real in der Geschichte existierende Größe war, jedoch darf ebenso wenig verkannt werden, dass beide Größen aufeinander bezogen sind. Als antiker Text ist das »biblische« Israel

61 Vgl. in diesem Band § 2. 62 S. dazu Levy/Higham, Bible und Levy, Archaeology.

56

1. Kapitel: Umfeld

zudem Teil des »historischen« Israel, was aufgrund der langen Entstehungs-, Traditions- und Rezeptionsgeschichte der Texte zu vielfältigen Differenzierungen herausfordert.

6.

Geschichte und Heilsgeschichte

Das Geschichtsverständnis der Bibel hat einen Anspruch, der jenseits der historischen Wahrheit liegt. Es ist getragen von dem Gedanken, dass Gott und Welt in einem Verhältnis stehen und dieses Verhältnis aus der Zeit und damit der Geschichte nicht herauszulösen ist. Deswegen beginnt die Bibel in ihrem ersten Kapitel mit der Erschaffung einer räumlichen und zeitlichen Ordnung als Anfang der Welt (Gen 1,1 – 2,4a). Ihr geht es nicht um das bloße »Dass« der Schöpfung, sondern um das »Wie«, und dieses »Wie« wird eingebunden in einen Zusammenhang der Zeit: Durch die Trennung von Licht und Finsternis (Gen 1,3–5) wird der dauerhafte Rhythmus der Zeit geschaffen, die Sterne (Gen 1,14–18) ermöglichen die natürliche Gliederung der Zeit in Monate und Jahre. Der Rhythmus von Arbeit und Ruhe am siebten Tag (Gen 2,2–3) erlaubt die Strukturierung der Zeit durch den Willen zur Selbstbeschränkung. Die Geschichte nimmt ihren Ursprung in der von Gott geschaffenen Zeit. In der Überzeugung der Bibel ist Geschichte von Anfang an und es ist vom Anfang her eine Geschichte Gottes und eine Geschichte mit Gott. Diese Geschichte ist allerdings nicht um ihrer selbst willen, sondern in der biblischen Sicht eine Geschichte auf ein Ziel hin. Man nennt dieses Geschichtsverständnis daher teleologisch (von griech. télos – »Ziel«). Dieses Ziel besteht in der Erwählung Israels und dem unbedingten Willen Gottes, unter den Menschen zu sein, was etwa in dem »Ich will in ihrer Mitte wohnen« in Ex 29,43–46 ausgedrückt wird. Darin ist Erlösung in der Gegenwart gedacht. Von den Propheten her gelesen zielt die Geschichte auf die Erlösung in der Zukunft, sei es in der Wiederherstellung Israels (Ez 37; Jes 49,8; Jer 31,4) oder der Neuschöpfung (Jes 65,17–18; Ez 36,26). Die Hoffnung auf Erneuerung geht sogar über Israel hinaus und wird zur universalen Hoffnung für die ganze Schöpfung (Mi 4,1; Jes 2,2; Ps 98; 150 u. ö.). Diese ist – und das ist für eine christliche Theologie der Geschichte von großer Bedeutung – aber nicht ohne die Erwählung Israels zu denken. Das Geschichtsverständnis schließt immer schon die gottgewollte und nicht zurückgenommene Erwählung Israels ein (Röm 9,4–6; 11,1–2). Die dahinter stehende Aussage ist eine theologische, weshalb man von »Heilsgeschichte« spricht. Dieser Begriff ist im 19. Jh. als apologetischer Kampfbegriff aufgekommen, bezeichnet jedoch inzwischen lediglich das Zusammendenken von Gott und Geschichte. Hinter der Annahme einer Heilsgeschichte steht die biblische Überzeugung, dass die Geschichte auf die transzendente (von der zu erlösenden Welt getrennte) und soteriologische (auf die Erlösung gerichtete) wie eschatologische (auf das Ende der Zeit in der Zukunft ausgerichtete) Wirklichkeit Gottes verweist. Die Bibel hat kein Problem damit, Gottes Handeln und Geschichte zusammenzudenken. Gott handelt an und in der Geschichte. Gott muss – in der Überzeugung der alttestamentlichen Texte – nicht erst in die Geschichte eintreten, sondern ist immer

§ 3 Bibel und Geschichte

57

schon Teil der Geschichte, indem er in ihr handelt. Für ein von der Philosophie geschultes Denken ist diese Unmittelbarkeit Gottes zur Geschichte befremdlich. Dass die Geschichtlichkeit Gottes mit der philosophischen Unveränderlichkeit Gottes kaum zusammenzudenken ist, leuchtet unmittelbar ein. Aber in der alttestamentlichen Überzeugung kann Gott sich in der Geschichte sogar ändern, gerade dann, wenn der Geschichtsverlauf Israel oder die Welt von Gott entfernt. So etwa nach der Sintflut in der Zusage, dass Gott nie wieder die Schöpfung vernichten wird (Gen 9,11), oder in dem Versprechen, Israel nie wieder in die Verbannung zu führen (Bar 2,35), oder in dem Beschluss Gottes, seinen gerechten Zorn nicht an dem abtrünnigen Israel zu vollstrecken (Hos 11,8f.). Das Zusammendenken von Gott und Geschichte bestimmt zutiefst auch das christliche Geschichtsverständnis. Die Inkarnation, also das Hereintreten Gottes in die Welt in Jesus Christus, ist quasi der Ernstfall einer christlichen Geschichtstheologie. Aus der christlichen Glaubensperspektive handelt Gott nicht nur an der Geschichte, sondern wird in der Inkarnation Teil der Geschichte. Das verändert die Rede von Gott und die Rede von Geschichte. Denn aus der darin radikal ausgesagten Geschichtlichkeit Gottes wächst der Vergangenheit eine zusätzliche Sinndimension zu, die auf Zukunft hin ausgerichtet ist. Für Altes wie Neues Testament gilt, dass sich Geschichte und Offenbarung nicht widersprechen, sondern im Gegenteil Offenbarung geschichtlich gedacht werden muss, wenn sie auf Erlösung zielt. Erneut zeigt sich, dass die Bibel in ihrem Geschichtsverständnis nicht auf das Moment der Historizität zu reduzieren ist, sondern eine heilsgeschichtliche Perspektive gegenüber einer historischen ihr eigenes Recht hat. Beide nehmen sich nichts von ihrer Ernsthaftigkeit und sind – zumindest im Rahmen einer Geschichtstheologie – aufeinander bezogen. Denn Erlösung ist nur dann wirklich, wenn sie in der Geschichte stattfindet. Das Unerlöste der Vergangenheit öffnet den Blick auf ein Ziel, oder, wie Walter Benjamin es formuliert hat: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«63 Aus dieser Warte heraus ist der Bezug zur Geschichte notwendig und das Nachdenken über das Verhältnis von Bibel und Geschichte unaufgebbar. Schon der Baal Schem Tov genannte Rabbiner Israel ben Elieser (ca. 1700–1760), Gründer der chassidischen Bewegung, hat das mit einem oft zitierten Wort treffend ausgedrückt: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«

7.

Nachdenken über Geschichte in der Hebräischen Bibel

An vielen Stellen der Bibel wird grundsätzlich über Geschichte nachgedacht. Dabei lässt sich gut zeigen, dass Geschichte immer zielgerichtet und orientiert an der Gestaltung der Zukunft ist. Keine Geschichte wird um ihrer selbst willen erzählt, auch nicht die Geschichte. So wird beispielsweise in der Exodusüberlieferung darü-

63 Benjamin, Begriff, 693.

58

1. Kapitel: Umfeld

ber reflektiert, wie Erfahrung und Geschichte zusammenhängen. Geschichte kann nur dann Bedeutung erlangen, wenn sie relevant ist, und diese Relevanz wird z. B. in der sog. Kinderfrage (Ex 13,14; Dtn 6,20) durch die Generationen in die jeweilige Gegenwart getragen. Denn nicht nur diejenigen, die das Exodusereignis erlebt haben, sollen von ihm erzählen, sondern alle Generationen sollen die Erfahrung der Errettung weitergeben und durch Memorialzeichen und Rituale (Ex 13,15–16; Dtn 6,9; 11,18–20) bewahren (und das bis heute, zuvorderst am Sederabend zu Pessach). Das wird auch in Ps 78,2–4 deutlich, wo der Beter die ḥidôt, »die Rätsel, die Geheimnisse«, der Vorzeit (qӕdӕm) der ganzen Gemeinde kundtun will. Es geht dabei aber nicht um etwas Unzugängliches, sondern um die Weitergabe der Tradition (vgl. Ps 44,2). »Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir ihren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten des HERRN und seine Stärke, die Wunder, die er getan hat.« (Ps 78,3–4) Über das Aufdecken von Zusammenhängen und die Deutung der vergangenen Ereignisse konstituiert sich die Identität Israels. Geschichte ist Erinnerung, und Erinnerung konstituiert Identität. Es ist das Moment der Deutung, das die Geschichte vom Geschehen unterscheidet. Geschichte macht Sinn.

Bibliographie 150 Jahre Biblische Archäologie: Welt und Umwelt der Bibel 1/2015, Stuttgart 2015. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013. Ders., Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 32015. Baumgart, Norbert C., Art. »Sintflut/Sintfluterzählung«: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2005 (Zugriffsdatum: 12.6.2020). Benjamin, Walter, Über den Begriff der Geschichte (1940): Ders., Gesammelte Werke. Band I/ 2, Frankfurt am Main 1991, 690–708. Davies, Philip R., The Origins of Biblical Israel (LHB 485), New York/London 2007. Ders., The History of Ancient Israel. A Guide for the Perplexed, New York/London 2015. Ebel, Eva/Vollenweider, Samuel (Hg.), Wahrheit und Geschichte. Exegetische und hermeneutische Studien zu einer dialektischen Konstellation (AThANT 102), Zürich 2012. Faust, Abraham, Judah in the Neo-Babylonian Period. The Archaeology of Desolation (ABSt 18), Atlanta 2012. Finkelstein, Israel, Das vergessene Königreich. Israel und die verborgenen Ursprünge der Bibel, München 2014. Ders./Silberman, Neil A., David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos, München 2006. Frevel, Christian, Geschichte Israels (Studienbücher Theologie 2), Stuttgart ²2018. Ders., Selbst Gott hat eine Geschichte. Vom Vergessen der Geschichte und der Notwendigkeit einer geschichtlichen Dimension in der Exegese – am Beispiel der Frühgeschichte des Gottes Israels: Essen, Georg/Frevel, Christian (Hg.), Theologie der Geschichte – Geschichte der Theologie (QD 294), Freiburg i. Br. 2018, 10–39. Ders., JHWH und der Exodus. Wo und wann lernt Israel seinen Gott kennen?: Welt und Umwelt der Bibel 2/2019, Stuttgart 2019, 36–42. Gebauer, Sascha, Art. »Babel-Bibel-Streit«: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2015 (Zugriffsdatum: 12.6.2020).

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

59

Gertz, Jan C., Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (Das Alte Testament Deutsch 1), Göttingen 2018. Grabbe, Lester L., Ancient Israel. What Do We Know and How Do We Know It?, London/New York 2007. Knauf, Ernst Axel/Zangenberg, Jürgen, Art. »Geschichte/Geschichtsdarstellung/Heilsgeschichte«: Berlejung, Angelika/Frevel, Christian (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT), Darmstadt 52016, 19–26. Kratz, Reinhard G., Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke zum Alten Testament, Tübingen 22017. Lendering, Jona, Maximalists and Minimalists: http://www.livius.org/articles/theory/maxima lists-and-minimalists/ (Zugriffsdatum: 12.3.2020). Levy, Thomas E. (Hg.), Historical Biblical Archaeology and the Future. The New Pragmatism, Abingdon/New York 2010. Ders./Higham, Thomas (Hg.), The Bible and Radiocarbon Dating. Archaeology, Text and Science, London/Oakville 2005. Lipschits, Oded, The Fall and Rise of Jerusalem. Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005. Meyer-Blanck, Michael (Hg.), Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.–18. September 2014 in Berlin) (VWGTh 44), Leipzig 2016. Mühling, Anke, »Blickt auf Abraham, euren Vater«. Abraham als Identifikationsfigur des Judentums in der Zeit des Exils und des Zweiten Tempels (FRLANT 236), Göttingen 2011. Niditch, Susan, The Wiley Blackwell Companion to Ancient Israel, Chichester 2016. Pearce, Laurie E./Wunsch, Cornelia, Documents of the Judean Exiles and West Semites in Babylonia in the Collection of David Sofer (Cornell University Studies in Assyriology and Sumerology 28), Bethesda 2014. Rüsen, Jörn, Historik – Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013. Schipper, Bernd U., Geschichte Israels in der Antike, München 2018. Straub, Jürgen, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung: Ders. (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Erinnerung, Geschichte, Identität 1), Frankfurt am Main 1998, 81–169. Weippert, Manfred, Historisches Textbuch zum Alten Testament (Grundrisse zum Alten Testament. ATD Ergänzungsreihe 10), Göttingen 2010 (= HTAT). Wellhausen, Julius, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 31886.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum Beate Ego, Bochum Die Hebräische Bibel gilt, wenn auch in unterschiedlicher kanonischer Gestalt, sowohl dem Judentum als auch dem Christentum als »Heilige Schrift«. Dieser einfache Satz ist sowohl in 1) kanonischer als auch 2) genetisch-historischer und schließlich in 3) systematisch-hermeneutischer Hinsicht weiter zu entfalten und im Hinblick auf seine Bedeutung für das jüdisch-christliche Gespräch fruchtbar zu machen.

1.

Kanonische Perspektiven

Die Hebräische Bibel begegnet uns in kanonischer Hinsicht gleichsam mit zwei Gesichtern. So bilden die einzelnen Schriften der Hebräischen Bibel die »Heilige

60

1. Kapitel: Umfeld

Schrift« zweier verschiedener Religionen: Der sog. Tanakh, bestehend aus »Tora«, den Propheten (Neviʾim) und den Schriften (Ketuvim), gilt dem Judentum als die »schriftliche Tora«, die es als Offenbarung Gottes neben die Traditionsliteratur von Talmud und Midrasch, die »mündliche Tora«, stellt.64 Für das Christentum ist das Alte Testament in Verbindung mit dem Neuen Testament wiederum integraler Bestandteil des einen, zweigeteilten Kanons.65 Die Schriften des christlichen Alten Testaments sind in anderer Reihenfolge als die der Hebräischen Bibel angeordnet: Auf die Geschichtsbücher folgen zunächst die Psalmen und Lehrbücher, und die Propheten (einschließlich Daniel) beschließen die Sammlung. Die katholische bzw. orthodoxe Tradition unterscheidet sich zudem von der protestantischen Tradition dadurch, dass noch weitere Schriften quasikanonischen Status haben. Während diese in der katholischen Tradition als »deuterokanonische Schriften« bezeichnet werden, kennt die protestantische Überlieferung sie unter dem Begriff »Apokryphen«. Diese Zusammenhänge macht man sich am besten über folgende graphische Darstellung deutlich (in der die apokryphen Schriften kursiv geschrieben sind): Die jüdische Bibel (TaNaKh)

Das Alte Testament der christlichen Bibel

Tora/Weisung Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium

Geschichtsbücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium

Nevi'im/Propheten die vorderen Propheten Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige die hinteren Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi)

Josua, Richter, Rut, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, 1 und 2 Chronik, Esra, Nehemia, Tobit, Judit, Ester, Zusätze zu Ester, 1 und 2 Makkabäer [bzw. 3./4. Makk; 3 Esra]

Ketuvim/Schriften Psalmen, Hiob, Sprüche, Rut, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra, Nehemia, 1 und 2 Chronik

Die Bücher der Prophetie Jesaja, Jeremia, Baruch, Klagelieder, Epistula Jeremiae, Ezechiel, Daniel, Zusätze zu Daniel und das Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi)

Lehrbücher und Psalmen Hiob, Psalmen, [Oden], Sprüche, Prediger, Hoheslied, Weisheit, Jesus Sirach, [Psalmen Salomos]

64 Zum jüdischen Kanon s. Scholem, Offenbarung, 90–120 sowie Stemberger, Judaica Minora, 69–87. 65 Zu diesem vielverhandelten Thema jetzt Hartenstein, Zur Bedeutung des Alten Testaments, 738–751. Zum Kanon generell s. Becker/Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

61

Da die Inhalte der Schriften der Hebräischen Bibel (mitsamt den Apokryphen, Pseudepigraphen und den frühjüdischen Auslegungstraditionen) die »Sprach- und Erfahrungsbasis« für die neutestamentlichen Autoren im weitesten Sinne darstellen und diese seit der Alten Kirche integraler Bestandteil des christlichen Kanons sind, erschließt sich nur vor diesem Hintergrund das Wesen und das Spezifikum neutestamentlicher Rede von Gott und von Jesus Christus als dem Messias Israels. Das Christentum liest das Alte Testament vom Christusereignis her und kann vor diesem Hintergrund auch eine Sachkritik und Relativierung der Rede der Hebräischen Bibel durchführen. Allerdings würde dieser Ansatz allein zu einer unsachgemäßen Verengung einer Biblischen Theologie führen. Weiterführend ist hier vielmehr die Einsicht in die Komplementarität von Altem und Neuem Testament, enthält das Alte Testament bzw. die Hebräische Bibel doch zahlreiche Theologumena, die in der neutestamentlichen Überlieferung nicht weiter entfaltet werden – nicht, weil sie nicht bedeutsam wären, sondern weil sie eben bereits in der Tradition vorliegen. Insbesondere die Rede von dem einen Gott, der universal in der himmlischen Welt verortet wird, oder Aussagen zur Schöpfung und Ethik bilden einen unverzichtbaren Bestandteil des christlichen Glaubens, der bereits in der alttestamentlichen Überlieferung dargelegt wird.66 Mit Hinweis auf ältere Forschungsliteratur beschreibt Manfred Oeming diesen Aspekt mit folgenden Worten: Das Christusereignis ist das allgenugsame, umfassende Heilsereignis, nicht das Neue Testament. Dieses ist im Hinblick auf manche Themen geradezu auf Ergänzung durch das Alte Testament angewiesen und auch angelegt. Es setzt das Alte Testament – in kritischer Auswahl freilich! – als gültig voraus. Es impliziert von sich aus seine Ergänzung durch die Schrift. Die Zahl und Bedeutung der Themen, die im Neuen Testament nicht weiter entfaltet, sondern allein vom Alten Testament her bekannt und verbindlich vorausgesetzt sind, sollte man nicht unterschätzen. ... [Es] sei hier nur folgendes genannt: der Monotheismus, der Schöpfungsglaube, die persönliche Gottesvorstellung, die Gebetssprache, die Welt- und Lebensbejahung, die Freude an der Natur, die Freude des Mannes an der Frau, die Freude der Frau am Mann, die Freude beider an ihren Kindern, Freude am guten Essen und Trinken. Aber auch tiefe Skepsis und verzweifelte Anklage Gottes sind allein im Alten Testament breit ausformulierte legitime Formen des Redens von Gott. Als ein Buch somit, das selbst mit seinen manchmal derben und anstößigen, irdisch – allzu irdischen Vorstellungen immer wieder zu neuem Nachdenken über das Christliche anregt und nötigt, als ein Buch, das durch sein anschauliches, bildreiches und lebendiges Reden vor Gott, von Gott und zu Gott immer wieder zum Weitersagen auch des Christlichen nötigt und befähigt, als ein Buch, das über das Neue Testament hinaus fundamentale Aspekte des Menschseins, der Welt und Gottes expliziert, als ein solches Buch ist das Alte Testament unverzichtbarer Bestandteil des christlichen Kanons.67

Schrift, Schriftauslegung, Glaubensanschauungen bzw. die religiöse Praxis werden im Judentum und in den verschiedenen christlichen Traditionen aber ganz unterschiedlich gewichtet. Dies zeigt sich darin, dass nach jüdischem Verständnis die

66 Zum Ganzen u. a. Janowski, Die kontrastive Einheit der Schrift, 323–334; insbes. zum Eigenwert der alttestamentlichen Überlieferung s. Oeming, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart, 237–241. 67 Oeming, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart, 241.

62

1. Kapitel: Umfeld

mündliche Tora eine größere Bedeutung als die schriftliche Tora hat und z. T. sogar im Gegensatz zu dieser stehen kann, wohingegen für die christliche Tradition – insbesondere den Protestantismus – die Schrift Priorität hat. Die jüdische Tradition betont zudem das religiöse Handeln in der Form der Halakha, so dass man auch von einem Gegensatz von »Orthodoxie« und »Orthopraxie« gesprochen hat.68

2.

Historische Perspektiven: Schriftwerdung als Reflex religionsgeschichtlicher Dynamiken

Die einzelnen Schriften des Alten Testaments sind in einem langen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten entstanden. Dabei setzte sich immer mehr der autoritative Anspruch einzelner Überlieferungen durch, der schließlich zu der kanonischen Gestalt der Hebräischen Bibel führte, wie sie heute vorliegt.69 Mit einem Abschluss dieses Prozesses ist wohl am Ende des 1. Jh.s v. Chr. zu rechnen, eine definitive Bestätigung erfolgt dann nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und dem Beginn der rabbinischen Zeit.70 Für die noch vor-kanonische Sammlung der autoritativen Schriften im antiken Judentum der hellenistischen Zeit sind, wie Klaus Koch in seinem richtungsweisenden Aufsatz »Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes in Judentum und Christentum« aus dem Jahre 199171 herausgearbeitet hat, »zwei gegenläufige Tendenzen« erkennbar. Die Analyse der einschlägigen Texte zeigt nämlich, dass sich sowohl im Pentateuch als auch in der Geschichtsschreibung und im prophetischen Schrifttum eine »anwachsende gesetzesbetonende Tendenz«72 findet. Daneben existiert aber auch noch »unverkennbar ein anderer Faden […], [der] das Dasein dämonischer Mächte und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen [betont;] er rechnet mit einer gnadenhaften Neuschöpfung als göttlicher »Vorleistung« und endet bisweilen in universalistischen Aussagen.«73 Auf erste Ansätze einer prophetischen Eschatologie entstehen so ab dem 3. Jh. v. Chr. Apokalypsen, die »nicht nur den Untergang jeder menschlichen Herrschaft auf Erden, sondern eine nachfolgende neue Schöpfung, einen verwandelten Himmel und eine verwandelte Erde, wo Gerechtigkeit herrscht, [künden]. Zugleich tritt zunehmend eine Erlösungsbedürftigkeit des Menschen heraus, die eine durchgreifende göttliche Entsühnung nötig macht, wie es dann in Jes 53 und Dan 9,24 anklingt, und eine überirdische Mittlergestalt notwendig erscheinen läßt.«74 Bezeichnenderweise spielt in den Tex-

68 Frankemölle, Art. »Schrift/Schriftverständnis«, 42–48, hier: 43; Morgenstern, Halachische Schriftauslegung, 26–48, hier: 38; zu den Strukturunterschieden in der christlichen und jüdischen Tradition s. a. Goldmann, Die große ökumenische Frage, 129–374. 69 Seit Chrysostomus heißt die Sammlung der Schriften des Alten und Neuen Testaments ta biblia (»Die Schriften«), im Lateinischen wurde der Begriff dann als Singular aufgefasst. 70 Siehe hierzu die Ausführungen von Graetz zum Kanon in diesem Band § 7. 71 Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes, 215–242. 72 Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes, 226; zum Ganzen ibid. 226–232. 73 Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes, 230. 74 Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes, 231.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

63

ten dieser Sammlung, die erst in der hellenistischen Zeit entstanden sind, das Gesetz Gottes eine eher marginale Rolle. Das synagogale Judentum, das nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. zu einer Neustrukturierung seines religiösen Symbolsystems gefordert war, gründet sein Selbstverständnis auf die Überlieferungen der Hebräischen Bibel. Sie sind der Gründungsmythos des Volkes, in dem es von seinen Wurzeln bei den Vätern und Müttern erzählt und die Anfänge der göttlichen Tora mit Mose verbindet. Durch die wöchentliche Lesung der Tora in der Synagoge in Verbindung mit der sog. »Haftara« aus den Propheten sind diese Texte nicht nur Gegenstand der Studierstuben und der Auslegung der Gelehrten, die ihren Niederschlag in Mischna, Talmud und Midraschim sowie der Targumliteratur finden, sondern haben auch einen öffentlichen »Sitz im Leben« in den Gemeinden vor Ort. Zudem bildet die Überlieferung der Hebräischen Bibel auch die Grundlage für die Glaubenspraxis, wie sie die rabbinische Bewegung als Lebensideal formulierte. Die 613 Gebote und Verbote der Hebräischen Bibel stehen am Anfang jenes komplexen halakhischen Geflechts, das mit den Bestimmungen aus der Mischna und deren talmudischen Auslegungen Zentrum jüdischer Toraobservanz über die Jahrhunderte hin werden sollte. Traditionelle Bezeichnungen der Hebräischen Bibel sind »Miqra« (wörtl.: Lesung)«75, »Tanakh« (als Abkürzung aus » Tora« [Weisung], »Nevi’im« [Propheten], und »Ketuvim« [Schriften])76 oder »qitve qodesch« [Heilige Schriften].77 Während die jüdische Tradition in jenen breiten Strom der Überlieferung, der ganz generell unter dem Stichwort der »mündlichen Tora« zusammengefasst wird, mündet, entwickelt sich die christliche Traditionsbildung hin zum Neuen Testament bzw. zur Literatur der Alten Kirche. Aber auch für diese Entwicklungslinie ist der Ursprung im antiken Judentum anzusetzen: Parallel zu dem Prozess der Sammlung autoritativer Schriften in hellenistischer Zeit bzw. noch bevor oder während die jüngsten Texte der späteren Hebräischen Bibel überhaupt erst entstehen, werden die Texte des Pentateuch, die bereits seit längerer Zeit autoritativen Status haben, in Alexandria, der Metropole hellenistischer Kultur, ins Griechische übersetzt. Die bedeutendste Quelle für diesen Prozess bildet der sog. Aristeasbrief, der zwischen 127 und 118 v. Chr. verfasst wurde. Hier wird erzählt, dass zur Zeit des Königs Ptolemäus II. Philadelphos (285–247 v. Chr.) 72 Weise, die aus Jerusalem nach Alexandria entsandt worden waren, die Tora auf der Alexandria vorgelagerten Insel Pharos in Stille und Abgeschiedenheit übersetzt haben. Anlass war die Empfehlung des Bibliothekars Demetrius von Phaleron, das jüdische Gesetz in die berühmte Bibliothek in Alexandria aufzunehmen. Die Übersetzer arbeiteten 72 Tage, wobei sie 75 Der Terminus »Miqra« als Bezeichnung der gesamten jüdischen Bibel ist bereits in tannaitischen Quellen belegt (mNedarim 4,3; mAvot 5,24). Eine Zusammenstellung der einschlägigen Belege findet sich bei Blau, Zur Einleitung in die Heilige Schrift, 10f. 76 Zur Zusammenstellung der drei Teile der Hebräischen Bibel s. bBaba Bathra 13b; bSanhedrin 101a; als Vorläufer s. bereits 4QMMT (4Q397–399), den Anfang des Sirachprologs sowie Lk 24,24. 77 Siehe hierzu die Ausführungen von Rösel zu »Bibel, Sprache, Schrift«, § 5 im vorliegenden Band.

64

1. Kapitel: Umfeld

sich auch gegenseitig austauschten. Nach dem Abschluss des Werkes versammelte Demetrios die Gemeinde und verlas die Übersetzung. Priester, die Ältesten der Übersetzer, die Bürgerschaft und die Vorsteher der Gemeinde betonten die hohe Qualität der Übersetzung (»schön, fromm und genau«) und legten fest, dass der Text so unverändert beibehalten werden müsse. Alle stimmten dem zu; wer dennoch etwas an der Übersetzung ändern wolle, werde verflucht sein (308–311). Wenn dieser Bericht auch nicht als historisch gilt, so sind ihm doch Hinweise auf die Entstehung der griechischen Übersetzung des Pentateuch bzw. auch der anderen Bücher der späteren Sammlung der Hebräischen Bibel zu entnehmen. Da im ägyptischen Alexandria eine große jüdische Diaspora existierte, ist diese Stadt als Ursprungsort einer griechischen Übersetzung des Pentateuch sehr wahrscheinlich, und es kann als Beginn dieser Übersetzungstätigkeit, die wohl mit der Übertragung des Pentateuch einsetzte, die erste Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. angenommen werden. Dies bildete dann wohl den Auftakt zur Übersetzung weiterer autoritativer Schriften. Der Übersetzung der Septuaginta kam sicherlich in liturgischer Hinsicht eine bedeutende Rolle zu. Da viele Übersetzungen aber auch die hellenistische Kultur und hellenistisches Denken widerspiegeln, spielte sie auch eine wichtige Rolle für die Identitätskonstruktion der jüdischen Gemeinde in der alexandrinischen Diaspora in der Spannung von Abgrenzung und Öffnung gegenüber der griechischen Kultur. Unabhängig von der Frage, ob am Anfang mehrere Übersetzungen standen, die vereinheitlicht wurden, oder ob es eine Ur-Septuaginta gab, die durch Abschriften diversifiziert wurde78 – die griechische Übersetzung der hebräischen Schriften der (späteren) Hebräischen Bibel gewann zunehmend an Autorität und galt als inspirierter Text. Darauf deutet die Überlieferung von der Entstehung der LXX bei dem jüdischen Religionsphilosophen Philo hin, die als eine Art »Relecture« der Geschichte aus dem Aristeasbrief verstanden werden kann. Nach Philo (ca. 20 v. Chr. – 50 n. Chr.) übersetzte jeder der 72 Männer für sich allein das gesamte Gesetz; dabei benutzte ein jeder »unter göttlicher Eingebung« die gleichen Ausdrücke, als ob dies von »einem unsichtbaren Lehrer« diktiert würde (VitMos II, 37). Entscheidend für die generelle Bedeutung dieser griechischen Übersetzung wurde dann die Tatsache, dass die Septuaginta für das sich in die hellenistische Welt ausbreitende frühe Christentum die maßgebliche Version für das Verständnis der Traditionen der Hebräischen Bibel darstellte. Die »alttestamentlichen« Zitate im Neuen Testament entsprechen im Wesentlichen der Version der Septuaginta. Diese bildet dann nach dem Zeugnis der ältesten handschriftlichen Überlieferung im Codex Vaticanus (B), Codex Sinaiticus (S) (beide 4. Jh.) und dem Codex Alexandrinus (A) (5. Jh.),79 den ersten Teil des zweiteiligen christlichen Kanons, bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament. Der Begriff »Altes Testament« zur Bezeichnung dieser Schriftensammlung ist in Anknüpfung an 2Kor 3,14 bei Clemens von

78 Zur Entstehung der LXX und weiteren damit verbundenen Fragestellungen s. jetzt Kreuzer, Einleitung in die Septuaginta; auch Fischer, Der Text des Alten Testaments, 115–121; Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 113–126. 79 Zu den Handschriften s. Fischer, Der Text des Alten Testaments, 142–146; Tov, Der Text der Hebräischen Bibel, 116.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

65

Alexandrien und Origenes fest verankert und in der Mitte des 4. Jh.s im 59. Canon des Konzils von Laodicea als formale Bezeichnung festgehalten. Die alttestamentliche Schriftensammlung ist in der christlichen Überlieferung umfangreicher als die des hebräischen Kanons, denn sie enthält noch weitere Bücher, die sog. Apokryphen (s. o).80 Sie alle sind in einem jüdischen Milieu entstanden; ob es aber einen eigenen alexandrinischen Kanon gegeben hat oder ob diese Bücher erst in einem christlichen Kontext der griechischen Bibel zugewachsen sind, bleibt ein Rätsel.81

Auch die älteste lateinische Übersetzung, die Vetus Latina, basiert auf der Septuaginta. Es dauerte Jahrhunderte, bis sich die Vulgata, die Übersetzung des Hieronymus (ca. 340–419/20), die in den Jahren 390 und 405 im Gefolge eines Auftrags des Papstes Damasus I. (366–384) entstanden ist und die direkt auf den hebräischen Text zurückgeht, in der westlichen Welt den Status einer verbindlichen lateinischen Bibelübersetzung erhalten sollte. Ein entscheidender Schritt im Hinblick auf den Umfang des christlichen Kanons ist dann im Zeitalter der Reformation zu verzeichnen. Vordenker dieses Prozesses war der Reformator Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt (1486–1541). Für ihn war der jüdische Kanon das entscheidende Kriterium dafür, ob ein Buch als kanonisch oder nicht-kanonisch zu betrachten ist. Alles andere, so die kirchliche Praxis oder die Bekanntheit des Verfassers, sei dagegen als sekundär zu erachten. Da aber auch die Apokryphen wertvolle Wahrheiten enthielten, dürfe man diese nicht verachten. Aber die Autorität dieser Wahrheiten sei nicht in den Apokryphen selbst begründet, sondern vielmehr darin, dass diese Wahrheiten auch in einer der kanonischen Schriften zu finden seien.82 Was Karlstadt theoretisch darlegte,83 wurde dann von dem Drucker Johannes Knobloch in Straßburg in die Tat umgesetzt. Am 21. November 1522 brachte er eine Vulgata des Alten Testaments in insgesamt sechs Bänden heraus, wobei er nun – im Gegensatz zu älteren Ausgaben – die im hebräischen Kanon nicht vorkommenden Bücher getrennt in dem letzten Band zusammenfasste. Dieser trug den Titel: »Bücher, die von den Juden nicht als kanonisch angenommen sind«.84 Diese Tendenz, sich auf einen engeren Kanon zu beschränken, wurde durch das Erscheinen von hebräischen Bibeldrucken, die in dieser Zeit aus Italien kamen,85 verstärkt. Dem schloss sich

80 81 82 83

Siehe Siegert, Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur. Zur Frage des alexandrinischen Kanons s. Hengel, Septuaginta, 182–284, hier: 270. Zu Karlstadt s. Gamberoni, Auslegung, 204–208. Karlstadt hat diese Überlegungen in seinem Werk »De canonicis scripturis libellus. D. Andrea Bodenstein Carolstadei Sacre Th[e]ologiae Doctoris et Archidiaconi Wittenbergensis. Wittenbergae aput Joannem Viridi Montanum. Anno Domini 1520«, zu Deutsch »Welche bucher Biblisch seint. Disses buchlin lernet unterscheyd zwueschen Biblischen Buchern und unbiblischen/darynnen viel geyrret haben und noch yrren. Dartzu weiszet das buchli welche bucher in der Biblien orstlich seint zulesen. Andrea Bodenstein Carolstadt Doctor. Vvittembergk 1520« dargelegt.. 84 Siehe Gamberoni, Auslegung, 209. 85 So wurde die erste Rabbinerbibel im Jahre 1516/17 von Daniel Bomberg in Venedig gedruckt; die zweite erschien dann im Jahre 1524/25; s. hierzu Fischer, Der Text des Alten Testaments, 56–59.

66

1. Kapitel: Umfeld

auch Luther in seiner Bibelübersetzung an, wenn er diese Schriften als »Apocrypha«, »so nicht der heiligen Schrift gleich aber gut und nützlich zu lesen« in seiner Bibelausgabe von 1534 zwischen die alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften stellt. Als Gegenreaktion zu den Ereignissen der Reformation wiederum erklärt die katholische Kirche dann beim Konzil von Trient im Jahre 1546 die »Vulgata« (d. h. die »allgemein verbreitete« Übersetzung) zu ihrem offiziellen Bibeltext. So haben heute die protestantischen Kirchen einen anderen Kanon als die katholische Kirche; die umfangreichere Kanonform findet sich auch in der Ostkirche. Diese groben Entwicklungslinien belegen, warum Klaus Koch programmatisch vom »doppelten Ausgang des Alten Testamentes« sprechen kann. Da die Rede vom »Alten Testament« in diesem Kontext nicht sachgemäß ist, insofern dies ja eine dezidierte christliche Bezeichnung darstellt, plädiert Walter Groß dafür, vom »doppelten Ausgang der Bibel Israels«86 zu sprechen. Sowohl Judentum als auch Christentum sind »strukturell nachbiblische Religionen«, die beide »ihr Selbstverständnis auf die Bibel gründen«.87 Walter Groß fasst diesen Abschnitt mit folgenden prägnanten Worten zusammen: So ergibt sich ein Dreiecksverhältnis, ohne dass dieses Dreieck gleichschenklig sein müsste: Die Bibel Israels hat einen jüdischen Ausgang in den Tenak, seinerseits im Verbund mit Mischna und Talmud, und einen christlichen Ausgang in das Alte Testament, seinerseits verbunden mit dem Neuen Testament.88

Weitere Elemente der Asymmetrie des jüdischen bzw. des christlichen Ausgangs sind hier anzufügen: Trotz des Hiatus, der für die jüdische Religionsgeschichte durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels gegeben war, sieht sich das rabbinische Judentum im Hinblick auf seine Traditionen doch in einer Linie mit dem Judentum aus der Zeit vor der Tempelzerstörung. Die Wertschätzung der Tora mit ihren kognitiven und ethischen Dimensionen, wie sie das charakteristische Merkmal des rabbinischen Judentums darstellt, kann als eine Weiterführung von Wertsetzungen und Idealen aus der Zeit des Zweiten Tempels verstanden werden. Außerdem hat das rabbinische Judentum an keiner Stelle den Tempel oder den Kult als solche abgelehnt; für eine Hochschätzung dieser Elemente spricht vielmehr die Tatsache, dass bestimmte Kultuselemente metaphorisiert, Kulttraditionen literarisch fixiert und in die Liturgie integriert bzw. zum integralen Bestandteil eschatologischer Zukunftshoffnung werden.89 86 Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels, 9–25, hier: 11. 87 Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels, 11. 88 Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels, 13. Vgl. zum Ganzen auch die Kritik bei Frankemölle, Art. »Schrift/Schriftverständnis«, 46: »Genauer ist vom doppelten Ausgang der heiligen S. Israels in die jüdische Bibel einerseits und in das christl. AT andererseits zu sprechen.« Frankemölle weist auch darauf hin, dass die Rede vom »Ausgang« idealtypisch ist, da es streng genommen literarisch mehrere Ausgänge (z. B. LXX, Samaritaner, Peschitta etc.) gibt. S. a. Frankemölle, Das Neue Testament als Kommentar?, 200–278. 89 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, diese komplexen Strukturen im Einzelnen nachzuzeichnen; vgl. zum Ganzen u. a. die einzelnen Beiträge in Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

67

Das sich vom Judentum ablösende Christentum behauptet dagegen die Differenz zum Judentum viel deutlicher; es verstand sich als das neue, das wahre Israel. In literarischer Hinsicht ist zudem darauf hinzuweisen, dass das Neue Testament und die jüdische Traditionsliteratur in Talmud und Midrasch strukturell starke Unterschiede aufweisen. Während zumindest die Midraschliteratur als narrative Auslegung der Hebräischen Bibel verstanden werden kann, blickt das Neue Testament vom Christusereignis hin auf die Bibel Israels und rekurriert auf diese, um das Neue, Umstürzende im Lichte der Tradition zu formulieren. Was für die Midraschliteratur gilt, muss freilich nicht auch für andere Bereiche der jüdischen Traditionsliteratur angenommen werden. So zeigt bereits ein Blick in die Mischna, dass es sich hier nicht um Auslegungsliteratur im eigentlichen Sinne handelt. Die Talmudim wiederum greifen zwar in argumentativer Hinsicht häufig auf die Schrift zurück, sind aber rein formal als Auslegung der Mischna und eben nur sekundär als Auslegungen der »Bibel Israels« zu bezeichnen.90 Eine Visualisierung der Metapher vom »doppelten Ausgang« in der Form eines »Y« wird der Komplexität dieser literarischen Prozesse jedenfalls nicht gerecht.91

3.

Hermeneutische Perspektiven: Die doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel und der jüdisch-christliche Dialog

Bereits Klaus Koch hat in seinem Beitrag zum doppelten Ausgang des Alten Testaments auf die hermeneutische Relevanz seiner literarischen und religionsgeschichtlichen Bestandsaufnahme für eine Biblische Theologie hingewiesen. Der »doppelte Ausgang« und die Geschichte des Alten Bundes ist nicht »Ergebnis menschlichen Fehlverhaltens«, sondern ist als ein »Werk Gottes« zu verstehen. So kann er seinen Beitrag mit den Worten schließen: Auf jeden Fall scheint es mir an der Zeit, daß wir es heute so begreifen und den Willen des Grundes aller Geschichte zu respektieren beginnen. Das heißt nicht weniger, sondern mehr historisches Bewußtsein zu entwickeln, als es bisher der Bibelwissenschaft zuhanden ist. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich eine gesamtbiblische Theologie überzeugend aufbauen. Um es mit Rolf Rendtorff zu sagen: Es ist der »einzig angemessene Weg ..., das Selbstverständnis des Alten Testaments in seiner kanonischen Form ganz ernst zu nehmen und zugleich die historische Tatsache, daß es eine doppelte Wirkungsgeschichte hat, eine jüdische und eine christliche, auch theologisch anzuerkennen«.92

Klaus Kochs Aufsatz hatte und hat eine große Ausstrahlungskraft und wurde in der Forschung breit aufgenommen. So formulierte Bernd Janowski im Jahre 1998 im Anschluss daran, »daß das Judentum mit Mischna und Talmud eine Form der Rezep90 Zum Einzelnen s. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch. 91 S. hierzu: Morgenstern, Halachische Schriftauslegung, 26f.; Oeming, Lob der Vieldeutigkeit, 137. 92 Koch, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes, 241f. Koch verweist hier auf Rendtorff, Zur Bedeutungs des Kanons, 11.

68

1. Kapitel: Umfeld

tion biblischer Überlieferungen ausgebildet hat, die ebenso eigenständig ist wie die christliche, die aber andere Wahrheitsmomente enthält als die christliche«.93 Walter Groß führt diesen Gedanken weiter, indem er zeigt, dass diese divergierenden Wahrheitsmomente nicht einfach zu addieren oder miteinander zu kombinieren sind, da sie sich in gewisser Art und Weise geradezu widersprechen. »Die These des doppelten Ausgangs der Bibel Israels« stellt somit »keine Lösung« dar, mit Hilfe derer die Differenzen zwischen Judentum und Christentum ausgeglichen werden könnten; sie bildet aber ein »Modell bzw. einen Rahmen, innerhalb derer nach Lösungen gesucht werden kann – und zwar in einem christlich-jüdischen Dialog«.94 Dementsprechend kann er formulieren: Vom christlichen Bibeltheologen ist gefordert, die Perspektivität seiner christlichen Wahrnehmung der biblischen Rede von Gott und der daraus resultierenden christlichen Lehrsätze anzuerkennen. Einerseits ist er an diese Perspektive gebunden, macht sie seine Identität als Christ aus, andererseits gehört es zu seiner eigenen verpflichtenden Perspektive, auch die Existenz und Bedeutsamkeit der jüdischen Perspektive (post Christum) als theologisch, nicht nur historisch relevantes Datum anzuerkennen.95

Allerdings kommt dem Christentum hier eine andere Rolle zu als dem Judentum. Christoph Dohmen, der bereits im Jahre 1996 auf der Basis der Ausführungen Klaus Kochs das »Konzept einer doppelten Hermeneutik« ausgearbeitet hat, wies darauf hin, dass sich die jüdische und die christliche Tradition zunächst im Hinblick auf die Adressaten, an welche die Auslegung der Bibel Israels gerichtet ist, unterscheiden. Die Diskontinuität der Übernahme der Bibel Israels als Altes Testament betrifft »die Adressatenfrage der Bibel Israels. Der Rezeptionscharakter der Bibel Israels als Altes Testament hält fest, dass das Christentum sich als Zweitadressat (Hervorhebung i. O.) versteht, als partizipierend zum Israel dieser Bibel gehört«.96 Aus diesem Faktum folgert Christoph Dohmen: Daraus ergibt sich schließlich, daß der Grundgedanke vom doppelten Ausgang der Bibel Israels in Judentum und Christentum hermeneutisch nicht zu einer symmetrischen Struktur führt. Einerseits haben sich natürlich aus der Bibel Israels zwei unterschiedliche Verstehensweisen entwickelt, für die die Begriffe Jüdische Bibel und Altes Testament als Stichwort stehen können. Andererseits besteht auf der einen Linie eine Kontinuität durch den Adressaten Israel, zu dem die andere Linie sich nur in Beziehung setzt, an dem sie Anteil gewinnt, nicht zuletzt durch Jesus, der zu Israel gehört, und den sie als Messias/Christus verkündet.97

So impliziert letztlich die Tatsache, dass das christliche Alte Testament auch die Bibel Israels ist, einen »Verweischarakter auf das Judentum, der das Christentum in seinem Wesen bestimmt«. Christen können im ersten Teil ihrer Heiligen Schrift

93 94 95 96 97

Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente, 265. Hervorhebungen im Original. Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels, 18. Groß, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels, 18. Dohmen, Hermeneutik, 213. Dohmen, Hermeneutik, 213; s. a. 196–199; hierzu auch Frankemölle, Art. »Schrift/Schriftverständnis«, 46f.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

69

ihren Israel-Ursprung erkennen, und eine solche »Israelerinnerung« steht somit im Zentrum der Hermeneutik des Alten Testaments.98 Aus dem historischen Faktum des doppelten Ausgangs ergibt sich in systematischer Hinsicht die Verpflichtung christlicher Exegese, bei aller Differenz sensibel für antijüdische und »israel-vergessene« Interpretationen des Alten Testaments zu sein, um so dem Vorwurf einer antijüdischen »Okkupation« der Heiligen Schrift des Judentums bereits im Vorfeld begegnen zu können. Eine christliche Theologie, welche die beiden Testamente verbindet, muss dafür sorgen, dass keine antisemitische oder antijüdische Theologie eingeschleust wird.99 Die doppelte kanonische Kontextualisierung enthält darüber hinaus aber auch ein dialogisches Moment. Wer sich den Schriften der Hebräischen Bibel zuwendet, wendet sich dem basalen Glaubensdokument des Judentums zu. Jeder Leser und jede Leserin wird durch eine Lektüre der Hebräischen Bibel – zumindest implizit – in die Auslegungs- und Glaubensgeschichte des Judentums hineingenommen. Dies beginnt damit, dass sich von der Hebräischen Bibel die Welt jüdischer Traditionsliteratur erschließt, wobei den Midraschim und den Targumen, die ja als Auslegungsliteratur im engeren Sinne gelten, ganz besonderes Gewicht zukommt. Peter von der Osten-Sacken bezieht sich auf denselben Sachverhalt, wenn er von der zweifachen »Nachgeschichte« des Textes spricht.100 Er stellt seine Ausführungen dabei dezidiert in den Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs, wenn er betont, dass Israel als »Zeuge eigener Wahrheitsgewißheit« zu gelten hat. Eine Biblische Theologie, die der gegenwärtigen Existenz des jüdischen Volks gerecht werden möchte, kann nicht »allein Platz für die Rezeption des Alten Testaments im Neuen« haben, sondern muss die »lebendige Traditions- und Lebensgeschichte der Bibel im Jüdischen Volk« mithören und mitbedenken.101 Da die Tora nach dem jüdischen Traditionsverständnis unendlich viele Auslegungsfacetten enthält und ihre Interpretation eigentlich niemals zum Abschluss kommt,102 sind neben den antiken jüdischen Auslegungen der Bibel Israels auch die Stimmen späterer jüdischer Exegeten und Exegetinnen – vom Mittelalter bis in die Gegenwart – mitzuhören. Dieser Gedanke berührt die Frage nach einer jüdischen Biblischen Theologie. Im Gegenzug zu der vielzitierten provokativen Behauptung Jon D. Levensons, wonach sich Juden aus guten Gründen nicht für Biblische Theologie zu interessieren bräuchten, betont Isaak Kalimi, dass dies zwar für eine christliche Biblische Theologie gelten mag, eine jüdische (Hervorhebung B. E.) Biblische Theologie jedoch hält er für wünschenswert und auch notwendig. Seiner Meinung nach ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Exegese, »die Bibel darauf zu lesen, was sie an religiösen Botschaften und zur Förderung der Humanität zu sagen hat«, um so »den

98 99 100 101

Dohmen, Hermeneutik, 206. Siehe Kalimi, Religionsgeschichte, 52. Von der Osten-Sacken, Wille zur Erneuerung. Von der Osten-Sacken, Wille zur Erneuerung, 266 mit weiterführenden Literaturangaben. Ausführlicher zu diesen Zusammenhängen Ego, Judaistik. 102 Zur Hermeneutik Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, 26–42.

70

1. Kapitel: Umfeld

Wert der Schriften für unsere Generation herauszufinden, hat doch jede Generation ihre eigenen, spezifischen Werte, Auslegungen und Theologien.«103 Für Kalimi liegt die Betonung somit auf dem Begriff der »Theologie«, den er im Sinne einer Bibelauslegung versteht, die existentielle Orientierungen und Glaubensinhalte vermittelt. Vor diesem Hintergrund weist Kalimi darauf hin, dass es bereits seit vielen Jahrhunderten Werke gibt, die – auch wenn der Terminus als solcher nicht explizit genannt wird – als Vertreter einer jüdischen Biblischen Theologie gelten könnten, so z. B. die jüdischen Kommentare, die opera magna der jüdischen Literatur – wie z. B. das »Buch der Glaubensansichten und Meinungen« des Rab Saadja Gaon (882–942) oder »Der Führer der Verwirrten« des Rambam (1135–1204) oder auch neuere Arbeiten wie Abraham Heschels »Propheten« (1936) oder Martin Bubers »Königtum Gottes« (1932).104 Neben Isaak Kalimi hat sich auch Marvin Sweeney explizit mit dem Diktum Levensons auseinandergesetzt und in einem Aufsatz, der im Jahre 2000 in der Theologischen Literaturzeitung erschienen ist,105 auf zahlreiche neuere Arbeiten jüdischer Exegeten und Exegetinnen verwiesen, die das jüdische Interesse an dieser Thematik zeigen. Ein wesentlicher Impuls waren dabei die existentiellen Fragen, vor die das jüdische Volk durch die Schoah gestellt wurde.106 In diesem Zusammenhang nennt Marvin Sweeney jüdische Denker wie Ignaz Maybaum, Richard Rubenstein, Eliezer Berkowits und Emil Fackenheim, die alle versucht haben, den Holocaust theologisch zu verarbeiten. Diese Diskussionen hatten wiederum einen Einfluss auf jüdische Bibelwissenschaftler, die nun nach der theologischen Vorstellungswelt des Tanakh in einem breiteren Horizont fragten.107 So wird insgesamt deutlich: Die synchrone doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel, die ihrerseits in diachroner Hinsicht aus komplexen religions- und literaturhistorischen Prozessen resultiert, führt zu einer christlichen Hermeneutik des Alten Testaments, die sich einem sensiblen jüdischchristlichen Dialog in der Spannung von Identität und Differenz verpflichtet weiß. Sie ist von der Bereitschaft getragen, die jüdischen Stimmen der Auslegung mitzuhören und mit ihnen in einen Dialog zu treten, der sich einer geschwisterlichen Verbundenheit und Dankbarkeit verpflichtet weiß.

103 Kalimi, Religionsgeschichte, 50. 104 Kalimi, Religionsgeschichte, 56–59. Wenn bislang im Vergleich zur christlichen Biblischen Theologie jüdischerseits nur wenige biblisch-theologisch-orientierte Arbeiten existierten und der Fokus eher auf historischen und archäologischen Aspekten liege, so lasse sich dies durch die spezifische Situation des modernen Staates Israel erklären. Diese »massive Konzentration auf die historischen Aspekte der Bibel [...] sind bis zu einem gewissen Punkt das Produkt der gesellschaftlich-politischen Situation der letzten Generation des Volkes Israel« (62). Interessant und weiterführend sind hier die Arbeiten der israelischen Bibelwissenschaftlerin Dalit Rom-Shiloni, die ihr Interesse an einer jüdischen Biblischen Theologie explizit zum Ausdruck gebracht hat; s. Rom-Shiloni, Hebrew Bible Theology (mit weiterführenden Literaturangaben). 105 Sweeney, Jewish Biblical Theology. 106 Sweeney, Jewish Biblical Theology, 406. 107 Für die Belege im Einzelnen s. Sweeney, Jewish Biblical Theology, 401–408.

§ 4 Bibel, Judentum, Christentum

71

Bibliographie Becker, Eve-Marie/Scholz, Stefan (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin 2012. Blau, Ludwig, Zur Einleitung in die Heilige Schrift, Budapest 1894. Dohmen, Christoph, Hermeneutik des Alten Testaments: Dohmen, Christoph/Stemberger, Günter (Hg.), Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,2), Stuttgart 1996, 133–213. Ego, Beate u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel – Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum (WUNT 118), Tübingen 1999. Dies., Judaistik und Biblische Theologie. Forschungsgeschichtliche und systematische Überlegungen zu einem komplexen Verhältnis: JBTh 25 (2010), 305–329. Fischer, Alexander Achilles, Der Text des Alten Testaments. Neubearbeitung der Einführung in die Biblia Hebraica von Ernst Würthwein, Stuttgart 2009. Frankemölle, Hubert, Art. »Schrift/Schriftverständnis«: Berlejung, Angelika/Frevel, Christian (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 42–48. Ders., Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers: Hossfeld, Frank-Lothar (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg u. a. 2001, 200–278. Gamberoni, Johannes, Die Auslegung des Buches Tobit in der griechisch-lateinischen Kirche der Antike und der Christenheit des Westens bis um 1600 (StANT 21), München 1969. Goldmann, Manuel, Die große ökumenische Frage. Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition mit ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel (Neukirchner Beiträge zur Systematischen Theologie 22), Neukirchen-Vluyn 1997. Groß, Walter, Der doppelte Ausgang der Bibel Israels und die doppelte Leseweise des christlichen Alten Testaments: Ders. (Hg.), Das Judentum. Eine bleibende Herausforderung christlicher Identität, Mainz 2001, 9–25. Hartenstein, Friedhelm, Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit Notger Slenczka: ThLZ 7 (2015), 738–751. Hengel, Martin, Die Septuaginta als »christliche Schriftensammlung«, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons: Hengel, Martin/Schwemer, Anna Maria (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994, 182–284. Janowski, Bernd, Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer biblischen Theologie: ZThK 95 (1998), 1–36; wieder abgedruckt in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 249–284. Ders., Die kontrastive Einheit der Schrift: Ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen 2009, 323–334. Kalimi, Isaak, Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? Das jüdische Interesse an der Biblischen Theologie: JBTh 10 (1995), 45–68. Koch, Klaus, Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes in Judentum und Christentum: JBTh 6 (1991), 215–242. Kreuzer, Siegfried, Einleitung in die Septuaginta (Handbuch zur Septuaginta 1), Gütersloh 2016. Levenson, Jon D., Why Jews Are Not Interested in Biblical Theology: Neusner, Jacob u. a. (Hg.), Judaic Perspectives on Ancient Israel, Philadelphia 1987, 281–307; wieder abgedruckt in Levenson, Jon D., The Hebrew Bible, Old Testament, and Historical Criticism. Jews and Christians in Biblical Studies, Louisville 1993, 33–61. Morgenstern, Matthias, Halachische Schriftauslegung. Auf der Suche nach einer jüdischen »Mitte der Schrift«: ZThK 103 (2006), 26–48.

72

1. Kapitel: Umfeld

Oeming, Manfred, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad, Stuttgart u. a. 21987. Ders., Lob der Vieldeutigkeit. Erwägungen zur Erneuerung des Verhältnisses jüdischer und christlicher Hermeneutiken: Trumah 9 (1999), 125–145. Rendtorff, Rolf, Zur Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Alten Testaments: Geyer, Hans-Georg u. a. (Hg.), »Wenn nicht jetzt, wann dann?« FS Hans-Joachim Kraus, Neukirchen-Vluyn 1983, 3–11. Rom-Shiloni, Dalit, Hebrew Bible Theology: A Jewish Descriptive Approach: Journal of Religion 96 (2016), 165–184. Scholem, Gershom, Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum: Ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, 90–120. Siegert, Volker, Einleitung in die hellenistisch-jüdische Literatur. Apokrypha, Pseudepigrapha und Fragmente verlorener Autorenwerke, Berlin 2016. Stemberger, Günter, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 1992. Ders., Judaica Minora 1. Biblische Traditionen im rabbinischen Judentum (TSAJ 133), Tübingen 2010. Sweeney, Marvin, Jewish Biblical Theology and Christian Old Testament Theology: ThLZ 134 (2009), 397–410. Tov, Emanuel, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart/Berlin 1997. von der Osten-Sacken, Peter, Der Wille zur Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses in seiner Bedeutung für biblische Exegese und Theologie: JBTh 6 (1991), 243–267.

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift Martin Rösel, Rostock Die Texte der Bibel sind den meisten Leserinnen und Lesern in der Regel nur durch Übersetzungen zugänglich. Das war schon in der Antike so, denn das Christentum entstand in einem Umfeld, in dem das Hebräische als gehobene Sprache der Synagoge und des Tempels, das Aramäische als Umgangssprache, das Griechische als internationale Gelehrtensprache und das Lateinische als Verwaltungssprache der Römer verwendet wurden. Die heiligen Schriften Israels waren im 1. Jh. n. Chr. auf Hebräisch, Griechisch und zumindest teilweise auf Aramäisch zugänglich, was an verschiedenen Stellen im Neuen Testament erkennbar ist: So findet sich in 1Kor 16,22 der alte aramäische Gebetsruf Maranatha, der mit »Unser Herr komme!« zu übersetzen ist. Auch Jesu Worte am Kreuz, »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« aus Ps 22, werden auf Aramäisch als Eli, Eli, lema sabachtani (Mt 27,46) wiedergegeben (in der Lutherbibel allerdings in der hebräischsprachigen Version lama asabtani, weil Luther ad fontes, zum hebräischen Original, zurückgehen wollte). Im Johannesevangelium werden verschiedene Ortsnamen ausdrücklich als hebräisch gekennzeichnet, so Betesda in Joh 5,2 oder Golgata in 19,17, und auch im Alten Testament werden gelegentlich Sprachwechsel markiert: Die Verteidiger Jerusalems wollen in den Verhandlungen mit dem assyrischen Rabschake auf Aramäisch mit ihm sprechen, damit das Volk, das nur Judäisch kann, nichts versteht (2Kön 18,26–28); Josef redet mit seinen Brüdern durch einen Dolmetscher (Gen 42,23), und ein Brief der Judäer an den persischen König Artaxerxes wird der Erzählung nach nicht nur in aramäischer Schrift verfasst, sondern auch ins aramäische Idiom über-

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

73

setzt (Esr 4,7). Interessanterweise wechselt dann auch der folgende Text vom Hebräischen ins Aramäische. Schon dieser erste Überblick macht deutlich, dass das Phänomen der Fremdund Vielsprachigkeit den biblischen Autoren nicht nur bekannt war, sondern auch als Mittel der literarischen Darstellung genutzt werden konnte. Hinzu kommt die allgemeine Einsicht, dass keine Übersetzung die Aussage oder Wirkung des Ausgangstextes unverändert übertragen kann. In vielen Fällen ist sogar damit zu rechnen, dass Textaussagen im Zuge der Übersetzung bewusst aktualisiert wurden – etwa zur Anpassung an ein verändertes politisches oder kulturelles Umfeld. Wenn moderne Leserinnen und Leser also nur durch Übersetzungen Zugang zu den biblischen Stoffen haben, hat das Wissen um die Ausgangssprache und ihre sprachlichen Möglichkeiten auch Bedeutung für das theologische Verständnis der Bibel.

1.

Sprachen und Schriften der Bibel

a)

Hebräisch

Die allermeisten Texte des Alten Testaments sind in hebräischer Sprache verfasst worden. In der Forschung wird diese Sprachstufe als »Biblisches Hebräisch« bezeichnet. Damit wird sie von späteren Entwicklungen des Hebräischen unterschieden, die beispielsweise im Buch Jesus Sirach, den Texten aus Qumran oder in der rabbinischen Literatur begegnen. Zusammenfassend werden diese späteren Sprachstufen auch »Mittelhebräisch« genannt; die rabbinischen Texte werden gelegentlich auch als »Neuhebräisch« eingestuft. Das heute v. a. in Israel gesprochene Ivrit wird im Unterschied dazu als »Modernhebräisch« bezeichnet. Das Biblische Hebräisch beruht auf der Amtssprache Judas mit seiner Hauptstadt Jerusalem. In dem eingangs schon genannten Text 2Kön 18,26–28 (vgl. auch Neh 13,24) wird es daher als »Judäisch« bezeichnet, seine Benennung als »Hebräisch« begegnet erst im griechischsprachigen Prolog des Buches Jesus Sirach. Innerhalb der Sprachfamilie der kanaanäischen Sprachen teilte das Biblisch-Hebräische einige sprachliche Besonderheiten mit geographisch benachbarten Sprachen wie dem Moabitischen und Edomitischen, etwa das Relativpronomen oder die Akkusativpartikel, auch eine charakteristische Art der Tempusbildung beim Verb. Verwandtschaft besteht auch zum Phönizischen, Ammonitischen und Israelischen, der Sprache des Nordreichs Israel. Davon haben allerdings nur wenige sprachliche Zeugnisse überlebt, vor allem die Ostraka aus Samaria (s. u.) und – was in der Forschung strittig ist – alte Bestandteile des aus dem Nordreich stammenden Hoseabuches und das Debora-Lied in Ri 5. Im Richterbuch wird die Erinnerung an dialektale Unterschiede zwischen den Regionen in der bekannten Schibbolet-Episode in Ri 12 bewahrt; wer das Wort Schibbolæt – »Ähre« als Sibbolæt aussprach, wurde von den ostjordanischen Gileaditern als Ephraimit erkannt (Ephraim war eines der Kerngebiete des Nordreichs Israel). Die genannten kanaanäischen Sprachen weisen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, vor allem die »kanaanäische Lautverschiebung« von a zu o, die etwa an dem

74

1. Kapitel: Umfeld

bekannten Wort schalôm – »Friede, Heil« zu erkennen ist, das andernorts schelam ausgesprochen wurde, vgl. das modernarabische salam. Zusammen mit dem Aramäischen (s. u.) und nordkanaanäischen Sprachen wie dem Ugaritischen oder Eblaitischen bilden diese Sprachen das Nordwestsemitische, das wiederum charakteristische Unterschiede zu anderen semitischen Sprachen, vor allem dem Arabischen (zentralsemitisch) und Akkadischen (ostsemitisch) hat. Die Besonderheiten des Kanaanäischen sind von ca. 1500 v. Chr. an belegt, u. a. in den Tontafeln aus dem Archiv im ägyptischen Amarna, der Residenz des Pharaos Echnaton. Hier sind auch Briefe aus dem damals noch nicht israelitischen Jerusalem erhalten; sie belegen, dass es dort der akkadischen Keilschrift mächtige Schreiber gab, durch die der König an der internationalen Korrespondenz teilnehmen konnte. Ein gemeinsames Kennzeichen der semitischen Sprachen ist, dass die Grundbedeutung der Worte von der aus meist drei Konsonanten bestehenden Wortwurzel abhängig ist. Konkrete Formen entstehen entweder durch festgelegte Vokalfolgen oder durch Zufügung von Prä- oder Afformativen. Dabei bleibt der etymologische Zusammenhang mit der Grundbedeutung der Wortwurzel fast immer erkennbar: So bedeutet das Verbum šmr in der Grundbedeutung »wachen/bewachen«108, mit der Vokalisation šāmar – »er hat bewacht«, als šomer – »Wächter«, als šemurāh – »Augenlid« (das das Auge bewacht), als mišmärät – »Wache, Gefängnis«. Ein Charakteristikum des Biblisch-Hebräischen ist das Tempussystem des Verbs, das nach wie vor nicht sicher zu erklären ist. Neben den Grundformen einer Afformativ-Konjugation, bei der der Wortstamm durch am Ende angefügte Elemente modifiziert wird (mālaḵ-tî – »ich bin König geworden«), und einer PräformativKonjugation mit Bildeelementen vor dem Wortstamm (ji-mloḵ – »er wird König werden«), gibt es zusätzlich sogenannte Konsekutivtempora. Bei ihnen wird durch Voranstellung der Copula »und« Tempus und Aspekt der Ausgangskonjugation verändert. So bedeutet we-mālaḵ-tî dann »und ich will/werde König sein«, und waj-jimloḵ ist mit »und er wurde König« zu übersetzen. Besonders in poetischen Texten scheint dieses System aber nicht konsequent durchgeführt worden zu sein, auch ist nicht immer sicher zu erkennen, ob die vorangestellte Copula wirklich diesen Sinn hat oder nur als verbindendes Element zu sehen ist. Daher bleiben an verschiedenen Stellen Unsicherheiten bei der Übersetzung der Texte. In späteren Texten tritt das genannte Phänomen seltener auf, auch werden nun Partizipien verstärkt verwendet, um eine gleichzeitige und andauernde Handlung auszudrücken. Dies ist eines der typischen Kennzeichen des »Late Biblical Hebrew«, einer Sprachform, die vor allem in deutlich nachexilischen Schriften zu finden ist, etwa den Büchern Daniel, Esra und Nehemia oder Jona. Damit ist schon innerbiblisch deutlich, dass es – sicher unter dem Einfluss des Aramäischen – einen Sprachwandel gegeben hat. Allerdings ist es nur in wenigen Fällen möglich, aufgrund der verwendeten Sprachstufe die Texte sicher zu datieren, da das Judäische/Biblisch Hebräische seit dem 8. Jh. bis in die nachexilische Zeit durchgängig als Literatursprache gebraucht wurde. Hinzu kommt, dass die Schreiber ältere Sprachstufen 108 Davon ist im Deutschen der umgangssprachliche Ausdruck »Schmiere stehen« abgeleitet.

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

75

bewusst nachahmen konnten, um den Texten einen archaischen Anschein zu geben. Daher kann das schon genannte Deboralied in Ri 5 auch als spät entstandener Text eingeschätzt werden, der an ältere Lieder erinnern soll. Als weiteres Problemfeld ist die Schrift zu nennen, in der das Hebräische aufgeschrieben wurde. Es handelt sich um eine alphabetische Konsonantenschrift. Sie ist zum einen von der viel schwieriger zu erlernenden und praktizierenden Keilschrift zu unterscheiden, zum anderen von Schriftsystemen, die auf der Wiedergabe von stilisierten Bildern (z. B. die Hieroglyphenschrift) oder Zeichen für ganze Worte oder Silben basieren. Das konsonantische Alphabet war im nordsyrischen Ugarit schon im 2. Jt. in Gebrauch, zunächst allerdings noch als Keilschrift ausgeführt. Im phönizischen Bereich entwickelten sich dann Schriftzeichen, die auch für das Beschreiben von Papyrus tauglich waren. Ihre Grundformen wurden schnell standardisiert und verbreiteten sich – mit regionalen Differenzen – im ganzen Gebiet der Levante. Diese – oft als »althebräisch« bezeichnete – Form des Alphabets wurde bis in die nachexilische Zeit hinein verwendet, in Ausnahmefällen auch als archaische Schreibweise sogar noch in Qumran. Auch die Samaritaner verwenden eine Schriftform, die sich aus diesen ursprünglich phönizischen Zeichen entwickelt hat. Im judäisch-biblischen Bereich setzte sich jedoch ab der Perserzeit die sogenannte Quadratschrift durch, die aus dem aramäischen Sprachraum stammt. Bei ihr werden die Buchstabenformen in ein gedachtes Quadrat eingepasst, daher der Name. Im oben angesprochenen Text Esr 4,7 war diese Schriftform als »aramäisch« bezeichnet worden. Die Quadratschrift wird bis heute für hebräische Texte aller Art verwendet, daneben gibt es eine schneller schreibbare Kursive. Das hebräische Alphabet hat 22 Konsonanten, von denen einige auch als Zeichen für Vokale dienen können. So steht ein jod sowohl für den Konsonanten j als auch für die Vokale i, e oder ä; ein waw kann als Konsonant w oder vokalisch als o oder u gelesen werden. Daraus resultieren an verschiedenen Stellen Unsicherheiten über Bedeutung und Aussprache des betreffenden Wortes, zumal die Setzung von Vokalbuchstaben nicht einheitlich praktiziert wurde. So lässt sich die Zeichenfolge dwd sowohl als dod »Liebling« als auch als Eigenname dawid lesen. Als Folge dessen finden sich in den Texten von Qumran wie in späteren Bibelhandschriften unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes. Nachdem das Hebräische wohl von der hellenistischen Zeit an immer seltener im Alltag verwendet wurde, gerieten auch Details der Aussprache in Vergessenheit. Da die biblischen Texte aber weiterhin in liturgischen und religiösen Zusammenhängen verlesen wurden, entstanden seit dem frühen Mittelalter verschiedene Systeme der Vokalisation. Bei ihnen wurde der Konsonantentext der Bibel ergänzt durch Zeichen, die die harte oder weiche Aussprache von Konsonanten, die Silbenstruktur und die Länge und Qualität der Vokale mitteilten. Von ihnen hat sich ein in Tiberias entwickeltes System durchgesetzt; diese tiberische Punktation ist bis heute der Standard der Vokalisation, auch z. B. in modernhebräischen Zeitungen. Andere Systeme sind z. B. in Handschriften aus dem Jemen oder östlichen Synagogen belegt. Das Problem dieser nachträglichen Vokalisation der Texte besteht darin, dass sie einen sehr späten Aussprachestandard festschreibt, der sicher nicht für alle Texte

76

1. Kapitel: Umfeld

der hebräischen Bibel angemessen ist. Das lässt sich leicht an Transkriptionen hebräischer Worte in alten Übersetzungen erkennen: Die Namen der Städte »Sodom« und »Gomorra« sind in dieser Form aus der griechischen Übersetzung in unseren Sprachgebrauch gekommen, nach der tiberischen Punktation sind sie als Sedom und ‘Amora109 zu lesen. Hinzu kommt, dass die Vokalisationsregeln künstlich vereinheitlicht wurden. Der biblische Text ist also ein Mischtext aus altem Konsonantenbestand und jüngerer Vokalisation. Daher gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen man in der Forschung auf der Grundlage der älteren Konsonanten zu anderen Lesarten kommt, als sie die spätere Vokalisation voraussetzt. b)

Aramäisch

Einige kurze Textpassagen der Hebräischen Bibel sind auf Aramäisch geschrieben worden. Auch das Aramäische gehört zur nordwest-semitischen Sprachfamilie; es hat sich in Syrien entwickelt und wurde in der neuassyrischen und neubabylonischen Administration als Verwaltungssprache verwendet. Einige Besonderheiten des Aramäischen sind auch in Übersetzungen erkennbar, so etwa die Vokabel bar für »Sohn«110; das Hebräische hat ben111. Aus dem eigentlichen Stammgebiet Syrien und Nordmesopotamien sind eine Reihe altaramäischer Inschriften erhalten, denen wichtige historische und religiöse Hintergrundinformationen über die lokalen Verhältnisse in der frühen Eisenzeit zu entnehmen sind. Die eingangs wiedergegebene Szene mit dem Rabschake vor Jerusalem (2Kön 18) belegt, dass das Aramäische auch in der südlichen Levante als internationale Verständigungssprache bekannt war. In der persischen Zeit wurde es dann zur Lingua Franca des Perserreichs von Ägypten bis weit in den Osten ins heutige Afghanistan und Pakistan hinein. Der Sprachstand dieser Epoche wird in der Regel als »Reichsaramäisch« bezeichnet. Gut erhalten sind z. B. aus dem 5. Jh. die aramäischen Papyri einer jüdischen Siedlung auf der Nilinsel Elephantine an der Südgrenze Ägyptens. Erhalten ist sogar eine aramäische Version von Psalm 20, die in ägyptisch-demotischer Schrift geschrieben wurde und wohl aus dem 4. Jh. stammt. Vor diesem Hintergrund ist überraschend, dass nur geringe Teile des AT auf Aramäisch geschrieben wurden; das Faktum belegt die große Bedeutung des Biblisch-Hebräischen als Überlieferungsträger und wohl auch Identitätsmarker. An zwei Stellen wird das Aramäische als literarisches Mittel eingesetzt: in Gen 31,47 benennen Jakob und Laban einen Steinhaufen je in ihrer Sprache als gal’ed (Hebräisch) oder jegar-śāhadûtā’ (Aramäisch); beides bedeutet etwa »Stele des Zeugnisses«. In Jer 10,11 steht im hebräischsprachigen Kontext ein einzelner Vers auf Aramäisch, hier werden die fremden Nationen in ihrer eigenen Sprache angesprochen: »Die Götter, die weder den Himmel noch die Erde gemacht haben, werden verschwinden 109 Als zusätzliches Phänomen ist hier die unterschiedliche Aussprache des Konsonsanten ‘ajin als g oder Knacklaut zu notieren. 110 Vgl. den Namen Bar-abbas in Mt 27,16. 111 Vgl. den Namen Ben-jamin in Gen 35,18.

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

77

von der Erde und unter diesem Himmel«. Die Distanz zwischen eigener und fremder Gottesvorstellung wird durch den Einsatz der fremden Sprache gesteigert. Umfangreichere Textabschnitte in Aramäisch finden sich in den Büchern Esra und Daniel. Ihr Sprachstand wird als Biblisch-Aramäisch bezeichnet, weil erneut der ursprüngliche Konsonantenbestand mit der späteren masoretischen Vokalisation verbunden wurde, woraus sich einige Unstimmigkeiten ergeben. In Esr 4,8–6,18 wird die aramäische Sprache verwendet, um Dokumente wie einen Brief an Artaxerxes oder das berühmte Edikt des Kyros (Esr 6,3) einzuführen; das Gleiche gilt für Esras Beauftragung durch den Perserkönig in 7,12–26. So soll die Authentizität dieser Dokumente unterstrichen werden, wobei in der Forschung allerdings strittig ist, ob diese Texte tatsächlich auf originale Dokumente zurückgehen. In Esr 4–6 wird zusätzlich der ganze Erzählverlauf in Aramäisch gestaltet, in 6,19 wird ohne sprachliches Signal ins Hebräische zurückgewechselt. Die aramäischen Abschnitte des Danielbuchs gelten allgemein als die ältesten Elemente dieser Schrift. Der Sprachwechsel geschieht in Dan 2,4b, als die Sterndeuter den König Nebukadnezzar auf Aramäisch nach seinem Traum fragen. Von da an wird durchgängig bis an das Ende von Kapitel 7 Aramäisch verwendet. Es gibt Hinweise darauf, dass auch Dan 1,1–2,4a ursprünglich in Aramäisch verfasst war, dann aber ins Hebräische übersetzt wurde, als die hebräischen Kapitel 8–12 dem Grundbestand zuwuchsen. Das Aramäische des Danielbuchs ist eine deutlich spätere Sprachstufe als das des Esrabuchs. Neben der in den biblischen Kanon aufgenommenen Literatur gab es im damaligen Judentum noch eine Fülle weiterer aramäischer Texte, die nun zumindest fragmentarisch durch die Funde in der judäischen Wüste zugänglich sind. Erwähnenswert ist besonders das Buch Tobit, dessen griechische Übersetzung zu den Apokryphen des AT gehört. Von ihm sind sowohl hebräische als auch aramäische Texte gefunden worden, so dass nicht sicher zu entscheiden ist, welche Version die originale Sprache und welches die Übersetzung war. Doch zusammen mit der griechischen Version belegt dies eindrucksvoll die Vielsprachigkeit des Judentums in der hellenistischen Zeit.

2.

Das Schreibmaterial

Die biblischen Texte sind im Verlauf ihrer Überlieferung wieder und wieder abgeschrieben worden, bis zu jenen Handschriften, auf denen unsere heutigen Textausgaben basieren. Die Anfänge dieser Textproduktion liegen im Dunkeln, so dass man nur vermuten kann, welches der in der Antike zur Verfügung stehenden Schreibmaterialien damals verwendet wurde. Beginnt man mit den in der Bibel selbst genannten Materialien, so ist zunächst an die Schriftrolle zu denken. Eine solche wird etwa dem Propheten Ezechiel gereicht, der sie dann sogar aufessen muss (Ez 2,9–3,2). Breit wird in Jeremia 36 erzählt, dass der Prophet seine Weissagungen auf eine Schriftrolle schreibt, aus der dann sein Schreiber Baruch dem König alles vorliest. Dieser jedoch schneidet die vorgelesenen Spalten ab und verbrennt sie. Es ist anzunehmen, dass eine solche Rolle aus Papyrus angefertigt war, der seit dem 3. Jt. in Ägypten als Schreibmaterial

78

1. Kapitel: Umfeld

verwendet wurde. Da die Papyrusstängel mehrere Meter lang werden können, eigneten sich solche Schriftrollen auch für längere Texte. Haupthandelsplatz für Papyrus war in der Antike die Stadt Byblos in Phönizien. Von ihrem Namen leitet sich das griechische Nomen biblion als Bezeichnung für eine Papyrus-Rolle ab; der Plural biblia bezeichnet dann später im Christentum die Sammlung der biblischen Bücher. Auch Leder konnte zur Produktion von Schriftrollen verwendet werden; belegt ist es im 5. Jh. in der bereits genannten jüdischen Siedlung auf Elephantine. Lederrollen sind in der Herstellung deutlich teurer, allerdings können sie durch Aneinandernähen von Stücken länger werden, und sie sind dauerhafter. In Palästina haben sie sich erst spät durchgesetzt; in Qumran sind Papyrusrollen weit in der Überzahl. Die Verwendung von solchen Rollen hatte Konsequenzen für die Überlieferung der auf sie geschriebenen Texte: Zum einen war das Material bei Feuchtigkeit empfindlich und wenig dauerhaft, daher sind antike Papyrus- oder Lederrollen nur aus sehr trockenen Gebieten wie Ägypten oder der judäischen Wüste erhalten. Zum anderen war die Textmenge beschränkt, die auf eine solche Rolle geschrieben werden konnte. Die längsten in Qumran gefundenen Rollen (Tempelrolle und Jesaja) sind etwa 8 Meter lang, sie konnten also maximal ein (langes) biblisches Buch aufnehmen. Das bedeutet, dass größere Schriftkompositionen in der Antike auf mehrere Rollen verteilt werden mussten – daher der Name »Pentateuch« für das Gefüge der fünf Rollen, die die Tora bilden. Zu bedenken ist außerdem, dass es vor der Erfindung des Codex (um die Zeitenwende) physisch keine »Bibel« gegeben haben kann, in der alle Schriften vereint waren. Neben den Schriftrollen werden im AT auch Tafeln als Schreibmaterial genannt, am prominentesten sind die »Tafeln des Zeugnisses«, die Gott Mose auf dem Sinai gibt (Ex 31,18). Solche Steintafeln bzw. beschriftete Steine oder behauene Stelen in verschiedenen Größen wurden mit Meißeln oder Griffeln beschrieben. Antike Beispiele wurden mehrfach in Israel und seiner Umwelt gefunden. Erwähnenswert sind etwa die Inschrift auf der Stele des Königs Mescha aus Moab (um 840 v. Chr.) oder die auf dem Tel Dan gefundene aramäische Inschrift (9./8. Jh.) mit der ersten außerbiblischen Erwähnung der Davidsdynastie; beide Monumentalinschriften sind für die Rekonstruktion der Geschichte Israels von höchster Bedeutung. In Dtn 27,2 wird als weitere Methode der Beschriftung von Steinen genannt, dass sie mit Kalk übertüncht werden. Auf diese Weise konnten die Steine mit Pinsel und Farbe beschriftet werden. Die in Jes 30,8 oder Hab 2,2 genannten Tafeln können mit Wachs bestrichene Holztafeln gewesen sein, die man für schnelle Notizen nutzen und danach wiederverwenden konnte. Ebenfalls für kurze Nachrichten, Briefe, Schreibübungen oder Notizen aller Art verwendet wurden sogenannte Ostraka. Das sind Scherben gebrannter und dann außer Gebrauch gekommener Krüge etc., die man mit Pinseln oder Griffeln beschriftet hat. Sie sind in großer Zahl erhalten, u. a. aus Samaria, der letzten Hauptstadt des Nordreichs Israel (8. Jh.), aber auch aus Lachisch im Südreich (6. Jh.). Aus Lachisch ist beispielsweise ein Brief erhalten (Ostrakon Nr. 3) in dem in Zeile 20f. ein Prophetenwort »Sei vorsichtig!« erwähnt wurde.112 Es ist denkbar, dass einzelne 112 Renz/Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik I, 419.

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

79

Aussprüche biblischer Propheten auf diese Weise in Israel zirkulierten. Die Ostraka gewähren vielfältige Einblicke in das tägliche Leben im damaligen Israel, daher sind sie für die Sozialgeschichtsschreibung von Bedeutung. Schließlich sind Wandinschriften zu nennen, auch wenn sie in der Bibel nur mit der berühmten Menetekel-Inschrift im Palast des Belsazzar Erwähnung finden (Dan 5). So ist in dem Tunnel, den König Hiskija 701 v. Chr. zur Sicherung der Wasserversorgung Jerusalems anlegen ließ (2Chr 32,30), die sog. Siloah-Inschrift angebracht worden, die von den Arbeiten der Mineure berichtet. Noch bemerkenswerter ist die auf eine verputzte Wand geschriebene Bileam-Inschrift, die im jordanischen Deir Alla gefunden wurde und schon aus dem 9. oder 8. Jh. stammt. Sie berichtet von den Visionen eines Sehers namens Balaam, der offenkundig mit dem biblischen Bileam (Num 22–24) zu identifizieren ist. Bei dem Text handelt es sich um eine kunstvolle literarische Komposition, die belegt, dass bereits zu dieser Zeit Aussprüche von prophetischen Gestalten gesammelt, redigiert und einer lesekundigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Man kann überlegen, ob nicht in der Bibel erwähnte Schriften wie etwa das »Buch des Aufrechten« (Jos 10,13) oder das »Buch der Chronik der Könige Israels« (1Kön 14,19) ebenfalls – zumindest in Auszügen – als Wandinschrift sichtbar waren. Andere wichtige Wandinschriften wurden in Kuntillet Adjrud im Süden Israels gefunden (9. Jh.), auch in einem Grab in Chirbet el Qom bei Hebron (8. Jh.). Sie geben Einblicke in die religiöse Vielfalt der mittleren Königszeit in Israel, etwa durch die Erwähnung von »Jhwh und seiner Aschera« in Chirbet el Qom, die auch auf einem Krug aus Kuntillet Adjrud belegt ist. Auf ein ganz besonderes Material geschrieben war der einzige auch aus der Bibel bekannte Text, den man bisher bei Ausgrabungen gefunden hat: Der aaronitische Segen aus Num 6,24–26 war in kleine Silberstreifen eingeritzt und wohl im 6. Jh. einem Verstorbenen in sein Grab in Jerusalem mitgegeben worden.

3.

Textproduktion

Wer waren die Schreiber der biblischen Texte? Auch wenn einige Namen überliefert sind – etwa der des Schreibers des Propheten Jeremia: Baruch, Sohn des Nerija (Jer 36,4) – kommt man über Vermutungen kaum hinaus. Auch über Anlass und Bedingung der Produktion von biblischen Texten und deren Vorstufen ist man auf Annahmen und Analogieschlüsse angewiesen. Oben war bereits davon die Rede, dass es schon im 14. Jh. im vorisraelitischen Jerusalem einen der Keilschrift mächtigen Schreiber am Königshof gegeben hat. Damit werden auch Grundkenntnisse der mythischen Überlieferungen der damaligen Zeit vorhanden gewesen sein. Schreiber waren an einem Königshof zudem für Verwaltungsaufgaben, das Zusammenstellen von Annalen und nicht zuletzt die Ausbildung von Prinzen und Beamten zuständig. Auch nach der Eroberung Jerusalems wird es dort weiterhin einen Fundus an religiösen und historischen Überlieferungen gegeben haben, nun mit judäisch-israelitischer Perspektive. Diese wurden nach und nach verschriftet und bildeten einen Grundstock der späteren biblischen Texte. Solche Überlieferungen können z. B. Gründungslegenden von Heiligtümern, Erinnerungen an Kriegszüge und Kämpfe

80

1. Kapitel: Umfeld

und Sagen über die Richter und Könige gewesen sein. Neben Verwaltungstexten und diplomatischer Korrespondenz gehören zu den ersten Schriften auch die Annalen der Könige – vgl. die bereits genannte »Chronik der Könige Israels« (1Kön 14,19) – Rechtstexte und Lieder oder Rituale, die im Kultus verwendet wurden. Daraus haben sich dann umfangreichere Erzählkreise und Sammlungen von Psalmen und Gesetzen entwickelt, die gepflegt und erweitert wurden. Wahrscheinlich wurden diese Schriften im Umkreis des Tempels und des Königshofes tradiert; hinzu kamen Sammlungen von weisheitlichen Lebensregeln, die für die Erziehung benötigt wurden; der Grundbestand des Buchs der Sprüche kann hier eingeordnet werden. Eine Besonderheit Israels war dann ab dem 8. Jh. auch die Zusammenstellung prophetischer Aussprüche unter dem Namen eines konkreten Propheten. Offenbar wollten seine Anhänger die prophetische Botschaft bewahren – so ist Jes 8,16 wohl zu verstehen. Da diese Texte meist herrschafts- und kultkritisch waren, ist von nun an mit oppositionellen Tradentenkreisen schriftlicher Überlieferungen neben Palast und Tempel zu rechnen. An den prophetischen Schriften ist zu erkennen, wie man sich das weitere Wachstum der Literatur vorzustellen hat: So weissagte Hosea ursprünglich nur gegen das Nordreich. Nach dessen Eroberung kamen seine Sprüche in den Süden nach Jerusalem. Dort wurden sie zum einen in andere Überlieferungen aufgenommen, z. B. in die des Propheten Jeremia (vgl. Hos 4,12f. mit Jer 2,20). Zum andern wurden die Hosea-Texte selbst erweitert und aktualisiert, damit man sie nun auch auf Juda beziehen konnte, vgl. etwa Hos 5,5, wo der Text »mit ihnen strauchelt auch Juda« deutlich nachklappt. Zudem stellte man Hosea- und Amosbuch zusammen und überlieferte sie nun gemeinsam; die Überlieferungen sind also nach und nach gewachsen, immer in Abhängigkeit von und als Reaktion auf bestimmte historische oder religiöse Entwicklungen, etwa den Untergang des Nordreichs und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Erkennbar ist, dass die Autoren und Redaktoren einen hohen Bildungsstand hatten, oft werden sie im Umkreis von Königtum und Tempel ausgebildet und beschäftigt worden sein, so etwa die Propheten Ezechiel, Haggai und Sacharja. Hinzu kommt, dass es damals noch keinen Buchmarkt gab; das Schreiben war also keine produktive Tätigkeit im engeren Sinne, sondern kostete im Gegenteil Ressourcen wie Zeit und Schreibmaterial. Damit ist deutlich, dass die biblischen Texte im Wesentlichen eine Oberschichtperspektive bieten, auch wenn einige als gelehrte Opposition Partei für Arme ergreifen. Die wohl oft mündlich erfolgte Überlieferung weniger gebildeter Schichten ist uns meist nicht mehr zugänglich, sieht man von den oben genannten, kurzen Alltagstexten wie den Ostraka ab. Auch Abbildungen, z. B. auf Stempelsiegeln, die man zum Bestätigen von Käufen brauchte, können neben den biblischen Texten partielle Einblicke in damalige Vorstellungswelten geben. In der alttestamentlichen Forschung ist höchst umstritten, wie die genannten Wachstumsprozesse im Einzelnen zeitlich einzuordnen sind. Ein gewisser Konsens besteht darin, dass die heutige Textgestalt der biblischen Bücher im Wesentlichen in persischer oder gar hellenistischer Zeit entstanden ist, aber erneut ist der Umfang später redaktioneller Elemente strittig. Auch in diesen Epochen ist zudem nicht klar, wie die Trägerkreise soziologisch zuzuordnen sind. Immerhin gibt es durch die Existenz der griechischen Übersetzungen und die Funde von Qumran

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

81

klarere Perspektiven, wann bestimmte Textformen eindeutig vorhanden gewesen sind.

4.

Die Septuaginta

Das hellenistische Judentum hat die Übersetzung der Bibel ins Griechische für so bedeutsam gehalten, dass eine eigene Tradition über deren Anfänge ausgeprägt wurde: In erster Linie ist hier der pseudepigraphe Brief des Aristeas an Philokrates zu nennen.113 In der Forschung geht man zwar davon aus, dass der Anlass zur Übersetzung, entgegen der Darstellung im Aristeasbrief, nicht von außen kam, sondern dass innere Bedürfnisse der alexandrinischen Gemeinde für den Beginn des größten und wohl wichtigsten Übersetzungswerkes der Antike verantwortlich waren. Doch die Datierung des Aristeasbriefes, wonach die Tora im 3. Jh. v. Chr. übersetzt wurde, wird allgemein akzeptiert. Kurz danach wurden nach und nach die anderen Bücher der Schrift übersetzt, die Mehrzahl wohl im zweiten Jahrhundert, andere noch später. Das Werk wird nicht allein in Alexandria angefertigt worden sein, auch Leontopolis oder Antiochia sind mögliche Orte. Allein daher ist einsichtig, dass die LXX keine einheitliche Übersetzung ist, tatsächlich haben die einzelnen Schriften sehr unterschiedliche Übersetzungscharakteristika. Wie oben kurz dargestellt, wurden auch Bücher übersetzt, die später nicht in den Kanon der Hebräischen Bibel aufgenommen wurden, z. B. das Buch Tobit oder Jesus Sirach. Parallel dazu wurden andere Schriften direkt auf Griechisch verfasst, z. B. das Buch Judit oder die Weisheit Salomos. Das ist der Grund dafür, dass in heutigen Septuaginta-Ausgaben, die auf christliche Kanonslisten zurückgehen, Bücher enthalten sind, die kein Pendant in der Hebräischen Bibel haben. Diese zusätzlichen Schriften heißen im evangelischen Bereich »Apokryphen« und sind nicht in allen Bibelausgaben enthalten, im katholischen Bereich sind sie als »deuterokanonische« Schriften Teil der Bibel. Die Bedeutung der LXX für die Bibelwissenschaft ist kaum zu überschätzen. Zum einen ist sie eine Zeugin für den Status des jeweiligen biblischen Textes zur Zeit seiner Übersetzung. Daher ist es an vielen Stellen möglich, über die LXX ältere Textformen zu rekonstruieren, als sie die erhaltenen hebräischen Handschriften bieten. Das betrifft einzelne Verse, wie etwa in Dtn 32,8, wo der hebräische Text über Gott sagt: »Er bestimmte die Gebiete der Völker nach der Zahl der Israeliten.« Der sicher ältere Text der LXX hat »nach der Zahl der Kinder Gottes«, was an eine Völkerengel-Vorstellung anspielt, die auch im biblischen Danielbuch (Dan 10) erhalten ist. Inzwischen beweist auch ein in Qumran gefundenes hebräisches Fragment das hohe Alter der griechischen Lesart. In anderen Fällen belegt die LXX sogar die Existenz anderer Versionen einzelner Bücher. So ist die griechische Version des Buches Jeremia gegenüber der hebräischen deutlich kürzer und zudem anders aufgebaut, was wohl als die ursprüngli-

113 Von ihm war bereits im vorangehenden § 4 die Rede.

82

1. Kapitel: Umfeld

chere Edition anzusehen ist. Im Buch Daniel ist das Gegenteil der Fall: Die LXX hat eine deutlich umfangreichere Version und zeigt damit, dass der Prozess des Textwachstums dieser Schrift angedauert hat. Hier kommt als Besonderheit noch dazu, dass schon in vorchristlicher Zeit eine zweite Übersetzung des Danielbuchs angefertigt wurde, die sog. Theodotion-Version, die sich deutlich enger an den hebräisch-aramäischen Ausgangstext hält. Das methodische Grundproblem im Umgang mit der LXX ist, dass nicht immer eindeutig ist, ob eine von ihr bezeugte Abweichung tatsächlich auf eine ältere Version des hebräischen Textes verweist oder ob nicht der Übersetzer frei übersetzt hat, um die Aussage seinem Verständnis des Textes oder bestimmten Erfordernissen der Umwelt anzupassen. So wird etwa in Lev 11,17 der Ibis, das Tier des ägyptischen Weisheitsgottes Thot, in die Liste der unreinen Tiere aufgenommen; der hebräische Text hat dagegen den Uhu. In Jes 7,9 wird aus dem berühmten »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht« in der LXX »wenn ihr nicht glaubt, so versteht ihr nicht«, was gut in die philosophischen Diskussionen im damaligen Bildungszentrum Alexandria passt. Wenige Verse später, in Jes 7,14, wird dann die Geburt des Immanuel nicht von einer »jungen Frau«, so der hebräische Text, sondern von einer parthenos, einer »Jungfrau« angesagt. Das ist keine Fehlübersetzung, wie oft zu lesen ist, sondern ein bewusst gesetzter theologischer Akzent, der verdeutlichen soll, dass der Messias von übernatürlicher Herkunft ist. Auf die LXX gehen zudem verschiedene Standard-Übersetzungen zurück, die zwar den gleichen Text wie die hebräische Bibel bezeugen, dennoch den Sinn anders akzentuieren. So ist statt vom »Bund« – berît nun von der »Verfügung« – diatheke (lat. testamentum) Gottes die Rede, statt der »Weisung« – tôra steht nun das »Gesetz« – nomos, und statt des Gottesnamens Jhwh das Appellativum »Herr« – kyrios. So ist einsichtig, dass es eine beträchtliche theologische Bedeutung hat, dass im NT in der Regel die griechische Bibel und ihre Vorstellungswelt zitiert wird, nicht die hebräische; bei der Aufnahme von Jes 7,14 als Weissagung auf die Jungfrauengeburt Jesu (Mt 1,23) ist dieser Zusammenhang offensichtlich. Die Bibel der ersten Christen und der alten Kirche war griechisch, nicht hebräisch. Wie bereits am Beispiel des Danielbuchs gezeigt, wurden schon in vorchristlicher Zeit Überarbeitungen oder Neuübersetzungen einzelner Bücher der LXX angefertigt. Das hängt damit zusammen, dass sich ab dem 2. Jh. eine standardisierte Fassung des hebräischen Textes herausbildete (s. u.), dem nun die griechische Übersetzung angepasst werden sollte. Hinzu kam ein allgemeiner Trend zu einer sehr wortgetreuen Übersetzungsweise, der ebenfalls zur Überarbeitung vorhandener Übersetzungen führte (sogenannte kai-ge-Rezension). Unter dem Einfluss der christlichen Verwendung der LXX gab es dann weitere Neuübersetzungen (z. B. Aquila) und Rezensionen (z. B. Lukian), so dass es in der Zeit der alten Kirche eine Vielzahl von Textgestalten der griechischen Bibel gab. Wenigstens als Ausblick sei erwähnt, dass es bereits in vorchristlicher Zeit auch aramäische Übersetzungen der hebräischen Bibel gab; sie werden Targume genannt. So ist in Qumran ein Targum zum Buch Hiob erhalten; man kann auch davon ausgehen, dass Teile der Targume zu den Prophetenbüchern aus vorchristlicher Zeit stammen. Die Besonderheit dieser Übersetzung besteht darin, dass sie an vie-

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

83

len Stellen interpretierende Zusätze zum eigentlichen Bibeltext hinzufügen. Daher sind sie ein wichtiges Mittel, um die frühe jüdische Rezeptionsgeschichte der Bibel zu erhellen. Als sich im 2. Jh. n. Chr. das Urchristentum zur Kirche formierte, kam langsam auch das Lateinische als gemeinsame Sprache der westlichen Christen in Gebrauch. Zunächst gab es jedoch keine Übersetzungen der Hebräischen Bibel, sondern die sog. Vetus Latina wurde als Tochterübersetzung der LXX angefertigt. Erst im 4. Jh. erarbeitete der Kirchenvater Hieronymus die Vulgata (= allgemeine Übersetzung), bei der er für den Bereich des Alten Testaments auf die hebräischen Texte als Vorlage zurückgriff, sich aber an den umfangreicheren Kanon der LXX hielt, so dass die Apokryphen Teil seiner Bibel wurden. Die Vulgata wurde zur Standardbibel der katholischen Kirche.

5.

Qumran und die Vielfalt der hebräischen Textformen

Im vorigen Abschnitt war darauf hingewiesen worden, dass sich in der LXX einige Textformen erhalten haben, die älter als der heutige hebräische Bibeltext sind. Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch beim sogenannten »Samaritanischen Pentateuch« feststellen, der in vielen Einzelheiten abweichenden Tora der Samaritaner. Es war also schon lange bekannt, dass es verschiedene Textformen gegeben haben muss und dass in vielen Fällen nicht sicher auszumachen ist, welches die älteste und ursprüngliche Version ist. Am bereits erwähnten Fall des Buches Jeremia lässt sich sogar erkennen, dass die anhaltende Textproduktion der Redaktoren des Buches parallel mit der Rezeption und Übersetzung einer vorläufigen Textform gehen konnte. Dieses Bild der Frühzeit der biblischen Textüberlieferung wurde durch die Funde in Qumran und anderen Orten in der judäischen Wüste, die nach 1947 gemacht wurden, noch komplexer. Allein in den 11 Höhlen bei Qumran wurden Reste von etwa 200 Handschriften mit biblischen Texten gefunden. Die ältesten dieser Texte stammen aus dem Pentateuch und dem Samuelbuch, sie entstanden im 3. vorchristlichen Jahrhundert. Noch die jüngsten der dort gefundenen Bibeltexte, die im 1. Jh. n. Chr. geschrieben wurden, sind fast 1000 Jahre älter als die bisher bekannten hebräischen Handschriften. Mit der Ausnahme des Buches Ester sind alle biblischen Bücher belegt, dazu auch die Bücher Sirach, Baruch und Tobit und sogar griechische Septuaginta-Texte. Das durch diese Handschriften gewonnene Bild ist überraschend: So fand man eine Rolle des Jesajabuches (1QJesb), die bis auf orthographische Details dem heutigen, sogenannten masoretischen Text (s. u.) entspricht. In der gleichen Höhle fand sich eine weitere Rolle desselben Prophetenbuchs, die eine Fülle von Differenzen zum Text der anderen Rolle aufweist (1QJesa), von denen einige einen ursprünglicheren Text belegen, andere eindeutig sekundär sind. In anderen Fällen, etwa bei Handschriften des Samuelbuchs, wird häufig die Textform der griechischen Übersetzung unterstützt, eine Ausgabe des Buches Numeri zeigt Charakteristika, die auch der samaritanische Text hat. Schließlich gibt es eine hohe Zahl von Handschriften, die sich keiner der drei großen Überlieferungslinien zuordnen lassen.

84

1. Kapitel: Umfeld

Diese Textfunde erlauben damit einen Einblick in eine Überlieferungsphase des biblischen Textes, in der es einerseits noch eine hohe Variabilität der Textformen gab; der genaue Textbestand war nicht bis ins Detail festgelegt und konnte daher noch verändert werden. Dazu passt, dass in der Qumran-Gruppe offenbar auch Schriften in autoritativem Ansehen waren, die später nicht in den Kanon aufgenommen wurden, etwa das Jubiläen- oder das Henochbuch. Andererseits zeigen sich aber deutliche Ansätze dazu, eine bestimmte Textform zu standardisieren. Da diese sich dann tatsächlich durchgesetzt hat und später zum masoretischen Standardtext wurde, nennt man sie die protomasoretische Textform. Interessanterweise lässt sich an den Handschriften in Qumran auch beobachten, dass sie offenkundig nach der Abschrift noch überprüft und korrigiert wurden; bei der genannten großen Jesaja-Rolle 1QJesa hat dies erkennbar ein anderer Schreiber durchgeführt. In Qumran sind demnach die ersten Ansätze zur überaus exakten Textüberlieferung zu beobachten, die für das spätere rabbinische Judentum charakteristisch ist. Doch es ist auch deutlich, dass die großen Bibelhandschriften, auf die heutige Textausgaben sich stützen, nur eine Version der Hebräischen Bibel darstellen, diejenige nämlich, die ab dem 1. Jh. standardisiert wurde und deren Trägergruppe die beiden jüdischen Aufstände gegen die Römer im 1. und 2. Jh. überlebt hat. Sie sind aber nicht notwendig die besten Textzeugen, und aufgrund der komplexen Überlieferungswege ist oft nicht einmal sicher zu bestimmen, welches die mutmaßlich älteste Version ist, die als Grundlage für Übersetzung und Auslegung der Bibel dienen soll.

6.

Der Masoretische Text

Die heutigen Ausgaben der hebräischen Bibel basieren auf Texten, die aus dem Mittelalter stammen. Der älteste vollständige Bibelcodex ist eine in St. Petersburg aufbewahrte Handschrift aus dem Jahr 1008. Etwas ältere und z. T. noch sorgfältiger gearbeitete Handschriften wie der berühmte Aleppo-Codex sind leider unvollständig. Vergleicht man diese Texte etwa mit den Fragmenten der Rolle des Zwölfprophetenbuches aus dem Wadi Muraba‘at (1./2. Jh.), so stellt man fest, dass der Konsonantenbestand fast identisch ist; über ca. 1000 Jahre und viele Abschreibergenerationen hinweg wurde der Text minutiös bewahrt. Verantwortlich dafür ist ein Überlieferungssystem, das man »Masora« nennt, abgeleitet vom hebräischen Verbum masar – »weitergeben«. Die Träger dieser Tradition werden dementsprechend Masoreten genannt. Die Arbeit ihrer Vorläufer setzte offenbar schon sehr früh ein, als die Rabbinen sich nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. darum bemühten, die Überlieferungen des Judentums zusammenzuhalten und den neuen Erfordernissen anzupassen. In dieser Zeit entstanden neben den Auslegungen der Schrift in der Mischna erste Sammlungen von Beobachtungen an Textphänomenen, um den Bestand des Bibeltextes zu sichern. So werden im Talmud an einzelnen Stellen die Zahl der Verse der biblischen Bücher mitgeteilt oder Hinweise zur Verwendung von Vokalbuchstaben gegeben. Wahrscheinlich ab dem 7. Jh. werden dann die Konsonantentexte mit Vokalzeichen versehen, um die Aussprache zu sichern (s. o.).

§ 5 Bibel, Sprache, Schrift

85

Allerdings beschränkten sich die Masoreten nicht nur darauf, die Texte zu vokalisieren. Sie entwickelten auch Akzentsysteme, mit denen sowohl Betonungen als auch grammatikalisch-syntaktische Hinweise zum Verständnis des Textes gegeben wurden. Noch komplexer war ein Anmerkungsapparat, in dem alle irgendwie charakteristischen Textphänomene festgehalten wurden, von singulären Schreibweisen bis zu möglichen Schreibfehlern oder Korrekturvorschlägen. Auch wird am Ende jedes Buches die Zahl seiner Verse mitgeteilt; am Ende der Tora ist zu Dtn 34,12 vermerkt, dass es in der Tora 79.856 Wörter und 400.945 Konsonanten gibt. Solche Angaben dienten der Überprüfung und Korrektur der Handschriften. Auf die Arbeit der Masoreten ist auch eine Fehllesung zurückzuführen, die bis heute für Irritationen sorgt: Da der Gottesname Jhwh nach der Zerstörung des Tempels nicht mehr ausgesprochen werden durfte, er aber im Bibeltext fast 7000mal zu lesen war, vokalisierten ihn die Masoreten mit den Vokalzeichen für Adonaj – »Herr«. Dabei entstand die Kombination Jehowah (mit Lautwechsel in der ersten Silbe von a zu e), von der jüdische Leser wussten, dass sie als Adonaj auszusprechen ist. Christliche Leser hielten dieses Wort aber fälschlich für den Gottesnamen. Viele moderne Bibelübersetzungen kennzeichnen dieses masoretische Phänomen dadurch, dass sie im Alten Testament »Herr« in Kapitälchen setzen (HERR) und so sichtbar machen, dass hier im hebräischen Text der Gottesname steht. Im Mittelalter hat es verschiedene Schulen von Masoreten gegeben, sowohl in Babylon als auch in Palästina und dort besonders in Tiberias. Sie haben unterschiedliche Systeme der Vokalisation, Akzentuierung und der Anmerkungen entwickelt. Durchgesetzt hat sich schließlich die Tradition der Familie Ben Ascher aus Tiberias, aus deren Hand die besten Codices stammen, die im 10. und frühen 11. Jh. geschrieben wurden. Erst zu dieser Zeit war demnach die Hebräische Bibel, wie wir sie heute kennen, erstmals vollständig fertig.

Bibliographie Cancik-Kirschbaum, Eva/Kahl, Jochem. Erste Philologien. Archäologie einer Disziplin vom Tigris bis zum Nil, Tübingen 2018. Fischer, Alexander Achilles, Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 2009. Gzella, Holger (Hg.), Sprachen aus der Welt des Alten Testaments, Darmstadt 22011. Kelley, Page H./Mynatt, Daniel S./Crawford, Timothy G., Die Masora der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Einführung und kommentiertes Glossar, Stuttgart 2003. Köpf, Ulrich, Hieronymus als Bibelübersetzer: Meurer, Siegfried (Hg.), Eine Bibel – viele Übersetzungen: Not oder Notwendigkeit? (Die Bibel in der Welt 18), Stuttgart 1978, 71–89. Millard, Alan R., Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton. Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu, Giessen/Basel 2000. Naumann, Paul, Targum – Brücke zwischen den Testamenten, Konstanz 1991. Renz, Johannes/Röllig, Wolfgang, Handbuch der althebräischen Epigraphik, 3 Bde., Darmstadt 1995–2003. Rösel, Martin, Schreiber, Übersetzer, Theologen. Die Septuaginta als Dokument der Schrift-, Lese- und Übersetzungskultur des Judentums: Karrer, Martin/Kraus, Wolfgang (Hg.), Die Septuaginta – Texte, Kontexte, Lebenswelten (WUNT 219), Tübingen 2008, 83–102. Ders., Die graphe gewinnt Kontur. Der Stand der Septuaginta in der Theologiegeschichte des AT: ThLZ 135 (2010), 639–652.

86

1. Kapitel: Umfeld

Sáenz-Badillos, Angel, A History of the Hebrew Language, Cambridge 1996. Smelik, Klaas A. D., Historische Dokumente aus dem alten Israel, Göttingen 1987. Tilly, Michael, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2012. Tov, Emanuel, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart u. a. 1997.

2. Kapitel: Literatur

§ 6 Biblische Literaturgeschichte Konrad Schmid, Zürich

1.

Die Literatur der Hebräischen Bibel in historischer und biblischer Sicht

Die Hebräische Bibel umfasst eine Bibliothek von Büchern aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Ihre Bücher gehören unterschiedlichen Epochen an, dasselbe gilt von den Texten innerhalb dieser Bücher.1 Darüber hinaus ist in Betracht zu ziehen, dass ein gewisser Anteil der Hebräischen Bibel ursprünglich auf mündliche Überlieferungen zurückgeht. Die Hebräische Bibel – darin der altorientalischen Literatur grundsätzlich vergleichbar – ist »Traditionsliteratur«2: Sie besteht aus Texten und Schriften, deren Urheberschaft nicht auf eine bestimmte Autorgestalt in einer bestimmten Epoche zurückführbar ist. Die zentrale Figur hinter den Texten ist nicht der Autor, sondern der Tradent, der sich literarisch produktiv, aber zumeist anonym oder pseudonym in den Traditionsprozess einbringt. Ein individuelles »Ich« als autorielle Gestalt hinter einem Buch ist als Konzept erst bei Kohelet (um 200 v. Chr.) im Ansatz greifbar. Der erste namentlich bekannte Autor eines biblischen Buches ist Jesus Sirach, der um ca. 180 v. Chr. geschrieben hat und dessen Buch Bestandteil des weiteren Septuagintakanons ist. Die Hebräische Bibel ist nicht nur in historischer Hinsicht, sondern auch gemäß ihrer biblischen Selbstpräsentation eine Bibliothek von Büchern aus unterschiedlichen Zeiten, deren Bestandteile mitunter sogar angeben, unterschiedlich alt zu sein. Die Umrisse der literaturgeschichtlichen Selbstpräsentation sind allerdings von Kanonteil zu Kanonteil und von Buch zu Buch unterschiedlich deutlich ausgeprägt. Die große Darstellung Gen – 2Kön, die die Geschichte von der Schöpfung der Welt bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier beschreibt, ist weitgehend anonym abgefasst. Auf der Ebene der nachmaligen Einzelbücher trägt allein das Dtn eine Art Überschrift (Dtn 1,1), die allerdings in narrativer Absicht Mose als den

1 Die folgende Darstellung basiert auf Schmid, Literaturgeschichte (2011), vgl. ausführlich Ders., Literaturgeschichte (22014). 2 Vgl. Schmid, Traditionsliteratur.

88

2. Kapitel: Literatur

Sprecher des Nachfolgenden einführt und ihn nicht einfach als dessen Autor benennt. Aber in verschiedenen Partien der Hebräischen Bibel außerhalb des Pentateuchs kann die Tora insgesamt auf Mose zurückgeführt werden (vgl. den Sprachgebrauch »Tora des Mose« o. ä. in Jos 22,5; 1Kön 2,3; 2Kön 21,8; 23,25; 2Chr 23,18; 25,4; 33,8; Esr 3,2; 7,6; Neh 8,1.14; 10,30; Dan 9,11.13), die nach ihrem Selbstzeugnis allerdings nur einzelne Passagen als direkt durch Mose selbst niedergeschrieben ansieht (Ex 17,14; 24,4; 34,28; Num 33,2). Die Prophetenbücher verfügen in der Regel – ähnlich wie das Dtn – über Überschriften, die den Inhalt des betreffenden Buches, nicht aber unbedingt seinen (ganzen) Text, mit einer bestimmten historischen Figur zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Verbindung bringen. Namentlich bei Jesaja und Jeremia ist deutlich, dass die in der 3. Person gehaltenen, erzählenden Stücke über den jeweiligen Propheten (Jes 36–39; Jer 26–28; 36–44) nicht durch die Überschriften Jes 1,1 und Jer 1,1 gedeckt sind. Im Rahmen der Erzählung Jer 36, die von der Herstellung einer zweiten Rolle mit Worten von Jeremia berichtet, nachdem der König Jojakim eine erste Rolle verbrannt hatte, findet sich bemerkenswerterweise ein explizites Zeugnis dafür, dass sich das Jeremiabuch in biblischer Eigenperspektive als ein Resultat mehrstufiger Fortschreibungstätigkeit präsentiert. Und Jeremia nahm eine andere Rolle und gab sie Baruch, dem Sohn des Nerija, dem Schreiber, und nach dem Diktat Jeremias schrieb dieser darauf alle Worte der Schrift, die Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und viele ähnliche Worte wurden ihnen hinzugefügt. (Jer 36,32)

Die passivische Formulierung schließt zwar nicht aus, dass diese »ähnlichen Worte« von Jeremia stammen, öffnet aber doch deutlich den Horizont auch für die Möglichkeit nachjeremianischer Fortschreibungen. Im Jeremiabuch kann man also nachlesen, dass dieses nicht von Jeremia allein stammt, sondern später in beträchtlichem Ausmaß weiter fortgeschrieben worden ist. Im Bereich der Schriften werden Spr, Koh und Hld auf Salomo zurückgeführt (Spr 1,1; Hld 1,1 und – wenn auch in verdeckter Weise – Koh 1,1), nicht für den Gesamtpsalter, aber für zahlreiche Einzelpsalmen wird davidische Autorschaft insinuiert (vgl. Ps 3,1 u. ä.). Die weiteren Bücher innerhalb der Ketubim sind wiederum anonym. Nimmt man diese Befunde zusammen, so scheinen vor allem Propheten als namentlich genannte Autoren biblischer Texte und Bücher in Frage zu kommen. Das gilt zunächst für die Schriftpropheten und ihre Bücher, dann aber auch für die mitunter als Propheten gezeichneten Gestalten Mose sowie David und Salomo. Entsprechend wird dann Flavius Josephus die Hebräische Bibel auf prophetische Verfasser zurückführen (Contra Apionem I,8). Entscheidend ist aber, dass die Hebräische Bibel diesen »Propheten« unterschiedliche Wirkungsperioden zuweist und selbst ihre Schriften so als zeitgebunden ausweist. Gleichzeitig zeigt das Vorhandensein anonymer Bücher oder Passagen, dass die Tradenten der Hebräischen Bibel sich nicht zwangsläufig hinter prophetischen Gestalten der Gründerzeit verbergen müssen, sondern auch neutral in der Namenlosigkeit verbleiben können. Wie in nahezu allen Bereichen der alttestamentlichen Wissenschaft sind historische und biblische Sicht auch im Blick auf die Literaturgeschichte nicht deckungs-

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

89

gleich. In historischer Sicht sind die biblischen Zuschreibungen sogleich zu relativieren. Im antiken Literaturbetrieb benennen sie in erster Linie die Autorität, unter der eine Überlieferung steht, und nicht den Autor, der sie geschrieben hat. Namentlich die »Mosaizität« von bestimmten Stücken der Hebräischen Bibel – der Dekalog konnte noch bis in die Mitte des 20. Jh.s auf Mose zurückgeführt werden – im Sinne moderner Autorschaft kann nur schon aufgrund allgemeiner kulturgeschichtlicher Überlegungen zum Literaturbetrieb des antiken Israel ausgeschlossen werden. Erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Staatlichkeit ist überhaupt damit zu rechnen, dass ausgedehntere Literaturwerke entstehen können – im Bereich von Juda und Israel ist das nicht vor dem 9. oder 8. Jh. v. Chr. der Fall. Erst von dieser Zeit an weist der inschriftliche Befund aus Israel und Juda überhaupt auf eine hinreichend entwickelte Schriftkultur hin. Entsprechend sind auch die »davidischen«, »salomonischen« oder »jesajanischen« Überlieferungen der Hebräischen Bibel zunächst Elemente der Welt der Erzähler und nicht der erzählten Welt. Ob man dann bestimmte Kerntexte etwa der Prophetenbücher den jeweils namengebenden Figuren zuweisen will, ist abhängig von den Grundannahmen, die man an die Entstehungsbedingungen der Literatur der Hebräischen Bibel heranträgt. Wie immer hier entschieden wird: Zu betonen bleibt in methodologischer Hinsicht, dass solche historische Zuweisungen aufgrund biblischer Selbstaussagen gegenüber deren Bestreitungen nicht a priori als »vorsichtiger« gelten können. Es handelt sich vielmehr um weitreichende Theorien, die ebenso begründungspflichtig sind wie diejenigen, die sich durch kritische Distanznahmen zum biblischen Zeugnis auszeichnen. Die elementaren Rahmenbedingungen für eine Rekonstruktion der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel sind dabei klarer, als es die verzweigten Forschungsdiskussionen zunächst vermuten lassen. Erstens: Die biblische Literatur ist über einen längeren Zeitraum durch schriftgelehrte Arbeit an ihr entstanden. Der Umstand, dass die Texte der Bibel auf längere Fortschreibungsprozesse zurückgehen, wird von ihr bisweilen auch explizit thematisiert (vgl. Jer 36,32). Aus altorientalischen Überlieferungsbefunden (z. B. Gilgamesch)3 und solchen aus Qumran (z. B. Gemeinderegel)4, die unterschiedliche Entwicklungsphasen bestimmter Schriften empirisch bezeugen, sowie aus den Differenzen zwischen hebräischen und griechischen Fassungen mancher biblischer Bücher (besonders Samuel, Jeremia, Ezechiel), die ebenfalls in quasiempirischer Weise Textwachstum dokumentieren, ist erkennbar, dass dieser Modus der Literaturwerdung den damaligen Gepflogenheiten der Umwelt in wesentlichen Elementen entspricht.5 Zweitens: Entsprechend den kulturgeschichtlichen Wahrscheinlichkeiten hat man damit zu rechnen, dass verschiedene Partien der Hebräischen Bibel auf mündliche Vorstufen zurückgehen. Dieser Anteil ist geringer, als die klassische Forschung anzunehmen geneigt war (s. u.), aber größer, als einige neuere Beiträge suggerieren. Drittens: Die Schriftensammlung der

3 Vgl. Tigay, Models. 4 Vgl. Metso, Development. 5 Vgl. Carr, Formation.

90

2. Kapitel: Literatur

Hebräischen Bibel ist im Wesentlichen ein Zeugnis des nachexilischen Judentums, das seine maßgeblichen Grundentscheidungen bezüglich Monotheismus, Bund und Gesetz gegenüber abweichenden älteren Traditionen privilegiert und diese so in die Heterodoxie entlassen hat. Entscheidende Formierungsphasen scheinen also in die persische und hellenistische Zeit zu gehören, was die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit früherer Texte nicht aus-, sondern einschließt. Viertens: Literaturgeschichte und Theologiegeschichte der Hebräischen Bibel überschneiden sich zwar teilweise, sind aber nicht deckungsgleich. Fünftens: Dasselbe gilt für das Verhältnis von Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte. Auch sie berühren gemeinsame Felder, sind aber nicht identisch.

2.

Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda

Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda ist Teil und Erbe des altorientalischen Schul- und Schreiberwesens.6 Die Schreiberausbildung in der antiken Welt war stark vom Studium der Klassiker geprägt und daraufhin ausgerichtet, dass deren Inhalte von den künftigen Angehörigen der Schreiberklasse memorisiert wurden. Die Textbeherrschung der Schreiber war also im Wesentlichen über deren Gedächtnis vermittelt. Zitate und Anspielungen konnten sie in der Regel aus ihrer Erinnerung abrufen. Für die historische Exegese der Hebräischen Bibel sind diese Überlegungen von erheblicher Bedeutung: Besonders in denjenigen Textbereichen, die durch Vorgänge innerbiblischer Schriftauslegung geprägt sind, wird man zurückhaltender als bisher sein müssen, wörtliche Berührungen zwischen verschiedenen Texten sogleich als »literarische Bezüge« einzustufen, die allein auf schriftlicher Ebene zu interpretieren sind. Selbstverständlich lassen sich solche Bezüge erkennen und natürlich sind sie von Belang für die Interpretation einer biblischen Schrift. Doch hat man sich ihre Entstehung wohl in einer Vielzahl von Fällen anders vorzustellen als dergestalt, dass der Autor des betreffenden Texts verschiedene biblische Schriftrollen vor sich gehabt hätte, aus denen er dann zitiert hätte. Vielmehr dürften ihm die der historischen Rekonstruktion als biblische Intertexte erschließbaren Bezugstellen in seinem Gedächtnis erinnerlich gewesen sein, die er dann verarbeitete. Die Hebräische Bibel ist also dort, wo es durch schriftgelehrte Arbeit geprägt ist, weniger als ein textliches Mosaik unterschiedlicher Zitationen zu interpretieren, sondern vielmehr als ein Werk von Schriftgelehrten, das aus kombinatorischen Exegesen von Texten und Themen resultiert, die über die Erinnerung seiner Schreiber vermittelt sind. Im Blick auf die Vollzüge exegetischer Arbeit wird man sich also hüten müssen, sich aufgrund moderner Rekonstruktionsmittel zu Schlüssen verleiten zu lassen, die den kulturgeschichtlichen Gegebenheiten der antiken Welt nicht entsprechen. Die literatursoziologischen Rahmenbedingungen der Entstehung der biblischen Literatur werden seit längerer Zeit kontrovers diskutiert. Dabei ist der Umstand zu

6 Vgl. Carr, Schrift; Rollston, Writing; Schniedewind, Finger.

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

91

berücksichtigen, dass es im bronzezeitlichen Kanaan zweifellos Schrift, Schreiber und Schulen gegeben haben muss. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist die Amarnakorrespondenz, die der Jerusalemer Stadtkönig Abdi-Ḥepa mit dem Pharao Echnaton führte und deren Erzeugnisse in dessen Residenz Tel el-Amarna gefunden worden sind. Aber es sind auch weitere Schriftzeugnisse erhalten geblieben, die funktionierende Schreiberschulen in Kanaan voraussetzen. Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren ein 2005 entdecktes Abecedarium aus Tel Zayit auf sich gezogen, das aus dem 10. Jh. v. Chr. stammt, woraus manche Forscher weitreichende Folgerungen für das Vorhandensein eines frühen Staates bzw. einer damals schon sehr ausgeprägten Schriftkultur gezogen haben, was allerdings umstritten geblieben ist. Allerdings deutet der epigraphische Befund aus dem königszeitlichen Israel bezüglich Schrift und Orthographie aufgrund deren vergleichsweise hohen Standardisierungsgrads mit hinreichender Sicherheit darauf hin, dass es entsprechende Ausbildungsorte – »Schulen« – gegeben hat, in der die Schreiber diesbezüglich trainiert worden sind. Anders sind solche Standardisierungen nicht erklärbar. Wie man sich solche »Schulen« vorzustellen hat, ist allerdings unklar. In der Bibel werden sie nur in Sir 51,23 und Apg 19,9 erwähnt. Der Stand des Schreibers ist sowohl epigraphisch wie auch biblisch gut bezeugt (vgl. z. B. 2Sam 8,17; 1Kön 4,3; Jer 32; 36; 43; 45; Esr 7,6.12–26; Neh 13,12f.; Sir 38f.). Die Bezeichnungen »Schreiber des Königs« bzw. »königlicher Schreiber« (2Kön 12,11; 2Chr 24,11, vgl. Est 3,12; 8,9) weisen darauf hin, dass eine solche Ausbildung wohl zunächst am königlichen Palast angesiedelt war, an dem es laut Jer 36,12 auch eine »Schreiberkammer« gab. Auch militärische Belange sind von Schreibern dokumentiert worden, wie es das Amt eines »Schreibers des Heerführers« (2Kön 25,19; Jer 52,25) belegt. In der Perserzeit dürfte die Schreiberausbildung dann v. a. am Jerusalemer Tempel stattgefunden haben, der aber wohl bereits in der Königszeit auch Schreiber vor allem zur Pflege der religiösen Texte trainiert haben dürfte.

3.

Die Hebräische Bibel als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel und Juda

Im Falle der Hebräischen Bibel, die aufgrund ihres besonderen wirkungsgeschichtlichen Status als Heilige Schrift des Judentums, und gemeinsam mit dem Neuen Testament auch des Christentums, beinahe die gesamte uns bekannte Literatur des antiken Israel enthält, stellt sich die Frage, wie sich dieses Literaturkorpus zum Textgut verhält, das es sonst noch im antiken Israel gegeben haben mag. Die Frage, ob es Nichtvorhandenes nie gegeben hat oder ob es verloren gegangen ist, lässt sich naturgemäß nicht einfach beantworten. Im Bereich des antiken Israel sind aber doch immerhin einige Funde erhalten geblieben,7 von denen aufgrund des Umstands, dass sich die üblichen Schriftträger – Leder und Papyrus – nicht sehr lange halten, mit Recht vermutet werden kann, dass sie nicht die komplette Restmenge

7 Vgl. Renz/Röllig, Handbuch.

92

2. Kapitel: Literatur

der über die biblischen Schriften hinaus hergestellten Literatur des antiken Israel darstellen. So kennt und nennt die Hebräische Bibel selbst einige Quellen, die jedenfalls nicht in ihrer Gesamtheit fiktiv sind: So werden etwa das »Buch der Kriege Jhwhs« (Num 21,14), das »Buch des Aufrechten« (Jos 10,13; 2Sam 1,18), das »Buch des Liedes« (1Kön 8,53a [LXX]),8 das »Buch der Geschichte Salomos« (1Kön 11,41), das »Buch der Geschichte der Könige von Israel« (1Kön 14,19) oder das »Buch der Geschichte der Könige von Juda« (1Kön 14,29) genannt. Zusätzlich zu rechnen ist mit weiteren vorexilischen Überlieferungen, die v. a. nach der Katastrophe Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. ausselektioniert worden sind. Besonders zu nennen sind hier heilsprophetische Überlieferungen, von denen nicht auszuschließen ist, dass sie ebenfalls schriftlich vorgelegen haben, wenn man nicht der strikten These zuneigen will, dass Schriftprophetie und Gerichtsprophetie koinzidieren. Die neuassyrischen Befunde zeigen jedenfalls, dass auch reine Heilsprophetie schriftlich aufgezeichnet werden konnte, auch wenn sich daraus keine Vorgänge der langzeitigen schriftgelehrten Tradentenprophetie wie in Israel ergaben. Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel betrifft also einen zwar wichtigen, aber eben doch nur einen Ausschnitt der althebräischen Literaturgeschichte, die nur partiell erhalten geblieben ist. Die Ratio der Selektion ist nur wirkungsgeschichtlich erläuterbar: Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel behandelt diejenigen Texte, die sich als Gebrauchstexte in der Jerusalemer Tempelschule und nachher sowie deswegen als Heilige Schrift durchgesetzt haben. Der kanonisch-wirkungsgeschichtlich verengte Blick auf die Literatur des antiken Judentums weitet sich durch die anders gelagerte Überlieferungssituation von der hellenistischen Zeit an. Die vom 3. Jh. v. Chr. an entstandene weitere Literatur, die keine Aufnahme in den hebräischen Bibelkanon gefunden hat, ist durch die Tradierung vor allem im Bereich einiger Ostkirchen erhalten geblieben. Darunter finden sich sehr umfangreiche Literaturwerke wie die Henochüberlieferung, das Jubiläenbuch und weitere Schriften, die von der enormen Breite des literarischen Wirkens und der theologischen Positionen im antiken Judentum zeugen.

4.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Bis gegen Ende des 20. Jh.s herrschte in der Bibelwissenschaft die Auffassung vor, die Hebräische Bibel enthalte jedenfalls zu beträchtlichen Teilen vormals mündliches Textgut, das nun in schriftlich kodifizierter Form vorliege. Diese Gesamtperspektive brachte auch eine eigenständige Methode hervor: die formgeschichtliche Fragestellung, die im Bereich der Hebräischen Bibel v. a. mit dem Namen Hermann

8 Das »Buch des Aufrechten« und das »Buch des Liedes« sind wahrscheinlich identisch: Der determinierte, aus sich kaum verständliche Titel »des Liedes« ist vermutlich aufgrund einer Verschreibung von yšr – »aufrecht« zu šyr – »Lied« in der hebräischen Vorlage des griechischen Textes von 1Kön 8,53 zustande gekommen.

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

93

Gunkels verbunden ist.9 Sie geht davon aus, dass Texte bestimmten Gattungen folgen, die durch deren jeweiligen »Sitz im Leben« vorgegeben werden. Durch die formgeschichtliche Fragestellung – so war die Meinung – öffnet sich ein Fenster in die ursprüngliche Geistigkeit des Volkes Israel, die in dessen mündlicher Überlieferung ihren unmittelbarsten Ausdruck fand. Namentlich in der Propheten- und Psalmenforschung sind in den letzten Jahrzehnten die Gewichte erheblich zurechtgerückt worden – mitunter sogar in zu starkem Maß. Das ins Feld geführte Argument, literarische Texte erkläre man am besten mit literarischen Mitteln, ist zwar auf den ersten Blick überzeugend, wird aber spätestens auf den zweiten Blick den historischen Wahrscheinlichkeiten nicht vollständig gerecht. Die Traditionskultur des antiken Israel und Juda war mündlich geprägt, entsprechend kann man davon ausgehen, dass die Texte der Hebräischen Bibel in einer Welt produziert und rezipiert worden sind, die im Wesentlichen durch mündliche Kommunikationsvorgänge geprägt war. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass in der Tat manches spätere biblische Textgut in der einen oder anderen Form in mündlicher Überlieferung wurzelt, wobei bei dessen Analyse die Grenze zwischen formgeschichtlicher, überlieferungsgeschichtlicher und traditionsgeschichtlicher Fragestellung nicht immer klar zu ziehen ist. Beruhen die Texte auf entsprechenden Stoffen oder bilden sie bereits entsprechend mündlich geformte Einheiten ab? Es liegt auf der Hand, dass kürzere und durch sprachliche Mittel – etwa poetische Prägung – fixierte literarische Einheiten diesbezüglich als stabiler angesehen werden müssen als umfangreicheres und offener überliefertes Textgut. Jedenfalls wäre es ein Trugschluss sondergleichen zu meinen, die Exodusüberlieferung sei im Zuge ihrer erstmaligen literarischen Fixierung entstanden oder Ps 93 sei so alt wie seine erste Niederschrift. Dass der konkreten Rekonstruktion mündlicher Vorstufen enge Grenzen gesetzt sind, versteht sich dabei allerdings von selbst.

5.

Epochen der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel

Wie ist die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel zu gliedern? Epochengliederungen beruhen zwangsläufig auf von außen an die Literatur des antiken Israel herangetragenen Kategorien. Dass es Epochen der biblischen Literatur gegeben hat, die einen vergleichbaren geistigen Orientierungsrahmen zeigen, sollte nicht in Frage gestellt werden. Dies lässt sich vor allem daran beobachten, dass mit dem Erlangen eines gewissen Grades von Staatlichkeit der politischen Gebilde Israel und Juda im 9. und 8. Jh. v. Chr. diese jungen Staaten sogleich in den Einflussbereich der Hegemonialmächte in Mesopotamien, aber auch in Ägypten gerieten, der sie kultur- und literaturgeschichtlich maßgeblich bestimmte. So ist es wohl kein Zufall, dass zwei der wichtigsten theologischen Literaturwerke im Pentateuch – das Deuteronomium und die

9 Gunkel, Grundprobleme; Ders., Literatur; vgl. dazu Liwak, Hermann Gunkel, IX–XXXI; Witte, Anmerkungen.

94

2. Kapitel: Literatur

Priesterschrift – in unverkennbarer Weise in Reaktion auf entsprechende zeitgenössische imperiale Konzeptionen gestaltet worden sind: das Deuteronomium als subversive Rezeption neuassyrischer Vertragstheologie,10 die Priesterschrift in modifizierender Aufnahme persischer Reichsideologie.11 Die Einteilung der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel nach den jeweiligen imperialen Großmächten und ihren ideologischen und kulturgeschichtlichen Einflüssen ist in historischer Hinsicht naheliegend, ihr kommt aber nur ein relatives Recht zu. Die Literaturgeschichte des antiken Israel bietet darüber hinaus auch Anhaltspunkte zu einer endogenen Gliederung, die ebenfalls zu beachten sind. Man braucht nur an die von Gunkel vorgeschlagene Periodisierung zu denken, die trotz ihres hohen forschungsgeschichtlichen Alters – jedenfalls was die historische Ansetzung der literaturgeschichtlichen Hauptzäsuren betrifft – nach wie vor überraschend aktuell ist: Gunkel unterschied im Wesentlichen drei Epochen in der Literatur des antiken Israel: zunächst diejenige der Volksüberlieferungen (bis ca. 750 v. Chr.), dann diejenige der großen Einzelschriftsteller (zwischen ca. 750 und 540 v. Chr.) und dann diejenige der Epigonen. Heute setzt man nicht mehr die großen Autoren von ihren Epigonen ab, zumal das zu Gunkels Zeiten den großen Autoren zugeschriebene Textgut durch die literaturgeschichtliche Analyse der Hebräischen Bibel erheblich geringer geworden ist. Bedenkenswert bleibt jedoch die Ansetzung der Gliederungseinschnitte: Sie betreffen zunächst das ausgehende 8. Jh. v. Chr., dem mit dem Untergang des Nordreichs erhebliche überlieferungsbildende Funktion zukommt, was zum einen die prophetische Tradition betrifft, in der nun die Unheilsprophetie als schriftliche Größe wenngleich wohl nicht erst entsteht,12 so doch zumindest stark akzentuiert wird, zum anderen aber auch für die drei großen Überlieferungskerne der erzählenden Bücher der Hebräischen Bibel im Bereich Gen – 2Kön gilt, die in den Väter-, Exodus- und Davidserzählungen zu finden sind. In all diesen Bereichen ist zwar noch älteres Textgut – wahrscheinlich auch mit mündlichen Vorstufen – verarbeitet worden. Die theologisch interpretierende Fixierung der Gründungslegenden für ganz Israel ist am ehesten jedoch nach dem Untergang des Nordreichs denkbar.13 Für die Ursprungslegenden der Väter- und Exoduserzählung liegt dies – neben allgemeinen kulturgeschichtlichen Überlegungen zum Aufkommen der Schriftkultur im antiken Israel – aufgrund ihrer nichtköniglichen Ausrichtung ohnehin auf der Hand. Für die Davidserzählungen lässt es sich aufgrund der eigentümlichen Betonung Davids als König von ganz Israel vermuten. Ganz anders freilich als Gunkel wird man die Epoche der »Epigonen« einstufen müssen. Die alttestamentliche Wissenschaft des letzten Jahrhunderts hat zur Genüge deutlich gemacht, dass die genialischen Konzeptionen in den biblischen Büchern, die zu Gunkels Zeiten noch den großen Einzelschriftstellern der Königszeit zugewiesen wurden, zu erheblichen Anteilen den schriftgelehrten Tradenten der persischen

10 11 12 13

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Finsterbusch, Deuteronomium. de Pury, Beginning. Kratz, Redaktion. Kratz, Israel.

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

95

und hellenistischen Zeit zugeschrieben werden müssen, die in vielen Fällen diese Einzelschriftsteller als implizite Autoren ihrer Bücher allererst konstruiert haben. Damit verbindet sich auch die Notwendigkeit einer Revision der im 19. Jahrhundert geläufigen und auch im 20. Jahrhundert noch nicht ganz aus der Übung geratenen Abwertung des nachexilischen »Judaismus« gegenüber dem vorexilischen »Hebraismus«14, die sich weder historisch noch theologisch begründen lässt.15

6.

Die Datierbarkeit biblischer Texte

Literaturgeschichtliche Rekonstruktionen am Alten Testament gehen davon aus, dass dessen Texte – oder zumindest ein wichtiger Teil davon – datierbar sind. Da es keine Textzeugen der Hebräischen Bibel aus biblischer Zeit gibt (die Qumrantexte reichen für die jüngsten Bücher der Hebräischen Bibel, etwa das Danielbuch, bis auf wenige Jahrzehnte an den Zeitpunkt von deren literarischer Fertigstellung heran), ist man allein auf interne Beobachtungen angewiesen. Die Frage nach der Datierung biblischer Texte bleibt notorisch schwierig, ist oft nur in relativen Verhältnisbestimmungen vorzunehmen und lässt sich nur selten in klare absolute historische Einordnungen überführen, da die Texte selber über ihre Entstehungszeit entweder schweigen oder nur kritisch zu evaluierende Angaben darüber machen. Es lässt sich aber feststellen, dass sich die Sachlagen in den drei Teilen des hebräischen Bibelkanons unterschiedlich verhalten. Die historische Verortung biblischer Texte dürfte im Bereich der Prophetenbücher vergleichsweise am klarsten vorzunehmen zu sein. Das hängt damit zusammen, dass die Prophetenbücher am ehesten so etwas wie literaturgeschichtliche »Leitfossilien«16 zu erkennen geben, die sich aufgrund bestimmter politisch-theologischer Prägungen als solche sortieren lassen. So bieten etwa die Erwartung eines umfassenden kosmischen Weltgerichts, die Unterscheidung von Frevlern und Frommen, die Bevorzugung der Abkömmlinge der ersten Gola (der Deportation Jojachins und seiner Gefolgschaft 597 v. Chr.) gegenüber den damals im Land Verbliebenen oder die »deuteronomistische« Interpretation der Schuldgeschichte Israels recht klare Zuordnungsmerkmale prophetischer Texte zu bestimmten politischen oder sozialgeschichtlichen Problemlagen aus der Geschichte Israels und Judas: Die Vorstellung eines kosmischen Weltgerichts setzt den Zusammenbruch des weltumspannenden Perserreichs voraus, die Unterscheidung von Frevlern und Frommen die Aufkündigung der noch bis in die späte Perserzeit supponierten Einheit des Gottesvolks, die Favorisierung der Jojachin-Gola widerspiegelt Konflikte der frühpersischen Zeit zwischen Heimkehrern und im Land Verbliebenen und die »deuteronomistische« Geschichtstheologie gehört in die Zeit nach dem Untergang Judas und Jerusalems.

14 Vgl. etwa de Wette, Lehrbuch, 52f (§ 76); 93–95 (§ 119); 114 (§ 142). 15 Vgl. dazu die Diskussion bei Perlitt, Hebraismus. 16 Der Ausdruck stammt von Steck, Prophetenbücher, 84.

96

2. Kapitel: Literatur

Anders verhält es sich im Bereich des Pentateuchs und der Geschichtsbücher. Sie sind zwar reich an geschichtlichen Aussagen. Aber diese gehören nicht in die Welt des Erzählten, sondern des Erzählers und bedienen deswegen in der Regel nicht das Interesse des historischen Zugriffs. Das gilt zwar auch für die prophetische Literatur, doch ist deren erzählte Welt nicht zusätzlich in die mythische Ursprungszeit Israels zurückversetzt. Eben aufgrund des Umstands, dass die erzählte Welt von Pentateuch und Geschichtsbüchern eine derart starke Eigenprägung mit sich bringt, versagen die an der prophetischen Literatur gewonnenen Instrumente zur historischen Einordnung der Texte mitunter. Die literaturgeschichtlichen »Leitfossilien« lassen sich aber hinter ihren mythischen Einkleidungen, die kritisch analysiert werden müssen, durchaus noch erkennen. Einen zentralen Datierungsanhaltspunkt im Pentateuch bietet zudem nach wie vor der aufgrund neuassyrischer Aufnahmen in die spätvorexilische Zeit datierbare Kern des Deuteronomiums.17 Noch einmal andere Probleme stellen sich bei der historischen Interpretation der poetischen Bücher der Hebräischen Bibel, namentlich der Psalmen. Entsprechend ihren Gattung sind sie oft bewusst in überzeitlichen Formulierungen gestaltet worden, so dass hier absolute Datierungen in aller Regel überhaupt nur tentativ im Gefolge relativer Verhältnisbestimmungen zu anderen Teilen der biblischen Literatur möglich sind. In den Psalmen und in der Weisheitsliteratur finden sich allerdings hier und dort Hinweise auf einen sozialgeschichtlichen Hintergrund, der eine noch königszeitliche Entstehung bestimmter Textteile wahrscheinlich macht.18 Bei allen Schwierigkeiten ist aber festzuhalten, dass das methodische Instrumentarium der alttestamentlichen Wissenschaft zur literaturgeschichtlichen Einordnung biblischer Texte stark ausdifferenziert ist – es gehört zu den großen Errungenschaften im Bereich von Textexegesen überhaupt. Allerdings ist immer wieder zu beobachten, wie bestimmte Teilschritte der Methodik gegenüber anderen unsachgemäß privilegiert werden, was zu Verzerrungen in der literaturgeschichtlichen Urteilsbildung führt. Die grundsätzlich unbestrittene Interdependenz der verschiedenen Methodenschritte stellt eine Maxime dar, die in der Exegese wieder neu einzufordern ist, wobei namentlich zwei Aspekte hervorzuheben sind: Zum einen ist es unabdingbar, dass entstehungsgeschichtliche Rekonstruktionen inhaltlich und sachlich begründet werden, und zum anderen müssen die Plausibilitäten der verschiedenen Schritte explizit und selbstkritisch gewichtet werden. Andernfalls droht der alttestamentlichen Exegese sowohl die Marginalisierung im Bereich der Theologie als auch in demjenigen der antiken Philologien. In neuerer Zeit wird für die Literatur der Hebräischen Bibel vermehrt die Frage linguistischer Datierungsmöglichkeiten diskutiert,19 doch ist die methodische Diskussion dazu noch nicht ausgereift. Zwar ist die in der Sache seit Wilhelm Gesenius erkannte Unterscheidung zwischen dem »Classical Biblical Hebrew« in Genesis bis

17 Vgl. Finsterbusch, Deuteronomium. 18 Vgl. Day, Proceedings. 19 Vgl. Miller-Naudé/Zevit, Diachrony; Rezetko/Young, Linguistics; Hendel/Joosten, Hebrew Bible.

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

97

2Könige sowie in den großen Prophetenbüchern und dem »Late Biblical Hebrew« im Rahmen von chronistischem Geschichtswerk, Ester und Daniel sprachgeschichtlich wichtig, doch liefert sie keine absoluten Datierungshinweise, da die Verwendung von »Classical Biblical Hebrew« in bestimmten Texten nicht nur von einer bestimmten Entstehungszeit abhängt, sondern auch von den gewählten Genres und theologischen Positionen.

7.

Die Hebräische Bibel als sich selbst auslegende Traditionsliteratur

Die alttestamentliche Wissenschaft hat sich mehr und mehr der Einsicht geöffnet, dass die Hebräische Bibel nicht nur Text, sondern Text und Kommentar in einem ist, dass sie über weite Strecken hinweg durch Vorgänge innerbiblischer Schriftauslegung geprägt ist.20 Diese Einsicht hat die Einschätzung der Hebräischen Bibel insgesamt verändert: Sie gilt nicht mehr im Wesentlichen als kodifiziertes mündliches Gut, sondern als schriftgelehrte Traditionsliteratur, die in ihren Überlieferungskernen wohl auf eine mündliche Vorgeschichte zurückgehen mag, in der Substanz aber nunmehr als dichte, reflektierte Literatur anzusprechen ist. Diese Bestimmungen sind grundsätzlich auf alle drei Kanonsteile des hebräischen Alten Testaments anwendbar, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung im Blick auf deren einzelne Bücher. Die zahlreichen Befunde von innerbiblischer Schriftauslegung verschärfen noch einmal die Notwendigkeit eines literaturgeschichtlichen Zugangs zum Alten Testament: Dessen Bücher und Texte verlangen nicht nur aufgrund des Umstandes, dass sie vergangenen Zeiten und entfernten Orten entstammen, eine historisch orientierte Auslegung, sondern sie sind eben in ansehnlichen Passagen gar nicht verständlich, wenn deren Auslegungsverhältnisse und Bezugnahmen zu anderen, vorgegebenen Texten nicht erkannt werden. Umgekehrt führen die jeweiligen Vorgänge innerbiblischer Schriftauslegung auf literaturgeschichtlich relevante Beobachtungen, da diese Auslegungsprozesse in der Regel schriften- und zeitübergreifend ausgerichtet sind. Durch solche Bezugnahmen lässt sich erkennen, welche Texte auf welche reagieren, wie sie ihre Positionen zueinander in Beziehung setzen oder voneinander abgrenzen. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich etwa in der kritischen Aufnahme von Jes 65–66 in Koh 1: Gegenüber den prophetischen Verheißungen eines neuen Himmels und einer neuen Erde hält Koh 1 fest, dass nichts Neues unter der Sonne zu erwarten sei, sondern dass die Menschen nach wie vor an die Lebensbedingungen der vorfindlichen Welt gewiesen seien,21 womit elementare Positionen der biblischen Urgeschichte (Gen 1–11) gegenüber Jes 65–66 bekräftigt werden.22

20 Vgl. im Überblick Schmid, Schriftauslegung, sowie den Literaturbericht von Levinson, Revision, 95–181. 21 Vgl. Krüger, Dekonstruktion. 22 Vgl. wiederum Krüger, Rezeption.

98

8.

2. Kapitel: Literatur

Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte

Besondere Beachtung verdient schließlich das Verhältnis von Literatur- und Kanonsgeschichte. Es liegen hinreichende historische Anhaltspunkte vor, damit zu rechnen, dass die biblische Literatur nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt per Dekret in einen kanonischen Status erhoben worden ist, sondern dass das Resultat der Kanonizität der Hebräischen Bibel auf einem langen Prozess beruht, der sich weitgehend ohne institutionell abgestützte Entscheidungen abgespielt hat. Literatur- und Kanonsgeschichte folgen einander also nicht nach, sondern überlappen sich: Die Kanonsgeschichte reicht weit in die Literaturgeschichte hinein, da den Texten der Hebräischen Bibel erst nach und nach zunehmende Autorität zugeschrieben worden ist,23 gleichzeitig erstreckt sie sich über die Literaturgeschichte hinaus: Kanon ist ein erst nachbiblisches Konzept. Im Blick auf die neueren Forschungen zum hebräischen Bibelkanon sind vor allem zwei Erkenntnisse hervorzuheben, die als Rahmendaten für die weitere Diskussion zu respektieren sind. Zum einen ist v. a. mit der vollständigen Publikation der biblischen Texte aus Qumran24 deutlich geworden, dass der kanonische Abschluss der Hebräischen Bibel in der Zeit zwischen 100 v. und 68 n. Chr. nicht dergestalt zu deuten ist, dass von da an ein einheitlicher Textbestand vorgelegen hätte.25 Mit Erhard Blum gesprochen – bei ihm auf den Pentateuch bezogen – gibt es keine Endgestalt biblischer Texte, sondern nur verschiedene Textzeugen.26 Die Vorstellung eines kanonischen Textes im Sinne seiner buchstabengetreuen Fixierung ist erst nachalttestamentlich – sie hängt mit dem Aufkommen der Inspirationslehre zusammen und lässt sich erst gegen Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts belegen (bes. deutlich in 4Esr 14 und bei Flavius Josephus, Contra Apionem I,8). Damit zusammenhängend darf heute auch als gesichert gelten, dass die übliche Standardtheorie zum hebräischen Bibelkanon, die von einer grundsätzlichen Konkordanz der Dreiteilung der hebräischen Bibel in Tora, Propheten und Schriften mit der Kanonsgeschichte ausgeht, nicht mehr vertreten werden kann. Die drei Abteilungen des Kanons spiegeln nicht die drei Hauptphasen seiner Entstehung.27 Vielmehr sind zum einen Tora und Propheten als Kanonsteile in enger Interaktion zueinander entstanden, und zum anderen scheint die normative Schrift des Judentums um die Zeitenwende eine im Wesentlichen zweiteilige, und nicht dreiteilige Struktur gehabt zu haben, wie die zahlreichen Referenzen auf »die Tora (bzw. Mose) und die Propheten« in der zeitgenössischen Literatur zeigen. Eine feste Dreiteilung ist erst gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. bezeugt. Die Formierung eines eigenen Kanonteils »Schriften« scheint mit der Akzentuierung der besonders aus pharisäischer Perspektive wichtigen Alltagsrelevanz von Tora und Propheten zu-

23 24 25 26 27

Ulrich, Reflections. Vgl. Ulrich, Scrolls. Vgl. Tov, Text. Blum, Endgestalt. Vgl. z. B. Collins, Scriptures.

§ 6 Biblische Literaturgeschichte

99

sammenzuhängen: Die »Schriften« erklären, wie man gesetzes- und schriftgemäß leben kann. Der Weg zur Normativität der Schrift und schließlich zum Kanon ist durch zahlreiche Faktoren bestimmt. Zu ihnen zählen die Theologisierung des Rechts28 nach dem Untergang des Nordreichs und in deren Gefolge die bundestheologische Konzipierung des Deuteronomiums als einer unbedingt bindenden Urkunde eines Vertrags zwischen Gott und seinem Volk, Vorgänge der Übertragung kultischer Funktionen auf Texte im Nachgang zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels, gewisse Rahmenbedingungen der persischen Religionspolitik,29 die schriftgelehrte Ausrichtung der Nicht-Tora-Texte an der Tora, der Entschluss zur paradigmatischen Abbildung verschiedener Literaturgattungen und andere mehr. Letztlich ist aber die Kanonsgeschichte nicht vollständig verstehbar, ohne dass man nach der theologischen Qualität der im Kanon versammelten Schriften fragt, die nicht zuletzt auch über deren Eigenschaft als mehrfach bereits im Verlauf ihrer biblischen Entstehung ausgelegte Texte beschreibbar ist.

Bibliographie Albertz, Rainer, Die Theologisierung des Rechts im Alten Israel: Ders., Geschichte und Theologie. Studien zur Exegese der Hebräischen Bibel und zur Religionsgeschichte Israels (BZAW 326), Berlin/New York 2003, 187–207. Blum, Erhard, Gibt es die Endgestalt des Pentateuch?: Emerton, John (Hg.), Congress Volume Leuven 1989 (VT.S 43), Leiden u. a. 1991, 46–57. Carr, David, The Formation of the Hebrew Bible. A New Reconstruction, New York 2011. Ders., Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015. Collins, John, Before the Canon. Scriptures in Second Temple Judaism: Mays, James u. a. (Hg.), Old Testament Interpretation: Past, Present and Future, Nashville 1995, 225–241. Day, John (Hg.), In Search of Pre-Exilic Israel. Proceedings of the Oxford Old Testament Seminar (JSOT.S 406), London/New York 2004. de Pury, Albert, Pg as the Absolute Beginning: Römer, Thomas/Schmid, Konrad (Hg.), Les dernières rédactions du Pentateuque, de l’Hexateuque et de l’Ennéateuque (BETL 203), Leuven 2007, 99–128 = repr.: Macchi, Jean-Daniel u. a. (Hg.), Die Patriarchen und die Priesterschrift (Les Patriarches et le document sacerdotal) (AThANT 99), Zürich 2010. de Wette, Wilhelm Martin Leberecht, Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwickelung dargestellt. Erster Theil. Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments. Oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums, Berlin 31831. Finsterbusch, Karin, Das Deuteronomium. Eine Einführung, Göttingen 2012. Gunkel, Hermann, Die israelitische Literatur: Hinneberg, Paul (Hg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Berlin 1906, 51–102 (Separatnachdrucke: Leipzig 1925 = Darmstadt 1963). Gunkel, Hermann, Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte: OLZ 27 (1906), 1797–1800.1861–1866.

28 Vgl. Albertz, Theologisierung. 29 Schmid, Reichsautorisation.

100

2. Kapitel: Literatur

Hendel, Ronald S./Joosten, Jan: How Old Is the Hebrew Bible? A Linguistic, Textual, and Historical Study, New Haven 2018. Kratz, Reinhard Gregor, Die Redaktion der Prophetenbücher: Ders./Krüger, Thomas (Hg.), Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld (OBO 153), Fribourg/ Göttingen 1997, 9–27. Ders., Historisches und biblisches Israel. Drei Fallstudien zum Alten Testament, Tübingen 2013. Krüger, Thomas, Dekonstruktion und Rekonstruktion prophetischer Eschatologie im QoheletBuch: Diesel, Anja u. a. (Hg.), »Jedes Ding hat seine Zeit ...«. Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit. FS Diethelm Michel (BZAW 241), Berlin/New York 1996, 107–129 = Ders., Kritische Weisheit, Zürich 1997, 151–172. Ders., Die Rezeption der Tora im Buch Kohelet: Schwienhorst-Schönberger, Ludger (Hg.), Das Buch Kohelet. Studien zur Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie (BZAW 254), Berlin/New York 1997, 173–193. Levinson, Bernard, Legal Revision and Religious Renewal in Ancient Israel, Cambridge 2008. Liwak, Rüdiger (Hg.), Hermann Gunkel zur israelitischen Literatur und Literaturgeschichte (Theologische Studien-Texte 6), Waltrop 2004. Metso, Sarianna, The Textual Development of the Qumran Community Rule (STDJ 21), Leiden u. a. 1997. Miller-Naudé, Claudia/Zevit, Ziony (Hg.), Diachrony in Biblical Hebrew (Linguistic Studies in Ancient West Semitic 8), Winona Lake Ind. 2012. Perlitt, Lothar, Hebraismus – Deuteronomismus – Judaismus: Braulik, Georg u. a. (Hg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. FS Norbert Lohfink, Freiburg u. a. 1993, 279–295. Renz, Johannes/Röllig, Wolfgang, Handbuch der althebräischen Epigraphik. Bde. 1–3, Darmstadt 1995–2003. Rezetko, Robert/Young, Ian, Historical Linguistics and Biblical Hebrew: Steps Toward an Integrated Approach (SBL.ANEM 9), Atlanta 2014. Rollston, Christopher, Writing and Literacy in the World of Ancient Israel. Epigraphic Evidence from the Iron Age, Atlanta 2010. Schmid, Konrad, Innerbiblische Schriftauslegung. Aspekte der Forschungsgeschichte: Kratz, Reinhard Gregor u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift. FS Odil Hannes Steck (BZAW 300), Berlin/New York 2000, 1–22. Ders., Persische Reichsautorisation und Tora: ThR 71 (2006), 494–506. Ders., Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament (FAT 77), Tübingen 2011. Ders., Literaturgeschichte des Alten Testaments. Aufgaben, Stand, Problemfelder und Perspektiven: ThLZ 136 (2011), 243–262. Ders., Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 22014. Schniedewind, William B: The Finger of the Scribe. How Scribes Learned to Write the Bible, New York 2019. Steck, Odil Hannes, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996. Tigay, Jeffrey (Hg.), Empirical Models for Biblical Criticism, Philadelphia 1985. Tov, Emanuel, Der Text der hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart 1997. Ulrich, Eugene, From Literature to Scripture. Reflections on the Growth of a Text’s Authoritativeness: DSD 10 (2003), 3–25. Ders., (Hg.), The Biblical Qumran Scrolls. Transcriptions and Textual Variants (VT.S 134), Leiden u. a. 2010. Witte, Markus, Von der Analyse zur Synthese – Historisch-kritische Anmerkungen zu Hermann Gunkels Konzept einer israelitischen Literaturgeschichte: Eisen, Ute/Gerstenberger, Erhard (Hg.), Hermann Gunkel revisited. Literatur- und religionsgeschichtliche Studien (Exegese in unserer Zeit 20), Münster 2011, 1–31.

§ 7 Kanonbildung

101

§ 7 Kanonbildung Sebastian Grätz, Mainz

1.

Einführung

Der Begriff »Kanon« für die endgültig festgelegte Sammlung von biblischen Schriften als norma normans der kirchlichen Lehre ist seit dem 4. Jh. n. Chr. verwendet worden. So wird der Ausdruck des »Kanonisierten« bei Athanasius im Jahr 367 im Zusammenhang der Abgrenzung »kanonischer Bücher« gegenüber »apokryphen« Schriften verwendet.30 Hierbei ist das Verständnis des Kanonbegriffs als zentraler kirchlicher Normbegriff leitend gewesen. Unter dem absoluten Sprachgebrauch »der Kanon« (griechisch: ho kanōn) wurde das »(…) normativ Unterscheidende hinsichtlich Bekenntnis, Lebensführung u. kirchlicher Ordnung auf den Begriff gebracht.«31 Insofern zeigt die frühkirchliche Verwendung des Begriffs seine zugleich abgrenzende und identitätssichernde Qualität auf. Es wird zudem deutlich, dass dieser Begriff zwar geeignet scheint, ähnliche vorgängige Phänomene wie z. B. die Redaktion der alttestamentlichen Schriften unter bestimmten leitenden Gesichtspunkten zu beschreiben, das Wort selbst in diesem Zusammenhang aber gar nicht verwendet wird. Dabei ist das griechische Wort »Kanon« ein semitisches Lehnwort: Es handelt sich bei qānæh, so die althebräische Form, um ein semitisches Primärnomen, das auch im Akkadischen, Ugaritischen, Aramäischen usw. mit der Bedeutung »Schilfrohr«, »Röhre«, »Halm«, aber auch »Messrute« und »Waagbalken« belegt ist. So ist zwar die Idee der Normierung bereits im semitischen Sprachgebrauch enthalten, aber nicht in derjenigen Weise, wie es der Gebrauch des griechischen Äquivalents nahelegt. Selbst der Blick in die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, lässt keine weitergehenden Schlüsse zu, weil der Begriff kanōn erstens an keiner Stelle das hebräische qānæh übersetzt und zweitens der griechische Begriff selbst auch nur an drei Stellen begegnet: Mi 7,4; Jud 13,6; 4Makk 7,21. Nur der letztgenannte Beleg, der vom »unverkürzten Maß der Philosophie« spricht, bezeugt die Rezeption des zeitgenössischen griechischen Sprachgebrauchs, der den Begriff des Kanons vor allem im Bereich der Exaktheit in Kunst und Musik sowie Ethik und Erkenntnistheorie verwendete, und zwar in einer Aufnahme und Weiterentwicklung der semitischen Wurzel, nämlich technisch als Maßstab für gerade und ungerade bzw. erkenntnistheoretisch/ethisch für richtig und falsch.32 Insofern sind Kanonbildungen insgesamt als dynamische Entscheidungsprozesse zu beschreiben, die sich selbstverständlich nicht nur in der frühkirchlichen Auswahl bestimmter normativer Schriften finden, sondern auch in vielen anderen Schriftkulturen,33 ohne dass hier der Begriff selbst 30 31 32 33

Vgl. Ohme, Kanon I, 18. Ohme, Kanon I, 8. Vgl. Ohme, Kanon I, 2f. Vgl. Steins, Konzepte, 14–17, der unter »Kanon« einen »Literatur-Pool als Zentrum kultureller Identität« versteht.

102

2. Kapitel: Literatur

begegnet – sich aber in den Nomenklaturen benachbarter Fachdisziplinen einiger Beliebtheit erfreut, wie die folgenden Beispiele zeigen können.

2.

Das Alte Ägypten

Jan Assmann hat die Frage, ob sich im Alten Ägypten das Phänomen der Kanonisierung feststellen lasse, negativ beantwortet. In Abgrenzung zum Begriff der Kodifizierung, der er die Prozesse der Sammlung, Sichtung, Verschriftlichung, Aufbewahrung und Kopie von Texten zuweist, versteht er die Kanonisierung als den »selektiven und sakralisierenden Eingriff in die Tradition.«34 Zur Kanonisierung gehöre, so Assmann weiter, die Auslegung der entsprechenden Texte, die ansonsten, wie etwa im Alten Ägypten, unterbleibe. Es ist jedoch die Frage, ob die durch selegierende Prozesse erstrebte Normierung von Texten, die nach dem oben Gesagten durchaus als Kanonisierung bezeichnet werden kann, auch bereits deren Sakralisierung impliziert oder zwangsläufig nach sich zieht oder ob nicht zwischen kanonischen und heiligen Texten zu differenzieren wäre.35 So zielt der Begriff der Kanonizität zwar auf eine Auswahl (z. B. von bestimmter Literatur), nicht aber zugleich auch auf deren Gültigkeitsbereich: Der Begriff des Kanons kann in dem oben dargelegten Verständnis auch im Bereich der Schulbildung angewandt werden. Vor diesem Hintergrund diskutiert etwa Nili Shupak den Papyrus Chester Beatty 4, verso, 2,5–3,11(; 6,11–14). Dieser Text stammt aus der Ramessidischen Zeit (1300–1100 v. Chr.) und enthält das Lob auf den Schreiberberuf mit Nennung von berühmten Weisen und deren ewig beständigen schriftlichen Werken.36 Shupak folgert, dass Pap. Chester Beatty 4 sich auf eine ausgewählte Sammlung von Werken der großen Weisen der Vergangenheit beziehe, die nun als »Kanon« für die Schule der Ramessidischen Zeit diene: »This canon was most probably established by the learned scribes themselves. They were active in setting of the Egyptian School, engaged not only in writing new works but also, and mainly, in the compilation, copying, and preservation of ancient traditions.«37 Shupak bringt diese Arbeit der Schreiber weiterhin mit dem für die Ramessidische Epoche typischen Interesse an der Vergangenheit in Verbindung, das auch mit einem Sprachwechsel einhergegangen sei: »The absorption in days of yore involved an event of major significance in the history of Egyptian culture which occurred at that time, namely the change of Late Egyptian (or Ramesside), which hitherto had been a spoken language, into a written language alongside Classical (or Middle) Egyptian. During this process the composition of new works in Classical Egyptian ceased.«38 So sieht Shupak den Prozess von Kanonisierung nicht von vornherein mit der Sakralisierung von Texten verbunden, sondern beschreibt diesen im Rahmen von Schul-

34 35 36 37 38

Assmann, Ma’at, 45. So auch Assmann, Gedächtnis, 94. Siehe unten Abschnitt 4c. Siehe z. B. ANET 431f. Shupak, »Canon«, 544. Shupak, »Canon«, 545.

§ 7 Kanonbildung

103

und Schreibertraditionen mit den Begriffen der Selektion und Normativität39 vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfordernisse. Man könnte auch andersherum sagen, dass mit Pap. Chester Beatty 4 ein Paratext zu den in ihm genannten Werken der Weisen der Vorzeit geschaffen wurde, der diese Werke quasi kanonisiert. Eine vergleichbare Sicht auf das Phänomen der Kanonisierung findet sich auch in der Altorientalistik.

3.

Der Alte Orient

Auch in der altorientalischen Textüberlieferung spielt der Rekurs auf altehrwürdige Weise/Schreiber eine zentrale Rolle. Wilfred G. Lambert diskutiert anhand des Texts KAR 177, einer Hemerologie, den Kolophon. Dieser nennt als Autoritäten die sieben (vorsintflutlichen) Weisen, die sich mit der Sammlung und der Exzerption vorliegender Texte beschäftigt hätten: »There is a Babylonian conception of canonicity which is implicit in the colophons just cited, and which is stated plainly by Berossus: that the sum of revealed knowledge was given once for all by the antediluvian sages. This is a remarkable parallel to the Rabbinic view that God’s revelation in its entirety is contained in the Torah. The modern Assyriologist’s conception of the canon as that body of literature which emerged from the temple schools of the Cassite period has some confirmation in the famous scribes who belonged to this age.«40 Er führt weiter aus, dass es keinesfalls die Absicht der Tradenten gewesen sei, eine systematische Auswahl an Schriften zu treffen oder autoritative Editionen zu erstellen. Zu vergleichbaren Schlüssen kommt auch Francesca Rochberg-Halton, die das Kriterium von ischkaru – »offizielle Edition«, »kanonisch« bzw. damqu – »gut« und achû – »fremd« anhand der Überlieferung der Omenserie Enuma Anu Enlil untersucht hat. Zwischen den »offiziellen« Texten und der als »fremd« identifizierten Tafel 29 ließen sich zwar keine formalen, wohl aber inhaltliche Abweichungen feststellen. D. h., die dort niedergelegte Tradition war den Schreibern »fremd«.41 Interessanterweise hat die Klassifikation eines Textes als »fremd« nicht dazu geführt, dass er nicht mehr kopiert und tradiert wurde – nur weit weniger als die »guten« Texte. Insofern kommt Rochberg-Halton auch zu dem Schluss, dass hier keine kategoriale Distinktion im Sinne von »kanonisch« und »nicht-kanonisch« gegeben sein könne. Beide Texttypen seien vielmehr im Strom der Tradition akkurat überliefert worden – nur eben nicht immer von denselben Schreibern.42

39 Shupak, »Canon«, 546f., führt insgesamt fünf Kategorien auf: »authority«; »selectivity«; »a model for emulation«; »normative literature«; »elevation«. 40 Lambert, Ancestors, 9; vgl. auch Pearce, Scribes, 2274f. 41 Vgl. Rochberg-Halton, Canonicity, 138f. 42 »It may well turn out that one group’s ahu was another group’s iškaru; certainly we must always be wary of the composite edition, a text which, ironically, [becomes] »canonical« to the Assyriological world but never existed in this form in antiquity‘«. Robson, Production, 572, teilweise Veldhuis, Curriculum, 629, zitierend.

104

2. Kapitel: Literatur

Insofern lässt sich das Phänomen einer Kanonisierung akkadischer Texte anhand der verwendeten Terminologie nicht belegen. Vielmehr dürften die wesentlichen hier interessierenden Punkte einerseits die Verankerung der Texttraditionen bei berühmten Schreibern der Vorzeit und andererseits die Anfertigung von Paratexten in Form von Kolophonen, Kommentaren und Katalogen, die über die Redaktion und Edition von Texten Auskunft geben, sein. Als »kanonisch« wäre vor diesem Hintergrund diejenige Literatur zu bezeichnen, die von ihren Schreibern nicht nur kopiert, sondern auch mit editorischen Bemerkungen o. ä. versehen wird, um eine Kontinuität oder Standardisierung zu erreichen.43 Dabei müssen, gerade bei poetischen Texten, auch mündliche Vorstufen, die dann verschriftlicht wurden, in Betracht gezogen werden.44 Diese Arbeit fand in den Kreisen gelehrter Schreiber(schulen) im Umfeld von Palast und Tempel statt, so dass sich erstens eine deutliche Nähe zu den obigen Beobachtungen zum Alten Ägypten ergibt und zweitens eine Perspektive für die Hebräische Bibel insofern gewonnen ist, als auch die formativen Prozesse der Entstehung des Textkorpus’ als solchen in den Blick rücken.

4.

Die Hebräische Bibel als Traditionsliteratur

Anders als bei den altägyptischen oder den antiken mesopotamischen Texten sind aus der alttestamentlichen Überlieferung bislang keine Originaltexte bekannt. Die ältesten erhaltenen Textdokumente stammen aus dem Zusammenhang der Qumranfunde. Gleichwohl lassen sich auch an alttestamentlichen Texten Prozesse, wie sie im Alten Ägypten und im Alten Orient nachweisbar sind, zeigen: Zunächst lassen sich auch die alttestamentlichen Schriften nicht auf einzelne Autoren zurückführen. Sodann sind die Bücher der Hebräischen Bibel zumeist literarisch gewachsen, was eine Aktivität von sammelnden und redigierenden Gelehrten nahe legt. Wo diese Gelehrten gearbeitet haben, ob sie in Schulen oder Gilden organisiert waren, lässt sich nur schwer beweisen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit, dass es ähnlich wie in den oben beschriebenen Nachbarkulturen gewesen ist, sehr hoch sein dürfte.45 Anhand von Beispielen vor allem aus dem Bereich des Pentateuchs und seiner innerbiblischen Rezeption soll dies nun illustriert werden. a)

Die Kolophone des Deuteronomiums

In Dtn 31 kommt wieder derjenige Erzähler zu Wort, der in Dtn 1,1–5 das Buch eingeleitet hatte. Im Gegensatz zum redaktionell gerahmten Text in Dtn 1–30* handelt es sich in Dtn 31 um keine durchgängige Moserede, sondern um ein Potpourri aus verschiedenen Mose- und Gottesreden, die wohl einer pentateuchischen Redaktion zuzuschreiben sind. Ins Gewicht fallen die beiden Abschnitte Dtn 31,9–12.24–26,

43 Vgl. Rochberg-Halton, Canonicity, 133; Veldhuis, Curriculum, 627f. 44 Vgl. Niehr, Mythen, 177–182, am Beispiel der ugaritischen Überlieferung. 45 Vgl. Carr, Schrift, 133–198.

§ 7 Kanonbildung

105

die jeweils von der Verschriftlichung der »Weisung« (Tora) handeln – und zwar mit unterschiedlichen Zweckangaben: Im ersten Abschnitt (V. 9–12) geht es um die Verschriftlichung der (mündlichen) Tora, damit diese in jedem siebten Jahr der Versammlung am Laubhüttenfest wiederum mündlich vorgetragen werden könne, im zweiten Fall (V. 24–26) soll die schriftlich niedergelegte Tora deponiert werden, um später als Zeugnis gegen die Verfehlungen Israels dienen zu können. Die Redaktion legt großen Wert darauf, dass die eigentlich mündliche Moserede nun in ein schriftliches Medium überführt wird, damit sie für spätere Verwendung möglichst wortgetreu zur Verfügung steht. Entsprechend werden an anderen Stellen ebenfalls in einem späten Stadium der Buchgenese auch Textsicherungsformeln angebracht, so in Dtn 4,2 und in Dtn 13,1, die den verbindlichen Urkundencharakter des eigentlich mündlichen Vortrags herausstreichen. Es hat den Anschein, als wolle man zugleich mit der überlieferten Rede des Mose auch dessen Autorität transportieren. In jedem Fall deuten die beiden o. g. Zweckbestimmungen (Lesung in der Versammlung; Zeugnis gegen Verfehlungen) auf einen autoritativen Charakter der Schrift hin, die in dieser Form erst die Redaktion eingebracht hat. Wahrscheinlich identifizieren sich in 2Kön 22,8–10 auch deren Trägerkreise, wenn der Hohepriester Hilkija die »Urkunde der Weisung« (Tora) im Tempel gefunden haben will und sie dem Schreiber Schafan übergibt, der sie wiederum dem König Joschija zu Gehör bringt (und so Dtn 31,24–26 in Kraft setzt). Die folgende Reaktion des Königs jedenfalls macht den schlummernden Text zu einem Politikum, wie die anschließend geschilderte »joschijanische Reform« zeigt.46 Das Ensemble aus Priester, Schreiber, Prophetin (Hulda), Tempel und Palast erinnert in jedem Fall an entsprechende Kreise und ihre Funktion im Alten Orient und im Alten Ägypten. b)

Esra und die Tora

In Esr 7 steht die Tora, die als Mosetora (V. 6) bzw. Jhwhtora (V. 10) qualifiziert wird, in einer engen Verbindung zu dem Priester und Schreiber/Schriftgelehrten (sofer) Esra. Es geht dabei um zweierlei: Erstens die Verankerung der Esrafigur in den Ereignissen am Sinai/Horeb, indem der Stammbaum Esras bis hin zum Erzpriester Aaron zurückverfolgt wird. Zudem wird die Tora als »Mosetora« bezeichnet, was den Bogen zur anderen großen Autorität der Ereignisse am Gottesberg schlägt. Zweitens erschließt der Text die zukünftige Anwendung der Tora in enger Verbindung mit der Gestalt des Esra, der mehrfach als kundiger Kenner und Lehrer der Tora bezeichnet wird (V. 6.10f.). Im aramäischen Teil des Kapitels, Esr 7,12–26, wird Esra im Rahmen eines fiktiven Briefs des Großkönigs Artaxerxes sogar als offizieller Beauftragter porträtiert, dessen Aufgabe in der verbindlichen Lehre und Anwendung des »Gottesgesetzes« bestehe (V. 26). Dass es sich bei dem »Gottesgesetz« um nichts anderes als die Tora handelt, legt dabei der Kontext nahe. Esr 7 wird damit zu einem pivot: Der Text weist zum einen zurück auf die Anfangssituati-

46 Vgl. zu diesem Text auch Lange, Canon, 202.

106

2. Kapitel: Literatur

on (zwar nicht vorsintflutlich wie beim Kolophon zu KAR 177, letztlich aber doch vorgeschichtlich) am Sinai/Horeb, er weist aber zum anderen bereits voraus, indem für eine legitime (künftige) Handhabe der Tora entsprechende Qualifikationen gefordert werden. Es spricht viel dafür, dass in Esr 7 eine schriftliche Urkunde einem autorisierten Gebrauch zugeführt werden soll, der in den Händen des Gelehrten Esra liegt. Dass dieser Gebrauch in der Verkündigung der Tora bestehen soll, legt der bereits genannte Text Dtn 31,9–12 nahe und findet seine Realisierung in Esr 9–10 (Anwendung der Tora auf den Fall der »fremden« Frauen) und in Neh 8 (prototypische Lesung der Tora durch Esra). Jan Assmann verortet vergleichbare Konstellationen im Rahmen kanonisierter Überlieferung: »Das entscheidende Kennzeichen dieser neuen Träger des kulturellen Gedächtnisses ist ihr geistiges Führertum, ihre (relative) Unabhängigkeit gegenüber den Institutionen politischer und wirtschaftlicher Macht (…). Nur von der Position solcher Unabhängigkeit aus können sie die normativen und formativen Ansprüche vertreten, die der Kanon stellt.«47 Es wird kaum ein Zufall sein, dass auch hier mit der Figur des Esra die Spuren in das Milieu von Schreibern/Schriftgelehrten und Priestern führen, die sowohl für den Tradierungsprozess der Texte verantwortlich zeichnen als auch die geistige Elite einer Gesellschaft bilden und damit über die Autorität verfügen, einen Text zu standardisieren und darüber hinaus in Abgrenzung zu anderen Traditionen als normativ zu begründen. Diese Normierung könnte gegenüber anderen Textsammlungen und -überlieferungen, etwa prophetischen, geltend gemacht worden sein.48 Wohl noch entscheidender für das Tora-Verständnis von Esr 7–10 ist jedoch, dass in Esr 10,3 die Tora religionspolitisch zur kritischen Norm erhoben wird, wenn die Ehen mit ausländischen Frauen »gemäß der Tora« (kattôrāh) aufzulösen seien.49 Der Gehalt der Tora dient hier deutlich als Maßstab des richtigen und falschen Handelns. Die Autorität des Esra als Priester und Schreiber/Schriftgelehrter verbürgt dabei die korrekte Auslegung der Tora, die hinzutretende, extrinsische Autorität des Großkönigs Artaxerxes, ähnlich wie in 2Kön 22, ihre (welt-)politische Dimension. Diese übersteigerte politische Bedeutung der Tora liegt vor allem im theologischen Interesse der Autoren von Esr 7 begründet; sie lässt sich jedoch historisch für die in Anschlag gebrachte persische Zeit kaum nachweisen, wie bereits die Texte aus Elephantine, wo die Tora im ausgehenden 5. Jh. v.Chr. keine Rolle spielt, zeigen. c)

Neh 8: Die Tora auf dem Weg zur Heiligen Schrift

Neh 8,1–12.13–18 kreist um eine prototypische Lesung der Tora durch Esra und namentlich genannte Leviten im Rahmen einer gottesdienstlichen Veranstaltung,

47 Assmann, Gedächtnis, 95. 48 Siehe u. Abschnitt 4d. 49 Hensel vermutet hinter den fremden Frauen aus Esr 9–10 die Chiffrierung eines binnen»israelitischen« Ausdifferenzierungsprozesses: Es gehe in dem Text um die Abgrenzung gegen die Samaritaner, die sich selbst ebenfalls als »Israel« verstehen und bekanntermaßen die Tora mit den Juden teilen. Vgl. Hensel, Juda, 306–314.

§ 7 Kanonbildung

107

die nicht am Tempel situiert ist. Dabei wird in Neh 8,13–18 auf Dtn 31,9–12 Bezug genommen, während hinter Neh 8,1–12 Num 29 stehen könnte: Jeweils für den 1.7. wird eine heilige Versammlung erwähnt, bei deren Realisierung in Neh 8 jedoch nicht mehr das Opfer, sondern die Tora in den Mittelpunkt rückt. Auch im weiteren Verlauf von Neh 8 wird klar, dass die Qualität der Heiligkeit dem Festtag, dessen Mittelpunkt die Tora ist (V. 9f.), zukommt. So ist die Tora in Neh 8 zwar keine Heilige Schrift im dogmatischen Sinne, auch hat die reale Torarolle (noch) keine heilige Qualität, aber es wird ein Wortgottesdienst vorgestellt, in dessen Mittelpunkt die Schriftlesung steht. Die Nennung von Esra als Leiter des Gottesdienstes lässt erkennen, dass die Autoren des Textes eine Kontinuität von Esr 7 nach Neh 8 konstruieren: Die von Esra legitim gehandhabte Urkunde der Tora, die in Schriftform die göttliche Offenbarung vom Sinai/Horeb repräsentiert, wird zum Gegenstand der Lesung in einem prototypischen Synagogengottesdienst.50 Diese Zuspitzung auf die eine gelehrte und priesterliche Person dürfte einen ätiologischen Sinn haben: Die eine einst am Sinai/Horeb von Gott via Mose gegebene schriftliche Tora, abgebildet im Pentateuch, ist mit der von Esra überlieferten Urkunde identisch und durch ihre Anwendung in Gesellschaft (Esr 7; 9–10) und Gottesdienst (Neh 8) jeweils aktuell. Die Bücher Esra und Nehemia übernehmen und erweitern ein Konzept von Tora, wie es in Dtn 31 vorgestellt wird, wobei folgende geschichtliche Fiktion leitend ist: Die ursprüglich mündliche Übermittlung des göttlichen Wortes am Sinai/Horeb wird verschriftlicht, um die Zeiten zu überdauern, die gewissermaßen in den geschichtlichen Erzählungen der Vorderen Propheten beschrieben sind. Die Tora ist bis 2Kön 22 als schriftliche Urkunde nicht bekannt, ihre Aufgabe der Mitteilung des göttlichen Wortes wird durch Propheten wahrgenommen. Erst die nachexilische »Geschichtsschreibung« der Bücher Esra-Nehemia kennt wiederum diese schriftliche Urkunde im Vollsinn und wendet sie entsprechend an. In Neh 8 schließlich wird sie erneut mündlich verkündet, was nun das Sprachproblem der Verstehbarkeit des biblisch-hebräischen Textes mit sich bringt (Neh 8,8.12; Neh 13,23f.). Die Qualität der Heiligkeit, die bereits in den Jubiläenbüchern für die Tora und abschließend für die Sammlung des dreigliedrigen Kanons in der Mischna (Jadajîm III,5) festgestellt und als die »Hände unrein« machend definiert wird, ist hier noch nicht gegeben und als ein Epiphänomen der Kanonbildung anzusehen.51 d)

Die Propheten und die Schriften

Entsprechend der Entstehung der Tora wird man auch bei den Corpora der Vorderen und Hinteren Propheten sowie den »Schriften« (hebräisch ketubîm) sammelnde und redigierende Kreise anzunehmen haben, die ihre jeweilige Überlieferung tra-

50 Vgl. Hieke, Esra, 189–201. 51 Colpe, Heilige Schriften, 189, definiert: »Wenn religiöse Texte kanonisiert werden, werden sie H. Sch., aber H. Sch. sind nicht als solche schon kanonisch.«

108

2. Kapitel: Literatur

dierten.52 Es ist wahrscheinlich, dass die prophetischen und die weisheitlichen Texte sowie die poetische Lieddichtung zunächst in eigenen Zirkeln tradiert wurden; denn es fällt auf, dass sich erst in späteren Stadien der Sammlung und Redaktion Anspielungen auf andere biblische Bücher, v. a. die Tora, finden lassen. Die Vermutung legt sich nahe, dass die Tora zunehmend als einflussreicher und wichtiger Text angesehen wurde. Jedoch blicken einige Texte, die die Toratradition rezipieren, hierauf auch kritisch: Jes 56,1–7 spiegelt einen Diskurs mit Dtn 23,1–7, dem »Gemeindegesetz«, und vertritt dabei eine andere Vorstellung einer Integration von Fremden und anderen gesellschaftlichen Außenseitern in den Kult; Hos 12 bietet eine äußerst kritische relecture der Jakobstradion aus der Genesis (25–36), wahrscheinlich bereits mit antisamaritanischem Hintergrund, der eine Abwertung von Jakob/Efraim, pars pro toto verstanden, vertrat. Auch das Buch Rut dürfte sich kritisch mit dem »Gemeindegesetz« beschäftigen, wenn eine Moabiterin in die soziale Gemeinschaft Israels und die religiöse Gemeinde Jhwhs aufgenommen wird (Rut 2,10–12). Andererseits zeigen besonders die genannten Bücher Esra und Nehemia sowie zahlreiche Psalmen (u. a. 1; 19; 78; 119) und apokryphe Schriften wie Sirach und Baruch eine sehr positive Haltung gegenüber der Tora, wenn diese etwa in Bar 3,9–4,4 als die höchste Weisheit entfaltet wird. Hier geht die ursprünglich internationale und eigenständige weisheitliche Tradition in die Toratradition über. Odil Hannes Steck hat gezeigt, dass insbesondere Eingangs- und Abschlusstexte wie Mal 3,22–24 (Bezüge auf: Tora – Jos 1 – Propheten) oder Ps 1 (Bezug auf: Tora) und Ps 2 (Bezug auf: Propheten) die einzelnen Kanonteile nicht nur beschließen oder eröffnen, sondern sie auch inhaltlich-thematisch miteinander verbinden.53 Schließlich ist es namentlich das Buch Kohelet, dessen toragemäßer Beginn und Schluss allein es trotz seiner Heterodoxie für die Sammlung nicht-apokrypher, also kanonischer Bücher akzeptabel machte (Babylonischer Talmud, Schabbat 30b).

5.

Die Bibliothek von Qumran

Mit den Funden vom Toten Meer liegen erstmals originale Handschriften nachmals biblischer (sowie zu den Apokryphen zählender) Texte vor. Sie können paläographisch zumeist in das zweite bzw. erste vorchristliche Jahrhundert datiert werden. Die aufgefundenen biblischen Bücher bzw. Fragmente zeigen, dass die redaktionellen Arbeiten weitgehend zum Abschluss gekommen sind. So weist die große Jesajarolle (1QIsaa) aus unterschiedlichen Gründen zwar zahlreiche textliche Varianten gegenüber dem Masoretischen Text auf, doch der Textbestand ist prinzipiell derselbe. Daneben umfasst die Bibliothek54 von Qumran auch eine Fülle parabiblischer Texte, die für die Fragestellung der Kanonbildung sehr interessant sind. So gibt es fortlaufen52 Zu den Propheten vgl. die Pionierarbeit von Steck, Abschluß, 73–126, der verschiedene Redaktionsstufen und Fortschreibungen auf dem Weg zu einem corpus propheticum in spätptolemäischer Zeit identifiziert. 53 Vgl. Steck, Abschluß, 126–136; 161f. 54 Vgl. zu dieser Bezeichnung Lange, Qumran Library, 263f.

§ 7 Kanonbildung

109

de Kommentare (pescharîm) wie den Habakukkommentar (1QpHab) oder Florilegien wie 4Q 174, die jeweils auf die zugrunde liegenden biblischen Texte rekurrieren und sie damit zum Gegenstand gelehrter (oder gottesdienstlicher) Beschäftigung machen. Die »Damaskusschrift« (CD), die »Sektenregel« (1QS), der »Halachische Brief« (4QMMT) und die »Kriegsrolle« (1QM) beziehen sich in ihrer Argumentation sehr häufig auf biblische Texte, so dass im Licht der parabiblischen Literatur ein Ensemble als göttliches Wort zitierter und damit autoritativer Texte deutlich wird, das aus allen drei Bestandteilen des jüdischen Bibelkanons besteht. Dabei kommt besonders den Büchern der Tora, dem Jesajabuch sowie den Psalmen eine hohe Wertschätzung zu, da aus ihnen am häufigsten zitiert wird.55 Andere Bücher v. a. aus dem Bereich der »Schriften« (ketubîm) werden gar nicht zitiert, auch wenn Kopien dieser Bücher mehr oder minder fragmentarisch in Qumran nachweisbar sind. Andererseits wurden auch Bücher, die später nicht kanonische Geltung erfahren haben, in Qumran gepflegt, so das Jubiläenbuch (das in 15 oder 16 Abschriften vorliegt); die Tempelrolle (1QT) liegt in einem ganzen Exemplar vor. Armin Lange hat angesichts der zahlreichen in Qumran aufgefundenen parabiblischen Texte auf die äußeren Erfordernisse dieser paratextuellen Arbeit, insbesondere auch der pescharîm, hingewiesen: »Only ancient Jewish libraries enabled scholars to perform the intertextual exegesis observed in the Qumran commentaries.«56 Insofern lässt sich anhand der Qumranfunde wahrscheinlich machen, dass erstens auch in Juda die Schrifttransmission ähnlich erfolgte wie im Alten Orient und im Alten Ägypten, nämlich durch Gelehrte, die die Literatur an bestimmten Orten (»Bibliotheken«) zur Verfügung hatten, und dass zweitens auch die Phänomene der Kanonbildung und Kanonizität in diesem Licht zu beurteilen sind: Kanonbildung wird in dieser Zeit eher durch dynamische Prozesse gelehrter Diskurse über die Tradition als über Entscheidungen von politischen und religiösen Größen gesteuert – auch wenn letzteres durch Esr 7 (s. o.) oder den Aristeasbrief (s. u.) postuliert wird. Es zeigt sich aufgrund der biblischen Texte, die in Qumran gefunden wurden, zudem, dass es noch keinen (protomasoretischen) »Standardtext« gab. Lange vermutet, dass dessen Dominanz erst mit der herodianischen Zeit einsetzte.57

6.

Der Aristeasbrief und die Septuaginta

Der Aristeasbrief58 ist eine pseudepigraphische Schrift aus dem 2. Jh. v. Chr., die zeigen möchte, wie die Übersetzung der Tora (nómos) von 72 Gelehrten in 72 Tagen ins Griechische erfolgte und diese Übersetzung dann von dem jüdischen Politeuma sowie König Ptolemaios II. in Alexandria sanktioniert wurde. Für die Fragestellung der Kanonbildung sind hier vor allem zwei Dinge interessant: In § 302 der Schrift wird zunächst geschildert, dass der endgültigen Form der Übersetzung ein Vergleich der Texte vorausging, um eine Übereinstimmung zu erzielen. Diese endgülti55 56 57 58

Vgl. VanderKam, Einführung, 173–176; Lange, Qumran Library, 265f. Lange, Qumran Library, 279. Vgl. Lange, Handbuch, 24–32. Von ihm war schon oben in § 4 und § 5 die Rede.

110

2. Kapitel: Literatur

ge Form wurde dann schriftlich niedergelegt. In § 310f. schließlich stellt das jüdische Politeuma von Alexandria die Genauigkeit der Übersetzung fest, die keiner weiteren Bearbeitung bedürfe und deren Wortlaut durch Niederschrift gesichert worden sei. Dann stimmt nach dem Brief die Gemeinde der Übersetzung zu und sanktioniert diese: »Da nun alle diesen Worten zustimmten, ließen sie (…) den verfluchen, der durch Zusätze, Umstellungen oder Auslassungen (die Übersetzung) überarbeiten würde. Das taten sie zu Recht, damit sie für alle Zukunft stets unverändert erhalten bleibt.«59 Schließlich stimmt auch der König dieser Übersetzung zu und bezeichnet sie als »heilig« (§ 317). Angesichts der vielfältigen Textüberlieferung, die ja die Qumranfunde für diese Zeit deutlich zeigen, erscheint der Aristeasbrief in seinem Ansinnen fiktional. Ähnlich wie das Esrabuch und 2Kön 22 möchte er vielmehr einen durch sorgfältige Arbeit von Schreibern erstellten Text autorisieren, der sowohl von den religiös als auch den politisch Verantwortlichen anerkannt wird. Es wird wiederum deutlich, dass diese externe Bestätigung der Arbeit der Schreiber durch Autoritäten für das Phänomen der Kanonizität wichtig zu sein scheint: Erst diese Bestätigung verschafft dem Text seine Normativität oder Kanonizität. Wie bereits Dtn 31; 2Kön 22 und Esr 7 ist der Aristeasbrief fiktional und besitzt ätiologischen Charakter. Auch die externe Evidenz für das ptolemäische und römische Ägypten zeigt, dass eine kanonisierte Tora nicht nachweisbar ist: »The intertextuality of Egyptian Jewish literature and the Pauline letters prove no evidence for an early Alexandrian Jewish canon. (…) A Torah-only-canon is hence as unlikely for Egyptian Judaism as an Alexandrian Septuagint canon.«60 Wahrscheinlich reflektiert der Aristeasbrief teleskopartig die auch andernorts belegten Redaktions- und Standardisierungsprozesse der Schreiber und Gelehrten, die sich um die Übersetzung des hebräischen Textes kümmerten (§ 302), während eine abschließende Kanonisierung dieser griechischen Tora als normativer Text gemäß § 311 eher in den Bereich der ätiologischen Legende gehört. Möglicherweise hat das intellektuelle Milieu Alexandrias mit seiner berühmten Bibliothek und seinen Bildungsidealen, die auch der Aristeasbrief breit reflektiert (§§ 121f.; 187–294), die Schreiber und Übersetzer zu ihrer Arbeit angeregt.61 Kanonizität erlangte diese Übersetzung ebenso wie die bereits besprochenen Texte aus dem Alten Testament und seiner Umwelt durch Zitation als verbindlicher Text62 und nicht durch einen formalen Akt.

7.

Biblische Kanonbildung im Spiegel jüdischer und christlicher Schriften der hellenistisch-römischen Zeit

Insbesondere das Sirachbuch gilt als Zeuge der Herausbildung eines biblischen Kanons. Das Buch ist ursprünglich in Hebräisch abgefasst, allerdings in dieser Fassung

59 60 61 62

Übersetzung: Meisner, Aristeasbrief, 84. Lange, Hebrew Bible, 680. Vgl. de Pury, Kanon, 12f.; Kreuzer, Entstehung, 46–49. Vgl. Kreuzer, Entstehung, 49.

§ 7 Kanonbildung

111

nicht vollständig überliefert. Die (komplizierte) griechische Überlieferung geht zurück auf die Übersetzung des hebräischen Textes durch den Enkel Sirachs in Alexandria und ist durch diesen selbst in die Zeit des Euergetes (II., gest. 116 v. Chr.) datiert. Das ursprüngliche hebräische Sirachbuch dürfte damit aus dem ersten Drittel des 2. Jh.s v. Chr. stammen. Das Buch bietet zahlreiche Anspielungen und Aufnahmen biblischer Texte aller drei Teile des späteren jüdischen Kanons, besonders der Tora, und dokumentiert damit die hohe Wertschätzung dieser Überlieferung. Bereits der Prolog, den nicht alle griechischen Handschriften überliefern, nennt Tora, Propheten und Schriften. Sir 44–50, das »Lob der Väter«, eine Tour d’Horizon der Heilsgeschichte Israels, bietet zahlreiche Anspielungen und Reflexe biblischer Stoffe und ist deshalb als Zeugnis der Kanonisierung auch der prophetischen Bücher gewertet worden. Doch nach dem Urteil von Markus Witte ist Sir »[v]on einem unveränderlichen Text im Sinne einer standardisierten Textüberlieferung (…) noch weit entfernt.«63 Einen eigentlichen Kanon kenne das Buch nicht. Die in ihm vorliegenden Anspielungen und Zitationen seien »(…) vielmehr Kennzeichen einer Kultur, zu deren wesentlichen Merkmalen Schriftlichkeit und schriftgestützte Identitätspflege gehören.«64 Entsprechend hebt Sir auch die Weisheit des Schreibers/Schriftgelehrten (sofía grammatéōs) als einer in der Tradition umfassend gebildeten Persönlichkeit hervor (Sir 38,24–39,11). Analog zu den bisherigen Beobachtungen führt dementsprechend auch Sir in die Kreise von einschlägig gebildeten Gelehrten, die sich mit der Überlieferung, Bearbeitung und Kommentierung von bestimmten Texten befassten, die so im Laufe der Zeit zu Kulturgütern von immer höherem Wert wurden. 2Makk 2,13–15 (1. Jh. v. Chr.) erzählt, dass Nehemia in Jerusalem eine Bibliothek angelegt und die Bücher über die Könige und Propheten sowie Briefe der Könige und Weihgeschenke gesammelt habe. Diese Sammlung sei von Judas Makkabäus nach dem makkabäischen Aufstand wieder vervollständigt worden. Die Vermutung, dass es sich hier um die Bibliothek des Jerusalemer Tempels gehandelt habe, legt sich nahe.65 Von dieser Bibliothek ist jedoch ansonsten nichts bekannt, die Nennung des Nehemia könnte zudem ein Topos sein, der sich auf dessen im Nehemiabuch genannte Restaurierungsmaßnahmen bezieht. Die Funde von Qumran zeigen jedoch, dass es solche Bibliotheken, zumindest in der Zeit der Makkabäer, wirklich gegeben hat. Weitere Texte, die biblische Textsammlungen, Kanonteile und deren Wertschätzung nennen, sind Philon, De vita contemplativa 25; Lk 24,44; Mt 23,35; 4Esr 14,23–48 sowie Josephus, Contra Apionem 1,37–43. Besonders der letztgenannte Text aus dem späten 1. Jh. n. Chr., also deutlich jünger als die Zeugnisse von Qumran oder der Aristeasbrief, nennt eine klar umrissene Sammlung, die zweiundzwanzig heilige Bücher enthalten habe: die fünf Bücher Mose, dreizehn prophetische Bücher sowie vier weitere Bücher, die Lobgesänge und Vorschriften enthielten. U. a. James C.

63 Witte, ›Kanon‹, 247f. (Kursivierung dort). 64 Witte, ›Kanon‹, 247. 65 Vgl. zusammenfassend Lange, Qumran Library, 261f.

112

2. Kapitel: Literatur

VanderKam vermutet, dass es sich neben dem Pentateuch um folgende Bücher gehandelt habe: Josua, Richter, 1/2Samuel, 1/2 Könige, Esra/Nehemia (ein Buch), Ester, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel und die zwölf Propheten (ein Buch). Die vier weiteren Bücher könnten die Psalmen und Sprüche sowie Hiob und Kohelet gewesen sein.66 Damit würde Flavius Josephus eine Sammlung an Büchern im Sinn gehabt haben, die schon sehr nahe an diejenige heranreicht, die im Judentum und Christentum später als endgültig angesehen wurde.

8.

Die Sammlungen des jüdischen und des christlichen Bibelkanons

Es kann nach dem Gesagten also davon ausgegangen werden, dass in der Zeit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr., also bereits vor der Zeit des Lehrhauses in Jabne, ein jüdischer Bibelkanon vorlag, der große Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, den der Babylonische Talmud (Baba batra 14b–15a) feststellt und der auch den großen masoretischen Textausgaben wie dem Kodex Aleppo (frühes 10. Jh. n. Chr.) oder dem Kodex Leningradensis (frühes 11. Jh. n. Chr.) prinzipiell zugrunde liegt. Die masoretische Arbeit am tradierten Text zeigt dabei, dass es den Gelehrten darauf ankam, das Gesamt des für das Judentum verbindlichen dreiteiligen Kanons heiliger Schriften möglichst akkurat zu erfassen und zu sichern. Da das Neue Testament auf Griechisch abgefasst ist, sind auch die Zitate »gemäß der Schrift« der Septuaginta entnommen, so dass für das frühe Christentum nur deren Überlieferung als Quelle der Lehre dienen konnte. Die Benutzung der Septuaginta im Neuen Testament zeigt, dass es bereits Rezensionen der griechischen Übersetzung auf Grundlage des hebräischen Textes gab. Die rezensionelle Tätigkeit spielte im frühen Christentum auch aufgrund der Diskussion mit dem Judentum eine wichtige Rolle und zeigt sich beispielsweise in der Hexapla des Origenes, der in sechs synoptischen Spalten versuchte, den hebräischen Bibeltext und seine Übersetzungen möglichst genau zu dokumentieren. Die ältesten, aus dem 4.–5. Jh. n. Chr. stammenden Kodizes der Septuaginta, Vaticanus, Alexandrinus und Sinaiticus, sind bereits christliche Bibeln, die die beiden Kanonteile des Alten und Neuen Testaments enthalten. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Reihenfolge der alttestamentlichen Bücher abweicht.67 Bereits Hieronymus mahnte aber an, dass man zwischen den Büchern des hebräischen und griechischen Kanons unterscheiden müsse, worin ihm beispielsweise Erasmus und Luther folgten,68 während die römisch-katholische Tradition auf dem Konzil von Trient (IV sessio) die lateinische Vulgata des Hieronymus, die die Apokryphen ebenfalls bietet, insgesamt als verbindliche Bibelausgabe (scriptura) festlegte und als Quelle der christlichen Lehre neben die kirchliche Überlieferung, die traditio, stellte.

66 Vgl. VanderKam, Einführung, 170f. 67 Siehe § 4 in diesem Band. 68 Vgl. Lohse, Entscheidung, 188–191.

§ 7 Kanonbildung

9.

113

Synthese

Hinsichtlich der beschriebenen Kanonbildung ergibt sich zweierlei: Erstens: Die Hebräische Bibel bietet Traditionsliteratur, vergleichbar derjenigen des Alten Orients. Redaktoren sammelten, edierten und tradierten ihnen vorliegende Schriften im Rahmen ihrer gelehrten Tätigkeit, die durch bestimmte Aufgabenstellungen (Ausbildung, Kult, Recht, Expertise für Herrscher) geprägt gewesen sein dürfte. Hierüber ist historisch für das Alte Israel nicht viel bekannt. In jedem Fall zeigt bereits die Überlieferung selbst eine hohe Wertschätzung von Tradition, wie z. B. die Doppelüberlieferungen der Flutgeschichte in Gen 6–8 oder des Exodusgeschehens in Ex 14 belegen. Die Erzählstränge werden kombiniert und nicht elidiert. Analoges dürfte für die anderen beiden Kanonteile gelten, wobei auch »innerbiblische« Diskurse zu beobachten sind. Die »externe Evidenz« weist jedoch aus, dass nachmals biblische Texte außerhalb der sie tradierenden Kreise kaum wahrgenommen wurden. Erst mit der hasmonäischen Zeit und der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus gewann die biblische Tradition, vor allem die Tora, eine signifikante Bedeutung, wie auch parabiblische Texte aus Qumran zeigen. Zweitens: Neben das Phänomen der Textpflege und Überlieferung, wie es auch im Alten Ägypten und Alten Orient begegnet, tritt seit der hellenistischen Zeit zunehmend dasjenige der Verbindlichkeit bzw. Autorität des überlieferten Textes nach außen: Ausgehend vom Buch Deuteronomium und seinen Kolophonen in Dtn 31 konnte die Wirkung der Tora in 2Kön 22; Esr 7 und dem Aristeasbrief nachgezeichnet werden. In allen Fällen wird die Schrift durch ihre äußere Anerkennung oder Ratifizierung als verbindlich angesehen. Alle drei Texte sind zumindest teilweise legendarisch und spiegeln weniger eine tatsächliche Einführung der Tora als politisches Gesetz in Judäa und andernorts als vielmehr eine ganz andere Absicht. So kann in Esr 7 die Verbindung der Toratradition exklusiv mit Esra, der durch seine Abkunft, Bildung und das königliche Edikt aus Esr 7,12–26 entsprechend qualifiziert ist, ebenso als Abgrenzung gegenüber dem Gebrauch der Tora durch die Samaritaner verstanden werden wie die Scheidung der »Mischehen« in Esr 9–10. Insofern wird hier das von Ohme eingangs zitierte »normativ Unterscheidende« als Kriterium deutlich. Insbesondere die späteren parabiblischen Texte aus Qumran zeigen diese Qualität von Kanon nachdrücklich auf. Kanonbildung weist damit sowohl nach »innen« auf die schriftgelehrten literarischen Prozesse inklusive unterschiedlicher Lehrmeinungen als auch nach »außen« auf die Strategien der Abgrenzung und der Identitätssicherung, die das Judentum in der Auseinandersetzung mit den Samaritanern, in unterschiedlichen Begegnungen mit dem Hellenismus in Judäa und Alexandria, in der Beschäftigung mit den Zerstörungen des Tempels und der Abgrenzung vom Christentum über lange Zeit prägte.

Bibliographie Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Ders., Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990.

114

2. Kapitel: Literatur

Carr, David M., Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015. Colpe, Carsten, Heilige Schriften: RAC XIV, 184–223. Hensel, Benedikt, Juda und Samaria. Zum Verhältnis zweier nach-exilischer Jahwismen (FAT 110), Tübingen 2016. Hieke, Thomas, Die Bücher Esra und Nehemia (NSK 9/2), Stuttgart 2005. Kreuzer, Siegfried, Entstehung und Überlieferung der Septuaginta: Karrer, Martin u. a. (Hg.), Handbuch zur Septuaginta 1: Einleitung in die Septuaginta, 29–88. Lambert, Wilfred G., Ancestors, Authors, and Canonicity: JCS 11 (1957), 1–14. Lange, Armin, Canon/Canonization: Segal, Robert A./von Stuckrad, Kocku (Hg.), Vocabulary for the Study of Religion 1, Leiden/Boston 2015, 200–204. Ders., Handbuch der Textfunde vom Toten Meer. Band I: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen 2009. Ders., The Qumran Library in Context: The Canonical History and Textual Standardization of the Hebrew Bible in Light of the Qumran Library: White Crawford, Sidnie/Wassen, Cecilia (Hg.), The Dead Sea Scrolls at Qumran and the Concept of a Library, Leiden/Boston 2016, 261–279. Lohse, Bernhard, Die Entscheidung der lutherischen Reformation über den Umfang des alttestamentlichen Kanons: Pannenberg, Wolfhart/Schneider, Theodor (Hg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition, Freiburg i. Br./Göttingen 1992, 169–194. Meisner, Norbert, Aristeasbrief (JSHRZ II,1), Gütersloh 21977. Niehr, Herbert, Mythen und Epen aus Ugarit: TUAT NF 8: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Gütersloh 2015, 177–301. Ohme, Heinz, Kanon: RAC XX, 1–28. Pearce, Laurie, The Scribes and Scholars of Ancient Mesopotamia: Sasson, Jack M. (Hg.), Civilizations of the Ancient Near East IV, New York 1995, 2265–2278. de Pury, Albert, Der Kanon des Alten Testaments: Römer, Thomas u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013, 3–24. Robson, Eleanor, Tracing Networks of Cuneiform Scholarship with Oracc, GKAB, and Google Earth: Rutz, Matthew T./Kersel, Morag, Archaeologies of Texts. Archaeology, Technology, and Ethics, Oxford/Philadelphia 2014, 142–163. Rochberg-Halton, Francesca, Canonicity in Cuneiform Texts: JCS 36 (1984), 127–144. Shupak, Nili, »Canon« and »Canonization« in Ancient Egypt: BiOr 58 (2001), 535–547. Steck, Odil Hannes, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991. Steins, Georg, Zwei Konzepte – ein Kanon. Neue Theorien zur Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel: Ders./ Taschner, Johannes (Hg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 8–45. VanderKam, James C., Einführung in die Qumranforschung. Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer, Göttingen 1998. Veldhuis, Niek, Domesticizing Babylonian Scribal Culture in Assyria: Transformation by Preservation: van Egmond, Wolfert S./van Soldt, Wilfred H. (Hg.), Theory and Practice of Knowledge Transfer. Studies in School Education in the Ancient Near East and Beyond, Leiden 2012, 11–24. Witte, Markus, Der ›Kanon‹ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buches Ben Sira/Jesus Sirach: Becker, Eve-Marie/Scholz, Stefan (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2012, 229–256.

115

§ 8 Tora

§ 8 Tora Reinhard Achenbach, Münster

1.

Bedeutung des Wortes

Das Wort Tora (hebräisch tôrāh, pl. torôt) bedeutet »Lehre«, »Unterweisung«, welche Eltern ihren Kindern, Weise ihren Schülern oder Priester den Teilnehmern der Kultusgemeinde erteilen (Spr 1,8; 13,14; 31,26; Hag 2,11). Die ihr zugrunde liegende Weisheit hatte nach der Überzeugung Israels ihren Grund und Ursprung bei Gott selbst (Ps 19,8). Als Tora wird dementsprechend auch die durch Mose vermittelte Offenbarung der Gesetze bezeichnet (Dtn 4,8.44; 28,58; 31,9). Von diesen nahm man an, dass Gott selbst sie Mose gelehrt (Ex 12,49; 16,4; 18,20) und dass schon Abraham sich daran orientiert habe (Gen 26,5), bevor Gott sie am Berge Sinai dem Mose zur Mitteilung an das Volk übergab (Ex 24,12). Sie umfasst Rechtssätze (hebr. mišpat ̣, pl. mišpat ̣îm), Regeln des sozialen und religiösen Lebens (hebr. choq, pl. chuqqîm) und göttliche Gebote generell (hebr. mitzwāh, pl. mitzwôt), insbesondere die auf dem legendären Dokument der steinernen Tafeln bezeugten »Zehn Worte« des Dekalogs (Ex 20,1–17/Dtn 5,6–21). Insgesamt umfasst die Tora nach traditioneller jüdischer Zählung 613 Gesetze, 248 Gebote und 365 Verbote. Diese sind in den sog. Fünf Büchern Moses enthalten und bilden in Verbindung mit den großen weisheitlichen Lehrerzählungen, Sagen und Ursprungsmythen Israels in Gestalt der Urgeschichte, Erzelterngeschichte, Exodus- und Wüstenwanderungserzählungen in ihrer Gesamtheit die »Tora« als Teil des jüdischen und alttestamentlichen Kanons heiliger Schriften. In den jüdischen Synagogengemeinden steht die Lesung aus der Torarolle im Zentrum des Gottesdienstes. Die Schriftrollen aus besonderem, nach rituellen Regeln hergestelltem Pergament enthalten den handgeschriebenen hebräischen Text der Tora.

2.

Inhalt der Tora

Die Herleitung der ersten fünf Bücher der Hebräischen Bibel von Mose ist erst seit dem 1. Jh. n. Chr. gebräuchlich. Im Neuen Testament wird auf die heiligen Schriften Israels zusammenfassend als auf »Mose und die Propheten« oder auf das »Gesetz (= griech. nómos) und die Propheten« verwiesen (Lk 16,16.29). Die Schriften selbst geben keine Auskunft über ihre Verfasser. In der rabbinischen Tradition werden sie auch als »Fünfbuch« (hebr. chumâsch, griech. Pentateuch) bezeichnet. In der hebräisch-jüdischen Überlieferung werden die Bücher nach den Anfangsworten der jeweiligen Schrift benannt, in den hellenistisch-jüdischen und christlichen Bibelübersetzungen nach ihren Inhalten:

116

2. Kapitel: Literatur

1. Buch Mose

be-reschît (»Am Anfang«)

Genesis (»Ursprung«)

2. Buch Mose

schemôt (dies sind die Namen«, i. e. der Söhne Israels, die nach Ägypten gezogen sind)

Exodus (= »Auszug« aus Ägypten)

3. Buch Mose

wājjiqra’ (»und ER rief«, d. h. Gott rief Mose und sprach zu ihm)

Levitikus (»Levitisches Buch«, priesterliche Regeln)

4. Buch Mose

ba-midbār (»In der Wüste« Sinai redete Jhwh zu Mose)

Numeri (= »Zahlen« der Israeliten, die durch die Wüste wanderten, vgl. Num 1 und 26)

5. Buch Mose

debarîm (dies sind die »Worte«, die Mose Deuteronomium (»Zweites Gesetz«69) zu den Israeliten vor seinem Tod jenseits des Jordan sprach)

Die Genesis enthält die Erzählungen der sog. »Urgeschichte« (Gen 1–11) mit den Mythen von der Erschaffung der Welt und der ersten Menschen (Gen 1–2), vom paradiesischen Urzustand, dessen Verlust und vom ersten Brudermord (Gen 3–4), von den Geschlechtern der Urzeit, der Katastrophe der Sintflut und vom Neubeginn der Menschheitsgeschichte (Gen 5; 6–9), schließlich von den Völkerschaften der Frühzeit und ihrer Zerstreuung nach dem Bau des sagenhaften Turms von Babylon (Gen 10–11). Die Erzählung von den Wanderungen der Vorfahren Abrahams von Ur nach Haran leitet über zum zweiten großen Teil des Buches, der Erzelterngeschichte (Gen 12–36). Sie beginnt mit einer göttlichen Verheißungsrede an Abraham, der zunächst Abram genannt wird,70 die ihm gebietet, gemeinsam mit seiner Frau Sara, genannt Saraj, Gottes Führung in ein neues Land zu folgen, und die ihm zahlreiche Nachkommen und göttlichen Segen zusagt (Gen 12,1–3). Die Reden von Gottes Bund und Verheißungen von Nachkommen, Mehrung, Land und Segen (Gen 13,14–17; 15; 17; 18,9–15; 22,15–18; 26,2–5; 35,9–13) verbinden die unterschiedlichen Sagen von Abraham und Sara (Gen 12–25), Isaak und Rebekka (Gen 21–28) und Jakob, Lea und Rahel (Gen 25–35; 49–50). Sie setzen sich aus Erzählzyklen zusammen (Abraham und Lot, Hagar und Ismael, Jakob und Esau, Jakob und Laban, die Geburt der Söhne Jakobs und Erzväter der Stämme Israels), Geschichten von der Gefährdung der Ahnfrauen und Konflikten mit den Philister- und Kanaanäerstädten (Gen 12; 20; 26; 34), Kultauffindungslegenden (Gen 28; 32) und Einzelsagen von Abrahams Begegnung mit dem Priesterkönig Melchisedek (Gen 14), von der Bindung Isaaks (Gen 22) oder von Juda und Tamar und den Ahnvätern Judas (Gen 38). Der dritte Teil enthält die

69 Der Name geht zurück auf Dtn 18,18, wonach der König von den Priestern eine eigene, zweite Schriftrolle der Tora (griech. deuteronómion) bekommen soll. 70 Einer priesterlichen Überlieferung zufolge hieß Abraham zunächst Abram (= »Vater ist erhaben«) und erhielt erst, als er sich im Verheißungsland niedergelassen hatte, den Namen Abraham, was nach der volkstümlichen Deutung »Vater einer großen Menge« bedeutet. Daran wurde die Erzählung insgesamt angeglichen, vgl. Gen 11,26–17,5. Seine Frau heißt zunächst Saraj (»kleine Fürstin«) und nach Gen 17,15 Sara (»Fürstin«).

§ 8 Tora

117

Novelle von Josef und seinen Brüdern (Gen 37; 39–50). Jakob liebt und bevorzugt seinen Sohn Josef. Aus Eifersucht verkaufen die Brüder diesen als Sklaven, und er gelangt nach Ägypten, wo er nach allerlei Verwicklungen zum Wesir des Pharaos aufsteigt. Als Jakob mit seiner Sippe wegen einer Hungersnot nach Ägypten zieht, werden sie mit Josefs Hilfe errettet. Jakob segnet Josefs Kinder Efraim und Manasse und seine Söhne und stirbt. Am Ende kommt es zur Aussöhnung zwischen seinen Kindern. Trotz zahlloser Irrwege der Menschen wendet Gott ihr Geschick zum Guten (Gen 50,19–21). Das Exodusbuch erzählt von der Unterdrückung der Israeliten und von ihrer Befreiung aus Ägypten. Es beginnt mit der Schilderung der Bemühungen des Pharao, die Mehrung des Volkes zu unterbinden und der Errettung des Mose und seiner Flucht nach Midian (Ex 1–2). Nach einer Zeit offenbart sich ihm Gott in der Wüste in einer feurigen Erscheinung in einem Dornbusch (hebr. senæh) mit den Worten »Ich bin, der ich bin!« (Ex 3,14) und sendet ihn nach Ägypten, um die Israeliten aus der Knechtschaft des Pharao zu befreien (Ex 3–4). Die Konfrontation zwischen Mose, seinem Bruder Aaron und dem Pharao kulminiert in einer Reihe von 10 Plagen, die Gott über die Ägypter verhängt (Ex 5–11). Im Frühlingsmonat Aviv (Mitte März bis Mitte April) gebietet Gott den Israeliten, Lämmer zu schlachten und mit dem Blut die Türpfosten ihrer Häuser zu bestreichen. Das Abwehrritual führt dazu, dass der Todesdämon an den Israeliten vorübergeht (hebr. pasach), aber in allen ägyptischen Familien die Erstgeborenen zu Tode kommen. Die Israeliten fliehen aus dem Land. Durch einen wundersamen Sturmwind Gottes werden die Gewässer des sog. »Schilfmeers« zur Seite getrieben und ermöglichen den Weg hinüber zur Sinaihalbinsel, das Pharaonenheer geht unter (Ex 12–14; 15,1–21). In der Wüste erhält Gott das Volk durch Quellwasser in Oasen sowie himmlisches Manna und schützt es vor Feinden (Ex 15–17). Am Gottesberg kommt es zur Begegnung mit dem Midianiter Jitro (Ex 18). Gott erscheint auf dem Berg Sinai (hebr. sînaj) unter Donner, Blitz und Feuerschein (Ex 19). Vom Berge her verkündet Gott die Zehn Gebote (Ex 20,1–17). Das Volk, erschrocken von der Erscheinung, bittet Mose um Vermittlung (Ex 22,18–21) und dieser nimmt die Gesetze Gottes entgegen (Ex 22,22–23,33), die er als »Bundesbuch« aufzeichnet und auf die Israel in einem feierlichen Ritual durch das Blut des Bundes verpflichtet wird (Ex 24,1–8). Gottes Gegenwart wird – umhüllt von einer Wolke – in einer glanzvollen Lichterscheinung (hebr. kābôd, griech. doxa, lat. gloria; dt. Herrlichkeit) sichtbar und Mose steigt auf den Berg und verharrt 40 Tage in der Gottesbegegnung (Ex 24,8–18). Er erhält die Anweisung zur Errichtung eines Heiligtums (Ex 25–29). Es folgen Anweisungen zum Kult und über den Sabbat (Ex 30–31). Als Mose nicht vom Berg zurückkehrt, drängt das Volk Aaron dazu, ein Götterbild anzufertigen. Aus Goldschmuck gießt Aaron ein Stierbild, das »goldene Kalb«, und ruft zu einem Opferfest für Jhwh auf. Nur durch seine Fürbitte kann Mose den Zorn Gottes aufhalten. Die Steintafeln, auf denen Gott die Bundesworte des Dekalogs aufgezeichnet hat, werden zerbrochen und die Verehrer des Stierbildes bestraft (Ex 32). Mose richtet ein »Zelt der Begegnung« ein und empfängt dort weitere Offenbarung Gottes, der sich ihm in einer Feuersäule nähert (Ex 33). Gott erweist sich als gnädig und es kommt zu einer

118

2. Kapitel: Literatur

Erneuerung des Bundes, der Lichtglanz Gottes geht auf Mose über (Ex 34). Das Heiligtum wird errichtet und Gott zieht in dasselbe ein (Ex 35–40). Im Levitikusbuch werden zunächst Anweisungen für den Opferkult eingeschoben (Lev 1–7), bevor erzählt wird, wie Aaron das erste Opfer darbringt, welches durch göttliches Feuer angenommen wird (Lev 8–9). Nadab und Abihu, die Söhne Aarons, bringen eigenmächtig Weihrauchopfer mit fremdem Feuer dar und kommen zu Tode (Lev 11). Es folgen Anweisungen zur Reinheit der Speisen und der Menschen (Lev 11–15), die den Verzehr von Blut als Träger des Lebens verbieten, und vor der verunreinigenden Berührung mit Totem und infektiösen Krankheiten (»Aussatz«) schützen sollen. Die Erzählung schließt mit der Einführung des großen Rituals des Versöhnungstages, der der Lösung von aller Sünde und Unreinheit dient durch das Symbol des »Sündenbocks« und der Versühnung von Volk und Heiligtum durch die Darbringung des Sühnopferblutes (Lev 16). Es folgt eine durch sakrale Ordnungen bestimmte Sammlung von Geboten in Lev 17–26 mit Anhang in 27, die man als »Heiligkeitsgesetz« bezeichnet, nach Lev 19,2: »Ihr sollt heilig sein, denn ich, Jhwh, euer Gott, bin heilig!« Im Mittelpunkt des Numeribuches stehen Erzählungen von der Wüstenwanderung der Israeliten ins verheißene Land. Nach dem Aufbruch (Num 10) kommt es wiederholt zum Aufbegehren (»Murren«) und zur Bestrafung des Volkes (Num 11–14; 16). Die Exodusgeneration stirbt in der Wüste, bevor mit der Eroberung und Verteilung des Ostjordanlandes (20–21.32) die Erfüllung der Verheißungen beginnt. Die Bemühung des Moabiterkönigs, den Seher Bileam dazu zu bewegen, Israel zu verfluchen, scheitert: dieser muss das Volk segnen (Num 22–24). Der Versuch, die Israeliten durch Verführung zum Götzendienst zu bewegen, mündet in eine Bestrafung der Schuldigen, der Eifer des Priestersohnes Pinhas wird durch die Verheißung des bleibenden Rechts auf das Priestertum belohnt (Num 25). Die Erzählungen sind gerahmt durch die Schilderung der Musterung und der Lagerordnung Israels (Num 1–4.26) und werden durch zahlreiche Torot für den Kultus und die Ordnungen der Landverteilung ergänzt (Num 5–9; 15; 17–19; 27–31; 33–36). Das Deuteronomium ist literarisch als Sammlung von Abschiedsreden des Mose gestaltet worden. Nach einer Rekapitulation der prägenden Ereignisse der Wüstenzeit (Dtn 1–3) folgt eine Ermahnung zur Einhaltung der Tora, der Verehrung Jhwhs als des einzigen wahren Gottes und des Verbots der Anfertigung von Götterbildern (Dtn 4). In einem zweiten Abschnitt wird an den Bundesschluss am Gottesberg erinnert, der hier Horeb, »Wüstenberg«, heißt und an den Dekalog (Dtn 5). Die Reihe der hieran anschließenden Mahnreden in Dtn 6–11 wird eingeleitet durch das Hauptgebot in Dtn 6,4–5: »Höre, Israel (hebr. schema‘ jisrael)! Jhwh ist unser Gott, Jhwh ist einzig! Und du sollst Jhwh, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft!« Dtn 12–15 gebieten, Jhwh allein an einem von diesem erwählten Kultort zu verehren und schärft eine besondere Fürsorgepflicht für die bedürftigen Mitglieder der Gesellschaft (Witwen, Waisen, Fremde, auf dem Lande lebende Leviten, Sklaven) als »Brüder« ein. Der Festkalender (Dtn 16,1–17) erklärt Passa/Mazzot, das Fest des Erntebeginns des SiebenWochenfestes (hebr. schāvu’ôt) und das Lesefest als Laubhüttenfest (hebr. sukkôt) zu Wallfahrtsfesten. Es folgt eine Ämterordnung für Richter, Könige, Priester und

119

§ 8 Tora

Propheten (Dtn 16,18–22; 17–18), eine Ordnung für die Kriegsführung (Dtn 20) sowie eine Sammlung von Gesetzen, die z. T. Regelungen des Bundesbuches weiterführen (Dtn 21–25). Die Sammlung endet mit den Anweisungen für die erste feierliche Darbringung der Gaben des Landes (Dtn 26). Nach der Überquerung des Jordans soll ein Ritual der Verpflichtung auf dieses Gesetz erfolgen (Dtn 27); dessen Einhaltung wird mit Segensverheißungen versehen, die Nichteinhaltung mit Flüchen bedroht, wie man sie aus altorientalischen Verträgen kennt, und so wird das Deuteronomium zum Grundtext eines »Moabbundes« (Dtn 28). Mahnreden zur Einhaltung der Gebote schließen diesen Teil ab (Dtn 29–30). In Dtn 31 setzt die Erzählung wieder ein. Mose kündigt seinen Tod an und bestimmt auf göttliche Weisung hin Josua zu seinem Nachfolger. Er schreibt die Tora auf und übergibt sie zur Aufbewahrung den levitischen Priestern und den Ältesten des Volkes. In seinen prophetischen Offenbarungen sieht er den Ungehorsam Israels, den Verlust des Verheißungslandes, jedoch auch das Ende des göttlichen Gerichts an seinem Volke voraus (Dtn 32) und spricht den Stämmen seinen Segen zu (Dtn 33). Mose darf vom Berge Nebo aus das verheißene Land schauen bevor er stirbt, sein Grab bleibt unbekannt (Dtn 34). Im Epilog des Pentateuch heißt es: »In Israel ist nie mehr ein Prophet aufgetreten wie Mose, der Jhwh erkannt hatte von Angesicht zu Angesicht!« Die Fortsetzung der Erzählung der Landnahme im Josuabuch war zeitweise literarisch mit dem Pentateuch verbunden, so dass man auch von einer »Hexateuch« (Sechs-Buch)-Erzählung spricht. Aufgrund der Lesung des Pentateuchs als MoseTora wurde allerdings das Josuabuch vom Pentateuch abgetrennt.

3.

Entstehung71

Der Pentateuch gibt keine Auskunft über seine Verfasser. Schon im 16. Jh. wurden Zweifel an der Verfasserschaft des Mose geäußert, und seit dem 17. Jh. nahm man an, dass der vorhandene Text auf Schriftgelehrte, insbesondere Esra, den Schreiber, zurückgehe (vgl. Esr 7; Neh 8). Zu der literarischen Kritik kam im Zeitalter der Aufklärung die sachliche Kritik. Man sah ein, dass die Erzählungen von der Erschaffung der Welt und der Sintflut Mythen waren und darum nicht kompatibel mit den Einsichten der modernen empirischen Wissenschaft, dass zudem die Erzählungen von den Erzeltern, die Geschichten vom Exodus und der Wüstenwanderung Sagen und Legenden waren, deren historischer Kern nur noch erahnt, aber nicht mehr durch außerbiblische Quellen nachgewiesen werden kann. Die zunehmenden Erkenntnisse über die Geschichte und Literatur des Alten Orients infolge der Entdeckungen der Archäologie, der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen und me-

71 Über die Theorien, die im Verlauf der modernen Erforschung des Pentateuch zu dessen Entstehung entwickelt wurden, informieren die wissenschaftlichen Einleitungen in das Alte Testament. Vgl. Römer u. a., Einleitung, 117–164; Dietrich u. a., Entstehung, 53–82; Zenger/Frevel, Einleitung, 87–135. Zur Tora in der hebräischen Bibel und zur jüdischen Hermeneutik vgl. Liss, Lehrbuch, 8–17.19–189.

120

2. Kapitel: Literatur

sopotamischer Keilschrifttexte zeigten, dass die Literatur Israels als Teil der altorientalischen Überlieferungen verstanden werden muss. Die Entdeckung, dass in einer von Gen 1,1–2,3 ausgehenden und bis Ex 6,2–8 reichenden Linie der Erzählung die Gottesbezeichnung Elohîm verwendet wurde, in Gen 2,5–4,26 aber der Name Jhwh führte in der Folge zu der Annahme, dass die Komposition des aus Erzählungen und Gesetzen bestehenden Werkes auf der Verwendung mehrerer unterschiedlicher Texte (Quellen) beruhte. Im Verlauf des 18. und 19. Jh.s wurden mehrere Modelle entwickelt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Erzählung, die in Gen 1 begann, nach Ex 6 bis zu den Texten von der Errichtung des Wüstenheiligtums und der daran sich anschließenden rituellen Gebote weiterverfolgen ließ bis zu der Notiz über den Tod des Mose in Dtn 34,7, nahm man eine »Grundschrift« an, die man später »Priesterschrift« nannte, und vermutete, dass diese durch die nicht diesem Erzählfaden zuzuweisenden Texte ergänzt worden sei (Ergänzungshypothese). Andere versuchten, aus dem durch die Verwendung des Jhwh-Namens markierten Erzählfaden eine Urkunde zu rekonstruieren, deren Verfasser man »Jahwist« nannte,72 daneben gab es eine Reihe von Texten, welche nicht der Grundschrift zugehörten, die aber gleichwohl die Gottesbezeichnung Elohim benutzten (vgl. Gen 20–22; Ex 3) und für die man demnach mit einer »Elohisten«-Quelle rechnete. Für das Deuteronomium nahm man an, es enthalte die Schrift, von deren Auffindung zur Zeit des Königs Joschija in 2Kön 22–23 die Rede ist und die Anlass zu der dort geschilderten Verwerfung anderer Götter und der Zentralisierung des Kultus gegeben habe. Das Bundesbuch, welches die Errichtung mehrerer Kultorte vorsieht (Ex 22,24), musste also älter sein. Demnach sei der Pentateuch aus mehreren Urkunden zusammengesetzt worden (Urkundenhypothese). Eine dritte Gruppe von Exegeten vertrat die Ansicht, dass der Pentateuch aus zahlreichen zunächst mündlich, später schriftlich tradierten einzelnen Erzählkränzen zusammengesetzt worden sei, die sehr lange unabhängig voneinander überliefert wurden (Fragmentenhypothese). Die Einsicht, dass auch die Priesterschrift den Gedanken der an einem Kultort zentrierten Gottesverehrung vertrat (vgl. Ex 29,42–46), führte Julius Wellhausen zu der Einsicht, dass die »Grundschrift« erst nach dem Deuteronomium, in der Epoche des sog. »babylonischen Exils« (zwischen 587 und 539/520 v. Chr.) entstanden sei.73 Seitdem nahm man an, dass der Pentateuch auf die alten Quellen eines »Jahwisten« (entstanden im davidisch-salomonischen Königreich) und eines »Elohisten« (aus dem Königreich Israel) zurückgehe, die man noch im 7. Jh. miteinander zu einer Jerusalemer Geschichtserzählung verbunden habe. Daneben seien das Deuteronomium (nach 622 v. Chr.) und die Priesterschrift (6. Jh.) entstanden. Schriftgelehrte hätten diese Quellen im 5. Jh. zusammengefügt (Neuere Urkundenhypothese). Die Stoffe der Erzählungen führte man mit Herrmann Gunkel74 und Martin Noth75 auf eine lange mündliche und

72 73 74 75

Eichhorn, Einleitung. Wellhausen, Composition. Gunkel, Genesis. Noth, Überlieferungsgeschichte.

§ 8 Tora

121

schriftliche Überlieferungsgeschichte zurück. Noth zeigte zudem, dass das Deuteronomium mit den Büchern Jos, Ri, Sam und Kön Teil eines am Dtn orientierten »deuteronomistischen« Erzählwerks geworden war, bevor es mit P und den älteren Quellen zusammengeführt wurde.76 In der jüdischen Exegese wurde die Quellentheorie meist abgelehnt. Die historisch orientierten jüdischen Exegeten im Gefolge Yehezkel Kaufmanns77 nehmen vielfach ein hohes Alter der Priesterschrift an. In neuerer Zeit setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass große Teile der auf den Kultus bezogenen priesterlichen Texte des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17–26) und des Levitikus- und Numeribuches erst in der Epoche des zweiten Jerusalemer Tempels ihre jetzt erkennbare schriftliche Gestalt erhalten haben. Seit den 70er Jahren des 20. Jh.s wird die Quellentheorie zunehmend infrage gestellt. Die Ursprünge der Erzählungen des Pentateuchs liegen in weit zurückreichenden mündlichen Überlieferungen Israels. Die Bemühungen um die Rekonstruktion ihrer vorexilischen literarischen Form haben zu der Einsicht geführt, dass diese durch die Bearbeitungen der nachexilischen Zeit überlagert sind und also die Rekonstruktion einer lückenlosen literarischen Komposition der vorexilischen Väterund Exodussagen nicht mehr möglich ist.78 Stattdessen nimmt man an, dass die Väter- und Exodus-, Wüstenwanderungs- und Landnahme-Erzählungen in einzelnen Zyklen tradiert wurden.79 Die Jakob-Laban-Sagen und wohl auch die Legenden von Jakobs Entdeckung der Heiligtümer Bet-El und Pnu-El haben ihre Wurzel in den Überlieferungen des Nordreichs Israel, die Isaak-Esau-Sagen sind mit dem Gebiet um Beer-Scheba verbunden und die Abraham-Lot-Sagen mit Hebron. Die Erzelternsagen wurden zu einer Geschichte von den Ursprüngen der Stämme Israels verbunden. Die Novelle von dem tragischen Geschick des Josef und seinem wundersamen Aufstieg zum Berater des Pharaos könnte in einer früheren Form als Erzählung für sich bestanden haben, jetzt ist sie mit der Väter- und Exodusgeschichte kompositionell verbunden. Ein weiterer vorexilischer Zyklus ist die Erzählung vom Exodus der Hebräer unter Führung des Mose und der Begegnung mit Jhwh am Gottesberg. Schließlich hat es auch eine vorexilische Wüstenwanderungs- und Landnahmeerzählung gegeben, von der Teile in Ex 15;17–18 und Num 13–14. 20 und im Josuabuch erhalten geblieben sind. Neben den epischen Zyklen gehen die Rechtssatzsammlungen des Bundesbuchs und des Deuteronomiums auf vorexilische Fassungen zurück.80 Der Dekalog, der die alleinige, bildlose Verehrung Jhwhs als des Gottes Israels fordert, ist unter dem Einfluss der deuteronomistischen Theologie vermutlich erst in exilischer Zeit formuliert worden; anstelle der Kultfeste tritt die Forderung der

76 77 78 79

Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Kaufmann, Religion of Israel. Vgl. hierzu Gertz, Abschied vom Jahwisten. Vgl. hierzu und zum Folgenden Blum, Komposition der Vätergeschichte; Ders., Studien zur Komposition des Pentateuch; Schmid, Erzväter und Exodus. 80 Zur Entstehung der Gesetzessammlungen in der Tora vgl. Otto, Gesetz.

122

2. Kapitel: Literatur

Einhaltung der Ruhe am siebten Tag, dem Sabbattag, in den Vordergrund. An der Annahme einer priesterschriftlichen Grunderzählung, die von Gen 1 bis Lev 9 rekonstruiert werden kann, halten viele Exegeten hingegen fest.81 Erst in nachexilischer Zeit seien einerseits Väter- und Exodus-Erzählung auf der Basis der priesterlichen Erzählung zusammengeführt worden. Das Motiv einer Landverheißung Gottes als Eid nicht allein an die Väter der Exodusgeneration, sondern schon an Abraham, Isaak und Jakob, verbindet diese Komposition mit der deuteronomistischen Landnahmeerzählung des Deuteronomiums und des Josuabuches (vgl. Gen 12,7; 13,15.17; 15,7.18; 50,24; Ex 13,5.11; Dtn 1,8; 6,10; 31,7; 34,4). Über die weisheitlichen mythischen Lehrerzählungen von Adam und Eva, dem Paradies, Kain und Abel oder einzelne Fragmente der Noah-Legenden oder die Legende vom Turmbau zu Babel hat man lange vermutet, dass sie den alten Quellen zugehören; in neuerer Zeit verstärkt sich der Eindruck, dass sie erst in später nachexilischer Zeit in die Urgeschichte eingefügt wurden. Die »Komposition des Hexateuch«, also die Zusammenstellung der Bücher Gen–Jos ist demnach das Werk von Schriftgelehrten der Zeit des Zweiten Tempels, vermutlich im 5. Jh. v. Chr. Mit der Einführung des Heiligkeitsgesetzes, welches sowohl Forderungen der Priesterschrift als auch des Deuteronomiums weiterführt, wird der sakrale Charakter der Mose-Tora betont. Sie dürfte wie auch die weitere Ausgestaltung der priesterlichen Vorstellungswelt und ihrer Gesetze in Num 1–10; 15; 17–19; 26–36 auf spätere priesterliche Bearbeiter zurückgehen, die dem Pentateuch im 4. Jh. v. Chr. im Wesentlichen seine endgültige Gestalt gegeben haben. Mit der steten neuerlichen Abschrift der Texte sind lange Zeit noch Glossen und Textvarianten in die Schriftrollen geraten, wie bei einem Vergleich des hebräischen Textes mit den alten Handschriften aus Qumran, dem Pentateuch der Samaritanergemeinde oder den frühen Bibelübersetzungen der Septuaginta, der Targume (jüdisch-aramäische Übersetzung) und der altlateinischen christlichen Übersetzungen noch erkennbar ist.

4.

Gesetze

Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) basiert auf alten Reihen von Rechtssätzen, die aus Fallbeispielen abgeleitet wurden (kasuistische Rechtssätze), welche von den Ältesten und Bürgern in den Stadttoren verhandelt wurden, z. B. Ex 21,18–22,16. Sie dienen dazu, Rache und persönliche Vergeltung durch geregelte Verfahren zu ver81 Zum Grundbestand dieses Überlieferungskreises rechnet man etwa folgende Texte: Gen 1,1–2,1; 5,1–28.30–32; 6,9–22; 7,6.11.13–16a.18–22.24; 8,1.2a.3b–5.13a.14–19; 9,1–19.28f.; 10,1–7.13–20.22–32; 11,10–32; 12,4b.5; 13,6.11b.12; 16,1.3.15f.; 17; 19,29; 21,2–5; 22,20–24; 23; 25,1–17; 25,19f.26b; 26,34f; 27,46; 28,1–9; 31,18; 35,9–16a.19f.22b–29; 36; 37,1f.; 46,6–27; 47,7–11.27f.; 48,2–7; 49,29–33; 50,12f.; Ex 1,1–5.7.13f.; 2,23–25; 6,2–13.16–20; 7,1–13.19f.22; 8,1–3.11–15; 9,8–12; 11,9f.; 12,1–12.28.37a.40–51; 13,1f.20; 14,1–4.8–10.15–18.21–23.26–29; 15,22f.27; 16; 17,1; 19,2a; 24,15b–18a; 25–29 (30–31); (35–39;) 40; Lev 8–9. Die weiteren priesterlichen Texte in Lev und Num scheinen später hinzugekommen zu sein; ob in ihnen noch Fragmente des ursprünglichen »Endes der Priesterschrift« enthalten sind, ist umstritten. Auch die hier aufgeführten Texte gehen nicht alle auf den gleichen Autor zurück. Zur neueren Forschungsdiskussion vgl. Hartenstein, 2015.

§ 8 Tora

123

meiden. Viele haben Parallelen in den altorientalischen Rechtssatzsammlungen der Assyrer und Babylonier, z. B. im Codex Hammurabi (18. Jh. v. Chr.). Anders als diese kennt das biblische Recht keine Verstümmelungsstrafen; der Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn etc.«, der eine Entsprechung von Tat und Strafmaß anstrebt (lat. talio), wird dahingehend interpretiert, dass in Fällen der Körperverletzung die Schadensersatzleistung dem Maß des dem Opfer zugefügten Schadens entsprechen soll (vgl. Ex 21,18–20). Die Form der apodiktischen Rechtssätze (vgl. Ex 21,12–17) hat seine Wurzeln in der weisheitlichen Belehrung von Verantwortungsträgern, wie wir sie schon im alten Ägypten finden. Vermutlich infolge der sozialen Krisen des 8. Jh.s v. Chr. und unter dem Eindruck der Propheten Amos und Jesaja hat man neben den Regeln für das Prozessrecht, welche auch den Gegner schützen (Ex 23,1–9) auch Schutzrechte für Witwen, Waisen, Fremde und Arme (personae miserabiles) in das Gesetz eingeführt (Ex 22,20–26) und es in den Rahmen religiöser Verpflichtungen gestellt (Ex 20,22–26; 23,10–19). Das Deuteronomium fordert in seinen Gesetzen die ausschließliche Verehrung Jhwhs (Dtn 6,4f.) an einem einzigen von diesem erwählten Kultort (Dtn 12) durch das eine, von ihm erwählte Volk (Dtn 16,1–17; 26,16–18; vgl. Dtn 7,6). Die Versorgung der sog. personae miserabiles, d. h. der Armen, Sklaven, Fremden und der levitischen Landpriester, wird verpflichtend (Dtn 14,27–15,11). Dem Sozialrecht liegt ein familiares Ethos zugrunde, nach welchem auch diejenigen, die sich wegen ihrer Schulden in den Sklavendienst begeben müssen, als »Brüder« (bzw. Geschwister) anzusehen sind (Dtn 15,12–18). Durch die Anfügung von Fluchandrohungen für den Fall der Nichteinhaltung der Gesetze (Dtn 28) erhält das Gesetz Züge, die an die Verpflichtungen in altorientalischen Verträgen erinnern. Allerdings tritt anstelle eines fremden Herrschers nun Jhwh selbst als derjenige auf, dem sich das Volk im Bund verpflichtet. Das deuteronomische Gesetz (Dtn 6,4f.; 12–26; 28) ist durch Dtn 5–11 und 27; 29–30 zu einem Text gestaltet worden, der auf Mose zurückgeführt wird. Der Bund zwischen Jhwh und Israel gilt als der durch ihn am Gottesberg Horeb vermittelte Bund (Dtn 5,3). Als grundlegender Orientierungstext liegt ihm der Dekalog zugrunde, dessen Einleitungssatz »Ich bin Jhwh, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt hat!« die Forderung der ausschließlichen Verehrung Jhwhs als Gott, das Bilderverbot und das Verbot des Missbrauchs des Gottesnamens, Sabbat- und Elterngebot sowie die Gebote zum Schutz des Lebens und der Unantastbarkeit des Besitzes und des Rechts als Freiheitsrechte ausweist. Durch die zweite Rahmenrede (Dtn 1–3; 31; 34) wird dieses Bundes-Gesetz in die Geschichte der Mosezeit eingeschrieben. Später wurde das Deuteronomium Teil der großen von Genesis bis Josua reichenden Erzählung des Hexateuchs. Die Erzählungen der Priesterschrift entwerfen das Bild einer durch die Schöpfung begründeten kosmischen Ordnung, in deren Zentrum die Einwohnung Gottes inmitten Israels steht (Ex 25,45f.), und die Frage nach der Möglichkeit eines gerechten und vollkommenen Lebens vor Gott (Gen 6,9; 17,1). In den Mittelpunkt gerückt werden die Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen als des Ebenbildes Gottes und damit verbunden das strikte Verbot des Blutvergießens und des Blutverzehrs in den Geboten an Noah (Gen 9,4–6). In einer Bundeszusage sichert

124

2. Kapitel: Literatur

Gott der Welt die Erhaltung des Lebens zu (Gen 9,12–17). Mit der Erschaffung des Lichts und der Ermöglichung des Lebens tritt das Gute in die Welt ein (Gen 1,4). An diese Erzählung knüpfen sich allerlei Ordnungen des kultischen Lebens, die vermutlich infolge der Verbindung mit den anderen Gesetzessammlungen und den sie begründenden Narrativen hinzugefügt wurden. Der Kultus soll sich an einem kosmischen Kalender orientieren, der sich nach dem Zyklus des Mondes richtet und alle sieben Tage eine Ruhe (hebr. schabat) für die Schöpfung und Gott vorsieht, eine heilige Zeit, in welcher die Arbeit unterbrochen wird (Gen 2,2f.). Der Ruhetag wird mit dem Namen des Vollmondtages als Sabbat (babyl. schapattu, hebr. schabbāt, Ex 20,11) bezeichnet. Zu den Vorschriften über die Ausstattung des Kultes und die Weihe der Priester werden Anweisungen über die Durchführung von Opfern in die Schrift eingefügt (Ex 25–31). Im Opfer drückt sich der Gedanke aus, dass der Mensch das, was er der Schöpfung entnimmt, ihr und dem Schöpfer symbolisch in einem Akt der vollkommenen Darbringung in einem Brandopfer (hebr. ‘olāh – »das Aufsteigende«; griech. holokauston – »vollkommene Opferung«) zurückerstattet. Zum anderen leistet er Genugtuung für seine Versäumnisse und Verfehlungen im Sündopfer.82 Schließlich treten Mensch und Gott mit dem Verzehr von Dankopfern gleichsam in eine Mahlgemeinschaft ein (Lev 1–7). Die Darbringung des Blutes im Opfer am Versöhnungstage dient zum Ausdruck der Erneuerung der Lebensgemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk (Lev 16). Die Speisegebote (Lev 11; Dtn 14) bilden Regeln hinsichtlich des Verzehrs von tierischer Nahrung, welche die Vermeidung des Verzehrs von Blut und aller verunreinigenden Berührung mit Totem und damit die Achtung vor dem Leben prinzipiell sicherstellen wollen. Dem dienen auch die hygienischen Vorschriften, welche die Berührung mit Blut oder Infektionskrankheiten und Verunreinigungen unterbinden sollen (Lev 12–15). Priesterliche Schriftgelehrte haben im sog. »Heiligkeitsgesetz« die deuteronomischen und die priesterlichen Vorschriften weiterentwickelt zu einer Lex sacra, welche die Heiligung des Lebensalltags und die Sakralisierung der Rechtsordnung ermöglichen sollten. Im Mittelpunkt steht eine Auslegung des Dekalogs (Lev 19), wonach die Heiligung Israels u. a. darin besteht, dass es in Rechtskonflikten jegliche Rache vermeidet und den Gegner wie den Fremdling als Nächsten anerkennt: »Du sollst deinen Nächsten/den Fremden lieben wie dich selbst!« (Lev 19,18.34). Der profane Verzehr von Fleisch wird untersagt (Lev 17,3–14), jegliche Gewaltausübung, insbesondere sexuelle Gewalt und Inzest werden verworfen (Lev 18; 20), die kultische religiöse Observanz rückt ins Zentrum der Lebensvollzüge (Lev 21–23). Die Solidarität mit den Armen ist so strikt einzuhalten, dass es nicht mehr zu Schuldsklaverei kommt; nach sieben mal sieben Jahren ist im fünfzigsten Jahr ein genereller Schuldenausgleich durchzuführen. Der Erlass wird durch das Blasen des JobelHorns angekündigt, daher die Bezeichnung »Jobel-Jahr«. Die Einhaltung des Sabbats erhält höchste Verbindlichkeit (Lev 21,1–3; 26,43; vgl. Ex 31,11–17). Wie auch das Deuteronomium endet diese Sammlung in einer Ankündigung von Segen und Fluch (Lev 26). 82 Vgl. dazu in diesem Band § 19 (»Opfer und Sühne«).

125

§ 8 Tora

Im Numeribuch werden die sakralen Gesetze weiter ausgeführt und mit Hinsicht auf die Bedingungen des Kultus und der Landverteilung des Verheißungslandes weiter ergänzt. Oft werden sie dabei assoziativ an Erzählungen angeschlossen. So ist etwa mitten in die Erzählungen von Israels Weigerung, Mose auf dem Weg der Landnahme zu folgen (Num 13–14; 16,12–15) eine Tora über Opfer, die man im Lande darbringen soll unter Einschluss von Opfern, welche man für die absichtliche oder auch unabsichtliche Nichtbefolgung von Geboten bringen muss, eingefügt worden (Num 15,1–31). Die Erzählung über die Rebellion gegen Aarons Position als Priester (Num 16–17) wird verbunden mit einer Tora über Priester und Leviten (Num 18) sowie – nach der Bestrafung der Rebellen – einer Tora über ein Reinigungsritual (Num 19).

5.

Theologie

Die Schriftgelehrten der Epoche des Zweiten Tempels haben die ihnen zugekommenen Texte immer wieder neu abgeschrieben, dabei unterschiedliche literarische Traditionen miteinander verbunden und ihrerseits neue Texte aus eigener Tradition hinzugefügt. So ist ein überaus reiches und vielstimmiges Werk entstanden, dessen unterschiedliche theologische Konzeptionen sich überlagern und die inneren Diskurse der israelitischen Kultusgemeinschaft widerspiegeln. In vielen der alten Erzählungen der Genesis bleibt über weite Passagen hinweg das Wirken Gottes verborgen. Nur in einzelnen speziellen Krisensituationen entsteht eine besondere Unmittelbarkeit, in der Gott durch sein Eingreifen eine Lebenswende bewirkt wie bei Hagar, Jakob oder Josef. In der Mose-Exodus-Erzählung wird die Gottesbeziehung durch Mose vermittelt, diesem Gott begegnet das Volk in der Erscheinung am Gottesberg, dieser ist es auch, der es in das Verheißungsland führt. Jhwh trägt Züge eines Gewitter- und Berg-Gottes, aber auch eines Kriegsgottes (Ex 15,3). Deutlich hat sich die deuteronomistische Theologie auf die Gestaltung der Stoffe ausgewirkt, Spuren einer früheren Religionsform, in der Jhwh als Oberhaupt eines Pantheons erscheinen konnte (vgl. Ps 29,1f.; 2Kön 23,4–14), werden verdrängt (vgl. Gen 31,19.31–35; 35,1–5). Das Deuteronomium fordert, dass Israel allein Jhwh als den einen Gott verehren soll und keine anderen Götter. Gott ist unmittelbar präsent in seinem Reden zu Mose und in seiner Wunder wirkenden Macht in Exodus und Landnahme. Am Gottesberg Horeb offenbart er durch Mose sein Gesetz, dem zu gehorchen das von ihm als heiliges Volk erwählte Israel in einem Bund verpflichtet wird (Dtn 7,6; 26,16–19). Seine Verheißung an die Israeliten aus Ägypten erfüllt er in der vollständigen Eroberung des Landes. Dieses kann Israel wieder verlieren, wenn es den Bund bricht. Jhwh ist der Gott des Bundes. Die Priesterschrift betont die universale Bedeutung Gottes als Schöpfer der Welt. Er erschließt sich den Völkern als Gott (hebr. ’ælohîm), den Vätern als der allmächtige Gott (hebr. ’el šaddaj), Mose aber mit seinem Namen Jhwh. Er verpflichtet sich selbst als Schöpfer im Noahbund zur Erhaltung der Welt (Gen 9) und in einem weiteren Gnadenbund mit Abraham dazu, diesem Nachkommen und Land zu gewähren (Gen 17) und nimmt von sich aus Wohnung in der Welt (Ex 29; Lev 9),

126

2. Kapitel: Literatur

indem er seine glanzvolle Herrlichkeit (hebr. kābôd) in Israels Mitte erscheinen lässt. Neben Mose, den Vermittler der Offenbarungen Gottes, tritt Aaron, der Priester. Die Hexateuchkomposition verbindet die ihr überkommenen literarischen Überlieferungen der Priesterschrift und der deuteronomistischen Bücher Dtn und Jos miteinander und ergänzt sie durch die alten, vorexilischen Erzählungen. Israel steht im Zentrum der Völkerwelt. Die Verheißung Jhwhs ergeht schon an Abraham; der Segen, der Israel verheißen ist, wird von Abraham her auch auf die Völker übergehen (Gen 12,1–3), den Gottesfürchtigen der Völker wird der Segen Israels zuteil (vgl. Gen 20,17; 39,5; Ex 1,20; 18,9–11; Dtn 29,10). Der Gnadenbund Gottes mit Abraham erhält den Charakter eines Eides, in welchem Gott sich selbst verpflichtet, Israel das Land zu geben (Gen 15). Gott offenbart sich Mose in besonderer Weise und verheißt seine rettende Gegenwart (Ex 3,14). Auch wenn Israel den Bund bricht, lässt Gott sich durch die Fürbitte des Mose bewegen, den Bund zu erneuern (Ex 34); das Bundesbuch erscheint als Gesetz des alten Bundes vom Gottesberg, das Deuteronomium als das Gesetz des neuerlichen Bundesschlusses von Moab. Die levitischen Priester verwalten die Tora und die Bundeslade, die zum Symbol für Gottes Gegenwart wird (vgl. Dtn 10,8f.; 31,9–12; Num 10,33.35–36). Selbst der große Seher Bileam kann den Segen nicht von Israel abwenden (Num 22–24). Gott erfüllt seine Verheißungen in der Landnahme unter Josua. Darüber hinaus wird Israel verheißen, dass Gott durch seine Propheten das Wort auch nach Mose an sein Volk richten wird (Dtn 18,15–18; vgl. Jer 1,9). Die Erweiterung der mosaischen Gesetze durch priesterliche Sakralgesetze verleiht der Tora des Pentateuchs ein besonderes Gewicht gegenüber allen weiteren prophetischen Schriften und auch gegenüber den Geschichtsbüchern. Theologisch werden die Akzente neu gesetzt. Israel wird als ein »Königreich von Priestern« das heilige Volk sein, wenn es den Bund hält (Ex 19,5f.). Die Verbindung aus Sakralgesetz und sozialen Ordnungen im Heiligkeitsgesetz dient dieser Heiligung, in seinem Zentrum steht die Achtung der priesterlichen Aufgaben und der kultischen Feste. Die Universalität der heiligen Ordnungen wird seit der Schöpfung durch den Sabbat markiert, der als heilige Zeit der Ruhe Gottes gilt, welche für Mensch und Tier lebenswichtig ist (Ex 31,12–17). Sabbat- und Jobeljahre gelten der Restitution der Lebensgrundlagen und gipfeln in einer allgemeinen Befreiung von Schulden (Lev 25). Wenn Israel den Bund bricht und die Sabbate nicht beachtet, so wird das Exil so lange dauern, bis die Sabbate nachgeholt sind (Lev 26,43). Die Beschneidung ist Zeichen der Zugehörigkeit zum Gnadenbund und zur Kultusgemeinde (Gen 17,9–13; Ex 12,4.8f.). Gottes kabôd ist manifest nicht über einem feststehenden Heiligtum, sondern über seinem Volk (Ex 13,21f.) und in der Offenbarung seines Willens an Mose, welche über allen weiteren prophetischen Offenbarungen steht (Ex 33,7–11; Dtn 34,10–12). Gottes Angesicht ist gegenwärtig in seinem Wort an Mose und bleibt doch unsichtbar (Ex 33,17-23). In der Theologie der späten priesterlichen Bearbeitungen ist Gottes Präsenz eng verbunden mit dem Wüstenheiligtum, der Wohnung (hebr. miškan),83 welches zugleich auch als Orakelstätte (»Zelt der Begegnung«) dient. Das Heiligtum wird nun

83 In der späteren jüdischen Theologie spricht man von der Schekhina, der »Einwohnung« Gottes in der Welt.

§ 8 Tora

127

vom Sinai mitgetragen durch die Priester, die Stämme scharen sich um dasselbe. Allein Aaron und seine Nachkommen sind berechtigt, das hohepriesterliche Amt des Opferdienstes auszuüben, die weiteren Leviten unterstehen ihnen als Clerus minor (Num 1–10). Aaron ist es auch, durch den das Wort des Mose weitergegeben wird (Ex 4,14–16), er ist es, durch den im Segenswort der Name Gottes auf Israel gelegt wird (Num 6,22–27), sein Stab blüht, sein hohepriesterliches Amt steht über den Führungsansprüchen der übrigen Fürsten Israels (Num 16–17). Unter der Aufsicht seines Nachfolgers wird durch göttliches Orakel das Land verteilt (Num 27; 33), der Landnahmekrieg erscheint als geradezu sakrales Geschehen (Num 31). Die Ämterund Kultordnung wird weiter ausgeführt (Num 18; 28–30) und so der Gedanke der Sakralisierung des Gesetzes durchgeführt. Das so entstandene Bild hat in den Chronikbüchern und in den außerkanonischen Toraschriften84 weitere Entfaltungen erfahren. Moses prophetische Rede gipfelt in einem Hymnus, der Gott als den Herrn der Welt und der Völker preist, der nach dem Exil seines Volkes dessen Erniedrigung beendet, die Völker für ihre Unrechtstaten zur Rechenschaft zieht (Dtn 32), und in einem großen Segenswort über Israel und den Priesterstamm Levi (Dtn 33). Die Tora ist die heilige Schrift Israels. Sie bildet die Grundlage der Verkündigung Jesu von Nazareth (Mk 12,29–31; Matth 5,17). Sie ist zugleich ein Buch der Weltliteratur und Lehrbuch eines universalen Ethos von der Würde des Menschen, das zur Wahrung des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung anleitet im Namen eines Gottes, von dem es heißt: »Jhwh kam vom Sinai und leuchtete vor ihnen auf vom Seir ... Der du die Völker liebst, ihre Heiligen alle sind in deiner Hand!« (Dtn 33,3)

Bibliographie Weiterführende Literatur Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräisch-deutsch) in der revidierten Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson, hg. von Walter Homolka, Hanna Liss und Rüdiger Liwak unter Mitarbeit von Susanne Gräbner und Daniel Vorpahl, Freiburg i. Br. 2015. Dietrich, Walter u. a., Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart 2014. Kratz, Reinhard Gregor, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments (UTB 2157), Göttingen 2000. Liss, Hanna, Tanach – Lehrbuch der jüdischen Bibel, Heidelberg 2005. Otto, Eckart, Das Gesetz des Mose, Darmstadt 2007. Römer, Thomas u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, Zürich 2013. Xeravits, Géza G./Porzig, Peter, Einführung in die Qumranliteratur, Berlin 2015. Zenger, Erich u. a., Einleitung in das Alte Testament. Neunte, aktualisierte Auflage, hg. v. Christian Frevel (Stb. Th. 1,1), Stuttgart 2016.

84 So im Jubiläenbuch und in einigen Schriften aus Qumran (Tempelrolle, Genesis-Apokryphon, 4Q Reworked Pentateuch), vgl. Xeravits/Porzig, Einführung in die Qumranliteratur.

128

2. Kapitel: Literatur

Ältere Werke Eichhorn, Johann Gottfried, Einleitung in das Alte Testament, 3 Bände, Leipzig 1780–1783. Gunkel, Hermann, Genesis übersetzt und erklärt, Göttingen 1901 (3. Aufl. 1910, ND 1977). Kaufmann, Yehezkel, The Religion of Israel, from its Beginnings to the Babylonian Exile (Ivrit), Jerusalem 1960. Noth, Martin, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Teil 1: Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Halle 1943. Ders., Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948. Wellhausen, Julius, Die Composition des Hexateuch, Berlin 1885 (3. Aufl. 1899; ND 4. Aufl. 1963).

Neuere exegetische Untersuchungen Blum, Erhard, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984. Ders., Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin 1990. Gertz, Jan u. a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin 2002. Hartenstein, Friedhelm u. a. (Hg.), Abschied von der Priesterschrift? Zum Stand der Pentateuchdebatte (VWGTh 40), Leipzig 2015. Schmid, Konrad, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments (WMANT 81), NeukirchenVluyn 1999.

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung Thomas Naumann, Siegen

1.

Biblische »Geschichtsbücher« – Das Problem der Benennung

Wer eine christliche Bibel aufschlägt, findet in der Regel die ersten siebzehn Bücher – von Genesis bis Ester – unter der Rubrik »Geschichtsbücher« angeordnet. Dadurch wird bei unvorbereiteten Lesern die Erwartung erzeugt, dass es in diesen Schriften vornehmlich um Darstellung von Geschichte, ja eigentlich um Geschichtsschreibung und historische »Tatsachen« gehen müsse. Zu denken gibt bereits, dass selbst das Buch Genesis mit seinem urzeitlichen Geschehen von Schöpfung und Sintflut, das doch aller Geschichte vorausliegt, unter die Rubrik »Geschichtsbücher« aufgenommen wird. Andererseits zeigt ein historischer Faktencheck zu alttestamentlichen Sachverhalten wie etwa zu Mose und dem Exodus oder zu David und dem frühen Königtum, dass biblische Texte oft nur wenig historisch verwertbare Nachrichten über die Personen und Ereignisse enthalten, die sie darstellen. Manche gläubige Menschen sehen sich an dieser Stelle herausgefordert, da sie meinen, nur durch historische Fakten verbürgte Texte könnten auch in einem theologischen Sinn relevant sein und »Wahrheit« vermitteln. Es lohnt sich also zu klären, in welchem Sinn in der Hebräischen Bibel auf Geschichte reflektiert wird und was die Kategorie »Geschichtsbücher« meint.

129

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

Betrachtet man den Aufbau der christlichen Bibel insgesamt, lässt sich eine heilsgeschichtlich orientierte Anordnung der einzelnen Schriftgruppen beobachten, die von der Schöpfung am Anfang bis zur Erwartung eines Neuen Himmels und einer Neuen Erde in der Johannesoffenbarung, dem letzten Buch der Bibel, führt. Dazwischen werden das Alte wie das Neue Testament durch diejenigen Schriften eröffnet, die sich mit Gottes Heilstaten in der Vergangenheit beschäftigen. Dann folgen Schriften der Unterweisung und des Gotteslobes und endlich Schriften der Zukunftserwartung und der Hoffnung auf Heil und Erlösung. Im Überblick:

Altes Testament

Neues Testament

Gottes Heilstaten in der → Vergangenheit

»Geschichtsbücher« (Genesis – Ester)

Evangelien, Apostelgeschichte

Lehrbücher, Gotteslob, Ethik, → Gegenwart

Psalmen und weitere Schriften

Briefe

Prophetie: Gottes Gericht, Heil und Erlösung → Zukunft

Prophetenbücher (Jesaja – Maleachi)

Johannesoffenbarung

Die Einordnung der Prophetenbücher am Ende des christlichen Alten Testaments hängt damit zusammen, dass prophetische Weissagungen auf Christus hin gedeutet worden sind, so dass jetzt auf die Ankündigung des endzeitlichen Propheten Elija in Mal 3,22 unmittelbar die Jesusgeschichte nach dem Matthäusevangelium folgt. Mit dieser heilsgeschichtlichen Anordnung der christlichen Bibel sollte deutlich gemacht werden, dass der Gott der Bibel nicht nur die Welt geschaffen hat und erlösen wird, sondern ihr fürsorglich zugewandt ist und vor allem im Raum konkreter geschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen wirkt. Der jüdische Kanon folgt einem anderen Aufbau. Selbstverständlich teilt die jüdische Tradition die biblische Auffassung von einem in der Geschichte wirksamen Gott, gliedert die heiligen Schriften aber nach dem Prinzip: Tora – Propheten – Schriften. Den grundlegenden Anfang bilden die fünf Bücher der Tora (5 Bücher Mose) als Weisung und Gesetz vom Berg Sinai. Diese Gebotsmitteilung (Halacha) ist literarisch eingebunden in eine große Frühzeiterzählung (Haggada), die von der Schöpfung bis kurz vor den Einzug in das »gelobte Land« reicht. Diese Ursprungserzählung hat in religiöser Hinsicht formativen Charakter und bildet Grundmuster jüdischer Identität und Beispiele religiösen Handelns aus, weshalb die ganze Tora in jedem Jahr im jüdischen Gottesdienst kursorisch gelesen wird. Die Propheten und die übrigen Schriften werden der Tora nachgeordnet und als ihre Auslegung und Erläuterung verstanden. Das Judentum hat nie den Versuch unternommen, die Schriften geschichtlichen Inhalts chronologisch zu ordnen, um einen zusammenhängenden geschichtlichen Geschehensbogen zu erhalten. Dieses andere Verständnis hat Folgen, denn die in der Tora erzählten Episoden werden weniger als historische Ereignisberichte aufgefasst, sondern vielmehr als identitätsstiftende Ursprungserzählungen. Interessanterweise werden in der jüdischen Tradition selbst typische »Geschichtsbücher« wie die Samuel- und die Königebücher als prophetische

130

2. Kapitel: Literatur

Schriften (»Vordere Propheten«) verstanden. Hinter dieser Benennung könnte die Erkenntnis stehen, dass es auch in diesen Schriften vor allem um theologische Deutung von geschichtlichem Geschehen geht, also um die Frage: Wie wirkt Gott? Und eine solche Geschichtsdeutung, die ein gewöhnlicher Beobachter der Zeitgeschichte nicht leisten konnte, war eine prophetische Aufgabe. Die Ursprünge der christlichen Kategorisierung »Geschichtsbücher« liegen in der Antike. Schon die ältesten griechischen Vollbibelhandschriften aus dem 4. und 5. Jh. n. Chr. lassen auf die Tora (»Gesetzbücher«) eine Reihe »Historiae« genannte Bücher folgen, die vom Buch Josua bis zu den Makkabäerbüchern reicht. Allerdings werden hier die fünf Bücher Mose wie in der jüdischen Tradition noch als »Gesetz« verstanden und nicht den »Historiae« zugerechnet. Einen Vorläufer für das Bedürfnis, biblische Bücher als Geschichtsschreibung zu verstehen, kann man in dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus sehen, der Ende des 1. Jh.s n. Chr. in seinem Werk »Jüdische Altertümer« die jüdischen heiligen Schriften in Auszügen nacherzählt und damit in »Geschichtsschreibung« nach hellenistischem Geschmack verwandelt. Während noch im Neuen Testament das (spätere) Alte Testament ganz im jüdischen Sinn als »Gesetz und Propheten« aufgerufen wird, formuliert Irenäus von Lyon im 2. Jh. n. Chr. erstmals eine christliche Theorie der Geschichte: »Das Alte Testament ist, so betrachtet, nicht mehr nur die Vorstufe zum Neuen, sondern Urkunde einer sich stufenweise ereignenden und erstreckenden Heilsgeschichte«,85 durch die Gott in gewisser Weise erzieherisch handelt. Erst bei Irenäus finden wir die gedanklichen Voraussetzungen dafür, den christlichen Bibelkanon in der uns vertrauten Weise heilsgeschichtlich anzuordnen. Dabei hängt der hier verwendete Begriff der »Geschichte«, der sich in der uns vertrauten Bezeichnung »Geschichtsbücher« wiederfindet, sehr stark mit einem theologischen Gesamtverständnis vom Wirken Gottes in der Welt zusammen, das Schöpfung und endzeitliche Erlösung mit einschließt. Er hat wenig mit dem zu tun, das wir heute »Geschichtsschreibung« nennen würden. Diese Erinnerung hilft uns, die Kategorie »Geschichtsbücher« in unseren christlichen Bibeln als eine an biblische Texte nachträglich herangetragene Kategorisierung zu verstehen, die geschichtstheologischen Absichten folgt und nicht mit modernen Vorstellungen von Geschichtsschreibung zu verwechseln ist.

2.

Alttestamentlicher Glaube und geschichtliche Erfahrung gehören zusammen

a)

Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur

Geschichtliches Bewusstsein entsteht überall dort, wo die eigene Existenz nicht mehr allein aus naturhaften Gegebenheiten abgeleitet, sondern als Konsequenz geschichtlicher Erfahrungen in der Vergangenheit gesehen wird, wobei Vergangenheit und Gegenwart als Ursache und Folge aufeinander bezogen werden. Es bildet

85 Gunneweg, Geschichtsbuch, 148.

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

131

sich dort, wo Menschen oder Gruppen über ihre eigene Herkunft nachdenken, ihre Ursprünge, die Erlebnisse ihrer Vorfahren oder prägende geschichtliche Erfahrungen weitererzählen und daraus Rückschlüsse auf ihr eigenes Leben in Gegenwart und Zukunft gewinnen. Auf diese Weise etabliert sich ein Verständnis von Geschichte als wechselvolle Abfolge vergangener Ereignisse, die in die eigene Gegenwart mündet. Die Kulturwissenschaften sprechen in diesem Zusammenhang von Erinnerungs- oder Gedächtniskulturen.86 Die eigene Identität wird durch Erinnerungen an vergangene Ereignisse bestimmt. Mit ihrer Hilfe werden Fragen beantwortet wie: Wer sind wir? Was macht uns aus? Wie sollen wir leben? Solche Fragen werden durch Erzählen vergangenen Geschehens so beantwortet, dass diese »Erinnerung« den Erfordernissen der eigenen Gegenwart entsprechen kann. Das wichtigste Instrument einer solchen auf die Gegenwart zielenden Erinnerungskultur in Israel ist das Erzählen. Israels Geschichtsbewusstsein prägt sich maßgeblich in der Prosaerzählung aus. Diese Erzählungen geschichtlichen Gehalts, die gern »Geschichtserzählungen« genannt werden, dienen aber nicht in erster Linie der Erforschung der Vergangenheit, sondern viel stärker der Orientierung in der Gegenwart. Es versteht sich von selbst, dass hier ein anderer Zugang zur Vergangenheit vorliegt als etwa in den modernen Geschichtswissenschaften, denen es um eine möglichst objektive Rekonstruktion vergangener Ereignisse geht. Wie stark die Erinnerung von Vergangenheit der gegenwärtigen Orientierung und Vergewisserung dient, zeigt sich prägnant in einigen Psalmen. Da ist mehrfach von Situationen die Rede, in denen Gott ganz fern und die Erfahrung seiner gegenwärtigen Nähe unmöglich erscheint. In dieser persönlichen Krise erinnern sich die Beterinnen und Beter an die Geschichten von den heilvollen Wundertaten Gottes in Israels Frühzeit, um ihr Vertrauen in Gott zu stärken. Im Erzählen vergangener Gotteserfahrungen wird Gott selbst beim Wort genommen und als der aus der Erzählung bekannte Retter beschworen, nun auch gegenwärtig und künftig wieder einzugreifen. Auf diese Weise wird ein Erinnerungsraum eröffnet, der die Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft zusammenschließt und neue religiöse Erfahrung und Hoffnung ermöglicht: »Was wir gehört und erfahren haben, was unsere Vorfahren uns erzählten, wollen wir den Kindern nicht verschweigen, sondern erzählen der künftigen Generation« (Ps 78,3–5 u. ö.). Dieses Zitat belegt zum einen die Bedeutung der mündlichen Kommunikation für die altisraelitische Erinnerungskultur. Zum anderen zeigt sich, dass die vergangenen Ereignisse durchlässig auf die jeweilige Gegenwart erzählt werden, nämlich so, dass sie jetzt religiöse Vergewisserung und Orientierung bieten können. Ganz in diesem biblischen Sinn heißt es später in der jüdischen Pesach-Haggada: »Jede Generation soll die Geschichte zum Auszug aus der ägyptischen Sklaverei so erzählen, als sei sie selbst dabei gewesen.« Auch diese Anverwandlung der Überlieferung an die Erfordernisse der eigenen Gegenwart steht in gewisser Weise konträr zu den Erfordernissen einer Geschichtsschreibung, die das Vergangene konservieren möchte.

86 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; Gilmour, Representing the Past.

132 b)

2. Kapitel: Literatur

Geschichte wird theologisch gedeutet

In der beschriebenen Weise ist ein Großteil der biblischen Erzählliteratur von einem starken Geschichtsbewusstsein und von einem großen Interesse an theologischer Deutung geschichtlichen Geschehens bestimmt, so dass man das Alte Testament insgesamt gern als Geschichtsbuch beschrieben hat. Schon das Urbekenntnis zum Gott Israels, der sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreit und weiter auf seinem geschichtlich wechselvollen Weg in seiner konkret erfahrenen Geschichte begleitet hat, zeigt dies zur Genüge. Und die biblisch mehrfach bezeugte Aufforderung, immer wieder davon zu erzählen, belegt die zentrale Stellung einer solchen Erinnerungskultur für den altisraelitischen Glauben. Der Gott der Bibel ist einer, der in der Geschichte wirkt. Dass Götter aktiv ins Weltgeschehen eingreifen und daher Geschichte gestalten, ist für die antiken Erinnerungskulturen selbstverständlich. Moderne Menschen, denen es ungleich schwerer fällt, Gottes Handeln im geschichtlichen Ablauf zu identifizieren, verblüfft die Selbstverständlichkeit und Sicherheit, mit der biblische Erzähler Gott als Handlungsperson aktiv in das Weltgeschehen eingreifen lassen. Da aber auch in biblischer Zeit Gottes Handeln in der Welt nicht einfach von Menschen beobachtet werden konnte, wird hierbei sehr deutlich, dass es sich nicht um Beschreibungen geschichtlicher Abläufe handelt, sondern um theologische Deutungen geschichtlichen Geschehens. Solche theologischen Deutungen von Geschichte sind das hervorstechendste Kennzeichen biblischer Literatur und keinesfalls nur auf die Geschichtserzählungen begrenzt, sondern finden sich auch in Psalmen und vielfach in der Prophetie. Die frühen Schriftpropheten des 8. Jh.s v. Chr. (Amos, Hosea, Jesaja) deuten unter dem Eindruck der assyrischen Krise ihre eigene Zeitgeschichte als Unheil und Folge der Verschuldung Israels und stellen sie einer heilvolleren Frühzeit gegenüber. Daraus resultiert ein Doppeltes: einerseits oft düstere Zukunftsperspektiven, andererseits aber auch die Möglichkeit neuer Hoffnung, weil der Weg Gottes mit seinem Volk doch nicht plötzlich zu Ende sein wird (Am 3,4–8; Hos 11; Jes 28,21.29). Im Mittelpunkt dieser Geschichtsdeutung steht die Beziehung Jhwhs zu seinem Volk im Horizont geschichtlicher Ereignisse. Es könnte sein, dass die frühe Schriftprophetie einen wesentlichen Beitrag zu einem theologischen Geschichtsverständnis geleistet hat, das dann auch die erzählenden »Geschichtswerke« bestimmt. c)

Formen, Medien und Gelegenheiten altisraelitischer Erinnerungskultur

Die Orte solcher geschichtlichen Erinnerungen sind zum einen die Familien in der Kontinuität der Generationen, in denen die Eltern ihren Kindern erzählen, zum andern die religiösen Feste und besonders die Heiligtümer, der Königshof und die Schreiberschulen, in denen Erinnerungen an die Vergangenheit öffentlich gepflegt und artikuliert werden. Und selbstverständlich wandeln sich Erinnerungs- und Vergangenheitsbilder, je nachdem, wer wann und mit welchem Interesse die geschichtli-

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

133

chen Überlieferungen re-formuliert. Die Medien altisraelitischer Erinnerungskultur gehören in erster Linie zur mündlichen Kommunikation in einer Gesellschaft, in der Schrifterwerb und Schriftgebrauch nur einer kleinen gesellschaftlichen Elite vorbehalten waren. Ihre Anlässe sind vielfältig: Vergangenheitserzählungen haften an konkreten Orten, Namen, geographischen Gegebenheiten, Bräuchen, Ritualen, Festen oder werden durch die großen theologischen Fragen nach dem Sinn von Zerstörung und Leid oder nach der Anwesenheit und Erfahrbarkeit Gottes im Ablauf der Welt hervorgebracht. Die narrative Erinnerung in Israel liebt es, Fragen der Gegenwart durch das Erzählen von allerlei Ursprungsgeschichten verständlich zu machen und zu beantworten. Keineswegs immer ist in diesen Erzählungen ein historischer Ereignis- oder Erinnerungskern auszumachen, an den sich dann die spätere narrative Ausgestaltung nur noch angelagert hätte. Neben dem Erzählen ist das Aufzählen von familiären Stammbäumen (Genealogien) ein wichtiges Mittel der Erinnerung, zumal in einer Gesellschaft, deren Sozialstruktur vor allem auf Verwandtschaftsverhältnissen beruht. So erzählt man sich den Ursprung des eigenen Volkes als Familiengeschichte Jakobs und seiner zwölf Söhne ebenso wie den Ursprung der ganzen Menschheit und der Völker als Familiengeschichte Noahs und seiner Söhne. Alttestamentliche Schriften gründen in dieser mündlichen Erinnerungskultur, sind aber nicht mit ihr identisch, sondern bilden nur denjenigen Teil, der zu bestimmten Zeiten durch gesellschaftliche Eliten aufgeschrieben wurde. So kennen wir nur die schriftlichen und letztlich kanonischen Endprodukte der altisraelitischen Erinnerungskultur und können Fragen nach ihrem Entstehen und ihren Verzweigungen oft nicht mit Sicherheit beantworten. Das starke Bewusstsein dafür, dass sich die Vergangenheit in konkreten und wechselvollen geschichtlichen Ereignissen zeigt, sorgt dafür, dass die biblischen Vergangenheitsdarstellungen keine typisierten religiösen Exempel bieten. Vielmehr schildern sie einmaliges, unverwechselbares und nicht wiederholbares Geschehen einer geglaubten Vergangenheit, Menschen aus Fleisch und Blut in ihren konkret gelebten Leben. Sie tun dies aber in einer für Gegenwart und Zukunft der jeweiligen Erzählgemeinschaft orientierenden und daher paradigmatischen Weise.

3.

Von der mündlichen Erinnerungskultur zur Geschichtsschreibung

Zu den Gattungen mündlicher Erinnerungskultur gehören vor allem kürzere und längere Prosaerzählungen (Sagen, Legenden, Anekdoten, Novellen usw.) sowie listenartige Aufzählungen (z. B. Genealogien). Diese erzählenden Gattungen sind auch in großem Umfang in die Werke altisraelitischer »Geschichtsdarstellung« aufgenommen worden. Interessanterweise ist die in der Hebräischen Bibel dominierende Prosaerzählung in den altorientalischen Umweltkulturen gerade keine typische historiographische Gattung. Dort finden sich eher aufzählende Listen, Annalen, königliche Kriegs- und Bauberichte usw. auf der einen oder mit Mythen aufgeladene und rhythmisch kunstvoll geformte Epen auf der anderen Seite. Das ist in der Hebräischen Bibel anders. Hier bestimmt die Gattung der Prosaerzählung, die einer

134

2. Kapitel: Literatur

mündlichen Gedächtniskultur entstammt, in einem Umfang die Vergangenheitsdarstellung, wie wir sie erst wieder in der griechischen Historiographie bei Herodot im 5. Jh. v. Chr. antreffen. Wir wissen allerdings nicht, ob und wann die biblischen Vergangenheitsdarstellungen in erzählender Form explizit in den Dienst einer an der Vergangenheit orientierten Geschichtsschreibung gestellt wurden. Im Grunde gilt, was sich auch im ethnographischen Vergleich mit anderen Erinnerungskulturen zeigt: Als Vergangenheit gilt, was (durch angesehene Instanzen) erzählt wird. Auch der Schritt von einer mündlichen Erinnerungskultur zur Schriftlichkeit und zu einer narrativen Vergangenheitsdarstellung (Geschichtsschreibung) ist nicht selbstverständlich. Vermutlich liegen ihre Anfänge in der frühen Königszeit. Am Königshof wurden sicherlich Annalen von Regierungszeiten (vgl. 1Kön 14,19.29; 15,15; 16,5 u. ö.) sowie Beamtenlisten (2Sam 8,16–18; 20,23–26 u. ö.) oder summarische Aufzeichnungen zu Kriegszügen (2Sam 8) geführt. Gut denkbar, dass im Umfeld des Hofes auch mündliche Überlieferungen geschichtlichen Gehalts aufgeschrieben und zu größeren Erzählwerken komponiert wurden.87 Während die ältere Forschung die großen schriftlichen Erzählwerke, das sog. Jahwistische Erzählwerk und die zeitgeschichtlich orientierte Thronfolgeerzählung Davids (*2Sam 9–1Kön 2) bereits in die Zeit Salomos (10. Jh. v. Chr.) datiert hat,88 geht man aufgrund archäologischer Befunde und literaturgeschichtlicher Analysen heute überwiegend davon aus, dass es zu einer größeren Literaturproduktion im antiken Israel erst ab dem 9. Jh. und im antiken Juda erst ab dem 8. Jh. v. Chr. gekommen ist. Im Hinblick auf die Entstehung einer im engeren Sinn zeitgeschichtlich orientierten Vergangenheitsdarstellung (Geschichtsschreibung) im Umkreis des judäischen Königshofes werden gegenwärtig vor allem drei verschiedene Modelle diskutiert: Walter Dietrich rechnet damit, dass etwa um 700 v. Chr. am judäischen Königshof in Jerusalem ein erstes, noch vordeuteronomistisches großes Erzählwerk über die Frühzeit des Königtums entstand. Ihm sei es nach dem Untergang des Nordreichs (722 v. Chr.) darum gegangen, nordisraelitische und judäische Königsüberlieferung so miteinander in Beziehung zu setzen, dass die Legitimität der Jerusalemer Dynastie deutlich hervorgehoben wird, gleichwohl aber auch die nordisraelitischen Königstraditionen im Interesse eines neuen Verständnisses von Gesamtisrael integriert werden. In dieses »Höfische Erzählwerk« seien aber ältere »Geschichtserzählungen« aus dem Umkreis des Königshofes aufgenommen worden, die noch zeitgeschichtliches Kolorit atmen. Dieser Ansatz, mit einem vordeuteronomistischen Erzählwerk zu rechnen, dieses aber erst nach 722 v. Chr. zu datieren, trifft auf breitere Akzeptanz. Dem gegenüber sieht Ina Willi Plein in 1Sam 18–2Sam 21 sowie 1Kön 1f* einen durchlaufenden Erzählzusammenhang, den sie als »Davidhausgeschichte« bereits in das 9. Jh. v. Chr. datiert, dessen Entstehung sie aber nicht am judäischen Königshof verortet. Ein Zweig der Forschung bestreitet allerdings, dass es vor dem deuteronomistischen Geschichtswerk aus exilischer Zeit überhaupt ein zusammenhängendes, größeres Erzählwerk als »Geschichtswerk« gegeben habe.

87 Dietrich, Frühe Königszeit, 230–236. 88 Zum Beispiel von Rad, Anfang der Geschichtsschreibung.

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

4.

135

Umfangreichere »Geschichtswerke« im Alten Testament

Politische Geschichtsschreibung ist häufig das Phänomen einer Krise. In der Geschichte Israels bildet die assyrische Krise (ca. 740–650 v. Chr.), die zur Zerstörung des wirtschaftlich und politisch starken Nordreichs Israel und zur Eingliederung des unterworfenen Juda in das assyrische globale Wirtschaftssystem führte, vermutlich einen ersten starken Impuls zur Entstehung größerer Erzählwerke. Diese waren zum einen mythisch an den Ursprungserfahrungen der Volkwerdung interessiert wie die im Pentateuch enthaltenen Erzählwerke oder zeitgeschichtlich-politisch orientiert wie die judäischen und israelitischen Königsüberlieferungen in den Büchern Samuel und Könige. »Der Untergang Israels, der einerseits eine geistig-religiöse Krise bewirkte, andererseits für den Süden einen politisch-kulturellen Aufschwung brachte, wird zum Ausgangspunkt einer Israel und Juda verbindenden Geschichtsschau und einer mittels Geschichtsreflexion begründeten, gesamtisraelitischen Identität«.89 Zu eher zeitgeschichtlich-politisch orientierten Erzählwerken gehören in der Bibel vor allem das deuteronomistische und das chronistische »Geschichtswerk« und aus dem Bereich der deuterokanonischen Literatur die beiden Makkabäerbücher, die an der Geschichte der Hasmonäer (175–134 v. Chr.) und besonders dem Makkabäeraufstand interessierte Erzählungen bieten. Alle diese Werke sind nach ihrer formalen Seite vor allem Erzählwerke. Vergangenheit wird durch das Erzählen von Geschichten erinnert. Daher ist in formaler Hinsicht eine Trennung zwischen Erzählwerken (Jahwist, Priesterschrift) und Geschichtswerken (DtrGW, ChrGW) nicht möglich. Der in der Wissenschaft häufig verwendete Ausdruck »Geschichtswerk« oder »Geschichtserzählung« zeigt zunächst nur, dass es sich um Erzählungen über geschichtliche Ereignisse handelt, und behauptet noch nicht das historiographische Interesse dieser Erzählungen. Ein historiographisches Interesse zeigt sich vor allem dann, wenn die überlieferte Geschehensdarstellung in ein größeres Konzept der Geschichtsdeutung eingebunden ist. Dies ist am ehesten in den beiden »Geschichtswerken« der Fall, die jetzt kurz vorzustellen sind: a)

Das deuteronomistische Geschichtswerk (DtrGW)

Die These, dass die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige ein zusammenhängendes »Geschichtswerk« aus der Exilszeit bilden, in dem die Vergangenheit im Geist des Deuteronomiums gedeutet wird, stammt von Martin Noth und hat sich trotz einer Vielzahl von Modifikationen im Grundsatz bewährt. Das DtrGW führt seine Geschehensdarstellung unter Aufnahme älterer Überlieferungen von der Eroberung des verheißenen Landes bis zum Untergang des judäischen Staates 587 v. Chr. (2Kön 25), also bis in die exilische Gegenwart der dtr »Geschichtsschreiber«. Dabei orientiert sich die dtr Geschichtstheologie an prophetischen Geschichtsdeutungen und sieht in der politischen Geschichte des Königtums die Geschichte eines Verfalls, eines

89 Witte, Art. »Geschichte/Geschichtsschreibung«, 3.1.2.

136

2. Kapitel: Literatur

zunehmenden Verrats an dem durch Propheten vermittelten göttlichen Gebot. Das DtrGW kann als Rückblick im Zorn auf den gescheiterten judäischen Staat gelesen werden. Es sind besonders das Gebot zur Alleinverehrung Gottes und das Verbot, andere Gottheiten zu verehren, an dem in den Augen dieser dtr Geschichtsdeuter alle nordisraelitischen Könige und mit wenigen Ausnahmen (v. a. David, Hiskija, Joschija) auch die judäischen Könige gescheitert sind. Für sie ist daher der Untergang des Nordreichs und auch des Südreichs Juda Ausdruck eines göttlichen Willens, die Folge eigener Schuld. Dabei stört diese dtr Geschichtsschreiber keineswegs, dass sie ein theologisches Kriterium zur Beurteilung der älteren Überlieferung in Anschlag bringen, das erst in ihrer exilischen Gegenwart von Bedeutung war. Das macht ihr Vorgehen in unseren Augen letztlich anachronistisch, entspricht aber genau dem schon erwähnten Bedürfnis, Vergangenes aus der Perspektive der Gegenwart anzuschauen, damit das Vergangenheitsbild seine orientierende Wirkung entfalten kann. Darüber hinaus bestimmen die Diskurse über die Legitimität von Königtum und Dynastie sowie die Rolle der Propheten gegenüber dem Königtum die dtr Geschichtsdeutung.90 Über die konkrete Vorgehensweise einer solchen Geschichtsschreibung lässt sich Folgendes erkennen: Ihre Kenntnisse verdanken die Deuteronomisten vor allem schriftlichen Überlieferungen, die sie einer durchgreifenden theologischen Deutung aus der Perspektive ihrer Gegenwart unterziehen. Dabei greifen sie stark in den überlieferten Textbestand ein, formulieren wenn nötig größere Passagen selbst. Vor allem legen sie den großen Gestalten der Überlieferung (Mose, Josua, Samuel) lange Reden im dtr Geist in den Mund und machen sie dadurch zu Sprechern ihrer eigenen exilischen Theologie (Jos 24; 1Sam 8; 12). Auf der anderen Seite gibt es längere Erzählpassagen ohne dtr Deutungen. Diese Texte scheinen zu älteren Überlieferungskomplexen zu gehören, bei denen die dtr Geschichtsschreiber eine Bearbeitung nicht für nötig erachtet haben. Im DtrGW finden sich zudem Hinweise auf benutzte schriftliche Quellen: So wird in 2Sam 1,7 ein »Buch des Aufrechten« erwähnt. Besonders bei den recht stereotypen Beurteilungen der Könige ab Salomo lässt sich sehr gut erkennen, dass offenbar königliche Annalen verwendet werden konnten, in denen die Regierungszeiten der Könige Israels und Judas und eine Reihe ihrer Taten knapp und listenartig vermerkt waren. Aus diesem Werk werden nur Auszüge geboten (vor allem die Regierungsdaten), die aber mit kräftigen, oft negativen Beurteilungen aus der Sicht der Deuteronomisten verbunden werden.91 Im Hinblick auf einen theologisch durchreflektierten Umgang mit der Überlieferung unterschiedlicher Epochen, die in eine geschichtliche Abfolge gebracht und

90 Dietrich, Die Vorderen Propheten, 265–68. 91 Vgl. die häufige formelhafte Wendung in 1Kön 14,29 u. ö.: »Und was sonst noch von XY zu berichten ist und von allem, was er getan hat, steht das nicht geschrieben im Buch der Chronik/Annalen der Könige von Juda?« Hier ist schön zu erkennen, dass die Deuteronomisten nicht alles geschichtliche Material, das ihnen offenbar vorlag, für ihre eigene Darstellung nutzten, sondern nur solches, das ihnen für die Zwecke ihrer Darstellung geeignet erschien.

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

137

mit einer klaren geschichtstheologischen Idee bearbeitet wurden, stellt das DtrGW in der Exilszeit das älteste Geschichtswerk im Alten Testament dar. Als »Geschichtsschreibung« kann es nur in dem Sinn gelten, dass durch die Anordnung verschiedener Vergangenheitserzählungen und durch die starke geschichtstheologische Bearbeitung der Überlieferung ein klares Bild der Vergangenheit erzeugt wird, das hilft, die eigene exilische Gegenwart als Folge der Schuld der Altvorderen zu verstehen. b)

Das chronistische Geschichtswerk (ChrGW)

Dieses Werk besteht gemäß der klassischen These von Martin Noth aus den beiden Chronikbüchern und den Büchern Esra und Nehemia. Allerdings wird der literarische Zusammenhang zwischen den Büchern Chronik und Esra/Nehemia heute zunehmend bestritten. Das ChrGW wird in die spätpersische oder frühhellenistische Zeit datiert (4. Jh. v. Chr.) und bietet eine ganz auf die nachexilische Tempeltheokratie in Jerusalem orientierte Ereignisdarstellung, welche die Neuordnung der nachexilischen Kultgemeinde (Esra/Nehemia) mit einschließt. Die Bücher der Chronik beginnen bei der Schöpfung und stellen die »Urzeit« bis zu König Saul in Gestalt genealogischer Listen dar, weshalb die Mose-, Exodus- und die Wüstenüberlieferung gar nicht erscheinen. Im Vergleich zum DtrGW, das der Chronist vielfach benutzt, fällt eine starke priesterliche Perspektive ins Auge: Der Bau des Tempels wird sehr ausführlich geschildert und die judäischen Könige David und Salomo stark religiös idealisiert. Negative und zweifelhafte Züge fehlen ganz (z. B. Davids Ehebruch). Die übrige judäische Königszeit wird unter dem Aspekt der Verschuldung dargestellt, die nordisraelitische Geschichte vollständig übergangen. Die Perspektive ist ganz auf Jerusalem und den Tempel bezogen. Die Bücher Esra und Nehemia stellen Überlieferungen zusammen (Listen, Berichte, Erzählungen), in denen es um die Rückkehr aus dem babylonischen Exil, um die politische, bauliche und religiöse Neuordnung Jerusalems unter persischer Oberhoheit geht. Auch in diesem Geschichtswerk dominiert die theologische Geschichtsdeutung der vorliegenden literarischen Überlieferungen. Anders als das DtrGW, aber ähnlich wie die Priesterschrift, verbinden die Chronikbücher Ursprungsmythos (Schöpfung) und Zeitgeschichte. In der Chronik kann man den souveränen Umgang mit den vorliegenden Quellen im Dienst der eigenen Darstellungszwecke recht genau studieren. Zwar sind die Samuel- und Königebücher dem Chronisten bekannt, doch werden schon diese sehr selektiv und mit unterschiedlicher Genauigkeit benutzt. Und Überlieferungen, die dem eigenen Geschichtsbild widerstreben, werden einfach beiseitegelassen. In die Bücher Esra und Nehemia sind unterschiedliche Quellen mit zeitgeschichtlichem Kolorit (z. B. Heimkehrerlisten; die sogenannte »Denkschrift Nehemias«) aufgenommen worden.

5.

Biblische Geschichtsschreibung und historische Fakten

Moderne Geschichtswissenschaft hat den Anspruch, unter Nutzung und Prüfung aller verfügbaren Quellen historisch wahrscheinliche Bilder historischer Ereignisse

138

2. Kapitel: Literatur

zu rekonstruieren, das Wahrscheinliche vom weniger Wahrscheinlichen abzugrenzen und unsachgemäße Geschichtsbilder, die sich häufig in der allgemeinen Erinnerung abgelagert haben, zu kritisieren und zu modifizieren. Ein solches Bedürfnis ist der biblischen »Geschichtsschreibung« ganz fremd. Zwar orientiert sich biblischer Glaube grundlegend im Erzählraum überlieferter und geglaubter Geschichte. Diese Erzählungen sind aber, wie wir gesehen haben, keine Archive, in denen sich Erinnerungen zuverlässiger Augen- und Ohrenzeugen durch die Jahrhunderte erhalten haben. Die Gedächtniskultur, der diese Erzählungen entstammen, ist an gegenwärtigen Bedürfnissen interessiert und nicht an der Frage, wie es einst wirklich gewesen ist. Die biblischen Erzähler sind sich ihres zeitlichen Abstands zu den geschilderten Ereignissen bewusst, legen sich aber nicht die Beschränkungen eines Berichterstatters auf, sondern formulieren oft aus der Position eines allwissenden Erzählers, der auch die Dinge lebendig zu schildern vermag, die niemand wissen kann. Die Frage, ob eine Erzählung historisch zutreffend erzählt oder nicht, wird im Alten Testament nirgends gestellt, geschweige denn diskutiert. Eine die Überlieferung prüfende und ihren historischen Wahrheitsgehalt bewertende Geschichtsschreibung entsteht erst im antiken Griechenland mit Herodot und Thukydides. Egal, was und wie erzählt wird, ob supranaturalistische Wunder oder realistische und historisch prinzipiell vorstellbare Sachverhalte, alles Erzählen ist in den biblischen Texten eingebunden in einen selbstverständlichen Wahrheitsanspruch des Erzählens, der die Unterscheidung von historisch wahrscheinlich oder unwahrscheinlich noch nicht kennt. Selbst unterschiedliche und sogar einander ausschließende Ereignisdarstellungen führen bei der Redaktion der schriftlichen Erzählwerke nicht dazu, dass sich die Redaktoren und »Geschichtsschreiber« für nur eine Sicht der Dinge entscheiden, sondern dazu, dass selbst einander widersprechende Überlieferungen kommentarlos nebeneinander Aufnahme finden. So wird der Sieg über den Philister Goliat in den Samuelbüchern einmal dem jungen David (1Sam 17), ein anderes Mal einem Elhanan aus Betlehem (2Sam 21,19) zugeschrieben. Und auf welche Weise Saul König über Israel wurde oder David als Jüngling an Sauls Königshof gelangte, darüber stehen jetzt konträre Überlieferungen nebeneinander. Gewiss steht hinter den großen Erzählwerken die Absicht, durch das Zusammenstellen von Erzählungen mit geschichtlichen Gehalten ein Vergangenheitsbild zu konstruieren, das den Anliegen dieser Autoren entspricht und das zeigt, wie der Gott Israels im Raum der konkreten Geschichte wirkt. Aber es ist doch sehr die Frage, ob der Begriff »Geschichtsschreibung« dafür angemessen ist, weil er das Interesse unterstellt, es gehe hier um sachgemäße Darstellung historischer Ereignisse, um Archivierung oder um ein Interesse an der Vergangenheit um ihrer selbst willen. Es lohnt sich, noch einmal an den griechischen Gelehrten Herodot von Halikarnassos zu erinnern, der mit Recht als »Vater der Geschichtsschreibung« gerühmt wird. Angesichts der griechischen Perserkriege im letzten Drittel des 5. Jh.s v. Chr. legt er eine große Darstellung der jüngeren (Welt-)Geschichte vor. Sein im Vorwort geäußertes Ziel ist es, die Staunen erregenden menschlichen Leistungen vor dem Vergessen zu bewahren und angesichts der gegenwärtigen Kriege Gründe dafür zu finden, weshalb Menschen Kriege führen. Auch Herodots Werk ist ein großes und

§ 9 Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung

139

fabulierfreudiges Erzählwerk, das zu einem nicht geringen Teil in der Aufnahme erzählter Überlieferungen besteht, die dem Autor u. a. auf seinen Reisen zur Kenntnis gelangt sind. In der Aufnahme von Erzählungen aus den Archiven des mündlichen oder schriftlichen Gedächtnisses ist er den biblischen Erzählwerken vergleichbar. Ein Unterschied liegt jedoch vor allem darin, dass Herodot das von ihm erzählte Material selbst prüft, vergleicht und auch im Hinblick auf die Plausibilität des Erzählten bewertet. Er tritt als Autor zu seinem Material in eine »kritische« Distanz, die es ihm erlaubt, die eine Überlieferung für plausibel, die andere für nicht plausibel zu erklären. Diese Haltung ist in den biblischen Erzählwerken so nicht zu finden,92 sie ist aber m. E. konstitutiv für einen engeren Begriff von Geschichtsschreibung, wenn Geschichtsschreibung mehr ist als die Zusammenstellung, Bearbeitung und Deutung überlieferten Materials geschichtlichen Gehalts, wie wir dies etwa im DtrGW finden. Da die Erzähltexte die Art und den Grad ihrer Referentialität auf außertextliches Geschehen nicht zeigen, gelingt es nur manchmal, wenn außerbiblische Quellen zur Verfügung stehen, den Bezug auf geschichtliche Ereignisse genauer zu untersuchen. Dies ist für die Überlieferungen der Königszeit deutlich leichter als für die Überlieferungen des Pentateuchs und der vorstaatlichen Zeit (Jos, Ri). In manchen Königsüberlieferungen werden viele historische Namen verwendet und Gegebenheiten geschildert, die sich ins historisch ermittelte Bild fügen. Hier lassen sich durchaus zeitgeschichtliche Interessen postulieren. Dies gilt auch für die »biographischen Anteile« des Jeremiabuches. Aber der Nachweis historischer Zuverlässigkeit kann nur im Einzelfall erbracht werden. In der älteren Forschung galten bereits realistische Darstellung und Figurenzeichnung, der Verzicht auf übernatürliches göttliches Eingreifen, namentliches Interesse an Nebenfiguren und die prinzipielle historische Vorstellbarkeit des Erzählten (Stimmigkeit des geschilderten Milieus) als Ausdruck eines historiographischen Darstellungsinteresses des Erzählers, der dann gern »Berichterstatter« oder »Historiker« genannt wurde (z. B. von G. von Rad). Doch sind dies keineswegs zuverlässige Kriterien, um Fakt und Fiktion in den biblischen Erzählungen sicher voneinander zu trennen.

6.

Zusammenfassung

Wie wir gesehen haben, muss jeweils genau geprüft werden, was der Begriff »Geschichte« in seinen verschiedenen Wortbildungen bedeutet. Deshalb haben wir die Kategorie der »Geschichtsbücher« in unseren Bibeln ebenso untersucht wie das Verhältnis von Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur im Alten Israel oder die Art des Umgangs mit der Vergangenheit, die für Formen biblischer Vergangenheitsdarstellung bzw. »Geschichtsschreibung« relevant sind. Für den biblischen Glauben ist ein starkes Geschichtsbewusstsein grundlegend. So wird immer wieder erzählt, wie Gott in der konkreten, unverwechselbaren und einmalig ablaufenden Geschichte ge-

92 Blum, Stimme des Autors.

140

2. Kapitel: Literatur

wirkt hat und wirkt. Vergangenes Geschehen wird dabei nicht nur erzählt, sondern theologisch gedeutet. Wie in anderen Gedächtniskulturen ist Vergangenheit vor allem dasjenige, was (von angesehenen Instanzen) über sie erzählt wird. Neben einfachen Aufzählungen (Genealogien) ist die freie Prosaerzählung (oft in der Perspektive erzählerischer Allwissenheit) die häufigste Gattung zur Etablierung von »Vergangenheitsbildern« in der hebräischen Bibel. Geschichte ist dabei dasjenige Bild einer geglaubten Vergangenheit, das Gottes (heilvolles) Handeln besonders sichtbar macht und das für die Gegenwart eine grundlegende und orientierende Funktion einnehmen kann. Überhaupt ist die jeweilige Gegenwart, von der aus erzählt wird, der entscheidende Bezugspunkt aller Vergangenheitserzählungen, weil es ihnen stets untergründig um Gegenwart und Zukunft geht. Dabei spielen die Fragen der historischen Wahrscheinlichkeit keine erkennbare Rolle, und offensichtliche Anachronismen werden nicht als solche wahrgenommen. Die biblische Geschichtsdarstellung kennt, im Unterschied etwa zu Herodot, keine Plausibilitätsprüfung der Überlieferung. Vielmehr wird ein Bild der Vergangenheit gestaltet und entworfen, das die vorliegenden Überlieferungen mit den jeweiligen Erfordernissen der Gegenwart verbindet. Eine eher zeitgeschichtlich orientierte »Geschichtsschreibung« im Sinne einer listenartigen Aufzählung von Beamten, Regierungsdaten usw. mit der Absicht der Archivierung entsteht in der frühen Königszeit. Inwieweit auch größere Erzählungen in einer solchen historiographischen Absicht der Archivierung des Vergangenen verfasst wurden, bleibt eine offene Frage. Die in der Wissenschaft häufig verwendeten Begriffe »Geschichtswerk« oder »Geschichtserzählung« meinen zunächst nur, dass es sich um Erzählungen über vergangenes Geschehen handelt, noch nicht, mit welcher Absicht erzählt wird. Daher sind die biblischen »Geschichtswerke« vor allem Erzählwerke, d. h. Sammlungen und Zusammenstellungen von Erzählungen, die in ein erkennbares theologisches Konzept einer übergreifenden Geschehensdeutung eingebunden sind. Besonders deutlich lässt sich dies am Deuteronomistischen »Geschichtswerk« zeigen, das Erzählungen aus und über die Vergangenheit Judas und Israels aus einer gegenwärtigen theologischen Perspektive in der Exilszeit präsentiert. Vielleicht kann als Fazit unserer Überlegungen gelten, dass in den vielen und oft großartigen Vergangenheitserzählungen der Bibel, mit poetischer Kraft und theologischem Gedankenreichtum die grundlegende Glaubenszuversicht altisraelitischer Menschen ihren unverwechselbaren Ausdruck gewinnt, dass der Gott Israels und der Welt in der konkreten menschlichen Geschichte handelt und handeln will.

Bibliographie Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013. Becker, Uwe/van Orschot, Jürgen (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?! Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung im Antiken Israel (ABIG 17), Leipzig 22006. Bichler, Reinhold/Rollinger, Robert, Herodot, Hildesheim 2000. Blum, Erhard, Die Stimme des Autors in den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments: Adam, Klaus-Peter (Hg.), Historiographie in der Antike (BZAW 373), Berlin/New York 2008, 107–130.

§ 10 Prophetie

141

Ders., Historiographie oder Dichtung? Zur Eigenart alttestamentlicher Geschichtsüberlieferung: Ders., u. a. (Hg.), Das Alte Testament – Ein Geschichtsbuch?, Altes Testament und Moderne 10, Münster 2005, 65–86. Cancik, Hubert, Grundzüge der hethitischen und alttestamentlichen Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1976. Dietrich, Walter, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr. (BE 3), Stuttgart u. a. 1997. Ders., Die Vorderen Propheten: ders. u. a., Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart 2014, 167–282. Ders., Historiography in the Old Testament: Saebø, Magne (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament III/2, Göttingen 2014, 467–499. Gilmour, Rachelle, Representing the Past. A Literary Analysis of Narrative Historiography in the Book of Samuel (VT.S 143), Leiden 2011. Gunneweg, Antonius H. J., Das Alte Testament als Geschichtsbuch: Ders., Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 1977, 146–182. Noth, Martin, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Halle 1943, Tübingen 41973. Nunes Carreira, José, Formen des Geschichtsdenkens in altorientalischer und alttestamentlicher Geschichtsschreibung: BZ.NF 31 (1987), 36–57. von Rad, Gerhard, Der Anfang der Geschichtsschreibung im Alten Testament (1944): Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 8), München 1958, 148–188. van Seters, John, In Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical History, New Haven 1983. Willi-Plein, Ina, Davidshaus und Prophetie. Studien zu den Nebiim (BThS 127), NeukirchenVluyn 2012. Wiilliamson, Hugh G. M. (Hg.), Understanding the History of Ancient Israel, Oxford 2007. Witte, Markus, Art. »Geschichte/Geschichtsschreibung«: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex.de, 2006 (Zugriff: 15. Mai 2016). Ders., Von den Anfängen der Geschichtswerke im Alten Testament – eine forschungsgeschichtliche Diskussion neuerer Gesamtentwürfe: Becker, Eva-Maria (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge christlicher Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin/New York 2005, 53–81.

§ 10 Prophetie Martin Leuenberger, Tübingen Prophetie ist ein internationales Phänomen, das Israel mit dem Alten Orient verbindet. Zugleich besitzt die israelitische Prophetie unverwechselbare Eigenheiten und Ausprägungen. Die Vielfalt prophetischer Erscheinungsformen im alten Israel deckt sich weitgehend mit seiner Umwelt, es sticht jedoch ein unverwechselbares »Proprium der alttestamentlichen Prophetie«93 hervor: die Existenz ganzer Prophetenbücher mit komplexen Botschaften vom (unbedingten) göttlichen Gericht und/oder Heil für Israel und Juda – sowie dann auch für andere Völker. Dieser Befund lässt

93 So wegweisend Jeremias, Proprium, 483.

142

2. Kapitel: Literatur

sich über religions-, traditions- und theologiegeschichtliche Entwicklungsprozesse mit der altorientalischen Prophetie vermitteln.94 Methodisch muss die Analyse der biblischen Prophetie bei den vorliegenden Prophetenbüchern einsetzen95 und sich dann sukzessiv über die in ihnen enthaltenen Vorstufen bis zu den historischen Propheten am Beginn der jeweiligen Überlieferung vorarbeiten; dies wird hier vorausgesetzt, aber nicht eigens dargestellt, da im Folgenden – nach grundlegenden Vorbemerkungen (Kap. 1–2) – die Geschichte der israelitischen Prophetie in ihrem historischen und theologischen Werdegang nachgezeichnet werden soll (Kap. 3–7). Während forschungsgeschichtlich die Prophetengestalten lange Zeit fast alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, richtet sich das Interesse gegenwärtig auf sämtliche prophetische Entwicklungsstufen: von den historischen Propheten bis zu den abgeschlossenen Prophetenbüchern, die in der Hebräischen Bibel als schriftprophetisches Corpus Jes–Mal vorliegen.

1.

Aspekte der Definition von Prophetie im Alten Orient und in der Hebräischen Bibel

a. Das Wort »Prophetie« ist etymologisch vom (seltenen) griechischen profäteuein/ profanai abgeleitet, das beides besagt: »(Zukünftiges) vorher-sagen«, aber auch »(Verborgenes) hervor-sagen«. Religionsgeschichtlich handelt es sich um eine Weise der (göttlichen) Gegenwarts- und Zukunftsdeutung für Einzelne wie für Gemeinschaften. Sie gehört in das weite Feld von Mantik und Divination, zu dem auch von Spezialisten ausgeübte Praktiken der Orakelerteilung (etwa aufgrund von Vogelflug-, Eingeweide-, Öl- und Himmelsschau), der Traumdeutung oder der Totenbefragung zu rechnen sind. All dem kam im AO eine eminente gesellschaftliche Bedeutung zu.96 Definieren kann man Prophetie als Kundgabe und Vermittlung von Gottes-Botschaften durch sich dazu beauftragt wissende Personen an bestimmte Adressaten. Dieser zweistufige Kommunikationsprozess von Gott zum Propheten und weiter zum Adressaten lässt sich mit M. Weippert noch genauer auffächern: Prophetie liegt dann vor, »wenn eine Person (a) in einem« – man kann ergänzen: spontanintuitiv oder technisch-induktiv sich vollziehenden – »kognitiven Erlebnis (Vision, Audition, audiovisuelle Erscheinung, Traum o. ä.) der Offenbarung einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten teilhaftig wird und ferner (b) sich durch die betreffende(n) Gottheit(en) beauftragt weiß, das ihr Geoffenbarte in sprachlicher Fassung (als ›Prophetie‹, ›Prophetenspruch‹) oder in averbalen Kommunikationsakten 94 Vgl. § 3 und § 6 in diesem Band. 95 Vgl. Schmid, Schriftauslegung, bes. 10f.14–18; Kratz, Prophetenstudien, 3–17. Entscheidend war die Einsicht, dass die (historischen) Propheten gleichsam in ihre Bücher eingegangen und uns nur so zugänglich sind (s. programmatisch Steck, Prophetenbücher, 3–124; vgl. § 6 Nr. 7 in diesem Band). 96 Vgl. Stökl, Prophecy, 7–26 und knapp Schart, Prophetie, Kap. 1 und 2.

§ 10 Prophetie

143

(›symbolischen‹ oder ›Zeichenhandlungen‹) an einen Dritten (oder Dritte), den (die) eigentlichen Adressaten, weiterzuleiten«.97 b. Diese Definition umschließt die gesamte Vielfalt prophetischer Erscheinungsformen im AO.98 In ihr findet aber auch die israelitische Prophetie in ihrer ganzen Breite Platz: sowohl alle historischen Prophetentypen – Gruppen- und Einzelpropheten; am Königshof bzw. im Kult beheimatete oder oppositionelle Propheten; Profis oder Laien; Männer oder Frauen; Gottesmänner, Seher oder eigentliche »Propheten« (im AT ist der Hauptbegriff dafür nābī’ = »Berufener«) – als auch die verschiedenen Formen literarischer Prophetie. Für die letztere entscheidend ist die von O. H. Steck so genannte »prophetische Prophetenauslegung«99: ihr kognitives Erlebnis ereignet sich im Rückgriff auf mündliche oder schriftliche Tradition, die für die eigene Gegenwart kreativ – und d. h. eben: prophetisch – aktualisiert wird. Im Kern geht es dabei um die Freilegung dessen, was die Geschichte im Innersten zusammenhält: um Gott als Geheimnis der Welt. Sinn und Zweck der Geschichte wird also, wie im AO üblich, von außen bestimmt und als Theohistorie rekonstruiert: Vergangene, gegenwärtige und zukünftige »Geschichte« wird im Lichte Gottes gedeutet.

2.

Vorbemerkungen zur Geschichte der Prophetie im alten Israel

a. Die israelitische Prophetie entwickelt sich von ›vorklassischen‹ Anfängen zur ›klassischen‹ Prophetie im Nord- und Südreich während der letzten Jahrzehnte des Königreichs Israel (Am, Hos, Mi, Jes) und erfährt nach dessen Untergang 722 v. Chr. im weiter als Staat existierenden Juda erste tiefgreifende Umformungen. Im Umfeld des Untergangs Jerusalems 587/6 v. Chr. (Jer, Ez) und dessen theologischer Bewälti-

97 Weippert, Götterwort, 231f.; s. auch die Liste von Kriterien 231. 98 Für eine komparative Erschließung der israelitischen Prophetie sind v. a. drei – zufällig erhaltene, zeitlich und geographisch weitgestreute sowie in je eigene gesellschaftliche Kontexte eingebundene – Textbereiche relevant, auf die hier nur hingewiesen werden kann (s. ausführlich Nissinen, Prophets und zuletzt Ders., Divination, 103ff; knapp TUAT 2/1; TUAT.NF 4, 53–55; Deluty, Prophecy): 1. In Briefen prophetischen Inhalts an den König von Mari aus dem 18. Jh. werden insbes. Kommunikationssituationen und (auch ganz alltägliche) Inhalte deutlich. 2. Neuassyrische Einzel- und Sammeltafeln prophetischer Königsorakel aus dem 7. Jh. (die auch bedingte Königskritik enthalten [s. Nissinen, References) erhellen namentlich Aspekte der – nach Themen gesammelten, nicht jedoch produktiv aktualisierten – Verschriftlichung, die dem Zweck der Königslegitimation dient. 3. Aus dem westsemitischen Raum ist neben einzelnen Prophetien im Umfeld von Königen (Zakkur-Stele; Zitadelleninschrift aus Amman) die Wandinschrift Bileams vom Tell Deir ‛ Allā aus dem 9. Jh. hervorzuheben, die mit ihrer (bedingten) Unheilsankündigung an ein Kollektiv durch den Seher Bileam zeitlich, geographisch und inhaltlich für die Anfänge schriftprophetischer Gerichtsansagen wichtig ist. 99 Steck, Prophetenbücher, 127 (Überschrift zum zweiten Buchteil).

144

2. Kapitel: Literatur

gung (bes. Deuterojesaja) erreicht die Schriftprophetie, zumal während der Perserherrschaft, eine im AT herausragende Rolle: Sie wird in den vier großen »hinteren« Prophetenbüchern Jes, Jer, Ez und Zwölfprophetenbuch (XII) nach und nach schriftlich fixiert und schließlich zusammen mit den »vorderen Propheten« Jos–2Kön im Kanonteil Nebiim (»Propheten«) Jos–Mal zusammengefasst. Lediglich das erst später abgeschlossene Buch des Propheten Daniel fand hier keine Aufnahme mehr.100 b. Bei der Rekonstruktion und Darstellung der Geschichte der Prophetie stellt sich eine Reihe von Problemen, die stichwortartig benannt seien: Die biblisch-kanonische und die israelitisch-historische Prophetie gilt es einerseits zu unterscheiden, andererseits aber auch religions- und theologiegeschichtlich plausibel miteinander zu vermitteln. Während die Propheten vorkritisch als Ausleger des Gesetzes galten, hat sich seit Julius Wellhausen der Grundsatz lex post prophetas (»das Gesetz/die Tora ist später als die Propheten«) durchgesetzt: Die frühen Propheten sind in ihrem jeweiligen historischen Milieu ohne Rückbezug auf die Tora verständlich zu machen. Infolge der Aufwertung der exilisch-nachexilischen Fortschreibungen bis zu den vorliegenden Prophetenbüchern lassen sich Tora und Propheten nun aber doch wieder aufeinander beziehen. Damit nähert man sich der Logik des Kanons an, in der die Prophetenbücher als Konkretisierung und Aktualisierung der Tora im Verlauf der Heils- und Unheilsgeschichte Israels unter den Völkern erscheinen. Die sonst im AO nicht bekannte Großgattung »Prophetenbuch« hat sich im Verlauf der biblischen Literaturgeschichte als Spezifikum der Prophetie Israels allmählich herausgebildet. Dabei hat sich kompositionell, entstehungsgeschichtlich und inhaltlich eine erstaunliche Vielfalt bewahrt, die nicht zu nivellieren, sondern eigens zu würdigen ist. Ein redaktions- und literaturgeschichtliches Modell muss diachrone und synchrone Zugangsweisen in der Weise fruchtbar aufeinander beziehen, dass jede literarische Ebene in ihrem historischen Kontext synchron erschlossen wird.101 In der prophetischen Literatur erlauben literarkritische Beobachtungen, hier und da auftauchende theologiegeschichtliche ›Leitfossilien‹ und manchmal auch Korrelationen mit external evidence oft Datierungen, die innerhalb des AT mit am zuverlässigsten und präzisesten sind.102 Heuristisch erweist sich eine grobe Epocheneinteilung anhand der großpolitischen Konstellationen als hilfreich, da sich häufig Verknüpfungen mit der Ereignisge-

100 Aus der reichen Literatur zur Prophetie (s. die aktuellen Forschungsberichte von Tiemeyer und Kelle) seien als Überblicke erwähnt: Koch, Propheten 1–2; Blenkinsopp, Prophetie; Steck, Prophetenbücher; Ders., Gott; Kratz, Propheten; Ders., Prophetenstudien; Schart, Prophetie sowie die im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten von Jörg Jeremias. 101 Demgegenüber bezieht etwa Tiemeyer, Prophetic Literature, 165f. die synchrone Perspektive lediglich auf den Endtext. 102 Siehe in diesem Band § 6, bes. Abschnitt 6.

§ 10 Prophetie

145

schichte Israels und Judas vornehmen und überdies intensive Auseinandersetzungen mit den imperialen Ideologien aufweisen lassen.

3.

›Vorklassische‹ Anfänge von Prophetie in Israel

a. Über Prophetie in Kanaan/Israel während der vorköniglichen Zeit lässt sich – abgesehen von der prinzipiellen Annahme prophetischer Aktivitäten für Einzelne und/ oder Gemeinschaften, wie sie zu allen Zeiten zu vermuten sind – historisch nichts mehr erschließen. Bei der Titulierung einiger Personen aus vorstaatlicher Zeit als Prophet(in) (nby’[h]) – z. B. Abraham Gen 20,7; Mirjam Ex 15,20; Mose Dtn 18,18;34,10; Debora Ri 4,4; Samuel 1Sam 3,20; Hulda 2Kön 22,14; ohne diesen Titel auch Bileam Num 22–24 – handelt es sich um jüngere Rückprojektionen, welche die prophetische Begleitung ›Israels‹ an wichtigen Stationen herausstellen. b. Ähnliches gilt auch für die frühe Staatszeit, doch tritt hier die Prophetie im Umfeld des Königtums erstmals prominent hervor. Zweifellos stellt dies bloß einen Bruchteil prophetischer Erscheinungen dar, und auch bezüglich historischer Auswertungen bleibt größte Vorsicht geraten. Immerhin präsentiert sich die Konstellation König und Prophet als ebenso neu wie typisch: Saul und Samuel, David und Gad bzw. Natan, dann auch Jerobeam I. und Ahija, Ahab und Elija usf. Dabei fokussiert die (rückblickende) Überlieferung auf Konflikte, die aufgrund konkurrierender Handlungsmaßstäbe vorab auf den drei Feldern des Kriegs, des Rechts und der Staatslegitimation aufbrechen,103 wogegen die zweifellos gängige prophetische Beratung des Königs ohne Probleme (z. B. im Alltagsgeschäft 1Sam 22,5 oder als theologische Dynastiesicherung 2Sam 7) im Hintergrund bleibt. c. Im Lauf der Überlieferung wurden Elija und Elischa zu herausragenden Figuren. Zunächst halfen sie vermutlich als magisch-charismatische Wundertäter und Wahrsager bei der alltäglichen Lebensbewältigung, fungierten aber auch im politischen Bereich als Ratgeber des Königs; dabei spielten israelitisch-aramäische Konfliktlagen in politischer (Aramäerkriege) und phönizisch-syrische Einflüsse in religiöser (Jhwh gegen Baal) Hinsicht eine zentrale Rolle, woraus sich in der Folge ebenso komplexe wie umfangreiche Überhöhungen der Prophetengestalten entwickelten.104

4.

Entstehung und Entwicklung der Gerichtsprophetie in Israel und Juda unter assyrischer Herrschaft

a. Radikale Gerichtsankündigungen bildeten sich in Israel und Juda um die Mitte des 8. Jh. aus, als außenpolitisch die neuassyrische Oberherrschaft in der Levante kon-

103 Vgl. dazu bes. Jeremias, Anfänge, 482f.; Ders., Wesen, 4f. 104 Vgl. Albertz, Elia und Sauerwein, Elischa, je mit Lit.

146

2. Kapitel: Literatur

sequenter durchgesetzt wurde und innenpolitisch die soziale Ungleichheit infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit dem frühen 8. Jh. zugenommen hatte. Die in dieser Konstellation verortete Ausbildung der prophetischen Gerichtsansagen lässt sich aufgrund der kurz zuvor einsetzenden eigentlichen Literaturproduktion bes. an Hof und Tempel105 noch vergleichsweise gut rekonstruieren: Die bedingten Unheilsansagen zielten pragmatisch zunächst höchstwahrscheinlich auf Umkehr; sie fanden jedoch bei den angesprochenen gesellschaftlichen Kreisen (Reiche, Bauern, Richter, Priester, Propheten; daneben bes. bei Jes auch der König) kein Gehör. In Reaktion darauf kam es vermutlich erstmals zu Verschriftungen, und zwar als sog. Außenseiter- und Oppositionsliteratur: Es galt, die prophetischen Verkündigungen – über die unmittelbaren und noch ergebnisoffenen Situationen hinaus – in ihrer für die (nähere) Zukunft anhaltenden Gültigkeit und Wahrheit aufzubewahren und festzuhalten, zu legitimieren und zu bezeugen (Jes 8,16–18; 30,8; s. Jer 36, bes. V.27–32; Hab 2,2f).106 Dabei erfolgte nicht nur eine rigorose Auswahl und (oft poetische) Verdichtung sowie eine (literarische) Komposition und Re-Kontextualisierung der mündlichen Überlieferung, sondern es wurde im Rückblick zugleich eine sachliche Revision unter Einarbeitung der erfahrenen Ablehnung vorgenommen (s. bes. Am 7f. und Jes 6–8*): So resultierte die charakteristische Gestalt der unbedingten Gerichtsbotschaft. Wesentliche Impulse dafür dürften auch Ereignisse geliefert haben, die als Bewahrheitung verstanden wurden. Nennen kann man etwa das Erdbeben in Am 1,1 (zwei Jahre nach dem Auftreten des Amos datiert; s. a. 2,13; 9,1), verschiedene politische Konstellationen (z. B. den syrisch-efraimitischen Krieg 734–732 als Heilserfahrung für Juda in Jes bzw. als Warnung an die verbliebene Oberschicht des »Hauses Joseph« in Am 5,6.15) und insgesamt den raschen Niedergang Israels bis zur Eroberung Samarias 722/720, wodurch die Gerichtsprophetie gegen das Nordreich Israel gleichsam »bewiesen« war. Von hier aus ergaben sich auch aktualisierende Verlängerungen für das Südreich Juda (v. a. bei Jes, aber auch bei Hos und Am), wie sie später in babylonischer, persischer und hellenistischer Zeit umfangreich fortgeführt wurden. Auf der Ebene der erzählten Zeit präsentieren die Prophetenbücher damit Jhwhs verlässliche Zukunftsansagen; auf der Ebene der historischen Verfasser sind 105 Siehe in diesem Band § 6, die Abschnitte 1 und 5. 106 Vgl. zu diesen hochkomplexen und im Detail strittigen Verschriftungsvorgängen bes. Steck, Wahrnehmungen, 149–203; Jeremias, Proprium, 488–492; Ders., Wesen, 6–8; Ders., Rätsel, 102–106; Kratz, Prophetenstudien, 3–17; Becker, Schriftprophetie und jetzt Hartenstein, Archiv, VII–XIV. Die neuassyrischen Sammeltafeln mit ihrer zukunftsgerichteten Legitimation der Königsdynastie (für die beiden Generationen Asarhaddons und Assurbanipals) bieten hierzu die aufschlussreichste Analogie, doch gibt es auch weitere Gründe für eine schriftliche Abfassung von Prophetie, wie die Mari-Briefe oder auch das Lachisch-Ostrakon 1.3,20f. dokumentieren. Die spezifische Weise der Verschriftung der israelitischen Unheilsprophetie besteht darin, dass die erfahrene Ablehnung bereits in die Prophetenbücher integriert wird: Dies lässt sich nur unter Einbezug der historischen Eigentümlichkeiten im Israel und Juda des 8. Jh. hinreichend erklären. Daneben muss man aber sicher auch mit erheblichen Anteilen heilsprophetischer Literatur rechnen, die sich nach 587 nicht mehr bzw. nur indirekt (s. z. B. Hananja in Jer 28) erhalten hat (vgl. in diesem Band § 6, Abschnitt 3).

§ 10 Prophetie

147

sie indes als Krisenerfahrungen bewältigende Geschichtsdeutungen entstanden, welche die von Jhwh gewirkte Gesamtgeschichte (»Theohistorie«) erschließen wollen. Trifft diese Rekonstruktion zu, so spielte bei der Ausbildung der radikalen Gerichtsprophetie die fundamentale Gegenwartskritik auf den Feldern des Politischen, des Sozialen, des Rechts und des Kults eine entscheidende Rolle und begründete nachgerade die Zukunftsgewissheit des unabwendbaren Gerichts. Alternativ wird in der Forschung allerdings auch die Position vertreten, dass die (dann unableitbare) Zukunftsgewissheit vorangehe.107 Spätestens nach 720 (und d. h. für unsere Quellen: nahezu von Beginn weg) ging beides in jedem Fall Hand in Hand, wie schon sehr frühe literarische Ebenen bei Amos und Hosea für Israel sowie bei Jesaja und Micha für Juda belegen. b. Idealtypisch zeigt sich dieses Ineinander von unheilsprophetischer Zukunftsgewissheit und Gegenwartskritik beim im Nordreich aufgetretenen Schriftpropheten Amos aus dem judäischen Tekoa; er ist vermutlich der älteste Schriftprophet, obwohl strittig bleibt, ob seine (stark von der Hosea-Tradition beeinflussten) Worte literarisch erstmals noch vor oder bald nach 720 (schon im Südreich?) zusammengestellt wurden: Die buchabschließenden Visionspaare 7,1–6 und 7,7f.; 8,1f. (sowie evt. später 9,1–4) entfalten die unbedingte Gerichtsprophetie aus der theologischen Innenperspektive: Sie schildern, wie Amos sich vom Fürbitter Israels vor Jhwh (s. Jhwhs Reue 7,3.6) zum harten Künder Jhwhs an Israel wandelt und einsehen muss, dass – durch Jhwh selbst – »gekommen ist das Ende für mein Volk Israel« (8,2). Begründet wird diese Zukunftsgewissheit durch eine scharfe Gegenwartskritik freilich nicht hier, sondern im Mittelteil 3–6 (sowie in 1f.): vorab in den perfektischen Gottes- (3,1) und den präsentischen Prophetenworten (5,1). Repräsentativ für das Themenspektrum ist etwa die Ringkomposition 5,1–17: Sie prangert die Beseitigung von Recht und Gerechtigkeit in der Gesellschaft durch die Elite Samarias an, die in Luxus schwelgt (4,1; s. 3,9–11; 6,4–8).108 So wird bereits die Totenklage über das »Haus Israel« angestimmt (5,1), obwohl das Unheil zunächst noch abwendbar schien: »Sucht Jhwh, und/sodass ihr lebt« (5,6, s. V.4f.14f. mit dem »vielleicht« der Gnade Jhwhs; s. a. Restaussagen wie 3,12; 5,3.19 [6,9f.]; nachexilisch sind die Heilsanhänge 9,7–15). Weil jedoch keinerlei Umkehr geschieht, folgt schon auf der ältesten literarischen Ebene direkt die unerbittliche Strafe Jhwhs, wie sie exemplarisch der Unheil bringende »Tag Jhwhs« in 5,18–20 in Übereinstimmung mit dem Visionszyklus ausführt. Weitere Begründungen für das Gericht bieten auch die ›Völ-

107 Im Gefolge der klassischen Priorität für die Zukunftsgewissheit, wie sie im Gefolge von H. W. Wolff u. a. etwa Schmidt, Zukunftsgewissheit vertreten hat, wird in neuerer Zeit eine verzweigte Debatte über die Verhältnisbestimmung geführt (s. nur Blum, Prophetie, 104–108); die folgenden Ausführungen plädieren für ein In- und Miteinander beider Aspekte. 108 Zur Rechts- und Sozialkritik 5,7.10–17; s. a. 4,1–3; 6,1–8; 8,4–6: Rechtsmissbrauch im Tor, Korruption, wirtschaftliche Ausbeutung. Damit verbindet sich auch (umstritten ist, ob ursprünglich) Kultkritik in 5,4f. (statt Jhwh sucht man das Heil im Wallfahrtskult); s. a. 3,13f.; 4,4f.; 5,21–27 (Opferkult ohne gerechte Lebensführung).

148

2. Kapitel: Literatur

ker‹sprüche im ersten Buchteil 1f., die eng auf den Visionszyklus bezogen sind: Im Ganzen führen sie aus, wie die Schuld Israels (2,6–8) jene der Völker noch übertrifft und dazu führt, dass Jhwh »es« – nämlich das in den Visionen explizierte Gericht – nicht zurücknimmt (2,6 u. ö.). Nach 720 wird die Amos-Tradition im Südreich weiter überliefert, wo nicht nur die Gerichtsansage auf Juda und Jerusalem erweitert (etwa in 5,27; 6,1.2; s. Hos 4,15; 5,5; 6,10f. u. a.), sondern auch die gesamte Buchsubstanz aktualisiert (oder allererst konzipiert) wird. c. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Hosea-Tradition, die genuin im Nordreich (»Efraim«) verhaftet ist und in Bezug auf den Propheten Hosea, Sohn des Beeri, selbst eine längere Phase abdeckt (ca. 750–725). Sie wurde möglicherweise bereits vor Amos, ihn aber kennend (noch im Nordreich?) verschriftet und wirkte dann ihrerseits wesentlich auf das werdende Amosbuch ein.109 Freilich lässt sich die ursprüngliche Verkündigung Hoseas wesentlich undeutlicher rekonstruieren als bei Am und Jes, auch weil eine ungleich unübersichtlichere Buchstruktur vorliegt. Das gilt bereits für den substanziellen Kern des Buches in 4–9/11*, der (nach 720) perspektivenreich das über Israel hereinbrechende Gericht darstellt: Programmatisch summiert 4,1–3, dass Jhwh mit den »Israeliten« in einem Rechtsstreit liegt, »denn es gibt keine Wahrhaftigkeit und keine Treue und keine Gotteserkenntnis im Land« (4,1). Gegenüber der bei Am prominenten Sozialkritik (s. bei Hos 4,2 [»Verfluchen und Lügen und Töten und Stehlen und Ehebrechen«]; 6,7–9; 7,1–7; 12,8f.) tritt die Kultkritik hervor, die sich an die Priester (4,4–5,7), den König (bes. in 5,8–7,16) und das Volk (9,1–9) richtet: Statt den – in der Exoduserfahrung wurzelnden (12,10; 13,4) und mithin nicht kultisch gebundenen – befreienden wie verpflichtenden Gotteswillen (»Erkenntnis Gottes«) zu vermitteln (8,12; s. 6,6), wird der berechenbare Opferkult (auch auf den »Höhen«) in aller Üppigkeit gepflegt (s. 4,7f.; 5,6f.; 6,1–6; 8,11–14; 10,1f.). Gemäß Hosea macht man Jhwh damit aber zu einem verfügbaren Baal bzw. fällt von Jhwh ab (s. die drastische Hurerei-Metapher 4,12–19; 5,3f.; 7,4; 9,1; narrativ auch die Ehe Hoseas mit der Ehebrecherin im ersten Buchteil: 1; 3, s. a. 2,4–15). Jhwh seinerseits entzieht seine kultische Präsenz, indem er die ihn repräsentierenden Stierbilder verwirft (8,5f.; 10,5; 13,2, im vorliegenden Kontext zu einer grundsätzlichen Kultbilderpolemik gesteigert). Die mangelnde Gotteserkenntnis widerspiegelt sich aber auch im Umgang mit dem Land, das man als Besitz statt als Gabe Jhwhs sieht, und in der (Außen-)Politik (5,4; 8,1–10), indem man sich an politische Großmächte statt an Jhwh wendet (s. 7,7–16) und so auch hier von ihm weghurt (8,9f.; 9,1). Dies führt zu einer scharfen Königskritik (7,3–7; 8,4; 10,15; 13,9–11). In all dem verfehlt Israel sein Gottesverhältnis radikal (s. Hos 12: der Betrüger Jakob) und provoziert Jhwhs Gerichtshandeln (durch die Assyrer); das wird nach 720 in harten Worten und Bildern (s. 8,13; 9,3–17 sowie die Unheilsnamen der Kinder in 1,6.9) ausführlich begründet. Freilich fällt es Jhwh überaus schwer, auf 109 Vgl. dazu v. a. Jeremias, Hosea und Amos, 34–54.

§ 10 Prophetie

149

diese Weise sein Volk zu strafen (s. bes. seine »Reue« 11,8–11 am Ende der Geschichtsrückblicke 9,10–11,11). Letztlich hatte er – so stellen exilisch-nachexilische Fortschreibungen heraus – »Israels« Umkehr und neue Gottesgemeinschaft im Sinn (s. die Heilsperspektiven in 13f.; s. a. 2,16f.18 [Jhwh als »mein Mann« statt »mein Baal«]; 12,10; 14,2–10). d. Ein strukturanaloges Ineinander von unheilsvoller Zukunftsgewissheit und begründender Gegenwartskritik lässt sich etwa zeitgleich zu Hos auch bei Micha und Jesaja für das Südreich Juda erheben. Der Landjudäer Micha aus Moreschet spricht in den ältesten Buchpartien (1,8–3,12*) Juda nach 720 als »(Haus) Jakob/Israel« an und verlängert so die Ansage des Gerichts durch Jhwh an Samaria (bei Hos und Am) auf die judäischen Landstädte und Jerusalem.110 Der Hauptstadt schleudert er wohl erstmals die ungeheure Ankündigung der Zerstörung entgegen: »Zion wird zum Feld umgepflügt und Jerusalem zu Trümmerhaufen werden« (3,12; s. 2,4). Dies bildet einen kompositionellen und sachlichen Höhepunkt,111 dessen längerfristige Legitimierung womöglich überhaupt erst die Verschriftung auslöste. Mi begründet dies mit einer ähnlich scharfen Sozial- und Gesellschaftskritik, wie sie Am und Jes bieten (s. bes. 2,1f./Jes 5,8): Er prangert die widerrechtlichen, die einfache Bevölkerung ausbeutenden Machenschaften der mächtigen Großgrund- und Immobilienbesitzer (2) ebenso an wie die der skrupellosen politischen Elite Jerusalems (3, inkl. Propheten 3,5–8). e. Wesentlich umfangreicher und genauer erhebbar präsentiert sich der Befund bei Jesaja, Sohn des Amoz, aus der Jerusalemer Oberschicht (7,3f.; 8,1f.), dessen prophetisch-visionäre (1,1) Wirkungszeit am Ende des 8. Jh. sich vermutlich über eine Dauer von gegen vier Jahrzehnten erstreckt.112 Den historischen und theologischen Ausgangspunkt nimmt man mit guten Gründen bei der sog. Denkschrift (6,1–8,18*), die auf den syrisch-efraimitischen Krieg zurückblickt und die situationsüberdauernde Gültigkeit der Botschaft Jes’ dokumentiert (8,16–18; s. 30,8): In der »Berufung« zum Unheilspropheten (6) bezieht sie dabei ausweislich des Verstockungsauftrags für König (7) und Volk (8) bereits die Erfolglosigkeit des Propheten mit ein, die seinem (jetzt kompositionell in 1/2–5* vorangestellten) Ruf zur Umkehr widerfährt. Plastisch zeigt sich dies in der Stufung von 8,1–4.5–8: Hier wird zunächst Israel-Aram Unheil durch Plünderung – und damit implizit Juda Heil – angekündigt (s. 17,1–6); sodann wird die Androhung jedoch (vielleicht im Umfeld von 701) zur Überflutung Jerusalems durch die Neuassyrer (s. 28,17–21) aufgrund fehlender (zionstheologischer und realpolitischer) Jhwh-Orien110 Siehe die exilische Sicht auf Samaria // Jerusalem in 1,1.5–7. Zeitgeschichtlich am engsten im (Erwartungs-)Horizont assyrischer Feldzüge (Sargons II. 712/711 oder vielleicht eher Sanheribs 701) steht 1,8–16, wobei freilich Jhwh selbst als Urheber des Gerichts gilt. 111 Für die historische Belastbarkeit spricht insbes. die Zitierung der Stelle als Botschaft Michas, des Moreschtiters, in den Tagen Hiskijas in Jer 26,18 (s. zum Ganzen Wöhrle, Sammlungen, 138–197). 112 S. die aktuelle Literaturauswahl in Anm. 113.

150

2. Kapitel: Literatur

tierung (8,6) ausgeweitet (s. 29,1–6). Gerade beim Jerusalemer Jes tritt die kritische Auseinandersetzung mit der offiziell-staatlichen Tempeltheologie scharf hervor, wenn die untrennbare Bindung Jhwhs an Stadt und Tempel zumindest ausgesetzt (6) und die Neuassyrer nicht als widergöttliche Chaosbedrohung, sondern als Strafwerkzeug Jhwhs verstanden werden (s. 5,26–29; 7,17–20; 10,5–9). Dies prägt wesentlich die Komposition Jes 1–11(*), die über mehrere Ringe – wie das Nordreichgedicht (5,25–30/9,7–20, das auch früheste Amos-Tradition als erfüllt rezipiert) oder die Weherufe über Juda (5,8–24/10,1–4) – komponiert ist (Erhard Blum). Derselbe Befund zeigt sich aber auch im sog. assyrischen Zyklus (28–31/32*) als zweitem, hinterem Buchkern vor dem Horizont der Aufstände 712/711 bzw. 701.113 Begründet wird die im Effekt Jerusalem geltende Gerichtsansage (s. a. die Unheilsnamen 7,3; 8,1.3) mit der eigenmächtigen, Jhwh nicht »vertrauenden« (Außen-)Politik (7f.), aber auch mit Sozial- und Gesellschaftskritik (z. B. 1,21–26; 5,1–7). f. Hier schließen sich Entwicklungen im assyrisch beherrschten 7. Jh. an: Die skizzierte Gerichtsbotschaft Jes’, die man nach 701 in einer israelkritischen Geschichtsdeutung wenigstens teilweise als realisiert verstand, wurde im 7. Jh. offenbar in Schülerkreisen weiter überliefert und erfuhr wohl zur Zeit Joschijas eine sog. Assur-Redaktion:114 Vielleicht im Rahmen eines Jesajabuches 1–32* sagt sie nun Assur selbst den Untergang an (14,24–27; 30,27–33; 31,8; s. a. Nah*) und proklamiert im Gegenzug eine königliche Heilszeit für Juda (8,23b–9,6). Im Bereich von Hos und Am führen die bereits erwähnten Interdependenzen im 7. Jh. vermutlich zu einem Zweiprophetenbuch Hos–Am (s. aufseiten Hos die Einschreibungen 4,15; 7,10; 8,14; 11,10, während Am ungleich breiter von Hos beeinflusst ist115). Es sieht die beiden Traditionen im spätkönigszeitlichen Juda als übergreifenden Gotteswillen zusammen und steht am Anfang des vorliegenden Zwölfprophetenbuchs (XII). Während Hos mit seiner betonten Kultkritik also zu Beginn der Buchproduktion Priorität erhält gegenüber der Sozial- und Gesellschaftskritik von Am, wird Hos von den folgenden Redaktionen nicht mehr wesentlich enger mit dem sich sukzessive formierenden XII verzahnt.

5.

Prophetie im Umfeld der Zerstörung Jerusalems während der babylonischen Herrschaft

Ausgeprägter noch als nach 720 schlägt die wahre Stunde der literarischen Gerichtsprophetie im Umfeld des Untergangs Judas und Jerusalems 597/587; diese Ereignisse gelten als Generalbewahrheitung der Unheilsbotschaften von Jes, Mi und Hos–Am: Das Jes-Buch wie das werdende Zwölfprophetenbuch erfahren noch während der judäischen Königszeit Aktualisierungen und Erweiterungen (so z. B. die

113 S. dazu bes. Hartenstein, Archiv, 31–61; Kreuch, Unheil; de Jong, Isaiah, 83–123. 114 Vgl. Barth, Jesaja-Worte. 115 Kompositionell wichtig ist z. B. Am 7,9, s. zum Ganzen o. Anm. 109.

§ 10 Prophetie

151

Einschreibung der Jes-Erzählungen 36–39 [Bewahrung Jerusalems] oder die Anfänge von Nah in 1–3* [Gerechtigkeit herstellender Untergang Ninives] und von Zef in 1* [Tag Jhwhs für Jerusalem]). Daneben treten jedoch auch neue Propheten auf, unter denen Jeremia und Ezechiel herausragen. a. Noch vor der joschijanischen Reform beginnt nach gängiger Sicht die lange, für die Frühzeit indes nur hypothetisch (in 2–6*) zu erhebende Wirkzeit von Jeremia, Sohn des Priesters Hilkija, aus dem benjaminitischen Anatot nordwestlich von Jerusalem.116 Diese Herkunft ist wichtig, da sie zum Einen die ländlich-agrarische Vorstellungswelt und zum Andern die Aufnahme fast des gesamten Traditionsspektrums Hos’ erklärt: Im Zentrum stehen dabei theologisch reflektierte (z. T. zionskritische) Klagen über und Schuld aufweisende Anklagen gegen Jerusalem, die »Tochter Zion«, sowie deren Bevölkerung und deren Könige. Die vom Propheten persönlich verantwortete Ankündigung des unausweichlichen Untergangs kann zwar an die prophetischen Vorläufer anknüpfen, bleibt aber wie diese bis 597/ 587 uneingelöst und insofern ebenso radikal wie kontrovers. Der Grund für die Gerichtsansage besteht im Gefolge von Hos in Hurerei und Untreue (2f.*; 4–6*; s. 7–10*), d. h. in Jhwh verfehlenden politischen Allianzen, Bündnissen und Verträgen im Rahmen der Schaukelpolitik zwischen Ägypten und Babylon. Entsprechend bildet die harte Königskritik in 21–23* einen bes. Brennpunkt (s. z. B. das Eselsbegräbnis für Jojakim 22,18f. als ›Fehlprophetie‹ angesichts von 2Kön 24,6), der zugleich die Gerichtsworte über Juda in 1–25 abschließt. Dabei ist Jer seit Beginn Gerichtsprophet für Juda im internationalen Horizont der Völker (s. das späte Programm in 1, das Jer auch als veritablen Propheten für die Völker präsentiert). Darin spiegelt sich einerseits, dass die regionalen Nachbarvölker Judas in ähnlicher Weise und überhaupt der Alte Orient mit Ausnahme Ägyptens von den Babyloniern überrollt wurden (s. im Fremdvölkerteil 46–51 bes. 46–49*); und andererseits hat sich nicht allzu lange nach 587 die Einsicht etabliert, dass Jhwhs Gericht über Juda sich in der Folge auch gegen dessen Vernichter selbst, die Neubabylonier, wendet (s. prägnant 50,41–43 in Aufnahme von 6,22–26). Schließlich ist für Jer ein enger Konnex von Auftrag und Person charakteristisch: Seit seiner programmatischen Berufung leidet der unverheiratete Prophet (16,2) unter seinem Auftrag (s. die wohl jüngeren sog. Konfessionen in 11f.; 15; 17f.; 20), den er auch mithilfe prominenter Zeichenhandlungen performativ inszeniert (13; 16; 18f.; 27f.; 32). Das laut 36 von Jeremias Schreiber Baruch mehrmals verfasste und erweiterte Buch hat zahlreiche und umfängliche perserzeitliche Aktualisierungen erfahren. Sie betreffen nicht nur die bereits genannten Themen, sondern umfassen namentlich eine Golaredaktion (die erstmals »Israel« aufteilt und das Heil exklusiv auf die erste Gruppe Deportierter von 597, die sog. Gola, beschränkt: 24; 29,16–19) und gegenläufig dazu eine die gesamte Diaspora ins Heil einschließende (23,7f.; 29,14) Bearbeitung. Beide sind mit Ez verwandt und wohl sogar von dort inspiriert; hinzu kommt 116 S. hierzu Schmid, Buchgestalten und Fischer, Jeremia, 91–114 (je mit Lit.).

152

2. Kapitel: Literatur

eine differenzierte dtr. Ebene (31,31–34 u. a.). All diese Aktualisierungen eröffnen nach dem Gericht neue Heilsperspektiven (s. bes. 30–33). Zusammen mit weiteren späten Ergänzungen – etwa einer wohl hellenistischen Weltgerichtsperspektive (25,27–31; 45,4f.) – entsteht so das umfangreichste Prophetenbuch. Es weist auch insofern Besonderheiten auf, als die überlieferte hebräische Buchgestalt nicht nur erheblich (um ca. ein Siebtel) länger ist als die griechische, sondern auch eine grundlegend andere Buchstruktur aufweist: Sie verschiebt die Fremdvölkersprüche nach hinten in 46–51 und bricht damit das sog. dreigliedrige eschatologische Schema von JerLXX (Gericht gegen Israel – Gericht gegen die Völker – Heil für Israel) auf. Hier verflechten sich redaktions- und literaturgeschichtliche Perspektiven mit kanon- und textgeschichtlichen Fragestellungen. b. Der Priester Ezechiel, Sohn des Busi, aus Jerusalem, gehört zur ersten Gola, d. h. zu den 597 nach Babylon Deportierten; dort wird er im priesterlichen Dienstalter von 30 Jahren 593 in Tel Abib am Kebarkanal berufen und sieht in »Schauungen Gottes« (1,1) Gericht (1–24) und Heil (33–48) für das »Haus Israel« und Gericht über die Nationen (25–32 [in sich gestuft, aber wohl schon früh im Buchzusammenhang verankert]), bis er 573 pensioniert wird.117 Schon dieses dreigliedrige eschatologische Schema zeigt, dass Ez das am stärksten durchkomponierte Prophetenbuch darstellt: So finden sich häufig gliedernde Formeln wie die Wortereignis- (»Und das Wort Jhwhs erging«), die Erkenntnis- (»[Und] ihr/sie werdet/n erkennen«) oder die Botenformel (»So hat Jhwh gesprochen«). Hinzu kommen umfangreichere Textgattungen wie Visionen (1–3; 8–11; 37; 40–48), Symbolhandlungen (3–5; 12; 21 u. a.), Bilderreden (z. B. 15; 21–24; 27f.; 31f.) oder Geschichtsrückblicke (16; 20; 23). Zudem weist das Buch (ab 597 gezählte [1,2; 33,21; 40,1]) taggenaue Datierungen auf, und es ist durchgängig als Ich-Bericht stilisiert (außer 1,2f.; 24,24). Aufgrund dieser Geschlossenheit gestaltet sich die entstehungsgeschichtliche Rekonstruktion recht anspruchsvoll und bleibt kontrovers; immerhin zeigen sich konsensfähige »Fortschreibungen« (die Walther Zimmerli zuerst entdeckt hat) und scheinen manche Parallelen zu Jer vorzuliegen, auch wenn die priesterlichen Kategorien Eigenständigkeit belegen. Im Anschluss an Karl-Friedrich Pohlmann dürfte sich in 4–24*; 36f.* eine älteste, noch nicht golaorientierte Gericht-Heil-Komposition erheben lassen,118 die zunächst (ähnlich wie Jer) über das Gericht klagt (mit Vorstufen in 19*; 31*): In priesterlichen Kategorien (s. z. B. 4,12–15) begründet Ez, der im Gegenüber zum heiligen Gott als vergänglicher »Menschensohn« bezeichnet wird, die Einnahme Jerusalems mit der Verunreinigung von Tempel und Land durch »Götzendienst«. Daher verlässt Jhwhs Herrlichkeit – entgegen der klassischen Zionstheologie – den Tempel in Richtung Osten (s. die Tempelvision 8–11 sowie die Thronwagenvision 1–3, die sich mit mesopotamischen Bildtraditionen auseinandersetzt) und gibt mithin Jerusalem den Babyloniern preis.

117 Siehe zum Ganzen Pohlmann, Ezechiel (mit Lit.) und das Themenheft zu Ezechiel: Hebrew Bible and Ancient Israel (HeBAI) 2/2012. 118 Vgl. zusammenfassend Pohlmann, Ezechiel, 75–97.

§ 10 Prophetie

153

Bald nach 587 setzen aber erste, noch bescheidene Heilsperspektiven für ein neues Leben im Land ein. In der Folge werden sie, vielleicht in frühpersischer Zeit, in dezidiert golaorientierter Perspektive akzentuiert (mit Höhepunkt in 33,21–29), später jedoch auf die Diaspora generell ausgeweitet (bes. 20; 33f.*; 36,16–23119). Im vorliegenden Buch kulminiert das neue Heil im sog. Verfassungsentwurf 40–48, der (mehrschichtig) die Rückkehr der Herrlichkeit Jhwhs in den Tempel mitsamt einer neuen, kritisch-utopischen und sich mit der Priesterschrift auseinandersetzenden Lebensordnung entwirft. Späte, bereits hellenistische Fortschreibungen finden sich auch in den Gog-MagogKapiteln 38f.; ausgehend vom Visionär Ez lassen sich hier und bes. in 37, analog zu Entwicklungen bei Jes, in Sach 9–14 sowie in Dan 7–12, apokalyptisierende Tendenzen verfolgen (siehe u. Abschnitt 8).

6.

Prophetische Neuentwürfe und Weiterentwicklungen während der Perserzeit

a. Der fundamentalste Neuentwurf stammt vom anonymen Propheten Deuterojesaja (Dtjes); er hat wohl ab den 540er Jahren in Babylon gewirkt und seine Botschaft von bedingungslosem und endgültigem Heil für Jakob-Israel (40–48) und Zion (49–55) nach der doppelt abgeleisteten Schuld des Volkes (40,2) in Auseinandersetzung mit der babylonischen Leitkultur verkündet.120 Dies zeigt sich noch deutlich in der relativ kleinteiligen Struktur der literarisch einst selbstständigen Grundschrift (40,1–52,10*) aus der Zeit des Kyros (539–530) oder des frühen Darius I. (522–486). In Jes 40–55 finden sich Gattungen wie Heilsorakel (41,8–16; 49,14–26), Heilsankündigungen (41,17–20; 42,14–17; 43,16–21), Diskussionsworte an Israel (40,12–31; 48,12–16), Gerichtsreden an die Völker und ihre Götter (41,21–29; 43,8–13; 44,6–8), Götterbilderpolemiken (40,18–20; 44,9–20; 45,16[f.].20), gliedernde Hymnen (42,10–13; 45,8f. u. a.) und die sog. Gottesknechtslieder (42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12). In strenger Argumentation begründet Dtjes die universale und exklusive Wirksamkeit des einen und einzigen Gottes Jhwh geschichtstheologisch (v. a. im Kontext des Aufstiegs von Kyros, der als Messias Jhwhs die Davidsdynastie ablöst [44,28; 45,1–7]; s. a. den sog. Weissagungsbeweis bes. in 41,21–29; 44,6–8) und expliziert sie schöpfungstheologisch (43,1; 44,23f.; 45,7.12 u. a.). Dabei setzt sich Dtjes mit der Marduk-Theologie auseinander121 und greift auch israelitische Traditionen kritisch auf (Exodus 51,9f.; Erzväter 41,8–10; David/Königtum 55,1–5): Jhwh »schafft« neues und unüberbietbares Heil

119 Materiell hat sich diese Komposition vermutlich noch im LXX-Papyrus 967 mit der Abfolge 38f. → 37 erhalten (so bes. Peter Schwagmeier, s. Pohlmann, Ezechiel, 88). Der Befund ist analog zu Jer, doch sind die Differenzen zwischen MT und LXX nicht ganz so gravierend. 120 Vgl. einführend Höffken, Jesaja, bes. 101–114. 121 Vgl. hierzu namentlich Albani, Gott.

154

2. Kapitel: Literatur

für das nach Jerusalem heimkehrende Jakob-Israel, wo Jhwh erneut seine Königsherrschaft etabliert (40,1–11/52,7–10). Die Restitution von »Frau Zion« (49–55) zählt bereits wesentlich zu den redaktionellen Fortschreibungen, die auch die Götterbilderpolemik und die Gottesknechtslieder (bes. 52,13–53,12 sowie 42,5–9; 49,7–13; 50,10f.) umfassen. Im Zuge dessen erfolgt dann – in frühhellenistischer Zeit oder etwas vorher – auch die Verbindung mit Jes 1–39* durch Brückentexte wie 35 (s. a. 33f.), wobei der Abschluss wohl in 62,10–12 vorliegt. Hervorzuheben ist einerseits, dass das eigentliche Exil dabei in der Abfolge 36–39 → 40–62* übersprungen und so die zionstheologische Heilsperspektive des gesamten Jesajabuches akzentuiert wird; und andererseits ist zu betonen, dass es sich beim sog. tritojesajanischen Textbereich (56–66) von vornherein um buchkompositionelle Fortschreibungen – d. h. um literarisch-schriftgelehrte Tradentenprophetie – handelt, die angesichts von Gegen- und Verzögerungserfahrungen in der Perserzeit erneut über die Heilsbedingungen für Israel und die Völker reflektieren (56–59; 63–66). Die letzten großjesajanischen Bearbeitungen (bes. 65f.*) setzen – wie vermutlich die Weltgerichtstexte (z. B. 34,2–4; 24–27*) – bereits den Zusammenbruch der Perserherrschaft voraus und gehören in das hellenistische Zeitalter; zugleich zeigen sie Abstimmungen mit dem XII. b. Auch bei Jer und Ez ist, wie bereits erwähnt, mit mehreren umfangreichen Bearbeitungen während der zweihundertjährigen Perserherrschaft zu rechnen, die schon recht nahe an die vorliegenden Buchgestalten heranführen. c. Im Bereich des XII entsteht in spätexilischer Zeit wohl im Land ein dtr. geprägtes 4-Prophetenbuch Hos–Am–Mi–Zef. Es weist neben verbindenden Stichworten und Überschriften in allen Büchern ähnliche Bearbeitungen auf, die insgesamt noch radikaler als das deuteronomistische Geschichtswerk (Jos–2Kön) die vorexilische Schuldgeschichte Israels und Judas aufzeigen, die in Jhwhs Doppelgericht münden musste.122 Im unmittelbaren Umfeld des Tempelneubaus bildet sich dann auch der hintere Kern des XII in Hag–Sach 1–8* aus, der die damit verbundene ökonomische wie politische Segens- und Heilswende (Hag 2,19.20–23*; Sach 8,9–13) durch Haggais prophetische Argumentation und Sacharjas visionäre Blicke in den Himmel begründet.123 Realisiert hat sich dies freilich nicht in der erhofften Weise, was sukzessive Ergänzungen nach sich gezogen hat. Dabei werden in der Folge beide Mehrprophetenbücher – unter anderem vielleicht mithilfe eines weiteren Zweiprophetenbuches Nah–Hab – miteinander verbunden und in mehreren Schüben zum XII ausgebaut (kompositionell: Einfügungen von Joel und Ob–Jona; Fortschreibungen namentlich von Mi 4f.5f. und zuletzt Sach

122 Vgl. zu den einzelnen Redaktionen und ihren Profilen Wöhrle, Sammlungen, summierend 241–284. 123 Vgl. hierzu Leuenberger, Haggai.

§ 10 Prophetie

155

9–14; Ausgliederung von Mal zur Erreichung der Zwölfzahl; konzeptionell: bes. Völker- und Weltgerichtstexte [Jo 4,12–16; Zef 3,8; Hag 2,6–8.21f. u. a.]).124

7.

Der Abschluss der Prophetenbücher im hellenistischen Zeitalter

a. Die zuletzt genannten jüngsten Redaktionen des XII gehören ebenso wie die späten Bearbeitungen von Jes in die hellenistische Zeit; vorab gilt es an die Weltgerichtstexte (v. a. in Jes und Jer, differenziert wohl auch im XII) zu erinnern; hinzu kommt etwa die sonst bes. in den Psalmen und der Weisheit bekannte Differenzierung des Gottesvolks in Gerechte und Frevler (s. z. B. die den Jhwh-Knechten geltende Verheißung vom neuen Himmel und der neuen Erde Jes 65f.). b. Die letzten Bearbeitungen in Jes und im XII nehmen z. T. parallelisierende Querbezüge vor (s. etwa Jes 2,1–4/Mi 4,1–3 oder Jes 66,18–24/Sach 14,16–21): So wird das corpus propheticum Jes–Mal durch die vom 8. Jh. an auf die Weltgeschichte unter den Assyrern, Babyloniern, Persern (und implizit den Griechen) bis zur Neuschöpfung von Himmel und Erde ausblickenden Rahmenbücher Jes/XII eingefasst, während die Mittelbücher Jer und Ez auf die Katastrophe Jerusalems und deren Bewältigung fokussieren. Wohl am Beginn des 2. Jh. erreichen die Nebiim schließlich mit der Rahmung Jos 1,7f.13/Mal 3,22 ihren formativen Abschluss.

8.

Ausblick

Die soeben angedeuteten hochkomplexen Vorgänge der Nebiim-Formation, bei denen sich Redaktions-, Literatur-, Kanon- und Textgeschichte überschneiden (vgl. § 5–7 in diesem Band), haben in der jüngsten Forschung zu Recht erhöhte Aufmerksamkeit gefunden: Einerseits (voll)endet (sich) mit ihnen im AT das über ein halbes Jahrtausend andauernde prophetische und zunehmend literarisch-schriftprophetische Bemühen, das zeit- und situationsgebundene Gotteswort in seiner je aktuellen und zunehmend umfassend-universalen Orientierungsfunktion für Israel zu verkünden. Andererseits hat diese Integrationsbewegung eine innere Komplexität und Vielfalt bewahrt, die es auch theologisch zu würdigen gilt. Sie zeigt sich (1) an den unterschiedlichen Text-, Buch- und Nebiimgestalten, (2) an anhaltenden, nun buchextern erfolgenden Auslegungen, wie sie etwa die Pescharim aus Qumran oder die ntl. Schriftbezüge dokumentieren, und (3) in der breiten Geistes- und Literaturströmung der Apokalyptik, die z. T. literarisch an die Prophetenbücher andockt (s. neben Jes 24–27; Sach 9–14 bes. Dan 7–12 und die Zusätze in DanLXX), die Prophetie aber v. a. konzeptionell beerbt und mit der Weisheit verschmilzt. 124 Vgl. dazu und zum Folgenden Steck, Abschluss und Wöhrle, Sammlungen; Ders., Abschluss (je mit Lit.).

156

2. Kapitel: Literatur

Von hier aus muss die Frage nach dem »Ende der Prophetie« neu beurteilt werden: Entgegen der traditionellen Sicht, wonach die Prophetie in frühnachexilischer Zeit abgebrochen sei und Jesus von Nazareth über eine klaffende Lücke von einem halben Jahrtausend hinweg auf die genialen Prophetengestalten zurückgegriffen habe,125 lässt sich nun der prophetische Schriftgebrauch Jesu und der ntl. Tradenten bruchlos in die bei allem Wandel während der gesamten Epoche des zweiten Tempels kontinuierlich anhaltende Traditionsströmung der Prophetie einordnen.

Bibliographie Albani, Matthias, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient (ABG 1), Leipzig 2000. Albertz, Rainer, Elia. Ein feuriger Kämpfer für Gott (BG 13), Leipzig 2006. Barth, Hermann, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977. Becker, Uwe, Die Entstehung der Schriftprophetie: Lux, Rüdiger/Waschke, Ernst-Joachim (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie. FS für Arndt Meinhold (ABG 23), Leipzig 2006, 3–20. Blenkinsopp, Joseph, Geschichte der Prophetie in Israel. Von den Anfängen bis zum hellenistischen Zeitalter, Stuttgart u. a. 1998. Blum, Erhard, Israels Prophetie im altorientalischen Kontext. Anmerkungen zu neueren religionsgeschichtlichen Thesen: Cornelius, Izak/Jonker, Louis (Ed.), »From Ebla to Stellenbosch«. Syro-Palestinian Religions and the Hebrew Bible (ADPV 37), Wiesbaden 2008, 81–115. Deluty, Julie B., Prophecy in the Ancient Levant and Old Babylonian Mari: Religion Compass 14 (2020), 1–11: https://doi.org/10.1111/rec3.12351 (Zugriff: 16.6.2020). Fischer, Georg, Jeremia. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2007. Höffken, Peter, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2004. Jeremias, Jörg, Das Proprium der alttestamentlichen Prophetie: ThLZ 119 (1994), 483–494. Ders., Die Anfänge der Schriftprophetie: ZThK 93 (1996), 481–499. Ders., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996. Ders., Das Wesen der alttestamentlichen Prophetie: ThLZ 131 (2006), 3–14. Ders., Das Rätsel der Schriftprophetie: ZAW 125 (2013), 93–117. Jong, Matthijs de, Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets. A Comparative Study of the Earliest Stages of the Isaiah Tradition and the Neo-Assyrian Prophecies (VT.S 117), Leiden et al. 2007. Kelle, Brad E., The Phenomenon of Israelite Prophecy in Contemporary Research: CBR 12 (2014), 275–320. Koch, Klaus, Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachlässigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schädlichen Auswirkungen auf Theologie und Philosophie, Gütersloh 1970. Ders., Die Profeten, 1. Assyrische Zeit (Urban-TB 280), Stuttgart u. a. 31995. Ders., Die Profeten, 2. Babylonisch-persische Zeit (Urban-TB 281), Stuttgart u. a. 21988.

125 Siehe dazu polemisch Koch, Apokalyptik, 35–46, das neoklassische Referat von Theissen/ Merz, Jesus, 21–30.223–226 sowie die Übersicht von Kelle, Prophecy, 303–306 über den aktuellen Diskurs zum »Ende« der Prophetie.

§ 11 Poesie und Weisheit

157

Kratz, Reinhard, G., Die Propheten Israels, München 2003. Ders., Prophetenstudien. Kleine Schriften 2 (FAT 74), Tübingen 2011. Kreuch, Jan, Unheil und Heil bei Jesaja. Studien zur Entstehung des Assur-Zyklus Jesaja 28–31 (WMANT 130), Neukirchen-Vluyn 2011. Leuenberger, Martin, Haggai. Übersetzt und ausgelegt (HThKAT), Freiburg i. B. u. a. 2015. Nissinen, Martti, Prophetic Divination. Essays in Ancient Near Eastern Prophecy (BZAW 494), Berlin u. a. 2019. Ders., References to Prophecy in Neo-Assyrian Sources (SAA 7), 1998. Ders., Prophets and Prophecy in the Ancient Near East (SBLWAW 12), Atlanta 2003. Pohlmann, Karl-Friedrich, Ezechiel. Der Stand der theologischen Diskussion, Darmstadt 2008. Sauerwein, Ruth, Elischa. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie (BZAW 465), Berlin u. a. 2014. Schart, Aaron, Art. Prophetie: www.wibilex.de, 2014 (Zugriff: 16.6.2020). Schmid, Konrad, Buchgestalten des Jeremiabuches. Untersuchungen zur Redaktions- und Rezeptionsgeschichte von Jer 30–33 im Kontext des Buches (WMANT 72), Neukirchen-Vluyn 1996. Ders., Innerbiblische Schriftauslegung. Aspekte der Forschungsgeschichte: Kratz, Reinhard G. u. a. (Hg.), Schriftauslegung in der Schrift. FS für Odil H. Steck zu seinem 65. Geburtstag (BZAW 300), Berlin u. a. 2000, 1–22. Ders., Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008. Schmidt, Werner H., Zukunftsgewissheit und Gegenwartskritik. Studien zur Eigenart der Prophetie (BThSt 51), Neukirchen-Vluyn 22002. Steck, Odil H., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien (ThB 70), München 1982. Ders., Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991. Ders., Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996. Ders., Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche (BThSt 42), Neukirchen-Vluyn 2001. Stökl, Jonathan, Prophecy in the Ancient Near East. A Philological and Sociological Comparison (CHANE 56), Leiden et al. 2012. Theissen, Gerd/Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997. Tiemeyer, Lena-Sofia, Recent Currents in Research on the Prophetic Literature: ET 119 (2007), 161–169. Weippert, Manfred, Götterwort in Menschenmund. Studien zur Prophetie in Assyrien, Israel und Juda (FRLANT 252), Göttingen 2014. Wöhrle, Jakob, Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches. Entstehung und Komposition (BZAW 360), Berlin u. a. 2006. Ders., Der Abschluss des Zwölfprophetenbuches. Buchübergreifende Redaktionsprozesse in den späten Sammlungen (BZAW 389), Berlin u. a. 2008.

§ 11 Poesie und Weisheit Ludger Schwienhorst-Schönberger, Wien Nach der Tora, den Geschichts- und den Prophetenbüchern werden hier noch die restlichen Schriften der Hebräischen Bibel vorgestellt. Im hebräischen Kanon heißen sie schlicht ketubîm, »Schriften«. Dieser Kanonteil enthält vor allem poetische

158

2. Kapitel: Literatur

und weisheitliche Bücher (daher die Überschrift), aber auch Erzählungen (wie Rut, Est und Dan 1–6) sowie eine Apokalypse (Dan 7–12). Eigentlich hätten hier auch Esr, Neh und 1–2Chr ihren Platz, doch wurden diese schon in § 9 mitverhandelt.

1.

Das Buch der Psalmen

Die 150 Psalmen der Hebräischen Bibel gehören zu den großen Dichtungen der Weltliteratur und sind zudem das klassische Gebet- und Meditationsbuch Israels und der Kirche. Sie lassen sich anhand von Schlussdoxologien in fünf Bücher untergliedern (1–41; 42–72; 73–89; 90–106; 107–150). Mit der Fünfteilung des Psalters soll offensichtlich eine Entsprechung zu den fünf Büchern der Tora hergestellt werden. Die Psalmen sind die »Antwort Israels« (Gerhard von Rad) auf die Gabe der Tora (vgl. Ps 1). Die Psalmen sind poetische Texte. Die Grundform der hebräischen Poesie ist der sogenannte Parallelismus membrorum, d. h. die parallele Anordnung von Verszeilen (Kola). Als häufigste Form begegnet der Zweizeiler (Bikolon), seltener der Dreizeiler (Trikolon), noch seltener der Einzeiler (Monokolon). Eine Funktion dieser poetischen Technik ist, dass ein Thema, eine Aussage, ein Motiv aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet, in unterschiedlicher Weise zur Sprache gebracht und so in einer gleichsam kreisenden Bewegung nachdrücklich und in einer im Hinblick auf vielfältige Rezeptionen zugleich offenen Weise zum Ausdruck gebracht wird. Die Psalmen gehören unterschiedlichen literarischen Gattungen an. Häufig begegnen allerdings auch Gattungsmischungen, so dass klare Zuordnungen nicht immer möglich sind. Zudem ist zu beachten, dass jeder Psalm bei aller Konventionalität der Formen und Motive eine je individuelle, originelle Schöpfung ist. Gewöhnlich werden folgende Gattungen unterschieden, wobei die zugehörigen Elemente nicht immer vollzählig und in Reinformat anzutreffen sind: Klagepsalmen eines Einzelnen mit den Elementen Anrufung Gottes, Notschilderung, Bitte um Rettung, Vertrauensbekenntnis bzw. Dankversprechen als Vorwegnahme der erhofften Rettung (Bsp.: Ps 6; 10; 13; 22; 64; 69; 88; 102; 130). Bittpsalmen eines Einzelnen mit einleitender Bitte, Betonung der Unschuld, Notschilderung und abschließender Bitte mit Blick auf Feinde und Freunde, oft in Verbindung mit einem Vertrauensbekenntnis oder einem Dankversprechen (Bsp.: Ps 5; 7; 17; 25; 26; 28; 35; 38; 56; 57; 59; 86; 140–143); häufig werden Klagepsalmen und Bittpsalmen eines Einzelnen als eine einzige Gattung angesehen. Dankpsalmen eines Einzelnen mit Ankündigung des Dankes (Gottesanrede), Rettungserzählung (Gottesanrede) und Einladung an die »Gemeinde«, sich dem Dank an Gott (Rede über Gott) anzuschließen (Bsp.: Ps 9; 30; 116; 118). Die Dankpsalmen blicken auf die in den Klage- und Bittpsalmen geschilderte Not zurück und danken für die erfahrene Rettung. Hymnen (Loblieder) mit der Aufforderung zum Gotteslob (Aufgesang), Begründung und Durchführung des Lobpreises (corpus hymni) und Abgesang (Bsp.: Ps 29; 93; 100;

§ 11 Poesie und Weisheit

159

103; 104; 113; 117; 135; 136; 145; 148). Die Hymnen preisen das Wesen Gottes, seine Größe und Wirkmächtigkeit in Schöpfung und Geschichte. Zionspsalmen sind Kulthymnen, die den im Tempel auf dem Zion bzw. in der Gottesstadt gegenwärtigen und von dort das Chaos bekämpfenden Gott feiern (Bsp.: Ps 46; 47; 48; 76). Volksklagelieder mit der Anrufung Gottes und Notschilderung, der Bitte um ein Ende der Not, der Vernichtung der Feinde (Feindvölker) und dem Lobversprechen oder Vertrauensbekenntnis (Bsp.: Ps 44; 74; 79; 80; 83). Geht es im Klagelied des Einzelnen um individuelle Nöte mit der häufigen Gegenüberstellung des Beters und seiner Feinde, so im Volksklagelied um die Nöte des Volkes mit der häufigen Gegenüberstellung Israels und der (feindlichen) Völker. Die Volksklagelieder enthalten eine implizite Ekklesiologie, da sie die Situation des Gottesvolkes in der Welt als eine Situation der Anfechtung beschreiben, die nur im Vertrauen auf die rettende Macht Gottes bestanden werden kann. Königspsalmen sind von ihrem Ursprung her auf Feierlichkeiten und Amtshandlungen des Jerusalemer Königs bezogen (wie Inthronisation, Krieg). Sie entfalten eine Theologie des königlichen Amtes, die deutliche Parallelen zu den Königstheologien in Ägypten und Assur aufweist. In exilisch-nachexilischer Zeit boten sie vielfältige Anknüpfungspunkte für eine messianische Fortschreibung und Interpretation (Bsp.: Ps 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 110). Lehr- und Weisheitspsalmen sind streng genommen keine Gebete, sondern Reflexionen und Meditationen über das Gelingen des Lebens, über das Ergehen der Guten und Bösen, über die Ordnung der Schöpfung und das Gesetz (Bsp.: Ps 1; 37; 39; 49; 73; 112; 119; 127; 128). Die Datierung einzelner Psalmen ist schwierig. In vorexilischer Zeit könnten die Primärfassungen der Königspsalmen (Ps 2; 18; 21; 45; 72; 110) entstanden sein mit ihrem Bezug zum Jerusalemer Königtum. Ebenso dürften die mit dem Tempel in Verbindung stehenden Jhwh-König-Psalmen (Ps 24; 29; 93) und die Zionshymnen (Ps 46; 47; 48; 76) aus dieser Zeit stammen. Auch eine Reihe von Klage-, Bitt- und Dankpsalmen stammt aus vorexilischer Zeit. Der Volksklagepsalm Ps 80 könnte sich auf die Zerstörung des Nordreichs im Jahre 722 v. Chr. beziehen, während der Volksklagepsalm Ps 74 die Zerstörung Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. vor Augen hat. Das Psalmenbuch ist sehr wahrscheinlich in Form von Teilsammlungen – vereinfachend gesprochen – von vorne nach hinten gewachsen, wobei die Psalmen 1 und 2 jedoch nicht Teil der ältesten Kompositionen waren. Auch wenn die ursprünglich kultische Verwendung einzelner Psalmen unbestritten ist und Psalmen früh Eingang in den Synagogengottesdienst fanden, dürfte der Psalter gleichwohl nicht als »Gesangbuch des Zweiten Tempels« und auch nicht als »Gesang- und Gebetbuch der synagogalen Liturgie« entstanden sein, sondern als ein Gebet- und Meditationsbuch für Laien, das als Kurzfassung von »Gesetz und Propheten« im Rahmen der persönlichen Frömmigkeit rezitiert und auswendig gelernt wurde. Gerade die jüngsten Teile des Psalters lassen eine deutliche Nähe zur Weisheit erkennen. Mit der Verbindung von Gesetz, Weisheit, messianischer Hoffnung

160

2. Kapitel: Literatur

und »Armenfrömmigkeit« wurde der Psalter zum Lese- und Lebensbuch jener Kreise, die in gewisser Distanz zur Tempelaristokratie und zur hellenisierten Oberschicht standen und sich als »die Armen und Frommen« verstanden, die in den Psalmen Trost und Hoffnung fanden. Der Psalter kann in gewisser Weise als eine »Summe biblischer Theologie« verstanden werden. Martin Luther nannte ihn »die kleine Biblia«. In ihm kommt das Leben des Menschen und des Gottesvolkes in all seinem Elend und in all seiner Größe zur Sprache. Die am häufigsten und vor allem in den ersten Teilen des Psalters anzutreffenden Klage- und Bittgebete zeigen, dass das Leben des Menschen von Not und Bedrängnis gezeichnet ist. So steht am Beginn des Weges zu Gott die Wahrnehmung der eigenen Not. Die Not wird offen in Klage und Anklage betend vor Gott ins Wort gefasst. In den vielfältigen Nöten des Lebens wie Krankheit, Verfolgung und Schuld kommen Nöte zum Vorschein, die letztlich nur von Gott her gewendet werden können. In vielfältiger Weise bezeugen die Danklieder tatsächlich erfahrene Rettung aus der Not. Über die Erfahrung einmaliger Rettung hinausgehend bezeugen sie, dass Gott denen nahe ist, die nach ihm rufen. Daraus erwächst der Lobpreis Gottes, der das Leben des Menschen, der sich ihm anvertraut, vor dem Untergang rettet (vgl. Ps 103,4). Die Abfolge der fünf Bücher der Psalmen kann als die Geschichte des davidischen Königtums gelesen werden: Sie erstreckt sich vom leidenden König David (1. Psalmenbuch: Ps 1–41) über den triumphierenden König (2. Psalmenbuch: Ps 42–72) bis zum Ende des davidischen Königtums (3. Psalmenbuch: Ps 73–89). Das sich daran anschließende 4. Psalmenbuch (Ps 90–106) reflektiert im Lichte der Tora (Ps 90,1: »Ein Bittgebet des Mose, des Mannes Gottes«) den Untergang des Königtums als Sinnbild menschlicher Vergänglichkeit. Im 4. Psalmenbuch ist David weitgehend verschwunden; nur zwei Psalmen werden hier noch dem König zugeschrieben. An die Stelle des davidischen Königtums tritt das Königtum Gottes. Die Jhwh-KönigPsalmen (Ps 90–100) bilden das Zentrum dieser Sammlung. Endete das 4. Psalmenbuch mit der Bitte um ein Ende des Exils, um die Sammlung und Heimführung Israels (Ps 106,47), so beginnt das 5. Psalmenbuch (Ps 107–150) programmatisch mit einem Danklied der aus dem Exil Erlösten: »Danket Jhwh, denn er ist gut, denn seine Huld währt ewig. So sollen sprechen die von Jhwh Erlösten, die er erlöst hat aus der Hand des Bedrängers« (Ps 107,1–2). In diesem letzten Teil des Psalters stehen der Wiederaufbau Jerusalems und seines Tempels, die Sammlung und Heimkehr Israels (Ps 147,2) sowie der Lobpreis Gottes in seinem Heiligtum (Ps 150,1) im Zentrum. Die fünfzehn Wallfahrtspsalmen (Ps 120–134) sind in diesem Licht zu lesen. Die Tradition sieht in David den Verfasser der Psalmen. Als verfolgter und zugleich aus Not und Verfolgung geretteter König wird David zum paradigmatischen Beter der Psalmen. In dieser Tradition steht auch das christliche Verständnis der Psalmen. Die neutestamentliche Christologie ist weithin Psalmen-Christologie. Etwa ein Drittel aller alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament stammt aus dem Psalter. Jesus betet die Psalmen als Gesalbter (»Messias«) und Sohn Davids

§ 11 Poesie und Weisheit

161

(Mt 27,46). Wie David wird er von Feinden verfolgt, doch Gott gibt ihn nicht der Unterwelt preis, er lässt seinen Frommen das Grab nicht schauen (Ps 16,9; Apg 2,25–28). Bibliographie Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Die Psalmen I. Psalm 1–50 (NEB), Würzburg 1993. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg u. a. 2000. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 101–150 (HThKAT), Freiburg u. a. 2008.

2.

Das Buch der Sprichwörter

Das Buch der Sprichwörter ist das klassische Werk alttestamentlicher Weisheitsliteratur. Es stellt eine Sammlung von Sprichwörtern dar, die geordnet und nach besonderen Gesichtspunkten aufeinander abgestimmt das Buch zu einer Lebenslehre im umfassenden Sinn des Wortes werden lassen: »Die Lehre des Weisen ist ein Lebensquell, um den Schlingen des Todes zu entgehen« (13,14). Folgt man den Überschriften des Buches, so lässt sich ein siebenteiliger Aufbau erkennen (1–9; 10,1 – 22,16; 22,17 – 24,22; 24,23–34; 25–29; 30; 31). Ein verdeckter Hinweis darauf findet sich möglicherweise in Spr 9,1: »Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen«. Der erste (1–9) und der siebte Teil (31) sind durch gemeinsame Motive und Stichworte aufeinander bezogen. Sie bilden den Rahmen des Buches. In Spr 1,20–33 und 8 wird die Weisheit als eine Frau vorgestellt (»Frau Weisheit«), die in der Öffentlichkeit (1,20: »auf der Straße, auf den Plätzen«) eine Rede hält. Sie korrespondiert mit der tüchtigen Frau am Ende des Buches, die »ihren Mund in Weisheit öffnet und auf deren Zunge sich liebevolle Weisung findet« (31,26). Damit stehen am Anfang und am Ende des Buches weibliche Gestalten, die den (männlichen) Adressaten (»Höre, mein Sohn«) Mahnung und Weisung erteilen. Eine weitere Rahmung wird durch das Motiv der Jhwh-Furcht hergestellt. In Spr 1,7 heißt es programmatisch: »Die Furcht Jhwhs ist Anfang der Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Zucht.« Das Motiv findet sich am Anfang und am Ende des ersten Teils (1,7; 9,10), in der Mitte (15,33) und am Ende (31,30) des Buches. Es scheint gezielt redaktionell gesetzt zu sein. Wie Parallelen zu afrikanischen Sprichwörtern zeigen, wird man damit rechnen können, dass der ein- und zweizeilige Spruch im Volksmund entstanden ist und ursprünglich mündlich überliefert wurde. Die schriftliche Aufzeichnung derartiger Sprüche dürfte im Kreise der Weisen erfolgt sein, vermutlich am königlichen Hof, in der Schule und in späterer Zeit wohl auch am Tempel. Dabei wird man das weisheitliche Material nach übergreifenden Gesichtspunkten geordnet und ergänzt und dazu auch neue Sentenzen und Mahnungen verfasst und hinzugefügt haben. Für die weisheitliche Lehrrede, die vor allem in Spr 1–9 anzutreffen ist, muss man allerdings mit einem schriftlichen Ursprung im Kreis der Weisheitslehrer rechnen. Ihr ursprünglicher Sitz im Leben ist der Unterricht, wie u. a. durch die Anrede

162

2. Kapitel: Literatur

»mein Sohn« (1,8; 2,1; 3,1 u. ö.) deutlich wird. Der Grundstock des Buches liegt im zweiten und fünften Teil (10,1 – 22,16; 25–29) vor und stammt wahrscheinlich aus vorexilischer Zeit. Spr 30, eine Zusammenfassung späten weisheitlich-theologischen Denkens, dürfte zu den jüngsten Teilen des Buches gehören und aus dem 4. Jh. stammen. Die Endredaktion, auf die wahrscheinlich die strukturell gezielt gesetzten Aussagen über die Jhwh-Furcht (1,7; 9,10; 15,33; 31,30) und somit eine gewisse Theologisierung der Weisheit zurückgeht, ist in das 4.–3. Jh. v. Chr. zu datieren. Die Grundstruktur weisheitlichen Denkens ist von einer Ordnungsvorstellung geprägt, die gewöhnlich als »Tun-Ergehen-Zusammenhang« bezeichnet wird.126 In der Anordnung einzelner Sprüche lässt sich erkennen, dass die Ethik des Buches auf das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zielt. Die Nächstenliebe, die die Liebe zum Feind mit einschließt (17,13; 20,22; 24,17.28f.; 25,21f.), gründet in der Selbstliebe und nimmt Maß an ihr. In der Sorge für sich und für andere (31,19f.) sucht sie die rechte Mitte. Das Buch warnt vor einem rücksichtslosen Egoismus (1,10–19; 21,13) ebenso wie vor den Gefahren eines unreflektierten Altruismus, der in mangelnder Selbstachtung gründet und in eigener Verwahrlosung endet (6,1–5; 11,15; 22,26f.; 27,13). Das weisheitliche Denken ist universalistisch ausgerichtet. Es geht um Fragen des Menschseins überhaupt. Die klassischen Themen biblischer Geschichtstheologie wie Exodus, Erwählung und Bundesschluss spielen im Buch der Sprichwörter keine Rolle. Bibliographie Meinhold, Arndt, Die Sprüche (ZBK.AT 16.1–2), Zürich 1991. Rad, Gerhard von, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970. Saur, Markus, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012.

3.

Das Buch Hiob

Das Hiobbuch erzählt die Geschichte eines Mannes namens Hiob, der von schwerem Leid getroffen wird: Er verliert seinen Besitz, seine Dienerschaft und seine Kinder (1,13–19) und wird schließlich mit schwerem Aussatz geschlagen (2,7f.). Im Hintergrund steht ein Gespräch zwischen Gott und dem Satan. Es findet im Himmel statt (1,6–12; 2,1–6). Hiob wird in der Erzählung als gerecht und gottesfürchtig vorgestellt (1,1–5). Doch der Satan behauptet, Hiobs Frömmigkeit sei eigennützig. Um dies zu überprüfen, gestattet Gott dem Satan, Hiob schweres Unheil zuzufügen. Hiob, der von dem Gespräch im Himmel nichts weiß, nimmt zunächst sein Leid aus der Hand Gottes ergeben an (1,20–22; 2,9f.). Schließlich besuchen ihn seine drei Freunde, um ihn zu trösten (2,11–13). Nach einer Zeit siebentägigen Schweigens bricht es aus Hiob heraus: Er klagt und verflucht den Tag seiner Geburt (3). An dieser Klage entzündet sich eine lange Auseinandersetzung zwischen Hiob und sei-

126 Siehe dazu unten § 23 dieses Bandes.

§ 11 Poesie und Weisheit

163

nen drei Freunden (4–31). Hiob beklagt die Sinnlosigkeit seines Leids. Seine Klage steigert sich zur Anklage Gottes. Seine Freunde weisen die Maßlosigkeit seiner Klage zurück. Durch gut gemeinte Ratschläge wollen sie ihm helfen: Er möge sein Leid aus der Hand Gottes annehmen; möglicherweise sei es eine Strafe für eine verborgene Schuld; er solle sich mit ganzem Herzen Gott zuwenden. Hiob weist das Ansinnen seiner Freunde zurück. Es kommt zum Zerwürfnis. In zunehmendem Maße wendet sich Hiob klagend und anklagend an Gott. Er fordert ihn zu einer Antwort heraus (31,35–40). Bevor Gott antwortet, ergreift ein vierter Freund, Elihu, von dem der Leser bisher nichts erfahren hat, das Wort (32–37). Er äußert seine Unzufriedenheit mit dem Verlauf des Streitgesprächs und unterbreitet Hiob seinerseits ein theologisch fundiertes Deutungsangebot. Schließlich antwortet in zwei großen Reden Gott, der hier mit seinem Namen Jhwh eingeführt wird (38,1 – 40,2; 40,6 – 41,26). In seiner Reaktion auf die Gottesreden erklärt Hiob den Streit für beendet (40,3–5). Wonach er so sehr verlangt hat (19,26), ist ihm zuteil geworden: Gott zu schauen (42,5). Im abschließenden Epilog tadelt Gott die Freunde (42,7–9). Hiob bringt auf Gottes Geheiß ein von den Freunden finanziertes Opfer dar, um sie zu entsühnen. Hiob selbst wird wiederhergestellt (42,10–17): Er erhält seinen Besitz in doppeltem Maße zurück, bekommt erneut sieben Söhne und drei Töchter und stirbt hochbetagt und lebenssatt. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Prolog (1–2), Dialog (3,1 – 42,6) und Epilog (42,7–17). Prolog und Epilog sind in Prosa gehalten und bilden den Rahmen um den in Poesie verfassten Dialogteil. Gewöhnlich wird mit einem dreiphasigen Entstehungsmodell gerechnet: (1) Zum ältesten Bestand dürfte die Rahmenerzählung 1,1 – 2,10; 42,10–17 gehören. Sie kann als eine in sich geschlossene theologische Lehrerzählung verstanden werden nach Art einer Novelle. In ihr wird ein volkstümlicher Sagenstoff erzählerisch gestaltet, der noch in Ez 14,12–23 greifbar ist: Ein Gerechter namens Hiob wird von schwerem Leid heimgesucht. Er bewährt sich in dieser Situation, indem er das Leid annimmt und den Namen Jhwhs preist. Jhwh wendet am Ende das Geschick dieses Gerechten. (2) In einer späteren Phase wurde die Erzählung wahrscheinlich aufgesprengt und durch den umfangreichen Dialogteil (2,11 – 27,23; 29–31; 38,1 – 42,6) erweitert. Die in der Rahmenerzählung anvisierte Lösung wird problematisiert, Hiob wandelt sich vom Dulder zum Rebellen. In dieser Form gehört das Buch zur Auseinandersetzungsliteratur. (3) Noch einmal später wurden wohl die Elihureden eingefügt (32–37). In ihnen wird versucht, aus der Ausweglosigkeit herauszuführen, in der die Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen drei Freunden geendet hat. Zudem leiten die Elihureden zu den anschließenden Gottesreden über. Wahrscheinlich ist auch das Lied über die Weisheit (28) eine spätere Ergänzung. Aufgrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit traditionalen Wissensgehalten dürfte das Buch – zumindest in der durch den Dialog erweiterten Gestalt – nicht zu den ältesten Werken israelitischer Weisheitsliteratur zu rechnen sein. Als Entstehungszeit kommt am ehesten der Zeitraum vom 6. bis zum 3. Jh. v. Chr. in Frage. Im Hiobbuch geht es um die Frage nach dem Leid des Menschen (vgl. 7,1–10; 14). Das Thema wird in Form einer dramatischen Erzählung gestaltet, in der deutliche

164

2. Kapitel: Literatur

Anklänge an Formen und Motive des griechischen Dramas zu erkennen sind. Bei unterschiedlicher Akzentuierung im Einzelnen vertreten die vier Freunde eine in sich einheitliche Theologie, die auf die Frage nach dem Leid um vier Antworten kreist. Eine erste Antwort lautet: Leid ist Folge menschlicher Schuld. Der Fromme hat für sein Verhalten Lohn, der Frevler hingegen Strafe zu erwarten (vgl. 15,20–35; 18,5–21; 27,7–10.13–23; 36,5–14). Eine zweite Antwort besagt: Leid gehört zur Natur des Menschen, es ist Folge seiner Kreatürlichkeit (4,17–21; 5,7; 9,2; 15,14–16; 25,4–6). Eine dritte Antwort versteht das Leid als eine Form göttlicher Erziehung und Zurechtweisung (5,17–18); diese Position einer Leidenspädagogik Gottes wird vor allem von Elihu vertreten (32–37). Eine vierte Antwort schließlich sieht im Leid eine Prüfung des Frommen (36,21); im Leid zeige sich, ob der Glaube in der Prüfung standhalte. Hiob lehnt die von seinen Freunden vertretenen Positionen und Ratschläge ab. Er beharrt auf seiner Unschuld. Es fällt auf, dass die Freunde Hiobs ausschließlich über, nie jedoch zu Gott sprechen. Hiob dagegen spricht nicht nur über, sondern auch und vor allem zu Gott – bittend, klagend und anklagend. Dieser Gott, den er zum Rechtsstreit herausfordert und von dem er eine Antwort auf sein unbegreifliches Leid erfleht, antwortet ihm (38,1; 40,1.3.6). Doch die Antwort Gottes besteht aus lauter Fragen. Versuchten die Freunde vergeblich, Hiobs Haltung direkt zu brechen, so gelingt es den Gottesreden auf indirekte Art, Hiob aus der Verweigerung seines Einverständnisses zu lösen, indem seine Wahrnehmung auf den Kosmos gelenkt wird, in dem Gott als Schöpfer und Bändiger des Chaotischen verborgen gegenwärtig ist. Die Erkenntnis (42,2), die ihm darin zuteil wird, hält Hiob abschließend in dem Wort fest: »Jetzt aber hat mein Auge dich geschaut« (42,5b). So besteht die Lösung des Hiob-Problems nicht in einer sprachlich zu vermittelnden Wahrheit über Gott, in dem, was Hiob »vom Hörensagen her vernommen hat« (42,5a), sondern im Erweis dieser Wahrheit selbst. So gesehen gibt das Hiobbuch keine Antwort auf die Frage nach dem Leid. Wohl jedoch erzählt es von einem Weg, der zu einer Antwort führt. Bibliographie Schmid, Konrad, Hiob als biblisches und antikes Buch. Historische und intellektuelle Kontexte seiner Theologie (SBS 219), Stuttgart 2010. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob, Freiburg u. a. 2007.

4.

Das Buch Kohelet

Das Buch nimmt innerhalb der alttestamentlichen Weisheitsliteratur eine besondere Stellung ein. Es vermittelt nicht die Grundlagen der Erziehung, wie etwa das Buch der Sprichwörter, sondern setzt ein gewisses Maß an weisheitlichem Grundwissen voraus. Angesprochen ist der »junge Mann« (11,9), nicht mehr der »Sohn« (vgl. Spr 2,1; 3,1 u. ö.). Dieses Grundwissen wird aber nicht einfach erweitert, sondern zum Gegenstand einer kritischen Überprüfung gemacht. Das Buch Kohelet gehört – ähnlich wie das Buch Hiob – zur sogenannten Auseinandersetzungsliteratur.

§ 11 Poesie und Weisheit

165

Kohelet zitiert traditionelle Sprichwörter, die er im Rückgriff auf eigene Erfahrungen kritisch kommentiert. Vom Inhalt und von der Art der geführten Argumentation her betrachtet, gleicht das Buch eher einer philosophischen Erörterung, wie sie in der Antike als Diatribe, einer lockeren, durch Rede und Gegenrede gekennzeichneten populärphilosophischen Abhandlung bekannt war. Im ersten Teil (1,3 – 3,22) findet sich in Grundzügen eine Philosophie des Glücks. Hier hebt sich die sogenannte Königstravestie (1,12 – 2,26) heraus: Kohelet schlüpft in die Rolle eines Königs, um einen spezifischen Lebensentwurf durchzuspielen. Er versucht, sich durch großartige Werke, durch Anhäufung von Wissen und durch direkt angezielte Lustmaximierung Glück zu verschaffen, doch er muss erkennen, dass damit nicht jenes Glück erreicht wird, auf das er als Mensch angelegt ist. Das »Königsexperiment« endet in 2,11.17.23 in Verdruss und Verzweiflung. In 2,24–26 bricht Kohelet zu einer neuen Erkenntnis durch: Das von ihm gesuchte Glück findet sich erst dort, wo auch von Gott die Rede ist. Dieses neue Wissen bestimmt den weiteren Gang der Erörterung. Von dieser Einsicht aus werden die großen Themen der biblischen Tradition, ihrer Anthropologie und Theologie, angegangen: Zeit (3,1–9), Gott und Ewigkeit (3,10–15), Leben angesichts des Todes (3,16–22). Der zweite Teil (4,1 – 6,9) widmet sich der Entfaltung jener im ersten Teil grundgelegten Lehre vom guten und gelingenden Leben. Probleme und Themen der damaligen Lebenswelt werden entfaltet: Ausbeutung und Konkurrenzkampf (4,1–6), Gefahren des Alleinseins (4,4–12), Unbeständigkeit der Macht (4,13–16), Religion (4,17 – 5,6), Königtum (5,7–8), Armut und Reichtum (5,9 – 6,9). Im dritten Teil (6,10 – 8,17) wird vor allem das normative Wissen der Zeit einer kritischen Überprüfung unterzogen. Hier schlägt der weisheitskritische Zug des Buches am stärksten durch. Im Gespräch mit traditioneller Spruchweisheit entwickelt Kohelet im vierten Teil (9,1 – 12,7) seine Weisungen zum tatkräftigen Handeln, die im Aufruf zur Freude und zum Gottesgedenken (9,7–10; 11,9 – 12,7) ihr Ziel und ihren Abschluss finden. Die durch Koh 1,1 (»Worte Kohelets, des Sohnes Davids, des Königs in Jerusalem«) in Verbindung mit 1,12 und 2,3–11 dem Leser angebotene Identifikation von Kohelet und König Salomo ist eine literarische Fiktion. Sprachliche und inhaltliche Eigentümlichkeiten sprechen für eine nachexilische Entstehungszeit des Buches. Wahrscheinlich gehört es in die hellenistische Epoche. Es ist nicht auszuschließen, dass Sirach (190 v. Chr.) das Buch gekannt hat. So dürfte das Buch in der Zeit zwischen 250 und 190 v. Chr. in Jerusalem entstanden sein. Jede Interpretation des Buches sieht sich vor die Herausforderung gestellt, die einander (scheinbar) widersprechenden Aussagen zu verstehen und in rechter Weise einander zuzuordnen. Eine Richtung der Forschung hebt den pessimistischen Zug des Buches hervor, versteht den Motto- und Rahmenvers »Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch« (1,2; vgl. 12,8) im Sinne von »alles ist absurd« und rückt das Buch in die Nähe einer Philosophie des Absurden. Eine andere Richtung sieht im Aufruf zur Freude (5,17–19; 9,7–10; 11,9) den Schlüssel zum Verständnis des Buches, einer Freude, die als Gabe (3,13) und nach 5,19 möglicherweise sogar als »Antwort Gottes« den Vergänglichkeits- und Nichtigkeitscharakter des Lebens durchbricht.

166

2. Kapitel: Literatur

Diesem zuletzt genannten Verständnis nach gehört das Buch in jene altorientalische und antike Tradition, welche die Frage nach dem Inhalt und der Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks in das Zentrum ihrer Reflexionen stellt. Die sogenannten pessimistischen Aussagen des Buches hätten dabei die Funktion, falsche aber verbreitete Glücksvorstellungen zu dekonstruieren. Sie heben den verborgenen Nihilismus einer (oberflächlich-)optimistischen Lebenskonzeption ans Licht, um den Weg freizumachen, der zum »wahren Glück« führt. In der literarischen Figur des Kohelet wird dieser Prozess durchgespielt. Vor allem jener Teil des Buches, in dem Kohelet als König in Erscheinung tritt (»Königstravestie« 1,12 – 2,26), zeigt, dass ein äußerlich glanzvolles Leben, dem es an Lust und Freude nicht mangelt (2,16), angesichts der Erfahrung des Todes (2,16) in die Verzweiflung führt (2,17.22f.). Überwunden wird ein derartiger Lebensentwurf in der Erfahrung jener Freude, die »aus der Hand Gottes stammt« (2,24; vgl. 3,13). Anthropologisch wird diese Art der Freude als ein spezifischer Modus der Erfahrung (»essen, trinken, lieben«; 5,17–19; 9,7–10) näher bestimmt, als ein sensitives Erwachen (carpe diem) – in Absetzung von einer Haltung des Habens, die sich darin erschöpft, die Gaben des Lebens zu sammeln und zu horten, die aber nicht mehr in der Lage ist, dieselben auch zu genießen (vgl. 2,26; 5,12–16; 6,1–6; 9,7–9). Gegen Ende des Buches ruft Kohelet den jungen Mann zur Freude und zum Gottesgedenken auf: »Denk an deinen Schöpfer in den Tagen deiner Jugend!« (12,1). Der Rat, seines Schöpfers bereits in den Tagen der Jugend zu gedenken, entfaltet sein besonderes Profil vor dem Hintergrund jener Jugend, die »König Kohelet« ohne Gott zu leben versucht hat (1,12 – 2,23). Die Quintessenz der Königstravestie besteht gerade darin, dass hier die Brüchigkeit eines Lebensentwurfs zur Sprache kommt, in dem Gott nicht vorkommt. In der reflexiven Durchdringung der dabei in Erscheinung tretenden Aporien und der existentiellen Verarbeitung der damit einhergehenden Krisen gelangt »König« Kohelet zu der Einsicht, dass das Glück, das er sucht, ohne Gott nicht gedacht werden kann. Der Aufruf zur Freude (11,9–10) und zum Gedenken des Schöpfers (12,1–7.8) gehören dem Selbstverständnis des Buches nach wesentlich zusammen.

Bibliographie Köhlmoos, Melanie, Kohelet. Der Prediger Salomos (ATD 16,5), Göttingen 2015. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Kohelet (HThKAT), Freiburg u. a. 2004, 22011.

5.

Das Hohelied

Die von Martin Luther stammende Bezeichnung »Das Hohe Lied« geht auf die hebräische Überschrift des Buches zurück: »Das Lied der Lieder, das von Salomo« (1,1). Der Ausdruck »Lied der Lieder« ist superlativisch zu verstehen im Sinne von »das schönste, das höchste Lied«. Die Angabe »das von Salomo (stammt)« ist nicht im Sinne einer modernen Autorenangabe zu verstehen.

§ 11 Poesie und Weisheit

167

Das Hohelied ist eine Sammlung von Liebesliedern. Als Liebeslyrik steht es in einer breiten altorientalischen Tradition. In vergleichbaren Texten des mesopotamischen Kulturkreises kommt vor allem ein kultisch-ritueller Aspekt der Liebe zur Sprache. Die ägyptischen Liebeslieder dagegen sind vor allem geprägt von der wechselseitigen Sehnsucht der Liebenden. Ob sich im Hld ein planvoller Aufbau erkennen lässt, ist umstritten. Die meisten Gliederungsvorschläge sprechen 5,1b und 8,6–7 eine herausgehobene Stellung zu: 5,1b als der im Zentrum stehenden Aufforderung zum Lebens- und Liebesgenuss und 8,6–7 als der großen, am Ende des Buches stehenden »Summe der Liebe«, in der diese als eine dem Tod ebenbürtige, ja ihn sogar übertreffende Macht hymnisch gepriesen wird. Mehrheitlich wird gegenwärtig für eine Datierung des Buches in die persischhellenistische Zeit (5.–3. Jh. v. Chr.) plädiert. Diese Datierung schließt aber nicht aus, dass einzelne Lieder älter sein und als Traditionsliteratur bis in die Königszeit zurückreichen können. Bei der Frage nach der theologischen Bedeutung des Hld wurde immer wieder mit Verwunderung festgestellt: Wie konnte dieses Buch, in dem das Wort »Gott« kein einziges Mal vorkommt, überhaupt in den Kanon heiliger Schriften aufgenommen werden? Die jüdisch-christliche Tradition hat das Problem mit der sogenannten allegorischen Interpretation gelöst. Ihr zufolge spricht das Hld zwar von der Liebe zwischen Mann und Frau, es meint jedoch damit etwas anderes, nämlich die Liebe zwischen Gott und seinem Volk, die Liebe zwischen Christus und seiner Kirche (ekklesiologische Deutung), die Begegnung und Vereinigung der Seele mit Gott (mystische Deutung) oder gar die Liebe zwischen Christus und Maria (mariologische Deutung). Im Judentum reicht das allegorische Verständnis bis in die 2. Hälfte des 1. Jh.s v. Chr. zurück. Es zeigt sich heute noch darin, dass das Hohelied als Festrolle beim Pessach-Fest gelesen wird, das die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens als Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk feiert. Die Kirche hat das allegorische Verständnis nur übernommen und weiter ausgebaut. Im Zuge der neuzeitlichen Bibelkritik wurde das allegorische Verständnis mehr und mehr zurückgedrängt. Die sogenannte »natürliche Deutung« setzte sich durch. Ihr zufolge ist das Hohelied eine Sammlung profaner Liebeslieder. Die erotisch-sexuelle Liebe zwischen Mann und Frau wird als eine Quelle der Lust und der Freude erlebt und gepriesen (4,15). Die Liebenden entziehen sich weitgehend den Ansprüchen einer patriarchalen Gesellschaft. Man gewinnt den Eindruck, dass Redeformen so auf beide Partner verteilt sind, dass die uns aus anderen Texten der Schrift bekannten Rollenverteilungen (gezielt) unterlaufen werden. Die Frau scheint einen aktiveren Part zu spielen als der Mann. Mit ihrem Ausdruck des Begehrens (1,2–4) setzt sie die Handlung in Gang. Ihr gehören das erste (1,2–4) und das letzte Wort (8,14), in ihrem Mund findet sich die Spitzenaussage von der Liebe als einer dem Tod ebenbürtigen, ja ihn sogar überwindenden Macht (8,6f.), und sie spricht den Satz von 7,11, der wie eine Umkehrung des Fluches aus Gen 3,16 erscheint, wo von der Herrschaft des Mannes über die Frau als Folge der Sünde die Rede ist. In mehrfacher Variation begegnet im Hohelied eine Gartenmetaphorik, die den »Paradiesgarten« von Gen 2 in Erinnerung ruft. Der Garten im Hohelied ist zum einen Metapher für die Frau (4,12: »ein verschlossener Garten ist meine Schwester

168

2. Kapitel: Literatur

Braut«), zum anderen aber auch der Ort, an dem die Liebenden zueinander finden und ihre Liebe genießen: »Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten« (4,16). Die Analogien zwischen dem Garten von Hld und dem von Gen 2 lassen den Gang in den zunächst verschlossenen (4,12), sich dann aber öffnenden Garten und das Genießen seiner Früchte (4,16) als eine Wiederentdeckung des Paradieses verstehen. Die neuere exegetische Diskussion hat gezeigt, dass das sogenannte »natürliche« (»profane«) und das allegorisch-symbolische (»geistige«) Verständnis des Hoheliedes nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Wird das Hohelied im Kontext der Heiligen Schrift gelesen, in dem über weite Strecken vom Verhältnis Gottes zu seinem Volk in Begriffen und Metaphern von Liebe und Ehe gesprochen wird (vgl. Hos 2; Jer 2; Ez 16; 23), dann legt sich ein allegorisch-typologisches Verständnis durchaus nahe. In diesem Sinn wurde das Hohelied der klassische Bezugstext christlicher Braut- und Liebesmystik und zu dem am häufigsten kommentierten Buch der Bibel. Bibliographie Gerhards, Meik, Das Hohelied. Studien zu seiner literarischen Gestalt und theologischen Bedeutung (ABIG 35), Leipzig 2010. Keel, Othmar, Das Hohelied (ZBK.AT 18), Zürich 21992. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Das Hohelied der Liebe, Freiburg u. a. 2015. Zakovitch, Yair, Das Hohelied (HThKAT), Freiburg u. a. 2004.

6.

Das Buch Rut

Das Buch Rut ist ein Meisterwerk hebräischer Erzählkunst. Es ist benannt nach einer seiner Hauptpersonen, der Moabiterin Rut. Die erzählte Geschichte spielt in der Richterzeit (1,1). Aufgrund einer Hungersnot verlässt ein Mann namens Elimelech mit seiner Frau Noomi und den beiden Söhnen Machlon und Kiljon Betlehem und lässt sich im Land Moab nieder. Die beiden Söhne heiraten moabitische Frauen, Orpa und Rut. Nach einiger Zeit sterben Elimelech und seine beiden Söhne. Noomi bleibt allein mit ihren beiden Schwiegertöchtern Orpa und Rut zurück. Nach dem Ende der Hungersnot kehrt Noomi zusammen mit ihrer moabitischen Schwiegertochter Rut nach Betlehem zurück. Rut arbeitet während der Gerstenernte auf den Feldern eines Verwandten namens Boas. So versorgt sie sich und ihre Schwiegermutter mit Brot. Auf den Rat ihrer Schwiegermutter hin legt sie sich nach der Ernte nachts auf der Dreschtenne zu Boas und bittet um die Leviratsehe (vgl. Dtn 25,5–10), die hier mit der Institution des »Lösens« in Verbindung gebracht wird (3,9). Das Rechtsinstitut des Lösens verpflichtet zu finanzieller Solidarität innerhalb einer Familie. War jemand aufgrund wirtschaftlicher Not gezwungen, seinen Grundbesitz zu verkaufen, dann sollte einer seiner nächsten Verwandten das Vorkaufsrecht wahrnehmen, damit der Grundbesitz innerhalb der Familie verbleibt (vgl. Lev 25,23–28). Noomi will ein Grundstück, das ihrem verstorbenen Mann gehörte, verkaufen. Aufgrund einer originellen Neuinterpretation verbindet das Buch Rut die Institution der Leviratsehe (Dtn 25) mit der Institution des Lösens (Lev 25). Ein

§ 11 Poesie und Weisheit

169

entfernter Verwandter namens Boas erwirbt mit dem Grundstück die Moabiterin Rut zu seiner Frau, »um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbe wieder erstehen zu lassen« (4,10). Beachtet man die vielfältigen Bezüge des Buches zu anderen Texten der Schrift, vor allem zu den Büchern Genesis, Levitikus, Deuteronomium, Esra und Nehemia, dann dürfte das Buch frühestens in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. entstanden sein. In kaum einem anderen Buch der Hebräischen Bibel wird so deutlich die Perspektive von Frauen eingebracht wie im Buch Rut. Der bisweilen idyllische Eindruck, den die Erzählung hinterlässt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier in einer Diskussion um kontroverse Gesetzesinterpretationen Stellung bezogen wird. Das Buch wirbt für eine frauenfreundliche Interpretation der von ihrer ursprünglichen Intention her in erster Linie die Interessen von Männern wahrenden androzentrischen Rechtsinstitutionen des Levirats und der Lösung. So vertritt das Buch eine Gegenposition zur pauschalen Ablehnung jeglicher Mischehen, wie sie in Esra 9–10 und Neh 13 propagiert wird. In Neh 13,23–25 beklagt Nehemia: »Damals sah ich auch Juden, die Frauen von Aschdod, Ammon und Moab geheiratet hatten ... Ich machte ihnen Vorwürfe und verfluchte sie. Einige von ihnen schlug ich und packte sie an den Haaren. Ich beschwor sie bei Gott: Ihr dürft eure Töchter nicht ihren Söhnen geben noch ihre Töchter zu Frauen für eure Söhne oder für euch selbst nehmen.« Das Buch Rut vertritt in dieser Diskussion eine differenzierende Sicht, indem es gegen ethnische und zugunsten ethischer Kriterien bei der Aufnahme in die »Gemeinde Jhwhs« plädiert. Es ist Tora-Auslegung mit Option für Frauen. Das Buch endet mit dem Stammbaum Davids (4,18–22) und eröffnet damit eine königlich-messianische Perspektive. Bibliographie Fischer, Irmtraud, Rut (HThKAT), Freiburg u. a. 2001. Zakovitch, Yair, Das Buch Rut (SBS 177), Stuttgart 1999.

7.

Ester

Das Buch Ester ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert: einer hebräischen, die im 3. Jh. v. Chr. entstanden sein dürfte, und zwei griechischen, einer Langfassung (LXX) aus dem 1. Jh. v. Chr. und einer etwas kürzeren Fassung, dem sogenannten Alpha-Text, aus dem 1. Jh. n. Chr. Das Buch erzählt von der Rettung der Juden durch die am persischen Hof zur Königin aufgestiegene Jüdin Ester und ihren Onkel Mordechai vor einer regierungsamtlich verordneten Judenverfolgung. Es handelt sich um eine romanhafte Erzählung, die zur Zeit des Perserreiches (5.–4. Jh.) spielt, die aber in der hellenistischen Epoche des 3. Jh.s entstanden sein dürfte. Bei einem Festmahl verstößt König Artaxerxes seine Frau, die Königin Waschti, weil sie seinem Befehl, auf dem Fest zu erscheinen und sich in ihrer Schönheit von allem Volk und den versammelten Fürsten bewundern zu lassen, nicht nachkommt. An ihre Stelle tritt die schöne, kluge und gottesfürchtige Jüdin Ester, die bisher im

170

2. Kapitel: Literatur

königlichen Harem gelebt hat. Sie wird Königin, »und der König liebte Ester mehr als alle Frauen zuvor« (2,17). Zur gleichen Zeit lebt Mordechai, ihr Onkel, als angesehener Diener am Hof des persischen Königs. Nun tritt ein Gegenspieler auf: der Wesir Haman. Aufgrund einer königlichen Beförderung ist er gleichsam größenwahnsinnig geworden. Er verlangt von allen königlichen Dienern, vor ihm niederzufallen und ihm zu huldigen. Mordechai, als frommer Jude dem Hauptgebot, sich nicht vor anderen Göttern niederzuwerfen (vgl. Dtn 5,9), gehorchend, weigert sich, vor Haman niederzufallen und ihm (wie einem Gott) zu huldigen (3,2–5). Darüber aufs Äußerste erzürnt, erwirkt Haman beim König Artaxerxes einen Erlass, alle Juden des Reiches auszurotten. Durch ihren beherzten und dabei überaus geschickten Einsatz gelingt es Ester, vom König die Rücknahme des Erlasses zu erwirken: Nicht Mordechai, sondern Haman findet den Tod am Galgen. Durch königlichen Erlass werden alle Juden im persischen Reich unter den Schutz des Königs gestellt: Nicht sie, sondern ihre Verfolger finden den Tod. Zur Erinnerung an diese wunderbare Rettung wird das Purimfest eingeführt: »Das sind die Tage, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden; es ist der Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück« (9,22). Die Erzählung bringt die Tiefendimension der Judenfeindschaft vor dem Hintergrund der Geschichte Israels ans Licht. Durch intertextuelle Verknüpfungen mit der Erzählung vom Kampf zwischen Israel und Amalek in Ex 17,8–16 (vgl. Dtn 25,17–19) wird die Israel-Feindschaft als Jhwh-Feindschaft gedeutet. Das Buch Ester zeigt in anschaulicher und einprägsamer Form, wie angesichts dieser Erfahrung jüdisches Leben in einer nichtjüdischen Umwelt möglich ist; es entwirft eine Perspektive für ein jüdisches Leben in der Diaspora. Die den Juden in vielfacher Weise entgegenschlagende Feindschaft ist unbegründet. Wie einst Josef in Ägypten, so können Juden zum Wohle ihrer heidnischen Herrscher tätig sein, ohne ihre jüdische Identität aufzugeben. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass dabei häufig lebensbedrohende Konflikte durchzustehen sind. Einer Vergöttlichung innerweltlicher Herrschaft muss und kann Israel widerstehen. In eindrücklicher Weise legt das Buch Zeugnis ab vom verborgenen Handeln Gottes. Die Rettung, die Israel im Buch Ester zuteil wird, ist keine Rettung aus der Fremde, sondern eine Rettung in der Fremde. So kann Israel unter den Völkern zum Zeugen des wahren Gottes werden (vgl. 8,16f.). Bibliographie Ego, Beate, Esther (BK.AT 21), Neukirchen-Vluyn 2015. Wahl, Harald Martin, Das Buch Esther, Berlin u. a. 2009.

8.

Das Buch der Klagelieder

Im hebräischen Kanon wird das aus fünf Klageliedern bestehende Buch zu den fünf Megillot (»Rollen«) gerechnet (Rut, Hld, Koh, Klgl, Est) und seit dem 6. Jh. n. Chr. am 9. Ab (Juli/August), dem Gedenktag der Tempelzerstörung, im jüdischen Fasten-

§ 11 Poesie und Weisheit

171

gottesdienst verlesen. In der hebräischen Tradition wird es Qinot (»Totenklagelieder«) genannt. Die Lieder dürften recht bald nach der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels im Jahre 586 v. Chr. in Jerusalem von hoch gebildeten Dichtern, die Zugang zu den schriftlichen Traditionen Israels hatten und im Umkreis der Tempelsängergilden beheimatet waren, verfasst worden sein. Ulrich Berges vermutet folgende Reihenfolge ihrer Entstehung:127 • • • •

Klgl Klgl Klgl Klgl

2 kurz nach dem Fall Jerusalems im Jahre 586 v. Chr. 1 um 550 4–5 zwischen 520 und 500 3 Mitte des 5. Jh.s.

Dass es genau fünf wohlkomponierte Lieder sind, könnte als Entsprechung zu den fünf Büchern der Tora und den fünf Büchern der Psalmen intendiert sein. Die Klagelieder sind Reaktion auf die Katastrophe von 586 v. Chr. Diese Reaktion ist zunächst und vor allem Klage: »Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern« (1,1). Die Klage will zunächst nicht verstehen, sondern das Unverständliche und Unverstandene zum Ausdruck bringen. In dieser performativen Rede (Sprechhandlung) wird ein Prozess in Gang gesetzt, der als ein anfängliches, wenngleich die Klage nicht aufhebendes Verstehen bezeichnet werden kann. Schon in dem vermutlich ältesten Klagelied kommt der Grund der von Gott verhängten Not in den Blick. Es ist die Schuld, die die Tochter Jerusalem auf sich geladen hat. Ihre Lügenpropheten haben sie nicht aufgedeckt und ihr so eine falsche Sicherheit vorgegaukelt: »Deine Propheten schauten dir Lug und Trug. Deine Schuld haben sie nicht aufgedeckt, um dein Schicksal zu wenden. Sie schauten dir als Prophetenworte nur Trug und Verführung« (2,14; vgl. 4,13). So wird Jerusalem durch das übergroße Elend, das Gott auf sie geworfen hat, zur Erkenntnis und Anerkenntnis eigener Schuld geführt: »Er, Jhwh, ist im Recht. Ich habe seinem Wort getrotzt« (1,18; vgl. 1,5.8.14; 5,16). Die Schuld ist zugleich eine Generationen übergreifende Schuld: »Unsere Väter haben gesündigt; sie sind nicht mehr. Wir müssen ihre Sünden tragen« (5,7; zur Auseinandersetzung mit diesem Wort vgl. Ez 18). Der Monotheismus verbietet es, das Unheil anderen Göttern oder Mächten zuzuweisen: »Geht nicht hervor aus des Höchsten Mund das Gute wie auch das Böse«? (3,38; vgl. Jes 45,6f.). So gelangen die Klagelieder ähnlich wie das Buch Hiob zu theologischen Grenzaussagen: »Du hast dich in Zorn gehüllt und uns verfolgt, getötet und nicht geschont« (3,43; vgl. Hiob 19,21f.). Zwar sind die Klagelieder, wie ihr Name sagt, überwiegend Klage, doch brechen vereinzelt auch Bitten um ein Ende der Not durch (vgl. 3,55f.). Die Bitten sind motiviert durch eine zarte, aufkeimende Hoffnung. Ihr wird vor allem im dritten Klagelied, dem jüngsten der Sammlung, welches zugleich gewisse Ähnlichkeiten mit den Liedern vom Gottesknecht (Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13 – 53,12) aufweist, Ausdruck verliehen: »Die Huld Jhwhs 127 BERGES, Klagelieder (HThKAT), Freiburg u. a. 2002, 64–72.

172

2. Kapitel: Literatur

ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende ... Denn nicht für immer verwirft der Herr. Hat er betrübt, erbarmt er sich auch wieder nach seiner großen Huld« (3,21f.31f.). Damit einher geht die Bereitschaft zur Umkehr. Sie kann nicht aus eigener Kraft erfolgen, sondern nur dank göttlicher Zuwendung: »Kehre uns, Jhwh, dir zu, dann können wir uns zu dir bekehren« (5,21). Bibliographie Berges, Ulrich, Die Klagelieder (HThKAT), Freiburg u. a. 2002, 22012. Koenen, Klaus, Klagelieder (Threni) (BK 20), Neukirchen-Vluyn 2015.

9.

Daniel

Das Buch Daniel ist das einzige apokalyptische Buch der Hebräischen Bibel (ähnlich nur noch Jes 24–27; 33). In den Handschriften steht es gewöhnlich im dritten und letzten Kanonteil, hinter Ester und vor Esra/Nehemia. Im griechischsprachigen Kanon, dem die Vulgata folgt, steht Daniel hinter Ezechiel. Dort ist es das vierte große Prophetenbuch. Der Grund für diese Einordnung könnte die zeitliche Verbindung zu Ezechiel sein; die Danielerzählung spielt im Exil. Im hebräischen (und aramäischen) Dan-Buch liegen die deutlichsten Spannungen zwischen dem ersten (1–6) und zweiten Teil (7–12). In 1–6 ist Daniel ein begabter Deuter von Träumen, in 7–12 ist er selbst Empfänger von Träumen und Visionen, die er allerdings nicht zu deuten vermag. Plausibel ist als Entstehungsgeschichte, dass aus einem Grundstock mit Legenden vom weisen Daniel (3–6) das Buch anwuchs, bis es kurz vor 164 v. Chr. seine heutige Form fand. Weitere Zusätze finden sich erst in der griechischen Bibelübersetzung: das Gebet des Asarja (3,24–50), der Gesang der Jünglinge im Feuerofen (3,51–90) und die letzten beiden Kapitel (13: Susanna; 14: Bel und der Drache). (1) Die in Dan 3–6 enthaltenen Legenden dürften in der jüdischen Diaspora des persischen Reiches entstanden sein. Denkbar ist, dass sie von frommen Kreisen der jüdischen Oberschicht erzählt wurden, die in der persischen Verwaltung Karriere machten und sich auf diese Weise versicherten, dass – trotz immer wieder auftretender Konflikte – ihre Treue gegenüber der jüdischen Überlieferung und ihre Loyalität gegenüber einem fremdreligiösen Staat grundsätzlich miteinander vereinbar sind und dass sich ein Standhalten gegen den Anpassungsdruck ihrer heidnischen Berufswelt letztlich auszahlt. (2) Ab 334 v. Chr. wurden die Legenden gesammelt: Dan 3,31 – 6,29. Zunächst herrscht noch ein optimistisches Bild der Herrscher in der Ptolemäerzeit (3. Jh.) vor. (3) Mit der Vormachtstellung der (eine viel härtere Unterdrückungspolitik betreibenden) Seleukiden (2. Jh.) entsteht das »aramäische Danielbuch«: der Grundstock der heutigen aramäischen Kapitel (1) 2–6. (4) Mit der Umwandlung Jerusalems in eine hellenistische Polis (175 v. Chr.) und dem beginnenden Widerstand der Makkabäer wurde wahrscheinlich Kap. 7 hinzugefügt. Die Weltgeschichte erscheint als Abfolge von vier Gewaltherrschaften. Danach

§ 11 Poesie und Weisheit

173

kommt das Gottesreich, der »Menschensohn«. Dan 1,1 – 2,4a wird ins Hebräische übersetzt; offensichtlich verlangte die Zeit nach einer »hebräischen Identität«. Das Buch wird zu einem apokalyptischen Buch. (5) Mit der Umwandlung des Jerusalemer Tempels in einen Tempel für Zeus Olympios im Jahre 167 v. Chr. steigert sich die hellenistische Krise zur Katastrophe, »eine Zeit der Not, wie noch keine da war« (12,1). Die apokalyptischen Kapitel 8 und 9–12 werden hinzugefügt. In ihnen wird der »Gräuel der Verwüstung« (9,27; 11,31; 12,11) (die Entweihung des Tempels) Daniel in einer Vision »enthüllt«. Dan 1–12 dürfte vor 164 v. Chr. (Wiedereinweihung des Tempels) abgeschlossen worden sein. (6) Die Susanna-Erzählung (Dan 13) wurde nach Abschluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches diesem in den griechischen Übersetzungen hinzugefügt. Die Erzählung liegt in einer älteren Version der LXX und einer jüngeren Version des sog. Theodotion (2. Jh. n. Chr.) vor. (7) Bel und der Drache (Dan 14) dürfte etwa zwischen 145 und 88 v. Chr. in Alexandrien entstanden sein. Der Teil richtet sich gegen Assimilationstendenzen in der Zeit wachsender Judenfeindschaft in Alexandrien. In der Tradition des jüdischen Monotheismus wird der Götterbildkult als Priesterbetrug entlarvt. Daniel wird der Geschichtsplan Gottes offenbart (»enthüllt«: apokalyptein): Nach Abfolge der vier Weltreiche der Babylonier (»Löwe«), Meder (»Bär«), Perser (»Panther«) und Griechen (»ein viertes, furchtbares Tier« meint Antiochus IV. Epiphanes) »wird der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen« (2,44). Übergeben wird er es einem »wie ein Menschensohn«, der »mit den Wolken des Himmels« bis zu dem »Hochbetagten (Gott) gelangte. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter« (7,13f.). Gottes Herrschaft, die dem Menschensohn übergeben wird, ist eine menschliche und im Gegensatz zu den vier Weltreichen keine tierische und gerade so eine göttliche Herrschaft. Das Danielbuch stellt neben den Makkabäerbüchern (2Makk 7,9–36; 12,44f.) das einzige ausdrückliche und eindeutige alttestamentliche Zeugnis für eine Auferstehung von den Toten dar: »Doch dein Volk wird in jener Zeit gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet ist. Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu« (12,2; vgl. 12,13). Ausdrücklich zitiert wird aus Daniel im Neuem Testament nur ein Vers, dieser allerdings gleich fünfmal und an zentraler Stelle: Die Ankündigung vom Kommen des Menschensohns auf den Wolken des Himmels (Dan 7,13) in Mt 24,30; 26,64; Mk 13,26; 14,62; Lk 21,27. Bibliographie Bauer, Dieter, Das Buch Daniel (NSK AT 22), Stuttgart 1996.

3. Kapitel: Gesellschaft

§ 12 Individuum und Gemeinschaft Jürgen van Oorschot, Erlangen

1.

Einführung

Unabhängig von den in den westlich-abendländischen Kulturen vertrauten Konzeptionen von Individualität und Autonomie, wie sie mit der Spätantike, Renaissance und der Neuzeit verbunden werden,1 gab und gibt es Individualität auch jenseits der sogenannten Moderne oder Postmoderne. Das jeweilige Verhältnis des Einzelnen zu den Gemeinschaften bestimmt sich dabei durch die basalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Erst der technische und wissenschaftliche Fortschritt seit dem ausgehenden 19. und 20. Jh. ermöglichte eine derart weitgehende Autonomie und Ablösung von Gruppenbindungen, wie wir sie heutzutage beobachten können. Weder die Theoriebildungen noch die neuen Phänomene von Autonomie und Vereinzelung sollten jedoch dazu führen, in bipolaren Verzeichnungen Individualität, Selbst oder Person zu Kennzeichen einer Moderne zu machen, wie dies in unterschiedlichen Variationen die Debatte zur »corporate personality« (Henry Wheeler Robinson), zur personalen Identität (Charles Taylor; Robert di Vito) oder neuerdings zur »dyadischen Persönlichkeit« (Bruce J. Malina; Klaus Neumann; Angelika Berlejung) bestimmt hat und bestimmt. Mit entsprechend binären Kategorisierungen wird die Wahrnehmung von Individualität, Innerlichkeit oder Selbstreflexivität in den vormodernen Kulturen und Religionen der Antike und des Alten Orients eher erschwert. Die lange Zeit übliche, allein kollektivierende Perspektive auf diese Kulturen verzeichnet historisch und kulturanthropologisch das Bild. Gerade neuere Untersuchungen zeigen die Vielfalt der dortigen Ausprägungen von Individualität.2 Jenseits eines primär objektiven oder subjektiven Wahrnehmens von Individualität gilt es dabei auch neu Kriterien zur Erfassung von Individualität als »Differenzbegriff« zu bestimmen.3 Wie handelt und bestimmt sich der Einzelne im Unterschied zu anderen Individuen, zu sozialen Gemeinschaften und zu Strukturen in Staat und Traditionen? 1 Borsche, Individuum, Individualität. 2 Rüpke, The Individual. 3 Rüpke, Religion und Individuum, 245–249.

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

2.

175

Individuum und Verwandtschaft, Ortschaft und Staat

Das jeweilige Verhältnis des Einzelnen zu den ihn umgebenden Gemeinschaften bestimmt sich wesentlich durch die basalen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen seiner Zeit und seines Lebensraumes. Wie sind die Nahrungsgewinnung, der Schutz des Lebens und die Fortpflanzung geordnet? Unter welchen klimatischen, geographischen und politischen Bedingungen entfalten sich diese grundlegenden Daseinsvorgänge? Die bäuerliche Welt der Levante des 1. vorchristlichen Jahrtausends steckt einen engen und in Vielem lange gleichbleibenden Rahmen ab. Das subtropische Klima gibt den Jahresablauf vor: Auf den regenlosen Sommer folgt nach etwa viereinhalb Monaten beginnend mit dem Frühregen im September und Oktober die winterliche Regenzeit, die ihrerseits durch den Spätregen im April und Mai abgeschlossen wird. Der älteste erhaltene Kalender aus Gezer (10. Jh. v. Chr.) zeigt eindrücklich den daraus resultierenden Lebensrhythmus des Bauern und seiner Familie: »Zwei Monate davon (sind) Obsternte, zwei Monate Saat, zwei Monate Spätsaat, ein Monat Flachsschnitt, ein Monat Gerstenernte, ein Monat Gerstenernte und Abmessen, zwei Monate Beschneiden, ein Monat Sommerobsternte.«4 Angewiesen auf die Niederschläge und nur in Teilen des Kulturlands mit fruchtbaren Böden ausgestattet, in den Steppenregionen der Gebirge und in der Wüste des Südlands ganz ohne sesshafte Bauernkultur, gilt es Jahr um Jahr die Grundlage des Lebens zu sichern. In dieser kargen und nur wenig arbeitsteiligen Welt bleibt der Einzelne dauerhaft auf die Familie und Sippe sowie auf die Bewohner seiner Ortschaft angewiesen. Übergeordnete Strukturen eines Staates oder Territorialreiches spielen dabei nur am Rand eine Rolle. Auch wenn sich mit den Königreichen in Juda und Israel zwischen dem 10. und 7. Jh. v. Chr. regionale Staatsgebilde ausprägen,5 verringert sich deren Einfluss auf diese verwandtschafts- und ortsbasierte Gesellschaft spätestens mit dem Untergang des Nord- und Südreiches (722 und 587 v. Chr.) wieder. »Durch den Wegfall des eigenen Königshauses und die gemischten Siedlungsstrukturen der [persischen – JvOo] Zeit gewinnt die verwandtschaftliche Organisation sogar noch an Bedeutung.«6 Ein Blick auf den Handel rundet dieses Bild ab: Auch wenn die Fernhandelswege die Territorien Israels und Judas streifen (Küstenstraße der via maris) bzw. queren (im Norden: Megiddo, Hazor; im Süden: Beerscheba) und die Gemeinwesen somit vom Fernhandel profitieren, beteiligen sich die Bewohner daran ganz überwiegend doch nur mit agrarischen Produkten. Ersteres gilt im 9. Jh. v. Chr. für Nordisrael und die Phönizier, ab der Zeit der Assyrerherrschaft auch für das Südreich Juda. Letzteres spiegelt sich auch in den biblischen Angaben zu Handelswaren (1Kön 5,25; Ez 27,6.17; Esr 3,7; und 1Kön 10,10f.22; Jes 60,9; Ez 27,12). Für die Zeit der alttestamentlichen Schriften und ihrer Genese vom 9. bis zum 2. Jh. v. Chr. werden diese basalen Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung des

4 Renz/Röllig, Handbuch I, 34f. 5 Zur Problematik der Rede vom Staat: Oswald, Staat (AT). 6 Kessler, Sozialgeschichte, 143.

176

3. Kapitel: Gesellschaft

individuellen und sozialen Lebens durch drei historische Faktoren beeinflusst. Zunächst entwickelt sich seit dem 9. Jh. vor allem im Nordreich Israel und dann auch im Südreich Juda ein Territorialkönigtum mit entsprechenden Verwaltungs- und Handelsstrukturen. Damit tritt zu Familie/Sippe und Ort ein drittes Moment hinzu, was Wolfgang Reinhardt7 den »entwicklungsgeschichtlich geprägte(n) Normalzustand des Menschen«, nämlich »seine Einbindung in eine Kleingruppe«, genannt hat. Allzu groß wird man sich allerdings die Bedeutung der königlichen Rechtssetzung und -sprechung, des Abgabenwesens und der Präsenz königlicher Vertreter für die konkrete Ausgestaltung des Lebens der Einzelnen in ihren sozialen Bezügen nicht vorzustellen haben. Einzig die partielle Prosperität im 8. Jh. v. Chr. dürfte zum Anwachsen der Sippen und zu deren Ausdehnung über mehrere Ortschaften geführt haben, so dass die soziale Gemeinschaft des Ortes als der naheliegenden Kleingruppe gegenüber einer verstreuter wohnenden Familie an Bedeutung gewonnen haben dürfte. Krisenhafte Verwerfungen verbinden sich mit dem zweiten historischen Einflussfaktor: der Eroberung und Zerstörung des Nord- und des Südreichkönigtums durch die Neuassyrer 722 und durch die Neubabylonier 587 v. Chr. Damit endete nicht nur die vergleichsweise kurze Existenz des Königtums in Israel und Juda. Zugleich führten die Kriegszüge, Zerstörungen und Vertreibungen zu sozialen Verwerfungen im staatlichen Gebilde insgesamt, in und zwischen den Ortschaften sowie zur Trennung von Familien. Im Ergebnis etablieren sich in der Perserzeit im verbliebenen Rest der beiden Reiche, der persischen Provinz Jehud, ethnisch gemischte Ortschaften und Städte sowie ein namhafter Anteil einer jüdischen Bevölkerung im Zweistromland und in Ägypten. Der Faktor Familie und Sippe gewinnt dabei im sozialen und religiösen Leben genauso wie in der entstehenden alttestamentlichen Literatur stark an Bedeutung. Ablesbar ist dies daran, dass in grundlegenden Texten und vermutlich auch in den Gemeinschaften des sich unter der Perserherrschaft etablierenden Judentums die Abstammung aus Vaterhäusern und d. h. die (real oder ideal) konstruierten Familienbünden das Grundprinzip darstellen. Genealogisch geordnet, mit Ältesten an der Spitze (Esr 2; Neh 7,5–72) sieht man darin die »Familienhäupter des ganzen Volkes« (Neh 8,13), die zugleich das Volksganze repräsentieren (Neh 8,1.3.5.8.11f.).

3.

Individuum und Gemeinschaft in den Literaturen des Alten Testaments

3.1

Die alttestamentliche Weisheit

Wie in allen Kulturen des Alten Orients spiegelt sich in der Überlieferung der frühen Weisheitsliteratur die grundlegende Aufgabe jeder Gemeinschaft, junge und heranwachsende Männer und Frauen anzuleiten und sie in die bestehende Gemeinschaft zu integrieren. Der Einzelne soll von Vater, Mutter oder dem kundigen Spezi-

7 Reinhard, Lebensformen Europas, 266.

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

177

alisten die grundlegenden Fertigkeiten und Verhaltensweisen hören und im Mittun erlernen, um so in Harmonie mit der Gemeinschaft selbst ein erfolgreiches Leben führen zu können. Dass solcher Erfolg und deren Regeln zugleich mit den Ordnungen gleichzusetzen sind, die der Welt als Schöpfung Gottes eingestiftet sind, gehört zu den Selbstverständlichkeiten dieser Kultur. Spätere Reflexionen machen dies etwa in der Rede von der Frau Weisheit und ihrem Verhältnis zur Schöpfung und Gott explizit (Spr 8,22–31). Die Texte zeigen mit Blick auf unsere Thematik ein markantes Doppelbild. Einerseits sprechen sie über weitere Strecken das Individuum an. Dies geschieht in direkter Weise, wenn der Sohn zu richtigem Verhalten aufgefordert oder vor dem falschen gewarnt wird (etwa Spr 4,10–19; 5,1–19; 27,11). Auch die Typisierungen des Weisen und des Toren, des Faulen und des Fleißigen oder des Frevlers und des Gerechten haben den Einzelnen im Blick. Andererseits lassen die Sprüche die Nahkontexte des Individuums erkennen. Dies kann die Familie sein, wenn es um Eltern und Kinder (Spr 10,1; 29,15.17) oder um Mann und Frau (Spr 12,4; 14,1; 18,22) geht. In den positiven oder negativen Auswirkungen des Verhaltens des Einzelnen wird die Verwobenheit des Individuums mit der Gemeinschaft deutlich. Auch das weitere soziale Umfeld kann angesprochen werden, auch wenn dies eher allgemein und ohne nähere Konkretisierung erfolgt. So ist wiederholt von der »Stadt« (‛îr, qæræt, qiryāh) die Rede, in der sich das Wirken des Weisen und Redlichen positiv auswirkt (Spr 11,10f.; 21,22). Auch das »Land« (’æræṣ) und das »Volk« (‛ām) hängen vom weisen Planen und Tun des Einzelnen ab (Spr 28,2; 11,14; 29,4.18). Trotz der eher allgemein gehaltenen Erwähnung der Gemeinschaften betonen die Texte durchgehend, dass die Gemeinschaft durch das Verhalten und die Einstellung der Einzelnen beeinflusst wird, so wie umgekehrt auch der Einzelne vom Tun und Lassen anderer in den Bezugsgruppen abhängig ist (Spr 10,21; 22,2; 24,15; 29,7). Ganz entsprechend der Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs führen die Texte an den weisheitlich naheliegenden Themen vor Augen, wie angewiesen und aufeinander bezogen der Einzelne und die Gemeinschaft sind. Darin spiegelt sich auch die verwandtschaftsund ortsbezogene Lebenswirklichkeit einer agrarischen Gesellschaft wider. 3.2

Die Rechtsüberlieferung

Ein wesentlicher Bestandteil der Rechtspflege besteht im Schutz der basalen Lebensgemeinschaften sowie deren Grundlagen. Damit wird die Existenz des Gemeinwesens genauso gesichert wie diejenige des Individuums. Dies spiegelt sich in der Grundidee des israelitischen Rechts, wonach bei allen Delikten, die nicht fundamentale Rechtsgüter wie das Leben des Einzelnen oder das Überleben der Gemeinschaft betreffen, der gestörte Rechtsfrieden durch den Ausgleich zwischen Täter und Opfer wieder hergestellt werden soll. Die Gerechtigkeit wird als Verlässlichkeit der Gemeinschaft verstanden (zedāqāh). Daher soll auch der Täter zur Treue gegenüber der Gemeinschaft zurückfinden, indem er durch einen Schadensersatz dem Geschädigten angemessen zu seinem Recht verhilft. Der Vorgang des Ersetzens wird dabei mit einem Verb ausgedrückt (ješallem), das als Substantiv Schalom »Heil, Frieden«

178

3. Kapitel: Gesellschaft

bezeichnet. Der Ausgleich zielt auf die Genugtuung und den Frieden in der Gemeinschaft. Der Gedanke einer abstrakten Strafe liegt diesem Rechtsdenken fern, so dass es für das Wort »Strafe« auch keine wirkliche Entsprechung im Althebräischen gibt. Vielmehr hat die Sanktion meist direkt etwas mit der Tat zu tun. Bei Diebstahl wird der doppelte Betrag erstattet (Ex 22,6). Wird jemand verletzt, so muss der Täter für den Arbeitsausfall und die Heilung aufkommen (Ex 21,18f.). Ziel der Rechtsfindung ist also die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und seine Sicherung. Damit wird der hohe Stellenwert der Gemeinschaft für das Leben und Wohlergehen des einzelnen Menschen deutlich. Nur in einer friedlichen und auf wechselseitigen Ausgleich bedachten Sozialstruktur von Dorf, Stadt und Familie gibt es Lebens- und Überlebenschancen. Dies zeigen auch die materialen Rechtsbereiche von Ehe- bzw. Familienrecht, Erbrecht und Rechtspflege.8 3.3

Das Deuteronomium

Spiegelt sich in den bislang besehenen Textbereichen noch relativ unvermittelt das reale Zusammenleben mit seinen Herausforderungen, so tritt im Deuteronomium und den von ihm geprägten Literaturbereichen deutlich eine theologische Programmatik in den Vordergrund. Gemeinschaft wird im 5. Mosebuch theologisch konstituiert und begründet. Dem einen Gottesvolk entspricht der eine Gott, der allein zu verehren und zu lieben ist (Dtn 6,4–9). In unterschiedlichen theologischen Begründungen kann zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die Gemeinschaft als Gottesvolk dem Wirken des Gottes Israels verdankt. Er erwählt es aufgrund einer nicht ableitbaren Liebe (Dtn 7). Er verpflichtet sich ihm, indem er einen Bund mit ihm schließt (Dtn 28). Diese von Gott gestiftete und begründete Gemeinschaft soll auch ethisch von ihm geprägt sein. Die Gemeinschaft des Gottesvolkes soll sich als Gemeinschaft der Brüder verstehen, oder wie Lothar Perlitt in einer subtilen Untersuchung zur Rede von Bruder und Brüdern festhält: »Die (Volks-) Gemeinschaft der Brüder ›entsteht‹ im Anspruch an den einzelnen Israeliten, seinen Nächsten als Bruder zu sehen und zu behandeln.«9 Die Gebote zum Bruderethos knüpfen dabei an die Rechtstraditionen Israels an und formulieren zugleich in rechtlichen Sprachformen ihre eigene Ethik: »Wenn es bei dir einen Armen gibt, einen von deinen Brüdern ..., dann verhärte dein Herz nicht und verschließe deine Hand nicht vor deinem armen Bruder« (Dtn 15,7). Dabei werden die soziologischen Untergliederungen in Familien und Sippen (vgl. Dtn 13,9–11 mit dem auch in Jer 9,3 und Ex 32,27b zu findenden familialen Gebrauch des Begriffs »Bruder«) genauso vorausgesetzt wie die ethischreligiöse Verantwortlichkeit des Einzelnen, wie sie die religiöse Individualethik der älteren (Rechts-) Tradition zeigt. An Dtn 15 etwa lässt sich sehr schön nachvollziehen, wie sich die Bruderethik als eine Vertiefung der Grundhaltung zum Nächsten und Nachbarn (rea‛) versteht. Ist die Bezeichnung des Nachbarn oder Mitmenschen

8 Zur weiteren Lektüre Otto, Theologische Ethik, 24–64. 9 Perlitt, »Ein einzig Volk von Brüdern«, 37.

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

179

als Bruder in der Rechtssprache des älteren Bundesbuches (Ex 21–23) noch völlig unbekannt, so führt sie das Dtn neu ein und schafft damit eine emotional wie religiös zentrale Redeweise. Ihren Grund und ihre Ursache hat diese Neuakzentuierung nicht in einer ethnischen oder kollektiv-nationalen Theorie, sondern einzig in einer theozentrischen Theologie und deren Konsequenzen für den Einzelnen. Die Gemeinschaft versteht sich demnach als Ergebnis der erwählenden und liebenden Zuwendung Gottes zu ihr. Im Geschehen der Befreiung aus Ägypten, dem Exodus, finden das in seinem Zusammenhalt erodierende Juda und ein sich neu als Judentum konstituierendes Gemeinwesen die Basis ihres Zusammenhalts. In Reaktion darauf ehrt jeder Einzelne dieser Gemeinschaft den Gott des Exodus (Dtn 5,6), indem er in seinem Tun und Lassen mitmenschlich, besser gesagt: brüderlich handelt. Denn ihre Grenze hat diese Mitmenschlichkeit an den Grenzen der Gemeinschaft des erwählten Volkes. Wird aufgrund des Schuldenerlasses alle sieben Jahre der Nächste und Bruder vom rückfordernden Bedrängen des Gläubigers freigestellt, so heißt es nachfolgend ausdrücklich: »Den Ausländer darfst du drängen. Was du aber deinem Bruder geliehen hast, das sollst du ihm erlassen« (Dtn 15,3). Nach innen führt diese theologische und ethische Konzeption des Deuteronomiums zu einer Egalisierung und Humanisierung des gemeinschaftlichen Lebens. Der Umgang mit Schulden (Dtn 15,1–11) und Schuldsklaverei (Dtn 15,12–18), das gemeinschaftliche Feiern dreimal im Jahr vor Jhwh an der Stätte, die Gott erwählt hat (Dtn 16,1–17), das solidarische Miteinander zwischen Bruder und Bruder, in das selbst die Tiere einbezogen werden (Dtn 22,1–12*), die Einschränkung des Pfandrechtes (Dtn 24,6–25,4) – all dies verändert die vorgefundenen Realitäten und proklamiert für den Einzelnen sowie für die Gemeinschaft eine Gegenwelt. An die Stelle der politisch wie wirtschaftlich seit dem 8. Jh. v. Chr. brüchig gewordenen Welt der gentilen Gemeinschaften und Ortschaften tritt die eine und reine Gemeinschaft des Volkes Gottes. In die mitmenschliche Solidarität sollen dabei neben den traditionellen personae miserae wie Witwe, Waise und Fremdling, die bislang unter dem besonderen Schutz des Königs standen, jeder einzelne Nächste und Bruder des Gottesvolkes einbezogen sein. Dabei verwischen sich teilweise die Grenzen zwischen diesen Gruppen (Dtn 24,14). Im Befreiungshandeln beim Exodus aus Ägypten und in der Gabe des Landes konstituierte der Gott Israels diese Gemeinschaft, in welcher der einzelne Mensch dem Mitmenschen »Bruder« ist, ohne dass die Gemeinschaft Israels als Familie stilisiert wird. In dieser Gemeinschaft hat nicht nur der Verwandte, sondern jeder, auch der Feind oder der Gegner im Gerichtsverfahren, Anspruch auf solidarische Hilfe. Hintergrund der sukzessiven Entwicklung dieser theologischen Programmatik seit dem 8. Jh. v. Chr. sind die Umbrüche und Verwerfungen der neuassyrischen und der neubabylonischen Zeit, wie sie durch die Kriegszüge, durch die Eroberung einzelner Landesteile und durch die Verarmung ländlicher Bevölkerungsschichten in der Levante festzustellen sind. Auch wenn eine Grundschicht der dtn Bestimmungen noch in die Königszeit Judas zu datieren ist, eignet dem Entwurf von Beginn an ein utopischer Grundzug. In seiner Heterotopie10 und Grundsätzlich10 Foucault, Andere Räume, 39.

180

3. Kapitel: Gesellschaft

keit entfaltet er dann gerade nach dem Ende des judäischen Königtums und in der Perserzeit seine Wirkung. 3.4

Die Priesterschrift

Die Priesterschrift mit ihrer Rede von der Gemeinschaft und dem Gottesvolk weist zahlreiche Parallelen zum Deuteronomium auf. Auch sie entfaltet eine theologische Programmatik und reagiert damit auf eine geänderte soziale und politisch-religiöse Wirklichkeit. Mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit und der Zerstörung des Tempels im Zuge der neuassyrischen Krise und der sich anschließenden Eroberung durch die Neubabylonier 597 und 587 v. Chr. waren die auch religiös tragenden Institutionen von Königtum und Tempel weggebrochen. Die Lücke durch das Fehlen eines Königs verblieb für die gesamte Perserzeit und darüber hinaus. So bedurfte auch der 515 v. Chr. neu eingeweihte Tempel einer neuen theologischen Einbettung. Eine maßgebliche Antwort auf die damit gestellten Fragen lieferte die priesterschriftliche Schicht des Pentateuchs (Pg), indem sie die dauerhafte Präsenz Gottes bei seinem Volk zusagt. In Gestalt seiner kābod, seiner lichtstrahlenden Herrlichkeit, ist er im »Zelt der Begegnung« gegenwärtig. »Und dort werde ich den Söhnen Israels begegnen, und es wird geheiligt werden durch meine kābod. (...) Und ich werde inmitten der Söhne Israels wohnen und ich werde ihr Gott sein.« (Ex 29,43.45)

Die Gemeinschaft des Gottesvolkes entsteht durch die Präsenz Gottes und erhält dadurch ihren Bestand. Damit kommt eine lange Geschichte göttlichen Handelns zu ihrem Ziel. Der Horizont dieser Geschichte ist im Vergleich mit dem Dtn deutlich weiter gesteckt. Er reicht von der Erschaffung der Welt und der Völkerschaften (Gen 1,1–2a; 10* und 11*) über die bedingungslose Verheißung an Abraham, die der Menschheitsgeschichte ihr Vorzeichen mitgab (Gen 15*; 17*), bis hin an den Gottesberg Sinai. Abraham gegenüber verpflichtet sich Jhwh und richtete eine berit, einen »Bund«, auf (Gen 17,4–8). Und als er die Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs aus der Knechtschaft in Ägypten befreite und ihnen am Berg Sinai die Ordnungen zu Kult und Tempel offenlegte, waren dies die letzten Schritte dazu, dass sie erkennen, »dass ich Jhwh, ihr Gott, bin, der sie aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen, ich, Jhwh, ihr Gott« (Ex 29,46). Das Fundament des Gottesvolkes liegt nach dieser theokratischen Konzeption in einer universalen Gründungsgeschichte und jenseits der staatlichen Verfasstheit als Königtum oder Stämmeverbund. Hinter dieser Anlage kann unschwer die Absicht vermutet werden, nach Instabilität und partieller Zerstörung der familiären, dörflichen wie städtischen Gemeinschaften in der späten Königszeit des 8. bis 6. Jh.s v. Chr. dem Zusammenleben eine neue Basis zu geben. Diese wird nun aber nicht in einer politischen oder sozialen Stabilisierung gesucht, sondern in einer streng theozentrischen Vision. Gott schlägt sein Zelt inmitten der Gemeinschaft der Israeliten auf und wohnt bei ihnen. Darauf zielt sein Handeln seit der Erschaffung der Welt. Die Einheit von kultischer und sozialer Gemeinschaft wird damit zum Telos

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

181

der Geschichte, was im Umkehrschluss nahelegt, dass die Gegenwart und die darin erlebbare Gemeinschaft defizitär ist. Zu ihrer Bestimmung und Erfüllung kommt die in Gen 1 grundgelegte Schöpfung und Geschichte erst in der Gemeinschaft zwischen Gott und Gottesvolk. Dem entspricht das starke Gewicht, das in der priesterlichen Theologie der Rede von Sünde und Sühne zukommt. Im Zentrum steht die immer wieder herzustellende Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk. Realisieren soll sich diese Gemeinschaft am (Zelt-) Heiligtum und im zugesagten Land. Auch wenn das Gottesbild im Rahmen dieser Theologie universal und monotheistisch angelegt ist, wird Gemeinschaft darin weiter in partikularen Abstufungen konzipiert. So partizipiert die Völkerwelt an der idealen Gemeinschaft nur indirekt, vermittelt über Israel. Exemplarisch kann dies schon an der Abrahamsgestalt gesehen werden. Obwohl er der »Vater vieler Völker« (Gen 17,4f.) ist, vermittelt sich der ihm zugesagte Segen nur über Israel und Gottes Bund mit ihm. Im Zuge der sekundären Fortschreibungen der priesterlichen Grundschrift (Ps) verstärkt sich der partikulare Zug, der die priesterschriftliche Programmatik stärker der vorfindlichen Wirklichkeit im perserzeitlichen Juda anpasst und somit den idealen utopischen bzw. heterotopen Grundcharakter relativiert. Inhaltlich verstärkt sich dabei der Akzent von Sünde und Verfehlung, wie er etwa in den zentralen Ausführungen zum großen Versöhnungstag in Lev 16 deutlich wird.11 An ihm wird Sühne bewirkt für den Einzelnen und seine Familie (»sein Haus«) und für die ganze Volksgemeinschaft (qahal) (Lev 16,17b). Ergänzt durch die Opfertorot in Lev 1–8 und Lev 11–15 wird so ein kultisch reguliertes Leben von Sozial- und Gottesgemeinschaft entworfen. 3.5

Kult, Psalmen und Psalter

Kult und Gebet setzen Gemeinschaft voraus und schaffen sie je neu. Selbst die sogenannte individuelle Klage gehört zu einem familiären Geschehen, meist am lokalen Heiligtum. Krankheit, Kinderlosigkeit oder Armut führen die Familie und Nachbarschaft in Gebet und Opfer zusammen. Das Gebetsformular der Klage verleiht der Not einen Ausdruck, die Bitte und das Bekenntnis des Vertrauens bzw. das Dankversprechen eröffnen eine Perspektive (vgl. Ps 6 oder 10). Bessert sich die Situation, kommt man erneut am Tempel zusammen und dankt mit einer Opfergabe, die Gott dargebracht wird und die zugleich der Gemeinschaft ein Festessen bereitet. Der familiäre Kult am lokalen Heiligtum ermöglicht es damit, die Höhen und Tiefen des individuellen Lebens zusammen mit den direkten Bezugsgruppen von Familie und Nachbarschaft zu durchleben. Gemeinschaft ist dabei selbstverständliche, weil sozial wie von den Lebens- und Handlungsvollzügen her gegebene und geforderte Voraussetzung und zugleich immer wieder durch Krankheit, soziale Ausgrenzung im Zuge von Verarmung, Konflikten oder anderen Marginalisierungsvorgängen bedrohte Wirklichkeit. Kultisches Erleben und gottesdienstliche Rituale können dabei regulierend und integrierend auf diese sozialen Vorgänge einwirken.

11 Vgl. dazu § 19 und § 20 in diesem Buch.

182

3. Kapitel: Gesellschaft

Dies gilt im Kleingruppenkult der Heiligtümer und auf andere Weise auch am offiziellen Heiligtum des Gemeinwesens. In Gottes- und Tempelhymnen feiert das Volk gemeinsam die Größe und Wirkmächtigkeit seines Gottes (Ps 29; 93) und seine Präsenz im Heiligtum und in der Gottesstadt (Ps 46; 48). Dabei lässt sich eine Gemeinschaft erleben, die über die Familie und Sippe hinausreicht und die das Leben des Einzelnen und seiner ihn unmittelbar umgebenden Gruppen übersteigt. Dies gilt unter den Vorzeichen von kollektiven Notlagen wie Dürre, Hunger oder Krieg auch für die gemeinsame Klage (1Kön 8,33–53; 2Chr 20). Mit der Zentralisierung des Kultes in Jerusalem, wie sie spätestens seit der Einweihung des zweiten Tempels 515 v. Chr. das sich neu begründende Judentum prägt, wird dieses übergreifende Erleben von Gemeinschaft auch zur regelmäßigen Erfahrung aller in der Provinz Jehud, die sich nun als legitimes Israel versteht. Damit wandelt sich die gemeinsame Erfahrung in vielfältiger Weise. Kam man bislang am lokalen Heiligtum zusammen und feierte aus individuellem und damit immer auch aus familiärem Anlass oder beging man im Zyklus des Erntejahres eines der bäuerlichen Jahresfeste (Ex 23,14–19), so zieht man nun (idealiter) dreimal im Jahr nach Jerusalem zum Tempel. Dabei verändert sich nicht nur die Gemeinschaft derer, die dort zusammenkommen, wenn Menschen aus unterschiedlichen Landesteilen zusammen feiern. Auch der Charakter der Feste wandelt sich. Folgten sie bisher dem Rhythmus des agrarischen Kalenders und führten Familien aus der Nachbarschaft zur Feier der Ernte zusammen (Ex 23,16: Ernte der Erstlinge – Schavuot; Fest des Einsammelns – Sukkot), so betten sie das Leben der Familien und Orte nun in die jahrhundertealte Geschichte Jhwhs mit seinem Volk ein. Passa- und Mazzenfest, Sukkot und Jom Kippur werden zu bestimmenden Momenten im Jahreskreislauf, durchzogen vom Sabbat als einer Grundstruktur gemeinsamen Lebens (Lev 23). Spätere Ergänzungen (Purim; Chanukka) und Variationen verändern diese Anlage, jedoch nicht deren Grundcharakter. Der Einzelne und seine primären Lebensgemeinschaften werden durch diese Zeit- und Handlungsstruktur erlebbar in die Volks- und Glaubensgemeinschaft eingebettet. Durch die mit Lev 23 erstmals vorgenommene Datierung der Feste gibt es neben der räumlichen Zentrierung auch eine zeitliche Zusammenführung. Man feiert als überregionale und auch ansonsten heterogene Gemeinschaft zum selben Zeitpunkt und erlebt so gemeinsam die eigene Herkunft und Identität als präsente und auf die Zukunft ausrichtende Kraft. Theologische und (religions-)soziologische Einflüsse verändern somit in der Perserzeit auch das Erleben von Individuum und Gemeinschaft. Zu diesen Einflussfaktoren gehören der Deuteronomismus und seine Rezeption in Literatur und Kultus (s. oben 3.3 und 3.4) sowie das territorial deutlich verkleinerte Gemeinwesen der persischen Provinz und dessen Neugestaltung. Träger dieser Veränderungen war vor allem die gegenüber der Gesamtbevölkerung zahlenmäßig kleine Gruppe der aus Babylon zurückkehrenden Exulanten, die, von den Persern unterstützt, ein Judentum nach ihrer Façon gestalteten.12 Gerade in Psalmen und Psalter spiegeln sich dabei Erfahrungen, die ihren Ursprung in den konkreten Herausforderungen 12 Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte, 149–178.

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

183

des Exils haben dürften. So wird die Frömmigkeit des Einzelnen sowie seiner Familie und Sippe zu einem tragenden Moment. Spätere priesterliche und tempelorientierte Überarbeitungen von individuellen Gebeten etwa in der Sammlung der Wallfahrtslieder Ps 120–134 (Ps 129,1b.5.8a; 130,7f.; 128,5f.) zeigen, wie die Gebete Einzelner nun zu Worten der ganzen Gemeinde werden, in denen sie sich an Jhwh, den Gott Israels wenden. Das individuelle Beten beeinflusst nun das Beten der sich neu findenden Gemeinschaft des Gottesvolkes. Ähnliche Phänomene lassen sich auch durch eine Redaktions- und Kompositionsanalyse etwa bei Ps 28–30 erschließen. Hier wird der Theophaniepsalm, Ps 29, in den Kontext der Erfahrungen von Bitte (Ps 28) und Dank (Ps 30) eines einzelnen Beters mit seinem Gott gestellt.13

4.

Zusammenfassung und Hermeneutik

Individuum und Gemeinschaft wurden hier mit einem doppelten Fokus dargestellt: mit Blick auf die Welt der Hebräischen Bibel und mit Blick auf die Hebräische Bibel. Zu Ersterem galt es die unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebensverhältnisse zu markieren, in denen der Einzelne in Familie, Ort und politischen Großstrukturen (Königreich; Provinz eines Großreichs) zwischen ca. 1200 bis zum Ende des 1. Jt.s v. Chr. lebte. Zu Letzterem wurden wichtige Literaturbereiche der Hebräischen Bibel und deren Vorstellung vom Individuum und den Gemeinschaften skizziert. Aus dem Zusammenspiel beider Dimensionen ergibt sich das vielgestaltige Bild von Lebenswirklichkeiten und theologischer Programmatik in der Welt der Hebräischen Bibel. Bis in die mittlere Königszeit des 8. Jh.s v. Chr. war diese Welt von der agrarischen, wenig arbeitsteiligen Lebensweise geprägt, in der die Familie und Großfamilie (Sippe) die bestimmende Gestalt von Gemeinschaft für den Einzelnen darstellt. Dem nachgeordnet ist die Bedeutung des örtlichen Lebenszusammenhangs von Ort oder Stadt und – noch einmal abgestuft – diejenige der politischen Großstruktur des Königsreiches. Zwischen dem 8. und 6. vorchristlichen Jahrhundert prägen sich in Israel und Juda klarere staatliche Strukturen aus. Zugleich wird die Einflussnahme des neuassyrischen und neubabylonischen Großreiches allein schon durch die diversen Kriegszüge deutlicher spürbar. Wie sich dies in den unterschiedlichen Lebensräumen der Levante ausgewirkt hat, kann nur im Einzelnen erhoben, auf Grund der Quellenlage teilweise nur vermutet werden. Mit dem politischen Wandel der Exilszeit und der persischen Periode samt deren Konstitution eines geänderten Handels- und Kommunikationsraumes im Perserreich kommen auf die kleine Provinz Jehud und die in Babylonien und Ägypten lebenden Juden nicht nur reale Veränderungen ihrer Lebensweise als Einzelne und Gemeinschaften zu. Zugleich setzt eine theologische Debatte darüber ein, wer oder was denn die Gemeinschaft des Gottesvolkes »Israel« ist und wie diese im Miteinander der »Vaterhäuser« (Familien und Sippen) bzw. in den verschiedenen Ansprüchen der Gruppen und Glau-

13 Hossfeld/Zenger, Psalm 1–50, 176–190.

184

3. Kapitel: Gesellschaft

bensweisen in Israel zu bestimmen ist. Darüber hinaus galt es das Verhältnis des Gottesvolkes zu den anderen Völkerschaften zu definieren. Im Ergebnis spiegeln die materialen Hinterlassenschaften und die Geschichte genauso wie die selektive Auswahl der kanonisierten Literaturen der Hebräischen Bibel eine Vielfalt an Lebensformen und Vorstellungen. Trotz der in diesem Beitrag notwendigen Kürze und Vereinfachung wurde hier nicht der Weg elementarer Kontrastbildungen gewählt. Vor allem die beliebte Gegenüberstellung von »antik-mediterrannahöstliche(m)« und »westlich-neuzeitlichem, individualisiertem und fortschrittsorientiertem K[ulturraum]«,14 in welcher die antike Kultur als nichtindividualistisch, agonistisch, die Geschlechtergegensätze betonend, hierarchie- und autoritätsfixiert sowie konservativ erscheint, schafft Klarheiten, die es angesichts des vielfältigen Materials nicht gibt. Ebensowenig hilfreich ist die Gegenüberstellung einer außengeleiteten Schamkultur und einer innengeleiteten Schuldkultur. Auch wenn etwa Klaus Neumann und Angelika Berlejung letztere Klassifizierung modifizieren und im Blick auf das antike Israel und Judentum lieber von einer »dyadischen Persönlichkeit« sprechen, bleibt dabei die binäre Kontrastbildung erhalten. Spätestens wenn man die Definition dieses Dyadismus15 und dessen Anwendung auf den Einzelnen in der Levante wahrnimmt,16 stellt sich die Frage, ob diese Kennzeichnungen wirklich als fundamental different zur neuzeitlichen und gegenwärtigen Welt in Anschlag gebracht werden können. So weist der sogenannte neuzeitliche Mensch exakt diese Züge auch auf, genauso wie der sogenannte antike Mensch umgekehrt als Einzelner agiert, zur Verantwortung gerufen wird und Einblicke in sein inneres Erleben gibt.17 Ohne deutliche Differenzen – etwa in den faktischen Möglichkeiten zur Ausprägung individueller Einstellungen und Verhaltensweise primär bei den Eliten und abhängig von Bildung und wirtschaftlichen Ressourcen – einebnen zu wollen, verstellt eine derart binäre Klassifizierung den Blick auf die Vielgestaltigkeit der antiken und so auch hebräischen Welt. Vor allem wird hier eine neuzeitliche Ausdrucksweise von Individualität, die diese subjektorientiert zur Sprache bringt, zum Maßstab der Existenz von Selbstreflexivität und Individualität gemacht.18 Zugleich erschwert diese Klassifizierung eine Wahrnehmung von Kontinuitäten in der lebensweltlichen Orientierung und Pragmatik

14 Neumann, Kultur und Mentalität, Anm. 12. 15 Nach Neumann, Kultur und Mentalität, 39, zielt die Bezeichnung darauf ab, »dass der einzelne Mensch zur Bildung und Aufrechterhaltung seiner Identität immer auf das Urteil der anderen (eines ›Zweiten‹) angewiesen ist und nicht ›aus sich selbst heraus‹ weiß und wissen kann, wer er ist. (...) Nicht die individuelle und unverwechselbare Persönlichkeit mit ihrer Biographie, sondern die sozialen Rollen konstituieren die Identität eines Menschen.« 16 Berlejung/Merz, Gemeinschaft/Individuum, 208f.: »Eine dyadische Person nahm sich selber wahr und orientierte ihr Selbstbild wie Verhalten an dem, was andere in ihr sahen und von ihr erwarteten. (...) Motivationen, Eigenschaften und Einstellungen leiteten sich von Stereotypen ab, von Verallgemeinerungen, die man innerhalb der Kultur bestimmten Gruppen (...) zuschrieb.« 17 Dazu vgl. van Oorschot/Wagner, Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments, VWGTh 48, Leipzig 2017. 18 Frevel, Person – Identität – Selbst, 80.

§ 12 Individuum und Gemeinschaft

185

zwischen den (Text-) Welten der Hebräischen Bibel und der Gegenwart. Sowohl wissenschaftstheoretisch als auch von den biblischen Befunden her ist der Einschätzung von Christian Frevel zuzustimmen: »Die soziale Eingebundenheit der Individualität wird stärker betont und ist de facto durch gentile wie soziale Netze tatsächlich dichter, doch unterscheidet sie sich nicht prinzipiell oder im Vollzug von dem neuzeitlichen Individualismus.«19 Damit ist eine Lektüre und Wahrnehmung der Welten Hebräischer Bibel eröffnet, welche diese auch in Fragen von Individualität und Gemeinschaft zum Gesprächspartner für die Gegenwart werden lässt.

Bibliographie Berlejung, Angelika, Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel: Gertz, Jan Christian (Hg.), Grundinformation Altes Testament (UTB 2745), Göttingen 32009, 149–178. Berlejung, Angelika/Merz, Anette, Art. »Gemeinschaft/Individuum«: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 42015, 207–210. Borsche, Thomas, Art. »Individuum, Individualität«: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie 4, Basel 1976, Sp. 300–323. Frevel, Christian, Person – Identität – Selbst. Eine Problemanzeige aus alttestamentlicher Perspektive: van Oorschot, Jürgen/Wagner, Andreas (Hg.), Anthropologie(n) des Alten Testaments, Leipzig 2016, 65–90. Foucault, Michael, Andere Räume: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, 34–46. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Die Psalmen. Psalm 1–50 (NEB 29), Würzburg 1993. Kessler, Rainer, Sozialgeschichte des Alten Israel, Darmstadt 2006. Neumann, Klaus, Art. »Kultur und Mentalität«: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 42015, 35–42. Oorschot, Jürgen van/Wagner, Andreas (Hg.), Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments (VWGTh 48), Leipzig 2017. Oswald, Wolfgang, Staat (AT), Wibilex 2013, URL: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stich wort/30238/. Otto, Eckart, Theologische Ethik des Alten Testaments (ThWi 3/2), Stuttgart 1994. Perlitt, Lothar, »Ein einzig Volk von Brüdern«. Zur deuteronomischen Herkunft der biblischen Bezeichnung »Bruder«: Lührmann, Dieter/Strecker, Georg (Hg.), Kirche. FS Günter Bornkamm, Tübingen 1980, 27–52. Renz, Johannes/Röllig, Wolfgang, Handbuch der Althebräischen Epigraphik, Band 1, Darmstadt 1995. Rüpke, Jörg, Religion und Individuum: Stausberg, Michael (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/ Boston 2012, 245–249. Ders., The Individual in the Religions of the Ancient Mediterranean, Oxford 2013.

Weiterführende Literatur Di Vito, Robert A., Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität: Janowski, Bernd/Liess, Kathrin (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg 2009, 213–241.

19 Frevel, Person – Identität – Selbst, 81.

186

3. Kapitel: Gesellschaft

Dietrich, Jan, Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient: Berlejung, Angelika u. a. (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (ORA 9), Tübingen 2012, 77–96. Malina, Bruce J., Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart 1993. Moos, Peter von, Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung: Ders. (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der Vormoderne, Köln 2004, 1–42. Reinhard, Wolfgang, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2 2006. Robinson, Henry Wheeler, The Hebrew Conception of Corporate Personality: Hempel, Johannes (Hg.), Wesen und Werden des Alten Testaments (BZAW 66), Berlin 1936, 49–62. Taylor, Charles, Quellen des Selbst, Frankfurt/Main 81996.

§ 13 Familie, Sippe, Stamm Rainer Kessler, Marburg Dass der Mensch ein animal sociale, ein auf Gemeinschaft angewiesenes Wesen ist, ist seit alters bekannt und liegt auf der Hand. Als isoliertes Individuum ist er nicht (über-)lebensfähig. So unabdingbar die Notwendigkeit der Vergesellschaftung als solche ist, so variabel sind allerdings die Formen, in denen diese stattfindet. Für die Welt der Hebräischen Bibel sind drei Grundformen bestimmend, nämlich die Familie, die Sippe und der Stamm. Sie bilden die Basis der Gesellschaft. Wie die Epoche zwischen den Anfängen der so genannten Landnahme und dem Aufkommen erster Königtümer, also die Zeit zwischen etwa 1200 und 1000 v. Chr., zeigt, genügen diese Größen für den Bestand einer stabilen Gesellschaft. Auch nach dem Ende der israelitischen und judäischen Monarchie bricht das Volk nicht auseinander und löst sich nicht auf, sondern besteht unter fremder Oberherrschaft in den verwandtschaftsbasierten Strukturen fort.

1.

Die Familie

Die Grundeinheit der Gesellschaft des alten Israel ist die Familie.20 Sie besteht aus den Eltern, ihren Kindern, den Frauen der Söhne und, wenn schon vorhanden, deren Kindern. So umfasst die Familie Noahs, die in die Arche geht, ihn selbst, seine Söhne, seine Frau und die Frauen seiner Söhne (Gen 6,18; 7,7.13).21 Alternative Formen, wie sie in anderen Gesellschaften vorkommen, etwa das nach Geschlechtern getrennte Zusammenleben in Männer- und Frauenhäusern, sind nicht bekannt.

20 Maier/Lehmeier, Familie. 21 Bendor, Social Structure, 48–53 (The Composition of the beit ʼab).

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

a)

187

Der patriarchale Charakter der Familie

Das hebräische Wort für »Familie« ist »Haus«, »Haus des Vaters« oder »Vaterhaus«. Die Wahl des Begriffes hängt dabei von der Perspektive ab, von der aus auf die Einheit geblickt wird.22 Wenn Jakob von seiner Familie spricht, deren Oberhaupt er ist, sagt er »mein Haus« (Gen 30,30). Dieselbe Familie ist für den Jakobssohn Josef »das Haus meines Vaters« (41,51). »Meine Familie« ist für den Vater »mein Haus«, für die Kinder aber »das Haus meines Vaters«. Zusammensetzung und hebräische Bezeichnung geben bereits wesentliche Hinweise auf den Charakter der Familie. Sie ist patriarchal organisiert. Ihr Haupt ist der Vater. Nach ihm werden in aller Regel die Frau und die Kinder benannt. Ahinoam ist »die Frau Sauls« und »die Tochter Ahimaaz« (1Sam 14,50), Jonatan ist »der Sohn Sauls« (14,1) und Michal »die Tochter Sauls« (1Sam 18,20.27f.). Eine große Ausnahme sind die in der Davidsüberlieferung vorkommenden »Söhne der Zeruja«, die nach ihrer Mutter benannt sind (1Sam 26,6; 2Sam 2,13.18). Die Ehe als Voraussetzung für die Gründung einer Familie wird vom Mann dominiert. »Heiraten« heißt aus der Perspektive des Mannes »(eine Frau) nehmen« (Gen 4,19; Ex 21,10; Dtn 24,1 u. ö.), kann aber auch mit dem Verb ba΄al bezeichnet werden, das eigentlich »beherrschen« bedeutet (Dtn 21,13; 24,1; Mal 2,11). Entsprechend heißt der Ehemann häufig ba΄al seiner Frau, also ihr »Herr« (Gen 20,3; Ex 21,3.22 u. ö.). Auch ’ādôn, ein anderes Wort für »Herr«, wird in diesem Sinn gebraucht (Gen 18,12; Ri 19,26; Am 4,1). Zur patriarchalen Konstruktion der Ehe gehört es, dass nur vom Recht des Mannes die Rede ist, seine Frau zu entlassen (Dtn 24,1). Wird, wie häufig in der Prophetie, die Ehe als Metapher für das Verhältnis Gottes zu Israel genommen, dann treten die patriarchalen Züge des Eheverständnisses hervor und werden zum Problem einer theologischen Interpretation.23 Eng mit der Definition der Familie nach dem Vater ist die Regelung der Abstammung verbunden, die über die männliche Linie geht. Das schlägt sich in den zahlreichen Genealogien, die in die biblische Erzählung aufgenommen wurden, darin nieder, dass sie fast ausschließlich Männer (Väter, deren Söhne usw.) umfassen (vgl. Gen 5; 10; 11,10–35 u. ö.). Auch die Ausdrucksweise, dass eine Frau einem Mann ein Kind gebiert (Gen 16,15f.; 21,2; 22,20 u. ö.) oder überhaupt nur, dass einem Mann – ohne Erwähnung der Mutter – Kinder geboren werden (Gen 4,26; 21,5), erklärt sich aus der männlichen Abstammungsfolge. Zum patriarchalen Charakter der israelitischen Familie gehört schließlich die Patrilokalität. Darunter versteht man den Brauch, dass eine Tochter mit der Heirat aus dem Haus ihres Vaters ausscheidet und in die Familie ihres Ehemannes eintritt. Daher kommt es, dass zum »Vaterhaus« zwar verheiratete Söhne mit ihren Frauen, nie aber verheiratete Töchter gehören. Allerdings bricht die Beziehung der Frau zu ihrer Herkunftsfamilie nicht unbedingt völlig ab. Vor allem nach Verwitwung oder

22 Bendor, Social Structure, 54–56 (The beit ʼab According to Point of Reference). 23 Vgl. dazu die Studie von Baumann, Liebe und Gewalt.

188

3. Kapitel: Gesellschaft

Scheidung kann eine Frau in die Familie ihrer Eltern zurückkehren (einen solchen Fall schildert Ri 19,2). Eine Reihe von Bräuchen und rechtlichen Bestimmungen lässt sich nur aus dem patriarchalen Charakter der Familie verstehen. Dazu gehört der môhar, der missverständlich oft mit »Brautpreis« übersetzt wird (Gen 34,12; Ex 22,15f.; 1Sam 18,25). Der Ausdruck ist schief, weil eine Frau keine Ware ist, die ein Mann kaufen könnte. Vielmehr stellt das Brautgeld einen Ersatz an die väterliche Herkunftsfamilie für den Ausfall der Arbeitskraft des Mädchens dar. Der Brauch der Leviratsehe, nach dem lateinischen levir – »Schwager«, verlangt, dass ein Mann die Witwe seines verstorbenen Bruders heiratet. Der erste Sohn, der aus dieser Verbindung hervorgeht, gilt dann als Kind des Verstorbenen, »damit dessen Name in Israel nicht erlischt« (Dtn 25,5–10). Das Nachleben eines Mannes hängt an der Existenz eines Sohnes, weil nur in ihm die Familie fortbesteht. Dazu wird selbst die biologische Vaterschaft durch den Schwager der Witwe fiktiv auf den Verstorbenen übertragen. Allein aus dem patriarchalen Charakter der Ehe ist verständlich, dass ein Mann mehrere Frauen zur gleichen Zeit haben kann. Das wird nicht nur von den sagenhaften Patriarchen der Vorzeit, besonders Abraham und Jakob, und nicht nur von den Königen, die möglichst viele Söhne zur Sicherung der Dynastie zeugen sollten, erzählt, sondern wird auch in Gesetzestexten vorausgesetzt (Ex 21,7–11; Dtn 21,15–17). Erwartungsgemäß führt das immer wieder zu Spannungen zwischen den Frauen, wie zwischen Sara und ihrer Sklavin Hagar (Gen 16; 21,9–21), zwischen den vier Frauen Jakobs (Gen 29,31–30,24) oder den beiden Frauen Elkanas, der kinderreichen Peninna und der (zunächst) kinderlosen Hanna (1Sam 1). Neben der Rivalität der Frauen um die Zuneigung des Mannes spielt dabei die Frage eine Rolle, wer legitimer Erbe wird. So sagen es die Erzählungen von Sara und Hagar (Gen 21,10) und die von Jiftach und seinen Brüdern (Ri 11,2). So wird es aber auch in der einzigen Gesetzesbestimmung für diesen Fall vorausgesetzt, wonach der erbberechtigte Sohn der weniger geliebten Frau in seinen Rechten nicht zurückgesetzt werden darf (Dtn 21,15–17). b)

Die soziale Realität in der Familie

Der patriarchale Grundcharakter der Familie ist mehr als nur ein Ordnungssystem, das über Abstammung, Erbrecht und Wohnsitz entscheidet. Er impliziert gewiss auch die reale Autorität der Väter über ihre Kinder und der Männer über ihre Frauen. Die Erzählung von Juda und Tamar unterstellt sogar, dass ein Familienvater die Todesstrafe für seine inzwischen verwitwete Schwiegertochter anordnen könne (Gen 38,24). Inwieweit die Idee patriarchaler Autorität allerdings in der sozialen Realität der Familien auch umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Die Erzählung von der Familie Isaaks und Rebekkas mit ihren Zwillingssöhnen (Gen 25–33) zeigt jedenfalls etwas anderes. Da betrügt nicht nur der jüngere Sohn seinen älteren Bruder, sondern er täuscht auch zusammen mit der Mutter den alten Vater. In der nächsten Generation

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

189

erlebt dann dieser jüngere Bruder Jakob gleichfalls, dass seine zwölf Söhne keineswegs nur die gehorsamen Kinder ihres Vaters sind (Gen 34; 37). Auch wenn solches von den Erzelternfamilien der Vorzeit erzählt wird, ist doch anzunehmen, dass der Stoff dazu aus dem Leben gegriffen ist. Nicht nur zwischen den Generationen, auch im Verhältnis der Geschlechter zueinander ist mit einer Vielfalt möglicher Konstellationen zu rechnen.24 Gewiss gibt es eine Arbeitsteilung, die entlang der Geschlechtergrenze verläuft. Psalm 128, der aus der Sicht des Familienvaters eine ideale Familie in den Blick nimmt, spricht vom Ertrag dessen, was die Hände des Mannes erarbeitet haben, wahrscheinlich durch Feldarbeit oder, wenn es sich um einen Handwerker handelt, in seiner Werkstatt, und stellt dem die Frau »im Inneren deines Hauses«, umgeben von den Kindern, gegenüber. Da es sich um eine offenbar junge Mutter handelt, ist die Arbeitsteilung des Paares praktisch bedingt. Da verheiratete Frauen während der Zeit ihrer Gebärfähigkeit, wenn dem medizinisch nichts entgegenstand, in der Regel auch Kinder bekamen, waren sie stark ans Haus gebunden. Typische Tätigkeiten, die von Frauen verrichtet wurden, waren das tägliche Mahlen von Mehl (Ri 9,53; Hiob 31,10; Koh 12,3), das Backen von Brot und überhaupt die Zubereitung von Nahrung (Gen 18,6; 27,14; 2Sam 13,5–10), dazu die Herstellung und Weiterverarbeitung von Wolle (Ri 16,13–14). Bei archäologischen Grabungen finden sich in den gewöhnlichen Häusern fast immer Öfen und Herdstellen, Mahlsteine sowie Webgewichte für den Webstuhl. Dass die Bindung der Frauen ans Haus vor allem den Aufgaben der Kinderaufzucht geschuldet ist, zeigt die Tatsache, dass Frauen ohne Kinder – vor ihrer Heirat oder nach ihrer Verwitwung – durchaus auch außerhalb des Hauses tätig sind. Die Töchter schöpfen Wasser am Brunnen (Gen 24,11–20; 1Sam 9,11) und hüten die Herden (Gen 29,6–10; Ex 2,16–17). Und eine junge, kinderlose Witwe wie Rut arbeitet selbstverständlich mit anderen Frauen zusammen auf dem Feld (Rut 2,8). Im Übrigen gibt es zahlreiche Tätigkeiten, die sich im familiären Umfeld abspielen und sowohl von Männern als auch von Frauen (und gelegentlich Kindern) ausgeführt werden können. Das gilt vom Schlachten und Zubereiten von Tieren (Abraham in Gen 18,6–8 und die Totenbeschwörerin von En-Dor in 1Sam 28,24–25), vom Sammeln von Brennholz (ein Mann in Num 15,32–36, eine Frau in 1Kön 17,10 und Kinder in Jer 7,18), aber auch vom Hüten der Herden (neben den schon erwähnten Töchtern arbeiten von Abel über Abraham bis Mose und David viele Männer als Hirten) und dem Schöpfen von Wasser am Brunnen, das nicht nur Aufgabe der Töchter ist, sondern nach Rut 2,9 auch von männlichen Knechten erledigt wird. Besonders hervorzuheben ist der Bereich der familiären Erziehungsarbeit. Mit großer Selbstverständlichkeit wird in der weisheitlichen Überlieferung vorausgesetzt, dass Unterweisung und Belehrung Sache von Vater und Mutter sind (Spr 1,8; 6,20). Bedenkt man, welches Gewicht die Weitergabe der Tradition nicht nur im lebenspraktischen Bereich, sondern auch auf dem Gebiet der religiösen Überliefe-

24 Dazu grundsätzlich Meyers, Rediscovering Eve.

190

3. Kapitel: Gesellschaft

rungen hat (vgl. Ex 12,26f.; 13,14; Dtn 6,20–25), kann man die Gleichstellung von Vater und Mutter bei dieser Aufgabe nicht hoch genug bewerten. Die Familie ist in der Welt der Hebräischen Bibel ohne Zweifel patriarchal strukturiert. In der Realität gewöhnlicher Bauernfamilien, die die große Masse der Bevölkerung ausmachten, dürfte aber durchaus eine weit reichende Gleichwertigkeit der Geschlechter geherrscht haben. Wenn es eine Arbeitsteilung entlang der Geschlechtergrenze gab, war diese nicht ideologisch, sondern allein praktisch begründet. Die flache Hierarchie innerhalb der Familie zeigt sich auch in dem, was man über die Religion innerhalb der Familie ausmachen kann.25 Sie hebt sich in der Königszeit deutlich von der offiziellen Jhwh-Religion an den Staatsheiligtümern ab. Praktisch in jedem ausgegrabenen Haus findet man Hausaltäre und weibliche Figurinen. Ganz wichtig ist die Bestattung im Familiengrab. Verehrung der Ahnen wird wohl noch lange praktiziert. Identitätsstiftende Riten wie die Beschneidung oder die Feier des Sabbats sind im Wesentlichen Feste in der Familie. Und von der Bedeutung der religiösen Überlieferung innerhalb der Familie durch Vater und Mutter war schon die Rede.

c)

Das Haus als Grundeinheit des Wirtschaftens

Betrachtet man bei der Familie nur das Elternpaar und seine Nachkommen, sitzt man einer Täuschung auf, die von der Orientierung an der modernen westlichen Kleinfamilie herrührt. Wie schon die Bezeichnung »(Vater-)Haus« zeigt, ist das einigende Element der Familie das Haus. Und das Haus bildet nicht nur das Gebäude selbst sowie die dazu gehörenden Gärten und Äcker. Zum Haus gehören alle, die in ihm arbeiten und leben. Das sind neben den Besitzern auch Sklavinnen und Sklaven sowie die Tiere. Hat sich ein Ortsfremder an einem Ort niedergelassen und sich in ein Klientelverhältnis zu einer Bauernfamilie begeben, so dass er für sie arbeitet und dafür von ihr ausgehalten wird, dann gehört auch er zum Haus in diesem umfassenden Sinn. Zum Beleg genügt ein Blick in die Zehn Gebote. Da wird beim Sabbatgebot aufgezählt, für wen es gilt. In der längeren Fassung des Deuteronomiums sind das: »du – womit der Familienvater und seine Frau gemeint sind –, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und all dein Vieh sowie der Fremde in deinen Toren« (Dtn 5,14). Beim letzten der zehn Gebote, dem Verbot des Begehrens, wird an erster Stelle das Haus selbst genannt, womit hier das Gebäude gemeint ist. Daran angefügt wird sodann, was sonst noch »das Haus« ausmacht und was man ebenfalls nicht begehren soll: »Du sollst das Haus deines Nächsten nicht begehren. Du sollst die Frau deines Nächsten, seinen Sklaven und seine Sklavin, sein Rind und seinen Esel und alles, was deinem Nächsten gehört, nicht begehren« (Ex 20,17).

25 Vgl. umfassend Albertz/Schmitt, Family and Household Religion.

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

191

Wie stark das Denken in den Kategorien von Familie und Haus ausgeprägt ist, zeigt die Entwicklung nach dem Aufkommen des Königtums in Israel und Juda. Wie die bäuerliche heißt auch die königliche Familie »Haus«. Als der Prophet Natan dem König David eine immerwährende Dynastie verheißt, sagt er, Jhwh werde ihm »ein Haus bereiten« (2Sam 7,11). Als später ein aramäischer Herrscher im nordisraelitischen Tel Dan eine Stele errichtet und einen König aus Juda erwähnt, nennt er ihn König von BYTDWD, zusammengesetzt aus den Elementen bájit für »Haus« und dem Eigennamen David, also »Haus Davids«. Bekanntlich spricht man auch in Europa bei Dynastien vom »Haus Habsburg« oder »Haus Windsor«. Wie bei der bäuerlichen Familie das Haus zugleich die grundlegende Wirtschaftseinheit ist, so auch bei den Königen. Diese haben Grundbesitz, den sie durch Verwalter bewirtschaften lassen. Mit fortschreitender Zeit weitet sich der Sektor königlicher Wirtschaft immer weiter aus. Aus ihm werden der Hof und staatliche Einrichtungen wie die militärischen Festungen versorgt. Aber auch dieser Sektor wird als »Haus(halt)« aufgefasst. Geleitet wird er von einem Beamten, der den Titel »der über das Haus Gesetzte« trägt, im Hebräischen (ʼašær) ‛al habbájit. Wieder erscheint das Element bájit für »Haus«. Im feudalen Europa würde man vom Majordomus oder Haushofmeister sprechen. Königliche Wirtschaft ist die Betriebswirtschaft des königlichen Haushalts. Familie und Haus sind auch im Königtum die Größen, an denen die Gesellschaft sich orientiert. Am Rande sei erwähnt, dass es sich in Griechenland ganz entsprechend verhält. Im Griechischen heißt »Haus« oíkos, das als Wortbestandteil in das Wort »Ökonomie« eingegangen ist. Von der Wortherkunft her ist Ökonomie die familiäre Hauswirtschaft. d)

Veränderungen in der Realität der Familien

Was bisher beschrieben wurde, lässt sich als das Ideal einer bäuerlichen oder handwerklichen Familie beschreiben, das als Idealtypus während der gesamten Epoche Bestand hatte, in der die Schriften der Hebräischen Bibel entstanden. Doch innerhalb dieser fast tausend Jahre lassen sich durchaus Entwicklungen beobachten, die Veränderungen mit sich brachten. Am folgenreichsten wirkt sich auf die Familien die soziale Krise aus, die sich in Israel und Juda seit dem 8. Jh. v. Chr. beobachten lässt und die bis in die hellenistische und römische Zeit mit sich verschärfender Tendenz fortdauert. Im Kern besteht sie in der Überschuldung bäuerlicher Familien, die ihre Kredite nicht mehr bezahlen können. Die Folgen für die Familien sind gravierend. Zur Absicherung eines Kredits müssen Kinder in Schuldsklaverei gegeben werden. Beim Propheten Amos (2,7) ebenso wie in den Gesetzen des Bundesbuches (Ex 21,7–11) ist von einem Mädchen die Rede, das so in eine fremde Familie gerät. In der Zeit Nehemias Mitte des 5. Jh.s v. Chr. beklagen sich Eltern, dass sie aufgrund ihrer Schulden Söhne und Töchter in die Sklaverei geben müssen (Neh 5,5). An allen Stellen wird deutlich, dass die Mädchen in hohem Maß sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Doch nicht nur die Kinder sind gefährdet, auch die Eltern selbst. »Wenn sich dein Bruder, der Hebräer oder die Hebräerin, in deine Gewalt begibt«, so fängt das Gesetz

192

3. Kapitel: Gesellschaft

über die Schuldsklaverei in Dtn 15,12–18 an. In Lev 25,35 heißt die entsprechende Formulierung: »Wenn dein Bruder verarmt und sich nicht mehr halten kann ...« Immer geht es darum, dass Menschen ihre Schulden nicht bezahlen können und sich bei den Kreditgebern in zeitlich auf sechs Jahre befristete Schuldsklaverei begeben müssen. Was in den Gesetzestexten nüchtern als eine soziale Realität, die es zu regeln gilt, zum Ausdruck gebracht wird, erscheint in der prophetischen Kritik als Akt sozialer Gewalt. Der Prophet Micha kritisiert die reichen Grundbesitzer, die Häuser und Felder nehmen und »den Mann und sein Haus, den Menschen und seinen Erbbesitz« unterdrücken (Mi 2,2). Später fügt er hinzu, dass sie auch Frauen und Kinder aus den Häusern vertreiben (2,9). Nach Am 8,4–6 lauern wohlhabende Kreditgeber darauf, Getreide verleihen zu können, um letztlich diejenigen, die nicht zurückzahlen können, in ihre Gewalt zu bringen. Und Jeremia vergleicht die Großen und Reichen mit Vogelfängern, die Menschen fangen (Jer 5,25–27). Die unvermeidliche Folge dieser Entwicklungen ist, dass die Familien gefährdet werden und auseinanderbrechen. Die Krise der Familie, die sich in der Zeit nach dem Exil weiter verschärft,26 hat zwar häufig äußere Ursachen. Aber sie wirkt sich auch demoralisierend auf den inneren Zusammenhalt aus. Ein eindrucksvolles Dokument dafür ist der prophetische Text von Mi 7,1–7. Er greift zunächst die Mächtigen der Gesellschaft an, die Beamten, Richter und »Großen« (V. 3). Aber er verfällt danach nicht in das sozialromantische Bild des edlen Armen, der Opfer bösartiger Täter wird, sondern erkennt klar, dass sich gesellschaftlicher Verfall zersetzend auch auf die auswirken kann, die in der Tat Opfer der Entwicklung sind. In drastischen Worten wird der Verfall familiärer Bindungen beschrieben: »Glaubt nicht dem Nächsten,/vertraut nicht dem Freund!/Vor der, die an deiner Brust liegt,/hüte die Pforten deines Mundes!/ Denn der Sohn verachtet den Vater,/die Tochter steht auf gegen ihre Mutter,/die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter,/zu Feinden des Mannes werden seine Haussklaven« (V. 5–6). Derartige Erschütterungen und Verunsicherungen rufen immer auch Gegenreaktionen hervor. Eine solche finden wir bei dem Weisheitslehrer Jesus Sirach, der im 2. Jh. v. Chr. wirkt, also schon in hellenistischer Zeit. Er hält in seiner Lehre die alte patriarchale Familienordnung hoch und verschärft sie, wohl auch unter dem Einfluss griechischer Vorstellungen, weiter. Frauen werden nur aus der Perspektive des Mannes wahrgenommen. Sie sind entweder mit Giftschlangen zu vergleichen oder werden in den Himmel gehoben (Sir 25,13–26,27).27 Söhne sind streng zu erziehen (30,1–13), Töchter gelten als Last und sollten möglichst bald verheiratet werden (7,24–25; 42,9–14). Aber wie gesagt, das ist leicht als Reaktion auf sozial bedingte Verfallserscheinungen zu durchschauen – und es ist reaktionär. Der soziale Wandel bringt aber nicht nur Auflösungstendenzen hervor. Er produziert auch eine Oberschicht, in der das alte Familienideal fortlebt und sich zugleich verändert. Hier ist der Text aus Spr 31,10–31 heranzuziehen, der eine Frau der

26 Vgl. dazu die Studie von Fechter, Familie. 27 Vgl. dazu Calduch-Benages, Ehefrauen.

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

193

Oberschicht als ideale »tatkräftige Frau« preist und der in die Perserzeit zu datieren ist. Zum einen finden wir hier eine Trennung in die Sphäre des Hauses und die der Öffentlichkeit, die im bäuerlichen Milieu schon aus praktischen Gründen nicht durchführbar ist. Es ist die Frau, die »das Tun und Treiben in ihrem Haus überwacht« (V. 27), während ihr Mann in der Öffentlichkeit des Stadttores sitzt (V. 23). Andrerseits aber ist die Aktivität der Frau keineswegs auf die häuslichen Fragen von Küche und Kindern beschränkt, sondern reicht weit in ökonomische Tätigkeiten hinein. Sie steht einem Haushalt mit zahlreichen Arbeitskräften vor, handelt mit den im Haus produzierten Produkten und kauft Äcker und Weinberge. Auch die Armenfürsorge, selbstverständliche Pflicht einer wohlhabenden Familie, liegt in ihren Händen.

2.

Die Sippe

Die bisherige Beschreibung hat sich auf die Klein- oder Kernfamilie beschränkt, die aus den Eltern, Kindern und Enkelkindern (und den zum Haus gehörenden Sklavinnen und Sklaven, dem Vieh und eventuell Fremden, die sich der Familie angeschlossen haben) besteht. Allerdings stellt diese Beschreibung insofern eine Abstraktion dar, als die wenigsten Familien isoliert gelebt haben dürften. Das Normale war, dass mehrere Familien, die verwandtschaftlich miteinander verbunden waren, zusammenlebten.28 Ein solcher auf Verwandtschaft basierender Verband heißt auf hebräisch mišpachāh, was über das Jiddische als »Mischpoche« oder »Mischpoke« auch ins Deutsche eingedrungen ist. Herkömmlich wird das Wort mit »Sippe« übersetzt. In ethnologischer Fachsprache verwendet man auch den Begriff Clan. Die Abstammung, die von einem Ahnen ausgehend die jetzt lebenden Mitglieder des Verbandes miteinander verknüpft, heißt fachsprachlich Lineage, so dass man auch von einer Lineage-Gesellschaft spricht.

a)

Siedlungsstrukturen und Gemeinschaftsaufgaben

Aus der oben schon erwähnten formativen Epoche zwischen 1200 und 1000 v. Chr., in der allmählich eine greifbare Größe Israel entsteht, sind durch die Arbeit der Archäologie etliche Grundrisse von ländlichen Siedlungen bekannt. Sie teilen mehrere Charakteristika: Sie sind klein und umfassen nur wenige Häuser; die Häuser sind alle ungefähr gleich groß; und es fehlen herausgehobene öffentliche Gebäude. Daraus kann man schließen, dass in solchen Dörfern Großfamilien oder Sippen zusammenlebten. Jede (Klein-)Familie hatte ihr Haus; die Familien waren alle ungefähr gleich groß und entsprechend auch wirtschaftlich gleich stark; und es gab

28 Vgl. Maier/Lehmeier, Verwandtschaft.

194

3. Kapitel: Gesellschaft

keine hierarchisch übergeordnete Instanz, die in so etwas wie einem Tempel, Palast oder Verwaltungsgebäude residiert hätte.29 Natürlich gibt die Archäologie keine Auskunft darüber, wer die Menschen waren, die in solchen Siedlungen zusammenlebten. Aber es finden sich einige beiläufige Hinweise in biblischen Texten, die darauf schließen lassen, dass es sich um Verwandte handelt, die räumlich eng verbunden beieinander wohnten. So heißt es von dem jungen David, noch bevor er von Samuel zum künftigen König gesalbt wird, dass »er die Schafe hütete«. Dies sind weder seine eigenen noch nur die seines Vaters, sondern die der gesamten Familie, die nach der Überlieferung aus dem Vater und sieben jungen Männern besteht (1Sam 16,1–13). Ob zur Herde auch Tiere anderer Familien derselben Sippe gehören, sagt der Text nicht. Der nächste Beleg könnte in diese Richtung deuten. Derselbe David nämlich erfindet später, als er schon am Königshof lebt, eine Ausrede, um sich vom Hof zu entfernen. Auch wenn es eine Ausrede ist, ist sie doch plausibel. Er sagt nämlich, dass »die ganze Sippe« in Betlehem das jährliche Opferfest feiere und er dabei sein wolle (1Sam 20,6.28f.). Dies setzt voraus, dass die Sippe an einem Ort zusammenwohnt. Und schließlich sei der fiktive Rechtsfall einer Witwe aus Tekoa herangezogen. Diese lebt mit zwei Söhnen an einem Ort, einer kommt bei einem Streit um, und nun fordert »die ganze Sippe« (2Sam 14,7) den Tod des Totschlägers. Auch hier ist offensichtlich vorausgesetzt, dass alle am selben Ort leben. Wahrscheinlich hat man in solchen Verwandtschaftsverbänden bestimmte gemeinschaftliche Aufgaben auch gemeinsam ausgeführt. Das entspricht der Logik des Zusammenlebens in solchen Verbänden. Man wird sich bei bestimmten größeren Vorhaben, etwa beim Hausbau, dem Ausschlagen einer Zisterne oder dem Anlegen von Terrassen, gegenseitig geholfen haben. Wahrscheinlich hat man auch bestimmte Vorhaben wie etwa Wege- oder Brückenbau von vorneherein gemeinschaftlich geplant und durchgeführt. Dass das alles nicht immer in Harmonie und ohne Konflikte abging, zeigen nicht nur viele Erzählungen von familiären Streitigkeiten. Auch dem Anfang von Ps 133, der eine Seligpreisung für den Fall ausspricht, dass Brüder in Einheit beisammen wohnen, ist abzuspüren, dass dies keineswegs immer selbstverständlich gegeben war.

b)

Die Sippe als soziale Bezugsgröße

Mit der Zunahme der Bevölkerung wachsen die Siedlungen zu einer Größe an, dass nicht mehr nur eine einzige Sippe an einem Ort wohnt. Älteste als Vertreter der Sippen bestimmen jetzt das Geschehen, während für den Alltag das Zusammenleben im Haus prägend ist, in dem jeweils eine einzige (Kern-)Familie wohnt. Dennoch verliert die Sippe als soziale Bezugsgröße nicht ihre Bedeutung. Das zeigen

29 Zu diesen Siedlungen vgl. den Abschnitt »Die Siedlungsform« in: Fritz, Entstehung, 79–92 (mit zahlreichen Abbildungen).

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

195

insbesondere zwei Gesetze, die sicher aus nachexilischer Zeit stammen, also durchaus fortgeschrittene gesellschaftliche Verhältnisse voraussetzen. Das eine ist das Jobeljahrgesetz von Lev 25. In ihm heißt es zunächst in einer Art Generalklausel, dass im Jobeljahr, dem 50. Jahr eines regelmäßigen Zyklus, »ein jeder zu seinem Besitz« und »ein jeder zu seiner Sippe« zurückkehren soll (V. 10). Bei der Rückkehr zum Besitz geht es um verkauftes Land. Geschah der Verkauf aus Not, soll ein »Löser« aus der Verwandtschaft – auf ihn wird gleich noch zurückzukommen sein – das Land möglichst zurückkaufen, und zwar im Prinzip jederzeit. Auf jeden Fall aber soll es im Jobeljahr, also längstens nach 50 Jahren, an den ursprünglichen Besitzer zurückfallen. Auf diese Weise soll dafür gesorgt werden, dass der Besitz einer Sippe auf Dauer erhalten bleibt (V. 13–34). Bei der Rückkehr »eines jeden zu seiner Sippe« geht es um den Fall, dass eine Person oder Familie wegen Schulden in Schuldsklaverei oder ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis geraten ist. Auch hier soll der Betreffende spätestens im Jobeljahr »zu seiner Sippe und zum Besitz seiner Vorfahren« zurückkehren (V. 41). Gesondert behandelt wird der Fall, dass der Verschuldete in Abhängigkeit bei einem NichtIsraeliten, einem Fremden, gerät. In diesem Fall wäre es besser, er oder sie könnten früher ausgelöst werden. An dieser Stelle wird nun genau erklärt, wer als »Löser« auftreten kann und was seine Aufgabe ist. »Einer seiner Brüder soll ihn loskaufen« – hier ist an leibliche Brüder gedacht, nicht an jüdische Landsleute, die sonst im Text auch »Brüder« heißen – »oder sein Onkel« – väterlicherseits, also ein Bruder des Vaters – »oder der Sohn seines Onkels soll ihn loskaufen, oder ein anderer Blutsverwandter aus seiner Sippe soll ihn loskaufen« (V. 48f.). Zweierlei ist bezeichnend an dieser Bestimmung. Das Erste ist die Definition der Sippe über die männliche Verwandtschaftslinie, die über die Kleinfamilie hinausgeht. Der erzählte Fall des Propheten Jeremia, der das Feld seines offenbar verschuldeten Cousins – »des Sohnes seines Onkels« – loskauft, bestätigt dies (Jer 32,6–15). Außerdem ist davon auszugehen, dass die Reihenfolge in Lev 25,48f. auch eine Rangfolge markiert: Als erstes steht der leibliche Bruder in der Pflicht, dann der Onkel, dann dessen Sohn und dann weitere Verwandte. Sowohl die Ausdrucksweise von Jeremias Cousin, »bei dir liegt das Eigentumsrecht und bei dir liegt der Loskauf« (Jer 32,7), als auch der Vorgang im Buch Rut, dass erst ein näherstehender Loskäufer gefragt werden muss, bevor Boas Rut samt Feld bekommen kann (Rut 3,12; 4,1–12), bestätigen dies. Das zweite Phänomen, das besondere Beachtung verdient, ist die Ausdrucksweise. Wer im Jobeljahr freikommt oder von einem Verwandten losgekauft wird, kommt nicht einfach »frei« im Sinn einer individuellen Freiheit. Vielmehr »kehrt er zu seiner Sippe zurück« (Lev 25,41). Sie ist die entscheidende Bezugsgröße. Um ihren Bestand und nicht um persönliche Freiheit geht es bei dem ganzen Verfahren. Dass der Freigekaufte anschließend für seinen Freikäufer arbeiten muss, ist keineswegs auszuschließen. Aber das bleibt dann innerhalb der Sippe. Und nur darauf kommt es an. Dass »es innerhalb der Sippe bleibt«, ist auch für die zweite hier bedeutsame Gesetzesbestimmung ausschlaggebend. In Num 27,1–11 geht es um den Fall, dass ein Mann stirbt, ohne einen Sohn zu haben. Könnten seine Töchter nicht erben,

196

3. Kapitel: Gesellschaft

würde das bedeuten, dass sein Name »aus seiner Sippe ausgeschlossen würde« (V. 4). Deshalb wird eine genaue Erbfolge festgelegt. Wenn es keinen Sohn gibt, erbt die Tochter. Gibt es keine Tochter, fällt das Erbe an die Brüder des Verstorbenen, ansonsten an die Brüder des Vaters, also die Onkel des Verstorbenen, sonst an »den nächsten leiblichen Verwandten aus seiner Sippe« (V. 8–11). Immer ist die Sippe die entscheidende Bezugsgröße. Das wird durch die Ergänzung dieses Gesetzes in Num 36,1–12 noch unterstrichen, in der es um mögliche Heiraten erbberechtigter Töchter geht. Aufgrund der patriarchalen Grundstruktur geht das Erbe damit in den Besitz des Mannes über. Hier setzt nun die ergänzende Bestimmung an. Allerdings ist der Text in sich nicht einheitlich. Nach einer engeren Lesart muss »jede Tochter, die in einem der Stämme der Israeliten zu Erbbesitz kommt, einem Mann aus der Sippe des Stammes ihres Vaters zur Frau werden« (V. 6.8). Dafür kommen dann im Wesentlichen nur die Söhne ihrer väterlichen Onkel in Frage, also ihre Cousins (V. 11). Hier liegt alles Gewicht darauf, dass das Erbe innerhalb der Sippe verbleibt. Nach einer weiteren Fassung des Textes sollen die Töchter dagegen nur innerhalb ihres Stammes heiraten, damit der Erbbesitz nicht an einen anderen Stamm übergeht. Sie können also durchaus einen Mann aus einer anderen Sippe heiraten, sofern dieser nur demselben Stamm angehört (Num 36,3.7.9.12). Wir müssen die Frage, welche Fassung die ursprünglichere ist, hier nicht entscheiden. Wir sehen aber, dass zwischen der Sippe als dem engeren und dem Stamm als dem weiteren Verband unterschieden wird. Das gibt uns Gelegenheit, uns nun der Größe Stamm zuzuwenden.

3.

Der Stamm

Zwei Texte, die ein Auswahlverfahren per Los beschreiben, zeigen, wie man sich die Struktur der Gesellschaft des alten Israel idealtypisch vorgestellt hat. Sie ist gegliedert in Stämme, Sippen, Häuser, d. h. Familien, und einzelne Personen (Jos 7,14–16; 1Sam 10,20f.). Der Stamm bildet also die höchste soziale Einheit unterhalb der Gesamtheit des Volkes Israel. a)

Das System der zwölf Stämme

Für den Kanon der Bibel aus Altem und Neuem Testament ist klar, dass es zwölf Stämme sind, die die Gesamtheit Israels ausmachen. Jakob, der den Namen Israel erhält, hat zwölf Söhne (Gen 29,31–30,24 und 35,16–20); am Sinai richtet Mose zwölf Stelen für die zwölf Stämme Israels auf (Ex 24,4); Elija nimmt zwölf Steine, die ebenfalls die Stämme repräsentieren (1Kön 18,31); und Jesus bildet einen Zwölferkreis als Abbild der Ganzheit Israels um sich (Mk 3,14 parr.). Die Belege ließen sich endlos vermehren. Aber wer gehört eigentlich zu diesen zwölf Stämmen? Das ist bereits nicht mehr so eindeutig wie die Zwölfzahl als solche. Grob gesprochen gibt es zwei Zählweisen. Die eine zählt den Stamm Levi mit zu den zwölf Stämmen. Daraus ergibt sich die

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

197

Zusammenstellung, wie sie der erste diesbezügliche Text, die Erzählung von der Geburt der Jakobssöhne, kennt: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Dan, Naftali, Gad, Ascher, Issachar, Sebulon, Josef und Benjamin. Andere Listen zählen Levi dagegen nicht zu den zwölf Stämmen, sondern gliedern die Leviten, denen besondere Aufgaben im Kult zufallen und die keinen eigenen Landbesitz haben sollen, aus. Um auf die Zwölfzahl zu kommen, fügen sie statt Josefs dessen zwei Söhne Efraim und Manasse ein, die nach der Erzählung von Gen 48 deren Großvater Jakob adoptiert hat, so dass sie als seine eigenen Söhne gelten. Solche Listen ohne Levi und Josef, dafür mit Efraim und Manasse, finden sich etwa in Num 7; 10,11–28; Ez 48 u. ö. Neben der Abweichung in der Identifizierung der zwölf Stämme fällt auf, dass es keine feste Reihenfolge gibt. Beides zusammen lässt sich so deuten, dass wir es bei der Vorstellung von den zwölf Stämmen, die Israel bilden, mit einer Konstruktion zu tun haben und es sich dabei um ein loses Konstrukt handelt, was die Abfolge angeht. Ordnet man die Texte nach der vermutlichen Zeit ihrer Entstehung ein, dann zeigt sich zudem, dass es sich bei dem System der zwölf Stämme Israels eher um eine späte als eine frühe Erscheinung handelt. Was sich darin ausdrückt, ist bei aller Variabilität durch die Zwölfzahl gegeben. Sie steht für Vollkommenheit und Vollständigkeit. Gerade nach der Zerschlagung des Nordreichs und der Deportation der zehn Nordstämme – alle außer Juda und Benjamin –, die im Exil verloren gingen, wird die Zwölfzahl hochgehalten. Sie steht für das ganze Israel, sei es der Frühzeit (in den Pentateuchtexten), sei es der erhofften Heilszeit der Zukunft (Ez 48). Dass weder die Zwölfzahl noch die Namen der Stämme von Anfang an feststanden, zeigt eindrucksvoll das Deboralied in Ri 5. Es enthält in V. 13–18 eine Aufzählung von nur zehn Stämmen. Und neben den bekannten Größen Efraim, Benjamin, Sebulon, Issachar, Ruben, Ascher, Dan und Naftali finden sich Stämme wie Machir und Gilead, die sonst in keiner Liste vorkommen, während Simeon, Levi, Juda, Gad, Josef und Manasse fehlen. Im Fall von Juda wundert das deshalb nicht, weil »Juda« nur theoretisch ein Stamm, in Wirklichkeit aber ein von David geschaffenes politisches Gebilde ist. b)

Stammeseigenheiten

Auch wenn das System der zwölf Stämme als Konstruktion bezeichnet werden muss, stellen die Stämme selbst doch reale Größen dar. Dies zeigt sich daran, dass ihnen verschiedentlich bestimmte typische Eigenschaften oder Gewohnheiten zugeschrieben werden. Hier stechen besonders die Stammessprüche in Gen 49 und Dtn 33 sowie die schon erwähnte Aufzählung in Ri 5 hervor. So gehören Dan und Ascher ans Meer (Ri 5,17), ebenso Sebulon (Gen 49,13; Dtn 33,18f.) und Issachar (Dtn 33,18f.). Deutlich spiegelt sich im Jakobsegen (Gen 49) die politische Vorrangstellung Judas und Josefs – das Nordreich Israel wird in manchen Texten als »Haus Josef« (Am 5,6) oder nur als »Josef« (Ez 37,16; Am 6,6) bezeichnet –, während im Mosesegen Levi besonders hervorgehoben ist (Dtn 33). In Jos 15–19 wird in einem fiktiven Text erzählt, wie nach der Landnahme den Stämmen ihre Gebiete zugewiesen wurden. Andere Texte bestätigen diese geografi-

198

3. Kapitel: Gesellschaft

sche Zuordnung. Danach lässt sich eine Landkarte erstellen, sofern man die Städte, die zu dem jeweiligen Stammesgebiet gehören, identifizieren kann. Doch auch wo wir das heute nicht mehr können, muss es doch damals für die Bewohner eines Gebietes ein klares Bewusstsein gegeben haben, einem bestimmten Stamm anzugehören. Eine Besonderheit bildet dabei der Stamm Dan, der zunächst im Süden in Nachbarschaft der Philister siedelte und erst im Lauf der Zeit in den Norden zog (Jos 19,40–48; vgl. Ri 13–16; 18). Dass es ein eigenständiges Stammesbewusstsein und eigene Stammesüberlieferungen gab, lässt das Richterbuch noch erkennen. In seiner jetzigen Gestalt geht es in ihm immer um Israel als Ganzes, das von Feinden bedrängt, von charismatischen Führern gerettet und von diesen dann als Richtern längere Zeit regiert wird. Es ist wie eine Abfolge von Königen, nur dass es keine dynastische Sukzession gibt, sondern Jhwh jeweils neu den Führer des Volkes direkt bestimmt. Man braucht jedoch keine große Erfahrung in der Auslegung von Texten, um zu erkennen, dass der Kern der Erzählungen einen viel engeren lokalen oder regionalen Horizont hat. So wird der Kampf »Israels« gegen eine Koalition kanaanäischer Könige (Ri 4–5) eigentlich nur von den Stämmen Sebulon und Naftali ausgefochten, wobei die Prophetin Debora aus Efraim eine führende Rolle spielt. Nach 5,13–18 schließen sich einige weitere Stämme dem Kampf an, andere aber – immerhin sind es mit Ruben, Gilead, Dan und Ascher vier Stämme – bleiben fern. Als »Israel« in die Gewalt der Midianiter fiel (Ri 6–8), werden gerade einmal Manasse, Ascher, Sebulon und Naftali zur Gegenwehr aufgeboten (6,35; 7,23). Der Kampf »Israels« gegen die Ammoniter (Ri 11) beschränkt sich auf das Gebiet von Gilead, das wie erwähnt nach Ri 5,17 zu den Stämmen Israels zählt. Und die Kämpfe Simsons mit den Philistern finden ausschließlich im Grenzgebiet im Süden statt, wo damals noch die Daniten siedelten (Ri 13–16). Überall stehen Stammesüberlieferungen im Hintergrund, die bei ihrer Eingliederung in die Darstellung der Geschichte des gesamten Volkes »israelitisiert« wurden. c)

Die Sozialstruktur des Stammes: eine Fehlanzeige

Stammesnamen, typische Eigenschaften, klar umrissene Siedlungsgebiete, eigenständige Überlieferungen – all das zeigt, dass die Stämme eine soziale Realität sind. Möchte man aber etwas über die Sozialstruktur dieser Einheit »Stamm« erfahren, steht man vor einem Rätsel. Das Einzige, was sich greifen lässt, ist die verwandtschaftliche Struktur. Die Sippen, die einen Stamm bilden, verstehen sich als Nachfahren eines Ahnherrn, der wiederum der Sohn desjenigen ist, der dem Stamm den Namen gegeben hat, und dieser ist wiederum ein Sohn Israels, des Stammvaters aller »Kinder Israel«. Um ein Beispiel zu geben: Wer zur Familie Usi gehört, ist ein Nachkomme Tolas; dieser gilt als Sohn Issachars; und Issachar ist ein Sohn Jakobs, der auch Israel heißt (derartige Genealogien finden sich in Gen 46,8–27; Num 26,1–51; 1Chr 2–8). Wie in vielen verwandtschaftsbasierten Gesellschaften sind solche Genealogien in hohem Maße fiktiv. Wie die ethnologische Forschung gezeigt hat, können gleichwohl auf diese Weise große Gruppen von Menschen zusammenleben und ihren Ort in der Gesamtgesellschaft bestimmen.

§ 13 Familie, Sippe, Stamm

199

Wie aber war dann ein Stamm organisiert? In der Regel denkt man, ein Stamm müsse so etwas wie einen Häuptling haben, der entweder reale Macht ausübt oder vielleicht auch ohne echte Machtfunktion die Einheit des Stammes repräsentiert. Gelegentlich hört man etwas von »Häuptern der Stämme« (Num 30,2; Dtn 1,15; 1Kön 8,1). Aber sind das wirklich Häuptlinge der Stämme oder nicht eher die Häupter der Familien innerhalb der Stämme, wie die Formulierung von Num 32,28 nahelegt? Manchmal ist von »Fürsten der Stämme« die Rede (Num 7,2; Num 34,18). Aber die üben so wenig eine erkennbare Funktion aus wie die »Häupter«. Ferner gibt es »Älteste der Stämme« (Dtn 31,28), aber auch sie bleiben in ihrer Aufgabe ganz unbestimmt. Einmal treten in Ri 11 die »Ältesten von Gilead« handelnd auf, indem sie in einer kriegerischen Notlage einen gewissen Jiftach zu ihrem Anführer berufen. Sie müssen ihm dafür versprechen, dass er im Erfolgsfall das »Haupt« für alle Bewohner Gileads sein solle (11,4–11). Aber obwohl Jiftach die Feinde besiegt, hören wir nichts davon, dass er eine Funktion als Häuptling ausgeübt hätte. Stattdessen wird er im Zuge der oben erwähnten Israelitisierung einer lokalen Überlieferung zum Richter Israels gemacht (12,7). Auch im Blick auf weitere Organisationsformen auf Stammesebene ist eine Fehlanzeige zu vermelden. Wir erfahren nichts von Stammesversammlungen, auf denen Entscheidungen gefällt oder Recht gesprochen würde. In irgendeiner Form muss es so etwas gegeben haben. Wenn es im Deboralied (Ri 5,13–18) heißt, dass bestimmte Stämme in den Krieg zogen, andere aber nicht, muss das ja irgendwie in den Stämmen entschieden worden sein. Aber wie das geschah, bleibt dunkel. Auch von einem gemeinsamen religiösen Leben auf Stammesebene hören wir nichts. Gewiss hatten einige Heiligtümer wie das von Schilo (1Sam 1–3) überregionale Bedeutung. Aber weder lässt sich die Zuordnung zu einem einzelnen Stamm noch zu einer Stämmegruppe ausmachen. Der Stamm ist eine Realität im alten Israel. In seiner konkreten Gestalt aber bleibt er merkwürdig blass.30

4.

Das alte Israel als verwandtschaftsbasierte Gesellschaft

Verwandtschaftsbeziehungen sind die Basis der Gesellschaft des alten Israel. Das gilt nicht nur für die Frühzeit vor der Herausbildung von Staaten in Israel und Juda. Es bleibt auch unter den Königen so. Und nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit, den Exilierungen und dem Leben in der Diaspora und unter fremder Herrschaft im eigenen Land wird die Verwandtschaft erneut zur wesentlichen Grundlage des Zusammenhalts. Es empfiehlt sich deshalb, statt von einer Stammesgesellschaft oder tribalen Gesellschaft besser von einer verwandtschaftsbasierten Gesellschaft zu sprechen.31 Das schließt auf jeden Fall Familie und Sippe ein und schließt den

30 Vgl. Kessler/Omerzu, Stamm. 31 Kessler, Sozialgeschichte.

200

3. Kapitel: Gesellschaft

Stamm nicht aus, dessen wesentliches Merkmal ja auch sein verwandtschaftlicher Zusammenhalt ist. Es ist sicher nicht zu viel behauptet, wenn man davon ausgeht, dass das jüdische Volk seit der Zeit des alten Israel bis heute nicht überlebt hätte ohne seine Basis in den verwandtschaftlichen Beziehungen.

Bibliographie Albertz, Rainer/Schmitt, Rainer, Family and Household Religion in Ancient Israel and the Levant, Winona Lake, Indiana, 2012. Baumann, Gerlinde, Liebe und Gewalt. Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern (SBS 185), Stuttgart 2000. Bendor, S., The Social Structure of Ancient Israel. The Institution of the Family (beit ’ab) from the Settlement to the End of the Monarchy (Jerusalem Biblical Studies 7), Jerusalem 1996. Calduch-Benages, Nuria, Gute und schlechte Ehefrauen im Buch Jesus Sirach – eine harmlose Unterscheidung?: Maier, Christl/Calduch-Benages, Nuria (Hg.), Schriften und spätere Weisheitsbücher (Die Bibel und die Frauen 1.3), Stuttgart 2013, 105–121. Fechter, Friedrich, Die Familie in der Nachexilszeit. Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments (BZAW 264), Berlin/New York 1998. Fritz, Volkmar, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. (BE 2), Stuttgart u. a. 1996. Kessler, Rainer, Sozialgeschichte des alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt 22008. Ders./Omerzu, Heike, Art. »Stamm«: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel (2009) 560f. Maier, Christl/Lehmeier, Karin, Art. »Familie«: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel (2009) 131–136. Maier, Christl/Lehmeier, Karin, Art. »Verwandtschaft«: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel (2009) 614–618. Meyers, Carol, Rediscovering Eve. Ancient Israelite Women in Context, Oxford 2013.

§ 14 Königtum und Staat Wolfgang Oswald, Tübingen

1.

Vorklärungen

a)

Die Begriffe »Staat« und »Politik«

Zunächst ist zu klären, inwiefern man mit Bezug auf den Alten Orient allgemein und damit auch auf das Alte Israel von »Staat« und von »Politik« sprechen kann. Politikwissenschaftler beschränken den Staatsbegriff oft auf die Neuzeit, weil sich nur hier ein von der Gesellschaft zu unterscheidender Staatsapparat entwickelt habe. Auch die Ausübung von Politik wird dem Alten Orient oft abgesprochen, etwas Derartiges habe es im Altertum nur in Griechenland gegeben. Der Ägyptologe Jan Assmann hat demgegenüber die Anwendung der Begriffe Staat und Politik auf die altorientalischen Reiche verteidigt.

§ 14 Königtum und Staat

201

In seiner Innenansicht stellt sich der ägyptische Staat (und ich glaube, man kann das verallgemeinern und sagen: der altorientalische Staat) als ein Institut der Gerechtigkeit dar. Ma’at also »Recht, Wahrheit, Ordnung« in Ägypten, kittu und mescharu, also »Recht« und »Gerechtigkeit« in Mesopotamien, und ascha – »Gerechtigkeit« und »Wahrheit« in Altiran sind die zentralen Begriffe aller politischen Diskurse, die es auch hier gegeben hat, auch wenn sie nicht um die Frage nach der besten Verfassung, sondern eher um die Grundlagen von Herrschaft und Gemeinschaft kreisten.32

Es scheint also angemessen, auch im Bereich des Alten Orients und des Alten Israel von einem Staat zu sprechen. Eine auf archäologischen Daten basierende Definition des Staates nennt u. a. folgende Indizien: eigene Verwaltungssprache und -schrift, Monumentalarchitektur in Stein, Massenproduktion von Keramik, staatliche Funktionalbauten, zentrale Organisation, Grenzsicherung durch Forts, überregionale Vorratshaltung.33 Gemäß ihrem Selbstverständnis waren die altorientalischen Staaten ganz stark auf den König zentriert (»altorientalische Königsideologie«), doch in der Praxis war der König nur einer von mehreren politischen Akteuren. Auch im Alten Orient bzw. im Alten Israel wurden politische Entscheidungen nicht allein vom König getroffen, sondern unter Einbeziehung von relevanten Interessengruppen.34 Darüber hinaus treten immer mehr Belege dafür zu Tage, dass es auch im Alten Orient gewisse Formen von kollektiver Herrschaftsausübung gegeben hat.35 In praktischer Hinsicht sind die Unterschiede zwischen Orient und Okzident wie auch zwischen Altertum und Neuzeit geringer als in theoretischer.

b)

Die Epochen der Geschichte Israels und Judas

In der Frühphase der Pentateuchkritik war noch die Auffassung verbreitet, Mose habe den Israeliten vor der Zeit der Landnahme eine Staatsverfassung gegeben, die dann von der Monarchie abgelöst wurde. Die Pentateuchkritik allgemein und insbesondere Julius Wellhausen haben diese Sicht scheinbar schlüssig widerlegt: Das Mosaische Gesetz ist danach nicht »der Ausgangspunkt für die Geschichte des alten Israel«, sondern »für die Geschichte des Judentums, d. h. der Religionsgemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte«.36 Diese neue Auffassung von der Epochenabfolge, die nach Wellhausen allgemeine Anerkennung erlangte, lautet: Vorstaatlicher Stämmeverband → Monarchien in Israel und Juda → Babylonisches Exil → Religiöse Gemeinschaft (»Kultgemeinde«). Dieses klassisch gewordene Bild der staatlichen Entwicklung Israels ist aber im Blick auf alle Epochen zu hinterfragen.

32 33 34 35 36

Assmann, Sakralkönigtum, 358–359. Berlejung, Staat, 374. Fleming, Democracy. von Dassow, Public. Wellhausen, Prolegomena, 1.

202

3. Kapitel: Gesellschaft

1. Im Blick auf die vormonarchische Epoche steht in Frage, ob und wenn ja, welche Quellen für eine Rekonstruktion der gesellschaftlichen Verfasstheit Israels in jener Zeit zur Verfügung stehen. Die Texte des Pentateuchs/Hexateuchs kommen dafür aus zwei Gründen nicht in Frage: Erstens stammen sie aus sehr viel späteren Zeiten und enthalten keine historisch verwertbaren Informationen über die Herrschaftsstrukturen der vor-monarchischen Zeit. Zweitens – und das ist noch viel wichtiger – beschreiben sie überhaupt gar keine vorstaatliche Zeit, denn in gewisser Weise ab den Vätergeschichten der Genesis, dann aber vor allem ab dem Exodusbuch wird Israel als politisches Gemeinwesen dargestellt. Schon das Bundesbuch (Ex 20,24–23,19), dann das Deuteronomium (Dtn 12–26) und schließlich vor allem die priesterlichen Gesetze in den Büchern Levitikus und Numeri stellen für antike Verhältnisse außerordentlich differenzierte und umfangreiche Gesetzgebungen dar, die jeweils eine nahezu vollständige politische Ordnung konstituieren. Gemäß der Darstellung des Hexateuchs beginnt die Staatlichkeit Israels lange vor der Einrichtung der Monarchie, und insbesondere die mosezeitliche Staatlichkeit übertrifft die israelitische und judäische Monarchie, wie sie in den Samuel- und Königsbüchern dargestellt wird, hinsichtlich ihres Institutionalisierungsgrades bei weitem. 2. Die Monarchie erscheint im Leseablauf des Deuteronomistischen Geschichtswerks ([Ex]Dtn – 2Kön) als zweifacher Rückschritt, zum einen von einer partizipativen Form der Herrschaftsausübung zu einer hierarchischen und zum andern von einem differenzierten System von demokratisch besetzten Ämtern und Institutionen zu einer Königs-Entourage mit wenigen, überwiegend verwandtschaftlich verbundenen Gefolgsleuten. Wer diese Abfolge historisch verstehen möchte, muss einen beispiellosen kulturgeschichtlichen Rückwärtssalto beschreiben. Sachgemäßer ist es, das Selbstverständnis der Pentateuch-/Hexateuchtexte zu beachten, die eben keine Erinnerungen an vormonarchische Zeiten sein wollen, sondern Programmatik für eine nachmonarchische Staatlichkeit. Und dies gilt nicht nur für den Endtext, sondern für alle Stadien der Literargeschichte des Hexateuchs.37 3. Im Blick auf die nach-monarchische Epoche ist zu fragen, auf welche Weise die Bewohner des ehemaligen Nordreichs Israel nach 722 v. Chr. und die des ehemaligen Südreichs Juda nach 587 v. Chr. politisch institutionalisiert und organisiert waren. Insbesondere ist zu hinterfragen, ob das nachmonarchische, babylonier- und perserzeitliche Juda tatsächlich als Religionsgemeinschaft zu verstehen ist, ob also das bekannte und in der Sache oft wiederholte Urteil Julius Wellhausens, »alles Politische im Gesetz ist phantastisch«38 zutrifft und ob die Existenz Israels als Volk mit dem Untergang der Monarchie Vergangenheit war. Zielführend ist eine realistische Einschätzung der Gesetze des Pentateuchs. Sie spiegeln tatsächlich nicht einfach die gegenwärtig (oder auch traditionell) gültige

37 Oswald, Staatstheorie, 86–144.185–228. 38 Wellhausen, Geschichte, 169, Anm. 1.

§ 14 Königtum und Staat

203

Rechtspraxis, vielmehr handelt es sich durchwegs um Reformgesetzgebungen.39 Das heißt aber nicht, dass diese Gesetze utopisch oder gar phantastisch sind, sondern lediglich, dass sie in Teilen noch nicht praxiserprobt waren und daher mehrfach revidiert werden mussten. Dieser Revisionsprozess hat sich in der Literargeschichte der pentateuchischen Gesetze niedergeschlagen: Bundesbuch → Deuteronomium → Heiligkeitsgesetz und weitere priesterliche Gesetzgebung. Versteht man die Gesetzeswerke des Pentateuchs als Verfassungen und die Literargeschichte des Pentateuchs bzw. Hexateuchs als Reflex und Motor der staatlichen Entwicklung des nachmonarchischen Israel bzw. Juda, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild der Geschichte der Staatlichkeit Israels: Vormonarchische Zeit → Epoche der Monarchien → teilautonome Provinzen unter wechselnden Oberherrn. Diese Auffassung wird weiter unten entfaltet. Damit ist aber die traditionelle Epochengliederung der Geschichte Israels in eine vorstaatliche, eine staatliche und eine nachstaatliche Zeit in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt. Erstens hat es eine vorstaatliche Zeit, die über Jahrhunderte hinweg aus den Pentateuchtexten erschlossen werden könnte, nie gegeben. Das Königtum ist kein Spätling in Israel und auch keineswegs nur eine Episode gewesen, sondern die erste und auch traditionelle Form der gesellschaftlichen Verfasstheit Israels. Zweitens hat es auch eine nachstaatliche Zeit nicht gegeben, sondern allein eine nachmonarchische. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie entwickelten die Provinzen Samaria und Juda je eigene Formen von teilautonomer Staatlichkeit. Als religiöse Gemeinschaft hat sich Israel zu keinem Zeitpunkt der alttestamentlichen Zeitgeschichte verstanden.

2.

Der Beginn der Monarchie in Israel und Juda

a)

Ein Anfang der Staatlichkeit?

Unabhängig vom Quellenwert der alttestamentlichen Texte ist festzuhalten, dass die Gesellschaften der Levante seit der Bronzezeit staatliche Strukturen aufweisen, zum einen in Gestalt des sog. bronzezeitlichen Stadtstaatensystems, zum andern in Gestalt der ägyptischen Oberherrschaft in der Region während des Neuen Reiches, die ab dem Ende des 13. Jh.s v. Chr. zurückgeht und Anfang des 11. Jh.s erloschen ist. Auch die stadtstaatliche Existenz Jerusalems ist aufgrund der im ägyptischen Amarna gefundenen diplomatischen Korrespondenz seit dem 14. Jh. v. Chr. belegt. Historisch bedeutungsvoll ist der Rückgang der bronzezeitlichen Stadtstaaten und das Hervortreten einer Dorfkultur vor allem im Bergland in der Eisenzeit I (ca. 1100–1000 v. Chr.). Dieser Prozess weist auf einen Rückgang von stadtstaatlicher Herrschaftsausübung, nicht jedoch auf das völlige Fehlen einer solchen. Insbeson-

39 Hagedorn, Between, 283.

204

3. Kapitel: Gesellschaft

dere die Philister etablieren sich als neuer Faktor in der Region und bilden ab der Mitte des 12. Jh.s v. Chr. etliche Stadtstaaten in der südlichen Levante. Die mutmaßlich ältesten Texte der Samuelbücher situieren den Beginn der israelitischen Monarchie in die Kleinstaatenwelt der Levante, vor allem der Philister, die kulturell fortgeschritten erscheinen (1Sam 13,19–21; 2Sam 21,15–22; 2Sam 23). Die DavidSaul-Erzählung thematisiert jedoch einzig das Verhältnis der beiden Protagonisten zueinander, da sie nach der Legitimität der auf diese beiden zurückgehenden Dynastien fragt. Was vorher war, interessiert nicht. Erst auf der literarischen Ebene des Deuteronomistischen Geschichtswerks, und das heißt frühestens im 6. Jh. v. Chr., wird die Darstellung der Könige Saul und David in ein Epochensystem integriert, das der Epoche der Monarchie eine vormonarchische Epoche, die Richterzeit, voranstellt. Ob also mit Saul und David auch im historischen Sinne so etwas wie der Beginn von israelitischer Staatlichkeit gegeben ist, lassen die Texte nicht erkennen. Aber selbst wenn man das für wahrscheinlich hält, so ist »im Vergleich mit Ägypten oder den kanaanäischen Stadtstaaten … die entstehende [israelitische] Gesellschaft nach- oder nebenstaatlich«40. b)

Die Frühzeit

Der archäologische Befund wie auch der kritisch erhobene biblische Befund konvergieren darin, dass zu Beginn der Königszeit ein voll ausgebautes Staatswesen noch nicht vorhanden war. Saul hat nur einen Beamten, den Heerführer Abner, seinen Cousin, und offensichtlich keine Residenz. Auch die Darstellung Davids zeichnet das Bild von kleinen Anfängen, wenngleich die in 2Sam 5 berichtete Eroberung Jerusalems sowie die weiteren Eroberungen (2Sam 8) einen gewissen Machtzuwachs nahelegen. Erst die biblische Darstellung Salomos entwirft das Bild eines differenzierten und zentralisierten Gemeinwesens. Die Infrastruktur wird ausgebaut: Tempel (1Kön 6–8), Palast (1Kön 7), Städte (1Kön 9,15–19.24) und Fronarbeit (1Kön 5,27–32; 9,20–23), der Beamtenstab (1Kön 4) ist gegenüber den Beamtenlisten Davids (2Sam 8,16–18; 2Sam 20,23–26) erweitert, internationale Beziehungen zu den Nachbarstaaten, aber auch nach Phönizien, Arabien und Ägypten sind gegeben. Es besteht ein gewisser Konsens, dass das – im Positiven wie im Negativen – idealisierte Bild Salomos und seiner Herrschaft eine spätere Verklärung darstellt, die »Salomonische Renaissance« (Gerhard von Rad) ist ein literarisches Produkt ohne historischen Anhalt. Demgegenüber ist der historische Gehalt der Darstellung der Herrschaft Sauls und Davids heftig umstritten, weil das wesentlich bescheidenere Bild, das die Texte der Samuelbücher bieten, nach Auffassung mancher Forscher auf die Verarbeitung zeitgenössischer Überlieferungen deutet. Generell geht es um die Frage, ob und inwiefern es ein »Davidisch-Salomonisches Großreich« gegeben hat. Während ältere Darstellungen dies noch durchwegs annahmen, wird heute allenfalls noch von einem »davidisch-salomonischen Reich«41 gesprochen.

40 Kessler, Sozialgeschichte, 57. 41 So etwa Dietrich, Frühe Königszeit, 169.

§ 14 Königtum und Staat

205

Für die historisch-kritische Rekonstruktion der Herrschaftsverhältnisse in der frühen Königszeit wurden verschiedene Modelle vorgeschlagen: Segmentärer Staat, Häuptlingstum und Früher Staat. Segmentärer Staat Soziologisch-ethnologische Studien in afrikanischen und asiatischen Gesellschaften haben einen Typus von Gesellschaften beschrieben, in denen Sippen und Stämme ohne Zentralinstanz interagieren. Dafür wurde die Bezeichnung »segmentäre Gesellschaft« eingeführt,42 gelegentlich wird auch der eigentlich weitere Begriff »akephale Gesellschaft« verwendet. Mit diesem soziologischen Modell werden die in Ri 2–16 und 1Sam 1–8 beschriebene Richterzeit sowie der Zwölf-Stämme-Verband der Vätergeschichten korreliert. Die Staatenbildung erfolgte danach durch eine Kombination aus Klientelbildung (Davids Freischärlertruppe; 1Sam 22,2; 1Sam 23–30) und Abwehr von Fremdherrschaft (Sauls und Davids Philisterkriege; 1Sam 13f.; 29–31; 2Sam 5,17–25). Mit Davids Herrschaft »war in Israel ein segmentärer Staat entstanden. Der alten segmentären Gesellschaft war eine neue Zentralinstanz auferlegt worden.« Damit einher gingen »ein Naturalsteuersystem, zentral organisierter Militärdienst und – jedenfalls für einen Teil der Bevölkerung – regelmäßiger Frondienst. Der Text 1Sam 8,11–17 gibt eine einigermaßen zuverlässige Aufzählung der Belastungen.« Gleichwohl sei im Israel Sauls, Davids und Salomos »der antiherrschaftliche Affekt, die Orientierung an Gleichheitsnormen nicht verschwunden.«43 Antikönigliche Texte wie Ri 8,22f.; Ri 9,8–15; 1Sam 8,11–17 seien Ausdruck dieses Widerstandes. Häuptlingstum Die soziologisch-ethnologische Begriffsbildung unterscheidet akephale Stammesgesellschaften von kephalen. In den letztgenannten kommt es zur Ausprägung eines Häuptlingstums, in dem eine Sippe dominiert. Die Richterzeit wird in der alttestamentlichen Forschung häufig als akephale Gesellschaft verstanden, die keine Verstetigung von Exekutivgewalt kennt, während man die Folgezeit als kephale Stammesherrschaft versteht, in der zunächst Saul, dann David die Rolle des Häuptlings innehatte. Während man diese Phase des Häuptlingstums zunächst auf Saul und den frühen David beschränkte, hat man sie im Gefolge der Infragestellung des »Davidisch-Salomonischen Großreiches« stark ausgedehnt. Kennzeichen eines voll ausgebildeten Staates sind ein »Funktionärsnetz als personales Verwaltungs-Herrschaftsmittel, königliche Bauten und Funktionalorte … Gerichts- und Kultorganisation sowie Landesgliederung als königliche Herrschaftsmittel«. Das trifft auf die frühe Königszeit nicht zu, vielmehr könne »für das Südreich Juda erst ab Ussia

42 Crüsemann, Widerstand, 203, der auf ethnologische Arbeiten zurückgreift. 43 Crüsemann, Widerstand, alle Zitate 215–217.

206

3. Kapitel: Gesellschaft

[Mitte des 8. Jh.s], für das Nordreich Israel ab Omri [Anfang des 9. Jh.s], von einem ›Staat‹ gesprochen werden«.44 Früher Staat Kessler hat demgegenüber das Modell des »frühen Staates« in die Diskussion eingebracht.45 Die Kategorie des Häuptlingstums sei unpassend, weil sowohl die biblische Darstellung als auch der epigraphische Befund – die Erwähnung des »Hauses Davids« in der Tel-Dan-Inschrift – zeigen, dass sich Juda seit seinen Anfängen als dynastische Monarchie verstanden hat und zudem etliche der genannten Kennzeichen des Staates schon vor dem 8. Jh. gegeben sind. Er schlägt daher eine andere Epochengliederung vor: Unter Saul und dem frühen David war Israel/Juda ein »unvollkommener früher Staat«, danach ein »typischer früher Staat«. Der »im Übergang befindliche frühe Staat« ist das letzte Stadium, auf das dann der »voll entwickelte Staat« folge. Dieser Übergang erfolgte – und darin besteht auch bei unterschiedlicher soziologisch-ethnologischer Begrifflichkeit Einigkeit – im Nordreich Israel in der ersten Hälfte des 9. Jh.s, im Südreich Juda in der Mitte des 8. Jh.s.

3.

Die monarchische Staatlichkeit in Israel und Juda

Die Königreiche Israel und Juda waren staatstypologisch Monarchien mit dynastischer Thronfolge und verkörpern damit einen Typus von Staat, der im Alten Orient mit einer gewissen Variationsbreite der Normalfall war. Das besondere Merkmal dieser Staaten war ihre theoretische Konzentration auf den König, die sog. altorientalische Königsideologie, wonach dem König – ganz grob skizziert – die Aufgabe zukam, die von den Göttern gesetzte Weltordnung aufrecht zu erhalten. In Ägypten galt der Pharao geradezu als Gott, in den mesopotamischen Reichen war die mythische Einordnung des Königtums in die göttliche Weltordnung weniger ausgeprägt. Der mesopotamische König war nicht Teil, sondern »Hüter der Weltordnung« (Stefan Maul); in ihm waren Recht und Ordnung nicht inkarniert wie beim Pharao, vielmehr war jeder Herrscher aufgefordert, sich »aufs Neue mit der Schaffung und Wahrung von Recht und Gerechtigkeit als Herrschaftsauftrag zu befassen und diese im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten zu verwirklichen«.46 Recht und Gerechtigkeit werden im staatstheoretischen Paradigma des Alten Orients weder durch eine Verfassung gewährleistet noch durch Inhaber von Wahlämtern umgesetzt, sondern allein durch das Recht setzende und Recht schaffende Herrschaftshandeln des Königs und seiner ihm persönlich verantwortlichen Offiziellen. Jan Assmann hat das Organisationsprinzip dieses Staatstypus mit dem Begriff

44 Niemann, Herrschaft, beide Zitate 281–282. 45 Kessler, Staat, 157–160. 46 Cancik-Kirschbaum, König, 66.

§ 14 Königtum und Staat

207

»vertikale Solidarität« bezeichnet. Diese »bedeutet Verantwortung und Schutz von oben nach unten, Loyalität und Gehorsam von unten nach oben«47. Für die Königtümer der Levante und die mit ihnen verbundenen Staatswesen ist die Quellenlage weitaus schlechter als für die beiden großen Flusskulturen, die wenigen Zeugnisse deuten jedoch auf eine weitgehende Übereinstimmung. Auch in den Zeugnissen über die Monarchien in Israel und Juda finden sich zahlreiche Elemente der altorientalischen Königsideologie, die Unterschiede waren eher fließend. Auch in Juda galt der König als Sohn Gottes (2Sam 7,14; Ps 2,7; 45,7; 89,27–28), und Gott rüstete den König mit den Fähigkeiten zur Amtsführung aus (1Kön 3,12–14; 1Kön 5,9; Ps 72,1f.; Spr 16,10). Gott erwählt den König und die Dynastie (1Sam 9f.; 16,1–13; 2Sam 7,8–16; 12,24–25; 1Kön 11,29–39; Ps 89,20–21) und bewirkt seinen Sieg über innere wie äußere Feinde (2Sam 8,14; Ps 2,8–9; 20; 72,11; 89,22–24; 110,2–3.5–6; Spr 20,8), an seinem Wohl hängt das Wohl des ganzen Volkes (Klgl 4,20). Der König tritt für die Schwachen ein und sorgt für Recht und Ordnung im Land (2Sam 8,15; 14,4–17; Ps 72; Spr 29,14). Zugleich ist er als oberster Kultherr verantwortlich für die rechte Gottesverehrung (2Sam 6; 7,2–3; 1Kön 8; Ps 132,1–5). Die Loyalität zum König ist der eherne Grundsatz der Herrschaftsausübung (1Sam 19,4–7; 26,23; 2Sam 15,17–17,29; 19,10–44; Spr 14,35; 20,2; 22,11; 24,21), die wenigen »Ämter« werden vom König mit Personen aus seiner Umgebung besetzt (2Sam 8,16–18; 20,23–26; 1Kön 4,1–19). Im Regelfall folgt stets ein Sohn dem Vater auf den Thron; wo dies nicht der Fall ist, handelt es sich um eine »Verschwörung« (1Kön 15,27 und weitere 15 Belege in den Königsbüchern). Im Übrigen ist schon die bloße Existenz der ausführlichen und stark auf den Legitimationsaspekt konzentrierten Erzählungen der Samuelbücher über den Beginn des Königtums und der davidischen Dynastie ein beredtes Zeugnis für die allem gesellschaftlichen Leben zugrunde liegende Funktion des Königtums. Das dynastische Grundprinzip wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, dass im Königreich Israel die Dynastien mehrfach wechselten. Albrecht Alt hatte dies als Ausdruck eines »charismatischen Königtums« verstehen wollen, das die Praxis der Richterzeit fortgeführt habe: »Genau wie jene Helden der Vorzeit verdankt der König von Israel die erteilte Vollmacht ausschließlich einer spontan erfolgten Berufung und charismatischen Ausstattung durch Jahwe.«48 Die in den Samuel- und dann in den Königsbüchern berichteten Einsetzungen und Absetzungen beziehen sich jedoch (mit einer gewissen Einschränkung bei Saul) stets auf Dynastien. Sie bilden ein durchdachtes System von Dynastieorakeln, das die Delegitimation der israelitischen Königshäuser und die fortdauernde Legitimation des judäischen Königshauses zum Ziel hat. Erwählung und Verwerfung durch Propheten und andere Mantiker gehören zum Standardrepertoire altorientalischer Königsideologie und deuten nicht auf eine Sonderform von Monarchie. Schließlich zeigen die stereotypen Formeln in den Dynastieorakeln und in den dazu gehörigen Erfüllungsvermerken, dass diese Elemente von einer Hand literarisch gestaltet und somit keine Ele-

47 Assmann, Sakralkönigtum, 363. 48 Alt, Königtum, 350.

208

3. Kapitel: Gesellschaft

mente der Überlieferung sind, sondern Ausdruck der Programmatik der Samuelund Königsbücher. Beide Königreiche gerieten im Lauf ihrer Geschichte unter die Hegemonie von Großmächten, so dass der jeweilige Monarch zum Vasallen des Großkönigs wurde. Herbert Donner hat für die Herrschaft des neuassyrischen Königs Tiglat-Pileser III. (745–727) drei Stadien der Vasallität unterschieden,49 die jedoch cum grano salis für alle weiteren Herrscher gelten, die Israel bzw. Juda unterworfen haben: 1. Unterwerfung des regierenden Königs zum Vasallen; Verpflichtung zu jährlichen Tributleistungen; Pflicht zur Heeresfolge. 2. Bei Unbotmäßigkeit des Vasallen: Militärische Intervention; Absetzung des abtrünnigen Königs und Einsetzung eines anderen Abkömmlings der lokalen Elite; Deportation von illoyalen Personen; Gebietsabtretungen; verstärkte Tributpflicht. 3. Bei abermaliger Unbotmäßigkeit: Militärische Intervention; Absetzung des abtrünnigen Königs; Umwandlung in eine Provinz; Einsetzung eines Statthalters; Deportation der Oberschicht.

4.

Die nachmonarchische Staatlichkeit in Israel und Juda

Mit der Umwandlung eines Königreichs zur Provinz eines Großreichs verschwinden keineswegs alle gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere erlischt nicht die Notwendigkeit, die Bevölkerung in gewisser Weise zu organisieren. Daher behielt jede unterworfene Entität (Stadt, Volk, Stamm etc.) ihre innere Struktur bei oder aber entwickelte eine geeignete. Für den jeweiligen Oberherrn war es nur »von geringerer Bedeutung … welches die Formen des Entscheidungsprozesses auf lokaler Ebene waren«.50 Die nachmonarchischen Gemeinwesen in Israel und Juda haben unter dem Dach des Provinzstatus drei Typen von teilautonomer Staatlichkeit entwickelt: den Stämmeverband, den Bürgerstaat und den Tempelstaat. Hinzu kommt im Fall der Judäer eine prophetisch geprägte Übergangsphase. a)

Die Übergangsphase

Unter den im Jahr 597 Deportierten wie auch unter den im Jahr 587 in Juda Zurückgebliebenen entstand trotz der vorhandenen babylonischen Administration nach der Entmachtung des Königs ein innenpolitisches Machtvakuum (Klgl 4,20). Dieses wurde durch eine Dyarchie (»Doppelspitze«) gefüllt, die aus einer laikalen Führungsperson oder -gruppe und einer charismatischen Prophetengestalt bestand. Die besten Belege dafür liefern die Kapitel 40–42 des Jeremiabuches. Nach der Zerstörung Jerusalems und der Deportation von König Zidkija setzen die Babylonier den Judäer Gedalja zum Statthalter der Provinz ein (Jer 40,5). Dieser übt jedoch sein Amt in 49 Donner, Geschichte, 328. 50 Frei, Zentralgewalt, 109.

§ 14 Königtum und Staat

209

Gemeinschaft mit dem Propheten Jeremia aus (Jer 40,6). Die Einbindung des Propheten löst ein staatstheoretisches Problem, nämlich die von Gott hergeleitete Setzung gesellschaftlicher Normen und politische Wegweisung, die traditionellerweise durch den König bewerkstelligt wird (vgl. Ps 72,1–2). Nach dem Wegfall des Königs und der Priester kann dies nur durch Propheten geleistet werden, und zwar zunächst in Kooperation mit dem Statthalter und nach dessen Ermordung (Jer 41,1–3) von Jeremia allein (Jer 42,1–6).51 Die späteren Texte Jer 26 und Jer 36 deuten darauf hin, dass die bürgerliche Elite Judas ebenfalls eine Führungsrolle übernommen hat: Jer 26,10–16 (»Oberste«), Jer 26,17–19 (»Männer von den Ältesten des Landes«) und Jer 36 (»Oberste«). Die Übertragung eines Teils der königlichen Leitungsfunktionen auf einen Propheten war auch bei den nach Babylon Deportierten das einzig mögliche Verfahren, zu einer legitimen Herrschaftsausübung zu kommen. Zuerst ist hier der Prophet Ezechiel zu nennen. Er gilt als Autorität, vor der sich die Ältesten versammeln (Ez 8,1; 14,1; 20,1); der Gottesspruch des Propheten bestimmt das Leitungshandeln der Ältesten. Gewisse Aspekte des königlichen Amtes sind auch dem prophetischen Gottesknecht des Deuterojesaja zueigen. Auffällig ist insbesondere die Übertragung von königsideologischen Motiven auf die Propheten der Babylonierzeit, so etwa die vorgeburtliche Erwählung (Jer 1,5; Jes 49,5), der Auftrag über die Völker (Jer 1,10; Jes 42,1.4.6; Jes 49,6, vgl. Jes 45,1 über Kyros) oder das Ergreifen bei der Hand (Jes 42,6, vgl. wiederum Jes 45,1 über Kyros). b)

Der Bürgerstaat

Die Staatsform des Bürgerstaates (Polis) kann man für unsere Zwecke am besten in Abgrenzung zur traditionellen altorientalischen Monarchie definieren: Auszugehen ist dabei von den beiden grundsätzlich verschiedenen Formen der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Verband, wie sie die alte Welt des mediterranen und des vorderasiatischen Kulturkreises gekannt hat. In den Monarchien Ägyptens, Mesopotamiens oder Kleinasiens war die staatliche Macht in der Institution des Monarchen konzentriert. Alle, die in seiner Reichweite lebten, waren im Prinzip seine Untertanen und gehörten zu dem durch die Monarchie verkörperten Staat. Demgegenüber ging in der erstmals bei den Griechen erscheinenden Form von Staatlichkeit alles staatliche Handeln allein von der Gesamtheit der Bürger aus.52

Die Polis entwickelte sich in der sog. archaischen Zeit (etwa 750–500 v. Chr.) im griechisch inkulturierten Mittelmeerraum. Im Pentateuch finden sich Texte mit der Funktion, ein bürgerstaatliches Gemeinwesen zu konstituieren, vor allem in den vorpriesterlichen Texten des Exodusbuches, im Deuteronomium sowie in Num 11. Basis eines solchen Gemeinwesens ist das öffentlich verabschiedete Gesetz, zum einen das sog. Bundesbuch Ex 20,24–23,19, das in Ex 24,3.4–8 durch Volksbeschluss in Kraft gesetzt wird, und zum andern das Gesetz des Deuteronomiums Dtn 12–26; 28, das in Dtn 26,16–19 durch Volksbeschluss in Kraft gesetzt wird. Bürger des Gemeinwesens sind

51 Vgl. Oswald, Jeremiah. 52 Stahl, Gesellschaft, 51.

210

3. Kapitel: Gesellschaft

alle, die dem Gesetz zustimmen. Die Novellierung des geltenden Rechts und die Wegweisung in neuen Problemlagen geschieht in Weiterentwicklung und Entpersonalisierung des zunächst von Jeremia ausgeübten Amtes (s. o. 4.a) durch prophetische Gottesbefragung (Ex 18,19–20; Dtn 18,15). Charakteristisch ist weiter die Gewaltenteilung in einem System von Ämtern, wobei das vorpriesterliche Exodusbuch zunächst nur zwei kennt: Laienrichter für einfache Fälle (Ex 18,21–23.24–26) und den prophetischen Weisungsgeber und Oberrichter für schwere Fälle (Ex 18,19–20). Im Deuteronomium wird diese zweistufige Ordnung zu einem komplexen System ausgebaut: Richter für einfache Fälle und Amtsschreiber (Dtn 1,9–15), zwei Oberrichter in der Hauptstadt für komplizierte Fälle (Dtn 17,8–13), Priester mit verbrieften Rechten am Heiligtum der Hauptstadt (Dtn 18,1–8), ein Prophet als Weisungsgeber (Dtn 18,9–22) sowie Heerführer aus dem Volk (Dtn 20,1–20). Hinzu kommt optional ein König, der allerdings anders als die traditionellen Könige unter dem gemeinsamen Gesetz steht (Dtn 17,14–20) und lediglich primus inter pares ist. Eingesetzt werden Richter und Amtsschreiber durch das Volk (Dtn 16,18–20), wobei jeder Vollbürger bei entsprechender Eignung die Ämter übernehmen kann. Die Heerführer werden durch die vom Volk bestimmten Amtsschreiber ernannt (Dtn 20,9). Eine wichtige Funktion haben in diesem politischen System auch die »Ältesten Israels«, die am Gottesberg in ihre Funktion eingesetzt werden (Ex 3,16–20) und vor allem im Deuteronomium als Leitungsgremium auftreten (vor allem Dtn 5,23; 31,9–13).53 Historisch wurde diese Staatsform in Benjamin und Juda in der früh- und mittelpersischen Zeit programmatisch entwickelt, da hier aufgrund der dezimierten Bevölkerung und aufgrund des Kulturkontaktes zum Mittelmeerraum die Voraussetzungen für einen solchen Bürgerstaat gegeben waren. Diese Texte tragen durchweg nicht das Signum akademischer Gelehrsamkeit, sondern das der politischen Praxis. Daraus und aus der Tatsache, dass sie mehrfach praxisorientiert revidiert wurden, kann man schließen, dass sie tatsächlich praktiziert wurden. Die Zentralorte der Erzählungen deuten zum einen auf Benjamin, angezeigt durch den Heiligtumsort Gilgal (Jos 4; 10,43; 14,6), und zum andern auf Jerusalem, angezeigt durch den Gottesberg in der Wüste bzw. in der Einöde (hebr. horeb), der für den verwüsteten Zionsberg steht.54 Die Nordstämme Israels spielen keine Rolle, sie werden zu Fremdvölkern umdefiniert. Die frühen Texte des Esra-Nehemiabuches (vor allem die sog. Nehemia-Denkschrift, die Aramäische Tempelbau-Chronik sowie Esr 9–10; Neh 8–10) sind Dokumente des Ringens um die Umsetzung der genannten pentateuchischen Verfassungsentwürfe.55 c)

Der Stämmeverband

Dieser Typ von substaatlicher Organisation findet sich in der Jakobserzählung, der Vätergeschichte und in der Josefserzählung. Sie spiegeln vor allem die Situation 53 Zum im weitesten Sinne demokratischen Charakter dieser Verfassungen vgl. Crüsemann, Theokratie, 1993; Hagedorn, Between, 278–284; Oswald, Gründungsurkunde, 2012. 54 Utzschneider/Oswald, Exodus 1–15, 118–119. 55 Karrer, Ringen; Oswald, Staatstheorie, 229–252.

§ 14 Königtum und Staat

211

auf dem Gebiet des ehemaligen Nordreichs wider. Nach diesem Modell konstituiert sich Israel nicht als Versammlung von Vollbürgern, sondern als Verband von Stämmen. Mitglied wird man nicht durch Anerkennung einer Verfassung, sondern durch Geburt in einer Sippe der beteiligten Stämme. Diese sind grundsätzlich die zwölf Stämme der Jakobserzählung (Gen 35,22b–26a), strittig ist lediglich, ob Josef als ältestem Sohn der Lieblingsfrau Rahel oder Juda (so im Jakobssegen Gen 49) der Primat zufällt. Diesem Modell eignet somit eine gesamtisraelitische Perspektive. Die Bevölkerung des ehemaligen Nordreichs Israel stand schon rund 150 Jahre vor den Judäern, nach dem Ende der Monarchie im Jahr 722, vor der Aufgabe, das Gemeinwesen unter den Bedingungen des Provinzstatus zu reformieren. Die Jakobserzählung ist Ausdruck dieses Reformwillens und ist traditionell (Stämmeorientierung) und modern (königslose Föderation) zugleich. In ihr spiegelt sich wohl die historische Situation der Provinz Samaria bis in die späte Perserzeit wider, die auch in der sehr viel jüngeren Josefserzählung vorausgesetzt ist. Die Vätergeschichte ist dagegen als Versuch von Judäern zu beschreiben, das Modell der Jakobserzählung aus der Perspektive des ehemaligen Südreichs zu reformulieren. Ob dies jemals über den Programmstatus hinausgekommen ist, bleibt fraglich. d)

Der Tempelstaat

Der Jerusalemer Tempel lag in babylonischer Zeit mutmaßlich in Trümmern und wurde nicht oder nur in geringem Ausmaß für kultische Zwecke benutzt. In der frühpersischen Aufbauphase war der Tempel eine unbedeutende Institution, die nicht in der Lage war, sich finanziell zu tragen. Die Heiligtumsgesetze des Deuteronomiums, insbesondere Dtn 12, sollen den wirtschaftlichen Bestand sichern, was aber zunächst nicht gelang (Mal 1,6–2,9; Mal 3,6–12; Neh 13,10–13). Die Neugründung des ehemaligen Königstempels als Volksheiligtum war schwierig und zog sich mehrere Jahrzehnte hin. Die priesterliche Komposition des Pentateuchs zeigt, dass dieses Programm letztlich erfolgreich war. Die Lösung bestand darin, das Zwölf-Stämme-System der Erzelternerzählung der Genesis zu übernehmen und jeden der zwölf Stämme zur Versorgung des Tempels heranzuziehen, was in einer Art Amphiktyonie resultierte (Num 7). Zugleich wurde das Prinzip der schriftlichen Verfassung verworfen und durch die Praxis der kontinuierlichen Rechtsentwicklung durch Offenbarung am Kultzelt ersetzt (Lev 24,10–16; Num 15,32–36). Das Amt des Oberrichters wird auf die aaronidischen Priester übertragen (Lev 10,11, vgl. auch Ez 44,23–24 und Esr 7,25–26). Israel als Ganzes wie auch seine interne Strukturierung wird auf genealogischer Basis festgelegt (vgl. die Toledot der Genesis sowie Ex 6,14–25). Die Chronik baut das Prinzip weiter aus (1Chr 1–9), zu nennen sind hier auch die Listen von Volksangehörigen (Esr 2; Neh 7). Der Tempel kontrolliert zudem den Landbesitz (Lev 25,23; Jos 13–19*) und verfügt auch über Immobilien (Lev 27,14–15; Lev 27,16–25). Die späten Texte des Esra-Nehemia-Buches und die Chronikbücher sind ebenfalls Zeugnisse dieser Verlagerung des politischen und wirtschaftlichen Zentrums zum

212

3. Kapitel: Gesellschaft

Jerusalemer Tempel. Gemäß dem Artaxerxes-Edikt Esr 7,12–26, einem Text, der auf einen der Perserkönige dieses Namens zurückgeführt wird, aber aus sehr viel späterer Zeit stammt,56 hat der Tempel exekutive und legislative Gewalt (Esr 7,25–26) und genießt zudem Steuer- und Abgabenfreiheit (Esr 7,24). Inwieweit und, wenn ja, wann die letzte Anordnung historische Realität war, ist unklar, sie ist aber auf jeden Fall Ausdruck der Dominanz des Tempels ab dem 4. Jh. Ein Edikt des seleukidischen Königs Antiochos III. (223–187 v. Chr.), das bei Josephus überliefert ist (Antiquitates 12.3.3–4, §§ 138–146), hat ähnlichen Inhalt. Auf jeden Fall ist ab dem 4. Jh. die politisch-rechtliche Stellung des Tempels entscheidend für die des gesamten Gemeinwesens. Joel Weinberg hat diese Form des Gemeinwesens als »Bürger-Tempel-Gemeinde« beschrieben.57 Diese These ist zutreffend, wenn man als terminus a quo die spätpersische Zeit annimmt und wenn man unter »Gemeinde« nicht eine religiöse Gruppe versteht. Sachlich handelt es sich lediglich um eine Variante der durchgängig nachweisbaren Doppelstruktur mit der babylonischen bzw. persischen Provinzverwaltung auf der einen und der regionalen, teilautonomen Selbstverwaltung auf der anderen Seite. War Letztere in der babylonischen und frühpersischen Zeit ein von laikalen Eliten (Älteste bzw. Aristokraten) getragenes Gemeinwesen (»Bürgerstaat«, s. o. 4.b), so wandelte sich dies ab dem späten 5. Jh. zunehmend zu einem tempelzentrierten Priesterstaat. Das Gremium des Ältestenrates, dessen Gründung im nachpriesterlichen Text Num 11,10–17.24–25 legitimiert wird, bestand weiter, allerdings wohl dem Hohenpriester nachgeordnet. Die politischen Kompetenzen des Hohenpriesters nahmen im Verlauf des 4. Jahrhunderts immer mehr zu, ab der Übergangszeit zur griechischen Herrschaft hatte der Hohepriester sogar das Statthalteramt inne.58

Bibliographie Alt, Albrecht, Das Königtum in den Reichen Israel und Juda: VT 1 (1951), 2–22, wieder abgedruckt: ders., Zur Geschichte des Volkes Israel. Eine Auswahl aus den »Kleinen Schriften«, München 21979, 348–366. Assmann, Jan, Sakralkönigtum und Gemeinschaftskunst. Der Alte Orient und das Politische: Junge, Kay (Hg.), Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, Bielefeld 2008, 357–371. Berlejung, Angelika, Art. »Staat«: dies./Frevel, Christian (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 32012, 374–377. Blenkinsopp, Joseph, Temple and Society in Achaemenid Judah: Davies, Philip (Hg.), Second Temple Studies. 1. Persian Period (JSOT.SS 117), Sheffield 1991, 22–53. Blum, Erhard, Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft: KuI 10 (1995), 24–42, wieder abgedruckt: Ders., Grundfragen der historischen Exegese. Methodologische, philologische und hermeneutische Beiträge

56 Vgl. Grätz, Edikt, 63–194. 57 Weinberg, Citizen-Temple Community; Blenkinsopp, Temple. 58 Oswald, Hohepriester.

§ 14 Königtum und Staat

213

zum Alten Testament, hg. von Wolfgang Oswald und Kristin Weingart (FAT 95), Tübingen 2015, 195–214. Cancik-Kirschbaum, Eva, »König der Gerechtigkeit« – ein altorientalisches Paradigma zu Recht und Herrschaft: Palmer, Gesine u. a. (Hg.), Torah – Nomos – Ius. Abendländischer Antinomismus und der Traum vom herrschaftsfreien Raum, Berlin 1999, 52–68. Crüsemann, Frank, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat (WMANT 49), NeukirchenVluyn 1978. Crüsemann, Frank, »Theokratie« als »Demokratie«. Zur politischen Konzeption des Deuteronomiums: Raaflaub, Kurt (Hg.), Anfänge politischen Denkens. Die nahöstlichen Kulturen und die Griechen (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 24), München 1993, 199–214. Dietrich, Walter, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr. (BE 3), Stuttgart 1997. Donner, Herbert, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil I: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit (GAT 4/1), Göttingen 32000 (1984), Teil II: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen (GAT 4/2), Göttingen 32001 (1986). Fleming, Daniel, Democracy’s Ancient Ancestors. Mari and Early Collective Governance, Cambridge 2000. Frei, Peter, Zentralgewalt und Lokalautonomie im Achämendienreich: Frei, Peter/Koch, Klaus, Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich (OBO 55), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2 1996 (1984), 7–131. Grätz, Sebastian, Das Edikt des Artaxerxes. Eine Untersuchung zum religionspolitischen und historischen Umfeld von Esra 7,12–26 (BZAW 337), Berlin 2004. Hagedorn, Anselm, Between Moses and Plato. Individual and Society in Deuteronomy and Ancient Greek Law (FRLANT 204), Göttingen 2004. Karrer, Christiane, Ringen um die Verfassung Judas. Eine Studie zu den theologisch-politischen Vorstellungen im Esra-Nehemia-Buch (BZAW 308), Berlin 2001. Kessler, Rainer, Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda. Vom 8. Jahrhundert bis zum Exil (VT.S 47), Leiden 1992. Ders., Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt 22008. Levinson, Bernard, Deuteronomy’s Conception of Law as an »Ideal Type«. A Missing Chapter in the History of Constitutional Law: Maarav 12 (2005), 83–119, wieder abgedruckt: ders., »The Right Chorale«. Studies in Biblical Law and Interpretation (FAT 54), Tübingen 2008 sowie Winona Lake 2011, 52–86. Maul, Stefan, Der assyrische König – Hüter der Weltordnung: Assmann, Jan u. a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 65–77. Niemann, Hermann Michael, Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel (FAT 6), Tübingen 1993. Oswald, Wolfgang, Staatstheorie im Alten Israel. Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments, Stuttgart 2009. Ders., Jeremiah and Moses. A Comparison of their Public Offices in Exod. 18:13–27 and Jer. 42:1–6: Augustin, Matthias/Niemann, Hermann Michael (Hg.), »My Spirit at Rest in the North Country« (Zechariah 6.8), Collected Communications to the XXth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Helsinki 2010 (BEATAJ 57), Frankfurt/Main 2011, 265–272. Ders., Die Exodus-Gottesberg-Erzählung als Gründungsurkunde der judäischen Bürgergemeinde: Adam, Klaus-Peter u. a. (Hg.), Law and Narrative in the Bible and in Neighbouring Ancient Cultures (FAT 2.54), Tübingen 2012, 35–51. Ders., Art. »Staat (AT)«: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2013. Ders., Der Hohepriester als Ethnarch. Zur politischen Organisation Judäas im 4. Jahrhundert v. Chr.: ZABR 21 (2015), 309–320.

214

3. Kapitel: Gesellschaft

Ders., Die politischen Konzeptionen des Deuteronomiums als Teil des politischen Denkens der antiken Mittelmeerwelt: Horst, Claudia (Hg.): Der Alte Orient und die Entstehung der Athenischen Demokratie (Classica et Orientalia 21), Wiesbaden 2020, 55–68. Stahl, Michael, Gesellschaft und Staat bei den Griechen: Klassische Zeit (UTB 2431), Paderborn 2003. Utzschneider, Helmut/Oswald, Wolfgang, Exodus 1–15 (IEKAT), Stuttgart 2013. von Dassow, Eva, The Public and the State in the Ancient Near East: Wilhelm, Gernot (Hg.), Organization, Representation, and Symbols of Power in the Ancient Near East. Proceedings of the 54th Rencontre Assyriologique Internationale at Wuerzburg, 20–25 July 2008, Winona Lake 2012, 171–190. Weinberg, Joel, The Citizen-Temple Community (JSOT.SS 151), Sheffield 1992. Wellhausen, Julius, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 41895. Wellhausen, Julius, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 102004.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land Christa Schäfer-Lichtenberger, Bethel/Wuppertal

Vorbemerkung Wirtschaft umfasst alle Einrichtungen und Handlungen, die unter Nutzung vorhandener Ressourcen Güter bereitstellen, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Die Wirtschaftsformen werden von den Zielen der Akteure bestimmt. Strebt die Wirtschaftsgemeinschaft im Wesentlichen die eigene Versorgung an, dann spricht man von Subsistenzwirtschaft bzw. Bedarfswirtschaft. Eine Spezialisierung des Wirtschaftshandelns führt zum Warenaustausch zwischen verschiedenen Produzentengruppen. Diese Erwerbswirtschaft mündet in die Marktwirtschaft, sobald Waren über längere Distanzen und Zwischenhändler gehandelt werden. Eine Entsprechung für den Begriff »Wirtschaft« findet sich in der Hebräischen Bibel nicht. Der abstrakten Vorstellung »Wirtschaft« am nächsten kommt das Wort melā’kāh, das u. a. »Geschäft, Werk, Arbeit« bezeichnen kann. Die Hebräische Bibel kennt drei verschiedene Siedlungsformen: Stadt (‘îr/qirjāh), Dorf (kopær 1Sam 6,18) und Gehöft (ḥāṣēr Lev 25,31). Viele der in der Hebräischen Bibel als ›Stadt‹ bezeichneten Siedlungen sind keine Städte im neuzeitlichen Sinne.59 Gemeinsames Merkmal der Städte und Dörfer ist die Bildung einer topographisch geschlossenen Siedlung. Von den Dörfern unterscheiden sich die altisraelitischen »Städte« durch eine differenziertere Bausubstanz, öffentliche Gebäude, eine arbeitsteilige Gesellschaft, die Ausbildung einer Führungsschicht sowie die Orientierung ihres Wirtschaftshandelns am Erwerb nicht vor Ort produzierter, aber zum Lebensunterhalt notwendiger Güter. Unter ökonomischem Aspekt kommt in der Hebräischen Bibel die Stadt als Ort von Monumentalbauten (Hos 8,14), aber auch als 59 Vgl. de Geus, Towns, 171–172.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

215

Konsumentin in den Blick (Am 4,1). Das Land Israel spielt in der Überlieferung eine zentrale theologische Rolle in der Beziehung zwischen Jhwh und Israel. Jhwh gilt als Eigentümer des Landes, die spätere theologische Reflexion leitet aus dieser Vorstellung dann die Unveräußerlichkeit auch des privaten Ackerlandes ab (Lev 25,23f.). Als eigene soziologische oder ökonomische Größe wird das Land nicht thematisiert. Land im sozioökonomischen Sinne umschreibt nicht-städtische Siedlungsformen. Land und Stadt sind ungleiche Partner auf dem Feld der Wirtschaft. Der Verlauf der Wirtschaftsgeschichte beruht wesentlich auf Voraussetzungen, die nicht dem Einfluss der Akteure unterliegen; zu diesen zählen die geographische Lage, die geologischen Konstanten, insbesondere die geomorphologische Beschaffenheit und das Klima. Die geographische Lage wirkt sich im weiteren Sinne auf die politische Entwicklung aus, da sie eine Entstehung unabhängiger politischer Gebilde fördern oder behindern kann. Die Geologie bedingt die Qualität der Böden sowie deren Fähigkeit, Wasser aufzunehmen und zu speichern. Das Klima bestimmt, ob günstige geomorphologische Eigenschaften überhaupt wirtschaftlich zum Tragen kommen können. Die Ökologie nimmt eine Zwischenposition ein, da sie teilweise durch Eingriffe veränderbar ist. Zu den Variablen der Wirtschaftsgeschichte gehören die Technologie, die soziopolitische Organisation sowie die kulturellen Orientierungen.

1.

Die Konstanten der israelitischen Wirtschaftsgeschichte

a)

Geographie und Geomorphologie

Israel ist der südwestlichste Teil des sogenannten fruchtbaren Halbmondes, der die Landbrücke zwischen den Kontinenten Afrika und Asien bildet. Die Nord-Süd-Ausdehnung von Dan bis Beerscheba beträgt ca. 250 km und bis Elat ca. 400 km, die West-OstAusdehnung von der Mittelmeerküste bis zum Jordantal ca. 60 km und bis zur ostjordanischen Hochebene ca. 100 km. Angesichts der geringen Fläche ist Israels geologische wie geomorphologische Vielgestaltigkeit bemerkenswert. Es lassen sich vier Hauptzonen unterscheiden: Küstenebene, westjordanisches Bergland, Jordangraben, ostjordanisches Bergland.60 Die starke regionale wie subregionale Fragmentierung der Zonen schränkt ihre landwirtschaftliche Nutzung sowie den interregionalen Verkehr erheblich ein.61 Parallel zur Küstenlinie, aber weiter landeinwärts, verläuft die wichtigste Nord-Süd-Route zwischen Ägypten und Syrien, die Via Maris. Nahe am ostjordanischen Steppenrand läuft in Nord-Süd-Richtung die Königsstraße. b)

Klima

Die geographische Lage des Landes zwischen den trocken-heißen Wüsten Nordafrikas und Arabiens sowie der feucht-warmen Mittelmeerregion bestimmt die ver-

60 Dazu Näheres im Beitrag von Ed Noort in diesem Band (1.2). 61 Vgl. Aharoni, Land.

216

3. Kapitel: Gesellschaft

schiedenen Klimazonen des Landes grundlegend. Das Wetter zeichnet sich durch heiße trockene Sommer (April – September) und Niederschläge zu Beginn und zum Ende des Winters (Oktober – März) aus. Die Ausprägung der Jahreszeiten wird von drei Faktoren wesentlich mitbestimmt: der Entfernung zum Mittelmeer, der Höhe der jeweiligen Region und der geographischen Breite. Im Bereich der Küste und der angrenzenden Jesreelebene herrscht subtropisches Mittelmeerklima. Die Westseite des westjordanischen Berglandes erhält mit abnehmender Tendenz von Norden nach Süden zwischen 900 und 500 mm Niederschlag. Anfang und Ende der Regenzeiten variieren ebenso wie die jährliche Regenmenge. Jedes dritte oder vierte Jahr kommt der Regen entweder unzeitig oder fällt zu gering aus, auch spielt die subregionale geomorphologische Fragmentierung eine Rolle (Am 4,7). Die kurze Dauer der jeweiligen Regenperioden, die hohe Verdunstung, die Hangneigungen, spärliche Vegetation und Bodendurchlässigkeit führen zu erheblichen Wasserverlusten. Die Flüsse führen, abgesehen von Na’aman und Kischon, nicht ganzjährig Wasser, aber westlich der Wasserscheide tritt das Grundwasser in etwa 200 Quellen an die Oberfläche.62 Die Ostabhänge des westjordanischen Berglandes jenseits der Wasserscheide erhalten erheblich geringere Niederschläge. In der Negev-Region nimmt die Niederschlagsmenge von Norden nach Süden von 300 mm auf 50 mm jährlich ab. Das Klima ist semi-arid. Die Niederschläge erlauben, von einigen Wadis abgesehen, keine kontinuierliche Landwirtschaft. Die östlich angrenzende Araba wird vom Wüstenklima beherrscht und ist nahezu regenlos. Das Klima im Jordangraben ist tropisch, allerdings liegt die Westseite im Regenschatten des westjordanischen Gebirges, während die Ostseite den Steigungsregen der hoch aufragenden östlichen Bergkette erhält. Von der Jarmuk-Mündung in den Jordan bis zum Toten Meer nimmt die Niederschlagsmenge von 400 mm auf unter 100 mm ab. Das ostjordanische Bergland und die Hochebenen liegen im Bereich des kontinentalen Klimas, für das trockene heiße Sommer und kalte, regnerische Winter (400–200 mm) typisch sind. Wüstenwinde und Sandstürme sind auf den Hochebenen typisch für die Wetterlagen zu Anfang und Ende des Sommers. Die Niederschläge auf der Westseite des Berglandes sinken von Norden nach Süden von 500 mm bis auf unter 100 mm im Bereich des Toten Meeres. c)

Ökologie

Zu den bedingt durch menschliche Eingriffe in die Natur veränderbaren Faktoren gehören die Bodenqualität, die Vegetation, die Wildtiere sowie die Verfügbarkeit von Wasser. Die für die Landwirtschaft geeigneten Böden des Berglandes sowie jene der Hochebenen waren zu Beginn des 12. Jh.s v. Chr. überwiegend bewaldet. Die niedrigeren Hänge, das Hügelland und Teile der Hochebenen waren teils mit undurchdringlicher Macchia (2Sam 18,8) bedeckt und wiesen in den regenarmen Gebieten Steppenvegetation auf. Der Bewuchs der ariden Gebiete des Negev, der Wüs-

62 Vgl. Borowski, Agriculture, 96.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

217

te Judas und der Araba war spärlich und in der Regel auf die Wadis und Oasen beschränkt. Eine tropische Vegetation im Bereich des Toten Meeres gab es dort, wo Flüsse und Quellen Oasen mit Süßwasser versorgten. Zu den einheimischen Nutzpflanzen gehörten Fruchtbäume, Sträucher und wildwachsende Kräuter.63 Die Tierwelt bot ein reiches Reservoir an Jagdwild, doch war der Bestand an Reptilien und Raubtieren in biblischer Zeit sehr umfassend.64 Die Süßwasserseen (Hule, Gennesaret) und die ganzjährig wasserführenden Flüsse (Na’aman, Kischon, Jarmuk, Jabbok, Jordan) waren fischreich. Das Land war arm an Bodenschätzen. Die Kupfervorkommen von Timna im Südwesten und von Punon/Fenan im Südosten der Araba gehörten zu Edom.

2.

Variable Faktoren der Wirtschaftsgeschichte

Das Zusammenspiel von variablen Faktoren mit den Gegebenheiten bestimmt die Siedlungsstruktur, die Verkehrswege und die Wirtschaftsformen. Der Wirtschaftsvollzug findet in lokalen Bezügen unterschiedlicher Reichweite statt. Der soziopolitische Raum der Wirtschaftsorganisation reicht von der Siedlung über die Region bis zum Staat und internationalen Zielen. Die überregionale politische Organisation, insbesondere das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, beeinflussen wesentlich die Orientierung des Wirtschaftsverhaltens. Soziale wie politische Organisation wandeln sich – auch unter dem Einfluss der technischen Entwicklung – im Verlauf der Geschichte. Die komplexe Interaktion der konstanten und der variablen Faktoren des Wirtschaftsgeschehens im west- wie ostjordanischen Siedlungsgebiet Israels kann hier nur ansatzweise unter Berücksichtigung der regionalen Unterschiede und der historischen Entwicklung dargestellt werden.

3a.

Das Bergland in der Eisen-I-Zeit

Im Kernbereich des späteren Staates Israel in Galiläa und auf dem ephraimitischen Gebirge kommt es in der Eisen-I-Zeit zur Neugründung zahlreicher kleiner Siedlungen (Finkelstein, Archaeology, 34–117). Die Besiedlung setzt im Norden des Berglandes generell früher ein als im Süden auf dem jüdäischen Gebirge (Ofer, Hill, 102–105). Diese Siedlungsbewegung greift auf das ostjordanische Bergland von Westen her über. Zwischen Jarmuk und Jabbok, in der später Gilead genannten Region, entwickelt sich gleichfalls eine Dorfkultur (Mittmann, Territorialgeschichte), die allerdings in mehr oder minder ungebrochener Kontinuität zur spätbronzezeitlichen Kultur zu stehen scheint (Ottosson, Jordan). Als Beispiel soll hier die Besiedlung des Gebirges Ephraim dienen (Finkelstein Archaeology, 119–204). Die Neusiedlungen finden sich vorzugsweise außerhalb des politischen wie militärischen Einflussbereiches der spätbronzezeitlichen Städte, liegen aber im nördlichen Teil 63 Vgl. Zohary, Pflanzen. 64 Vgl. Janowski, Gefährten.

218

3. Kapitel: Gesellschaft

des Gebirges im Bereich der großen Zwischengebirgstäler, das heißt mit Zugang zu den regionalen Verkehrswegen. Die meisten dieser Siedlungen sind sehr klein (½–1 ha). Die früheste Besiedlung lässt sich im Bereich der Steppenzone der Ostabhänge nachweisen, dort wo eine Kombination von Vieh- und Feldwirtschaft aufgrund fehlender Bewaldung möglich war. In einigen Gegenden bilden die früheisenzeitlichen Siedlungen regelrechte Cluster, so um Schilo, Bet-El und Afek herum. Die Siedlungen sind in der Regel unbefestigt, und etliche liegen in geraumer Entfernung zur nächsten Quelle (Finkelstein, Archaeology, 194f). Die Wasserversorgung der Siedlungen wird durch Zisternen gewährleistet (Hopkins, Highlands, 151f). Die Häuser können kreisförmig angeordnet und die Siedlung kann teilweise umwallt sein (Bloch-Smith, Landscape, 104). Die Bauweise und das erkennbare Wissen über die Statik deuten an, dass die »Bauherren« über entsprechende Erfahrungen im Hausbau verfügten. Der Arbeitsaufwand für den Hausbau übersteigt das Arbeitspotential einer Kernfamilie (vgl. Clark, Sweat). Auch müssen die Siedler über Nahrungsmittelreserven verfügt haben, deren Bereitstellung ebenfalls einen gewissen Arbeitsaufwand erforderte. Diese Voraussetzungen – Arbeitskräfte, Organisation, Wissen, Rücklagen – bieten am ehesten Gruppen, die über Erfahrungen im arbeitsteiligen Wirtschaften verfügen, z. B. solche, die in Ackerbau und Viehzucht erfahren sind. Die Grundrisse der Häuser folgen in ländlichen Siedlungen häufig dem Typus des zweistöckigen Vierraumhauses,65 während in den urbanen Siedlungen auch Dreiraumhäuser vorkommen. Im Hof befanden sich Einrichtungen wie Öfen und Kochgruben. Das niedrige untere Stockwerk diente wahrscheinlich der Unterbringung der Tiere, der Aufbewahrung der Vorräte und der Ausübung des Haushaltshandwerks, während die oberen Räume Wohn-und Schlafräume waren. Die festen Installationen lassen auf eine primär auf Subsistenz ausgerichtete Landwirtschaft in Kombination mit Kleinviehhaltung schließen. Es wurden überwiegend Schafe und Ziegen gehalten, daneben Rinder als Zugtiere (Sasson, Animal Husbandry, 6–61). Als Last- und Reittiere wurden Esel genutzt (Ri 5,10; 1Sam 9,3; 25,18). Die Haltung von Schweinen war nicht üblich (Sapir-Hen, Pig Husbandry). Die Anlage von Terrassen, um der Bodenerosion entgegenzuwirken und zusätzliches Ackerland zu gewinnen, hat wahrscheinlich bereits in der Eisen-I-Zeit eingesetzt. Die Terrassierung geeigneter Hänge ist arbeitsintensiv und Indiz für eine in den Dörfern funktionierende soziale Organisation (Hopkins, Highlands, 173–186). Der terrassierte Bereich wurde für Gemüse und die Kultivierung von Fruchtbäumen genutzt, u. a. Olive, Feige, Granatapfel, Mandel (Rosen, Subsistence, 342). Außer Weizen und Gerste (Dtn 8,8) wurden angebaut u. a. Kichererbsen (Jes 30,24), Bohnen und Linsen (Ez 4,9) und Flachs (Hos 2,7).66 Die Anlage von abgedichteten Vorratsgruben im Bereich des Hauses (Currid, Pits) und die Aufstellung sehr großer Tonkrüge (sog. Pithoi)67 weist auf die Vorratshaltung von Trockennahrungsmitteln hin.

65 Vgl. u. a. Faust, Four Room; Ji, Note. 66 Im Geserkalender wird der Flachsschnitt erwähnt, vgl. Renz/Röllig, Inschriften I.35. 67 Nach Raban (Pithoi, 494f.513f.) beträgt die Höhe ca 1,02–1,18 m, der Durchmesser 55–60 cm, das Fassungsvermögen 110–120 l.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

219

Die Pithoi dürften auch als Behälter für Wasser, Öl oder Wein genutzt worden sein. Die häufige Erwähnung einer Kelter in der atl. Überlieferung (u. a. Ex 22,28; Ri 6,11; Jes 5,2; Hos 9,2) deutet auf Weinanbau und Olivenkulturen hin. Tennen, Keltern und Ölpressen haben auch archäologische Spuren hinterlassen (Frankel, Wine, 56–58.62–66). Die materielle Kultur der Haushalte ist dem archäologischen Befund zufolge einfach. Als Steinwerkzeuge finden sich Mahl- und Reibsteine (Dtn 24,6), Mörser (Num 11,8) sowie Sichelschneiden aus Feuersteinsplittern. Die Keramik besteht überwiegend aus Haushaltskeramik. Die Formgebung der Pithoi mit Kragenrandhals, die weitgehend übereinstimmenden Maße, das Volumen und die Technologie der Herstellung deuten an, dass sie Produkte professioneller Töpfer sind. Das Leergewicht der Pithoi von ca. 32kg (Esse, Pithos, 96 Anm.72) spricht für ihre Herstellung vor Ort durch wandernde Töpfer (Esse, Pithos, 97). Die Haushaltswirtschaft erzielte offenbar ausreichende Überschüsse, um diese Krüge erwerben zu können. Als Tauschware konnten pflanzliche und tierische Produkte in roher bzw. verarbeiteter Form dienen. Webgewichte und Wirteln, die in nahezu allen Häusern gefunden wurden, belegen, dass Wolle und Flachs weiterverarbeitet wurden und die Herstellung von Bekleidung zum Haushaltshandwerk gehörte. Arbeitsgeräte aus Holz wie Wurfgabeln (Rut 3,2), Dreschschlitten (2Sam 24,22; Jes 41,15) und Joche (1Sam 6,7; Jer 28,10) dürften im Haushalt hergestellt worden sein. Metallwerkzeuge, u. a. Fragmente von Pflugscharen (1Sam 13,20), Messer (Ri 19,29), Äxte (Dtn 19,5), Hacken (Jes 7,25), Nadeln, Sicheln (Dtn 16,9; Jer 50,16) und Pfeilspitzen (1Sam 20,20), gehören zu den, wenn auch seltenen, archäologischen Artefakten.68 Als Metall überwiegt in der Eisen-I-Zeit Bronze. Eisen gewinnt als Material für landwirtschaftliche Geräte erst gegen Ende der Eisen-I-Zeit an Bedeutung. Die Verarbeitung beider Metalle ist nur in spezialisierten Werkstätten möglich, deren Etablierung in den Dörfern des zentralen Berglandes ökonomisch nicht wahrscheinlich ist. Eine Bearbeitung bzw. Umarbeitung vorhandener Metallgegenstände scheint in einzelnen größeren Orten erfolgt zu sein.69 Das Vorkommen von Metallgegenständen weist allgemein auf Handelsbeziehungen zu kanaanäischen Städten hin (Finkelstein, Megiddo IV, 849). Wirtschaftseinheit ist der einzelne Familienhaushalt. Die arbeitsintensiven Phasen der Landwirtschaft sowie die Maßnahmen zur Verhinderung der Bodenerosion wie die Terrassierung von Hängen erfordern eine innerdörfliche Organisation der Arbeit. Das Wirtschaftsverhalten ist nachhaltig und wird bestimmt durch den Versuch der Risikominderung in einer ökologisch labilen Umwelt. Die jährlich verfügbare, aber nicht kalkulierbare Regenmenge stellt dabei das Hauptrisiko dar, das durch die Anlage von Zisternen und zeitlich differenzierte Anbaumethoden gemindert wird. Ernteverluste in Trockenjahren können teilweise durch die Kleinviehhaltung und Vorratswirtschaft ausgeglichen werden. Eine Spezialisierung der Land-

68 Vgl. die tabellarische Übersicht der Metallfunde bei Eynikel, Smith, 46–48 sowie die Beiträge von Gottlieb, Advent, und Yahalom-Mack, Hazor. 69 Vgl. Fritz, Ergebnisse, 20f.39–43 und Zwingenberger, Dorfkultur 408f.

220

3. Kapitel: Gesellschaft

wirtschaft findet noch nicht statt. Acker- und Gartenland dürften Familieneigentum gewesen sein, da die spätere Überlieferung auch eine Erbteilung von familiärem Grundbesitz kennt (Dtn 21,15–17; 25,5). Die in manchen Zeiten und an manchen Orten prekäre Sicherheitslage gefährdete aber die nachhaltige Vorratshaltung und damit das ökonomische Überleben kleinerer Siedlungen (Ri 2,14; 6,1–6.11). Die Veränderung der Siedlungsstrukturen im 11. und 10. Jh. ist eine erste Antwort auf diese Bedrohung. Zahlreiche kleinere Neugründungen werden aufgegeben zugunsten größerer Siedlungen. Eine Urbanisierung des Berglandes mit weitreichenden politischen und sozioökonomischen Folgen setzt ein. Die entstehenden Landstädte bedürfen einer differenzierteren Organisation als die dörflichen Siedlungen. Zwei städtische Gremien bilden sich heraus: die »Ältesten der Stadt«, denen die politischen Entscheidungen obliegen (Ri 8,16; 11,5.8–11; 1Sam 11,3; 16,4) und die »Männer der Stadt«, die für die Verteidigung zuständig sind (Ri 6,27f.30; 8,5.8f.16f.).70 Die notwendige Kooperation mit den benachbarten Landstädten wie auch Verpflichtungen gegenüber Tochtersiedlungen fördern die Schaffung einer gemeinsamen politischen Organisation. Das Vordringen nach Westen weist auf einen Anstieg der Bevölkerung hin (Jos 17,14b), denn die Rodung des Waldes erfordert einen erhöhten Einsatz an Arbeitskräften, ebenso wie als Marktteilnehmer die dort mögliche Gartenkultur. Das quellenarme Hügelland wird zunehmend von Süden her besiedelt, insgesamt scheint die Terrassierung geeigneter Berghänge zuzunehmen (Faust, Shephelah).

3b.

Die Entwicklung der Wirtschaft unter dem Einfluss des Staates

Der Siedlungsprozess, der durch regionale Ausweitung wie durch die Konzentration in Landstädten charakterisiert ist, legt die Basis für den Handel mit den Nachbarregionen. Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen und der sozialen Organisation sind die Folge. Intermittierende politische Kooperationen führen zur regionalen und überregionalen Zentralisierung politischen Handelns (Ri 9–12) und fördern die Entwicklung frühstaatlicher Strukturen (1Sam 11; 13,1–2; 14,47–49; 16,14–22; 2Sam 2,8–10).71 Die politische Lösung der sozio-ökonomischen Existenzfrage bringt einen neuen Akteur auf die Bühne, den Staat. Der bereits eingesetzte Prozess der Spezialisierung in der Landwirtschaft und der Professionalisierung des Handwerks in den Landstädten wird verstärkt durch die Etablierung einer frühstaatlichen Organisation im nördlichen Bergland und den angrenzenden nordostjordanischen Gebieten unter Saul. Die in der Eisen-II-A-Zeit vom Süden (2Sam 2,1–4) ausgehende Bildung eines gemeinsamen politischen Herrschaftsverbandes unter David (2Sam 5,1–5) erweiterte den Wirtschaftsraum durch die Annexion von ehemals selbstständigen kanaanäischen Stadtstaaten (2Sam 5,6–10; 1Kön 4,9–12) und der in deren Einfluss-

70 Vgl. Schäfer-Lichtenberger, Stadt, 228–322. 71 Zur Phase des frühen Staates vgl. Schäfer-Lichtenberger, Views, 96–105.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

221

bereich liegenden Zwischengebirgstäler und Ebenen (Ri 1,27–33; 2Sam 5,17–25). Deren Integration erhöhte das Angebot an qualifizierten Fachhandwerkern, Händlern und administrativ geschulten Fachleuten. Der sich im 10. Jh. formierende Flächenstaat kontrolliert Teilabschnitte der Nord-Süd-Verbindungen, der Via Maris im Westen und der Königsstraße im Ostjordanland, sowie den westlichen Ausläufer der Weihrauchstraße im Negev. Die Sicherung und Kontrolle des Fernhandels wird verstetigt durch Neusiedlungen in Regionen, die geomorphologisch für die Landwirtschaft wenig geeignet sind, so im Norden die sumpfige Scharon-Ebene (Faust, Sharon) und im Süden das Negev-Hochland (Faust, Negev). Die Siedlungsstruktur, der Bau von festungsartigen Anlagen und die Wasserversorgung durch zentrale Zisternen im Negev weisen auf eine staatlich gelenkte Planung hin. Das Wassermanagement in den Trockengebieten erlaubt eine umfassende Kontrolle sowohl der Siedlungen wie der durchziehenden Handelskarawanen und führt zu weiteren Einnahmen des Staates, die seine Position stärken. Die Akzeptanz der Vorherrschaft des israelitischen Staates zieht Tributabgaben der angrenzenden Nachbarländer nach sich (2Sam 8,9–14), die den Unterhalt einer stehenden Truppe erlauben (2Sam 15,18) und die Einrichtung einer zivilen Administration fördern (2Sam 8,16–18; 20,23–26; 1Kön 4,1–19). Verkehrsgeographisch zentral gelegene Städte wie Bet-Schemesch werden ausgebaut (Bunimovitz, Fortifications). Planmäßig angelegte Städte wie Beerscheba zeichnen sich im Inneren durch ein verkehrsfreundliches Straßennetz aus (Herzog, Archaeology, 244–249). Geopolitisch wichtige Orte wie Bet-Horon am Aufstieg nach Jerusalem, werden befestigt oder auch neu angelegt, so Ḥ irbet Qeiyafa im Elahtal (Garfinkel, Qeiyafa). Öffentliche Bauten mit unterschiedlichen Zweckbestimmungen – Ummauerungen, Torgebäude, Speicherhallen, Silos, Militärquartiere, Drainagen, Zisternen, Wassertunnel – prägen die Stadtarchitektur. Die Baustrukturen weisen auf eine sozioökonomische Differenzierung der Stadtbevölkerung hin, die teils eine Folge einer neu entstehenden Schicht von staatlichen Funktionären ist, teils aber auch der Professionalisierung des Handwerks geschuldet ist. Eine funktionale Differenzierung der Städte zeichnet sich ab; Provinzstädte streben auf, deren Strukturen von zivilen wie militärischen Aufgaben geprägt werden und deren Bewohner mit Lebensmitteln versorgt werden müssen. Nach wie vor bestimmen Dörfer und kleine Landstädte, deren Bevölkerung überwiegend Landwirtschaft betreibt, die Landschaft. Das politische Machtzentrum befindet sich in der jeweiligen Hauptstadt, in der die aus Zöllen, Tributen und Naturalabgaben der Landbevölkerung sich ergebenden Überschüsse konsumiert und gegebenenfalls in Gestalt von öffentlichen Bauten thesauriert werden. Die öffentlichen Baumaßnahmen, die Administration und eine professionalisierte Truppe setzen nicht nur ein umfassendes Abgaben- und Fronsystem voraus, sondern gleichfalls ein entsprechendes Potenzial an Arbeitskräften. Das Eigentumsrecht am bewirtschafteten Land wird durch Verfügungsmöglichkeiten der Staatsgewalt eingeschränkt (1Kön 21; 2Kön 8,1–6). Das an einer nachhaltigen Subsistenz orientierte Wirtschaftshandeln der Landbevölkerung ändert sich in Richtung einer auf die Bedürfnisse des Staates ausgerichteten Marktwirtschaft. Nach der Auflösung der politischen Union zwischen Israel und Juda im letzten Drittel des 10. Jh.s verstärkt sich im 9. und im 8. Jh. in beiden Staaten die Tendenz

222

3. Kapitel: Gesellschaft

zur Urbanisation und damit einhergehend einer zum Unterhalt der Städte notwendigen landwirtschaftlichen Überschussproduktion. Im verkehrsgeographisch wie ökologisch begünstigteren Nordreich Israel ist der wirtschaftliche Aufschwung ausgeprägter und setzt früher ein als im Südreich Juda. Der um 920 v. Chr. das Nordreich verheerende Feldzug des Pharaos Schoschenk führte nur zu temporären wirtschaftlichen Einbrüchen. Israel behielt die Kontrolle über die zentralen Nord-SüdRouten und die damit verbundenen Einnahmen. Das Nordreich erholte sich rasch, wie am zügig einsetzenden Wiederaufbau der Städte und ihrer monumentalen Architektur ablesbar ist. Die Konstruktion und die materielle Beschaffenheit der öffentlichen Bauten weisen auf erhebliche Ressourcen an Mitteln und Arbeitskräften hin. Palastähnliche Verwaltungszentralen wurden in etlichen Provinzstädten errichtet. Die Bauweise (Quader, Verputzung von Mauern, Podiumfundament) verrät ein beträchtliches technologisches Niveau und handwerkliches Können. Die zentrale Speicherung der Vorräte setzt entsprechende Abgaben der bäuerlichen Bevölkerung voraus sowie ein regionales wie innerstädtisches Distributionssystem. Die in dieser Zeit bestehenden intensiven Handelsbeziehungen zu Phönizien, insbesondere zu Tyrus, führen zu qualitativen Veränderungen der materiellen Kultur. Die Gründung der neuen Hauptstadt Samaria unter den Omriden in der ersten Hälfte des 9. Jh.s v. Chr. und ihr Ausbau zur Festungsstadt, belegen die wirtschaftliche Prosperität des Nordreiches. Die Tendenz zu einer defensiv ausgerichteten Stadtarchitektur kennzeichnet auch judäische Städte. In der Schefela entsteht vom judäischen Bergland ausgehend ein dichtes Netz von befestigten Landstädten. Vormals kanaanäische Städte wie Bet-Schemesch werden judäische Verwaltungszentren. Die im Verlauf des Schoschenk-Feldzugs zerstörten Festungsanlagen im Negev werden nicht mehr aufgebaut, stattdessen wird in Arad eine Festung errichtet. Beerscheba entwickelt sich im 8. Jh. v. Chr. zu einer für Juda ertragreichen Wegstation für den Fernhandel zwischen Arabien und der südlichen Küste (Singer-Avitz, Beersheba). Die städtische Wohnarchitektur spiegelt die sich entwickelnde sozioökonomische Ausdifferenzierung der Gesellschaft wider. Die Häuser der Wohlhabenderen bedecken größere Flächen (100–120 m2) und sind freistehend. Sie verfügen über massivere Außenmauern, deren Steine sorgfältiger behauen sind. In der Regel liegen diese Häuser in der Nähe öffentlicher Gebäude. Ebenfalls in deren Umkreis finden sich kommerziell genutzte Flächen wie Werkstätten und Kontore (1Kön 20,34). Die Häuser der übrigen Bevölkerung teilen die Außenmauern und verfügen über eine geringe Wohnfläche (40–60 m2). Die Wohnbedingungen für die Mehrheit der Stadtbevölkerung untergraben den Zusammenhalt von Großfamilien und Sippen. Die atl. Texte, die die israelitische Gesellschaft des 8. Jh.s reflektieren, deuten auf sozioökonomische Probleme weiter Bevölkerungsteile und deren Ausbeutung hin (Am 4,1; 5,11; 8,4–6; Mi 3,10). Damit einher geht die Korruption des Rechtssystems (Am 5,7.10; Hos 2,6f.; Jes 5,23; 10,1–2; 29,21; Mi 3,9.11) und die Schwächung des Verwandtschaftlichen Solidaritätssystems (Am 2,7; Hos 4,1f.13f.; Jes 10,2), das in der Frühzeit der Siedlungsgeschichte ökonomisch ausgleichend wirkte. Der Unterhalt der massiv befestigten Bezirksstädte und ihrer zivilen wie militärischen Verwaltung erfordert beträchtliche Abgaben und Arbeitsleistungen der Bevölkerung. Die Sozialstruktur der Bezirksstadt unterscheidet sich von jener einer Landstadt, da erstere

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

223

darauf angewiesen ist, dass vor Ort dauerhaft qualifizierte Fachhandwerker verfügbar sind, insbesondere Bauhandwerker (2Kön 12,12f.), Schmiede (Jes 54,16), Töpfer (Jer 18,2–4), Textilhandwerker (Jes 19,9), Müller (2Kön 7,1.18) und Bäcker (Jer 37,21). Handwerksquartiere wie Metallwerkstätten kamen bei den Ausgrabungen zutage (Gottlieb, Advent). Ebenfalls fanden sich Öl- und Weinpressen in der Nähe von Verwaltungsgebäuden, was auf eine staatlich kontrollierte Verarbeitung der Naturalabgaben hindeutet. Phönizische Keramik und Funde von Elfenbeinschnitzereien in Israel lassen den Bedarf der Oberschicht an Luxusartikeln erkennen (Am 3,15). Die Versorgung der jeweiligen Hauptstadt mit Lebensmitteln hat sich auf die Siedlungsstruktur der unmittelbar angrenzenden Region ausgewirkt. Einzeln stehende Gehöfte finden sich häufiger im Umkreis der Hauptstadt, zudem scheint deren Landwirtschaft auf Wein- und Olivenkulturen ausgerichtet zu sein (Faust, Farmstead). Die Siedlungsstruktur in den ländlichen Regionen wird durch Landstädte und Dörfer geprägt. Die meisten Großdörfer wurden bisher in Israel entdeckt, während in Juda einzelne Gehöfte häufiger vorkommen; dazu finden sich nordwestlich von Hebron und im Negev häufig festungsähnliche Gebäude. Diese militärischen Stützpunkte dienten der Sicherung der landwirtschaftlichen Kleinsiedlungen und der staatlichen Güter. Allgemein grenzen sich die größeren Dörfer durch eine Umschließungsmauer von der Umgebung ab. Die Terrassierung der Hänge wird im 8. Jh. weiter ausgebaut. In den Dörfern sind die Einrichtungen zur Verarbeitung und Lagerung der Erzeugnisse (Tennen, Silos, Öl- und Weinpressen) sowie Wassermanagement (Zisternen) lokal konzentriert angelegt worden. Anlage und Betrieb der landwirtschaftlichen Einrichtungen lassen eine gemeinschaftliche Nutzung und eine entsprechende innerdörfliche soziale Organisation vermuten. In Bet-Schemesch und Tell Beit Mirsim deutet die Häufung von Ölpressen auf eine staatlich kontrollierte Produktion im 8. Jh. hin (Finkelstein/Na’aman, Shephelah). Die Entwicklung weist auf eine sich verstärkende Tendenz zur Monokultur. In den höheren Lagen dominiert Wein-, in den niedrigeren Lagen Olivenanbau. Die regionale Häufung von Wein- und Ölpressen in den ländlichen Regionen spricht für eine marktorientierte Landwirtschaft. In den Tälern und Ebenen wird bevorzugt Getreide angebaut, in den Trockengebieten überwiegt die Viehwirtschaft (Shahak-Gross, Subsistence). Ein einflussreicher Wirtschaftsteilnehmer waren die Krongüter (1Kön 21,1–2; 2Kön 8,5–6). Im Palastbereich Samarias wurden Ostraka gefunden, die als Lieferscheine über Öl und Wein von Krongütern fungiert haben könnten (Renz/ Röllig, Handbuch, 79–109). Beschriftete Gebrauchsgegenstände wie Gewichtssteine mit Maßangaben, genormte Hohlmaße (Am 8,5) und Krughenkel mit Ortsnamen und/oder Personennamen weisen auf einen überregionalen Handel hin, der zumindest teilweise von staatlichen Stellen reguliert wurde (Eph’al/Naveh, Jar). Hacksilber wurde zum bevorzugten Zahlungsmittel im Handel. Die ab der Mitte des 8. Jh.s an Assyrien fälligen Tributabgaben waren ebenfalls in Edelmetall zu entrichten (2Kön 15,19–20; 18,14–16). Die fortschreitende Ablösung der Naturalwirtschaft zugunsten einer Geldwirtschaft verleiht dem Staat wie auch der Oberschicht ein ökonomisches Übergewicht, da diese über von der Landwirtschaft unabhängige Einnahmen verfügen, u. a. über Zins- und Pachterträge, Zölle, Handelsgewinne.

224

3. Kapitel: Gesellschaft

Die assyrische Eroberung und Besetzung Israels (734–721 v. Chr.) endete mit flächendeckenden Zerstörungen, umfangreichen Deportationen sowie dem Verlust der Souveränität Israels. Die Umwandlung in assyrisch verwaltete Provinzen führte zum Niedergang der Städte und zum Zusammenbruch der komplexen, durch die Stadt-LandKooperation charakterisierten Wirtschaft. Die Provinzhauptstädte Megiddo, Dor und Samaria wurden als assyrische Verwaltungszentralen ausgebaut. Das Südreich Juda profitierte zunächst vom politischen und ökonomischen Chaos im Norden. Das Arbeitskräftepotenzial stieg aufgrund der nach Juda geflüchteten Israeliten erheblich an, ein Umstand, der umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen begünstigte; auch darf angenommen werden, dass etliche der Flüchtlinge über ökonomische Ressourcen verfügten. In bisher gemiedenen Regionen wie dem Westufer des Toten Meeres und dem Negev wurden Siedlungen neu gegründet. Bestehende Ortschaften wie Timna wurden ausgebaut. Jerusalem, dessen Fläche noch zu Beginn des 8. Jh.s ca. 12–16 ha betrug, wuchs gegen Ende des 8. Jh.s auf eine Gesamtfläche von ca. 60–65 ha an. Die westlichen Stadtteile wurden schließlich durch eine neue Mauer in das bestehende Mauersystem einbezogen. Das Wassersystem wurde durch den Bau des Schiloach-Tunnels und ein neues Sammelbecken zwischen den Mauern auf eine belagerungssichere Basis gestellt (Jes 22,9–11). Das erzielte Surplus wurde für die Vorbereitungen des Aufstandes von Hiskija gegen die assyrische Oberherrschaft eingesetzt. Befestigungen wurden verstärkt, die Festungsstädte und Garnisonen umfassend mit Lebensmittelvorräten ausgestattet. Die Verteilung von Öl und Wein erfolgte mittels genormter Vorratskrüge mit eingebranntem Siegel, das den Krug als Eigentum des Königs (lmlk) und den Herkunftsort auswies. Die Ortsnamen beziehen sich wahrscheinlich auf die Abgaben der Verwaltungsdistrikte Judas (Mazar, Archaeology, 457). Material, Form und Maße dieser Krüge lassen erkennen, dass sie in einer zentralen Werkstätte im staatlichen Auftrag hergestellt worden sind. Der Aufstand endete 701 v. Chr. mit der großflächigen Verheerung des Landes. Die Siedlungen in der Schefela wurden zerstört und alle Festungsstädte mit Ausnahme Jerusalems eingenommen. Die meisten Städte in der Schefela wurden im 7. Jh. nicht wieder besiedelt (Finkelstein/Na’aman, Shephelah). Regionalzentren wie Lachisch oder Aseka wurden unter assyrischer Verwaltung im bescheidenen Umfang wieder aufgebaut. Zu den drastischen Bevölkerungsverlusten kamen die durch die assyrische Obermacht erzwungenen Gebietsverluste im Westen zugunsten der philistäischen Stadtstaaten. Die bisherigen judäischen Olivenkulturen in der Schefela wurden aufgegeben. Ökonomisch betrachtet war Juda zu Beginn des 7. Jh.s bankrott, allerdings verfügte der Rumpfstaat um Jerusalem aufgrund der aus den zerstörten Siedlungen der Schefela ins Bergland geflüchteten Judäer offenbar über einen Arbeitskräfteüberschuss. Eingliederung und Versorgung dieser Flüchtlinge waren eine sozioökonomische Notwendigkeit. Im Verlauf des 7. Jh.s entstanden in der Wüste Juda, am Toten Meer und im Negev zahlreiche kleinere landwirtschaftliche Siedlungen (Faust, Settlement), die über ihren Eigenbedarf hinaus Getreide für den überregionalen Markt produzierten (Finkelstein, Manasseh, 176–178). Gleichfalls auf eine staatliche Wirtschaftsinitiative deuten die im 7. Jh. angelegten Monokulturen von Gibeon und Engedi hin (Faust, Archaeology, 36f.). Die Integration der Flüchtlinge führte zur Entstehung einer breiten Schicht von landlosen, lohnabhängigen Arbeitskräften, die in das Netz traditioneller

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

225

Verwandtschaftsbeziehungen nicht einbezogen waren. Die sozialen Gebote in Dtn 15,1–18; 23,20; 24,10–14.19–22 versuchen, das Existenzminimum dieser Gruppen zu sichern. Im gleichen Zeitraum wurden Festungen im Negev gebaut, die die Handelsrouten sicherten. Die in den Festungen Arad und Horvat ‘Uza gefundenen Ostraka erlauben einen Einblick in die verschiedenen Aufgaben dieser Anlagen und belegen ein differenziertes Abgabensystem zu deren Unterhalt (Na’aman, Look). In Engedi scheint eine staatliche Balsamplantage angelegt worden zu sein, deren Produkte bis nach Tyrus geliefert wurden (Ez 27,17). Ebenfalls auf ein staatliches Unternehmen weisen die in der Nähe Jerusalems in Moza und in Ramat Rachel gelegenen landwirtschaftlichen Einrichtungen hin, die auf Getreideanbau bzw. Weinkultur spezialisiert waren (Moyal, Jerusalem). Die Spezialisierung der Landwirtschaft und die Verwertung der Erzeugnisse setzen eine funktionierende Administration voraus, die die regionale und überregionale Distribution organisiert. Der Unterhalt der städtischen Speicher, Wassersysteme und Befestigungsanlagen sowie der Signal- und Wachtürme und Festungsgebäude in den Landbezirken kann nur durch eine komplexe staatliche Verwaltung gewährleistet werden. Die assyrische Oberherrschaft garantierte im 7. Jh. die innere Sicherheit und legte so die Basis für die Erwirtschaftung beträchtlicher ökonomischer Überschüsse in Landwirtschaft und Handel. Die judäische Landwirtschaft war Teil eines in der Levante aufeinander abgestimmten Systems von Produktionszonen, das Juda, Teile der Provinz Samaria und die philistäische Küste umfasste (Faust, System). Juda exportierte landwirtschaftliche Erzeugnisse in erheblichem Umfang, außer Öl und Wein auch Getreide, nach Tyrus (Ez 27,17) und Aschdod (Weiss, Plant) und versorgte die Küstenregionen mit den Produkten der Viehzucht. Der Fernhandel brachte Luxuswaren wie Fisch aus dem Mittelmeer und dem Roten Meer nach Jerusalem und Zedernholz bis nach Beerscheba und Arad (Faust, System, 75). Die Kehrseite der prosperierenden Wirtschaft zeigt die zeitnahe prophetische Sozialkritik, die der Führungselite und dem König in Jerusalem Gewinnstreben, Betrug, Ausbeutung und Rechtsbeugung vorwirft (Zef 1,9b.11; 3,1–4; Jer 8,10; 22,12–17; Hab 1,2–4.13; Ez 22,6–7.9.12.25–29). Normen, die die Basis einer Gesellschaft bilden, verfallen (Ez 22,7–12). Die Stadt Jerusalem wird zum Symbol zügellosen Gewinnstrebens und der Rechtlosigkeit (Zef 1,4.12; 3,1–2; Ez 22,3–4). In der Generation vor dem Verlust der politischen Souveränität Judas ist die Gesellschaft als Solidargemeinschaft in Auflösung begriffen.

3c.

Der politische Untergang Judas und der Zusammenbruch der Wirtschaft

Nach dem ersten Aufstand gegen die babylonische Oberherrschaft (597 v. Chr.) verlor der judäische Staat durch die Deportation nicht nur einen Teil der Elite einschließlich des Königs und der Elitetruppen, sondern auch die ökonomisch wichtigen Goldreserven und Fachleute wie Schmiede und Bauhandwerker (Jer 29,2; 2Kön 24,14.16). Der babylonische Aufmarsch hatte sich primär gegen Jerusalem gerichtet, daher war die judäische Landwirtschaft nicht nachhaltig getroffen worden. Die Ressourcen reichten bereits 589 v. Chr. aus, um einen zweiten Aufstand gegen die babylonische Oberherrschaft zu wagen. Die Revolte endete mit der Einnahme und

226

3. Kapitel: Gesellschaft

Zerstörung aller befestigten Städte, einschließlich Jerusalems, und der Verheerung des Landes. Die Führung wurde teils hingerichtet, teils nach Babylonien deportiert, ebenso wie ein erheblicher Anteil der Bevölkerung. Der biblischen Überlieferung zufolge blieben nur die in der Landwirtschaft beschäftigten Lohnarbeiter im Lande (2Kön 25,12; Jer 52,16). Einzig das benjaminitische Gebiet um Mizpa, Gibea, Bet-El und Gibeon war weitgehend von der babylonischen Invasion verschont geblieben. Aber die judäischen Kerngebiete waren großflächig zerstört worden und hatten aufgrund des Kriegsgeschehens und vor allem der Kriegsfolgen72 drastische Bevölkerungsverluste erlitten (Stern, Gap). Das Land war nur noch spärlich besiedelt (Lipschits, Changes, 326–346).73 Die Siedlungsdichte und die Siedlungsfläche verringerte sich je nach Region zwischen 75% und 90%, Dörfer und Gehöfte wurden aufgegeben (Faust, Judah, 33–72). Wachttürme und Grenzfestungen und die in ihren Schutz angelegten dörflichen Siedlungen verfielen. Keine der gebrandschatzten Festungsstädte wurde in neubabylonischer Zeit wieder aufgebaut (Faust, Judah, 21–32). Die Entvölkerung der Städte hatte weitreichende Folgen für die Landwirtschaft. Das Stadt und Land umfassende Wirtschaftsgefüge brach zusammen, da zum einen die Stadt als Konsumentin der Agrarprodukte ausfiel, zum anderen die Spezialisierung der Landwirtschaft die lokale Selbstversorgung verhinderte. Zudem war das komplexe Distributionssystem zwischen Stadt und Land zusammengebrochen. Gleichzeitig fehlte die innere Sicherheit (Ps 89,41), die eine dauerhafte Bewirtschaftung der Felder ermöglicht hatte. Die dörflichen Produktionsgemeinschaften, die auf Verwandtschaft beruhten, hatten durch die Kriegsfolgen zu viele Angehörige verloren, und damit die Möglichkeit zur unmittelbaren sozialen Reorganisation. Im Verlauf des 6. Jh.s verschwindet das für die judäische Großfamilie auf dem Lande typische Vierraumhaus (Faust, Judah, 103–105). Die Überlebenden wohnten in den Ruinen zerstörter Siedlungen und Festungen sowie auf den Feldern und in Felshöhlen (Ez 33,27f.; Faust, Judah, 237–241). Die Landwirtschaft beschränkte sich auf reine Subsistenzwirtschaft. Scheinbar haben die babylonischen Oberherren zwar das assyrische Provinzsystem beibehalten (Vanderhooft, Strategies, 251–256), aber sie haben kaum etwas für den Wiederaufbau des Landes unternommen (Betlyon, NeoBabylonian, 271–279). Der Niedergang betraf auch die Städte des ehemaligen Nordreiches, die im 7. Jh. sich wirtschaftlich erholt, aber im 6. Jh. durch die babylonische Eroberung der philistäischen und phönizischen Küstenstädte und des Hinterlandes ihre ökonomische Basis verloren hatten (Faust, Judah, 179f.).

3d.

Die Provinz Juda unter persischer Herrschaft

Der Wechsel von der neubabylonischen zur persischen Herrschaft verlief in Palästina nach der Einnahme Babylons durch Kyros II. (539 v. Chr.) reibungslos. Die vom

72 Deportation, Hunger, Seuchen – vgl. Ez 5,12. 73 Die zeitnahen prophetischen Verheißungen wie Drohworte setzen voraus, dass die Überlebenden inmitten von Trümmern hausen, vgl. Jes 44,26; Ez 33,24–28.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

227

assyrischen Souverän eingerichteten Provinzen bestanden weiter, allerdings wurden Südjuda und der Negev als Provinz Idumäa abgetrennt. Die Provinz Juda scheint zumindest ab der Mitte des 5. Jh.s eine eigene Provinz gebildet zu haben, seit dieser Zeit waren, wie die Yehud-Siegel-Abdrücke belegen, Statthalter in Jerusalem ansässig (Avigad, Bullae, 3–7). Die persische Provinzverwaltung etablierte sich in Jerusalem, nachdem der Tempel wiederaufgebaut worden war (520–515 v. Chr.), etliche Nachfahren der Exulanten zurückgekehrt und die Mauern Jerusalems unter Nehemia repariert worden waren (445 v. Chr.). Die einheimische Elite war an der Verwaltung der Provinz beteiligt74 und profitierte von der ökonomischen Unterstützung durch die Diaspora. Der Jerusalemer Tempel spielte im persischen Fiskalsystem eine zentrale Rolle, da er verantwortlich für die Einziehung und Weiterleitung der imperialen Steuern75 zeichnete (Schaper, Jerusalem). Die Steuern waren in Edelmetall zu entrichten. Seit dem 5. Jh sind in Samaria geprägte Münzen nachweisbar (Tal, Identity, 450f). Die Funde von Silbermünzen mit der Prägung Yhd/Yhdh sprechen für die Etablierung einer Münzstätte in Jerusalem ab der zweiten Hälfte der Perserzeit (Mildenberg, Kleingeld). Die Wirtschaft wird durchgehend monetarisiert. Missernten und erhebliche Steuerabgaben gefährden die Existenz der Landbevölkerung (Neh 5,1–5). Das bäuerliche Kleineigentum schwindet (Neh 9,36f.), Tendenzen zur staatlichen wie privaten Latifundienbildung zeichnen sich ab (Neh 3,5b; 5,4f.7; Hiob 31,38f.). Bei Jericho und Engedi entstanden unter persischer Verwaltung Balsamkulturen (Patrich, Development). Die allgemeine materielle Kultur in den Provinzen Samaria und Juda ist ausweislich der Keramik und der Architektur von minderer Qualität. Hingegen prosperieren die Küstenzonen und Galiläa und profitieren vom überregionalen Handel (Shefton, Reflections). Auch Juda partizipierte im bescheidenen Umfang am Handel mit den Küstenregionen (Neh 13,16). Die Landwirtschaft scheint etwa ab der Mitte der persischen Zeit wieder Überschüsse zu produzieren, die offenbar zur Versorgung der Besatzungen abgeschöpft werden; darauf weisen auffällig viele Silos und Kornspeicher hin, die unter persischer Regie in Orten mit Festungsgebäuden angelegt werden (Edelman, Apples). Die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage in der persischen Zeit führt zum Entstehen einer typischen antiken Klassengesellschaft: Einer kleinen, an der politischen Macht beteiligten vermögenden städtischen Oberschicht steht die große Masse des verarmten Landvolkes gegenüber, die alle Lasten der persischen Besatzung zu tragen hat.

Bibliographie Avigad, Nahman, Bullae and Seals from a Post-Exilic Judean Archive (Qedem 4), Jerusalem 1976.

74 Die Vielfalt der Bezeichnungen lässt an eine entsprechend differenzierte Einbindung in die persische Verwaltung denken, vgl. Esr 2,16; 4,8.13; Neh 11,1–3; 12,31. 75 Zu den drei Steuerarten (Esr 4,13.20; 7,24) kamen die Unterhaltskosten für den Statthalter und seinen Hof, vgl. Kessler, Sozialgeschichte, 149.

228

3. Kapitel: Gesellschaft

Betlyon, John W., Neo-Babylonian Military Operations other than War in Judah and Jerusalem: Lipschits, Oded/Blenkinsopp, Joseph (Hg.), Judah and the Judeans in the Neo-Babylonian Period, Winona Lake/ Ind. 2003, 263–283. Aharoni, Yohanan, Das Land der Bibel. Eine historische Geographie, Neukirchen-Vluyn 1984. Bloch-Smith, Elizabeth, A Landscape Comes to Life: The Iron Age I: Near Eastern Archaeology 62 (1999), 62–92.101–127. Borowski, Oded, Agriculture in Iron Age Israel, Winona Lake/Ind. 1987. Bunimovitz, Shlomo/Lederman, Zvi, The Iron Age Fortifications of Tel Beth Shemesh: A 1990–2000 Perspective: IEJ 51 (2001), 121–147. Clark, Douglas R., Sweat and Tears: The Human Investment in Constructing a »Four Room« House: Near Eastern Archaeology 66 (2003), 34–43. Currid, John D./Navon, Avi, Iron Age Pits and the Lahav (Tell Halif) Grain Storage Project: BASOR 273 (1989), 67–78. Edelman, Diana, Apples and Oranges: Textual and Archaeological Evidence for Reconstruction the History of Yehud in the Persian Period: Nissinen, Martti (Hg.), Congress Volume Helsinki 2010 (VT.S 148), Leiden 2012, 133–144. Eph’al, Israel/Naveh, Joseph, The Jar of the Gate: BASOR 289 (1993), 59–65. Esse, Douglas L., The Collared Pithos at Megiddo: Ceramic Distribution and Ethnicity: JNES 51 (1992), 81–103 Eynikel, Erik, »Now There Was No Smith to Be Found Throughout all the Land of Israel« (1 SAM 13:19) – A Philistine Monopoly on Metallurgy in Iron Age I?: Niemann, Hermann Michael/Augustin, Matthias (Hg.), »My Spirit at Rest in the North Country« (Zechariah 6.8). Collected Communications to the XXth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament, Helsinki 2010 (BEATAJ 57), Frankfurt u. a. 2011, 41–50. Faust, Avraham, The Farmstead in the Highlands of Iron Age II Israel: Maeir, Aren M. u. a. (Hg.), The Rural Landscape of Ancient Israel (BAR IS 1121), Oxford 2003, 91–104. Ders., The Negev »Fortresses« in Context: Reexamining the »Fortress« Phenomenon in Light of General Settlement Processes of the Eleventh-Tenth Centuries B. C. E.: JAOS 126 (2006), 135–160. Ders., The Sharon and the Yarkon Basin in the Tenth Century BCE: Ecology, Settlement Patterns and Political Involvement: IEJ 57 (2007), 65–82. Ders., Settlement and Demography in Seventh Century Judah and the Extent of Sennacherib’s Campaign: PEQ 140 (2008), 168–194. Ders., The Archaeology of Israelite Society in Iron Age II, Winona Lake/Ind. 2012. Ders., Judah in the Neo-Babylonian Period: The Archaeology of Desolation, Atlanta/GA 2012. Ders., The Shephelah in the Iron Age: A New Look on the Settlement of Judah: PEQ 145 (2013), 203–219. Faust, Avraham/Bunimovitz, Shlomo, The Four Room House: Embodying Iron Age Israelite Society: Near Eastern Archaeology 66 (2003), 22–31. Faust, Avraham/Weiss, Ehud, Judah, Philistia, and the Mediterranean World: Reconstructing the Economic System of the Seventh Century B. C. E.: BASOR 338 (2005), 71–92. Finkelstein, Israel, The Archaeology of Israelite Settlement, Jerusalem 1988. Ders., The Archaeology of the Days of Manasseh: Scripture and Other Artifacts. Essays on the Bible and Archaeology in Honor of Philip J. King, Louisville/Ky. 1994, 169–187. Finkelstein, Israel/Na’aman, Nadav, The Judahite Shephelah in the Late 8th and Early 7th Centuries BCE: TA 31 (2004), 60–79. Finkelstein, Israel/Halpern, Baruch (Hg.), Megiddo IV. The 1998–2002 Seasons. Bd 2, Tel Aviv 2006. Frankel, Rafael, Wine and Oil Production in Antiquity in Israel and Other Mediterranean Countries, Sheffield 1999. Fritz, Volkmar/Kempinski, Aharon, Ergebnisse der Ausgrabungen auf der Hirbet el-Mšāš (Tel Māśōś) 1972–1975. Teil I: Textband (ADPV 6), Wiesbaden 1983.

§ 15 Wirtschaft, Stadt und Land

229

Ders., Die Stadt im alten Israel, München 1990. Garfinkel, Yosef u. a., The Iron Age City of Khirbet Qeiyafa after four Seasons of Excavations: Galil, Gershon u. a. (Hg.), The Ancient Near East in the 12th–10th Centuries BCE. Culture and History. Proceedings of the International Conference held at the University of Haifa, 2–5 May, 2010 (AOAT 392), Münster 2012, 149–174. Geus, Cornelis H. J. de, Towns in Ancient Israel and in the Southern Levant (Palaestina Antiqua 10), Leiden 2003. Gottlieb, Yulia, The Advent of the Age of Iron in the Land of Israel: A Review and Reassessment: TA 37 (2010), 89–110. Herr, Larry G., Jordan in the Iron I and IIA Periods: Galil, Gershon u. a. (Hg.), The Ancient Near East in the 12th–10th Centuries BCE. Culture and History. Proceedings of the International Conference held at the University of Haifa, 2–5 May, 2010 (AOAT 392), Münster 2012, 207–220. Herzog, Ze’ev, Archaeology of the City. Urban Planning in Ancient Israel and its Social Implications, Jerusalem 1997. Hopkins, David C., The Highlands of Canaan. Agricultural Life in the Early Iron Age, Sheffield 1985. Ji, Chang-Ho C., A Note on the Iron Age Four Room House in Palestine: Or NS. 66 (1997), 387–413. Janowski, Bernd (Hg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993. Kessler, Rainer, Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt 2006. Lipschits, Oded, Demographic Changes in Judah between the Seventh and Fifth Centuries B. C. E.: Ders./Blenkinsopp, Joseph (Hg.), Judah and the Judeans in the Neo-Babylonian Period, Winona Lake/Ind. 2003, 323–376. Mazar, Amihai, Archaeology of the Land of the Bible. 10000–586 BCE, New York u. a. 1992. Mildenberg, Leo, Über das Kleingeld in der persischen Provinz Judäa: Weippert, Helga, Palästina in vorhellenistischer Zeit. Handbuch der Archäologie, München 1988, 721–728. Mittmann, Siegfried, Beiträge zur Siedlungs- und Territorialgeschichte des nördlichen Ostjordanlandes (ADPV), Wiesbaden 1970. Moyal, Yigal/Faust, Avraham, Jerusalem’s Hinterland in the Eighth-Seventh Centuries BCE: Towns, Villages, Farmsteads and Royal Estates: PEQ 147 (2015), 283–298. Na’aman, Nadav, A New Look at the Epigraphic Finds from Horvat ’Uza: TA 39 (2012), 84–101. Ofer, Avi, ›All the Hill Country of Judah.‹ From a Settlement Fringe to a Prosperous Monarchy: Finkelstein, Israel/Na’aman, Nadav (Hg.), From Nomadism to Monarchy. Archaeological and Historical Aspects of Early Israel, Jerusalem 1994, 92–121. Ottosson, Magnus, The Iron Age of Northern Jordan: Lemaire, André/Otzen, Benedict (Hg.), Histories and Traditions of Early Israel. Studies Presented to Eduard Nielsen May 8th 1993 (VT.S 50), Leiden u. a. 1993, 90–103. Patrich, Joseph, Agricultural Development in Antiquity: Improvements in the Cultivation and Production of Balsam: Galor, Katharina u. a. (Hg.), Qumran. The Site of the Dead Sea Scrolls: Archaeological Interpretations and Debates. Proceedings of a Conference held at Brown University, November 17–19, 2002, Leiden 2006, 242–248. Raban, Avner, Standardized Collared-Rim Pithoi and Short-Lived Settlements: Wolff, Samuel R. (Hg.), Studies in the Archaeology of Israel and Neighboring Lands in Memory of Douglas L. Esse (SAOC 59), Chicago/Ill. 2001, 493–518. Renz, Johannes/Röllig, Wolfgang, Handbuch der althebräischen Epigraphik, Bd 1., Darmstadt 1995. Rosen, Baruch, Subsistence Economy in Iron Age I.: Finkelstein, Israel/Na’aman, Nadav (Hg.), From Nomadism to Monarchy. Archaeological and Historical Aspects of Early Israel, Washington 1994, 339–351.

230

3. Kapitel: Gesellschaft

Sapir-Hen, Lidar u. a., Pig Husbandry in Iron Age Israel and Judah. New Insights Regarding the Origin of the »Taboo«: ZDPV 129 (2013), 1–20. Sasson, Aharon, Animal Husbandry in Ancient Israel. A Zooarchaeological Perspective on Livestock Exploitation, Herd Management and Economic Strategies, London/Oakville 2010. Schäfer-Lichtenberger, Christa, Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament (BZAW 156), Berlin 1983. Dies., Sociological and Biblical Views of the Early State: Fritz, Volkmar/Davies, Philip (Hg.), The Origins of the Ancient Israelite States (JSOT.S 228), Sheffield 1996, 78–105. Schaper, Joachim, The Jerusalem Temple as an Instrument of the Achaemenid Fiscal Administration: VT 45 (1995), 528–539. Shahak-Gross, Ruth u. a., Subsistence Economy in the Negev Highlands: the Iron Age and the Byzantine/Early Islamic Period: Levant 46 (2014), 98–117. Shefton, Brian, B., Reflections on the Presence of Attic Pottery at the Eastern End of the Mediterranean during the Persian Period: Transeuphratène 19 (2000), 75–82. Singer-Avitz, Lily/Eshet, Yoram, Beersheba – A Gateway Community in Southern Arabian LongDistance Trade in the Eighth Century B. C. E.: TA 26 (1999), 3–75. Stern, Ephraim, The Babylonian Gap: The Archaeological Reality: JSOT 28 (2004), 273–277. Tal, Oren, Negotiating Identity in an International Context under Achaemenid Rule: The Indigenous Coinages of Persian Period Palestine as an Allegory: Lipschits, Oded u. a. (Hg.), Judah and the Judeans in the Achaemenid Period. Negotiating Identity in an International Context, Winona Lake/Ind. 2011, 445–459. Vanderhooft, David, Babylonian Strategies of Imperial Control in the West: Royal Practice and Rhetoric: Lipschits, Oded/Blenkinsopp, Joseph (Hg.), Judah and the Judeans in the NeoBabylonian Period, Winona Lake/Ind. 2003, 235–262. Weiss, Ehud/Kislev, Mordechai E., Plant Remains as Indicators for Economic Activity: a Case Study from Iron Age Ashkelon: Journal of Archaeological Science 31 (2004), 1–13. Yahalom-Mack, Naama u. a., Metalworking at Hazor: A Long-Term Perspective: Oxford Journal of Archaeology 33 (2014), 19–45. Zohary, Michael, Pflanzen der Bibel, Stuttgart 21983. Zwingenberger, Ute, Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina (OBO 180), Fribourg/ Göttingen 2001.

§ 16 Krieg und Frieden Manfred Oeming, Heidelberg

1.

Das Problem: Die inneren Spannungen in den Beurteilungen des Krieges

Das Thema Krieg und Frieden stellt moderne Menschen, die sich mit der Hebräischen Bibel vertieft beschäftigen, vor schwierige theologische, ethische und hermeneutische Probleme.76 Denn in diesem zentralen Themenbereich reiben sich die Vorstellungen des Alten Testaments mit dem Wertempfinden der Gegenwart teil-

76 Vgl. Dietrich, Dunkle Seiten Gottes, 187–220.

§ 16 Krieg und Frieden

231

weise besonders stark, und die verschiedenen Textbereiche der Hebräischen Bibel weisen dazu noch bedeutende innere Spannungen auf. Auf der einen Seite wird dem Krieg in zahlreichen Kriegsberichten viel Raum gegeben.77 Dabei ist der Charakter der Kriegserzählungen sehr unterschiedlich. Neben den Konflikten mit den Großreichen Ägypten, Aram, Assur, Babylon und Griechenland finden sich auch eher lokale Scharmützel (z. B. Gen 34). Das ganze Buch Josua berichtet von einem einzigen großen Eroberungskrieg aller zwölf Stämme, der mit der Eroberung Jerichos beginnt und mit der Verteilung des gesamten Landes endet, während im Buch Richter von Verteidigungskriegen einzelner Stämmekoalitionen gegen Nachbarvölker erzählt wird. David führt letztmals Eroberungskriege, während Salomo durch den Aufbau eines stehenden Heeres seine Feinde abschreckt; er braucht keinen Krieg zu führen. Zudem gab es Bruderkriege zwischen Nordreich und Südreich (1Kön 12–2Kön 17). In makkabäischer Zeit wurden Guerillakriege gegen die Seleukiden geführt, d. h. nadelstichartige Terrorattacken; die »Armee« besaß weder Streitwagen noch Kavallerie; stattdessen versuchte man im unwegsamen Gelände der Berge und der Wüste mit einfachen Waffen aus dem Hinterhalt und aus dem Untergrund zu kämpfen, wie später auch in den Freiheitskriegen gegen das Imperium Romanum. Manche »Berichte« sind ins Mirakulöse gesteigert, so dass die Grenze zwischen Kriegsbericht und Wundererzählung verwischt. So wird Israel z. B. vor dem Heer des Pharao dadurch errettet, dass Gott das Schilfmeer spaltet, so dass Israel trockenen Fußes zwischen den Wassermauern hindurchziehen kann, während die ägyptische Armee von den zurückwogenden Wassermassen ertränkt wird (Ex 14). Oder Gott verwirrt die Feinde, so dass sie in Panik fliehen, und lässt dann zusätzlich große Steine vom Himmel auf sie fallen bis nach Aseka (Jos 10,10f.); »denn Jhwh kämpfte für Israel«. Als Wunder der Wunder standen schließlich sogar die Sonne und der Mond still zu Gibeon, damit Israel ausreichend Zeit hatte, die feindlichen Truppen niederzumachen (Jos 10,12–14.). Oder der Tod von 185.000 assyrischen Soldaten, die im Jahre 701 Jerusalem belagerten, soll in einer einzigen Nacht durch den Engel Jhwhs bewirkt worden sein (2Kön 19,35). Häufig waren Israel und Juda in schier aussichtsloser Lage, wurden aber auf die eine oder andere Weise doch immer neu errettet und konnten weiterexistieren, ein Zeichen des wirksamen Eingreifens Gottes. Gott wird dabei andauernd mit dem Krieg in Verbindung gebracht, und es kann geradezu definitorisch heißen: »Jhwh ist ein Kriegsmann« (Ex 15,3)

Jhwh hat das Kriegsgeschehen in seiner Hand – weltweit: Kommt her und schaut die Werke Jhwhs, der auf Erden solche Zerstörung anrichtet, der die Kriege in aller Welt steuert, der Bogen zerbricht, Speere zerschlägt und Streitwagen mit Feuer verbrennt. (Ps 46,9f.)

77 Die Liste der in Israel geführten Kriege ist sehr lang. Schon durch seine »tragische« geographische Lage genau an der Grenze zwischen den antiken Machtblöcken Ägypten/Ptolemäer einerseits, Aram, Assur, Babylon, Persien, Seleukiden andererseits, war Israel andauernd in militärische Konflikte verstrickt.

232

3. Kapitel: Gesellschaft

Gott gibt den Befehl zum Kampf, er lässt durch Orakel den Ausgang der Schlacht vorhersagen, was im positiven Fall lautet: »Jhwh hat sie in unsere Hand gegeben« (z. B. Jos 6,2; Ri 1,2; 4,14). Das Kampfgeschehen der Kriege Israels wirkt geradezu wie ein liturgischer Akt.78 Am Anfang steht die Ansprache eines Priesters (Dtn 20,2). Kriege werden in mythischen Farben geschildert:79 Nicht menschliche Heere kämpfen für Israel, sondern Jhwh allein; er kämpft nicht nur gegen irdische Armeen, sondern implizit auch gegen die Götter der anderen Völker.80 Gott wird für seine Kämpfe zu Gunsten Israels hoch gepriesen.81 Jhwh, unser Gott, fürwahr wir verlassen uns auf dich, und in deinem Namen sind wir gekommen gegen diese Heeresmenge. Jhwh, du bist unser Gott, gegen dich vermag kein Mensch etwas. (2Chr 14,10)

Entsprechend haben Kriegserfolge geradezu missionarische Wirkung und bewirken »Erkenntnis Gottes«: Und der Mann Gottes trat auf und sprach zum König von Israel: »So spricht Jhwh: Weil die Aramäer gesagt haben, dass Jhwh ein Gott der Berge ist und nicht ein Gott der Täler, darum habe ich diese große Menge in deine Hand gegeben, damit ihr erkennt: Ich bin Jhwh.« (1Kön 20,28)

Allerdings kämpft Jhwh nicht nur für sein Volk und schenkt ihm nicht nur Frieden. Israel hat aus den Kriegserfahrungen keine securitas abgeleitet! Denn Jhwh kann sich auch gegen Israel selbst wenden. Gott benutzt dabei die Fremdvölker, um Israel aus dem trügerischen Frieden herauszustoßen und das Gericht an ihm zu vollziehen (z. B. Jes 3,35; Jer 6,1–4.23; Ez 39,17–21; Hos 10,10–14; Am 2,6–16). Vielen heutigen Lesern erscheint diese enge Verbindung von Gott und Krieg als das Charakteristikum der Hebräischen Bibel überhaupt, und sie halten Jhwh entsprechend für den militant brutalen Gott einer altorientalischen Stammesreligion, der zum Völkermord auffordert und mit dem Befehl zum Bann bestialische Gewalt, auch gegen Kinder und Frauen, verlangt.82 Sein Wesen verdichtet sich in dem Ruf:

78 von Rad, Heiliger Krieg, nimmt folgende liturgische Abfolge an: Blasen des Schofar, d. h. der Widderhörner, Aussendung zerstückelter Fleischteile durch Boten an alle 12 Stämme, Ausrufen einer sakralen Ordnung für das Heer (v. a. sexuelle Abstinenz und rituelle Reinheit sogar der Waffen), Opfer und Gottesbefragung (die mit der Übereignungsformel »Jhwh hat sie in eure Hände gegeben« enden muss). Jhwh allein handelt, er bewirkt vor allem einen »Gottesschrecken«, während er Israel seinen Beistand ermutigend zusagt. Die besiegten Feinde werden gebannt, d. h. durch schonungslose Tötung total Gott übereignet. Abschließend erfolgt die Entlassung des Heerbannes mit dem Ruf »Zu deinen Zelten, Israel!«. 79 Vgl. u. a. Miller, Divine Warrior; Ballard, Warrior Motif. 80 Die Männer des Heeres sind auffallend wenige und haben häufig nur die Funktion, den Kampf Jhwhs zu bezeugen, vgl. Stolz, Jahwes und Israels Kriege. 81 »Wenn sich ein Heer gegen mich lagert, so fürchtet sich mein Herz nicht; wenn sich auch Krieg gegen mich erhebt, trotzdem bin ich voller Vertrauen« (Ps 27,3). 82 Michel, Gewalt gegen Kinder.

§ 16 Krieg und Frieden

233

»Pflugscharen zu Schwertern!« (Joel 4,12)83

Auf der anderen Seite aber enthält die Hebräische Bibel zahlreiche Texte, in denen ganz genau im Gegenteil eine tiefe Sehnsucht nach Frieden deutlich wird. Letzten Endes wird der Krieg auf Erden theologisch geächtet und überwunden.84 Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Jes 2,4)

Es ist der zentrale Inhalt des alttestamentlichen Glaubens, dass Jahwe durch seinen »Friedefürsten« aus dem Hause Davids den ewigen Frieden aufrichten wird (Jes 9,1–6). Das Symbol für die umfassende Überwindung der Gewalt ist der Tierfrieden, in dem Wölfe bei den Lämmern lagern und Löwen Stroh fressen werden (Jes 11,1–9; 65,25). Für viele moderne Zeitgenossen ist das Faszinierende an der Botschaft der Bibel Israels gerade diese tiefe Hoffnung auf und diese faszinierende Vision von Schalom.85 Für Jhwh ist die Forderung charakteristisch: »Schwerter zu Pflugscharen!« (Jes 2,4; Mi 4,3)

An einigen Stellen, die noch zu besprechen sein werden, lässt sich beobachten, dass beide gegensätzlichen Tendenzen unmittelbar ineinander geschoben sind und sogar innerhalb eines einzigen Textes miteinander im Streit liegen.86 Wie lässt sich diese Ambivalenz verstehen? Ist die Hebräische Bibel militant oder pazifistisch? Lässt sie ihre Leserschaft letztlich ohne klare Orientierung ratlos zurück?

2.

Die Bewertungen des Krieges im Spiegel der Geschichte

Zunächst muss man sich klar machen, dass Pazifismus in der Antike noch viel unrealistischer ist als in der Gegenwart; Krieg war so sehr ein Element des Alltags in Israel, dass danach sogar die Jahreszeit angegeben werden konnte (vgl. 2Sam 11,1). Zum andern ist es notwendig, die enorme Bedeutung des Krieges für den Kulturfortschritt in der Antike anzusprechen. »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«. Dieses Wort des dunkeln Heraklit zeigt eine Wertschätzung von gewaltvollen Konflikten, die gegenwärtig lebenden Menschen vielfach schwer nachvollziehbar ist. Um im Kampf gegeneinander als Sieger hervorzugehen, muss der Mensch alles, 83 Die Literatur, die sich gegen diese angebliche Kriegstreiberei des Alten Testamentes empört, ist endlos, z. B. Buggle, Denn sie wissen nicht. (Allerding muss man festhalten, dass in den letzten 100 Jahren, in einer Zeit, die sich so gerne einbildet, aufgeklärt und human zu sein, so viele Kriege geführt wurden wie niemals zuvor. Die Zahl der Toten dürfte auf Grund der modernen Kriegstechnik und der atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen um ein Vielfaches höher liegen als in der Antike.) 84 Kunz, Ablehnung des Krieges. 85 In der Bibliographie am Ende dieses Beitrags finden sich (einige wenige der) Stimmen, die diesen Traditionsstrom stark machen. 86 Eine ähnliche Spannung findet sich im Neuen Testament. Man bedenke nur das Gegenüber von Mt 5,9 und Mt 10,34!

234

3. Kapitel: Gesellschaft

was er hat, in die Waagschale werfen. Eine Erzählung wie 1Sam 17, die assyrischen Palastreliefs oder die sog. Kriegsrolle aus Qumran (1 QM) erlauben uns Einblicke in die Waffentechnik der alttestamentlichen Zeit: z. B. Schilde, Schienbeinschoner, gepolsterte Metallhelme, Schwerter, Krummschwerter, Keulen, Wurfspieße, Bogen, Steinschleudern, Pfeile mit unterschiedlichen Spitzen, Belagerungsmaschinen mit Rammböcken, Sturmleitern oder Brecheisen. Dass so oft und so intensiv von Kriegen berichtet wird, bedeutet aber keineswegs, dass Kriege in der Theologie der Hebräischen Bibel einfach gebilligt oder gar bewundert würden. Es finden sich vielmehr deutliche bis drastische Kritiken an dem Geist der Kriegserzählungen. Wie kann das Gegensätzliche so eng beieinander stehen? Wenn etwas schwer verständlich ist, dann muss man nach seiner Geschichte fragen. Das Alte Testament dürfte von den mündlichen Überlieferungen bis hin zum kanonischen Endtext über 1000 Jahre Geschichte spiegeln. Die alttestamentliche Wissenschaft hat erkannt, dass durch das Studium der Entwicklungen von Traditionen aufgezeigt werden kann, was den Glauben Israels im Innersten zusammenhält, was ihn dynamisch (um-)gestaltet, aber auch, mit welchen Problemen er dauerhaft ringt. Im Blick auf das Verhältnis von Krieg und Frieden kann man in der Zeit vom 13. Jh. bis zum 1. Jh. v. Chr. acht Stadien unterscheiden, deren logisches Verhältnis zueinander bleibend schwierig ist (dabei ist die Datierung der jeweiligen Texte/Traditionen durchaus umstritten): 1. Am Anfang stand eine enge Verbindung von Jhwh und Krieg. Der berühmte Alttestamentler Julius Wellhausen konnte formulieren: »Die vornehmste Äußerung des Lebens war damals und auf Jahrhunderte hinaus der Krieg. Der Krieg ist es, was die Völker macht; […] als das nationale war er zugleich auch das heilige Geschäft. […] Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel, und da war Jahwe«.87 Die Soldaten Israels nannten sich selbst »Volk Jhwhs«. Nach der Idee des »Heiligen Krieges«, die auch sonst im Alten Orient belegt ist, führt Gott selbst den Krieg für sein Volk. Der Stämmegott Jhwh ist es, der seinem Volk beim Exodus und in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Übergang von der Spätbronzezeit zur Eisenzeit I zur Seite stand. Das Debora-Lied Ri 5 bietet ein Muster für solches Eingreifen Jhwhs in menschliche Schlachten: Könige kamen und stritten; damals stritten die Könige Kanaans zu Taanach am Wasser Megiddos, aber Silber gewannen sie dabei nicht. Vom Himmel her kämpften die Sterne, von ihren Bahnen stritten sie wider Sisera. (Ri 5,19f.)

Ein Symbol für die Gegenwart und Hilfe Jhwhs im stets brutalen Kampf ums Überleben ist die Lade. Dieser »magische Kasten« symbolisiert den Kriegs-Bund Jhwhs mit seinem Volk und bewirkt durch seine Präsenz Kriegserfolge – zumindest soll er das (1Sam 4–6). Er wird in das Allerheiligste des Tempels von Jerusalem gestellt, der dadurch auch zum Kriegsdenkmal wurde (nach späterer Vorstellung befanden sich die Tafeln vom Sinai in ihm).

87 Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 23f.

§ 16 Krieg und Frieden

235

2. In der frühen Königszeit erlebte die Verherrlichung des Krieges als Teil der Staatsund Königsideologie eine Blüte. Große Kämpfer wurden offiziell verherrlicht, auch Frauen wie Debora und Jael (Ri 4f.), allen voran aber David: Saul hat tausend geschlagen, David aber zehntausend. (1Sam 18,7; 21,12; 29,5)

Geradezu emblematisch für diesen auf Gottes Wirken hin transparenten Krieg ist die Geschichte von David gegen Goliat (1Sam 17). Der kleine Hirtenjunge kann mit Gottes Hilfe und einer Steinschleuder den hochgerüsteten Riesen besiegen. 3. Ab der vorexilischen Prophetie brach sich die Kritik am Krieg Bahn. In den sog. Fremdvölkersprüchen des Amos (Am 1–2) werden erstens die Gewaltexzesse der Völker um Israel herum scharf als Sünde gebrandmarkt. Auch im Krieg ist die Würde der Menschen selbst bei den Feinden unantastbar; wer mutwillig unter der Zivilbevölkerung mordet, Schwangere aufschlitzt oder Massenvergewaltigungen begeht, verstößt gegen internationales Völkerrecht für den Kriegsfall. In der Prophetie wurde der Gedanke entdeckt, dass der Mensch sich überhebt und versündigt, wenn er sich anmaßt, den Plan Gottes mit der Macht der Schlachtrosse und Kriegsheere verändern zu können. Wenn Gott Heil oder Unheil beschlossen hat, dann sind jede Kriegsvorbereitung, Diplomatie und Koalitionspolitik im Kern Rebellion gegen Gott. Eine Symbolfigur für diese Art von Unglauben war Ahas, der König von Juda, der angesichts der heranrückenden feindlichen Heere meinte, Jerusalem und das Haus David mit neuen Wasserleitungssystemen schützen zu können, statt auf den Schutz Gottes zu vertrauen: Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht. (Jes 7,9)

Im Grunde wird in der Kriegskritik der Propheten die alte Vorstellung, dass Jhwh den Krieg allein führt, reaktualisiert. 4. Diese prophetische Kriegskritik führte zu einer allmählichen Entfaltung der Friedenssehnsucht in konkreten Konzeptionen. Dabei ist das Recht von herausragender Bedeutung; da, wo Konflikte nicht mit Gewalt ausgetragen werden, sondern durch die überzeugende Macht der Gerechtigkeit, da besteht die Chance auf Frieden. Die Vision, dass es möglich wird, »Schwerter zu Pflugscharen« umzuschmieden, basiert auf der Hoffnung, dass sich alle Völker dem internationalen Recht unterwerfen, das von dem Gott des Rechts, Jhwh, ausgehen wird. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und Jhwhs Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (Jes 2,3f.)

In Jerusalem wird – so die prophetische Hoffnung – ein internationales göttliches Schiedsgericht installiert, wo alle Völker, die freiwillig kommen, die ihnen gemäße gerechte Lösung erhalten werden; jeder Krieg wird dadurch überflüssig. Jhwh selbst verhält sich überparteilich und neutral, selbst für Israel wird es keine nationalistischen Privilegien geben. Insbesondere verbietet es sich, dass Brüder gegeneinander kämpfen. So spricht Jhwh: Zieht nicht in den Krieg gegen eure Brüder! (2Chr 11,4)

236

3. Kapitel: Gesellschaft

Wenn die Idee sich durchsetzt, dass alle Menschen von einem Stammelternpaar abstammen und insofern alle Menschen Brüder und Schwestern sind (dieser wichtige Gedanke steckt in einem scheinbar so trockenen Text wie den Stammbäumen 1Chr 1), dann gewinnt auch der Gedanke Raum, dass Krieg nach dem Willen Gottes überhaupt nicht sein soll. Die uralten Erbfeindschaften zwischen Israel und Ägypten sowie Israel und Assur werden überwunden werden: Zu der Zeit wird eine Straße sein von Ägypten nach Assyrien, dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assyrien kommen und die Ägypter samt den Assyrern [Jhwh] dienen. Zu der Zeit wird Israel der Dritte sein mit den Ägyptern und Assyrern, ein Segen mitten auf Erden; denn Jhwh Zebaot wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe! (Jes 19,23–25)

5. Die prophetische Zukunftserwartung vollendete sich in der Spätzeit des Alten Testaments und der zwischentestamentlichen Epoche in der apokalyptischen Vorstellung eines endzeitlichen Friedensreiches (einschließlich eines Tierfriedens, Jes 11; 65f.), das nach dem großen Endzeitdrama eintreten wird. Das Königreich Gottes (das Zentrum der Verkündigung des historischen Jesus) bekam die Bedeutung, dass in ihm Krieg und Gewalt aufhören werden.88 Man muss sich aber davor hüten anzunehmen, dass die eben beschriebene Entwicklungsgeschichte geradlinig in eine theologische Ächtung des Krieges mündete. Das Alte Testament ist (wie das Neue) kein pazifistisches Buch. Das Töten von Menschen im Krieg ist nicht prinzipiell untersagt; das Gebot »Du sollst nicht töten« meint Töten aus niederen Motiven, also »morden«. Die Todesstrafe für Schwerverbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Ehebruch oder sittliche Verstöße gilt mit dem Gebot als ebenso vereinbar wie Kämpfen und Töten im Krieg. 6. Obgleich viele Stimmen zum Frieden rufen und auf ein Ende aller Kriege drängen, kann man auch gegenläufige Entwicklungen feststellen. Gerade in der Zeit, als Israel keine eigenen Armeen hatte, wird in der deuteronomistischen oder in der chronistischen Literatur die Schilderung von Kriegen keineswegs unterdrückt oder geächtet, sondern »nur« unter bestimmte Kriegsziele gestellt: Kriege zur Selbstverteidigung bleiben legitim, und Kriege zur Beschaffung von Baumaterial für den Tempel in Jerusalem bleiben als Weg Gottes heldenhaft. Frieden ist gewiss die bessere Option, wie an der Herrschaft Salomos deutlich gemacht wird (2Chr 1–10). Doch selbst in seinem Tempelweihgebet wird die Möglichkeit des Krieges nicht negiert, vielmehr heißt es: Wenn dein Volk gegen seine Feinde in den Krieg zieht, auf dem Weg, den du es sendest, und wenn es dann zu dir betet, zu dieser Stadt hingewendet, die du erwählt hast, und zu dem Haus hin, das ich deinem Namen gebaut habe, so höre du im Himmel sein Beten und Flehen, und verschaffe ihm Recht! (2Chr 6,34f.)

88 Kunz-Lübke, Ablehnung des Krieges.

§ 16 Krieg und Frieden

237

7. In der Geschichtsschreibung der Apokryphen, bes. in den Makkabäerbüchern, aber auch in Judit, kommt es zu einer Reaktualisierung der Verherrlichung des Krieges als Teil der Staats- und Königsideologie. Die großen Gestalten der Hasmonäer werden als tapfere Soldaten im Kampf für die Freiheit des Glaubens, der Essenssitten und Kultpraktiken gerühmt. Dies sind die Identitätsmarker Israels, die es sich nicht verbieten oder wegnehmen lassen darf. Sie stellten sich den Feinden ihres Volkes entgegen, um ihr Heiligtum und das Gesetz zu erhalten, und verschafften ihrem Volk großen Ruhm. (1Makk 14,29)

Aber auch in den in der Weisheitsliteratur seltenen Geschichtsrückblicken werden die Leistungen der Frommen als Soldaten heftig gerühmt, so z. B. im »Lob der Väter« bei Jesus Sirach über David: Als er die Krone trug, führte er Krieg und demütigte ringsum die Feinde. Er schlug die feindlichen Philister und zerbrach ihre Macht bis heute. (Sir 47,7)

Der Gedanke, dass Israel aufgrund einer »mosaischen Unterscheidung« zwischen wahrer und falscher Religion (Jan Assmann) das Recht hätte, »Religionskriege« zu führen, hat kaum Anhalt an den Texten. Die Makkabäerkriege wollten mitnichten die »wahre Religion« verbreiten, sondern viel schlichter das Recht auf freie Ausübung der jüdischen Religion, bes. das Recht auf Einhaltung der Sabbatruhe, des koscheren Essens und der Beschneidung der neugeborenen Jungen am achten Tag sichern. 8. In der Apokalyptik werden Kriegsvorstellungen zu einem theologischen Konzept breit ausgebaut. Im Kanon wird diese Denkbewegung v. a. im Buch Daniel sowie in den hinteren Teilen des Sacharjabuches greifbar. Die Kriegsrolle aus Qumran (1QM) aus dem 2./1. Jh. v. Chr. ist ein Höhepunkt dieser Literatur, in welcher der Krieg der Söhne des Lichts wider die Söhne der Finsternis einer Entscheidung zustrebt (dabei werden zahlreiche Informationen über das Heerwesen der Zeit nebenbei mitüberliefert).89 Schon im Hintergrund des Markusevangeliums steht die Idee des Christus militans.90 Die Apokalypse des Johannes sieht in Jesus Christus den siegreichen Feldherrn in der Entscheidungsschlacht am Ende der Weltgeschichte (Apk 19), auf welche dann das Friedensreich im neuen himmlischen Jerusalem anbrechen wird. Beim Aufstieg des Christentums zur religio licita bzw. zur Staatsreligion spielte der Glaube, dass Jesus Christus sich in blutigen Schlachten als der erfolgreichste Kämpfer und siegbringende Soldat erwiesen habe, in dessen Zeichen die Armee Konstantins und der nachfolgenden Kaiser siegte und siegen wird, eine wohl nicht zu unterschätzende Rolle. Als Fazit lässt sich festhalten: A) Die Entwicklungen in der Hebräischen Bibel sind nicht einlinig. Die theologischen Konzeptionen der Frühzeit wie die der Spätzeit verbinden Jhwh und Krieg eng miteinander. In anderen Zeiten aber wird der Krieg

89 Vgl. Kunz-Lübke, Ablehnung des Krieges; Kipp/Baeck/Flint, War scroll. 90 Vgl. Gelardini, Christus militans.

238

3. Kapitel: Gesellschaft

kritisiert und es lebt die Hoffnung auf seine prinzipielle Überwindung durch Jhwh auf, der allein alle Kriege steuert. Zwischen Verherrlichung des wehrhaften Soldaten einerseits und dem idealen Friedenskönig anderseits schwanken die Traditionen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Haltung Israels gegenüber dem Frieden stark davon abhängt, ob es selbst in der Lage war, Kriege zu führen und zu gewinnen. Je weniger reale Macht es hatte, desto friedlicher sind die Visionen. B) In den Kriegstexten der Hebräischen Bibel werden Gedanken vorbereitet, die als theologische Leitlinien über die mittelalterlichen Theorien vom bellum iustum über die Aufklärung bis in die Moderne hinein wirken und eine gewichtige Rolle spielen. Es gibt eine Art ius ad bellum, d. h. Krieg darf nicht einfach als Mord-Lust, Ruhm-Sucht oder Mutwillen erklärt werden. Vielmehr darf er nur von der rechten Autorität, dem König selbst, in der angemessenen Form als eine absolute Notmaßnahme erklärt werden, die auf erlittenes Unrecht reagiert. Sie soll von der religiösen Autorität der Propheten oder Priester legitimiert sein. Das Ziel des Kriegs darf es nur sein, die »Ruhe vor den Feinden ringsum«, d. h. den Rechtszustand wiederherzustellen und entstandene Schäden wiedergutzumachen; das Ziel des Krieges ist der Frieden. C) Im Krieg ist daher keineswegs alles erlaubt, vielmehr gibt es ein strenges ius in bello: Im Krieg soll man die Grundrechte der Humanität beachten und unter der Zivilbevölkerung keine Grausamkeiten begehen (Am 1–2). Bevor man eine Stadt angreift, muss man mit ihr verhandeln und ihr den Frieden anbieten (Dtn 20,10f.).91 Man soll sich in Kriegszeiten paradoxerweise so benehmen wie in einem Gottesdienst. Um die Reinheit zu bewahren, muss man z. B. vollständig auf Geschlechtsverkehr verzichten (2Sam 11) und darf vor allem keinen persönlichen Gewinn erzielen. Paradigmatisch wird in der Geschichte von Achans »Diebstahl« in Jos 7 verdeutlicht, dass die persönliche Bereicherung an Kriegsbeute, die allein Gott gehört, tabu ist und mit der Todesstrafe geahndet wird: Und es soll geschehen: Wer mit dem Gebannten ergriffen wird, den soll man mit Feuer verbrennen mit allem, was ihm gehört, weil er den Bund Jhwhs übertreten und einen Frevel in Israel begangen hat. (Jos 7,15)

Diese Regelung wird allerdings im Deuteronomium korrigiert, so dass ein krasser Widerspruch im Kriegsrecht entsteht: Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn Jhwh, dein Gott, hat es dir geschenkt. (Dtn 20,14)

D) Das Besondere besteht aber darin, dass der Kanon der Hebräischen Bibel nicht eine Richtung herausgefiltert hat, sondern m. E. sehr bewusst durch eine Fülle von unterschiedlichen Stimmen den Wandel der Beurteilungen des Krieges mitsamt sich ändernden politischen Rahmenbedingungen dokumentiert und konserviert hat. Dauerreflexion über das Thema Krieg und Frieden ist dadurch institutionalisiert

91 Vgl. Waschke, Krieg nach Dtn 20.

§ 16 Krieg und Frieden

239

worden; fundamentalistischer Pazifismus ist ebenso wie fundamentalistische Gewaltbereitschaft verunmöglicht.

3.

Zwischen Krieg und Frieden: Das Paradebeispiel David

Die großen Traditionskreise der Hebräischen Bibel lassen sich vielfach auf Personen verdichten. Wie z. B. die Toratraditionen mit Mose verbunden werden oder die Weisheitsüberlieferungen mit Salomo, so ranken sich die Kriegs- und Friedenstraditionen stark um David, um das »Haus Davids« und um den »Sohn Davids«. Jede Epoche hat sich ihr Bild von diesem Herrscher gemacht und damit auch und vor allem ihr Verhältnis zu Krieg und Frieden neu bestimmt, so dass das Studium der David-Überlieferungen als eine gute Konkretion des zuvor Gesagten dienen kann.92 3.1

David im deuteronomistischen Geschichtswerk (ca. 550 v. Chr.)

Unter Aufnahme älterer Überlieferungen präsentiert ein umfangreiches, ca. 450 Jahre nach den historischen Ereignissen entstandenes Geschichtswerk in dem Abschnitt 1Sam 16–1Kön 1 ein spezifisches Davidbild,93 das David als Soldaten verherrlicht. Dabei wird mehrfach unterstrichen, dass dieser Musterkrieger nicht a priori ein herausragender Soldat war, schon weil er keine entsprechenden körperlichen Eigenschaften hatte. Er besaß zwar schöne Augen, eine gute Figur und auffälliges rötliches Haar, aber dennoch war er klein und eher unscheinbar. Die Erzählung legt alles Gewicht auf die Erwählung durch Gott. »Der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber Jhwh sieht auf das Herz« (1Sam 16,7). Von Anfang an war David der homo electus, d. h. allein in ihm wirkte Gott, dessen Geist über ihn kam (vgl. 2Sam 23,2). Dieser Gedanke wird durch die dreifache Variation von Davids Aufstieg (Salbung durch Samuel, Musiktherapeut bei Saul, Bezwinger des furchtbaren Riesen Goliat, 1Sam 16–17) narrativ stark herausgearbeitet. Durch Gott gnadenhaft begabt, kann David als Vorkämpfer auf schwere Rüstung verzichten und mit scheinbar lächerlichen fünf Steinen und einer Hirten-Stein-Schleuder den hochgerüsteten Riesen Goliat besiegen. Darum hat David Erfolg im Krieg und entsprechend noch mehr Erfolg bei den Frauen. Aber in diese Bilderbuchvita eines Soldaten sind überraschend zahlreiche Schatten eingewoben: Der Söldner verstrickt sich durch sein Hin- und Herlavieren zwi-

92 Vgl. auch Dietrich, David. 93 Die klassische Theorie Noths (Überlieferungeschichtliche Studien) schrieb das sehr heterogene Material von Dtn 1 bis 2Kön 25 einem einzigen Autor zu, der mit seiner rückblickenden Darstellung der Geschichte Israels ein großes Schuldbekenntnis ablegen wollte: Israel und besonders seine Könige sind durch ihre Sünden schuld am Untergang des Staates, aber nicht die Schwäche Jhwhs. Diese Sicht ist zunehmend kritisiert und durch (Re)Konstruktionen von zwei Editionen oder mehreren Bearbeitungsschichten ersetzt worden. Instruktive Forschungsübersichten bieten Frevel, Deuteronomistisches Geschichtswerk, und Römer, Das deuteronomistische Geschichtswerk.

240

3. Kapitel: Gesellschaft

schen Israel und den Philistern in dubiose Ambivalenzen. Undurchsichtige Loyalität und gleichzeitige Zersetzung der Autorität Sauls, zweifelhafte Anführerschaft einer Bande loser Männer und sein Auftreten im Negev im Stile eines Mafiabosses und eines Don Juan lassen den Mustersoldaten immer mehr ins Zwielicht rücken. Aufstieg und Fall liegen dicht beieinander, wie in 2Sam 11 und 12 besonders deutlich zu Tage tritt. Die hässliche Sünde mit Batscheba demonstriert ad oculos, wie der Machtmensch David seinen sexuellen Begierden zum Opfer fällt. Sein Heer ist im Krieg, aber »David selbst blieb in Jerusalem« (2Sam 11,1). Er wäre besser mit in den Krieg gezogen, aber David, der König, wird vollends zum Versager, indem er geltendes Kriegsrecht übertritt: sexuelle Enthaltsamkeit während des Krieges, Respekt vor den Ordnungen, besonders Achtung vor den eigenen Offizieren und Kameraden wie Urija. Als Abschalom gegen ihn putschte und starb, verhielt er sich wieder gefährlich ungeschickt. Zum Ärger seiner Soldaten trauerte und klagte er allzu intensiv und lange. Und dann das gar nicht imponierende Ende Davids! Für die Charakterzeichnung sind letzte Taten und Worte besonders gewichtig (1Kön 1,1–4). Am Ende des Lebens dieses starken Kriegsmannes und (Frauen-)Helden stehen Impotenz und ein erbärmliches Testament (1Kön 2,1–10). In V. 2–4 erscheint der alte David zwar als gewaltiger Prediger des dtr Programms von der Tora als dem alles bestimmenden Zentrum des Lebens, in V. 5–9 aber dominiert der blanke Hass und ein gnadenloser, gekränkter, gewaltiger Fluch über seine Feinde. Dieses exilische Geschichtswerk entfaltet somit ein dialektisches Davidbild: Schönheit der Jugend, Erbärmlichkeit des Alters, Freiheit von jeder Blutschuld und doch viele Morde, ein Muster an Tora-Treue und doch ein Paradebeispiel für einen Übertreter des Gotteswillens, der liebende Vater – und genau dadurch unfähig zum Königsamt. David zeigt im dtr Geschichtswerk die innere Zerrissenheit und abgründige Triebhaftigkeit auch der edelsten Soldaten auf. 3.2

David in der Chronik (um 300 v. Chr.)

Ca. 700 Jahre nach dem historischen David kreiert der chronistische Theologenkreis einen ganz neuen David. Die völlige Neukonstruktion des Davidbildes lässt sich an der Art seiner Einführung und an der Schilderung seines Todes leicht erkennen: Die ganze Aufstiegserzählung wird getilgt. David folgt sofort auf den gottlosen Saul und wird von »ganz Israel« eingesetzt. Und ganz Israel versammelte sich bei David in Hebron. Und sie sagten: Siehe, wir sind dein Gebein und dein Fleisch. Schon früher, schon als Saul König war, bist du es gewesen, der Israel ins Feld hinausführte und wieder heimbrachte. Und Jhwh, dein Gott, hat zu dir gesprochen: Du sollst mein Volk Israel weiden, und du sollst Fürst sein über mein Volk Israel! (1Chr 11,3)

Welch eine herzliche Eintracht! David und sein Volk sind eins, auch genealogisch. Getilgt ist nicht nur die Zwielichtigkeit der Aufstiegserzählung, getilgt sind auch die Sündenfallgeschichte mit Batscheba und der hässliche Familienzwist der Nachfolgeerzählung. Davids Lebenslauf und -wandel ist völlig umgestaltet: Keine Mordgeschichten, keine Sexskandale, keine Impotenz. David erscheint ethisch gereinigt.

§ 16 Krieg und Frieden

241

Er konzentriert sich ganz auf den Gottesdienst, die Tempelrituale und das Gebet. Charakteristisch wiederum der Schluss seines Lebens: David ist mit ganz Israel im Gottesdienst vereint, ein Bild der Harmonie, des Respekts, der Ordnung, der Gottesfurcht und der Verehrung für den frommen König, dessen Thronwechsel an Salomo völlig harmonisch verläuft (1Chr 29,10–24). Die Chronik ist in der Forschungsgeschichte heftig kritisiert, ja beschimpft worden als Geschichtsfälschung: Als pars pro toto Wellhausens berühmtes Dictum: »Was hat die Chronik aus David gemacht! Der Gründer des Reichs ist zum Gründer des Tempels und des Gottesdienstes geworden, der König und Held an der Spitze seiner Waffengenossen zum Kantor und Liturgen an der Spitze eines Schwarmes von Priestern und Leviten, seine so scharf gezeichnete Figur zu einem matten Heiligenbilde, umnebelt von einer Wolke von Weihrauch. ... historischen Wert hat nur die Tradition der älteren Quelle.«94

Die Chronikbücher artikulieren eine veränderte Sicht des Krieges: In spätpersischfrühhellenistischer Zeit vertritt der Chronist mit den Mitteln einer »Quasi-Historiographie« eine idealistische Anthropologie: Diese Theologenzirkel wünschen sich einen Helden, der genau das lebt, was sie für wünschenswert halten, und so erschaffen sie ihn.95 David wird nicht mehr als einzelner Soldat, der voller Widersprüche in innerer Zerrissenheit lebt, begriffen und dargestellt, sondern als eine Art corporate identity, die eine vollständige Einbindung des Einzelnen in das Glaubenskollektiv Israel vorlebt. Es geht nicht mehr um verwirrende Abgründigkeit, sondern um Treue zu klaren Prinzipien, nicht mehr um leidenschaftliche Lust und brutale Morde, sondern um bußfertige Besonnenheit. Der Vergleich der Davidbilder in den beiden Geschichtswerken ist ein sehr schönes Beispiel für den Wandel in der Bewertung von Krieg und Gewalt. Ausdrücklich wird David getadelt, weil er Kriege geführt hat; er darf darum Jhwh seinen Tempel nicht bauen. Da erging das Wort Jhwhs an mich: »Du hast viel Blut vergossen und schwere Kriege geführt. Du sollst meinem Namen kein Haus bauen; denn du hast vor meinen Augen viel Blut zur Erde fließen lassen.« (1Chr 22,8–10)96

3.3

David in den Psalmen

David wird im Psalter zum Musterbeter stilisiert, auch zum Musterdenker und zum politischen Philosophen. Mit seinem »Schlussgebet« in Ps 72 skizziert er einen idealen Herrscher.

94 Wellhausen, Prolegomena, 176f. 95 Wellhausen, Prolegomena, spürt dies selbst, wenn er völlig richtig davon spricht, dass die ältere Quelle »dem Geschmack der nachexilischen Zeit gemäß vergeistlicht« wurde, so dass David »Psalmen dichten musste« (177). 96 Wellhausen, Prolegomena, spöttelt: »daß er die Kriege Jahves geführt, daß Jahve durch seine Hand Sieg gegeben hat, wäre der älteren kriegsgewohnten Zeit wahrhaftig nicht Grund wider, sondern nur als Grund für seine Würdigkeit zu diesem Werk erschienen.« Genau das zeigt den Wandel!

242

3. Kapitel: Gesellschaft

Verleih dein Richteramt, o Gott, dem König, dem Königssohn gib dein gerechtes Walten! Er regiere dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen durch rechtes Urteil. Dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Höhen Gerechtigkeit. (Ps 72,1–3)

Vieles im Psalter lässt aus dem Kriegsmann einen bußfertigen Friedensmann werden, der u. a. seinen Fehltritt mit Batscheba zutiefst bereut und Gott anfleht: Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge all meine Frevel! Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir! Mach mich wieder froh mit deinem Heil; mit einem willigen Geist rüste mich aus! (Ps 51,11–14)

Statt mit dem Schwert geht er mit der Harfe um, statt mit guter Kriegstaktik Mauern zu überwinden, wird er zum Dichter und lieblichen Sänger. Man könnte geneigt sein, in den späten Psalmen eine ähnliche Entwicklung zu sehen, wie sie in der Fort- und Umschreibung des dtr zum chr David sichtbar wurde. Aber das stimmt so nicht. Gerade zum Ende des Psalters hin lesen wir von David: Gelobt sei Jhwh, der mein Fels ist, der meine Hände den Kampf gelehrt hat, meine Finger den Krieg. (Ps 144,1)

Und den Abschluss des Psalters bildet in der LXX der abgeschlagene Kopf Goliats: Ich zog aus zur Begegnung mit dem Andersstämmigen, und er verfluchte mich mit seinen Götterbildern. Ich aber riss das Schwert, das er bei sich hatte, an mich, schlug ihm den Kopf ab und nahm (so) die Schmach weg von den Söhnen Israels. (Ps 151 LXX)

So ergibt sich als Fazit von 3: Die Überlieferungstendenzen, die wir unter 2. an den Vorstellungen zu Krieg und Frieden im Allgemeinen ablesen konnten, lassen sich wie in einem Vergrößerungsglas auch an den Davidtraditionen erkennen. Das Ineinander von scheinbar Gegensätzlichem wie Friedenssehnsucht und robuster Wehrhaftigkeit und umgekehrt von robuster Wehrhaftigkeit und Friedensbemühen ist ein Teil des Realismus der Hebräischen Bibel, die so in mancher Hinsicht eine römische Staatsweisheit vorausnimmt: »Si vis pacem para bellum«, »Wenn du den Frieden willst, musst du allzeit darauf vorbereitet sein, Angriffe auf dich und die Deinen abwehren zu können«. Dass die Staatsflagge Israels den Davidstern auf einem blauen Tallit trägt, d. h. das Wahrzeichen des mächtigen Soldaten auf einem Gebetsschal, ist ein besonders treffender Ausdruck für dieses Ineinander von militärischer und spiritueller Stärke.

4.

Ein Extremfall: Der Bann

Die Hebräische Bibel kennt die Kriegs»pflicht«, erbeutetes Gut und Menschen zu »bannen«. Das Wort chäräm hat die Grundbedeutung von »Ausgesondertes, Ausge-

§ 16 Krieg und Frieden

243

grenztes«,97 meint aber in diesem Kontext speziell »zur Vernichtung ausgesondert«98 und »Gott geweiht«. Es hat eine Beziehung zum Ganzopfer, dem Holocaust (Lev 1). So eroberten sie die Stadt und vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, Jung und Alt, Rindern, Schafen und Eseln. (Jos 6,20f.)

In diesem Sinne ist er auch in der Inschrift des moabitischen Königs Mescha aus dem 9. Jh. belegt,99 der Z. 16f. behauptet: »Ich habe 7000 Mann, Beisassen, Frauen, Beisassinnen und Sklavinnen getötet, denn ich habe sie dem Aschtar-Kamosch geweiht«. Im Krieg den Bann zu vollstrecken, gilt als ein hochheiliger kultischer Akt der Übereignung allen Lebens an die Staatsgottheit als dem eigentlichen Kriegsherrn. Entsprechend darf das Bann-Gut für keine anderen Zwecke mehr eingesetzt werden, es ist der menschlichen Verfügung und normalen Nutzung vollständig entzogen, d. h. es muss entweder in einen abgesonderten heiligen Raum gebracht oder aber völlig vernichtet bzw. getötet werden. Alles, was an Menschen mit dem Bann belegt wird, darf nicht ausgelöst werden: es muss getötet werden. (Lev 27,29)

Da der Begriff 77 mal vorkommt, erscheint der Bann als Teil der »normalen« Kriegsführung (z. B. Num 21,3; Jos 6,17f.; Ri 1,17). Dass Saul die »Vernichtungsweihe« nicht vollstreckt hat, scheint als unmoralisch und verwerflich gegolten zu haben (1Sam 15). Dieses horrende Abschlachten aller Bewohner einer Stadt inklusive Frauen, Kindern und Tieren ist abstoßend und schockierend, und es stellt sich die Frage, wie man damit umgehen soll. Ein gewisser erster Trost mag es sein, dass die Bannungen nicht in realen Kriegsschauplätzen stattfanden, sondern »nur« an den Schreibtischen der deuteronomistischen »Historiographen«. Ein zweiter positiver Aspekt besteht darin, dass ein wichtiges Motiv zum Krieg, nämlich Beute zu machen und Reichtum zu erwerben, damit wegfällt. Wenn man die reichen Beutelisten vergleicht, mit denen sich z. B. assyrische Könige brüsten, dann ist das totale Verbot, Beute zu machen, ein geradezu entscheidend wichtiger Beitrag zur Friedenswahrung. Bei allen Versuchen, den Bann als Gewaltimagination zu »verstehen« (Frank Crüsemann) und in die Realitäten der Antike einzuordnen (Manfred Weippert, Walter Dietrich), bleibt eine theologische Sachkritik hier aber unausweichlich notwendig. Sie wird in der Hebräischen Bibel selbst schon vollzogen, indem sie auf Überwindung des Bannes hofft: Es wird keinen Bann mehr geben; sondern Jerusalem wird sicher wohnen. (Sach 14,11)

97 Das hebräische Wort steckt auch in dem deutschen Wort »Harem«. 98 In diesem Sinne war der »Kirchenbann« zu verstehen, den z. B. Papst Leo X. gegen Luther verhängt hat. 99 Eine Übersetzung findet sich in: Texte aus der Umwelt des AT 1, 646–650.

244

5.

3. Kapitel: Gesellschaft

Fazit und Ausblick: Wehrhafter Wille zum Frieden

Die Welt der Hebräischen Bibel unterscheidet sich in vielen Aspekten nicht von der Welt des Alten Orients. Gegen Chaos und Unrecht hat der König die heilige Pflicht, Krieg zu führen. Die Welt ist voller Feinde, und es ist notwendig, um das nackte Überleben zu kämpfen und diese Feinde zu entmachten und niederzumachen; auch die Ehre der Nation ist als Kriegsgrund akzeptiert. Die Bibel ist nicht pazifistisch, aber im Unterschied zu den Umweltkulturen verherrlicht sie die Gewalt nicht kritiklos. Die Hebräische Bibel ist kein Quäkerbuch, aber das Buch Josua ist mitnichten ihr sachlicher Kern. Allerdings spielt Jhwh, der Gott Israels, wie alle altorientalischen Reichsgötter die Rolle eines Kriegsgottes, der eigenen Truppen zur Seite steht und sein Volk errettet. In manchen Aspekten unterscheidet sich die Hebräische Bibel aber doch vom Alten Orient, besonders in ihrer impliziten und expliziten Polemik gegen Kriege und in ihrer Art, Kriegen die ideologische Basis zu entziehen. Sie kennt die Realität des Krieges mit all seinen Schattenseiten – sehr oft aus der Perspektive der Opfer – und setzt sich intensiv mit militärischen Niederlagen auseinander. Gewiss kannte auch der Alte Orient Friedenssehnsucht. Die assyrischen Könige etwa begriffen ihre imperialistische Expansionspolitik sogar als Weg zum Frieden: Wenn alle Reiche unter einem König vereint sind, gibt es keine Aufspaltung in Machtblöcke mehr, und es kehrt Frieden ein. Gewiss gibt es auch in der Hebräischen Bibel die analoge Vorstellung, dass durch die Vernichtung aller heidnischen Bewohner des Landes eine friedliche geschlossene Gesellschaft entsteht. Aber in Israel erklingen auch andere Stimmen. Man kann viele Aspekte der Kriegstraditionen geradezu als einen Beitrag zur Friedensethik verstehen. Wenn die Initiative Jhwhs so massiv betont wird, dann wird damit die menschliche Aktivität geradezu abgewiesen. Wenn z. B. das Kriegsrecht in Dtn 20 frisch Verheiratete oder aktuelle Bauherrn von der Wehrpflicht ausnimmt oder wenn es die natürlichen Ressourcen auch der Feinde verschont, dann kann man das als subversive Polemik gegen die brutale Kriegspraxis der Assyrer lesen.100 In ähnliche Richtung weist der Umstand, dass hochgerüstete Riesenkämpfer verspottet werden. Goliat (und Saul) sind stark gepanzert: Auf seinem Kopf hatte er einen Helm aus Bronze, und er trug einen Schuppenpanzer aus Bronze, der fünftausend Schekel wog. Er hatte bronzene Schienen an den Beinen, und zwischen seinen Schultern hing ein Sichelschwert aus Bronze. Der Schaft seines Speeres war wie ein Weberbaum, und die eiserne Speerspitze wog sechshundert Schekel. Sein Schildträger ging vor ihm her. (1Sam 17,5–7, vgl. die weitgehend entsprechende Schilderung der Rüstung Sauls in V. 38f.)

Aber wenn Saul versucht, auch David mit schlagkräftigen Waffen auszustatten, dann wirkt das lächerlich; David »rüstet ab«, weil er in einer solchen Rüstung gar

100 So besonders Otto, Krieg und Frieden.

§ 16 Krieg und Frieden

245

nicht laufen kann (1Sam 17,39). Damit wird der Glaube an Hochrüstung satirisch betrachtet, und David bekennt wie ein Prediger programmatisch: Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen Jhwh Zebaots, des Gottes des Heeres Israels, den du verhöhnt hast. Heute wird dich Jhwh in meine Hand geben, dass ich dich erschlage und dir den Kopf abhaue und gebe deinen Leichnam und die Leichname des Heeres der Philister heute den Vögeln unter dem Himmel und dem Wild auf der Erde, damit alle Welt innewerde, dass Israel einen Gott hat, und damit diese ganze Gemeinde innewerde, dass Jhwh nicht durch Schwert oder Spieß hilft; denn der Krieg ist Jhwhs, und er wird euch in unsere Hände geben. (1Sam 17,45–47)

So wird aus dem Kriegsbericht eine Polemik gegen den Glauben an die Macht der Waffen: »Jhwh hilft nicht mehr gegen Waffen (so V. 45), sondern ohne sie. Das heißt, er hilft überhaupt nicht durch Krieg und im Krieg.«101 Diese Tendenz zur Pazifizierung steckt besonders in den gewaltig ausgebauten Berichten von den Jhwh-Kriegen. Viele dieser Kriege haben nach dem archäologischen Zeugnis nicht in der Realität stattgefunden. Es gab keine Massenvernichtung des ägyptischen Heeres bei der Errettung am Schilfmeer, es gab keine Posaunen vor Jericho, es gab keine Nacht des Todesengels, in der 185.000 assyrische Soldaten ausgelöscht worden wären. Auch die Erzählungen vom Gottesschrecken, der die Feinde zur Panik und zur Selbsttötung angetrieben habe, haben keine historische Aussagekraft. Um es mit einer im Englischen üblichen Unterscheidung zu sagen: Die große Mehrzahl der Kriegsberichte sind story, nicht history. Die ganz großen Blutbäder haben nur am Schreibtisch stattgefunden. Das möge auch eine Hilfe zum theologischen Verstehen sein. Da nur Gott selbst im Krieg die Wunder wirken kann, beinhalten die Geschichten auch keinen impliziten Appell an die Jhwh-Verehrer zum Krieg. Aber die Hebräische Bibel erhofft und will letztlich die Überwindung der Gewalt durch Recht und Gerechtigkeit. Man darf nicht völlig anachronistisch aus modernen Friedensgedanken Anforderungen an die Bibel stellen: Toleranz gegenüber allen Religionen, absolute Gleichstellung aller Menschen, offene Grenzen und reger Kulturaustausch: Das sind keine allezeit und überall vertretenen Werte; sie kommen aber dennoch vor, besonders in der Weisheitsliteratur, und sie bilden den Inhalt eschatologischer Hoffnungen! In dieser Welt aber ist die Existenz Israels vielfach bedroht. Die Hebräische Bibel bezeugt den Glauben und die Hoffnung, dass der Gott Israels für sein Volk als Kriegsmann in die Geschichte eingreift, ja es weiß sogar um endzeitliche Kriegsdramen beim blutigen Völkersturm und dessen Abwehr, aber es hofft auf ein Ende des Krieges und jeder Form von Gewalt. Am Ende wird der Krieg nicht mehr sein. Gott wird »abwischen alle Tränen« (Jes 25,8). Man muss die halb oder ganz mythischen Kriegstexte auf das Daseinsverständnis hin analysieren, das sich in ihnen ausspricht: Gottes Wege führen letztlich zur Aussöhnung mit den Erzfeinden und zu einem weltweiten ewigen Frieden. Israel verdankt seine Existenz der Gnade Gottes. Es hat trotz aller Anfeindungen gelernt, auf Gott sein Vertrauen zu setzen und auf seine wunderhafte Rettung zu hoffen.

101 Dietrich, David und Goliat, 191.

246

3. Kapitel: Gesellschaft

Martin Luthers Paraphrase von Ps 46 wurde zur Hymne der Reformation. Dieses Lied trifft (wenn man von der christologischen Zuspitzung absieht) den Geist der Hebräischen Bibel, der es ja auch dem Wortlaut nach weitgehend entnommen ist, sehr gut: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Der alt böse Feind mit Ernst er’s jetzt meint, groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinsgleichen. Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren; es streit’ für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten.

Bibliographie Albertz, Rainer, Schalom und Versöhnung. Alttestamentliche Kriegs- und Friedenstraditionen: ThPr 18 (1983), 16–29. Ballard, Harold Weyne, The Divine Warrior Motif in the Psalms (BIBAL Dissertation Series 6), North Richland Hills, 1999. Bloch-Smith, Elizabeth M., The Impact of Siege Warfare on Biblical Conceptualizations of YHWH: JBL 137 (2018), 19–28. Buggle, Franz, Denn sie wissen nicht, was sie glauben, Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Aschaffenburg 2012. Crouch, Charly Lorraine, War and Ethics in the Ancient Near East. Military Violence in Light of Cosmology and History (BZAW 407), Berlin u. a. 2009. Crüsemann, Frank, »Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein« (Jes 32,17). Aktuelle Überlegungen zur christlichen Friedensethik: Ders., Maßstab: Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 126–146. Ders., Gewaltimagination als Teil der Ursprungsgeschichte. Banngebot und Rechtsordnung im Deuteronomium: Schweitzer, Friedrich (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, 343–360. Davis, Kipp/Baek, Kyung S./Flint, Peter W./Peters, Dorothy (Hg.), The War Scroll, Violence, War and Peace in the Dead Sea Scrolls and Related Literature. FS Martin G. Abegg (Studies on the Texts of the Desert of Judah 115), Leiden/Boston 2015 Dietrich, Walter, Die Erzählung von David und Goliat: ZAW 108 (1996), 172–191. Ders., Bannkriege in der frühen Königszeit: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments (BWANT 156), Stuttgart 2002, 146–156. Ders., Ungesicherter Friede? Das Ringen um ein neues Sicherheitsdenken im Alten Testament: Ders., Theopolitik. Studien zu Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 98–116. Ders., David. Der Herrscher mit der Harfe (Biblische Gestalten 14), Leipzig 22016. Ders./Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1, Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn, 6 2015, 195–201. Frevel, Christian, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke? Die These Martin Noths zwischen Tetrateuch, Hexateuch und Enneateuch: Rüterswörden, Udo (Hg.), Martin Noth – aus der Sich der heutigen Forschung (BThSt 58), Neukirchen-Vluyn 2004, 60–95.

§ 16 Krieg und Frieden

247

Gelardini, Gabriella, Christus Militans. Studien zur politisch-militärischen Semantik im Markusevangelium vor dem Hintergrund des ersten Jüdisch-Römischen Krieges (NTS 165), Leiden 2016. Kunz-Lübke, Andreas, Ablehnung des Krieges. Untersuchungen zu Sacharja 9 und 10 (HBS 17), Freiburg 1998. Michel, Andreas, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (FAT 37), Tübingen 2003. Miller, Patrick, The Divine Warrior in Early Israel (HSM 5), Cambridge 21975. Noth, Martin, Überlieferungeschichtliche Studien. Teil 1: Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Halle 1943. Oeming, Manfred, Friedensbegriff und Friedensauftrag im Alten Testament. Biblische Impulse zur Vision vom Frieden: Garber, Klaus u. a. (Hg.), Der Frieden – Rekonstruktion einer europäischen Vision, München 2002, 27–44. Ders., Das alttestamentliche Kriegsrecht als Mittel zur Überwindung des Krieges: Ber, Viktor (Hg.), Nomos and Violence. Dimensions in Bible and Theology (BVB 35), Münster 2019, 77–95. Otto, Eckart, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Moderne, Stuttgart 1999. Rad, Gerhard von, Der heilige Krieg im alten Israel, Göttingen 1951, 51969. Römer, Thomas, Das deuteronomistische Geschichtswerk und die Wüstentraditionen der Hebräischen Bibel: Stipp, Hermann-Josef (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk (Österreichische Biblische Studien 39), Frankfurt a. M. 2011, 55–88. Schmidt, Rüdiger, Der »Heilige Krieg« im Pentateuch und im deuteronomistischen Geschichtswerk. Studien zur Forschungs-, Rezeptions- und Religionsgeschichte von Krieg und Bann im Alten Testament (AOAT 381), Münster 2011. Stolz, Fritz, Jahwes und Israels Kriege. Kriegstheorien und Kriegserfahrungen im Glauben des alten Israel (AThANT 60), Zürich 1972. Trimm, Charles, Recent Research on Warfare in the Old Testament: CBR 10, 2012, 171–216. Waschke, Ernst-Joachim, Die Vorstellung vom Krieg nach Dtn 20: Stengel, Friedemann/Ulrich, Jörg (Hg.), Kirche und Krieg. Ambivalenzen in der Theologie, Leipzig 2015, 13–28. Weippert, Manfred, »Heiliger Krieg« in Israel und Assyrien: ZAW 84 (1972), 460–493. Wellhausen, Julius, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 91958. Wellhausen, Julius, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin, 61927.

4. Kapitel: Religionsausübung

§ 17 Orte der Heiligkeit Wolfgang Zwickel, Mainz

1.

Tempel in der Bronzezeit in Palästina

Seitdem es Kultur gibt, gibt es auch Religion. Die ältesten künstlerisch gestalteten Relikte, die wir besitzen, werden heute in der Regel mit religiösen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Der Mensch ist ein homo religiosus. Dies lehrt uns die Archäologie, die die religiösen Produkte menschlichen Kulturschaffens erfasst, sehr eindrücklich.1 Im religiös-künstlerischen Schaffen der Menschen spielten von Anfang an die Bitten um göttliche Fürsorge für ein lebenswertes Leben und die Sicherheit des Alltags eine zentrale Rolle. Abbildungen von Herdentieren (vor allem Schafe) sollten wohl verdeutlichen, dass der jeweils angebeteten Gottheit die Geburt dieser Tiere zu verdanken ist – und damit der Erhalt der Lebensgrundlage von Kleinviehzüchtern. Wildtiere wie Löwen etc. stellten dagegen eine Bedrohung dar; sie abzubilden, kam vermutlich einer Bitte um Bewahrung vor der Gefährlichkeit dieser Tiere durch die angebetete Gottheit gleich. Abbildungen von Pflanzen jeglicher Art (u. a. des Lebensbaumes) symbolisierten die Bitte der Landwirtschaft treibenden Ackerbauern um die Versorgung mit ausreichend Nahrung. Figurinen von gebärenden Frauen bzw. in späterer Zeit von stillenden Müttern bzw. hochschwangeren Frauen sollten die göttliche Fürsorge für den im Altertum höchst lebensgefährlichen Geburtsvorgang und gleichzeitig den Fortbestand der Familie erbitten. Wesentliche Inhalte der Frömmigkeit der Menschen waren somit die Bitten um die elementaren Formen der Lebenssicherung und -erhaltung: Fruchtbarkeit des Ackerbodens, der Tiere und der Menschen, verbunden mit dem Schutz vor lebensbedrohenden Gefahren. Erste Kultstätten und damit die frühesten Plätze, an denen der Kult an einen festen Ort gebunden wurde, lassen sich für den palästinischen Raum im ausgehenden Neolithikum nachweisen. Damit wurde zwar wohl nicht sofort, aber doch auf einer recht frühen Stufe der Entwicklung eine besondere Berufsgattung geschaffen:

1 Für die entsprechenden Kunstwerke der Levante s. die von Silvia Schroer herausgegebenen Bände von IPIAO.

§ 17 Orte der Heiligkeit

249

Speziell eingesetzte Priester hatten das Heiligtum zu pflegen und zu versorgen, sie waren die »Hausmeister« der Kultstätte, und sie wurden dann auch als Mittler zwischen Gottheit und Beter angesehen. Sie verfügten über ein »Spezialwissen«, wie Kultpraktiken (Opfer, Gebete etc.) zu verrichten waren, sie standen im Gegensatz zum Laien in einer besonderen Gottesbeziehung, sie waren Träger des religiösen und dann auch des heilsgeschichtlichen Wissens und bildeten zunehmend eine Elite in der damaligen Gesellschaft. Mit der Herausbildung einer Priesterschaft ging der Aufschwung der Tempel als Kultstätten einher. Ein hoher Arbeitsaufwand musste von den Bewohnern eines Ortes geleistet werden, um die Tempel zu erbauen und zu pflegen. Teilweise bekamen die Tempel mächtige Mauern und stellten die höchsten Gebäude eines Ortes dar. Die Arbeit am Tempelbau, aber auch die Erhaltung des Tempels, waren eine Form des »Gottesdienstes« der Bevölkerung bzw. der Elite des Ortes mit dem Stadtfürsten oder König an der Spitze. Im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs2 erwartete man bei entsprechender Pflege und Ausgestaltung der Kultstätten auch den Einsatz der Gottheit für die Angelegenheiten der Ortsbewohner. Häufig lässt sich eine große räumliche Nähe von Tempel und Palast beobachten. Der Ortsgott sollte einerseits den Bestand der weltlichen Macht sicherstellen. Andererseits gehörten die Verehrung und die Pflege des lokalen Gottes zu den grundlegenden Aufgaben des lokalen weltlichen Führers. In der Bronzezeit entstanden so in allen größeren Ortschaften mächtige Tempelbauten, die auch über einiges Kultinventar verfügten. Es entwickelte sich ein lokaler Kult für jeweils eine bestimmte Stadtgottheit, deren Namen häufig in den Stadtnamen enthalten ist (z. B. Bet-El = Haus des [obersten Gottes] El; Bet-Schemesch = Haus des [Sonnengottes] Schemesch; Jerusalem = Gründung des [Gottes] Schalim; Jericho = [Ort des Mondgottes] Jareach). Während Vorhöfe und wahrscheinlich sogar der Tempel selbst in der Bronzeund Eisenzeit von Kultteilnehmern betreten werden durften, stellten Nischen oder aber Podien im hintersten Teil des Heiligtums einen besonders heiligen Bereich dar. Hier dürften die Statuen der Gottheiten, aber auch spezielle Opfergaben aufgestellt gewesen sein, und diesen Bereich (inklusive der Treppen zu Podien) zu betreten war niemandem erlaubt. Im Bereich der Podien zu agieren war allein priesterliches Vorrecht.

2.

Nomadische Heiligtümer

Die religiöse Kultur der Nomaden ist bislang nur wenig erforscht. Die einschlägigen biblischen Texte vor allem in der Genesis wurden von Städtern und nicht von Nomaden verfasst und können darum nicht als adäquates Zeugnis nomadischer Religion verstanden werden. Typisch für die nomadische Tradition sind Kultstätten, die mit Theophanien verbunden sind (Gen 16,7–14; 21,14–21; 31,13; 32,23–33). Diese

2 Siehe dazu § 23 in diesem Band.

250

4. Kapitel: Religionsausübung

wurden oft jahrhundertelang verehrt. Nicht zufällig lagen sie oft an häufig begangenen Handels- und Weidepfaden. Diese offenen Kultstätten wurden jedoch nach unserem bisherigen Wissen kaum mit größerer Architektur ausgestattet. Sie sind daher archäologisch nur schwer auszumachen. Altarbauten an wichtigen Stadtheiligtümern wie More bei Sichem (Gen 12,6), Mamre bei Hebron (Gen 13,18), Beerscheba (Gen 21,33) oder Bet-El (Gen 28,10–22; 35,1–35) bzw. zwischen Bet-El und Ai (Gen 12,8) wurden von sesshaften Schreibern auf einer rein literarischen Ebene gern mit den nomadisierenden Erzeltern verbunden, um den Heiligtümern so eine größere Bedeutung zu geben; sie sind ursprünglich aber kaum nomadischen Ursprungs.

3.

Sinai/Horeb

Eine Lokalisierung des Berges Sinai auf der Sinaihalbinsel lässt sich erst seit dem 4. Jh. n. (!) Chr. nachweisen und trifft wohl nicht die biblischen Gegebenheiten. Ältere Texte (Dtn 33,2; Ri 5,5; Ps 68,9.18; vgl. Hab 3,3 und die Inschriften von Kuntilet Ajrud, die eine Herkunft Jhwhs aus Teman im südlichen ostjordanischen Raum voraussetzen) lokalisieren ihn auf Grund des Parallelismus membrorum im Bereich Edoms (d. h. der Region östlich der Senke Araba und nördlich des Golfs von Aqaba). In diesem Raum, vielleicht übergreifend auch im Bereich des südlich benachbarten Midian (Ex 3,1, dort jedoch Horeb, s. u.), muss der Ursprung des Jhwh-Glaubens gesucht werden. Allerdings lässt sich der Sinai nicht mehr genau lokalisieren. Die Charakterisierung Jhwhs als Wettergott (Ri 5,5; vgl. 1Kön 18), dessen Auftreten mit starken Niederschlägen verbunden ist, lässt vermuten, dass er in denjenigen Gebieten Edoms nördlich von Petra gesucht werden muss, in denen die Niederschläge die 500 mm-Marke übersteigen. In der spätvorexilischen Zeit scheint das exakte Wissen um die konkrete Situierung des Sinai in Juda verloren gegangen zu sein, was angesichts des Abbruchs der politischen Beziehungen Judas zu Edom und damit auch der Beendigung einer ursprünglichen Kultpraxis an diesem Berg nicht verwunderlich ist. Damit wurde dieser Name für deuteronomistische und priesterschriftliche Kreise3 frei für eine neue theologische Füllung, die unabhängig von einer exakten Lokalisierung war. Die gesamte Sinaiperikope Ex 19 – Num 10 lokalisiert hier die Übergabe der Gesetze Gottes an das Volk (vgl. Neh 9,13f.), aber auch die Errichtung eines wandernden Wüstenheiligtums (s. u.). Jhwh erscheint dort in Rauch (Ex 19,18) oder in einer Wolke (Ex 24,16), was als Theophanieerscheinung verstanden werden muss und nicht mit einem in der Antike aktiven Vulkan verbunden werden darf. Da Jhwh als heiliger, unnahbarer Gott verstanden wurde, wurde auch sein gesamter heiliger Berg zu einer Tabuzone, die von Menschen nicht oder im Fall des Mose nur unter bestimmten Voraussetzungen betreten werden darf (Ex 19,23).

3 Es sind dies judäische Theologen und Literaten der exilisch-nachexilischen Zeit. Siehe Abschnitt 2.4 im vorliegenden Band.

§ 17 Orte der Heiligkeit

251

Eine völlig eigenständige Tradition scheint diejenige des Gottesberges Horeb zu sein, der mit dem Sinai in der Spätzeit offenbar harmonisierend verbunden wurde (vgl. Dtn 9,8–15; 1Kön 8,9; Mal 3,22; Ps 106,19; 2Chr 5,10), obwohl an keiner Stelle Sinai und Horeb ausdrücklich identifiziert werden. Dieser Berg liegt im Gebiet Midians, d. h. im Bereich östlich oder nordöstlich des Golfs von Aqaba (Ex 3,1). Innerhalb der Sinaiperikope wird der Horeb nur in Ex 33,6 erwähnt und hier wohl mit dem Sinai gleichgesetzt. Ansonsten findet sich der Horeb vor allem in deuteronomischdeuteronomistischer Literatur. Die betreffenden Autoren hatten offenbar noch eine ungefähre Vorstellung von der Lage des Horeb (vgl. Dtn 1,2; 1Kön 19,8). In der genannten Literatur ist der Horeb ein Erscheinungsort Jhwhs, an dem er zum Volk (allerdings unmittelbar, ohne den Mittler Mose) spricht (Dtn 1,6; 4,10.15; 5,4), wobei Jhwh hier nicht aus der Wolke, sondern aus dem Feuer spricht (Dtn 4,15; 5,4; 18,16; bewusst anders die Theophanie in 1Kön 19). Jhwhs ursprüngliche Verehrungsorte waren demnach Berge, die im edomitischen und midianitischen Gebiet lagen. Diese Berge sind der Wohnort Jhwhs – und damit dem Zaphon als Götterberg nördlich von Ugarit (vgl. die Ugarit-Mythen und Jes 14,13) oder dem Olymp in der griechischen Mythologie vergleichbar. Diese Vorstellung des Gottesberges als Wohnort Jhwhs wurde später auch auf den Zion in Jerusalem übertragen (Ps 48,3). Die altorientalische Vorstellung geht in der Regel davon aus, dass es für eine Gottheit gleichzeitig ein himmlisches Heiligtum (bzw. ein auf einem hohen, in der Regel unzugänglichen Berg gelegenes Heiligtum) und ein irdisches Heiligtum gab, an dem die Beter ihren Kult praktizieren konnten. Beide Wohnstätten Gottes waren durch Bergabhänge, durch Rampen (z. B. die Zikkurats in Mesopotamien oder Gen 28,10–22 in Bet-El), durch eine vertikal gedachte Achse oder durch den überdimensional großen Körper der Gottheit, die an beiden Wohnstätten beheimatet ist (Jes 6), verbunden.

4.

Der Umbruch von der Spätbronze- zur Eisenzeit

Der Übergang von der Stadtstaatengesellschaft der Spätbronzezeit, in der es in jedem Stadtstaat mindestens einen Tempel gab, zu der sich allmählich entwickelnden Territorialstaatgesellschaft, die sich in der Eisenzeit I herausbildete, drückte sich auch im Bereich des Kults aus. Nahezu alle spätbronzezeitlichen Tempel wurden aufgegeben, keiner überlebte bis in die Eisenzeit II. Während in den wenigen verbliebenen Stadtstaaten4 anfangs noch Tempel existierten, wurden überall sonst im Land neue Heiligtümer errichtet, die keinen festen Tempelbau besaßen. Es waren dies sog. Kulthöhen (hebr. bāmāh). Es genügte ein Baum auf einer Berghöhe, der wegen seiner Blätterpracht ein Symbol der Fruchtbarkeit des Landes war und deshalb auch leicht mit der Göttin Aschera verbunden werden konnte, der aber

4 Als solche bestanden Jerusalem, Gezer, Keïla, Bet-Schemesch und Bet-Schean teilweise bis in die Frühzeit Salomos.

252

4. Kapitel: Religionsausübung

auch den nötigen Schatten spendete, um einen ganzen Kulttag – vor allem an den Wallfahrtsfesten (Pässach, Wochenfest, Herbst- oder Laubhüttenfest), aber auch im gut 14-tägigen Rhythmus entsprechend dem Mondkalender, d. h. am Vollmond- und am Neumondtag – in der Tageshitze die Zeit zu verbringen. Neben einem Baum wird es noch einen einfachen, wahrscheinlich unbearbeiteten Stein als Altar zum Schlachten der Opfertiere und vielleicht ein einfaches Götterbild oder einen aufgerichteten Stein (die sog. Massebe) als Kultausstattung gegeben haben. Gelegentlich existierte auch noch ein Gebäude in der Nähe, das für das gemeinsame Essen der geopferten Tiere genutzt wurde (vgl. 1Sam 9,22). Eine solche Kulthöhe diente jeweils den Bewohnern der Umgebung in einem Umkreis von ca. 5–10 Kilometern als regionale Kultstätte für alle Feierlichkeiten. Da die Bausubstanz sehr gering war, sind diese Kultstätten nur schwer archäologisch nachzuweisen.

5.

Das Heiligtum in Schilo

Eine Sonderrolle scheint Schilo innegehabt zu haben. Hier dürfte für einige Zeit ein zentrales Heiligtum für ganz Israel (oder zumindest für einige Stämme des mittelpalästinischen Berglandes) existiert haben, in dem die Lade aufbewahrt wurde5 und das von den Israeliten im Rahmen von Wallfahrten besucht wurde (1Sam 1–3). Die Siedlung wurde im 11. Jh. v. Chr. zerstört, wahrscheinlich durch die Philister (vgl. 1Kön 2,27; Jer 7,12–14; 26,6.9). Bei den Ausgrabungen in Schilo wurde bisher allerdings kein Kultgebäude gefunden. Dennoch spricht einiges dafür, dass man hier die spätbronzezeitliche Tradition eines festen Tempelbaus (anstatt der sonst üblichen Kulthöhen) zu bewahren suchte und ein zentrales Heiligtum für die Bewohner des Berglandes in dieser Art gestaltete.

6.

Die Lade

Die Lade Els (älteste Variante) bzw. Jhwhs (etwas jüngere Variante) – die Bezeichnung »Bundeslade« erhielt dieser Kultgegenstand erst in relativ später Zeit – war ein transportabler Kasten, der ursprünglich leer war; erst eine späte Tradition sucht hier den Lagerort der Gesetzestafeln. Vertraut man den allerdings sehr späten Angaben von Ex 25,10, war sie 2,5 x 1,5 x 1,5 Ellen (1,25 x 0,75 x 0,75 m) groß und mit zwei Stangen zum Tragen versehen. Erst die in spätexilischer oder gar nachexilischer Zeit verfasste Priesterschrift verstand die Lade als einen Kasten, auf dessen Deckel zwei einander gegenüberstehende Keruben angebracht waren. Die vorexilische Überlieferung verstand die Lade dagegen als einen tragbaren Kasten, der nach der Errichtung des Salomonischen Tempels unter den Kerubenthron gestellt wurde und dort dem virtuell vorgestellten, sitzenden Jhwh als Fußschemel diente. Schon die Tatsache, dass die Lade aus Akazienholz hergestellt war, einer Holzart, die im Salomonischen Tempel sonst keine Rolle spielte, verweist auf eine eigenständige 5 Zur Lade siehe den nächsten Punkt 6.

§ 17 Orte der Heiligkeit

253

Ladetradition. Sinnvolle Parallelen für diesen Kultgegenstand findet man in Ägypten, wo die (relativ kleinen) Götterbilder, die sonst das ganze Jahr in Schreinen aufbewahrt wurden, bei Prozessionen auf derartigen Kästen der Öffentlichkeit präsentiert und herumgetragen wurden. Die Lade war wohl ursprünglich ein transportables Heiligtum für eine El-Figur, die auf ihr aufgestellt wurde und die den höchsten Gott in Isra-El repräsentierte. Sie konnte auch in den Krieg mitgenommen, aber dabei auch von Feinden erbeutet werden (1Sam 4,11). David brachte diesen Kultgegenstand des Nordreichs nach Jerusalem (2Sam 6), wo er zunächst an der Gihonquelle aufgestellt wurde, dann aber (ohne Bild Els) von Salomo in das neue Heiligtum Israels und Judas auf dem Tempelberg als Fußschemel unter dem Kerubenthron integriert wurde (1Kön 8). Damit wurde die Lade Els allmählich zur Lade Jhwhs und nach ihrem Verschwinden bei der Eroberung Jerusalem 587 v. Chr. auch zum mythischen Ort, an dem der Bund Gottes mit seinem Volk in Form der Gesetze beheimatet war.

7.

Das Zeltheiligtum in Jerusalem

Als David die Lade nach Jerusalem gebracht hatte, errichtete er neben dem noch bestehenden Stadttempel an der Gihonquelle in Jerusalem ein kleines Freiluftheiligtum, zu dem auch ein Zelt gehörte (2Sam 6,17; 1Kön 1,33.38). Ein solches Heiligtum kann durchaus als Kulthöhe verstanden werden, auch wenn es in diesem Fall an einem relativ tiefen Punkt errichtet wurde. Archäologisch ist für Timna im Arabagraben nachgewiesen, dass es derartige Zelte als Teil eines Heiligtums gab. Somit existierten in Jerusalem zwei Heiligtümer (neben einigen weiteren lokalen Heiligtümern, z. B. auf dem Ölberg): der Stadttempel in der Davidsstadt, in dem wohl der Stadtgott Schalim, vielleicht auch der Gott Zedeq verehrt wurden (bisher nicht archäologisch erfasst), und das Jhwh geweihte Zeltheiligtum an der Gihonquelle. Erst unter Salomo wurden mit dem Bau des neuen Tempels die beiden unterschiedlichen Heiligtümer in eines zusammengeführt, wobei nun Jhwh der neue Stadtund Königsgott wurde, der zunehmend Züge anderer Götter (neben Schalim und Zedeq vor allem El) in sich integrierte. Das Zeltheiligtum an der Gihonquelle wurde dann später zur historischen Vorlage für die fiktive Ausgestaltung des priesterschriftlichen Zeltheiligtums.6

8.

Der Salomonische Tempel

Der Tempelneubau Salomos (1Kön 6–8) ist einerseits ein typisches, in spätbronzezeitlicher Tradition stehendes Stadtheiligtum, übernimmt aber auch die Rolle Schilos als zentrales, landesweit relevantes Heiligtum in der Stadt des Königs. Die Errichtung unmittelbar neben dem Königspalast zeigt deutlich die enge Beziehung zwischen Kult und Politik an. Trotzdem ist der König nicht, wie oft vermutet wurde, 6 Siehe unten Punkt 14.

254

4. Kapitel: Religionsausübung

oberster Kultherr, sondern nur für die Aufrechterhaltung des Kultes und des Tempelbaus verantwortlich. Der Tempel und der Palast wurden nördlich der Wohnstadt Jerusalem auf bis dahin vermutlich nicht bebautem Gelände errichtet. Der Tempel war ein für die Eisenzeit enorm großer Bau; die Innenmaße des Hauptraums waren immerhin 30 x 10 m. In der Levante war nach heutigem Wissen in vorhellenistischer Zeit einzig der Tempel in Aleppo, einer der bedeutendsten Handelsstädte der Antike, größer. Die Architektur ist auch theologisch bemerkenswert. Bei keinem anderen Tempel der Eisenzeit ist das Verhältnis von Länge zu Breite mit 3:1 derart stark ausgeprägt. Normal ist eher die Relation 2:1 bis 2,5:1. Durch diese Längsausrichtung wird die Heiligkeit Jhwhs betont, ähnlich einem gotischen Kirchenbau. Während der Grundriss in einer syrisch-palästinischen Tradition steht, nimmt das Allerheiligste (hebr. debîr) mit den dort aufgestellten Keruben ägyptische Traditionen eines Kultschreins auf. Die Kultgerätschaften (Säulen Jachin und Boas vor dem Tempel, Ehernes Meer, Kesselwagen) enthalten Pflanzenmotive (Lotos, Lebensbaum) und verdeutlichen so, dass der Nationalgott Jhwh für das sich stets erneuernde Leben (creatio continua) verantwortlich ist. Die Keruben sind göttliche Wächter für den Schutz des Tempels. Weder vom Salomonischen noch vom Herodianischen Tempel konnten bisher Reste gefunden werden. Zumindest ein literarkritisch zu erhebender Grundbestand der Beschreibung der Tempelgerätschaften kann auf Grund archäologischer Parallelen von anderen Stätten dem 10. oder 9. Jh. v. Chr. zugewiesen werden.

9.

Die Erweiterungsmaßnahmen im Bereich des Salomonischen Tempels

Der Jerusalemer Tempel war anfangs vor allem die Kultstätte der Hauptstadt Jerusalem und wurde wohl nur gelegentlich von anderen Bewohnern Israels und Judas besucht. Im 8. Jh. v. Chr. bekam die Wallfahrt jedoch eine höhere Bedeutung, und der Besucherandrang stieg an. Das Tempelareal wurde nun zu Lasten des Palastvorhofes vergrößert und erstmals ein Brandopferaltar im Hof aufgestellt (2Kön 16). Brandopfer waren bis dahin eher unüblich und wurden vor allem im Vorfeld von Kriegszügen zur Gewinnung der Zustimmung Jhwhs verwendet. Die normalen Opfer waren Schlachtopfer, wobei die Priester einen Teil erhielten, Jhwh das Blut (als Träger des Lebens) und das Fett (als wertvollster Teil des Tieres) übereignet und der Rest im Kreis der Familie gegessen wurde. Hierfür benötigte man nur einen Räucheropferaltar am Eingang des Tempels (2Kön 12,10), auf dem die Fettpartien verbrannt wurden. Der Tempel wurde von den Babyloniern 587/6 v. Chr. völlig zerstört.

10.

Die Kultanlagen des Nordreichs

Nach der Reichsteilung hatte Juda mit dem Salomonischen Tempel weiterhin ein zentrales Heiligtum. Jerobeam I. musste dagegen neue Heiligtümer für das nun selbstständige Nordreich errichten. Die Kultstätte in Schilo war zerstört. Jerobeam

§ 17 Orte der Heiligkeit

255

errichtete an der Südgrenze Israels in Bet-El und an der Nordgrenze in Dan jeweils ein Grenzheiligtum. Damit wurde der kriegerische Aspekt Jhwhs betont: Die Heiligtümer befanden sich nicht in der Mitte des Reiches, sondern an den Grenzen und sollten so das Territorium Israels gegen Feinde schützen. Dan war zudem teilweise unter aramäischer Kontrolle, so dass nur noch Bet-El als Grenzheiligtum zur Verfügung stand. Möglicherweise bestanden allerdings auch in Gilgal und auf dem Karmel ähnliche Grenzheiligtümer, die jedoch in der Hebräischen Bibel nie als solche bezeichnet werden. Insgesamt fällt aber auf, dass archäologisch weder in Juda noch in Israel weitere Heiligtümer nachgewiesen sind, während in den Nachbarregionen Philistäa, Phönizien, Aram-Damaskus, Ammon, Moab und Edom jeweils mehrere Tempel oder Kultstätten ausgegraben wurden, obwohl die Grabungsdichte dort wesentlich geringer ist.

11.

Der Tempel in Arad und die Kultnische in Kuntilet Ajrud

Während in den Nachbarländern Israels und Judas inzwischen zahlreiche eisenzeitliche Tempel nachgewiesen sind, fehlen solche bislang in Israel und Juda für die Eisenzeit vollständig. Lediglich in der Festung Arad (ca. 60 km südlich von Jerusalem) wurde ein Tempel gefunden. Dieser Tempel diente, den Tempeln in Bet-El und Dan funktional vergleichbar, als Grenzheiligtum dem religiösen Schutz der Südgrenze Judas, aber auch als letzte Gebetsstätte für die gefährliche Reise durch ungeschütztes Gebiet im Süden. Eine ähnliche Funktion dürfte auch eine Nische in einem Heiligtum in Kuntilet Ajrud im Negev, an einer Handelsstraße vom Mittelmeer zum Golf von Aqaba gelegen, gehabt haben, wo man mehrere religiöse Inschriften fand.

12.

Der Untergang des Tempels als theologische Anfrage

Der Untergang Jerusalems und Judas im Rahmen der babylonischen Eroberung 587/ 586 v. Chr. bedeutete einen markanten Einschnitt nicht nur für den realen Tempelbau, sondern auch für das Gottesverständnis. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man in den Tempel gehen und seine Sorgen und Nöte vor Gott ausbreiten. Die altorientalische Vorstellung ging von einem irdischen Heiligtum Gottes aus, das durch eine vertikale Achse mit der himmlischen Wohnstatt dieses Gottes verbunden war.7 Mit der Zerstörung Jerusalems gab es den irdischen Begegnungsort mit Gott nicht mehr. So entstand die Vorstellung, dass Gott allein im Himmel wohnt und die Erde allenfalls sein Fußschemel (Jes 66,1; im Salomonischen Tempel war dies die Lade!) sei. In dem in nachexilischer Zeit wiederaufgebauten Tempel selbst sei dagegen nur eine Erscheinungsform Jhwhs präsent (kābôd Jhwh). Die theologische Krise, die mit der Zerstörung des Tempels verbunden war, konnte so in nachexilischer Zeit auf einer theologischen Ebene behoben werden: Jhwh hat anstelle des himmlischen 7 Vgl. oben Punkt 3.

256

4. Kapitel: Religionsausübung

und des irdischen Heiligtums nur noch ein himmlisches Heiligtum. Damit war er aber auch nicht mehr an die Kultstätten in Jerusalem, Bet-El und Dan gebunden, sondern konnte »vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang« (Mal 1,11) überall weltweit verehrt werden – für die Diasporagemeinden und die Synagogenbauten eine wichtige Grundlage.

13.

Der Tempelbauentwurf des Ezechiel

Der Tempelbau des Ezechiel (Ez 40–47) ist zwar ein fiktionaler Entwurf, wie der neue Tempel in nachexilischer Zeit aussehen könnte. Zumindest ansatzweise wurde dieser Idealentwurf aber in nachexilischer Zeit sowohl in Jerusalem als auch auf dem Garizim umgesetzt. Judäer und Samarier hatten somit jeweils ihr eigenes Heiligtum »an der Stätte, die Jhwh erwählt hat, um dort seinen Namen wohnen zu lassen« (Dtn 12,4 u. ö.). Diese undifferenzierte Formulierung konnte von beiden Gruppen je für sich in Anspruch genommen werden. Die beschriebenen 6-KammerTore sind Anlehnungen an vorexilische Torbauten und für die Perserzeit völlig ungewöhnlich, wurden aber zumindest auf dem Garizim realisiert. In Jerusalem gibt es Anzeichen dafür, dass die Tempelplattform mit einer Größe von 500 x 500 Ellen (ca. 250 x 250 m) realisiert wurde; auf dem Garizim war dies aus statischen Gründen wegen der begrenzten Fläche auf dem Gipfel nicht möglich. Drei grundlegende Änderungen gibt es gegenüber dem vorexilischen Tempel. Zum einen fehlt nun jeglicher Palastbau auf dem Tempelareal. Der (real nicht mehr existierende) irdische König hat seine Relevanz verloren, das Heiligtum Jhwhs tritt an seine Stelle. Zum zweiten wird Jhwh nicht mehr als selbst im Tempel wohnend und thronend gedacht, sondern nur noch die »Herrlichkeit Jhwhs«, gewissermaßen eine Erscheinungsform Gottes, ist im Tempel präsent (Ez 43). Schließlich sind nicht nur der Tempel und das Tempelareal, sondern auch die den Tempel umgebende Stadt heilig; sie soll sogar einen neuen Namen erhalten: »Jhwh ist dort« (Ez 48,35). Damit bekommen Jerusalem, aber auch die Tempelstadt auf dem Garizim, eine neue Wertigkeit: Die Stadt und nicht nur das Tempelareal sind Orte der Heiligkeit Gottes. Der Text in Ez 40–47 wurde wahrscheinlich mehrfach redaktionell überarbeitet und jeweils den Änderungen bei dem Bauprogramm in Jerusalem angepasst. Der fiktionale Tempelentwurf des Ezechiel sollte so immer dem aktuellen Baustand auf dem Jerusalemer Tempelplateau entsprechen.

14.

Das priesterschriftliche Heiligtum

Der priesterschriftliche Entwurf eines wandernden Wüstenzeltes als Ort der Präsenz Jhwhs (Ex 25–40) ist neben Ezechiel ein weiterer fiktionaler Entwurf für die Zukunft eines Jhwh-Heiligtums nach dem Exil. Die hierfür verwendeten Materialien (z. B. Delfinhäute oder Byssos) sind extrem kostbar und nicht gerade typisch für ein Wüstenzelt. Vielmehr soll durch diese Materialien die Heiligkeit und Bedeutung Jhwhs herausgestrichen werden. Mit der Verlagerung eines idealen Kultes in die vorstaatliche Wüstenzeit und durch die literarische Gestaltung als Anweisung Got-

§ 17 Orte der Heiligkeit

257

tes an Mose erhält die »Stiftshütte« eine besondere Wertschätzung. Die Verwendung eines (relativ stabil gebauten) Zeltes knüpft an das Zelt an, das in davidischer Zeit an der Gihonquelle in Jerusalem aufgestellt war. Zudem nimmt das Zelt die Tradition einer langjährigen Wanderung Israels in der Wüste auf. Die Zelttradition setzt zudem keinen spezifischen Ort der Jhwh-Verehrung voraus, sondern ist regional flexibel, was angesichts der verschiedenen religiösen Gruppen in der exilischnachexilischen Zeit (Juda, Samarisches Bergland, Diaspora in Mesopotamien, Ägypten und anderen Regionen des Mittelmeerraumes) idealerweise von allen für das jeweils existierende Heiligtum herangezogen werden konnte. Die Tempelgerätschaften in diesem fiktionalen Entwurf dürften im nachexilischen Tempel real umgesetzt worden sein, auch wenn manche Partien wohl erst sekundäre Ergänzungen darstellen, die dann wiederum an die jeweils aktuelle Kultpraxis angepasst wurden. Die Zelttradition ließ sich dagegen nicht mit einem festen Kultbau vereinbaren, wie er dann in nachexilischer Zeit auf dem Jerusalemer Tempelberg bzw. auf dem Garizim realisiert wurde. Wenn die priesterschriftliche Grundschrift wirklich am Sinai endete, wie manche Forscher in den letzten Jahrzehnten dies vertreten haben, dann bildete die Errichtung des wandernden Zeltheiligtums das Ziel und den Höhepunkt der priesterschriftlichen Darstellung.

15.

Der Tempelneubau in nachexilischer Zeit

Nach der Darstellung des Esrabuches erlaubte der Perserkönig Kyros 538 v. Chr., den Jerusalemer Tempel an seiner alten Stelle wieder aufzubauen (Esr 1,2–4; 6,3–5). Zuerst wurde der Brandopferaltar errichtet (Esr 3,2f.6), um das Opfer wieder in angemessener Weise vollziehen zu können. Hierin zeigt sich die hohe Bedeutung des Opfervollzugs in nachexilischer Zeit, wobei das Opfer wahrscheinlich schon in frühpersischer Zeit einen starken Sühnecharakter hatte. Der Opfervollzug war offenbar wichtiger als der Tempel selbst! Mit dem Bau des nachexilischen Tempels wurde 520 begonnen; 515 v. Chr. wurde er eingeweiht. Zumindest seit dem 3. Jh., aber möglicherweise schon beim Neubau, war das Allerheiligste durch einen Vorhang vom Hauptraum abgetrennt (Sir 50,5; 1Makk 1,22; 4,51).

16.

Der Salomonische Tempel in den Chronikbüchern

Die Chronik widmet dem Salomonischen Tempel auffallend viel Raum in ihrer Geschichtsdarstellung. Davids Vorbereitungen für den Tempelbau bilden einen eigenen Schwerpunkt (1Chr 21–22,19), die Kultdiener werden in einem langem Abschnitt für ihre Aufgaben eingeteilt (1Chr 23,1–26,28), David übergibt alle seine Planungen vor seinem Tod seinem Sohn Salomo (1Chr 28–29,25), der Tempel wird erbaut und eingeweiht (2Chr 1,18–7,22). Die Vorlage der Königsbücher wird hier weit ausgebaut; der Tempelkult bildet einen eigenen zentralen Schwerpunkt in der Darstellung des chronistischen Geschichtswerkes. Das Allerheiligste ist nun durch

258

4. Kapitel: Religionsausübung

einen Vorhang vom Hauptraum abgetrennt, was den Gegebenheiten des nachexilischen Tempels entspricht. Auch sonst spielt in den Texten der Chronikbücher der kultische Dienst der Priester und Leviten eine zentrale Rolle. Der Tempel wird hier zum Ort des Heils, die Kultpraxis spielt im Gefolge der Priesterschrift eine zentrale Rolle im religiösen Leben.

17.

Der Tempel auf dem Garizim

Die Samaritaner bildeten eine eigene religiöse Jhwh-Kultusgemeinde, die sich bis in die hasmonäische Zeit hinein nur unwesentlich von den Judäern unterschied. Wesentliche Glaubensinhalte waren beiden jüdischen Religionsgruppen gemeinsam. In persischer Zeit, entweder um 486 v. Chr. oder vielleicht auch erst gegen Ende des 5. Jh.s v. Chr. – eine genaue Datierung der archäologischen Funde ist derzeit nicht möglich – errichteten die Samaritaner auf dem Garizim ein eigenes Heiligtum, das mit einem Gesamtgrundriss von 98 x 96 m jedoch kleiner als das Jerusalemer Heiligtum ausfiel. Trotzdem zeigt die gesamte Kultanlage mit den für die persische Zeit völlig untypischen Sechskammertoren eine Ähnlichkeit zum Tempelbauentwurf des Ezechiel und damit auch zur zu postulierenden Gestalt des Jerusalemer Tempels. Allerdings ist vom eigentlichen Tempel auf dem Garizim nichts mehr erhalten. Eine byzantinische Kirche, die später an diesem Ort errichtet wurde, vernichtete den Tempelbau völlig. Ähnlich wie in Jerusalem gab es auf dem Garizim auch eine zugehörige, neu gegründete Stadtanlage, während die Ortschaft im nahen Sichem gleichzeitig aufgegeben wurde. Sowohl Stadt als auch Tempel wurden, dem Entwurf von Ez 48 entsprechend, als heilige Orte aufgefasst. Darin unterscheiden sich sowohl Garizim als auch Jerusalem vom Sinai, an dem es gerade keine permanente Siedlung gab. Neben den Außenanlagen sind zahlreiche Kultinschriften aus persischer und vornehmlich hellenistischer Zeit erhalten geblieben. Um 111 v. Chr. wurde die Anlage von Johannes Hyrkan I. (134–104 v. Chr.) zerstört, als sich zunehmend religionspolitische und politische Streitigkeiten zwischen Samaritanern und Judäern entwickelten.8 Die Tatsache, dass es mit dem Zion in Jerusalem und dem Garizim bei Sichem zwei Jhwh-Kultstätten in großer Nähe zueinander gab, ist durchaus bemerkenswert. Die deuteronomisch-deuteronomistische Forderung, dass Jhwh nur an dem Ort verehrt werden dürfe, den er sich erwählt hat, konnte sowohl von Judäern als auch von Samaritanern je für sich in Anspruch genommen werden. Die Formulierung ist offenbar bewusst so offen gewählt, dass auch andere Orte den Anspruch erheben konnten, offizielle Jhwh-Kultstätte zu sein. Es gibt in den Texten aus vorhasmonäischer Zeit keine Hinweise darauf, dass sich Garizim und Zion als Konkurrenten verstanden und nur eine Kultstätte der wahre Tempel sein könne. Dies trifft auch auf die beiden nachfolgend zu besprechenden Heiligtümer zu, die offenbar ohne große Schwierigkeiten als legitime Jhwh-Kultstätten und nicht als Konkurrenz des Jerusalemer Tempels verstanden wurden.

8 Davon berichtet Flavius Josephus, Ant. XIII, 254–256 und Bell. Jud. I, 62f.

§ 17 Orte der Heiligkeit

18.

259

Der Tempel in Elephantine

In Elephantine, einer Insel beim Assuan-Staudamm an der traditionellen Südgrenze des ägyptischen Kernlandes gelegen, wurden Texte einer jüdischen Kolonie gefunden. Die Einwohner haben sich dort wohl niedergelassen, um als Söldner die Grenze zu sichern. Die erhalten gebliebenen aramäischen Texte, meist Kreditverträge und Heiratsurkunden, aber auch einige religiös relevante Texte, stammen aus der Zeit zwischen 495 und 399 v. Chr. Ausweislich einiger Texte, inzwischen aber auch archäologisch nachgewiesen, gab es in Elephantine einen Jhwh-Tempel, wobei der Gottesname stets Jhw oder Jhh geschrieben wurde (vielleicht eine Nordreichstradition, was aber dann eine Ansiedlung von Israeliten hier aus der Zeit um 733/722 v. Chr. voraussetzen würde). Der Tempel von Elephantine muss auf jeden Fall schon vor 525 v. Chr., also vor dem Zweiten Tempel von Jerusalem, errichtet worden sein. Erwähnt werden in den Elephantine-Papyri noch weitere kanaanäische Gottheiten. Im Jahr 410 v. Chr. wurde der Jhwh-Tempel von Ägyptern zerstört, möglicherweise, weil im benachbarten Chnum-Tempel eine Widdergottheit verehrt wurde, während im Jhwh-Tempel Widder regelmäßig geschlachtet wurden. Dies könnte zu religiösen Auseinandersetzungen beider Parteien geführt haben. Die jüdische Gemeinde von Elephantine wandte sich daraufhin an den persischen Stadthalter von Judäa und Samaria, um für den Wiederaufbau des Tempels einzutreten. Der Wiederaufbau des Tempels wurde daraufhin genehmigt, Brandopfer (von Widdern) aber verboten. Demnach gab es zumindest seit dem 6. Jh. v. Chr. einen Tempel in Elephantine neben dem Jerusalemer Tempel, was der deuteronomistischen Vorstellung, wonach Jhwh nur an einem Ort verehrt werden solle, fundamental widersprach. Andererseits ließ sich nach der Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung der jüdischen Gemeinde in alle Welt dieses Gebot auch nicht mehr strikt aufrechterhalten. Die jüdischen Gemeinden brauchten eigene Versammlungsplätze (Synagogen). Die dem Propheten Jesaja in den Mund gelegten, aber aus nachexilischer Zeit stammenden Verse Jes 19,18–20 dürften eine theologische Rechtfertigung für JhwhTempel in Ägypten gewesen sein.

19.

Der Tempel von Leontopolis

In dem heutigen Tell el-Yehudiye (»Siedlungshügel der Juden« – dahinter könnte eine alte Tradition stecken), dem antiken Leontopolis, 20 km nordöstlich von Kairo gelegen, errichtete der ehemalige jüdische Hohepriester Onias IV., der um 170 v. Chr. vor Antiochus IV. aus Jerusalem geflohen war, einen eigenen Tempel (und eine Burg als Wohnsitz). Dieser Tempel hatte nach der Beschreibung des Josephus (Bell. Jud. VII, 426–429) einen turmartigen Charakter von 60 Ellen (30 m) Höhe. Dieser Bautypus soll sich bewusst vom Jerusalemer Tempel unterschieden haben. Altar und Tempelgerätschaften glichen dem Jerusalemer Vorbild, nur der Leuchter bestand aus einer aufgehängten Lampe. Auch der den Tempelturm umgebende Hof dürfte Ähnlichkeiten mit dem Jerusalemer Heiligtum gehabt haben, da auch er steinerne Tore besaß, die durch eine Lehmziegelmauer miteinander verbunden wa-

260

4. Kapitel: Religionsausübung

ren. Das Heiligtum von Leontopolis bestand bis 71 n. Chr. als offizielle Jhwh-Kultstätte und damit geringfügig länger als der Tempel in Jerusalem! Archäologisch konnte er leider bisher nicht erfasst werden.

20.

Synagogen

Die Präsenz von Juden weit entfernt von Jerusalem, bedingt durch das Babylonische Exil, führte zur Entstehung von Versammlungshäusern, in denen Gottesdienst gefeiert wurde, aber – im Gegensatz zu den Tempeln – keine Opfer dargebracht wurden. In hellenistischer Zeit sind solche Synagogen an diversen Orten in Ägypten und Kleinasien bekannt, in römischer Zeit auch in Mesopotamien, Griechenland und anderen Regionen. In Palästina treten sie erst relativ spät im 1. Jh. n. Chr. auf, wohl wegen der Präsenz der Tempel von Jerusalem und auf dem Garizim. Mit ihrer Errichtung entstanden nicht nur Orte des Gebetes und Kultes, sondern in der Diaspora auch Zentren der Bewahrung jüdischer Kultur und des Gemeinwesens.

21.

Der Tempelentwurf des Eupolemos und die Tempelrolle von Qumran

Im Mittelpunkt einer Geschichtsdarstellung »Über die Könige von Juda«, verfasst von dem jüdisch-hellenistischen Historiker Eupolemos in der Zeit um 158/155 v. Chr., die leider nur teilweise erhalten ist,9 steht der Tempelbau Salomos. Er harmonisiert 1Kön 6–7 mit Ex 25–31 und macht damit deutlich, dass der aktuelle jüdische Tempel der nachexilischen Zeit eine Kombination des salomonischen und des priesterschriftlichen Tempelentwurfs gewesen sein sollte. Unter den Funden von Qumran befindet sich auch die sog. Tempelrolle (11Q19/ 11Q20). Der entsprechende Abschnitt, der den Bau des Jerusalemer Tempels zum Thema hat, dürfte um 200/190 v. Chr. entstanden sein – zu einer Zeit, als unter dem Hohenpriester Simon der Tempelplatz umgebaut und erweitert wurde. Der Text ist trotz seines fragmentarischen Charakters ein Beleg für die fortwährend durchgeführten Überlegungen, wie man den Tempel neu gestalten könne. Besonderer Wert wird nun auf Reinheit und Heiligkeit des Tempels, aber auch der ihn umgebenden Stadt Jerusalem gelegt: »Und die Stadt, die ich dazu weihe, meinen Namen und mein Heiligtum in ihr einwohnen zu lassen, sei heilig und rein von jeder Sache, die mit einer Unreinheit verbunden ist« (Kol. 47,3–5). Der Tempel wird so zu einem expliziten Ort der Heiligkeit, die nach Möglichkeit nicht verletzt und beschädigt werden darf. Eupolemos und Tempelrolle, aber auch die chronistische Darstellung des Tempelbaus und der gesamte chronistische Geschichtsentwurf der Königszeit zeigen deutlich, welch kreatives Potential der real existierende Tempel der nachexilischen Zeit 9 Es handelt sich um Exzerpte in der »Praeparatio evangelica« des Kirchenvaters Euseb von Cäsarea, dort IX,34,4–18.

§ 17 Orte der Heiligkeit

261

bot. Immer wieder wurde überlegt, wie eine Tempeltheologie aussehen könnte, und diese hatte auch Auswirkungen auf mögliche Umbauideen für den Tempel selbst. Zahlreiche Ergänzungsbauten sind in den Texten erwähnt, können aber nicht archäologisch erfasst werden, weil der Tempelplatz heute nach Mekka und Medina die drittheiligste Kultstätte des Islams ist.

22.

Der Herodianische Tempel

Herodes d. Gr. gestaltete den Jerusalemer Tempel 23/22 (so Jos. Bell. Jud. I,21,1) oder wahrscheinlicher 20/19 (so Jos. Ant. XV,11,1) v. Chr. vollkommen neu, wobei er zur Finanzierung auf den Tempelschatz zurückgriff (Jos. Bell. Jud. V,1,1). Das Areal wurde auf 143.800 m2 ausgedehnt und damit ungefähr verdoppelt. Ein wesentliches Ziel der Baumaßnahmen war es, dass sich Herodes bei seinen Landsleuten als idealer moderner, aber auch religiös inspirierter Herrscher darstellen wollte. Sicherlich spielte dabei auch seine idumäische Herkunft eine große Rolle. Der Jerusalemer Tempel kann durchaus zu den bedeutendsten Tempelanlagen der Antike gezählt werden. Das Tempelareal war nun in einen Vorhof für Nichtisraeliten, einen Frauenvorhof und einen Männervorhof eingeteilt. In den inneren Tempelbereich durften nur Priester und Leviten, in das Allerheiligste ohnehin nur der Hohepriester. Damit sollte eine zunehmende Heiligkeit der einzelnen Bereiche verdeutlicht werden. Der Tempel wurde zum Wallfahrtsheiligtum des weltweit verbreiteten Judentums, was einerseits (bei der gleichzeitigen Existenz weiterer jüdischer Tempel) seine Sonderstellung stärken sollte, andererseits für Jerusalem und seine Bewohner auch einen ökonomischen Aspekt hatte: Das eigentlich abgelegene Jerusalem wurde nun zu einem attraktiven Pilgerstandort mit entsprechenden Einnahmen. Jerusalem war immer und ist bis heute eine Stadt der Religion und nicht der Wirtschaft, und die Kultstätten der Juden, Muslime und Christen spielen für die Ökonomie der Stadt eine wesentliche Rolle. Im Jahr 70 n. Chr. wurde der Tempel von den Römern zerstört. Die Tempelgerätschaften wurden nach Rom gebracht und dort in einem Triumphzug, der auf dem Titusbogen dargestellt ist, den Römern präsentiert. Damit verlor das Judentum seine geographische und kultische Mitte. Dank einer Tempeltheologie, die schon über 500 Jahre vorher die Präsenz Jhwhs vom zentralen Tempel in Jerusalem gelöst hatte, konnte der Jhwh-Glaube überleben. Die Synagogen wurden nun mehr und mehr die weltweit verbreiteten Orte jüdischer Religiosität.

Bibliographie Allgemein: Dietrich, Walter, Der heilige Ort im Leben und Glauben Altisraels [2009]: Ders., Gottes Einmischung, Neukirchen-Vluyn 2013, 3–20.

262

4. Kapitel: Religionsausübung

Schroer, Silvia, Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern (IPIAO), Fribourg 2005ff. Tilly, Michael/Zwickel, Wolfgang, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 22015. Zwickel, Wolfgang, Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Ein Beitrag zur Kultgeschichte Palästinas von der Mittelbronzezeit bis zum Untergang Judas (FAT 10), Tübingen 1994.

Zu 1: Kamlah, Jens (Hg.), Temple Building and Temple Cult. Architecture and Cultic Paraphernalia of Temples in the Levant (2. –1. Mill. B. C. E.) (ADPV 41), Wiesbaden 2012. Zwickel, Wolfgang, Der Tempelkult in Kanaan und Israel (siehe oben).

Zu 3: Metzger, Martin, Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes: Ders., Schöpfung, Thron und Heiligtum. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments (BThSt 57), Neukirchen-Vluyn 2003, 1–38.

Zu 6–8 (sowie 13, 15, 16, 22): Bieberstein, Klaus/Bloedhorn, Hanswulf, Jerusalem. Grundzüge der Baugeschichte vom Chalkolithikum bis zur Frühzeit der osmanischen Gesellschaft, Band 3 (BTAVO B 100/3), Wiesbaden 1994, 367–386 (Lit.!). Schmitt, Rüdiger, Zelt und Lade als Thema alttestamentlicher Wissenschaft. Eine kritische forschungsgeschichtliche Darstellung, Gütersloh 1972. Janowski, Bernd, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zionstradition: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 247–280. Zwickel, Wolfgang, Der salomonische Tempel, Kamen 22011.

Zu 13–14: Bark, Franziska, Ein Heiligtum im Kopf der Leser. Literaturanalytische Betrachtungen zu Ex 25–40 (SBS 218), Stuttgart 2010. Pola, Thomas, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg (WMANT 70), Neukirchen-Vluyn 1995, 213–298.

Zu 17: Hensel, Benedikt, Juda und Samaria. Zum Verhältnis zweier nach-exilischer Jahwismen (FAT 110), Tübingen 2016. Zangenberg, Jürgen K., The Sanctuary on Mount Gerizim. Observations on the Results of 20 Years of Excavation: Kamlah, Jens (Hg.), Temple Building and Temple Cult. Architecture and Cultic Paraphernalia of Temples in the Levant (2. –1. Mill. B. C. E.) (ADPV 41), Wiesbaden 2012, 399–418.

§ 18 Gottesdienst

263

Zu 20: Claußen, Carsten, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden (StUNT 27), Tübingen 2002.

§ 18 Gottesdienst Hans-Peter Mathys, Basel Der deutsche Ausdruck »Gottesdienst« weist in der Hebräischen Bibel keine exakte Entsprechung auf. Recht nahe kommt ihm die Wurzel cābad mit ihren nominalen Ableitungen, die ein ähnlich breites Bedeutungsspektrum aufweisen wie das deutsche »dienen«, »Dienst«. Im Deutschen bezieht sich »Gottesdienst« in erster Linie auf die sonntäglichen Versammlungen der christlichen Gemeinde, wobei bei den Katholiken nach deren zentralem Element von »Messe« die Rede ist und die (schweizerischen) Reformierten pars pro toto den Ausdruck »Predigt« verwenden, worin auch eine Geringschätzung liturgischer Elemente zum Ausdruck kommt. Besonders wichtig: Das Alte Testament verbietet mit Nachdruck, anderen Göttern zu dienen; damit sind in erster Linie kultische Handlungen gemeint, so etwa, ihnen Opfer darzubringen. Im Folgenden verstehen wir unter »Gottesdienst« – in einem sehr breiten Sinn – alles, was mit religiöser Praxis zu tun hat. Dabei ist zwischen verschiedenen Ebenen zu differenzieren, nämlich zwischen Staatskult in den Jhwh-Heiligtümern (vor allem in Jerusalem und Samaria), lokaler Kultausübung, bei der sich örtliche Gemeinschaften zusammenfanden, und der privaten Frömmigkeitsübung des Einzelnen, zu der etwa auch so einfache Dinge wie das Tragen von Amuletten gehörten.

1.

Die (gesetzliche) Regelung des Kultes/des Gottesdienstes

Im mosaischen Gesetz, d. h. in den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium, finden sich viele Bestimmungen, welche den Kult regeln. Zum Teil sind sie allgemeiner Art, zum Teil gehen sie recht stark ins Detail. Sie beziehen sich auf den Jerusalemer Tempel, werden aber im Zusammenhang mit der Errichtung der Stiftshütte in der Wüste erlassen; dieses portable Heiligtum bildet eine Vorabschattung des Jerusalemer Tempels. Den Verfassern dieser Bestimmungen liegt daran, dass die Kultgesetzgebung bereits in der Wüste erfolgt. Allerdings ist es nicht möglich, mit Hilfe dieser Gesetze den ganzen Kult zu rekonstruieren. Vieles, was damals selbstverständlich war, wird gar nicht festgehalten. So fehlen etwa Agenden für die einzelnen Gottesdienste; ihr genauer Ablauf lässt sich auch nicht durch die Addition der einzelnen Bestimmungen rekonstruieren.

264

4. Kapitel: Religionsausübung

Überhaupt nicht geregelt ist in den mosaischen Gesetzen die Kultmusik, die bereits am ersten Tempel von Jerusalem eine bestimmte Rolle spielte, aber am zweiten deutlich an Bedeutung gewann. Dies schlägt sich in den beiden Chronikbüchern nieder, die entweder in spätpersischer oder frühhellenistischer Zeit verfasst worden sind. Der Verfasser dieses Werkes macht die fehlende gesetzliche Verankerung der Tempelmusik dadurch wett, dass er sie – wenigstens teilweise – durch David einsetzen lässt, und zwar nach der Überführung der Bundeslade nach Jerusalem. Die entscheidende Stelle lautet (1Chr 16,7): »An jenem Tag, damals, ließ David zum ersten Mal Jhwh durch Asaf und dessen Brüder danken« (vgl. weiter etwa 1Chr 6,16). In der Chronik wird am Tempel von Jerusalem sehr viel gesungen und Musik gemacht.

2.

Die Kultorte

Im Bewusstsein der Bibelleser verdrängt der Tempel von Jerusalem fast alle anderen gottesdienstlichen Stätten. Immerhin darf er für sich in Anspruch nehmen, den für Juden in ihrer ganzen Geschichte bis zum heutigen Tag wichtigsten Gottesdienstort gebildet zu haben, sei es de facto oder spirituell. Der Tempel gilt als Werk Salomos. Allerdings ist umstritten, ob er ihn ab ovo gebaut oder ein bereits bestehendes Heiligtum nur massiv erweitert hat. Für die zweite Möglichkeit spricht, dass man sich einen Ort wie das vordavidische Jerusalem nur schwer ohne Tempel vorstellen kann; die Gottheiten können zwar wechseln, doch die Orte, an denen sie verehrt werden, pflegen sich hartnäckig zu halten. Doch wie auch immer: Salomo darf als Mann des Tempels gelten, nicht David. Das schmerzt den Verfasser der Chronikbücher, der deshalb dem ersten in Jerusalem residierenden König alle Vorbereitungsarbeiten für den Tempelbau zuschreibt. Ob die Laien den salomonischen Tempel betreten durften, ist umstritten. Bei den spätbronzezeitlichen Heiligtümern war dies der Fall, wie die Depositbänke in ihrem Innern zeigen, auf denen die Gläubigen ihre Gaben deponierten. In den nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil errichteten und wohl 515 v. Chr. eingeweihten zweiten Tempel durften die Laien ihre Füße mit Sicherheit nicht mehr setzen, unter anderem deshalb, weil das Bewusstsein des Abstandes zwischen Gott und Mensch zugenommen hatte. Zudem stehen Priester, Leviten und Laien Gott unterschiedlich nahe, und das findet seinen sichtbarsten Ausdruck darin, dass sie sich ihm auch räumlich unterschiedlich weit nähern dürfen. Das heißt: Ein Teil des Kultes, der im Hauptraum des Tempels stattfand, war den Laien unzugänglich. Freilich fand der zentrale kultische Akt, das blutige Opfer, im Tempelhof statt, und wahrscheinlich stellten sich Tempelsänger und -musiker am Eingang des Heiligtums auf, so dass sie von allen gehört werden konnten. Die Forderung von Dtn 12, den ganzen Kult zu zentralisieren und nur noch in Jerusalem (s. aber unten S. 268f.) blutige Opfer darzubringen, konnte sich nicht durchsetzen und wurde auch vom dortigen Tempel nicht mit unbedingtem Nachdruck betrieben, wie es gewisse Bibelstellen suggerieren. Auf dem Berg Garizim, im Gebiet des ehemaligen Nordreiches, entstand – vor allem aus politischen, d. h.

§ 18 Gottesdienst

265

Machtgründen – ein eigenes Heiligtum, mit dem Jerusalem besser zusammenarbeitete, als lange angenommen wurde. Der dortige Kult dürfte dem in Jerusalem praktizierten recht stark geglichen haben. Und während die Vernichtung des dortigen Tempels auch das vollständige Aufhören jedes Gottesdienstes, vor allem des blutigen Opfers, bedeutete, feiert die kleine samaritanische Gemeinde, an deren Spitze ein Hohepriester steht, das Pesach bis auf den heutigen Tag auf traditionelle Weise. Ein weiteres Jhwh-Heiligtum gab es in persisch-achämenidischer Zeit auch auf der Nilinsel Elephantine, wo eine Gruppe von jüdischen Militärkolonen lebte – wann sie dorthin gekommen ist, steht nicht fest, auf jeden Fall gab es die Kolonie schon, bevor Kambyses Ägypten 525 v. Chr. eroberte. 410 v. Chr. wurde der Tempel von fanatischen Anhängern des ägyptischen Gottes Chnum zerstört. Der persische Statthalter Bagohi genehmigte die Wiedererrichtung des Tempels, allerdings unter der Auflage, dass nur noch vegetabile, aber keine blutigen Opfer dargebracht würden. Der von den Juden in Elephantine praktizierte Kult dürfte ein älteres Stadium der Religionsübung repräsentieren, nämlich das zur Zeit ihrer Auswanderung in Israel/Juda übliche. Die Juden von Elephantine kennen nicht nur Jahu (= Jahwe), sondern auch seine Gattin Anat-Betel und eine dritte Gottheit; sie waren also noch nicht Monotheisten, wie das die Israeliten bis zum Exil auch nicht waren. Ein weiterer, archäologisch allerdings nicht nachzuweisender jüdischer Tempel befand sich in Leontopolis (Tell el-Yahudija), einer Stadt im Nildelta, nicht weit vom heutigen Kairo entfernt. Dieses Heiligtum errichtete der jüdische Hohepriester Onias IV., der vor König Antiochus IV. Epiphanes geflohen war, der 167 v. Chr. den Tempel von Jerusalem profanieren wollte. Dieses ungefähr um 170 v. Chr. errichtete Heiligtum, das von vielen Juden nicht als legitim anerkannt wurde, bestand ziemlich genau ein Jahrhundert lang. Seine – allerdings wacklige – Legitimation bezog es aus Jes 19, wo von einem Altar (und einer Mazzebe) in Ägypten die Rede ist – und indirekt damit auch von blutigen Opfern. In diesem Kapitel ist von einem Anschluss der Ägypter an Jhwh die Rede. Die Zerstörung des herodianischen Tempels im Jahre 70 n. Chr. bedeutete für die Juden eine religiöse Revolution von enormer Tragweite: An die Stelle des blutigen Opfers als zentraler religiöser Handlung trat die Schriftlesung, an die Stelle des einen Tempels traten die vielen Synagogen. Deren Ursprünge liegen weitgehend im Dunkeln. Ihre Entstehung fällt faktisch in die Zeit, in der das Alte Testament zum Abschluss gelangte.

3.

Was gerne vergessen wird

Der (Opfer-)Kult am Tempel von Jerusalem, von größeren Heiligtümern generell, erforderte eine imponierende Infrastruktur, u. a. eine große Zahl verschiedenster Geräte für die Vorbereitung und Darbringung der vegetabilen und blutigen Opfer. Das Alte Testament geizt diesbezüglich mit Angaben. Auskunftsfreudig sind dagegen der jüdische Historiker Flavius Josephus sowie der Talmud, die allerdings beide den riesigen herodianischen Tempel und nicht die deutlich kleineren Vorgängerbauten im Blick haben.

266

4. Kapitel: Religionsausübung

Die Vorstellungen vom Betrieb im Tempelbezirk werden stark von zwei- oder dreidimensionalen Modellen (Maquetten) des Heiligtums bestimmt. Mit Ausnahme der beiden Säulen am Eingang des Tempels ist dieser auf ihnen einfarbig beige, was alles andere als sicher ist, denkt man etwa an die farbigen Heiligtümer von Israels Nachbarn. Das Gebäude auf diesen Maquetten ist makellos, wie es höchstens am Tage seiner Einweihung war. Der Normalzustand war ein anderer, dem von Kathedralen zu vergleichen: Das Tempelareal glich häufig einer kleineren oder größeren Baustelle mit allem, was das mit sich brachte, etwa Baugerüsten und Werkzeugen. Vor allem rief der eigentliche Opferkult drei Dinge hervor, die wenigstens das westliche Christentum weitgehend aus seinen Gottesdiensten verbannt hat: Lärm, Dreck und Gestank.

4.

Das Kultpersonal

Eine oft unterschätzte Rolle spielte der pater familias bei allen kultischen Begehungen, die im Kreis der Familie stattfanden; als besonders wichtiges Fest ist das Pesach zu nennen – wenigstens so lange es in den Familien (und damit in den Privathäusern) begangen wurde. Daneben kam Kultspezialisten eine zentrale Rolle zu; von ihnen verlautet allerdings im Alten Testament nur relativ wenig, da sich dessen Interesse auf den Kult am Tempel von Jerusalem konzentrierte. Ein wichtiger Gottesdienst, in dessen Zentrum das gemeinsame Essen eines Opfertieres stand und bei dem symbolisch auch die Gottheit anwesend war, fand auf den sogenannten »Höhen« statt. Diese und andere Gottesdienste leiteten »Dorfvorsteher« (vgl. etwa 1Sam 10,13f.), wobei allerdings auch mit der Mitwirkung von Ritualexperten zu rechnen ist. Einen besonders interessanten Fall bildet der Efraimit Micha, der einen umherziehenden Leviten (dazu mehr unten) als Priester engagierte – für einen Jahreslohn von zehn Schekeln (?) Silber, eine Ausstattung an Kleidern und was er sonst zum Leben brauchte (Ri 17,10). Es gab also so etwas wie freischaffende Geistliche; die Zusammensetzung dieser Gilde kann man sich wohl nicht bunt genug vorstellen. Nebenbei wird hier deutlich, dass religiöse Dienstleistungen zu bezahlen waren. Einige wenige Informationen über das kultische Leben an einem »Landheiligtum« bietet die Samuelgeschichte. Aufgrund eines Gelübdes seiner Mutter Hanna kommt Samuel an den Tempel in Schilo, wo der greise Eli wirkt und dessen beide Söhne Hofni und Pinehas als Priester amten. Die Rede ist von Schlachtopfern, die dort dargebracht wurden und zu denen etwa Samuels Familie jährlich nach Schilo pilgerte (1Sam 1–2). Welche Funktionen dem jungen Samuel an diesem Heiligtum zukamen, wird nicht gesagt; wir vernehmen nur, dass er am Tempel diente – umfassender, zusammenfassender Ausdruck für das, was er dort tat. In das sicher bunte gottesdienstliche Leben im Lande gewährt das Alte Testament nur bedingt Einblicke, und dies auch nur sehr punktuell. Neben die (Freilicht-)Höhen und kleinere bis mittlere Lokalheiligtümer traten die Staats-, d. h. Königsheiligtümer. Das neben dem Jerusalemer Tempel bekannteste ist das von Bet-El, das explizit als königliches Heiligtum und königliches Haus

§ 18 Gottesdienst

267

(Am 7,13) bezeichnet wird. Der Prophet Amos, der dort gegen das Nordreich auftrat und dessen reiche Oberschicht vor allem wegen ihrer unmenschlichen Behandlung der Armen kritisierte, wurde vom dortigen Priester Amazja verjagt – eben mit dem Hinweis auf den königlichen Eigentümer dieses Heiligtums. Dass laut Amos bei den dortigen Festen auch gegrölt wurde (Am 5,23), ist ein Hinweis darauf, wie stark sie mit immoderatem Alkoholkonsum verbunden waren. Mit Sicherheit gab es nicht nur an den Außenposten des Nordreichs, in Bet-El und Dan, je ein Königsheiligtum. Auch in Samaria, der wichtigsten Hauptstadt, welche das Nordreich kannte, stand ein Jhwh-Heiligtum, und dort zelebrierte fraglos der wichtigste Geistliche des Reichs. Von ihm verlautet allerdings im Alten Testament überhaupt nichts. Das wichtigste Staatsheiligtum stand in Jerusalem (s. oben). Der zweite Tempel bildete nicht nur das religiöse Zentrum der Provinz Jehud. Da die Juden nun keinen eigenen Staat, d. h. König, mehr besaßen, sondern Teil des persischen Reiches waren, definierten sie sich stark über den Tempel. Er bildete auch ein wirtschaftliches (und politisches) Zentrum, vielleicht sogar mit einer eigenen Bank (der »Tempelbank«). Unter Herodes d. Gr. wurde die Tempelanlage massiv vergrößert, und damit nahm auch die wirtschaftliche Bedeutung des Tempels noch zu. Über die Zusammensetzung des Kultpersonals am ersten, salomonischen Tempel wissen wir nur wenig. Da er ein Staatsheiligtum war, konnte dort der König sich auch kultisch betätigen, was er allerdings nur bei außerordentlichen Gelegenheiten, an besonders hohen Festen, getan haben dürfte. Am auskunftsfreudigsten erweist sich dabei der Bericht von der Einweihung des salomonischen Tempels (1Kön 8). Wenn an dieser Zeremonie auch die Ältesten, Priester und Leviten (zu ihnen gleich mehr) teilnahmen, so leitete doch Salomo die Zeremonie. Über das unter ihm und seinen Nachfolgern am Tempel von Jerusalem wirkende Personal schweigt sich die salomonische Überlieferung praktisch vollständig aus. Einzig der Name des HauptPriesters wird uns mitgeteilt: Es handelt sich um Asarjahu, den Sohn Zadoks, der unter David mit Abjatar zusammen als Priester geamtet hatte. Diese schmale Überlieferungslage hängt zentral mit dem theologischen Charakter der Königebücher zusammen, die sich wenig für kultische Vollzüge interessieren. Demgegenüber fließen die Auskünfte über den Klerus und den Kultus am zweiten Tempel von Jerusalem geradezu über; sie finden sich vor allem in den beiden Chronikbüchern. Fast ganze vier Kapitel (1Chr 23–26) sind allein ihnen gewidmet, und dazu kommen zerstreut in ihnen unzählige weitere Informationen. Zentral für das Verständnis des nachexilischen Kultpersonals ist seine Unterteilung in einen clerus maior und einen clerus minor (höherer und niederer Klerus), wie er sich vergleichbar etwa in der katholischen Kirche findet: Den ersten Platz nehmen die Priester ein, an deren Spitze ein Hoherpriester steht, der ein Stück weit auch den weggefallenen König ersetzt. Der Oberbegriff für den clerus minor lautet »Leviten«. Die Priester waren in 24 Dienstabteilungen eingeteilt. Wie besonders aus dem Talmud hervorgeht, leisteten sie nur während einer bestimmten Zeit im Jahr Dienst am Jerusalemer Tempel und besorgten daneben vor allem ihre Landwirtschaft. Der Priester, der in der Geschichte vom barmherzigen Samariter sich nicht um den

268

4. Kapitel: Religionsausübung

unter die Räuber gefallenen Mann kümmert und an ihm vorübergeht, kehrte von seinem Dienst nach Jericho zurück, wo er wohnte (Lk 10). Während die Priester (aus dem Geschlecht der Aaroniden) schwergewichtig mit dem blutigen Opfer zu tun hatten, leisteten die Leviten vor allem »niedrigere« Dienste. Es drängte sie jedoch auch nach höheren Weihen, und sie versuchten priesterliche Dienste an sich zu reißen. Die Leviten, die auch einem der zwölf Stämme, eben Levi, den Namen gaben, können auf eine reiche Geschichte zurückschauen, in deren Verlauf sie wechselnde Funktionen wahrnahmen und unterschiedliche Positionen besetzten. Ihre Tätigkeitsfelder sind denkbar weit gestreut und betreffen nicht nur den Kult. So waren sie teilweise auch für Gesetzesinterpretation und Rechtsprechung zuständig, nach der Chronik zudem tätig in der zivilen (königlichen) Verwaltung, unter anderem als Schreiber. Innerhalb des Tempels fielen ihnen mannigfaltige Aufgaben zu – im Folgenden sei nur noch das Bild von den Leviten bemüht, das sich in der Chronik niedergeschlagen hat. Sie arbeiten den Priestern bei der Darbringung der Opfer zu, kümmern sich um die Torkammern und um die wichtigen »Finanzen« des Tempels, insbesondere die Abgaben an ihn. Sänger und Musiker gelten – wie auch die Torhüter (zumindest in einem Teil der Chronik) – als Leviten. In anderen Teilen der Hebräischen Bibel erscheinen sie als von ihnen unabhängige Gruppen. Allein die Aufzählung ihrer Funktionen zeigt, wie wichtig und einflussreich die Leviten waren. Das schlug sich in einem hohen Selbstbewusstsein nieder: Sie beanspruchten das Recht für sich, selber Opfer darzubringen und damit priesterliche Funktionen zu übernehmen. Die Verfasser der Chronikbücher stehen diesem Ansinnen wohlwollend gegenüber – sie beurteilen im allgemeinen die Leviten sehr wohlwollend (sie sind eifriger und kundiger als die Priester), während das Buch Numeri diesen Anspruch aufs Bestimmteste zurückweist – in der Geschichte der Rotte Korach (die zu den Leviten gehört), welche die Erde eben deshalb verschlingt, weil sie den Anspruch erheben, selber wie die Priester Opfer darzubringen (Num 16). Das ausgebaute Opferwesen – mit seinen tierischen wie vegetabilen Opfern – verhalf vielen Berufen zu einem Auskommen. Man denke etwa an die Bäcker, welche das für die vegetabilen Opfer nötige Gebäck herzustellen hatten, weiter an die Männer, welche Metalle einzuschmelzen hatten. Die einzelnen Berufsgruppen dürften, wenn sie denn in Jerusalem lebten, zusammen und in eigenen Quartieren gewohnt haben.

5.

Regelmäßige kultische Begehungen

Die wichtigsten »Gottesdienste« werden in der Tora in den sogenannten Kultkalendern geregelt. Es sind ihrer nicht weniger als fünf, Hinweis auf die Wichtigkeit der in ihnen geregelten Feste und auf die Veränderungen, denen sie im Verlauf der Geschichte unterworfen waren: Ex 23,10–19; 34,18–26; Dtn 16,1–17; Lev 23,4–44; Num 28; 29. Was Kalender – hier ihrem wahrscheinlichen Alter nach geordnet – nicht regeln, wird teilweise in Erzählungen erfasst. Die hauptsächlichen Entwicklungen, die sich in diesen Texten widerspiegeln, sind folgende: Nach den Bestimmungen des Deuteronomiums haben die Feste an einem einzigen Ort – gemeint ist

§ 18 Gottesdienst

269

Jerusalem – stattzufinden, der allerdings, vielleicht mit Rücksicht auf die Samaritaner, nicht explizit genannt wird, weshalb sie ihn auf ihr Heiligtum auf dem Garizim beziehen konnten. Die Kalender in Lev und Num erweitern die Zahl der Feste: Neu treten zu den agrarischen Festen Sabbat, Neujahrsfest und Versöhnungstag. In diesen beiden Büchern werden die Feste – was bei rein agrarischen Feiern ursprünglich nicht notwendig, ja systemwidrig ist – zeitlich fixiert. Die beiden Kapitel Num 28 und 29 unterscheiden sich von allen übrigen Kapiteln weiter dadurch, dass sie auch recht ausführliche Regelungen bezüglich der (regelmäßig im Tempel von Jerusalem) darzubringenden Opfer enthalten; was die Regelungsdichte betrifft, stellen sie alle anderen Kalender in den Schatten. Im Zentrum dieser Festkalender, in denen der Staatskult ganz fehlt, stehen die drei landwirtschaftlichen Feste Mazzot (Pesach), Schabuot (Wochenfest) und das Herbstfest. Mazzot, dem Fest, an dem man ungesäuerte Brotfladen isst – im Verlaufe der Geschichte zu einer siebentägigen Feier erweitert –, markiert den Beginn der (Gersten-) Ernte. Das Wochenfest, über das man von allen Festen am wenigsten weiß, fällt mit dem Abschluss der Getreide(Weizen-)Ernte zusammen, das Herbstfest mit der Obst-, Oliven- und vor allem Traubenlese. Diese drei agrarischen Feste, keine typisch und ausschließlich »israelitischen« Feste, sind sekundär mit Daten aus der Heilsgeschichte verbunden, also historisiert worden. Das Mazzenfest soll im Monat stattfinden, da Israel aus Ägypten ausgezogen ist. Mit dem Ägyptenaufenthalt bringt die Hebräische Bibel auch das Herbstfest in Verbindung. Das agrarische Mazzenfest ist sekundär mit dem Pesachfest verbunden worden. Dessen Ursprung sucht man allgemein im nomadischen Milieu, bei den Hirten. Bevor diese zu einer neuen (Frühlings-)Weide aufbrechen, opfern sie ein Schaf; mit diesem Opfer wollen sie die Fruchtbarkeit der Herden garantieren. Pesach wurde am Vorabend des Mazzenfests begangen. Mit der Zeit gewann in dieser Verbindung von Mazzot und Pesach Letzteres die »Oberhand« und konnte sogar dem ganzen Fest seinen Namen geben. Pesach entwickelte sich zu einem der wichtigsten Feste in Israel, wie etwa aus den Chronikbüchern und vor allem dem Neuen Testament hervorgeht. Nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. wurde es wieder, was es von Hause aus war, nämlich ein Familienfest, bei dem allerdings nicht mehr ein Schaf geopfert, sondern dieses symbolisch durch einen Knochen repräsentiert wurde. Den Rang des wichtigsten Festes kann dem Pesach eventuell das Lese- und Laubhüttenfest streitig machen, auch deshalb, weil es »das Fest« schlechthin ist und auch so heißt. Während dieses Festes hielt man sich in Laubhütten auf. Nach biblischer Begründung erinnert das an die Hütten, in denen die Israeliten wohnten, als sie Ägypten verließen. Dieser theologischen Erklärung ist eine lebensweltliche an die Seite zu stellen: Während der Ernte pflegte man draußen, in provisorischen Unterkünften zu übernachten. Zu den von Haus aus agrarischen Festen tritt, besonders bedeutend, der jährliche Versöhnungstag, der am 10.7. stattfindet (Lev 16). Er verfolgt einen doppelten Zweck: An ihm findet einerseits die rituelle Reinigung des Tempels statt und wird andererseits das sich demütigende Volk gesühnt, d. h. von seinen Sünden befreit. Mit dem Versöhnungstag verbindet sich ein besonders spektakulär wirkender Ritus:

270

4. Kapitel: Religionsausübung

Über zwei Böcke wird das Los geworfen. Den einen opfert man Jhwh als Sühnopfer, auf den andern überträgt man mittels Aufstemmen der beiden Hände die Sünden Israels und treibt ihn daraufhin in die Wüste, zu Asasel (einem Dämon?). Bei der Begehung dieses Festes liegt besonderer Nachdruck auf der Einhaltung des Arbeitsverbotes. Dies trifft auch für den sogenannten Neujahrstag zu, den »Tag des Lärmblasens«, bei dem Opfer eine zentrale Rolle einnehmen. Mit Sicherheit gab es auch religiöse Feste, die sich mit dem Königtum der Davididen (und dem ihrer Kollegen im Nordreich) verbanden. Letztlich erwählte Gott die Könige (die Dynastie der Davididen) und setzte sie in ihr Amt ein. Darüber, wie das geschah, schweigt sich die Hebräische Bibel, insbesondere die Königsbücher und die Chronik, weitgehend aus. Vor allem außerordentliche »Krönungen« finden Beachtung, d. h. die von Saul und David – bei der Einsetzung des Königtums – und die Salomos, bei der es zu erklären gilt, warum nicht die normale Thronfolge eingehalten wurde. Die Bücher legen den Fokus zudem auf den politischen und nicht den kultischen Aspekt der Krönung. Dass die Inthronisierung des neuen Davididen ein höchst feierlicher Akt war, machen Sätze aus den Psalmen 2 und 110 deutlich, die aller Wahrscheinlichkeit nach dabei verwendet worden sind: Der erste: »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt« (Ps 2,7) macht deutlich, in welch engem Verhältnis Gott und sein Gesalbter (der König) zueinander stehen. Seine steile, ja atemberaubende Aussage darf nicht durch die Behauptung relativiert werden, sie sei im Sinne einer bloßen Adoption zu verstehen. Die gleiche Nähe von Gott und König wie in Ps 2 kommt in Ps 110 zum Ausdruck: »Setze dich zu meiner Rechten [Ehrenplatz], bis ich gemacht deine Feinde zum Schemel deiner Füße!« (Ps 110,1) Auch in Ps 2 wird dem neu inthronisierten König der Sieg über die Könige zugesagt – weil Gott ihm in Erfüllung der Königsbitte versichert, er möge/werde die Nationen mit eisernem Stab zerschlagen und sie wie Töpfergeschirr zerschmettern. Vielleicht wurde der davidische König im Rahmen seiner Inthronisierung auch als Priester eingesetzt. Die Krönung der Davididen geschah in Jerusalem, auf dem Gottesberg, den man sich als Mitte der Welt vorstellte. Dort, näherhin im Tempel, war Gott präsent; mit den Worten eines bekannten Kirchenliedes ausgedrückt: »Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten«. Diese seine Gegenwart, welche ganz selbstverständlich einschloss, dass er den Seinen half und alle Feinde vertrieb, bildete das Herzstück der Zionsoder Jerusalemtheologie am salomonischen Tempel. Im zweiten Tempel bildete sich ein neuer Fokus heraus: die Bewältigung der Sünde, die mit einer stark verästelten Theologie verbunden war und primär über das Opfer erfolgte. Dass Gottes Präsenz gottesdienstlich gefeiert wurde, leidet keinen Zweifel. Aber wieder einmal stellt sich die Frage: Wie genau geschah das? Eine der in der alttestamentlichen Wissenschaft besonders heiß diskutierten Fragen lautet, ob Jhwh in einem alljährlich stattfindenden Fest – eben einem Thronbesteigungsfest – wieder in seine Funktion eingesetzt wurde, nachdem er vorher an Macht und Kraft verloren hatte. Ihren Niederschlag soll dieses Fest in den sogenannten »Thronbesteigungspsalmen« gefunden haben, die mit den Worten Jhwh mālak einsetzen; dieser Satz wird auf zwei verschiedene Weisen übersetzt: entweder »Jhwh ist König geworden« oder »Jhwh ist König« (eventuell mit der Betonung: Jhwh und kein anderer).

§ 18 Gottesdienst

271

Der Satz nimmt im Jerusalemer Kult auf jeden Fall einen zentralen Platz ein. Mit ihm verbindet sich zentral die Vorstellung, dass Jhwh, der herrlich Gekleidete, mit Ehre Ausgestattete, sich gegen ihm feindlich gegenüberstehende Mächte, die seine Herrschaft bekämpfen, durchsetzt. Wo und wie genau im Jerusalemer Tempel Herrschaft und Präsenz Jhwhs gefeiert wurden, geht aus der Hebräischen Bibel nicht hervor. Zwei noch heute im Judentum wichtige Feste erinnern an die Verfolgung der Juden. Im Gedenken an die Errettung der jüdischen Diaspora vor den Anschlägen des persischen Königs Ahasveros, der sie ausrotten wollte, feiern die Juden alljährlich Purim (s. Est 9,20–32). Der Ursprung des Festes (persisch?) ist nicht klar, auch nicht die Etymologie des Wortes (»Los«?). Es handelt sich um ein ausgesprochen fröhliches, ja ausgelassenes Fest, das in der Neuzeit Züge des Karnevals angenommen hat. An Purim macht man sich gegenseitig Geschenke, bei der Verlesung der Esterrolle in der Synagoge wird jedes Mal, wenn der Name des Bösewichts Haman fällt, mit Ratschen geklappert. Ähnlichen Charakters wie Purim ist Chanukka. Es wurde nach den Makkabäerbüchern zum ersten Mal im Jahr 164 v. Chr. gefeiert, dem Jahr, in dem der 167 v. Chr. durch Antiochus IV. Epiphanes profanierte Tempel von Jerusalem gereinigt, zum Teil wiederaufgebaut wurde und man an dem neuerrichteten Altar wieder Brandopfer darbrachte (s. u. a. 1Makk 4,36–59). Dem Anlass entsprechend handelt es sich um ein frohes Fest, das in häuslichem Rahmen und in der Gemeinde stattfindet. Im Zentrum des jüdischen Lebens steht die Heiligung des Sabbats, des siebten und letzten Wochentages, der mit gottesdienstlichen Begehungen verbunden ist. Das Christentum hat die Siebentagewoche vom Judentum übernommen, feiert aber nicht den letzten, sondern den ersten Tag der Woche, den Tag der Auferstehung Christi. Über die Herkunft des Sabbats gibt es viele Theorien, aber keine Klarheit. Soviel immerhin steht fest: Von Hause aus war er kein Fest. Da der Ausdruck Sabbat gelegentlich zusammen mit dem Neumond genannt wird, erfreut sich die Theorie großer Beliebtheit, der Sabbat habe ursprünglich (vorexilisch) den Neumondtag bezeichnet und erst seit dem Exil den wöchentlichen Ruhetag. Erst zu diesem Zeitpunkt gewann, wie besonders schön im Buch Ezechiel zu beobachten, der Sabbat als Unterscheidungsmerkmal der Juden von ihrer Umgebung an Bedeutung und wurde auch gottesdienstlich aufgeladen. Er wird zu einem Tag heiliger Versammlung, an dem keine Arbeit verrichtet werden darf. Er ist ein Feiertag zur Ehre Jhwhs, »wo immer ihr wohnt« (Lev 23,3). Ein Paradox: So zentral der Sabbat in der Hebräischen Bibel auch ist, über die Art und Weise, wie dieser Feiertag zur Ehre Jhwhs gestaltet werden soll, verlautet in der Bibel nichts. An den Heiligtümern fanden nicht nur »Gemeinde«-Gottesdienste statt. Auch Einzelne suchten sie auf. In diesem Zusammenhang muss auf die Klage- und Dank(Vertrauens)-Gebete des Einzelnen eingegangen werden, die zu den wichtigsten Gattungen innerhalb des Psalters gehören. In den Klagepsalmen breiten einzelne Menschen ihre Not aus, die meist relativ allgemein beschrieben ist; Krankheit und Verfolgung durch Feinde, etwa durch falsche Anschuldigungen, nehmen darin den meisten Platz ein. Im Dankpsalm dankt ein Individuum für die ihm widerfahrene Hilfe. In einigen Psalmen folgt auf Klage abrupt, ganz übergangslos, Dank – man

272

4. Kapitel: Religionsausübung

spricht von »Stimmungsumschwung«. Von den Theorien, die zu seiner Erklärung vorgeschlagen worden sind, ist im vorliegenden Zusammenhang nur die des »priesterlichen Heilsorakels« von Bedeutung. Sie besagt: Ein Individuum breitete im Tempel – mit Hilfe vorgefertigter Formulare – vor einem Priester seine Not aus. Dieser holte darauf bei Gott für den Notleidenden ein Orakel ein: Wird XY z. B. wieder gesund werden? Fiel die Antwort für diesen positiv aus, so stimmte er einen Dankpsalm an. Das Heilsorakel vonseiten Gottes wäre zwischen Klage und Dank einzufügen. Es fehlte im Psalm, da es im Unterschied zu diesen beiden nicht allgemein, sondern ad personam formuliert ist. Diese Erklärung setzt voraus, dass Klage- wie Dankzeremonie, über deren genauen Ablauf nichts verlautet, an den Tempel (von Jerusalem) gehören. Eine andere Erklärung vertritt Hermann Gunkel: Er sieht den ersten Sitz im Leben des Klagepsalms nicht im Tempel, sondern etwa am »Bett« eines Kranken, wohin sich ein Ritualexperte begab und mit ihm das Nötige unternahm. Erst nach seiner Heilung suchte der Genesene zusammen mit den Seinen den Tempel auf, um dort zu danken. Dass er dies nicht allein tat, macht die doppelte Sprechrichtung in einigen Psalmen deutlich: »Du hast mich gerettet« (zu Gott gesprochen); »Er (Gott) hat auf mich gehört« (zur »Gemeinde« gesprochen). Aller Wahrscheinlichkeit nach endete diese Dankzeremonie mit einem gemeinsamen Mahl. Selbst bei diesem mageren Gerüst handelt es sich um Thesen oder gar Hypothesen.

6.

Die Gemeinde

Ihre Zusammensetzung variierte dem Anlass entsprechend. Das Pesach (Mazzot) etwa feierte, als es noch eine rein familiäre Veranstaltung war, eben eine Familie (es konnten sich auch mehrere zusammentun). Nach der Verschiebung dieses Festes an den Tempel (von Jerusalem) wurde es zu einem der kultischen Anlässe, die – wie Pfingsten – große Menschenmengen anziehen konnten wie auch die beiden anderen agrarischen Feste, die ursprünglich auch nicht zentral am Tempel von Jerusalem stattfanden. Die Bewohner eines ganzen Ortes feierten Opferfeste auf der Höhe. Daneben gab es Einzelne, die sich an ein Heiligtum begaben, etwa um vom Priester eine Auskunft einzuholen, die das eigene Wohlergehen betraf etc. Wie stand es mit der Teilnahme von Fremden am Kult in Israel/Juda? Diese Frage hängt mit der anderen zusammen, wie es mit fremden Kulten (der Verehrung fremder Gottheiten) in Israel selber stand. Solange die Religion im Prinzip polytheistisch verfasst war, nahmen Fremde wohl ganz selbstverständlich am Kult teil, so wie er im Lande praktiziert wurde. Sie mussten sich allerdings den Landesbräuchen anpassen: Wollte etwa ein Fremder am Pesach teilnehmen, hatte er sich zu beschneiden (s. Ex 12,48) (es wurde ihm aber kein »Glaubensbekenntnis« abverlangt). Die Hebräische Bibel berichtet auch davon, dass es im Lande Kultstätten für andere Gottheiten gegeben habe, diese also einen Kult erhielten. So errichtete Salomo Kulthöhen für Kemosch, die Nationalgottheit Moabs, und für Molech, der an der Spitze des ammonitischen Pantheons stand (1Kön 11,7). So soll er es für alle seine

§ 18 Gottesdienst

273

Frauen gemacht haben. Im Tempel von Jerusalem stand eine Aschera und viel mehr »Heidnisches«, wie aus dem Bericht der Joschijanischen Reform hervorgeht (2Kön 23) – in diesem Punkt darf er als vertrauenswürdig gelten. Mit dem Vormarsch des Monotheismus änderte sich das, aber wohl stärker auf theoretischer denn auf praktischer Ebene. Die Teilnahme am Jhwh-Kult beinhaltete – wenigstens in der Sicht der Theologen – eine Art stillschweigendes Glaubensbekenntnis. Die Hebräische Bibel spricht öfters von Fremden, die sich Jhwh anschließen wollen. Diese Möglichkeit war im Prinzip gegeben.

7.

Die Finanzierung des Gottesdienstes

Kult kostet, und das Kultpersonal muss entlöhnt werden. Wer eine kultische »Dienstleistung« in Anspruch nahm, musste deshalb bezahlen. Das ist so selbstverständlich, dass dieser Grundsatz kaum je explizit formuliert wird. Bevor dies an einigen Beispielen aufgewiesen wird, einige Bemerkungen zur gewichtigsten Ausnahme. Da der salomonische Tempel ein Königs-/Staatsheiligum war, also auch die Privatkapelle des Monarchen – nicht zufällig unmittelbar an den Palast angrenzend –, finanzierten den dortigen Kultbetrieb und alles, was damit zusammenhing, im Prinzip die davidischen Könige. Sie konnten deshalb auch nach dem Motto handeln: Wer zahlt, befiehlt. Beim zweiten Tempel verhielt es sich anders. Zwar finanzierte ihn der Perserkönig, der in gewisser Weise in die Rechtsnachfolge der Davididen eingetreten war, noch zum Teil; für seinen Betrieb hatten die Juden zu einem beträchtlichen Teil selbst aufzukommen. Einige Beispiele zum Normalfall: Micha, der einen Leviten als Priester an sein Privatheiligtum band, zahlte ihm ein jährliches Gehalt aus (Ri 17,10). Die ruchlosen Söhne Elis am Heiligtum von Schilo begnügten sich nicht mit dem ihnen zustehenden Anteil am Opferfleisch (1Sam 2,12–14) – aus eben dieser Angabe geht e negativo hervor, dass es einen solchen gab. Die Priester und Leviten am zweiten Tempel von Jerusalem lebten von den Abgaben, welche die Laien an den Tempel brachten, unter anderem dem Zehnten. Drastisch führt dies Mal 3,8.10 vor Augen, wo sich Gott laut darüber beklagt, dass die Israeliten nicht den ganzen Zehnten (und Abgaben) in das Haus Jhwhs bringen (und damit dem Kultpersonal den Lohn und die Lebensgrundlage vorenthalten). Die Hebräische Bibel quillt geradezu über von direkten oder indirekten, nicht gleich als solchen zu erkennenden Aufrufen, dem Tempel zu geben, was des Tempels ist.

8.

Die Bekleidung des Kultpersonals

Während Ex 28 bezüglich der Priestergewandung relativ wenige, summarische Auskünfte gibt, enthält das Kapitel äußerst detaillierte Angaben zur Bekleidung des Hohenpriesters, wobei es allerdings schwerfällt, mit Hilfe dieser Angaben ein überzeugendes Gewand zu schneidern. Das Ganze wirkt überladen. Die »Schneider« haben auch viel programmatische (Israel-)Theologie in dieses Kleid eingewoben. Möglicherweise hat man sich in Jerusalem bei der Herstellung des Hohepriestergewandes wie

274

4. Kapitel: Religionsausübung

bei der des Tempels von den Phöniziern inspirieren lassen. Darauf weisen das rote und blaue Purpur an diesem Gewand hin.

9.

Die Einstellung zum Gottesdienst und seine Beurteilung – virtuelle Gottesdienste

Die Hebräische Bibel beschreibt den Gottesdienst bzw. einzelne gottesdienstliche Handlungen nicht nur, sondern bewertet sie auch. Immer wieder und in den verschiedensten Variationen kann man lesen: Feste sind ein Grund zur Freude. Besonders das Buch Deuteronomium fordert dazu auf, die Feste fröhlich zu begehen, und die historischen Bücher berichten häufig davon, dass die Israeliten dieser Aufforderung nachkamen. Auch fast ästhetische Beurteilungen der Gottesdienste finden sich in der Bibel, so in Ps 27,4: »Eins bitte ich von Jhwh, das hätte ich gerne: dass ich im Hause Jhwhs bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die Freundlichkeit/Lieblichkeit Jhwhs«. Von David heißt es im apokryphen Buch Jesus Sirach, dass er den Festen Glanz verlieh und die Feiertage im Kreislauf des Jahres verschönerte (Sir 47,10). Immer wieder ertönt in der Hebräischen Bibel aber auch Kritik am Kult, vor allem in den prophetischen Schriften, etwas weniger ausgeprägt in weisheitlichen Schriften. Sie ist inhaltlich weitgefächert. Der Vorwurf, der am häufigsten geäußert wird, lautet: Ihr verehrt fremde Götter, praktiziert also fremde Kulte. Priester nehmen Tiere als Opfer entgegen, die dafür nicht in Frage kommen, die Laien betrügen den Tempel um Abgaben und Zehnten. In der sogenannten Tempelrede attackiert Jeremia die Bewohner von Jerusalem, im Tempelgebäude die Garantie dafür zu sehen, dass sie in Jerusalem (für immer) sicher wohnen dürfen (Jer 7). Er warnt sie vor diesem Vertrauen: Sicherheit besteht für sie nur dann, wenn sie ihre Wege und Taten bessern. Amos und Jesaja stellen Kulthandlungen und ethisches Verhalten einander gegenüber: Gott will nicht Opfer, Gebete und was der kultischen Handlungen mehr sind, sondern, dass die Israeliten lernen, Gutes zu tun (Jes 1,10–17; Am 5,21–24). Handelt es sich hierbei um ein bloßes Offenlegen und Kritisieren von Missständen, oder ist diese Kritik so generell, dass die Existenz eines Kultes als solche in Frage gestellt wird? Die letztere Ansicht hat vor allem der kultferne, ja -kritische, wenn nicht gar -feindliche Protestantismus vertreten und damit übersehen, dass eine im wesentlichen kultfreie und also rein intellektuelle Religion für die Israeliten/Juden nicht vorstellbar war. Wie so oft steht in der Hebräischen Bibel also das eine neben dem andern: der Preis, das Lob der Gottesdienste neben der Kritik an ihnen. Es gibt sogar so etwas, was mit einem modernen Begriff »virtueller Kult« genannt werden kann, nämlich Gottesdienste, die nur in der Vorstellung stattfinden und auch nur einen Teil der Liturgie umfassen, nämlich das Gotteslob. Diese virtuellen Gottesdienste zeichnen sich dadurch aus, dass sich zu ihnen beträchtlich mehr Teilnehmer versammeln als zu gewöhnlichen Feiern. In Ps 148 wird alles im Himmel und auf Erden aufgefordert, in das Gotteslob einzustimmen. Vom Himmel sind es die Boten Jhwhs und seine Heerscharen, Sonne, Mond und leuchtende Sterne etc.,

§ 18 Gottesdienst

275

auf Erden die Ungeheuer und Fluten, Feuer und Hagel, Schnee und Nebel, Berge und Hügel, Fruchtbäume und Zedern, wilde Tiere und alles Vieh, Kriechtiere, gefiederte Vögel, die Könige der Erde und alle Nationen, die Fürsten und Richter der Erde, die jungen Männer und Frauen, die Alten und Jungen – alle sollen sie loben den Namen Jhwhs. Hier wird also ein Gottesdienst imaginiert, welcher de facto das ganze Universum mit einschließt – besonders wichtig: nicht nur, was auf Erden ist, sondern auch die Bewohner des Himmels. Stärker am traditionellen Tempelgottesdienst orientiert sich Ps 150: 1 Halleluja. Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner starken Feste. 2 Lobt ihn um seiner machtvollen Taten willen, lobt ihn in seiner gewaltigen Größe. 3 Lobt ihn mit Hörnerschall, lobt ihn mit Harfe und Leier. 4 Lobt ihn mit Trommel und Reigentanz, lobt ihn mit Saiten und Flöte. 5 Lobt ihn mit klingenden Zimbeln, lobt ihn mit schallenden Zimbeln. 6 Alles, was Atem hat, lobe Jh(wh). Halleluja. Auch hier erfolgt das Gotteslob im Himmel und auf Erden. Die einzelnen Musikinstrumente entsprechen mehr oder weniger den – in hierarchischer Reihenfolge genannten – Gruppen: Die Priester spielen Horn, die Leviten Harfe und Leier. Die Frauen schlagen die Trommeln, dann folgen – verkürzt ausgedrückt – die »Laien«. Am Schluss wird »alles, was Odem hat« eingeladen, Gott Halleluja zuzurufen. Ob damit nur die Menschen gemeint oder auch die Tiere inbegriffen sind? Wohl nicht zufällig schließt die Sammlung der 150 Psalmen, von denen eine beträchtliche Zahl auch im Tempelgottesdienst verwendet wurde, mit der Darstellung eines idealen Gottesdienstes, der sich zu universalem Gotteslob ausweitet.

Bibliographie Altmann, Peter u. a. (Hg.), Feasting in the Archaeology and Texts of the Bible and the Ancient Near East, Winona Lake 2014. Diebner, Bernd-Jörg, Art. »Gottesdienst II. Altes Testament«: TRE 14, Berlin/New York 1985, 5–28. Haran, Menahem, Temples and Temple-service in Ancient Israel: an Inquiry into Biblical Cult Phenomena and the Historical Setting of the Priestly School, Winona Lake 1978 (reprint 1985). Kraus, Hans-Joachim, Gottesdienst in Israel. Grundriß einer Geschichte des alttestamentlichen Gottesdienstes. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage, München 1962. Kaiser, Otto, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT 2 : Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen, Göttingen 1998, 161–210. Rowley, Harold Henry, Worship in Ancient Israel. Its Forms and Meaning, London 1967. Willi-Plein, Ina, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, Stuttgart 1993.

276

4. Kapitel: Religionsausübung

§ 19 Opfer und Sühne Ina Willi-Plein, Hamburg

1.

Zum Thema und seiner Begrifflichkeit

Opfer und Sühne sind in der Hebräischen Bibel keine systematisch aufeinander bezogenen Begriffe. Sie sind daher unbedingt getrennt zu betrachten. Weder impliziert »Opfer« Sühne, noch verlangt »Sühne« (im Folgenden auf Wortbildungen der hebr. Wurzel k-p-r bezogen) generell Opfer. Diese Klarstellung ist wichtig; denn das mit beiden Wörtern im Deutschen Gemeinte kann bei Rückfragen nach dem hebräischen Urtext, den antiken Übersetzungen (für uns v. a. Septuaginta und Vulgata) und der durch Letztere mitgeprägten neutestamentlichen Begrifflichkeit mit ihren theologiegeschichtlich relevanten Auslegungen nicht immer eindeutig mit den scheinbar entsprechenden Grundwörtern semantisch gleichgesetzt werden. Ein Übersetzungsproblem der neueren europäischen Literaturgeschichte mag helfen, zunächst Nachfragen nach den Konnotationen des deutschen Wortes »Sühne« anzuregen: Dostojewskijs 1866 erschienener Roman Rodion Raskolnikov ist auf Deutsch mit dem Haupt- oder Untertitel »Schuld und Sühne« bekannt geworden. 1994 nahm Svetlana Geier für ihre Neuübersetzung die bereits 1921 von A. Eliasberg vertretene, dem englischen crime and punishment und dem französischen crime et châtiment entsprechende Wiedergabe des Titels mit »Verbrechen und Strafe« auf. Auch »Übertretung und Zurechtweisung« wurde erwogen.10 Für deutschsprachige Leser verändert sich damit nicht nur der Stil, sondern z. T. auch die Tiefensemantik des Buchtitels. Ist »Strafe« oder gar »Zurechtweisung« das Gleiche wie oder wenigstens ein Teilaspekt von »Sühne«? Die Begriffsgeschichte des deutschen Wortes »Sühne« ist komplex; seine »Bedeutung« hängt vom Bezugsrahmen ab, in dem es gebraucht wird. Religionswissenschaftlich kann man es mit »religiösen Entstörungs- und Korrekturhandlungen«11 assoziieren. Auch im Judentum ist das »Ziel der Sühne … die ›Reparatur‹ (taqqanah) der … zerstörten Beziehung zwischen Mensch und Mensch oder zwischen Mensch und Gott, also die seitens des Menschen zu schaffende Voraussetzung der Vergebung« als »Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes eines Menschen in seiner Beziehung zu Gott«;12 immer gehört dabei zur »Sühne« die Buße als »Umkehr«. Anders wird »Sühne« dagegen im Strafrecht in der Kontroverse »um den Primat von Vergeltung« (in diesem Umfeld oft als »Sühne« benannt) oder »Vorbeugung« diskutiert (Joachim Zehner). In Bezug auf Dostojevskijs Raskolnikov hat Martin Doerne Genugtuung, Wiedergutmachung und reuige Buße beschrieben und schließlich den hilfreichen Begriff »Strafleiden« geprägt,13 der zwar eine Brücke zum Gedanken der

10 11 12 13

Vgl. dazu Müller,»Prestuplenie i Nakazanie«, 7741–7742. Sitzler-Osing, »Sühne I. Religionsgeschichtlich«, 332. Schreiner, Art. »Sühne III. Judentum«, 341. Doerne, Gott und Mensch, 40.

§ 19 Opfer und Sühne

277

»Stellvertretung« schaffen könnte, aber gerade nicht als Definition der mit der hebr. Wurzel k-p-r ausgedrückten kultischen Sühne geeignet ist. Auch darf das Übersetzungswort Sühne weder zur Übertragung der im Deutschen möglichen Assoziation zu »Versöhnung« noch zu einer unreflektierten Verbindung mit »Sünde« oder »Sündopfer« verleiten. Versöhnung kann den Vorgang zwischen zwei Seiten bedeuten, bei dem sich die Handelnden nach einer zornigen Auseinandersetzung »aussöhnen«; nach einer solchen Einigung sind sie »versöhnt«. Seltener wird »Versöhnung« im Sinne der Beschwichtigung des Zornes einer übergeordneten Person gebraucht, von der der Versöhnende, zumal wenn es sich um eine Gottheit handelt, abhängig ist. Das Beschwichtigen von göttlichem Zorn entspricht einem in der Alten Welt breit bezeugten Denkmuster. Wenn unerwartete Störungen im Leben einzelner oder der Gemeinschaft auftraten, wurde im Alten Orient bei der Forschung nach den Gründen der Plage in der Regel angenommen, dass ein oder der Gott den davon Betroffenen zürne, weil er kultisch vernachlässigt war oder eine noch unaufgedeckte Missetat seinen Zorn erregte (z. B. 2Kön 17,25f.). Der vermutete Missstand kann dann durch ein Opfer oder besondere Riten behoben werden. Ganz unbefangen und erstaunlich sachlich argumentiert dementsprechend in der Davidshausgeschichte der von Saul verfolgte David in 1Sam 26,1914: »Wenn Jhwh dich gegen mich gereizt hat, möge er eine Opfergabe riechen!« An dieser Stelle wird die »Opfergabe« hebräisch Mincha genannt (dazu s. u. unter 2). Die Eigenbegrifflichkeit der Hebräischen Bibel hat gegenüber jeder Systematisierung der Ziel- bzw. Übersetzungssprachen Vorrang. So ist eine erste Klärung auch für den Begriff »Opfer« nötig, da dieser (nur) im Deutschen schon insofern mehrdeutig ist, als mit dem gleichen Ausdruck sowohl eine rituelle, nicht unbedingt mit Gewalt verbundene Handlung im religiösen Rahmen bezeichnet werden kann als auch das Objekt, das bei einer solchen Handlung dargebracht wird, und schließlich sogar eine Person, die von zerstörender Gewalt oder Übergriffen betroffen ist, wie z. B. »Verkehrsopfer«, »Mordopfer« oder »Opfer« von übler Nachrede. Andere Sprachen, etwa das Englische, unterscheiden mit Recht zwischen victim als dem leidenden Objekt und sacrifice als der religiösen Handlung, um die es im hier Folgenden gehen soll. Ebenso ist auch das lateinische Wort sacrificium eine Handlung, bei der man »macht« oder »praktiziert«, was sacrum, also nicht der alltäglichen Gesellschaft der Menschen zugehörig, ist. Das deutsche Wort »Opfer« geht etymologisch nicht auf lat. offerre zurück, sondern auf operari/>e, also »ins Werk setzen, verrichten«, und ist ein Generalbegriff, bei dem fast immer an Gabe oder Verzicht, oft auch an ritualisierte Gewalt gedacht wird. In der Bibel existiert jedoch kein entsprechender hebräischer oder aramäischer Oberbegriff für »Opfer«.

2.

Opfer im Alten Testament

In nicht spezialisierten älteren Texten der Hebräischen Bibel kann Mincha als Huldigungsgabe, mit der im profanen Bereich auch ein Tribut (2Kön 17,3f.) oder Ge-

14 Übersetzung von Dietrich, 1. Samuel 13–26, 802 z. St.

278

4. Kapitel: Religionsausübung

schenk (Gen 32,14.19.21.27) benannt wird, eine (Opfer-)»Gabe« an Gott bezeichnen (Gen 4,3–5; Am 5,22 u. ö.), so dass man Mincha in diesen Fällen wie auch (s. o.) in 1Sam 26,19 als allgemeine Bezeichnung für das in Frage kommende Opfer verstehen kann, obwohl es in der P-Literatur spezialisiert erscheint (s. u.). Auch werden mehrere Opferarten als Qorban, d. h. »Hineinbringung« oder »Darnahung« (an das Heilige oder in ihm) bezeichnet; dieses Wort kann aber auch für Rituale (z. B. Passa/ Pässach) gebraucht werden, die keine Opfer sind, für deren Vollzug am Zentralheiligtum aber selbstverständlich auch die Heiligfähigkeit der verwendeten Objekte und der Unterschied zwischen »heilig« und »profan« und zwischen »(kultisch) rein« im Sinne von »kulttauglich« und »(kultisch) unrein« als »kultuntauglich« wesentlich ist. Ohne zugehöriges Nomen kann vom »Herbeibringen« (n-g-š, hif.) von Opfergaben gesprochen werden. Das Begriffspaar »rein« (hebr. ṭāhôr) und »unrein« (ṭāme’) bestimmt v. a. Speisegesetze und Kultpraxis. Es darf nicht mit »sauber« und »schmutzig« verwechselt werden, wofür andere Wörter gebraucht werden.15 Funktional geht es bei »rein« und »unrein« um entgegengesetzte Befindlichkeiten wie im Deutschen bei »gesund« und »krank«. Krankheit ist kein moralischer Defekt, aber Ansteckung muss vermieden werden. Ebenso wirkt kultische Unreinheit, ohne dass damit ein Tadel verbunden wäre, ansteckend und muss vermieden bzw. von den Priestern als Bediensteten am Heiligtum Gottes behoben und die Reinheit nach jeder Kontamination wieder neu hergestellt werden. Die am Opfer teilhabenden Personen und das Opfergut müssen makellos, vollständig und »rein« (ṭāhôr) sein, um der makellos vollkommenen Heiligkeit des Gottesdienstraumes zu entsprechen. Denn im Kult wird die Ordnung der auf Gottes Anwesenheit zentrierten heilen Welt dargestellt und im Raum des Heiligen erlebbar. Deshalb können gemäß den in der Endgestalt des Pentateuchs, v. a. in den Büchern Exodus und Levitikus, vorliegenden Kultbeschreibungen der Sinaioffenbarung Opfer nur in kultischer Reinheit von den Priestern und dem auch für Gesang zuständigen Hilfspersonal der Leviten, die die Tora kennen und überliefern, vollzogen werden. Alle Priester gehören (wie auch Mose) zum Stamm Levi, aber nicht alle Leviten, sondern nur die Nachkommen der aaronitischen Linie sind kohānîm, also Priester. Mose wurde zwar die Tora und ihre Auslegung anvertraut, aber er war selbst kein Priester, sondern führte ein für allemal Aaron und dessen Nachkommen in ihren Dienst ein. Priester erteilen im Gottesdienst auch den »Priestersegen« (Num 6,24–26), weil sie als Diener des königlichen »Hausherrn«, also Gottes selbst, der im Bereich des Tempels seine irdische Residenz im Sinne der »Einwohnung« (Schechina) seiner Herrlichkeit eingenommen hat, dazu autorisiert sind. Der Priestersegen ist die Zusage, dass der im Himmel Thronende die zur Audienz Erscheinenden gnädig vor sich treten lässt.

15 Dies ist z. B. für den in Sach 3 geschilderten Kleiderwechsel des Priesters Josua wesentlich, bei dem es um eine politische Rehabilitation im Zusammenhang des von den Persern autorisierten Tempelneubaus, aber nicht um kultische Reinigung geht (vgl. Willi-Plein, Haggai, Sacharja, Maleachi, 86).

§ 19 Opfer und Sühne

279

Priester tun Dienst im Heiligen, üben aber nicht Herrschaft oder geistliche Deutehoheit aus. Der Prophet Maleachi tadelt Priester, die ihren Königsdienst vernachlässigen und auf dem Altar ihres Gottes besudelte Speisen auftragen, die man dem Provinzstatthalter nicht anbieten könnte. Jhwh sagt ihnen, dass er kein Gefallen an ihnen und ihren Gaben hat, zumal andere Völker sich besser verhalten als die von Jhwh direkt Angesprochenen: »Denn vom Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang ist mein Name groß unter den Nationen, und allerorten wird Räucherung veranlasst, dargebracht in meinem Namen, und zwar reine Huldigungsgabe – denn groß ist mein Name unter den Nationen – hat Jhwh Zebaot gesagt« (Mal 1,11).

Selbstherrlichkeit darf es für Priester nicht geben. Eigenmächtige Opferhandlungen, Übernahme nicht torakonformer Riten und unerlaubter Bestandteile, wie es das »fremde« Feuer war, das Nadab und Abihu darbrachten (Lev 10,1–7), führen zum Tode. Tod und Tote dürfen nicht im Raum des Heiligtums sein, denn Opferkult ist Lebensgemeinschaft. Opfer gehören zum Leben des antiken Menschen und selbstverständlich auch zum alttestamentlichen Israel in seiner historischen, nicht-israelitischen Umwelt. Die Väterfamiliengeschichten der Genesis wollen das Leben der als solche ja noch vorisraelitischen »Väter« und Vorväter schildern. In den Erzählungen entfaltet sich auch das Verständnis von Opfer und Kult, das die Verfasser und die von ihnen gehörten Tradenten selbst hatten. Im Zusammenhang der wohl auch literarisch frühen Davidshausgeschichte kann Davids Fehlen an Sauls Tafel zum Neumond mit einem Vorwand, der ihm Zeit zur Flucht vor Sauls Nachstellungen lässt, plausibel erklärt werden, nämlich mit der selbstverständlichen Verpflichtung, am jährlichen Schlachtopferfest (sæbach jāmîm) seines Vaters teilzunehmen, zu dem alle Söhne zu erscheinen haben (1Sam 20, bes. V. 5f.).

Exkurs zur prophetischen Kultkritik: Die Rede von der gern als Kontrastfolie für eine theologische Höherbewertung eines rein spiritualiserten Opferbegriffs und Gottesdienstes angeführten »prophetischen Kultkritik« widerspricht offenbar dem Befund bei Maleachi; sie wird der Schärfe gerade auch solcher Prophetenworte nicht gerecht, die sich erst aus der selbstverständlichen Wichtigkeit von Opfer und Kult ergibt: Die kultische Praxis ist als solche nicht falsch, aber sie führt ins Verderben, wenn ihr nicht ein Gott gefallendes, seiner Zuwendung antwortendes zwischenmenschliches Verhalten der Gottesdienstgemeinschaft entspricht. Dies kommt in den Kernworten der vermeintlichen »Kultkritik« bei Amos (v. a. Am 4,4–5; 5,21–25) und Hosea zur Sprache16 und wird bei Jeremia – etwa in der sogenannten »Tempelrede« Jer 7,1–15 – erschreckend vertieft.

16 Vgl. dazu eingehender Willi-Plein, Opfer und Kult, bes. 29–38 und 136–152.

280

4. Kapitel: Religionsausübung

Am 4,4–5 wird exegetisch allgemein als Travestie, also ironische Verkehrung, einer Priestertora eingeschätzt, die darauf hinausläuft, dass die Angesprochenen zu den Opferfesten erscheinen und Opfer auch großzügig mit freiwilligen Gaben ergänzen – allerdings nicht aus dem Bedürfnis, ihrem Gott zu huldigen, sondern aus Geltungssucht und Eigeninteresse, da die Zusammenkünfte offenbar auch Gelegenheiten für Absprachen außerhalb der Legalität bieten: »Geht hinein nach Betel und übt Rechtsbruch, nach Gilgal und vermehrt den Rechtsbruch, und bringt am Morgen eure Schlachtopfer, und ruft freiwillige Gaben aus, lasst hören! Denn so liebt ihr es, ihr Söhne Israels – Ausspruch des Herrn Jhwh.«

So ist die Antwort Gottes (Am 5,21–25), dessen Wohlgefallen man im Opfer sucht, die vernichtende Ansage, dass das Wichtigste – Recht und Gerechtigkeit – fehlt und der durch den Propheten Sprechende nichts von all dem wissen will: »Ich hasse eure Feste, habe kein Interesse an ihnen, und will eure Festzusammenkünfte nicht riechen, und an euren Mincha-Opfern werde ich kein Wohlgefallen haben, und das Schelem eurer Masttiere will ich nicht anblicken …«

Die Ablehnung gilt nicht den vorexilischen Opferritualen oder der noch nicht durchgeführten (späteren) Kultzentralisation, und auch nicht weiteren, aus der Sicht der P-Literatur nicht ritualkonformen Riten oder – bei Hosea erwähnten – Elementen dessen, was man »Privatreligion« nennen mag; die religiöse Praxis der vorexilischen Zeit wird als selbstverständlich vorausgesetzt und – für die moderne Forschung ergiebig – benannt. Hos 3,4 droht sogar als Bestrafung an, was im Lichte des vorangehenden Verses eine Art Entziehungskur ist, im später angefügten auslegenden Zusatz aber zu einer Verheißung der Umkehr wird: »Denn viele Tage werden die Söhne Israels sitzen ohne König und ohne Beamten und ohne Schlachtung und ohne Massebe und ohne Efod und Terafim« (Hos 3,4).

Verschiedene hebräische Wörter werden in unseren Übersetzungen meistens durch Zusammensetzungen mit dem Wort »Opfer« zwar sachgerecht wiedergegeben, sind aber je eigenständige Begriffe für verschiedene Opferarten. Eine erste, durch den praktischen Vollzug spezifizierte Gruppe umfasst »Schlachtopfer« (sæbach), dazu auch »Heilsschlachtopfer« (sæbach šelāmîm), die vielleicht als »Vollständigkeits-« oder »Friedensopfer« im Sinne besonders gemeinschaftsbezogener Schlachtfeste mit gemeinsamen Mahlzeiten vor Gott verstanden werden können. Sie gehörten bereits in der vor- und frühisraelitischen Zeit wie auch in der Umwelt der Hebräischen Bibel immer mit Brandopfern zusammen. Normale Schlachtopfer sind Schlachtfeste, bei denen der Opferherr und seine Gäste außer dem Gottesanteil, der vernichtend verbrannt wird, miteinander die Mahlzeit feiern. Vor der deuteronomischen Kultzentralisation konnte dies an verschiedenen Orten geschehen, bildete aber immer, da beim Schlachten Blut fließt und Leben getötet wird, eine geheiligte Mahlgemeinschaft. 1Sam 9,11–14 schildert ein solches Opfer-

§ 19 Opfer und Sühne

281

fest des Volkes auf der Kulthöhe (bāmāh) der Stadt unter der Patronage des Propheten Samuel. Auch die Wallfahrtsfeste nach der dtn Reform sollen die Festfreude von »ganz Israel« vor seinem Gott ohne jede Marginalisierung ermöglichen. Deshalb wird auch das Begehen des Pässach, das kein Opfer ist, sondern ein Frühjahrsfest einer mit Kleinviehherden lebenden, durch Familien strukturierten Gesellschaft, zur gemeinsamen Feier an das Zentralheiligtum gezogen. Das Tupfen des Blutes von je einem Lamm pro Familie auf den Türrahmen kann als »apotropäischer«, d. h. Unheil abwehrender Ritus verstanden werden: Der umhergehende »Vernichter« »prallt ab« bzw. Gott »geht vorüber« und lässt den »Verderber« nicht aktiv werden, wo der Ritus vollzogen wurde. Die alte Bezeichnung Pässach und die Versuche der biblischen Erzähler in Ex 12, sie mit den beiden Verben zu erklären, lassen erkennen, dass die Feier auf eine sehr alte Tradition zurückgeht. Die Familien essen »in Hast« nach der nicht opfergerecht und ohne Gottesanteil erfolgten Zubereitung das ganze Tier in der Nacht des Frühlingsvollmonds, bevor der Morgen anbricht. In der Endform der Festvorschriften, vielleicht als Folge der joschijanischen Reform, fallen Pässach und der Beginn des Mazzotfestes zusammen und sollen möglichst am Zentralheiligtum in der großen Gemeinschaft Israels gefeiert werden. Damit hat sich ein praktisches Problem ergeben, weil die Lämmer pro Familie geschlachtet und sofort gegessen werden sollen, und zwar am Wallfahrtsort Jerusalem. Deshalb bringen die Priester das aufgefangene Blut der Pässachlämmer an den Ort beim Altar, wo es rituell korrekt appliziert und ausgeschüttet werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Lämmer geopfert wurden. – Das als Pässach geschlachtete Lamm ist Erinnerung und Vergegenwärtigung der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. wird das Pässach zwar weiterhin gefeiert und behält und vertieft seinen Zeichencharakter als Ausblick auf künftige Befreiung, doch wird die gemeinsame Mahlzeit ohne das Pässach-Lamm eingenommen. In der von der P-Literatur erarbeiteten Opferordnung am Zentralheiligtum ist die Mincha (s. o.) semantisch spezialisiert als ein vegetabiles »Speisopfer«, das andere Opfer bzw. deren Fleischzubereitung ergänzt. Eine weitere Ergänzung ist das »Gussopfer« (næsæḵ). Für die Mincha als das neben der Oláh (dazu sogleich Näheres) grundlegende Element der Opfersequenz ist die Beobachtung von Alfred Marx wichtig, dass die Mincha immer ihre spezifische Eigenart bewahrt hat, die sich schon an ihrem Namen zeigt:17 Sie ist immer ein »einseitiges« Opfer, durch das man Gott huldigt und ihm Ehrerbietung bezeugt. Die Opfersequenz gilt Gott als König und ist der Vollzug einer menschlichen Lebensgemeinschaft vor Gott. Das begleitende Räuchern von aromatischen Substanzen (v. a. »Weihrauch«), die in ihrer spezifischen Zusammensetzung dem Heiligtum vorbehalten sind, ist die einzige Opferart, von der kein materieller Rückstand bleibt. Archäologisch sind Räucherständer in der israelitischen Königszeit belegt.18 Räucheropfer rufen die Atmosphäre eines Königspalastes hervor und sind im nachexilischen Tempelkult reine Huldigung.

17 Marx, Les offrandes végétales, 130f. 18 Zwickel, Räucherkult.

282

4. Kapitel: Religionsausübung

Ohne verzehrbaren Rückstand wird das Brandopfer (hebr. Oláh – »Aufsteigendes«) als ein »Ganzopfer« dargebracht, bei dem das Opfertier vollständig verbrannt wird, nachdem es mahlzeitgerecht zubereitet ist.19 Daher nennt die griechische Bibel das Brandopfer »Ganzverbrennung« (holokautoma). Die Olah eröffnet immer die reguläre Opferfolge und somit die Verbindung zu Gott. Sichtbares Zeichen dafür ist der ununterbrochen unterhaltene Brandopferaltar im inneren, ungedeckten Tempelvorhof, von dem in der Zeit des Zweiten Tempels bei Tag eine Rauchsäule und nachts eine Feuersäule aufstieg, die weit über Jerusalem hinaus gesehen werden konnten. Auch durch Altarreinigung und genau geregelte Ascheentfernung und neue Holzaufschichtung wurde dieses »beständige« Opfer (Tamid) nicht unterbrochen, sondern die Verbindung zwischen irdischem und himmlischem Heiligtum durch täglich zweimaliges Opfer (bei Tagesanbruch und am Nachmittag) zeichenhaft sichtbar gehalten. Der Altar selbst ist jedoch nicht eine Art von nach oben zu Gott führender Rampe, sondern umgekehrt der Ort, an dem sich Gott zur Begegnung mit seinem Volk (hinab) begibt (»le lieu où Yhwh vient à la rencontre de son peuple«20) und in diesem Sinne präsent sein will. Altar und Feuer lassen an Theophanie denken. Religionswissenschaftlich kann das Brandopfer mit seinem »lieblichen Geruch« als ein »Anlockungsritual« (»rite d'attraction«, Marx) verstanden werden, wobei man auch an Noahs Opfer nach der Sintflut (Gen 8,20–22) denken darf. Die Zubereitung wie für eine Mahlzeit bedeutet nicht, dass Gott selbst isst; er empfängt den Duft der gänzlich ihm überantworteten Speise, um selbst als königlicher Gastgeber präsent zu sein. Ex 24 schildert eine vom Erzähler erschlossene Urform des Israel anvertrauten, aber noch nicht dem fertigen, von der P-Literatur geprägten Ritual entsprechenden Brandopfers, bei der die Ältesten im Angesicht Gottes essen und trinken, nachdem das Lebenselement Blut je zur Hälfte auf den Altarfuß und die Ältesten versprengt ist. Dieses »Blut der Bundesverpflichtung« (Ex 24,8) ist nicht als Blutsbrüderschaft oder Blutsbund misszuverstehen, sondern stellt die am Sinai gestiftete Lebensgemeinschaft Israels mit seinem Gott dar. »Denn das Blut ist das Leben« (Lev 17,11 als Identitätsaussage21), das nur Gott geben kann. Daher ist dem Menschen jeglicher Blutgenuss untersagt – bei jeder Schlachtung muss das Blut zu Boden fließen und mit Erde bedeckt werden, bei jedem Schlachtopfer muss das Restblut am Fuß des Altars verschüttet werden, das rituell gesprengte oder applizierte Blut aber ist wirkmächtiges Zeichen des Lebens. Dementsprechend gibt es auch kein Blutopfer im Alten Testament; denn allein Gott verfügt über das Leben. Das Blutvergießen, das bei Schlachtopfer und weiteren Opferarten stattfindet, ist keine Gabe an Gott, sondern vielmehr eine durch Gott gewährte Freigabe des Blutes/Lebens an Israel, um das Leben der Opfernden zu erhalten, und beim Sühnevollzug (s. u. Abschnitt 3) auch, um Sühne als Lebensermöglichung zu schaffen. Dabei ist das Blut sozusagen

19 In Gen 22, im Kontext der Bindung Isaaks, ist dies bei einer vom Erzähler erschlossenen nicht- bzw. vorisraelitischen Olah natürlich nicht der Fall. 20 Marx, Les systèmes, 95. 21 Jenni, Beth, 85.

§ 19 Opfer und Sühne

283

der Leben erschließende Schlüssel zum Raum der Vergebung und Heiligung, aber nicht etwa ein Zahlungsmittel, um Schulden zu bezahlen. Neben den nach der Art ihres Vollzugs benannten Opfern stehen die Opfersorten, die nach ihrem beabsichtigten Zweck bezeichnet werden. Dazu gehören Gelübde (nedær), freiwillige Gaben (nedābāh/ôt), die Toda, also ein »Dankopfer« als öffentliche »Dankesbezeugung«, aber auch das »Sündopfer«, hebr. Chattat, und das »Schuldopfer« Ascham. Die beiden letztgenannten Opfer sind für Außenstehende zunächst schwer zu unterscheiden, zumal beide der Behebung von durch menschliches Fehlverhalten entstandenen Störungen des Verhältnisses der Gemeinschaft zu Gott dienen. Beim Ascham ist aber eine grundsätzliche Straffolge bzw. ein Schuldempfinden impliziert, weil der Opfernde ein strafwürdiges Verhalten zu verantworten hat. Das Ascham, das i. d. R. als »Schuldopfer« übersetzt wird, bleibt aber in seinem Gehalt schwierig zu erfassen; hilfreich sind hierfür v. a. die Arbeiten von Adrian Schenker, auch in der Diskussion durch Jacob Milgrom22, aber immer noch auch die andersartige, sehr detailreiche Diskussion von Gary Anderson mit Milgroms Gesamtentwurf,23 die ebenfalls zu weiterem Überdenken empfohlen werden kann. Angesichts der Fülle von Opfersorten und deren Ritualen und Zweckbestimmungen stellt sich die Frage, was das entscheidende Merkmal eines Opfers ist. Hierfür sind in der neueren Literatur zwei Antworten gegeben worden: Entweder wird das rituelle Vergießen von und Hantieren mit Blut als der Ritualbestandteil angesehen, der das Opfer als solches charakterisiert, oder die kultische Verbrennung (Christian Eberhart), die zugleich Gabe und Verzicht ist. Eine Gabe oder ein Verzicht allein ist als religiöser Akt nicht nur im Rahmen eines Opfers möglich. Wie die Betrachtung des Pässach ergeben hat, ist auch der Gebrauch von Blut, das beim Pässach apotropäischen Zwecken dient, nicht auf Opfer beschränkt, und die Mincha als Speis- bzw. Brotopfer kommt ohne tierische Bestandteile und Blut aus. Doch muss die Mincha in Rauch aufgehen, d. h. sie wird auf dem Altar verbrannt. Das Brandopfer kann wie manchmal auch andere Opfer als ’išæh bezeichnet werden. Dies mag ursprünglich im Hebräischen ein Fremdwort (vielleicht mit der Bedeutung »Gabe«) gewesen sein, wurde aber offenkundig als mit dem Wort ’eš (»Feuer«) verbunden gehört. Das huldigende Räucheropfer (qetoræt) schließlich ist zwar eine kultische Handlung im Heiligen, die als Opfer einzuordnen ist, geschieht aber ohne Blut. Da sie auch keine Rückstände hinterlässt, ist sie geradezu ein Opfer par excellence. Daher kann man mit Christian Eberhart erschließen, dass das allgemeine Charakteristikum für ein Opfer die kultische Verbrennung als »in Rauch aufgehen lassen«, hebr. q-t-r, des Opfergutes im Heiligtum ist.

3.

Schuld und Sühne

Die Grundbedeutung des der Bezeichnung Chattat zugrundeliegenden Verbs ch-t-’ ist »ein Ziel verfehlen, einen Fehler machen«. Das Substantiv Chattát gehört mor-

22 Milgrom, Notes. 23 Anderson, »Sacrifice«, hierzu bes. 880f.

284

4. Kapitel: Religionsausübung

phologisch zum faktitiv/deklarativen Doppelungsstamm (Pi'el beim Verb). Das »Sündopfer« Chattat soll also einen »Fehler« als solchen darstellen und so zur Behebung des Fehlerhaften führen. Die Chattat dient somit praktisch der »Entsündigung«, damit die Heiligkeit des kultischen Raumes als Heilsort nicht gestört wird oder bleibt. Hierfür spielt »Sühne als Heilsgeschehen« (Bernd Janowski) eine entscheidende Rolle. Die etymologische Grundbedeutung der hebräischen Wurzel k-pr ist nicht restlos geklärt; möglich sind »fegen«, »wischen«, aber auch »bedecken«. Das Wurzelnomen kofer hat eine semantische Spezialisierung durchgemacht, die hier nicht zu behandeln ist. Die vom Doppelungsstamm (kipper etc.) gebildeten Wortformen benennen »Sühne« nicht als »Versöhnung« Gottes, sondern (nach der Darstellung von Fehlern) als Vollzug des Kippur-Vorgangs mit sozusagen unschuldigem Blut als Zeichen unkontaminierten Lebens. Gott fordert also nicht etwa Blut, um sich versöhnen zu lassen, sondern er »gibt« bzw. konzediert das Blut, das als »das Leben« grundsätzlich menschlicher Verfügung entzogen ist, für den Applikationsritus am Altar, um die Wiederherstellung der Lebensordnung zu ermöglichen. Die Handaufstemmung durch den Opferherrn (nicht den Priester) macht diesen als Handelnden, d. h. als den »Absender« der Fehlermeldung, kenntlich. Dies ist aber keine Identitätsübertragung; das Tier wird auch nicht etwa stellvertretend getötet, sondern sozusagen als Blutspender. Das Fleisch der Chattat kann dann aber auch verzehrt werden, und zwar von den Priestern. Der Ort der Blutapplikation ist nach Heiligkeitsintensität (bezogen auf die Lebensverfehlung) abgestuft der Brandopferaltar, der Räucheraltar, der Vorhang, der das Allerheiligste vom heiligen Hauptraum des Tempels trennt, oder einmal im Jahr, am großen Versöhnungstag, dem Jom Kippur, am innersten Ort der Einwohnung Gottes im Allerheiligsten und auf der Kapporet, der Deckplatte über der Lade am Standort des Thrones Gottes. Das SühneRitual dieses und jedes Kippur-Vorgangs würde aber allein nicht ausreichen, um den Kontakt zu Gott zu »reparieren«. Dazu bedarf es vielmehr der auf den Sühnevorgang folgenden, immer Gott allein vorbehaltenen »Verzeihung« (s-l-ch). Grundsätzlich behandelt also eine Chattat Menschen oder Objekte im Heiligkeitsbereich als »vital fehlerhaft«, der Kipper-Vorgang schafft bekennend eine Berichtigung des Fehlers, diesem Fehlerausgleich »weg von der Versündigung« (Lev 4,26) kann dann bei Personen das göttliche Verzeihen, bei Heiligtumsinventar (auch vorsorglich) die erneute Heiligung und Verfügbarmachung für Gott folgen. Wo der Ritus theologisch reflektiert wird (Lev 17,11), ist es Gott, der ihn autorisiert, aber nicht als der, der Blut fordert, sondern als der, der Leben gewährt. Sühne funktioniert dann als »Deblockade« und öffnet wieder den Zugang zu Gott, weil das Fehlerhafte gelöscht ist; aber die Wiederherstellung des Heils im Heiligen wird erst und allein durch Gottes Vergebung bewirkt. »Sühne als Heilsgeschehen« wird besonders eindrücklich im Zusammenhang des großen Versöhnungstages geschildert, dessen Ritual einmal im Jahr durch den Hohenpriester vollzogen wird. Da es dabei sozusagen um eine Generalreinigung für das ganze Volk geht, müssen alle Verfehlungen durch die Sühnehandlung bereinigt werden. Dazu gehören – wie auch beim tempellosen Kippur-Ritual – Schuldbekenntnisse und Bitten um Verzeihung gegenüber Mitmenschen, zu denen ein belastetes Verhältnis besteht. Doch selbst dann, wenn nach bestem Wissen und Gewissen alles

§ 19 Opfer und Sühne

285

zur Sprache und Handlung gebracht ist, kann es doch noch verborgene oder vergessene Fehler und Vergehen geben, die ebenfalls zum Verschwinden gebracht werden sollen. Hierzu dient – außer den speziellen Sündopfern mit einem Stier für die Priester und einem Bock für das Volk – das »Sündenbockritual« (Lev 16,7–10.20–22), für das aus zwei hierfür bereitgestellten Böcken in einem Losverfahren festgestellt wird, auf welchen das Los »für Asasel« oder »als Asasel« fällt.24 Asasel ist in der älteren Forschung für den sonderbaren Namen eines Wüstendämons gehalten worden. Wahrscheinlicher ist die Erklärung als (nicht-hebräisches) Nomen, das den Zweck des Rituals benennt und vielleicht als »Gotteszorn« o. ä. zu verstehen ist.25 Das entgegen dem Anschein zumindest für Israel wahrscheinlich relativ junge Ritual ist als solches wohl aus dem nordsyrischen Raum übernommen und geht letztlich auf hurritische Eliminationsriten zurück. Es wird heute zwar meistens nach Analogie archaischer griechischer Rituale, bei denen statt eines in Wirklichkeit Schuldigen ein anderer ersatzweise bestraft oder getötet wird, fehlgedeutet. Die biblische Beschreibung ist eindeutig anders ausgerichtet. Nach dem Vollzug des Sündopfers mit dem Bock, auf den das Los »für Jhwh« gefallen ist, bleibt der zweite Bock noch lebend übrig, mit dem sodann das Sündenbockritual »als Asasel«26 vollzogen wird. Die Bezeichnung »Sündenbock« ist eine späte deutsche Bildung, die keine hebräische Entsprechung hat. Mit Aufstemmung beider Hände auf den Kopf des Tieres und Benennung aller noch verbliebenen, auch unbewussten Fehler und Vergehen Israels werden diese im Sündenbekenntnis auf den Bock gelegt und dieser anschließend in unwegsame Wüstengebiete geschickt, in denen das Chaos herrscht. Das Auflegen mit zwei Händen ist von dem Auflegen einer Hand im Zusammenhang von Opferriten oder Weihehandlungen zu unterscheiden: Der Bock wird tatsächlich beladen und als Tragtier mit seiner unsichtbaren, aber schweren und in der Handlung verwirklichten Last »fortgeschickt«. Dabei ist dafür zu sorgen, dass er außerhalb der menschlichen Wohn- und Lebensbereiche sein Leben verliert. Dann ist die Sünde vollständig weggeschafft, und nach göttlichem Verzeihen kann das neue Leben beginnen. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und bis auf den heutigen Tag kann jedoch ein gültiger Kippur-Akt auch durch opferlose Riten, Gebete, öffentliches Sündenbekenntnis und versöhnende Wiedergutmachung zwischen den Menschen vollzogen werden und der Vergebung durch Gott vorangehen.

24 Wer sich den Handlungsablauf des jährlichen Versöhnungstages Jom Kippur, wie er im nachexilischen Tempel vollzogen wurde, gewissermaßen voraussetzungslos lesend vor Augen führen möchte, sei auf den Kommentar von Milgrom oder die Zeile für Zeile den hebräischen und den deutschen Text bietenden Anhänge bei Jürgens, Heiligkeit, »2 Das Ritual vom Jom Kippur« und »3 Lev 16/17 als Mitte des Buches Levitikus«, 434–447, verwiesen. Dort ist allerdings u. a. unbedingt die Übersetzung zu Lev 17,11 (445) nach Jenni, Beth, 85, zu korrigieren: »die næfæsch des Fleisches ist das Blut, … das Blut: es sühnt als die næfæsch«. 25 Janowski, Azazel. 26 Lamed revaluationis, dann nicht »für«, sondern »als« zu übersetzen.

286

4.

4. Kapitel: Religionsausübung

Opfer, Sühne – und Stellvertretung?

Die Beschreibung der kultischen Behandlung und Rolle des Sündenbocks schließt seine immer wieder diskutierte Rolle als »Stellvertreter« aus. Der Begriff der »Stellvertretung« ist im Deutschen jung und kommt in der Bibel nicht vor. Ein »Stellvertreter« vertritt einen anderen an dessen Stelle. So wird bezeichnet, wer von der vertretenen Person oder einer übergeordneten Instanz bevollmächtigt ist, als deren Repräsentant Entsscheidungen zu treffen und Handlungen mit derselben Verbindlichkeit und Tragweite wie der Vertretene auszuführen. Im Sinne solcher Repräsentanz kann Gen 1,26.27 verstanden werden: Der Mensch wird »als Repräsentationsbild« (ṣælæm) Gottes erschaffen27. Eine lateinische Entsprechung wäre vicarius. Allerdings kann eine Vertretung auch auf begrenzte Bereiche oder bestimmte Aufträge eingeschränkt werden. Dies ist bei einem autorisierten Boten oder Gesandten der Fall, der wie der ihn Entsendende zu behandeln ist (bKidd. 41b). Anders mag es sich mit stellvertretendem Leiden, auch, aber nicht in erster Linie, Schuldleiden verhalten. Wenn eine Leib und Leben bedrohende Maßnahme von einem Gewalthaber wahllos verordnet wird, etwa als fixe Zahl zu einer Massenexekution, und ein davon nicht Betroffener statt eines anderen die Zahl auffüllt und die eigene Hinrichtung hinnimmt, so ist dies sicher stellvertretendes Leiden. Doch freiwillig und rechtsgültig die Schulden anderer Personen zu begleichen, setzt in der Regel die Zustimmung des Gläubigers und das zumindest nachträgliche Wissen des Schuldners voraus. Der babylonische Ersatzkönig oder ein an europäischen Fürstenhöfen manchmal angestellter »Prügelknabe«, der im Rahmen der Erziehung eines Prinzen dessen Züchtigung erleiden musste, übte Stellvertretung als Auftragserfüllung aus wie ein Leibwächter, der sich bei Attentaten schützend vor den Angegriffenen zu werfen hat. Fürbitte für28 eine andere Person, sei es vor Gott oder einem Höhergestellten, ist dagegen in diesem Sinne keine Stellvertretung. All dies kann mit Sicherheit nicht für den Sündenbock erwogen werden. Weder vertritt er die Stelle oder Funktion, die eigentlich der Opferherr, der Priester oder die Gottesdienstteilnehmer oder irgendein Missetäter einnehmen müssten, noch erleidet er ein Strafleiden, indem er etwa die Strafe für eine Schuld auf sich nehmen würde. Er ist – im Rahmen eines Eliminationsritus, durch den etwas Unzuträgliches weggeschafft wird – ein bloßes Transportmittel, das mit einer schadstoffhaltigen Fracht beladen wird, um sie dorthin zu bringen (und dort zu lassen!), wo sie niemandem schaden kann, also ins Niemandsland der Wüste. Damit das Tier nicht samt seiner unsichtbaren Last zurückkehrt, muss gewährleistet werden, dass es außerhalb der Lebenswelt von Menschen bald zu Tode kommt. Zu diesem Zweck wird der Asasel-Bock an einen steilen Platz in der Wüste geführt und fortgejagt oder gestoßen, damit er stürzt und sozusagen von

27 Vgl. dazu bzw. zur identifizierenden Funktion der Präposition: Jenni, Beth, 84. 28 Die hebräische Präposition, die an diesen Stellen steht, entspricht nicht einem deutschen »anstatt«.

§ 19 Opfer und Sühne

287

selber stirbt. Ist dies geschehen und den Priestern gemeldet worden, ist das gesamte Kippur-Ritual erfolgreich beendet. Auch hat weder ein Opfertier oder Opfergut allgemein oder gar das Pässach eine Stellvertreterfunktion, noch sind die Priester im Kult Stellvertreter der Kultgemeinde oder Opferherren. Sie bleiben Bedienstete des Tempelherrn, also Gottes. Ob und, wenn ja, in welchem Sinne der leidende Gottesknecht in Jes 52,12–53,12 eine Funktion der Stellvertretung ausübt, ist immer wieder neu zu überdenken. Hierfür gibt die eingehende Arbeit am schwierigen Text, die Hans-Jürgen Hermisson in der Auslegung des vierten Gottesknechtsliedes vor kurzem vollendet hat, gerade in ihrer gründlichen Zurückhaltung neue und wichtige Impulse, zunächst mit der Feststellung, dass »der Gedanke an ein Opfer dem Text fremd« ist, sodann in der mit Recht deutlichen Schlussfolgerung: »Es geht also nicht um eine Opfergabe, mit der ein über die Sünde zürnender Gott versöhnt werden müsste, sondern es geht um ein weltbewegendes Geschehen, durch das Menschen grundlegend verändert werden.« Und schließlich ist auch für »den zentralen Sühnegedanken … noch einmal zu unterstreichen«: »Es geht bei der ›Ersatzleistung/Sühneleistung‹ … in Jes 53,10 nicht darum, dass der Mensch Gott etwas erstatten oder bezahlen sollte.« So bleibt am Ende das zentrale Problem an diesem Text, dass die »Wir« den Knecht und seine Aufgabe nicht verstanden haben. Denn selbst wenn er ein freiwilliges Schuldleiden auf sich nehmen wollte, gilt doch weiterhin: »Stellvertretung braucht Einsicht und Glauben der Vertretenen«.29 Für unser Thema ist abschließend festzustellen: • Weder das Sündenbockritual noch andere Eliminationsriten noch das Pässach haben etwas mit Stellvertretung zu tun. • Die Idee der Stellvertretung hat für Opfer und Sühne keine Bedeutung. • Schuld spielt für das Ascham-Opfer eine Rolle und wird im Sinne der Verantwortlichkeit des Opferherrn bearbeitet. • Weder Strafe noch Stellvertretung sind Teil von alttestamentlichen Sühnehandlungen. • Blut ist kein obligatorischer Bestandteil für Opfer; es gibt kein Blutopfer im Alten Testament. • Opfer strukturieren Israels Leben vor seinem Gott; dazu gehört spätestens in nachexilischer Zeit die Vorstellung (und eine von ihr geprägte Praxis) vom Weltkönigtum Gottes. Opfer brauchen nicht »spiritualisiert« zu werden, aber sie können – v. a. in der tempellosen Zeit – in Metaphern wie dem »Opfer der Lippen« sublimiert werden, • Blut ist im kultischen Zusammenhang kein Zeichen von Tod und Gewalt, sondern ein von Gott freigegebenes Mittel zur Wiedereröffnung des Lebens vor ihm. • Sühne ist eine kultische Handlung des Menschen, die Fehlerhaftes tilgt, Kontamination bereinigt, aber noch nicht den neuen Anfang schafft. Dieser wird erst möglich durch das der Sühnehandlung folgende Verzeihen. Es ist allein Gott vorbehalten.

29 Hermisson, Deuterojesaja, die Zitate: 398; 424; 458f.; 371.

288

4. Kapitel: Religionsausübung

Bibliographie Anderson, Gary A., Art. »Sacrifice and Sacrificial Offerings, Old Testament«: ABD 5 (1992) 870–886. Beyerle, Stefan u. a. (Hg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen (TKH 11), Leipzig 2009. Cohn, Marcus, Wörterbuch des jüdischen Rechts, Basel u. a. 1980. Dietrich, Walter, 1. Samuel 13–26 (BK.AT VIII/2), Neukirchen-Vluyn 2015. Doerne, Martin, Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk, Göttingen 21962. Eberhart, Christian, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament. Die Signifikanz von Blut- und Verbrennungsriten im kultischen Rahmen (WMANT 94), Neukirchen-Vluyn 2000. Gerhards, Albert/Richter, Klemens (Hg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt (QD 186), Freiburg u. a. 2000. Heger, Paul, The Development of Incense Cult in Israel (BZAW 245), Berlin/New York 1997. Hermisson, Hans-Jürgen, Deuterojesaja. Jesaja 49,14–55,13 (BK.AT XI/3) Neukirchen-Vluyn 2017. Janowski, Bernd, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55), NeukirchenVluyn 1982; 22000. Ders., Azazel und der Sündenbock. Zur Religionsgeschichte von Leviticus 16,10.21f.: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 281–302 + Nachträge, ebd., 336f. Ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), 1997. Ders., Art. »Stellvertretung II. Altes Testament«: 4RGG 7 (2004), 1708f. Ders., Art. »Sühne II.1 Altes Testament«: 4RGG 7 (2004), 1843f. Ders., Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013, bes. VI, Opfer und Sühne, 261–315. Ders./Welker, Michael (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (stw 1454), Frankfurt am Main 2000. Janowski, J. Christine u. a. (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Band 1: Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchen-Vluyn 2006. Dies., »Stellvertretung«. Polysemie, Ambivalenzen und Paradoxien: Dies. u. a. (Hg.), Stellvertretung, 2006, 177–211. Jenni, Ernst, Die hebräischen Präpositionen. Band 1: Die Präposition Beth, Stuttgart u. a. 1992. Jürgens, Benedikt, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg u. a. 2001. Marx, Alfred, Les offrandes végétales dans l'Ancien Testament. Du tribut d'hommage au repas eschatologique (VT.S 57), Leiden u. a. 1994. Ders., Opferlogik im alten Israel: Janowski, Bernd/Welker, Michael (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (stw 1454), Frankfurt am Main 2000, 150–177 (Lit.!). Ders., Art. »Opfer II.1. Alter Orient und Altes Testament«: RGG4 VI (2003), 572–576. Ders., Les systèmes sacrificiels de l'Ancien Testament. Formes et fonctions du culte sacrificiel à Yhwh (VT.S 105), Leiden/Boston 2005. Milgrom, Jacob, Leviticus 1–16. A New Translation with Introduction and Commentary (AB 3), New York u. a. 1991. Ders., Critical Notes. Further on the Expiatory Sacrifices: JBL 115 (1996), 511–514. Modéus, Martin, Sacrifice and Symbol. Biblical Šĕlāmîm in a Ritual Perspective (CB Old Testament Series 52), 2005. Müller, Ludolf, Art. »Prestuplenie i Nakazanie«: KLL.SA (1970–1974), 7741–7742. Schaper, Joachim, Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Studien zur Kult- und Sozialgeschichte Israels in persischer Zeit (FAT 31), 2000.

§ 20 Gebet und Gesang

289

Schenker, Adrian, Versöhnung und Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im Alten Testament. Mit einem Ausblick auf das Neue Testament (BiBe N.F. 15), Fribourg 1981. Ders., Versöhnung und Widerstand. Bibeltheologische Untersuchung zum Strafen Gottes und der Menschen, besonders im Lichte von Exodus 21–22 (SBS 139), Stuttgart 1990. Ders. (Hg.), Studien zu Opfer und Kult im Alten Testament, mit einer Bibliographie 1969–1991 zum Opfer in der Bibel (FAT 3), Tübingen 1992. Ders., Recht und Kult im Alten Testament. Achtzehn Studien (OBO 172), Göttingen 2000. Ders., Knecht und Lamm Gottes (Jesaja 53). Übernahme von Schuld im Horizont der Gottesknechtslieder (SBS 190), Stuttgart 2001. Ders., Art. »Sühne II. Altes Testament«: TRE 32 (2001/2006) 335–338. Schreiner, Stefan, Art. »Sühne III. Judentum«: TRE 32 (2001/2006) 338–342. Seebass, Horst, Schuldvorstellung und Sanktion im Horizont alttestamentlicher Rechtsvorstellungen: Beyerle, Stefan u. a. (Hg.), Schuld, Leipzig 2009, 163–184. Sitzler-Osing, Dorothea, Art. Sühne I. Religionsgeschichtlich: TRE 32 (2001/2006), 332–335. Willi-Plein, Ina, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse (SBS 153), Stuttgart 1993. Dies., Opfer im Alten Testament: Gerhards, Albert/Richter, Klemens (Hg.), Das Opfer (QD 186) 2000, 48–58. Dies., Opfer und Ritus im kultischen Lebenszusammenhang: Janowski, Bernd/Welker, Michael (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (stw 1454), Frankfurt am Main 2000, 150–177 (Lit.). Dies., Gabenaustausch als Kommunikation. Der Wandel des Opferverständnisses bei Maleachi: Biel, Michael/Ekué, Adamavi-Aho (Hg.), Gottesgabe. Vom Geben und Nehmen im Kontext gelebter Religion. FS Theodor Ahrens, Frankfurt a. M. 2005, 163–172. Dies., Haggai, Sacharja, Maleachi (ZBK 24,4), Zürich 2007. Dies., Ein Blick auf neuere Forschung zu Opfer und Kult im Alten Testament: VuF 56 (2011), 16–33 (Lit.!). Zehner, Joachim, Art. »Sühne VI. Ethisch«: TRE 32 (2001/2006), 355–360. Zwickel, Wolfgang, Räucherkult und Räuchergeräte. Exegetische und archäologische Studien zum Räucheropfer im Alten Testament (OBO 97), Freiburg Schw./Göttingen 1990.

§ 20 Gebet und Gesang Andreas Wagner, Bern

1.

Wovon reden wir, wenn wir von »beten« und »Gebet« reden?

a) »Beten« gehört zu den Grundvorgängen in Religionen. In denjenigen Religionen, in denen es als bezeugtes Gegenüber zum Menschen mehrere Götter oder einen Gott gibt, lässt sich das Beten genauer bestimmen als eine Kommunikation zwischen einem oder mehreren Menschen und einem, dem einen oder mehreren Göttern.30 Auch die Hebräi-

30 Ratschow, Art. »Gebet I«, 32: Gebet als »’personhafte’, dialogische Zuwendung eines Menschen zu seinem Gott.«

290

4. Kapitel: Religionsausübung

sche Bibel ist von dieser Form der Religion bestimmt, das Gebet dementsprechend eine Kommunikation zwischen Mensch und göttlichem Gegenüber.31 Wie diese Kommunikation »medial« vonstattengeht, ist nicht exakt einzugrenzen. Beim Medium des Gebets wird man sicher zuerst an Sprache denken, und Sprachzeugnisse, die zum Bereich der Gebete gehören, sind in der Hebräischen Bibel zahlreich überliefert (s. u.). Aber nicht nur gesprochene Texte können die Kommunikation zwischen Mensch und Gott ausmachen, zur Sprache kann Musik hinzutreten, Gesang. Und kann nicht auch instrumentale Musik ohne Gesang und damit ohne Wort an Gott gerichtet sein und als Gebet gelten, wenn man etwa an Ps 150 denkt, der aufruft, Gott mit allen verfügbaren Instrumenten zu loben? Wir müssen die Fragen noch erweitern: Wie ist es mit anderen, nichtsprachlichen Kommunikationsformen, die auch Bedeutung ausdrücken können? Können nicht auch Gebäude, Bilder und andere Artefakte der Kommunikation mit Gott dienen, zur Ehre, zur Verehrung Gottes geschaffen sein? Bei Bildern in Form von Kultbildern hat sich die späte Hebräische Bibel klar entschieden: Sie sollen für Jahwe keine angemessene Verehrungsform sein – aber die Tempel? Die Kultgegenstände? Die Priesterkleidung? Die Kultausübung (Gottesdienst)? Wie steht es um das Denken? Ist Denken an Gott oder über Gott Gebet? Auch hier mahnt uns die Bibel, nicht vorschnell einzugrenzen: Schon die lexikalische Bedeutung eines der hebräischen Hauptverben für kommunikative Vorgänge, ’amar, schwankt in der Bedeutung zwischen »sprechen« und »denken«. Ist ferner nicht auch das Handeln, das Leben des Menschen eine Form der Kommunikation mit Gott? (Man denke an Ps 1,1: »Wohl dem, der nicht dem Rat der Frevler folgt« […] 3 […] »Alles, was er tut, gerät ihm wohl«32)? Wird nicht Fehlverhalten von den Propheten angeprangert, weil es die falschen Signale an Gott aussendet? Es zeigt sich schon bei den ersten Überlegungen, dass das Nachdenken über das Gebet in das Innerste von Religion, auch ins Innerste der alttestamentlichen Bezeugungen über Religion führt und eigentlich alles berührt, was dem Menschen möglich ist: Reden, Denken, Handeln, Schaffen u. a. All diese Dinge können als geschehend vor Gott und damit in die Kommunikation mit Gott eingebunden gedacht werden. Im Folgenden soll der Fokus auf das Gebet als sprachliches Phänomen gerichtet sein. Die Grenzen dürfen dabei allerdings nicht zu eng gesteckt werden, sie sind zum großen Teil fließend, dafür sollten diese Eingangsbemerkungen sensibilisieren. b) Wie in vielen anderen Bereichen, so findet sich auch über das Gebet bzw. das Beten innerhalb der Hebräischen Bibel keine Abhandlung, keine theologische oder systematische Erörterung.33 Im Alten Israel wie im Alten Orient näherte man sich Erkenntnis nicht über Definitionen und Systembildungen an. Was die europäische Tradition in Philoso-

31 Zum Gebet in der Hebräischen Bibel: Reventlow, Gebet; Miller, They cried; Greenberg, Biblical Prose Prayer; Mathys, Dichter und Beter; Wagner, Beten und Bekennen; Diehl/ Witte, Sprache der Religion; Janowski, Konfliktgespräche. 32 Übersetzungen nach der Neuen Zürcher Bibel (2007). 33 Vgl. für das Folgende: Wagner, Menschenverständnis, 273–275.

§ 20 Gebet und Gesang

291

phie und Wissenschaft (einschließlich der Theologie), fußend auf griechischer Übung und Überlieferung, zu einem Begriffs- und Erkenntnissystem ausgebaut hat, ist eindrucksvoll und sicher auch Erkenntnis fördernd. Aber es ist eben ein grundsätzlich anderer Erkenntnisweg als der der altorientalischen Kulturen (von denen auch die Hebräische Bibel stark geprägt ist).34 Das heißt nicht, dass es in der Hebräischen Bibel keine wichtigen Sachverhalte gibt, die unter einem Begriff, einem Wort, einem Terminus zusammenhängend zu beschreiben wären. Die Bibel birgt eine Fülle gewichtiger Sachen und Wörter. Allerdings hat man sich die Anschauung begrifflicher Sachverhalte anders zu erwerben als durch das Studieren von Explikationen oder Definitionen, die es eben in der Kultur des Alten Orients nicht gibt. Einen Begriff, ein gedankliches Konzept zu einer Sache zu bilden, heißt eine Art Übersetzungsarbeit zu leisten. Ein Beispiel: Wer etwas über den Begriff des Königs in Altisrael wissen möchte, muss die Erzählungen und andere Texte über Könige in der Hebräischen Bibel lesen und sich daraus eine Anschauung bilden. Eine etwa mit einem heutigen Lexikoneintrag vergleichbare Definition des Königs, gar des Königtums usw. gibt es in der Bibel nicht – genauso wenig wie in anderen altorientalischen Kulturen bzw. Literaturen. Das gilt ebenso auch für die Sache des Gebets. c) Alles, was wir über die »Theorie« und »Theologie« des Betens im alten Israel wissen wollen, müssen wir aus den Texten der Hebräischen Bibel herausschälen. Das heißt nicht, dass wir nur von den als Gebeten zu identifizierenden Texten auszugehen und am Ende nur schriftlich vorliegende Gebetstexte als Arbeitsgrundlage haben. Es wird auch möglich sein, auf Erzählungen u. ä. zurückzugreifen, die über das Gebet und das Beten etwas preisgeben, ohne dass die dazugehörigen Gebetstexte vorliegen. In Gen 24,62f. etwa heißt es: »Isaak aber war gezogen zum ›Brunnen des Lebendigen, der mich sieht‹ und wohnte im Südland. Und er war ausgegangen, um zu meditieren/zu beten (śwḥ) auf dem Feld gegen Abend, und hob seine Augen auf und sah, dass Kamele daherkamen.« Was Isaak da genau getan hat, erfahren wir nicht, dass ihm aber eine Handlung zugeschrieben wird, die mindestens sehr gebetsähnlich ist, wird vom Erzählkontext her klar. d) Wie spricht die Hebräische Bibel selbst vom Beten, vom Gebet? Sie besitzt nur sehr wenige, dazu noch selten vorkommende Wörter, um den Vorgang des Betens zu verbalisieren oder bestimmte Arten des Gebets zu unterscheiden. Das an der zitierten Stelle Gen 24,63 vorkommende Verb für meditieren/beten (śwḥ) kommt nur dieses eine Mal vor. Ein weiteres der Hauptverben für den Vorgang des Betens, ‘tr, kommt 26 mal vor und ist fast synonym mit bitten. Es wird nur für die Zuwendung zum Gott der Israeliten gebraucht, nicht für das Beten anderer Völker zu anderen Göttern. Sehr interessant und kaum Zufall dürfte bei den Einzelbelegen zu diesem Verb sein, dass immer auch das Eintreten der im Gebet erbetenen Sache berichtet wird; die Gebetstheologie, die von diesem Befund her aufscheint, rechnet also mit einer stetigen Erfüllung der Bitten. Ähnliche Verben sind »fürbitten/beten« (pll) oder »ausbreiten, ausspannen«, auch:

34 Vgl. Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens, passim; Machinist, Selbstbewußtheit, 258–291; Wagner, Beten und Bekennen, 257–261.

292

4. Kapitel: Religionsausübung

»die Hände zum Gebet ausbreiten« (prs). Für einzelne Formen des Gebets gibt es nominale Ausdrücke (tehillāh, »Lobpreis/Lobgesang«). Ein Ausdruck, der eine dem deutschen Wort beten vergleichbare, große semantische Bandbreite zum Vorgang des Betens enthält, findet sich im Hebräischen nicht. In den meisten Fällen, in denen wir aus heutiger Leseperspektive den Vorgang des Betens in alttestamentlichen Texten entdecken, verwendet das Hebräische geläufige Kommunikationsvokabeln: »Mich ekelt mein Leben an. Ich will meiner Klage ihren Lauf lassen und reden in meiner Betrübnis und zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! Lass mich wissen, warum du mich vor Gericht ziehst.« [...] (Hiob 10,1f.) Die Kommunikation mit Gott erscheint von dieser Beobachtung her gesehen als genauso selbstverständlich wie die Kommunikation mit menschlichen Partnern. Gott wird in der Bibel durchweg als ein personaler Kommunikationspartner gesehen, der mit einem menschlichen Kommunikationspartner vergleichbar, wenn auch nicht identisch ist. Vergleichbar sind die Kommunikationswege, die beschritten werden – sehen, sprechen, hören usw. – und die damit verbundenen Organe samt ihren Funktionen (Augen, Mund, Zunge, Lippen, Ohren), d. h. sie funktionieren bei Gott und Mensch so, dass die Kommunikationsmittel kompatibel sind.35 Spezifisch göttlich sind bei Gott seine unbegrenzt gesteigerten Möglichkeiten in der Kommunikation (Ps 139), wohingegen die Reichweite menschlicher Kommunikation auf den menschlichen Radius beschränkt ist.

2.

Gebetsgesten

In Altisrael kannte man ebenso wenig wie im Alten Orient das Beten mit gefalteten Händen. Gebete werden häufig mit erhobenen (Ps 28,2), ausgestreckten Händen/ Armen (vgl. Abbildung 1) gesprochen.36

Abb. 1: Menschendarstellung – ein Betender (?) – aus einer Zeichnung auf Pithos B aus Kuntillet ‘Ağrūd. Quelle: Keel/Uehlinger, Göttinnen, 243.

35 Wagner, Gottes Körper, 154–158. 36 Keel, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 287–301.

§ 20 Gebet und Gesang

293

Abb. 2: Zum Beten hat man im Knien oder Stehen die Hände erhoben oder sich niedergeworfen (ägyptische Kalksteinskizze, die alle drei Gebetshaltungen nebeneinander zeigt; Neues Reich, 1440–1170 v. Chr.). Quelle: Keel, Welt der altorientalischen Bildsymbolik, 288.

1Kön 8,54 hält das Bild des knieenden Königs Salomo fest, der in dieser Stellung gebetet habe. In Abb. 2 (aus Ägypten) sind drei mögliche Gebetshaltungen ausgeführt, die im Orient typisch waren: Die Gebetsgesten haben keinen erkennbaren Zusammenhang mit Gebetstypen oder Inhalten. Ebenso wenig ist ein Bezug von Gebetsformen/-typen zu bestimmten Orten des Gebets zu sehen.

294

3.

4. Kapitel: Religionsausübung

Gebetssituationen

a) In der Bibel können wir das sprachlich gefasste Beten am genauesten beobachten, wo wir Gebete im Erzählkontext finden, die uns Person, Anlass/Situation und Gebetstext vor Augen führen. Schon ein erster Blick zeigt, dass das Thema Gebet auch außerhalb des Psalters einen breiten Raum in den biblischen Texten einnimmt. Um nur einige große Gebetsszenarien einzubeziehen, seien im Anschluss wichtige Beispiele vor Augen geführt. b) Nach der Eröffnungserzählung der Samuelbücher leidet Hanna unter ihrer Kinderlosigkeit; sie richtet im Tempel von Schilo ihre Bitte, ihren Wunsch, schwanger zu werden, in einem Gebet an Jhwh: 1Sam 1,9 Und Hanna machte sich auf, nachdem man in Schilo gegessen und nachdem man getrunken hatte. Und Eli, der Priester, saß auf dem Stuhl am Türpfosten des Tempels Jhwhs. 10 Sie aber war verbittert und betete zu Jhwh und weinte heftig. 11 Und sie legte ein Gelübde ab und sprach: Jhwh der Heerscharen, wenn du das Elend deiner Magd siehst und an mich denkst, wenn du deine Magd nicht vergisst und deiner Magd männliche Nachkommenschaft gibst, will ich ihn Jhwh geben, solange er lebt, und an sein Haupt soll kein Schermesser kommen. 12 Und als sie lange vor Jhwh gebetet und Eli auf ihren Mund geachtet hatte, 13 – Hanna redete nämlich in ihrem Herzen, nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber war nicht zu hören – hielt Eli sie für betrunken. 14 Und Eli sagte zu ihr: Wie lange willst du Betrunkene dich so benehmen? Werde nüchtern! 15 Hanna aber antwortete und sprach: So ist es nicht, mein Herr, ich bin eine verzweifelte Frau. Und ich habe weder Wein noch Bier getrunken, ich habe mein Herz vor Jhwh ausgeschüttet. 16 Halte deine Magd nicht für eine ruchlose Frau, denn aus tiefer Verzweiflung und aus Gram habe ich so lange geredet. 17 Daraufhin sagte Eli: Geh in Frieden! Und der Gott Israels möge dir geben, was du von ihm erbeten hast. 18 Und sie sprach: Deine Sklavin möge Gnade finden in deinen Augen. Und die Frau ging ihres Wegs, und sie aß, und ihr Gesicht war nicht mehr betrübt.

Die Bitte des Gebets ist in der Endfassung des Textes mit einem Gelübde verbunden: den erbetenen »geschenkten« Sohn will Hanna wieder Jahwe zurückschenken, indem er von ihr zu einem besonderen Jhwh-Verehrer, einem Nasiräer, einer Art Asket, ausersehen wird. Nach der Erzählung geschieht es so denn auch. Die in 1Sam 1,11 angeführte direkte Rede, also der eigentliche Gebetstext, enthält die wesentlichen Merkmale eines Gebets im alttestamentlichen Kontext: eine explizite Gottesanrede, die den Adressaten klar markiert (hier: Jhwh Zebaot/Jhwh der Heerscharen), sowie einen Gebetsinhalt, der hier von der Bitte um Nachkommenschaft bestimmt wird.37 Der Text lässt eine weitere Besonderheit erkennen: das »stille« Beten; Hanna spricht den Gebetstext nicht laut aus, sondern »sie redete im Herzen«. Da nach hebräischem Verständnis das Herz das Organ der Rationalität ist, bedeutet diese Aussage, dass Hanna das Gebet denkt, gedanklich memoriert, gedanklich spricht

37 Vgl. Dietrich, 1Sam 1–12, 40–46.

§ 20 Gebet und Gesang

295

(V. 13: »nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber war nicht zu hören«); lautes bzw. hörbares Aussprechen gehört also in der Hebräischen Bibel nicht zwingend zum Beten. c) Die Bitte im Gebet kann auch anderen gelten und das Gebet damit zur Fürbitte übergehen. Besonders dramatisch wird das vor Augen geführt durch die Fürbitten des Mose in den Plagenerzählungen (bes. Ex 8,4.24; 9,28; 10,17), zu denen er vom Pharao selbst aufgefordert wird: Ex 8,4 Da rief der Pharao Mose und Aaron und sprach: Betet zu Jhwh, dass er mich und mein Volk von den Fröschen befreit. Dann will ich das Volk ziehen lassen, damit sie Jhwh opfern. [...] 8 Da verließen Mose und Aaron den Pharao, und Mose schrie zu Jhwh der Froschplage wegen, die er über den Pharao gebracht hatte. 9 Und Jhwh handelte nach dem Wort des Mose, und die Frösche starben weg in den Häusern, in den Höfen und auf den Feldern.

d) Ob eine Anrede immer obligatorisch ist, ist nicht ganz sicher; in einer anderen typischen Gebetssituation, der Klage, können die Klagelaute und Worte aus der betroffenen Person herausbrechen, ohne explizit als Gebet markiert zu sein. In 2Sam 19,1 etwa ist es David, der in Klagen ausbricht, nachdem er vom Tod seines Sohnes Abschalom erfahren hat: 2Sam 19,1 Da durchfuhr es den König, und er stieg hinauf in das Obergemach im Tor und weinte. Und als er ging, sagte er dies: Mein Sohn! Abschalom, mein Sohn! Mein Sohn Abschalom! Wäre doch ich an deiner Stelle tot! Abschalom, mein Sohn, mein Sohn! 2Und es wurde Joab berichtet: Sieh, der König weint und trauert um Abschalom.

Wenden sich solche Klagen nicht immer auch an Gott? Und wäre es dann nicht auch ein Klage-Gebet? – Die Nähe solcher Situationen zu ähnlichen Klageäußerungen, Klagegebeten, Klageliedern ist jedenfalls nicht zu verkennen. Das jeremianische Ich in den sog. Konfessionen Jeremias (Jer 12,1–6; 20,7–18 u. a.) drückt seine Klagen explizit Gott gegenüber aus und bedient sich dabei der Redeformen, die wir auch aus den Klageliedern des Psalters kennen (s. u.). e) Einen ganz anderen Ton schlägt das lobende Gebet an: »Singt für Jahwe«, so rufen sowohl Mose (Ex 15,1, im sog. Schilfmeer-Lied) als auch Mirjam (Ex 15,21, im sog. Mirjamlied), die beide ein Loblied anstimmen, in unmittelbarem Reflex auf die im Erzählzusammenhang (Ex 14 und 15) geschilderte Rettungstat Gottes in Form des Schilfmeerwunders. Ex 15,1 Damals sang Mose mit den Israeliten Jhwh dieses Lied; sie sprachen: Singen will ich Jhwh, denn hoch hat er sich erhoben, Ross und Reiter hat er ins Meer geschleudert. 2 Meine Kraft und meine Stärke ist Jhwh, und er wurde mir zur Rettung. Er ist mein Gott, ich will ihn preisen, der Gott meines Vaters, ich will ihn erheben. [...] 19 Als die Pferde des Pharao, seine Streitwagen und Reiter ins Meer gezogen waren, ließ Jhwh das Wasser des Meers über sie zurückkommen. Die Israeliten aber waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gegangen. 20 Da nahm die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, die Trommel in ihre Hand, und alle Frauen zogen hinter ihr hinaus mit Trommeln und in Reigentänzen. 21 Und Mirjam sang ihnen vor: Singt Jhwh, denn hoch hat er sich erhoben, Pferd und Reiter hat er ins Meer geschleudert.

296

4. Kapitel: Religionsausübung

So unmittelbar, wie die Situation der Klage einen Klagevorgang auslöst, so unmittelbar erscheint hier das Lob auf die vorauslaufende Rettungstat Gottes bezogen. Das Lob im Gebet kann allerdings auch mit wesentlich größerer Distanz zum Geschehen bzw. mit ganz anderer Motivation erfolgen: Viele Lobgebete im Psalter, sog. Hymnen, loben Gott für seine bleibend-lebenserhaltenden Tätigkeiten, etwa im Kontext der Schöpfungstheologie (Ps 19; 104), oder für seine Führung in der Geschichte (Ps 78; 105; 106; 135; 136). Der Lobakt von Mose in Ex 15,1–19 ist explizit als Kommunikation an Gott eingeführt, ist also von daher klar als Gebet zu werten (vgl. die Erzähleinleitung); das Lied der Mirjam in Ex 15,21 ist strukturanalog. Über das den Lobinhalt enthaltende Gebetswort hinaus wird in beiden Fällen klar gemacht, dass es sich aber nicht um gesprochene, sondern um gesungene Gebete handelt; beide Texte werden schon in der Bibel als Lied behandelt (vgl. Abschn. 4). f) In den vorausgehend besprochenen Texten haben wir die typischen Gebetssituationen gesehen, die sich in den Grundstrukturen der meisten Gebete spiegeln: • Bitten/Fürbitten; • Not/Klage; • Lob/Dank. Von diesen Grundbereichen her haben sich in den Texten der Hebräischen Bibel Formen und Gattungen ausgeprägt, die mit den Situationen (»Sitz im Leben«) und davon geprägten Inhalten (Notsituation, Klage über die Not) zusammenhängen. Aus der Situations- und Themenprägung ergeben sich bestimmte Merkmale im Textaufbau und -inhalt: • Konstitutiv für die Erkennbarkeit als Gebet ist die Kommunikationssituation »Sprechen zu Gott«, im Text häufig erkennbar an einer Anrede an Gott; • je nach Anlass werden etwa Klage- und Lobtextsorten unterschieden; • häufig ist zu erkennen, ob es um Texte geht, die von Einzelnen gesprochen werden (so bei etlichen Klageliedern) oder solche, die einen kollektiven Zugang intendieren (so bei vielen Lobtexten, in denen häufig zu Beginn eine Mehrzahl zum Lobsprechen und/oder -singen aufgefordert wird). Wiederkehrende Grundsituationen, die damit zusammenhängende Inhalte und Formen hervorbringen, verdichten sich im Laufe der Zeit zu Texttypen, Formen und Gattungen, die ihrerseits zum Textsortenrepertoire einer Sprache gehören und von Sprachteilnehmenden schon als geprägte Gattungen gelernt werden. Diese Gattungen bzw. die ihnen zugehörigen Gattungsexemplare behalten über lange Zeit – im Falle vieler Gebetstexte der Bibel bis heute – ihre Tauglichkeit zur Bewältigung der Grundsituationen.

4.

Übergang zum Lied/Gesang, zur Musik, zur Liturgie

Bei sprachlichen Äußerungen liegt auf der Hand, dass in mündlichen Sprechsituationen nicht nur kognitive Inhalte in der Kommunikation zu Gott transportiert wer-

§ 20 Gebet und Gesang

297

den, sondern auch das Erfasstsein von weiteren Komponenten, die den lautlichen Ausdruck eines Menschen bestimmen können: Sprechen ist ja nicht nur von Inhalten geprägt, sondern auch von der Betonung des Gesagten; die Linguistik spricht von »Suprasegmentalia«, von Botschaften, die neben den semantischen und syntaktischen Sprachsegmenten gesendet werden über Betonung, Färbung, Sprachklang, dialektale Elemente u. v. a. m. Wird ein Satz freudig gesprochen, so führt das zu einem anderen Gesamtaussageinhalt, als wenn derselbe Satz mit neutralem, traurigem oder ironischem Unterton versehen wird. Die Ausdruckspalette bei mündlich realisierten Sprachakten ist reich, doch kann sie in Schrift nicht bzw. nur sehr unzureichend abgebildet werden. Haben wir nur schriftliche Zeugnisse von Gebeten, wie das bei den Gebeten der Bibel der Fall ist, dann können wir über die tatsächliche mündliche Ausgestaltung nichts sagen. Mit Rückübertragungen späterer Zeiten in die Zeit der alttestamentlichen Textentstehung muss man sehr vorsichtig verfahren, denn die Gefahr, Konventionen späterer Zeit rückzuübertragen, ist groß. So bleibt hier eine Lücke zu beklagen: Lautliche Ausdruckselemente hat es sicher auch in alttestamentlicher Zeit gegeben, aber wir können heute darüber leider nichts mehr sagen. Am besten nachvollziehen lässt sich das zur Sprache hinzutretende Ausdruckselement bei gesungenen Gebeten. Die Verbindung von Text und musikalischem Gestus ist beim Mirjamlied (s. o.) besonders stark und unmissverständlich, denn hier wird noch auf begleitende Instrumente (Trommeln) und begleitenden Tanz rekurriert. Die musikalisch-gestische Begleitung der Kommunikation unterstreicht das auch affektive Ausdrucksmoment, da der kommunikative Effekt von Musik und Tanz nicht in der Übermittlung lexikalisch-semantischer Information liegt, sondern die emotionale Ausdruckskomponente und den Textinhalt mit einem – in diesem Falle positiv-freudigen – Grundton verbindet. Diesen Effekt kennen wir in unseren geschichtlichen und gegenwärtigen Ausdrucksformen ebenfalls (Kirchenlieder, Kunst- und Popmusik, Werbung etc.); er zeigt, wie schnell in solchen Übergangsund Kombinationsformen beim Gebet die Grenzen reiner Sprachlichkeit aufgesprengt sein können.38

5.

Wichtigste Gattungen und Formen des Gebets39

Wie oben in Abschnitt 3 gezeigt, finden sich in vielen biblischen Büchern Zeugnisse von Gebeten. Eine Verengung des Blicks nur auf Gebete im Psalter wäre unsachgemäß. Die hier vorgelegte Zusammenstellung bezieht daher Gebetestexte aus der gesamten Hebräischen Bibel mit ein.

38 Leider wissen wir nicht, um welche Art Musik es sich hier (wie an anderen Stellen) genau gehandelt hat. Musikalische Notationen sind in der Bibel nicht überliefert; wie die Musik geklungen haben mag, welche Melodien verwendet wurden, ist – wohl unwiederbringlich – verloren gegangen. 39 Vgl. auch schon § 11 dieses Bandes (»Poesie und Weisheit«).

298 a)

4. Kapitel: Religionsausübung

Klagegebete/-lieder

Klagetexte sind verbunden mit der Grundsituation der Klage; wird aus einer Grundsituation der Klage heraus mit einem Gebet, einer expliziten Kommunikation zu Gott, reagiert, dann ist nicht verwunderlich, dass das Element der Anrufung bzw. Anrede in solchen Texten vorkommt. Es muss nicht einmal am Anfang stehen oder kann wiederholt werden. Dieses Element stellt klar, dass es sich um ein Klagegebet handelt und der Kommunikationspartner Gott ist; von einem »Gebetsmarker« zu sprechen, wäre nicht verkehrt. Die Gattung ist von einer Reihe weiterer Elemente geprägt, die zu einer idealtypischen Gattungsausformung gehören, aber in der einzelnen Textausprägung nicht alle abgerufen sein müssen und auch in verschiedener Reihenfolge vorkommen können.40 Ps 3 vereinigt viele dieser Elemente und gilt als typisches Klagelied: (1)

(Überschrift)

2

Jhwh

I.

Anrede, Anrufung

wie zahlreich sind meine Feinde, II. viele sind es, die gegen mich aufstehen. Viele sprechen von mir: es gibt keine Hilfe für ihn bei Gott. Sela.

Notschilderung

4

Du aber, Jhwh, bist ein Schild vor mir, bist meine Ehre und der, der mein Haupt erhöht.

III.

Bekenntnis der Zuversicht/ Vertrauensäußerung

5

Rufe ich laut zu Jhwh, so antwortet er mir von seinem heiligen Berg.

6

Ich liege und schlafe ein, ich erwache, denn Jhwh stützt mich.

7

Ich brauche mich nicht vor tausenden von Kriegern zu fürchten, die sich um mich gelagert haben.

8

Steh auf, Jahwe,hilf mir, mein Gott.

V.

Bitte

Ja, du hast alle meine Feinde auf die Backe geschlagen, hast die Zähne der Frevler zerbrochen.

VI.

»Gewissheit der Erhörung« (Gunkel) nach Stimmungsumschwung

Bei Jhwh ist die Hilfe, über deinem Volk III. ist dein Segen

Bekenntnis der Zuversicht/ Vertrauensäußerung

3

9

Die Notschilderung (Element II) spielt die Grundsituation ein, in der eine betende Person sich befindet. Über die in den Text einbezogenen Bekenntnissätze und Vertrauenserfahrungen (Element III), werden für die betende Person Sachverhalte abge40 Vgl: Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes, 25–53.

§ 20 Gebet und Gesang

299

rufen, die die Zuverlässigkeit und Hilfskräftigkeit Gottes unterstreichen. Zuweilen können in manchen Texten als Element IV sog. »Motive göttlichen Eingreifens« hinzutreten. Sie verweisen Gott auf Sachverhalte, die ihn zum Eingreifen, zum Helfen in der Notsituation, »motivieren« sollen (etwa in Ps 6,5 [...] »(hilf mir) um deiner Güte willen«. 6 »Denn im Tod gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?«; vgl. Ps 30,10; 88,11–13;115,17f.). Mit Element V, der Bitte, ist eines der Ziele des Klageliedes erreicht; die Bezeichnungen Klagelieder und Bittgebete hängen zuweilen nur von der Betrachtungsperspektive ab. In der Bitte wird das zentrale Anliegen des Gebets an Gott herangetragen. Klagen können von Einzelnen41 oder vom ganzen Volk42 vorgetragen werden. Eine ganz eigentümliche Erscheinung in den Klageliedern des Einzelnen ist der sog. Stimmungsumschwung, der sich auch in Ps 3 (wie in vielen anderen Klageliedern) zeigt. Nachdem der Psalm die Stationen von der Anrede, der Klageschilderung bis zur Bitte durchlaufen hat, wechselt plötzlich innerhalb von V. 8 die »Stimmung«, und im Text finden sich Formulierungen, die als Ausdruck der Erhörung, also der schon stattgefundenen Hilfe, gewertet werden. Wie hat man sich das vorzustellen, wie kann es in demselben Text eine Bitte um Hilfe und gleichzeitig den Ausdruck der Freude über das schon erfolgte Helfen geben? Die ältere Forschung hat hier eine kultgeschichtliche Antwort gegeben: Klagelieder als Formulartexte, wie sie in Form der Klagepsalmen des Psalters erhalten sind, dienen zum Vorbringen der Klage im »Kult/Tempel«; ein Priester spricht nach der Klage ein »Heilsorakel« (vgl. Ps 12; Klgl 3,57: »Du nahtest dich zu mir, als ich dich anrief, und sprachst: Fürchte dich nicht!«), daraufhin antwortet der Beter mit Element VI »Gewissheit der Erhörung« o. ä.43 Da im Psalter nur die Formulare der Betenden, nicht die Antworten der Priester enthalten sind, fehlen in den biblischen Klageliedern die Heilsorakeltexte. In dieser These steckt viel (Re-)Konstruktion, bisher konnte dieser »Sitz im Leben« für viele Texte nicht überzeugend dargelegt werden. Stärker in den Vordergrund der neueren Exegese ist ein (text-)psychologischer Erklärungsansatz getreten:44 Aussprechen der Klage entlastet (Gerstenberger), danach bricht sich das Vertrauen Bahn. Dieser Erklärungsansatz setzt ebenfalls ein »Formulardenken« voraus, das positiv gewertet wird: Die Klagelieder stellen mit unterschiedlichen Situationen und Zwecken zusammenhängende Gebetsformulare dar, die sich eine betende Person durch das Lesen/Beten/Mitvollziehen zueigen macht. Mit Hilfe des vorformulierten Wortlautes und durch den Gedankengang des Formulartextes wird diese Person sprachfähig für die eigenen Anliegen, die aus 41 An Klagepsalmen des Einzelnen gibt es ca. 50 (wegen Mischformen ist die Zahl nicht genau bestimmbar): 3–17 (außer 8; 9; 15); 22–28 (außer 24); 35–43 (außer 37 und 40); 51–64 (außer 60); 140–143; verstreut: 31; 69; 71; 86; 88; 102; 109; 130; vgl. auch Klgl und die Klagen Jeremias in Jer 11–20. Vgl. Westermann, Lob und Klage, passim. 42 Klagepsalmen des Volkes: 44; 58; 60; 74; 79; 80; 83; 85; 89; 106; 125; 137. Vgl. auch Klgl; Jes 63,7–64,11; Jer 14,2–9 u. a. 43 Begrich, Heilsorakel, 63–88. 44 Gerstenberger, Der bittende Mensch, 163–169.

300

4. Kapitel: Religionsausübung

einer ähnlichen Grundsituation resultieren, wie sie der Formulartext voraussetzt. Das kann einen sehr großen Entlastungseffekt haben, weil man nicht selbst nach den richtigen Worten suchen muss. Entlastend kann auch die Erkenntnis sein, dass solche existentiellen Grundsituationen, wie sie die traditionell überlieferte Gattung zum Hintergrund hat, schon vormals aufgetreten sind und auch bewältigt wurden, dass also die betende Person, die auf ein Formular zurückgreift, sich in der Gemeinschaft von Mitbetenden weiß, usw. Und schließlich dürfte der Prozess wichtig sein, der sich im Psalm beim Lesen/Nachvollziehen selbst abspielt und über die Aussprache der Last, der Klage, das In-Erinnerung-rufen von Gottes Hilfsmöglichkeiten, das Aussprechen einer Bitte schon zu einer Verbesserung des Empfindens der betenden Person führt, die dann in einen Stimmungsumschwung führen kann. b)

Hymnen

Wesentliche Einsichten zum Hymnus in der Hebräischen Bibel gehen auf Hermann Gunkel zurück.45 Er hat die Formelemente des Hymnus als erster beschrieben und gedeutet. An dem kurzen Text des oben schon genannten Mirjamliedes lässt sich die Hauptform des alttestamentlichen Hymnus gut zeigen: Ex 15,21 Singt Jhwh, denn hoch erhaben ist er, Pferd und (Streitwagen-)Fahrer warf er ins Meer.

Hermann Gunkel hat hervorgehoben, dass das erste Stück des Hymnus eine Aufforderungsform darstellt, im Hebräischen häufig mit Imperativ ausgeführt. Daher spricht man zuweilen auch vom imperativischen Hymnus. In der Regel wird eine Mehrzahl zum Lob Gottes aufgefordert, was ein Hinweis auf die Situation ist, aus der diese Gattung stammt: Ein durch eine Gruppe vorgetragenes Lob mit Gott als Adressaten weist deutlich auf eine Kultsituation. Nach der Lobaufforderung folgt das Hauptstück/Corpus des Hymnus, das den Gegenstand des Lobes enthält. Gunkel nennt hier vor allem Jhwhs Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es kann ein Schlussstück angehängt sein, das am wenigsten einem Formgesetz unterliegt. Der Lobaufruf ist mit dem Hauptstück häufig durch hebr. kî verbunden. kî ist im Hebräischen mehrdeutig, es kann als begründende Konjunktion oder als hinweisende, deiktische Partikel verstanden werden. Gunkel hat es als begründend aufgefasst und mit denn übersetzt. Frank Crüsemann hat gegen diese Auffassung Einspruch erhoben.46 Er richtete das Hauptaugenmerk auf den Ablauf des Geschehens im Psalm: Wenn auf den Lobaufruf das Corpus des Hymnus mit einem begründenden kî angeschlossen sein sollte, dann fehlt in dem Psalm das eigentliche Lob; das Corpus wäre dann ja die Begründung für den Lobaufruf, es gäbe keine Durchführung des Lobes. Crüsemann fasst daher das kî hinweisend/deiktisch auf und liest es als

45 Gunkel, Einleitung in die Psalmen, § 2. 46 Crüsemann, Studien zur Formgeschichte.

301

§ 20 Gebet und Gesang

Aufmerksamkeit schaffenden Auftakt zum Corpus, in dem das Lob in Form der im Corpus gefassten Inhalte nun ausgeführt wird. Frank Crüsemann hat auf eine zweite, wichtige hymnische Form hingewiesen, den partizipialen Hymnus. Vor allem im Anschluss an den Gottesnamen kommen z. T. tiefgestaffelte Partizipien vor, die der Lobausführung dienen. So spricht Jhwh, Hymn. Partizip 1: Hymn. Partizip 2:

der dich gemacht und gebildet hat vom Mutterleib an,

Hymn. Partizip 3:

der dir hilft […].

Hymnische Partizipien sind im Psalter in reiner Form nicht erhalten, wir kennen für diese Lobform viele Parallelen aus der Umwelt, wohingegen der imperative Hymnus eine spezifisch israelitische Gattung zu sein scheint. Zu weiteren Gebetstextsorten im Psalter vgl. § 11 dieses Bandes. c)

Zum Verhältnis von Gattung und individuellem Text

Bis ins 19. Jh. wurden die Psalmen und andere Gebete der Bibel häufig als geistliche Gedichte verstanden, die Ausdruck des subjektiven religiösen Empfindens einzelner Individuen seien, vergleichbar mit Texten der europäischen lyrischen Tradition. Hier spielte auch eine Rolle, dass viele Psalmen in den Psalmenüberschriften einzelnen historischen Personen zugeschrieben wurden, die man in der Rolle der Autoren sah, allen voran David. Nun haben mehrere Beobachtungen zu einer Revidierung dieser Auffassung geführt. Zum einen hat die Gattungs-/Textsortenanalyse herausgearbeitet, dass es sehr viele Prägungen der einzelnen Texte gibt, die nicht einem kreativ-produktiven Individuum zuzuschreiben sind, sondern Gattungskonventionen entsprechen. Des Weiteren, wie vor allem am heutigen Zugang zu den Klageliedern erkennbar (s. o.), spielt der Formulargedanke eine große Rolle. Ein Gebetsformular hat ganz andere Aufgaben als eine individuelle poetische Hervorbringung; ein Formular muss eher allgemein als individuell sein, die Klagebeschreibungen dürfen etwa nicht zu spezifisch ausfallen, sonst können sich rezipierende Personen hier nicht gut einbringen u. ä. Auch wurden die Psalmenüberschriften als sekundär erkannt47; sie zeigen, dass Psalmen eher nachträglich bestimmten Personen und/ oder Situationen zugeschrieben sind. Die poetische Struktur von Psalmen ist stark 47 Vor allem durch die Untersuchung von doppelt überlieferten Psalmen wird schnell deutlich, dass Überschriften keine originären Bestandteile des Psalmentextes darstellen, sonst wären sie jeweils identisch (vgl. Ps 14 und Ps 53).

302

4. Kapitel: Religionsausübung

durch die Konventionen poetischer Sprache im Alten Orient bestimmt und durch den sog. parallelismus membrorum geprägt, der keine individualpoetische Form ist. Und schließlich, auch wenn die Forschung hier noch in den Anfängen steht, ist die poetische Ästhetik altorientalisch-alttestamentlicher Dichtung nicht am Subjektsprinzip ausgerichtet, wie das für neuzeitlich-westliche Lyrik gilt;48 ebensowenig ist in der Anthropologie ein den neuzeitlichen Modellen vergleichbares Subjektsprinzip zu beobachten.49 Die Textproduzenten haben weniger im Sinn, subjektive Erfahrung auszudrücken als überindividuell gültige Sachverhalte. Erkennbar ist dieser letzte Zug vor allem an der Spracheigentümlichkeit, dass die Psalmen durchgängig von Sprechrichtungswechseln geprägt sind, bei der Sachverhalte abwechselnd aus der Perspektive der 1. Person und der 3. Person dargeboten werden, in die dann in Form von (Gottes)Anreden auch noch die 2. Person eingebracht ist; es ergeben sich so Mischtexte, die allgemeine (Glaubens- und Religions-)Erfahrung, in Sachverhaltsmanier der 3. Pers. dargestellt, mit Ich-Erfahrung in 1. Pers. verbinden.50 Psalmen können daher problemlos auch als Lehrtexte gelesen werden, weil der Psalter auch fast alle wesentlichen Themen der Hebräischen Bibel verarbeitet; Luther nannte ihn daher auch die »kleine Biblia«. Summa summarum: Alttestamentliche Psalmentexte wie viele andere Gebetstexte sollten nicht zuerst von einer subjektorientiert-individuellen Leseperspektive her gedeutet und verstanden werden, es handelt sich in der Regel nicht um geistliche individuelle Ausdruckstexte. Einmaligkeiten, die nur idiographisch zu beschreiben sind, bleiben aber dennoch zu beobachten. Formulare sind nicht allesamt identisch konstruiert, im Ausschöpfen der Gattungsgegebenheiten, im Füllen der Textteile mit je eigenen Inhalten, in der Formung der Aussagen bleibt Spielraum für einen erkennbar unterschiedlichen Ausdruckswillen von Individuuen. Ein wunderbares Beispiel dafür sind Psalmische Großtexte, die in unglaublich artifizieller Weise durchwirkt, geradezu architektonisch raffiniert gebaut sind (etwa Psalmen wie 19; 104; 119 u. v. a. m.). d)

Die berühmteste Gebetssammlung der Welt – die Psalmen

Es ist unbedingt notwendig, beim Thema Gebet auch einen Blick auf die Psalmensammlung der Bibel zu werfen, den Psalter. Dieser ist, wie die Hebräische Bibel insgesamt, in mehreren Traditionen und Übersetzungen überliefert: Die hebräische Überlieferung unterscheidet sich hier von der griechischen (Septuaginta) und lateinischen (Vulgata) Version. Die Septuaginta ist für die orthodoxen Kirchen grundlegend geworden, die Vulgata für die römisch-katholische Kirche; die reformatorischen Kirchen greifen in ihrem Kanon auf die hebräische Überlieferung zurück. Die hebräische und die griechisch-lateinische Überlieferung der Psalmen im Psalter haben z. T. verschiedene Zählungen; dies ist durch unterschiedliche Zusam48 Seybold, Poetik der Psalmen. 49 Wagner/van Oorschot, Individualität. 50 Wagner, Beten und Bekennen, 3–19.

§ 20 Gebet und Gesang

303

menfassungen bzw. Trennungen einzelner Psalmen bedingt (in der Septuaginta werden die Psalmen 9 und 10 sowie 114 und 115 zu einem zusammengenommen, die Psalmen 146 und 147 hingegen getrennt; außerdem hat sie einen Psalm mehr, Ps 151 ist im hebräischen Psalter nicht enthalten); der hebräische Psalter, von dem im Folgenden gehandelt wird, zählt 150 Psalmen. Der Psalter als ganzer ist eine Sammlung von Sammlungen. Es lassen sich anhand von Überschriften, gemeinsamen Stichworten und Themen, Doppelüberlieferungen (z. B. Ps 14 = Ps 53) etc. größere und kleinere Teilsammlungen rekonstruieren, etwa der Davidspsalter Ps 3–41 und der elohistische Psalter Ps 42–83, in dem der ursprüngliche Gottesname Jhwh durch Elohim verdrängt wurde. Diese Teilsammlungen sind im Lauf der Zeit zum vorliegenden Psalter zusammengewachsen, der spätestens im 2. Jh. v. Chr. abgeschlossen war. Ein spannendes Thema in der neueren Forschung zum Psalter sind die Strukturen, die sich in der Sammlung herausgebildet haben und die z. T. selbst zum Aussagemittel werden. Ganz entscheidend ist der Psalter etwa durch seine Anfangs- und Schlusstexte geprägt, die seine Leseperspektive bestimmen. Wenn es richtig ist, dass ein Vorstadium des jetzigen Psalters mit Ps 2, der messianisch auf den kommenden König bzw. den Gesalbten (=Messias) gedeutet werden kann, begann und mit Ps 89 (ebenfalls einem Königspsalm) schloss, so kann man diesen Psalter als messianische Großkomposition verstehen und das Thema Messias als Leitthema auffassen; unter diesem Leitthema wären dann auch die restlichen Psalmen zu lesen. Die Leseperspektive verändert sich, wenn man eine Entwicklungsstufe weiter schaut, die wohl von Ps 1 bis 119 gereicht hat; in dieser Komposition ist das Thema Tora in den Vordergrund getreten, und alle Psalmen wären von diesem Leitthema her zu lesen. In der jetzigen Fassung kann man den Psalter als ein großes Gotteslob lesen, als Hymnus, der sein Korpus in Ps 1–144 hat, seinen imperativischen Lobaufruf in (145–)150.51 Früher galt der Psalter als Gesangbuch des zweiten Tempels; dafür gibt es aber keine schlüssigen Indizien: Musikalische Anweisungen sind nur bei wenigen Psalmen vorhanden, entschlüsseln kann man sie kaum, externe Evidenzen für eine Gesangbuchpraxis gibt es keine. In der heutigen Forschung tritt viel stärker der Gebetscharakter des Psalters hervor; allerdings dienen durch den Einbezug von Reflexionstexten die Psalmen auch als Studien-, Erbauungs- und Bekenntnis-Texte. Insgesamt ist dies ein Gebets- und Lebensbuch, aus dem alles Wesentliche über Gott und Mensch zu erfahren ist.

Bibliographie Begrich, Joachim, Das priesterliche Heilsorakel: ZAW 52 (1934), 63–88. Brunner-Traut, Emma, Frühformen des Erkennens. Am Beispiel Altägyptens, Darmstadt 1990. Crüsemann, Frank, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn 1969.

51 Wagner, Beten und Bekennen, 83.

304

4. Kapitel: Religionsausübung

Diehl, Johannes F./Witte, Markus (Hg.), Die Sprache der Religion – Interdisziplinäre Studien zu Orakeln und Gebeten in Ägypten, Vorderasien und Griechenland in hellenistischer Zeit (FAT II 38), Tübingen 2009. Dietrich, Walter, 1Sam 1–12 (BK 8,1), Neukirchen-Vluyn 2011. Gerstenberger, Erhard S., Der bittende Mensch (WMANT 51), Neukirchen-Vluyn 1980. Greenberg, Moshe, Biblical Prose Prayer as a Window to the Popular Religion of Ancient Israel, Berkeley 1983. Gunkel, Hermann, Einleitung in die Psalmen, zu Ende geführt von Joachim Begrich (HAT Ergänzungsband zur II. Abteilung), Göttingen 1933, 21966. Janowski, Bernd, Das verborgene Angesicht Gottes. Ps 13 als Muster eines Klagelieds des einzelnen: JBTh 16 (2001), 25–53. Ders., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen. Neukirchen-Vluyn 42013. Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996. Ders./Uehlinger, Christoph, Göttinnen, Götter, Göttersymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen. (QD 134), Freiburg/Basel/Wien (1992) 52001. Machinist, Peter, Über die Selbstbewußtheit in Mesopotamien: Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Die Ursprünge und ihre Vielfalt. Teil 1, Frankfurt a. M. 1987, 258–291. Mathys, Hans-Peter, Dichter und Beter. Theologen aus spätalttestamentlicher Zeit (OBO 132), Fribourg/Göttingen 1994. Miller, Patrick D., They cried to the Lord. The Form and Theology of Biblical Prayer, Minneapolis 1994. Ratschow, Carl Heinz, Art. »Gebet I«: TRE 12 (1984), 31–34. Reventlow, Henning Graf, Gebet im Alten Testament, Stuttgart 1986. Seybold, Klaus, Poetik der Psalmen. Poetologische Studien zum Alten Testament 1, Stuttgart 2003. Wagner, Andreas, Beten und Bekennen. Über Psalmen, Göttingen 2008. Ders., Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Menschengestaltigkeit Gottes, Gütersloh 2010; erweiterte engl. Übersetzung: God’s body. The Anthropomorphic God in the Old Testament, London u. a. 2019. Ders., Menschenverständnis und Gottesverständnis im Alten Testament, Göttingen 2017. Ders./van Oorschot, Jürgen (Hg.), Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments (VWGTh 48), Leipzig 2017. Westermann, Claus, Lob und Klage in den Psalmen (5. Aufl. von: Das Loben Gottes in den Psalmen 11954), Göttingen 1977.

5. Kapitel: Menschenbilder

§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie Silvia Schroer, Bern Dass es in der Hebräischen Bibel keine eigentliche Anthropologie, also eine systematische Lehre vom Menschen gibt, ist seit den Publikationen von Hans Walter Wolff ein immer wieder bestätigter Konsens. Die biblischen Texte entfalten aber durchaus Ansichten über das Menschsein, oft sehr grundsätzliche und sehr reflektierte wie z. B. in den Schöpfungstexten oder im Buch Hiob. Anderes, was wir zu einer biblischen Anthropologie bündeln, liegt den Texten, aber auch der materiellen Kultur und besonders den Bildern Israels einfach zugrunde. Menschenbilder der damaligen Zeit sind eingeflossen in Erzählungen und Geschichtsschreibung, Gebete, prophetische Botschaften und Liebeslieder, sie lassen sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst aufspüren. Sie sind bedingt durch geographische, soziale und politische Faktoren, vor allem aber durch Traditionen. Die Ansichten der alten ÄgypterInnen über das menschliche Leben unterschieden sich beispielsweise in mancher Hinsicht von denen der Menschen in Israel. In einer Flussoase zu leben auf der einen, oder steinigen Böden die Nahrung abzuringen auf der anderen Seite, prägt über die Generationen hinweg den Alltag einer Kultur, aber zugleich auch ihre Ideenwelt. Im Niltal hat man sich angesichts der Kürze des heißgeliebten Lebens auf ein ewiges Leben nach dem Tod ausgerichtet. In Israel wurde die Grenze des Todes nie in dieser Weise überschritten, die Religion war erstaunlich diesseitig. Die vielen Menschenbilder der biblischen Texte allzu stark systematisieren zu wollen, ist nicht sinnvoll. Die Denkweise dieser antiken Kultur war generell aspektivisch. Die Welt und ihre Phänomene wurden durch das Sammeln und Ordnen von verschiedenen Aspekten beschrieben, nicht durch Systeme und Definitionen. Das soll aber nicht daran hindern, nach einigen Grundlinien, nach Unverwechselbarem oder besonderen Charakteristika der israelitischen Menschenbilder zu fragen. Biblische Anthropologie bewegt sich in zwei Gravitationsfeldern, einem eher historischen und einem theologischen. Historische Anthropologie bemüht sich beispielsweise um die Erforschung von materiellen Lebensbedingungen und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen, sie ist interdisziplinär. Theologische Anthropologie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Menschenbilder Israels eingebettet sind in eine kanonische Literatur zweier Religionen, sie steht in einem andauernden Dialogprozess auch mit den normativen Ansprüchen oder dem Kerygma dieser Texte. Sich der histori-

306

5. Kapitel: Menschenbilder

schen oder der theologischen Seite einer biblischen Anthropologie entziehen zu wollen, ist unsinnig. Um Aussagen wie jene über die Gottebenbildlichkeit anthropologisch-theologisch zu verorten, müssen wir über das konkrete Leben von Menschen im alten Israel so viel wie möglich wissen, angefangen vom Häuserbau bis hin zu den Gebeten.

1.

Es gibt keinen Begriff für Seele

Die schon angesprochene Diesseitigkeit der israelitischen Religion hängt anthropologisch eng mit einem fehlenden Begriff zusammen. Obwohl in den Bibelübersetzungen die Seele häufig vorkommt, gibt es eine Seele in der hebräischen Sprache nicht. Dort ist von der næfæsch der Menschen die Rede. Ursprünglich bezeichnet dieses Wort die Kehle. Mit ihr verbindet sich die Bedürftigkeit nach Nahrung und Luft und von da her in einer weiten Symbolik die Bedürftigkeit menschlichen Lebens überhaupt und zugleich seine Endlichkeit. Gott haucht dem menschlichen Wesen bei der Schöpfung Lebensatem, nischmat chajim – »lebendigen Atem«, ein, und dadurch wird es zu einer lebendigen næfæsch, einem Lebewesen (Gen 2,7). Beim Tod verlässt die næfæsch dieses Lebewesen wieder, es atmet nicht mehr und bewegt sich nicht, es begehrt nichts mehr. Die næfæsch ist göttlicher Lebenshauch in Menschen (und auch Tieren; vgl. Spr 12,10), sie trägt aber nicht Existenz, Wesen oder Personsein eines Menschen über dessen Tod hinaus. Noch Kohelet (3,19–21) weigert sich, sich auf Spekulationen über das Schicksal der næfæsch nach dem Tod einzulassen. Vorstellungen von einem Weiterleben ohne den sterblichen Körper sind hingegen mit dem griechischen Wort psyche, das schon die antiken Übersetzer der Hebräischen Bibel (Septuaginta) an die Stelle von næfæsch setzten, verbunden. Die psyche ist bei den griechischen Philosophen eine Größe, die den Tod überdauert, die eine Unabhängigkeit von der Inkarnation in einem Körper hat und deshalb auch »wandert«. So kam es durch die Übersetzungen zu einer folgenschweren Verschiebung im Verständnis vieler Texte. Ein individuelles Leben nach dem Tod hat in der Anthropologie Israels aber begrifflich keine Verankerung. Menschliches Leben endet vielmehr mit dem Tod in ganz radikaler Weise. Es gibt keine Aussicht auf ein Weiterleben oder ein neues Leben in einer anderen Welt. Das Leben ist rein diesseitig, auch die Gottesbeziehung ist bis in die nachexilische Zeit bezogen auf das Diesseits. Ob einzelne Grabinschriften oder Psalmen (49; 73) von diesem Welt- und Gottesbild abweichen oder seine Veränderung anzeigen, wird diskutiert. Erst allmählich entwickelt sich, soweit wir dies Texten der nachexilischen Zeit entnehmen können, aus dem Glauben an Gottes Gerechtigkeit auch ein Glaube an Gottes Schöpfermacht und Treue über die individuelle Todesgrenze hinaus.

2.

Menschsein ist leiblich

Dem Fehlen einer Seele entspricht auf der anderen Seite ein sehr ausgeprägtes Interesse an den leiblichen, konkreten Dimensionen des Daseins. Die Lebenszeit war im Durchschnitt weit kürzer bemessen als unsere Lebenszeit, häufig nur halb so

§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie

307

lang, zwischen 30 und 50 Jahren. Umso größer waren die Lebenssehnsucht und die Lebensintensität, denn die Generationen folgten einander rasch, Leben und Tod lagen in jeder Hinsicht sehr nah beieinander. Der Körper des Menschen bietet sich an, um den biblischen Menschenbildern, auch den impliziten, auf die Spur zu kommen und wichtige Unterschiede zu unseren modernen Vorstellungen zu realisieren. Von Kopf bis Fuß, mit Haut und Haar, mit Augen und Ohren, Herz und Verstand – in den Körper ist eingeschrieben, was Menschen bewegt, belebt, verführt, aber auch quält und zerstört. Am Körper ablesbar ist die Beziehung der Menschen zu ihrer Mitwelt und zu Gott. In jüngster Zeit ist der Versuch, wichtige hebräische Körperbegriffe wie leb/lebāb (Herz) oder bāśār (Fleisch) zu zentralen Begriffen der Anthropologie zu erheben, sehr grundsätzlich in Frage gestellt worden, und manche Relativierung dürfte berechtigt sein. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass sich mit dem Organ »Herz« in den hebräischen Texten andere Vorstellungen verbanden, als wenn heutige Menschen in westlichen Kulturen vom Herz oder dem Herzen sprechen. Im alten Israel war das Herz Sitz des Denkens, der Vernunft oder des Gewissens, nicht der Gefühle (Dtn 29,3; 1Kön 3,9; Hos 7,11). Mit Körperteilen wie der Hand, aber auch Organen wie der Gebärmutter verbinden sich weitreichende Vorstellungen, die vom Konkreten ins Bildhafte und Metaphorische übergehen. Die Hand ist als tatkräftige, zupackende Hand oft Inbegriff von Macht. ræchæm, die Gebärmutter, nährt neues Leben und repräsentiert zugleich die Empathie für ein anderes Wesen. Wenn ræchæm als Sitz von Mitgefühl (rachamim) ins Spiel kommt, stellt sie auch bei Männern oder dem Gott Israels die Gefühlswelt auf den Kopf (Gen 8,21; Jer 31,20; Hos 11,1–9). Viele anthropologische Begriffe haben eine enge Verbindung zu den Gottesvorstellungen, hier konkretisiert sich die Gottebenbildlichkeit (siehe weiter unten) in einer Menschenbildlichkeit Gottes. Zur Leiblichkeit gehört die Sterblichkeit, aber auch das Zeugen und Gebären. Dem Tod steht daher in vielen biblischen Texten die erotische Liebe als mächtige Widersacherin gegenüber (Hld 8,6). Der Umgang mit Tod und Geburt, Tod und Liebe erscheint dabei in vielfältiger Weise als Frauendomäne. Hier hatten Frauen ihren wichtigen Part, nicht zuletzt bei der Ausübung von religiösen Ritualen. Die Erotik hat in der altisraelitischen Tradition einen hohen Stellenwert, sie ist Leben in einer höchsten Potenz, faszinierend und einmalig, wie sie im Hohenlied besungen wird. Sexualität allerdings steht in einem kulturellen Kräfte- und Spannungsfeld, wo Herrschaft, Macht, Privilegien, Tabus, Eifersucht bis hin zu Mord und Totschlag eine Hauptrolle spielen. Sexualität wird in jeder Kultur reglementiert. Im alten Israel gab es über die institutionellen Ordnungen hinaus eine zunehmend große Widerständigkeit, insbesondere in Kreisen der Prophetie, gegen die Integration von Sexualität, erotischen Tänzen usw. in den Kult. Dass diese Entwicklung u. a. leibfeindliche und frauenfeindliche Folgen hatte, ist unbestreitbar. Die Priesterschaft Israels war männlich – und die Frage stellt sich, wie ein so subtiles Denken über die Geschlechter (z. B. in Gen 2–3, aber auch in den Erzählungen in Ri und Sam) mit einer solchen Institution zusammenzubringen ist, bzw. welche Kreise in welchen Zeiten das eine oder andere maßgeblich trugen. Ein wichtiger Aspekt der israelitischen Körpersymbolik ist, dass sie wenig Interesse an Formen und Aussehen hat und großes Interesse an Dynamis und Wirkung.

308

5. Kapitel: Menschenbilder

Das Schönheitsempfinden war, wie die Kunst zeigt, ganz ähnlich wie unseres auf Symmetrie und ausgewogene Proportionen ausgerichtet, aber gerade in den Texten des Hohenlieds zeigt sich, dass Schönheit vor allem mit Ausstrahlung verbunden wurde, nicht mit Aussehen. Wenn die Liebenden einander sagen »Deine Augen sind Tauben« (Hld 1,15 und öfter), bedeutet das, wie Othmar Keel schon in den 1980er Jahren aufgezeigt hat, dass die Blicke des Partners oder der Partnerin Liebesbotschaften verkünden, nicht etwa, dass die Augen Taubenform hätten. Als Attributtier der altorientalischen Liebesgöttinnen wird die Taube in der poetischen Sprache genau wie in der Kunst zum Sinnbild erotischer Liebe.

3.

Mensch und Tier sind gleichermaßen vergänglich

Die leibliche Dimension menschlichen Lebens ist unauflöslich verbunden mit der Sterblichkeit, ja Hinfälligkeit und Gefährdung des Lebens. Gegen die Vergänglichkeit als condition humaine hat man sich nicht aufgelehnt, umso mehr aber protestiert, wenn ein Leben zu früh, mit Gewalt und ungerecht dahingerafft wurde. Hiob empört sich nicht, weil er sterben muss, sondern weil er zu früh und als Gerechter vom Tod ereilt werden soll. Die Hebräische Bibel ist voll von Erinnerungen und Ermahnungen, dass das Leben kurz sei, ein Hauch, ein rasch welkendes Gras (Jes 40,6–8 und öfter). Im Licht der Sterblichkeit und des sicheren Todes wird das ganze Leben betrachtet, ein ständiges Memento Mori. Die Vergänglichkeit teilen Mensch und Tier (Koh 3,18–21). Zugunsten des Lebens der Spezies müssen Menschen wie Tiere sterben, sie kommen auf die Welt und machen wieder Platz für die Nachkommen. Die ganze Welt ist ein Kreislauf der tôledôt, der Zeugungen/Geburten, wie die Priesterschrift am Ende des ersten Schöpfungstextes (Gen 2,4) resümiert. Die Verbundenheit mit dem Tier ist eine Besonderheit des israelitischen Menschenbilds im Vergleich mit der Sichtweise mancher – nicht aller – antiker Philosophen, aber auch mit heutigen Ansichten. Obwohl nach Gen 2 der Unterschied zwischen Tier und Mensch gravierend ist, weil das Tier für den Menschen nie ein ebenbürtiger Partner sein kann und ihn nicht aus der Einsamkeit rettet, wird doch insgesamt die Verwandtschaft von Mensch und Tier in den biblischen Texten weit mehr unterstrichen als ihre Verschiedenheit. Menschen und Landtiere werden nach Gen 1,24–31 am selben, dem sechsten Tag erschaffen. Menschen und Nutztiere teilten im Alltag viel Zeit und auch Raum miteinander. Auf die Arbeitskraft der Nutztiere und das Gedeihen der Kleinviehherden war man ökonomisch völlig angewiesen, weshalb man auf sie achtgab und der Gesetzgeber ihnen Schutz und gewisse Grundbedürfnisse zugestand, z. B. dem Rind und Esel einen arbeitsfreien Tag (Ex 20,10; Dtn 5,14), dem Rind die Möglichkeit, beim Dreschen ungehindert vom Getreide zu fressen (Dtn 25,4). Das Bedürfnis der Menschen, sich von den Tieren abzugrenzen und als höhere Wesen zu profilieren, war daher nicht sonderlich ausgeprägt. Von der Schöpfung über die Sintflut bis zu den Hoffnungen auf eine neue Welt – Mensch und Tier sitzen im selben Boot. Diese Nähe zum Tier überrascht vielleicht, wenn man an die Spitzenformulierungen in Gen 1 und Ps 8 denkt, dass Menschen Ebenbilder Gottes bzw. wenig geringer

§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie

309

als Elohim-Wesen seien. In solchen Aussagen wird eine Verwandtschaft von Mensch und Gott postuliert, die den Menschen tatsächlich eine herausragende Stellung im Universum verleiht, verbunden mit Verantwortung. Unsterblich werden sie dadurch aber nicht. Die Gottebenbildlichkeit erhält durch ihre Thematisierung im ersten Kapitel der Bibel ein großes Gewicht, aber die Vergänglichkeit, die Mensch und Tier miteinander verbindet, ist das weit häufigere und weit mehr entfaltete Thema der biblischen Schriften.

4.

Menschsein ist immer Dasein »in Beziehung«

Menschen sind bei der Geburt und – im Gegensatz zu den meisten hochentwickelten Säugetieren – noch sehr lange danach abhängig von umfassender elterlicher Ernährung und Versorgung. Das Geborenwerden ist mit dieser Abhängigkeit eng verknüpft. Es dauert lange, bis ein menschliches Lebewesen für sich selber sorgen kann. Die biblischen Texte haben diese Angewiesenheit immer im Blick, sie gehen aber noch einen Schritt weiter. Menschliche Wesen sind Sozialwesen, sie brauchen einander. Nach Gen 2 ist es Gottes eigene Einsicht, dass es für den Erdling nicht gut ist, allein zu sein. Die Gemeinschaft ist genauso wichtig wie die Ernährung. Die Vertreibung der Einsamkeit gelingt erst durch die Erschaffung von zwei in Egalität aufeinander bezogenen menschlichen Wesen, Mann und Frau. Die biblischen Schöpfungstexte in Gen 1–3 bezeugen eine erstaunliche Reflexion, die wir in anderen altorientalischen Schöpfungsmythen so nicht finden, auf die Bedeutung der Geschlechtlichkeit. In Gen 1 steht sie im Dienst der Fruchtbarkeit, des unendlichen Kreislaufs der Geburten. Mit der sehr betonten Aussage, dass Gott die Menschen in zwei Geschlechtern erschuf zum Bild Gottes, wird aber ein Gedanke eingefügt, der mit der Biologie nicht viel zu tun hat. Gen 2 betrachtet die Geschlechterfrage mit dem rein sozialen Blick Gottes – Mann und Frau sollen sich ebenbürtige Partner sein, von ihren Kindern ist hier keine Rede. Das Urmenschenpaar gewinnt durch das Essen der Frucht vom Baum in der Mitte des Gartens göttliche Klugheit und wird unter das Verdikt der Sterblichkeit gestellt. Erst in Gen 3 ist vom schweren Gebären die Rede. Und nochmals ist hier eine verblüffende Aussage zu finden, nämlich dass das Begehren der Frau nach dem Mann beantwortet wird mit Herrschaft über sie. In Beziehung ist der Erdling allerdings in einem noch weiteren Radius, in Beziehung zu seiner natürlichen Mitwelt, zu den Pflanzen und Tieren, der Arbeit für das tägliche Brot, den Jahres- und Tageszeiten. Immer steckt ein Stück Alltags- und Sozialgeschichte in den Menschenbildern, und Menschen projizieren sich selbst in die Wahrnehmungen ihrer Umwelt. Das Funkeln des Weins ist im Hebräischen »das Auge des Weins« (Spr 23,31) – eine Metapher, die zeigt, wie die Leiblichkeit von Lebewesen in die Welt der Dinge hineingetragen wird. Umgekehrt beschreiben Menschen ihre Befindlichkeit, ihr Verhalten oder ihre Ideale von menschlichen Stärken und Besonderheiten gern mit Bildern aus der Tierwelt. Wer sein Kind »Fuchs« (Schual) oder »Schlange« (Nachasch) nannte, wünschte ihm wahrscheinlich, dass es bewunderte Eigenschaften dieser Tiere haben sollte. Viele Tiernamen sind

310

5. Kapitel: Menschenbilder

bis heute gebräuchliche Personennamen, wie Rachel (»Mutterschaf«), Jaël (»Steingeiß«) oder Jona (»Taube«) und Simon (»Hyäne«). Die Schöpfungstexte in Gen 1–3 verankern die Erschaffung der Menschen in einem Kosmos, Gen 1 in einem universalen Kosmos (vgl. auch Ps 104), Gen 2 etwas kleinräumiger in einem irdischen Garten. Aber das Universum wie auch der Garten werden jeweils von Gott für den Erdling vorgesehen und ihm als Lebensraum zur Verfügung gestellt. Auch damit ist die »Beziehungshaftigkeit« menschlicher Existenz vorgezeichnet und zugleich die zentrale Frage aufgegeben, die sich hinter allem biblischen Nachdenken über das Menschsein verbirgt: Wozu sind wir Menschen auf der Welt?

5.

Menschsein ist Dasein in Beziehung zu Gott

Die gesamte biblische Literatur macht eine Grundannahme, die wir nie außer Acht lassen dürfen, nämlich dass es Gott gibt, dass diese Gottheit mächtig ist, wirken kann (wenn sie will) und kommuniziert. Leben, nicht nur das der Menschen, spielt sich ab vor Gott, in geglückter oder missglückter Weise, in Frömmigkeit oder in der Verweigerung von Frömmigkeit. Gott ist das erkannte oder verkannte, verborgene, unauffindbare, ersehnte, oft aber auch angeklagte Gegenüber menschlichen Lebens. Menschen können Gott ausblenden aus ihrem Leben, so tun, als gäbe es ihn nicht (Ps 14,1). Bei Tieren gibt es diese letzte Variante nicht, sie vergessen nicht, wer sie geschaffen hat (Hiob 38,41; Ps 104,21) und zu wem sie gehören (Jes 1,3). Die Bezogenheit auf Gott äußert sich nicht nur in den Gebeten Israels, sondern auf Schritt und Tritt, in Geschichten und Geschichte, in Gesetzen, in Auseinandersetzungen um Politik, Soziales, Kult. Gott ist die allgegenwärtige Größe im biblischen Nachdenken über das Menschsein, mit Gottes Gegenwart wird gerechnet. »Du hast ihn wenig geringer gemacht als Elohim«, sagt Ps 8,6 über den Erdling. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch, die es ermöglicht, dass beide auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Die Priesterschrift hat mit ihrer programmatischen Idee der Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch (Gen 1,27f.) die unauflösbare Verbindung menschlicher und göttlicher Existenz so formuliert, dass daraus bis heute immer wieder umfassende Anthropologien und Theologien erwachsen. Die Verwandtschaft von Menschen und Göttern wird in vorderorientalischen Mythen manchmal als eine Art Blutsverwandtschaft – das Blut eines geopferten Gottes wird bei der Erschaffung des Menschenwesens verwendet – vorgestellt. Annette Zgoll weist darauf hin, dass im akkadischen Wort für »Mensch«, awilum, das Wort »Gott«, ilum, steckt, also die Etymologie eine hochtheologische Bedeutung enthält. Auch in Ägypten gibt es in der Lehre des Merikare (TUAT II, 835) schon die Vorstellung, dass Menschen aus dem Leib des Gottes hervorgehen und ihm daher ebenbildlich sind. Häufiger allerdings wendet die ägyptische Theologie die Idee der Gottähnlichkeit auf den König an. Gen 1,26 verbindet die Verwandtschaft, die wie bei Eltern und Kindern mit Ähnlichkeit einhergeht (vgl. Gen 5,3), in den folgenden Versen mit einer vollumfänglichen Beauftragung der Menschen, die Erde zu füllen, über die Tierwelt zu herrschen und sich mit ihnen die pflanzliche Nah-

§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie

311

rung zu teilen. Gott überschreibt die Nutzungsrechte an der Erde weitgehend, aber nicht uneingeschränkt den Menschen. Sie sind Gottes nächste Verwandte, in ihnen lebt Gott, in seinem Auftrag bevölkern sie die Erde, die ihnen übergeben wurde. Während in der antiken Perspektive ein solcher anthropozentrischer Verwaltungsund Herrschaftsauftrag einen plausiblen Zusammenhang hatte, sind wir spätestens seit der Industrialisierung mit so großen Verschiebungen der Kräfte und Gefährdungen des Welthauses konfrontiert, dass wir Gen 1,28 nicht mehr ohne diese modernen Kontexte lesen und auslegen können. Die Verwandtschaft von Gott und Mensch ist auch die Basis für einen Umgangston, der immer wieder überrascht. Obwohl die Erhabenheit und unendliche Überlegenheit des Schöpfers über alles irdische Leben nie in Frage gestellt wird, gibt es eine erstaunliche Vertrautheit in der Kommunikation. In Gen 18,22–33 verhandelt Abraham mit Gott über die Anzahl der Gerechten in Sodom, die die Rettung der Stadt bewirken könnten. Er verhandelt höflich und zugleich unverschämt, und Gott gibt immer wieder nach. So miteinander zu reden, erfordert ein Vertrauen, wie es nur zwischen Verwandten und engen Freunden vorstellbar ist. Ähnlich ist es mit den Betern und Beterinnen in den Psalmen oder einem Hiob, die sich trauen, Gott Vorwürfe zu machen, ihn in die Verantwortung zu nehmen, auf die Gerichtsbank zu zitieren, an ihm zu zerren und zu rütteln, ihn sogar zu erpressen. Diese Art von Beziehungen nimmt Gott mit – in der doppelten Bedeutung dieses Ausdrucks. Und so ändert sich Gott, wie schon nach der Sintflut, denkt um, lässt sich bewegen, hält aus zwischen Empathie und der Durchsetzung der Gerechtigkeit (Hos 11).

6.

Es gibt kein menschliches Leben ohne Schuldverstrickung

Refrainartig wird im Buch Hiob wiederholt, dass Menschen mit ihrer Geburt auch in Schuld und Sünde hineingeboren werden (Hiob 15,14 und passim in Variationen). Das klingt grundpessimistisch, ist aber eher realistisch und kein Grund zur Verzweiflung. Das Leben in Beziehung, zur Mitwelt, insbesondere zu den Mitmenschen, aber auch zu Gott, verläuft nicht fehlerfrei. Das Leben ist eine Kette von unabsichtlichen und absichtlichen Verfehlungen und Fehltritten, viele davon im Bereich der Verletzung von Ordnungen. Es gibt Hilfestellungen, um sie zu verhindern oder wieder gutzumachen. Gesetze bieten Geländer, um Verfehlungen und Schuld zu vermeiden oder zu entgelten. Gute Beobachtung menschlichen Verhaltens macht weise und verhilft zu einem Leben in Gerechtigkeit und auf gerader Bahn (Spr 16,17). Propheten, Orakel und Träume können dabei helfen, sich nicht zu verirren im Labyrinth des Lebens. Kult und Opferdarbringungen, aber auch Schuldeingeständnis und Vergebungsbitte können das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft vor Gott bereinigen. Gen 3 erzählt von der ersten Verfehlung des Urmenschenpaares. Die mythische Übertretungsgeschichte siedelt sich auf derselben Ebene an wie die griechische Prometheus-Erzählung. Die Menschen geben sich nicht zufrieden mit dem, was ihnen von den Göttern zugewiesen wird, sie wollen mehr – mehr Fertigkeiten (die Herrschaft über das Feuer) oder mehr Fähigkeiten

312

5. Kapitel: Menschenbilder

(Klugheit wie Gott). In dieser biblischen Erzählung arrangiert Gott sich erstaunlich rasch mit den Fakten, und man fragt sich, ob die Urschuld der menschlichen Konkurrenz mit Gott (»werden wie Gott«) nicht eigentlich vorhersehbar war und der sog. Sündenfall eine unvermeidliche Entwicklung. Die Menschen verlieren die paradiesische Umgebung, aber nicht Gottes Fürsorge und Wohlwollen. Die strikte Grenze, der fundamentale Unterschied zwischen Mensch und Gott ist fortan nur noch die menschliche Sterblichkeit. Um wirkliche Schuld geht es aber in den anschließenden Urgeschichten: Warum musste Kain Abel totschlagen? Was treibt Männer in Eifersucht und Gewalt? Warum ist die Erde voller Bosheit (Gen 6,13), so dass Gott sich veranlasst sieht, die ganze Schöpfung durch eine Sintflut zu vernichten und nochmals neu zu beginnen? Woher kommt der Antrieb, immer höher hinaus zu wollen und Macht zu demonstrieren (Gen 11,1–9)? Immer ist da böse Absicht, Missgunst, Gewaltbereitschaft – und die biblischen Verfasser sind sich einig, dass es möglich wäre, diese zu besiegen. Das Chaos, das Böse und die Sünde lauern immer auf der Schwelle (Gen 4,7), aber sie müssen nicht hereingelassen werden. Schuld basiert auf Freiheit – kein alttestamentlicher Text nimmt an, dass Menschen zur Sünde gezwungen sind, auch wenn sie zutiefst dazu neigen. Allerdings stellt sich Ezechiel (36,26) vor, dass Gott in einer kommenden Zeit dem Erdling ein anderes Herz, also einen anderen Verstand, einsetzt, damit er weniger anfällig ist für die Sünde.

7.

Die selbstkritischen Aspekte biblischer Menschenbilder

Die Menschenbilder des alten Israel, wie sie uns in der biblischen Literatur entgegenkommen, sind nicht isoliert von den umliegenden Kulturen zu betrachten. Im Bereich der Weisheitstraditionen, die recht international waren, lassen sich viele Übereinstimmungen erkennen in der Reflexion über menschliches Leben, z. B. was die menschliche Erkenntnisfähigkeit betrifft. Die sog. Hiob-Literatur, die viel älteren Vorläufer des biblischen Hiob in der mesopotamischen und ägyptischen Literatur, sind dafür ein gutes Beispiel, aber auch enge Bezüge zwischen den Proverbien und ägyptischen Weisheitslehren. Das ägyptische Totenbuch mit seinem negativen Sündenbekenntnis oder die ägyptischen Sonnenhymnen zeigen, dass manche Grundgedanken über das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf oder über gerechtes Handeln in diesen antiken Kulturen ähnlich waren. Auch zwischen dem GilgameschEpos, den homerischen Heldenepen, den brillanten Gedanken der griechischen Tragiker über Schicksal und Schuld oder Hesiods Ansichten über Tun und Ergehen, wie er sie in den Erga kai hemerai einfließen lässt, und biblischen Texten gibt es Übereinstimmungen. Dennoch machen sich in der einzigartigen biblischen Bibliothek mit ihren verschiedenen literarischen Gattungen, mit ihren Stimmen verschiedener Gruppierungen und Verfasserkreise aus mehreren Jahrhunderten zwei Grundtöne bemerkbar, die man zumindest in ihrer Gewichtung als Besonderheiten im Kreis der antiken Literaturen herausheben kann. Der erste ist der unermüdliche Aufruf zur Erinnerung. Israel ist eine Art Profikultur für Gedächtnis und Erinnerung:

§ 21 Grundlinien hebräischer Anthropologie

313

Einen Ausländer sollst du nicht quälen. Denn ihr wisst, wie dem Ausländer zumute ist, seid ihr doch selbst Ausländer gewesen im Land Ägypten (Ex 23,9 u. ö.).

Man erinnert sich an den Exodus als Ereignis der Befreiung, aber auch an die Erfahrung der Unterdrückung vorher. Die Vergangenheit wird nicht einfach verherrlicht, sondern wachgerufen, um ein Licht auf die Gegenwart zu werfen und die eigene Perspektive zu ändern. Erinnerung an Gottes Schöpferwerk, an den Bundesschluss, an den Exodus, an Rettungserfahrungen verbindet die Generationen (Dtn 32,7), Erinnerung hält die Israeliten im Exil zusammen (Ps 137,5). Sie wird mit Festen gefeiert und in einem dichten Prozess von Verschriftlichung, Redaktion und Kanonisierung von Literatur kultiviert. Für die Gedächtnisreligion ragt die Vergangenheit immer in die Gegenwart, auch Gott wird von den Betern der Psalmen häufig an Vergangenes erinnert, seine Schöpfungswerke, seine Befreiungstaten – Vergangenes verpflichtet. In der Aufforderung zur Erinnerung liegt das Potenzial zur selbstkritischen Distanzierung. Nur wer sich erinnert, kann Vergangenes dann auch vergangen sein lassen und sich ganz auf das Neue einlassen, wie es Deuterojesaja (43,18f.) fordert. Der zweite Grundton ist ein herrschaftskritischer, der aus der Geschichte Israels erwächst. Israel konstituierte sich etwa im 11. Jh. v. Chr. aus der im Land Kanaan heimischen Bevölkerung, die in der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends unter dem Druck der ägyptischen Besatzung des Landes aus den großen Städten verdrängt und teilweise wohl in die Nicht-Sesshaftigkeit getrieben worden war, doch kamen noch andere Bevölkerungsgruppen hinzu. Was später Israel wurde, waren zunächst kleine dörfliche Pioniersiedlungen in den noch wenig erschlossenen Gebieten der Schefela und des Berglands. Das Machtvakuum, das Ägypten am Ende der Ramessidenzeit hinterließ, erforderte eine Neuorganisation der lokalen politischen Verhältnisse. Der Druck zur Staatenbildung war groß, aber der Widerstand dagegen offenbar von Anfang an auch. Herrschaft wird in Israel im Unterschied zu anderen altorientalischen Kulturen nie als schöpfungsgegeben und unantastbar betrachtet, und die Gottebenbildlichkeit wird nicht – wie in Ägypten – dem König zugewiesen, sondern allen Menschen. Die Häuptlinge der sog. Richterzeit und die Könige Israels und Judas sind nicht Inbegriffe idealer Herrscher, nicht einmal ein David oder Salomo. Abimelechs Bemühen, als Held im Kampf in Erinnerung zu bleiben, wird durch die Erzählung seines schmachvollen Endes durch die Hand einer Frau unterlaufen (Ri 9,50–57). David werden Morde aus persönlichen und politischen Motiven angekreidet und Salomo seine Frauengeschichten. Sie alle sind unvollkommen, keiner entgeht der Kritik der biblischen Schriften. Man kann aber noch weiter zurückblicken – auch ein Abraham, ein Jakob oder ein Mose erscheinen nicht immer im idealen Licht, sondern manchmal als Feiglinge, Schwächlinge, gar Betrüger. Ehre ist im alten Israel kein unhinterfragter höchster Wert. Der herrschaftskritische rote Faden der biblischen Literatur ist nicht wegzudiskutieren. Da es ein herrschaftskritischer Faden ist, ist es zumeist auch ein patriarchatskritischer Faden. Dass Männer Frauen beherrschen und damit Unrecht schaffen, oft sogar größtes Unrecht und Gewalt bis zum Tod, haben die biblischen Verfasser im Blick und sie verschweigen es nicht. Tatsächlich ist die Vermutung

314

5. Kapitel: Menschenbilder

berechtigt, dass einflussreiche Frauen am Hof daran beteiligt waren, solche Erinnerungen zu bewahren. Das protestierende Gerechtigkeitsempfinden war größer als das Bedürfnis, den Verantwortlichen eine reine Weste zu bescheinigen oder die männliche Ehre zu retten – nur deshalb sind uns die Horrorgeschichten von Vergewaltigungen, sogar am Königshof (2Sam 13,1–22), überliefert. Die herrschaftskritische Grundhaltung verbindet sich mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstreflexion, individuell wie kollektiv, und einer eindrücklichen Bescheidenheit, was die Möglichkeiten und das Wozu des menschlichen Lebens auf Erden angeht. Kohelet ist eine Stimme dieser Bescheidung. Menschen sind auf der Welt, um sich an dem zu freuen, was ihnen zugeteilt wurde (Koh 2,24; 3,12 und öfter). Kinder und vielleicht sogar Enkelkinder sehen, Essen und Trinken, Ruhetage und fröhliche Feste zwischen Zeiten harter Arbeit und ein Leben ohne Gewalt und Krieg, ohne Krankheit, ohne frühzeitigen Tod – das ist kein Griff nach den Sternen. Das Geschenk des Lebens ist groß und die Gewährung des Sattwerdens an den genannten Freuden alles andere als selbstverständlich – vor allem aber gibt es kein »Mehr«. Die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod steht nicht am Horizont, sie ist nicht Bedingung für ein glückliches Leben und die Möglichkeit gerechten Handelns.

Bibliographie Barr, James, The Semantics of Biblical Language, Eugene OR [London], 32004 [1961]. Bauks, Michaela u. a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS Bernd Janowski, Neukirchen-Vluyn 2008. Berlejung, Angelika u. a. (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (Oriental Religions in Antiquity 9), Tübingen 2012. Dies./Janowski, Bernd (Hg.), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte (FAT 64), Tübingen 2009. Bester, Dörte, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten, Tübingen 2007. Dieckmann, Detlef/Erbele-Küster, Dorothea (Hg.), »Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen«. Beiträge zur Geburt im Alten Testament (Bibliotheca theologica Salesiana 75), Neukirchen-Vluyn 2006. Frevel, Christian (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (Quaestiones disputatae 237), Freiburg i. Br. u. a. 2010. Janowski, Bernd (Hg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012. Ders., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013 [2003]. Ders., Die lebendige næpæš. Das Alte Testament und die Frage nach der »Seele«: Ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 73–116. Ders., Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019. Ders./Liess, Kathrin (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i. Br. u. a. 2009. Keel, Othmar, Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes (Stuttgarter Bibelstudien 114/115), Stuttgart 1984.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

315

Ders., Das Hohelied (ZBK.AT 18), Zürich 1986. Ders./Schroer, Silvia, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Freiburg CH/Göttingen 32008 [2002]. Müller, Katrin, Lobe den Herrn, meine »Seele«. Eine kognitiv-linguistische Studie zur næfæš des Menschen im Alten Testament (BWANT 215), Stuttgart 2018. Schroer, Silvia, Liebe und Tod im Ersten (Alten) Testament: Rusterholz, Peter/Zwahlen, Sara Margarita (Hg.), Liebe und Tod. Gegensätze – Abhängigkeiten – Wechselwirkungen, Bern u. a. 2006, 35–52. Dies., Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Freiburg i. Br. 22013. Dies., Ähnlichkeit und Verwandtschaft von Gott und Mensch: van Oorschot, Jürgen/Wagner, Andreas (Hg.), Gott und Mensch im Alten Testament. Zum Verhältnis von Gottes- und Menschenbild (VWGTh 52), Leipzig 2018, 69–80. Dies./Keel, Othmar, Die numinose Wertung der Umwelt in der Hebräischen Bibel: Janowski, Bernd/Liess, Kathrin (Hg.), Der Mensch im Alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i. Br. u. a. 2009, 537–590. Dies./Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Gütersloh [Darmstadt] 22005 [1998]. Staubli, Thomas/Schroer, Silvia, Menschenbilder der Bibel, Ostfildern 2014. Steinert, Ulrike, Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien. Eine Studie zu Person und Identität im 2. und 1. Jt. v. Chr., Leiden/Boston 2012. Weippert, Helga, Altisraelitische Welterfahrung. Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem Alten Testament: Dies. (Hg.), Unter Olivenbäumen. Studien zu Archäologie Syrien-Palästinas, Kulturgeschichte und Exegese des Alten Testaments. Gesammelte Aufsätze (AOAT 327), Münster 2006, 179–198. Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, Kaiser Taschenbücher 91, Gütersloh [München] 72002 [41984]. [Die unveränderte 8. Auflage erschien als 1. Auflage 2010 in Gütersloh mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski]. Zgoll, Annette, Der betende Mensch. Zur Anthropologie in Mesopotamien: Janowski, Bernd/ Liess, Kathrin (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i. Br. 2009, 121–140.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter Irmtraud Fischer, Graz Bis in unsere heutige Zeit war das Geschlecht jenes einzige Merkmal, das bereits bei der Geburt eines Menschen urkundlich festgelegt wird. Wenn man heute in manchen Gesellschaften aufgrund von Fehlzuschreibungen diesbezüglich mehr Vorsicht walten lässt, ist das neuerer medizinischer und psychologischer Forschung zu verdanken, nicht einem konzeptionellen Neuansatz zum Verständnis von »Geschlecht«. Simone de Beauvoir hat Mitte des vorigen Jahrhunderts den berühmt gewordenen Satz geprägt: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es!«1 Dasselbe würde man heute in Zeiten der LGBTIQ*-Studies2 auch über »den Mann« sagen:

1 Beauvoir, Geschlecht, 265. 2 Unter diesem Siegel (lesbian, gay, bi-, trans- und intersexuell, queer) sind in der derzeitigen Genderdiskussion alle möglichen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen zusammengefasst.

316

5. Kapitel: Menschenbilder

Was ein Mann oder eine Frau ist, hängt nicht nur von biologischen Gegebenheiten ab, sondern legen Gesellschaften unterschiedlich fest. Religionen haben die Vorstellungen über Geschlechtscharaktere und Geschlechterrollen immer entscheidend mitgeprägt. Bis heute sind daher religiöse Gruppierungen, insbesondere konservative, gerade auch innerhalb der großen Weltreligionen ein Hort der Geschlechterstereotypen und vertreten häufig ein durch patriarchale Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse geprägtes dichotomes Verständnis der Geschlechter. Da die in der Hebräischen Bibel widergespiegelten Geschlechterverhältnisse zwei große Weltreligionen entscheidend geprägt und eine dritte massiv beeinflusst haben, bedarf es großer Sorgfalt, die Texte zu erforschen, um nicht Aussagen und Sichtweisen der Bibel und ihre spätere Rezeption zu vermischen.

1.

Schöpfungstexte: Der Mensch ist geschlechtlich differenziert

Ein prinzipielles Verständnis vom Menschen reflektiert die Hebräische Bibel in den Welt erzeugenden Erzählungen3 der sogenannten Urgeschichte. Das vorhellenistische Judentum erzählt, wo das spätere, durch das Griechentum beeinflusste, theoretisiert und argumentiert. Die Erzählungen von Gen 1–9/11 fassen narrativ in Texte, was für alle Menschen gültig ist, was für die gesamte Welt und die eine, kreative Gottheit gilt. a)

Die von Gott erschaffene Geschlechterordnung

In beiden Texten4, die die Menschenschöpfung thematisieren, ist der Mensch sexuell differenziert, mit den äußeren Polen von männlich und weiblich sowie heterosexueller Orientierung, erschaffen. Anders kann der altorientalische Mensch, für den Fruchtbarkeit in allen Bereichen ein Segen (vgl. Dtn 28,3–12) und Kinderlosigkeit eine existentielle Bedrängnis war, Sexualität offenkundig nicht denken. Der erste Schöpfungstext in Gen 1,1–2,4a sieht den Menschen zweifellos als Krone der sorgsam komponierten Schöpfung. Seine Erschaffung ist nicht nur durch eine im Plural formulierte Selbstaufforderung der Gottheit hervorgehoben, sondern auch dadurch, dass dieses Schöpfungswerk vom sechsten Tag nach dem Bild der Gottheit, »uns ähnlich«, geschaffen werden soll (V. 26). Der Mensch wird sodann »männlich und weiblich« erschaffen (V. 27). Der hebräische Text spricht nicht von »Mann und Frau«, womit ja die soziale Zuschreibung der freien Menschen, auch in Abgrenzung zu Sklaverei, verbunden wäre, sondern gibt ausschließlich die biologi-

3 Die Bezeichnung »Weisen der Welterzeugung« hat der Philosoph Goodman, Welterzeugung (Originalausgabe: Ways of Worldmaking [Harvester studies in philosophy 5], Indianapolis 1978/1992), geprägt. In der Literaturwissenschaft des deutschen Sprachraums hat Nünning, Welterzeugung, diesen Ansatz bekannt gemacht. 4 Siehe zu diesem Abschnitt Fischer, Egalitär entworfen – hierarchisch gelebt.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

317

sche Geschlechterdifferenz, wie sie auch bei Tieren zu finden ist, als gottgewollt an. Für unsere Fragestellung auf den Punkt gebracht, könnte man sagen: Gott schafft sex und nicht gender. Da in Gen 1 alle Schöpfungswerke polar angeordnet sind, sind selbstverständlich alle Werke dazwischen auch mitgemeint (Licht – Finsternis: Die Dämmerung ist auch erschaffen!). Aufgrund dieser stilistischen Eigenheit müssen die Angaben »männlich und weiblich« als äußerste Pole verstanden werden; alle anderen Varianten des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit sind somit auch mitgedacht.5 Aber nur die äußeren Pole geschlechtlicher Verfasstheit sind fruchtbar. Für den einen Teil des Schöpfungsauftrags an den Menschen (V. 28), »Seid fruchtbar und vermehrt euch!«, ist die biologische Geschlechterdifferenz die notwendige Voraussetzung. Für den zweiten Teil, den Herrschaftsauftrag über die gesamte Schöpfung, ist der Mensch aufgrund der Gottebenbildlichkeit befähigt. Der unmittelbar anschließende zweite Schöpfungstext geht mit der Erschaffung des Menschen, ’ādām, aus der Ackererde vorerst von einer geschlechtlichen Undifferenziertheit aus (Gen 2,7). Die Frau wird in einem zusätzlichen Schöpfungsakt quasi als Heilmittel gegen die Einsamkeit erschaffen. Erst im gegengeschlechtlichen Gegenüber nimmt der paradiesische Mensch sich als Mann und Frau wahr. In diesem Schöpfungstext zielt das Geschlechterverhältnis jedoch nicht auf Reproduktion, sondern auf die Gemeinschaft des Lebens, die gegenseitige Unterstützung. Denn die »Hilfe« (‘esær Gen 2,18.20), die dem Menschen entspricht,6 weist nicht – wie in der Auslegungsgeschichte allzu oft gedeutet – auf einen »Hilfsmenschen« hin, der jene Dinge übernimmt, die der als »Mensch an sich« gedachte Mann nicht übernehmen will. »Hilfe« ist an anderer Stelle der Bibel dem Menschen Gott allein (Ps 30,11; 54,6; 72,12 u. ö.). Wenn daher in Gen 2 die Geschlechter einander zur »Hilfe« erschaffen werden, bedeutet dies ebenso Adäquatheit und Gleichheit wie in Gen 1, denn mit dem Ausdruck »Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« in 2,23 (vgl. Gen 29,14) und der sog. Volksetymologie, die die hebräischen Bezeichnungen für »Mann« und »Frau« vom selben Wortstamm ableiten will, wird gerade nicht eine Unterordnung ausgedrückt. Zudem wird der Lebensgemeinschaft der Geschlechter7 ein derart hoher Wert zugesprochen, dass (entgegen der herkömmlichen Eheform, die im Haus des Mannes gelebt wird) nach 2,24 der Mann für die Gemeinschaft mit seiner Frau »Vater und Mutter verlässt«, um mit ihr in der sexuellen Vereinigung wiederum eins zu werden (»sie werden zu einem Fleisch«). Die Erzählung, die von ihrer Handlungsabfolge natürlich keine Eltern von Adam (nun als Bezeichnung für den Mann bzw. Eigenname verwendet) kennt, weist mit dieser Formulierung nicht auf etwaige matriarchale Reste in der Kultur Alt-Israels hin, sondern setzt damit die Vorrangigkeit der Geschlechterbeziehung vor jener zur Herkunftsfamilie fest.

5 Siehe dazu ausführlicher: Fischer, Gleichwertig, 274f. 6 Vgl. zum Folgenden auch Vogels, It Is not Good. 7 Zur Diskussion, ob Sexualität bereits im Paradies oder erst außerhalb vorzustellen ist, siehe: Schmid, Sexualität und Fischer, Geschlechtlichkeit.

318 b)

5. Kapitel: Menschenbilder

Das vom Menschen gemachte Geschlechterverhältnis

Die immer wieder als Versuchungs- oder Sündenfallgeschichte gedeutete Fortsetzung der Paradieserzählung ist als Ätiologie zu lesen, die erklärt, warum der Mensch trotz sehr guter Schöpfung außerhalb des Gottesgartens in harten Lebensumständen sein Leben fristen muss. In Gen 3 ist es die Frau, die theologisch argumentiert, während der Mann bloß fraglos nimmt und isst. Sie ist im biblischen Text also nicht – wie spätere christliche Auslegungsgeschichte8 es will – die schwache Verführerin, die vorher selber der Versuchung erlegen ist, während er, der starke Mann, dieser sicher widerstanden hätte. Aber freilich wird durch den Akt des gemeinsamen Essens das einander »zur-Hilfe-Sein« desavouiert, da das göttliche Gebot übertreten wurde. Die Schuld des Menschen wird aber erst dadurch wirklich manifest, dass er nicht zu ihr steht und sie bekennt, sondern sie abzuschieben versucht: der Mann auf die Frau, die Gott ihm doch gegeben habe, die Frau auf die Schlange (V. 11–13). Die Strafsprüche ergehen sodann in umgekehrter Reihenfolge wie die göttlichen Rechenschaftsforderungen, wobei zwar die Schlange (V. 14), nicht aber das Menschenpaar verflucht wird. Im Strafspruch über die Frau stellt Gott vorerst fest, dass sie unter Mühen Kinder gebären wird. Dies ist insofern beachtenswert, da auf das Essen vom Baum der Erkenntnis ja der Tod als Strafe stand (Gen 2,16; vgl. 3,1–4), nun aber als Folge davon die Weitergabe des Lebens durch die Frau betont wird. Bereits in 3,15 war von »ihrem Samen« (zarʽāh)9 die Rede, in V. 20 wird die Frau Chawwah, »Leben«, genannt, da sie zur Mutter »aller Lebenden« (kol-chaj) werden wird. In der Gottesrede des Strafspruchs über die Frau findet sodann ein Subjektwechsel statt. Das Geschlechterverhältnis wird sowohl aus dem Blickwinkel der Frau als auch aus jenem des Mannes beschrieben: »Nach deinem Mann wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen!« (V. 16) Das Begehren der Frau wird durch die Herrschaft des Mannes über sie beantwortet. In die paradiesische Egalität bricht die Unter- und Überordnung herein – dies beschreibt trefflich das Geschlechterverhältnis patriarchaler altorientalischer Ehen. Nach biblischer Darstellung ist ein solch unsymmetrisches Geschlechterverhältnis von Menschen gemacht und war von Gott ursprünglich so nicht vorgesehen.

2.

Die Ungleichheit der Geschlechter in und vor dem Recht

Von der Bibel eine Gleichberechtigung der Geschlechter vor und im Gesetz erwarten zu wollen, ist ein anachronistisches Unternehmen, da diese auch in westlichen Demokratien erst im Laufe des letzten halben Jahrhunderts erreicht wurde und – 8 Zu den Auslegungen der Schöpfungstexte, die grundlegend für die christliche Anthropologie wurden, siehe Børresen/Prinzivalli, Christliche Autoren der Antike. 9 Diese Vokabel verweist häufig auf eine Genealogiegründung und findet sich entsprechend selten bei einer Frau: vgl. Gen 24,60; Rut 4,11.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

319

wie alle Statistiken zeigen – der gleiche Zugang zu Macht und Ressourcen bis heute nur auf dem Papier besteht. a)

Patriarchale Ehe10

Beschreibt die Welt erzeugende Paradieserzählung die Geschlechterrelation in der von Gott gewollten Schöpfung als füreinander da Sein und sieht die Zweierbeziehung als primären Lebenskontext, so ist die vom Menschen gemachte und verursachte Ordnung durch die Dominanz des Mannes geprägt. Die patriarchale Verfasstheit der Gesellschaft bedeutet aber freilich nicht, dass alle Männer über alle Frauen »herrschen«, sondern innerhalb derselben sozialen Schicht stehen jeweils Frauen unter den dazugehörigen Männern, den Vätern, Brüdern oder Ehegatten. Jeweils der Erstgeborene leitet und vertritt die Familie in der sozialen Gemeinschaft, was bedeutet, dass sich auch alle jüngeren Brüder unter seiner »Herrschaft« befinden. Auch wenn als Regel die Einehe vorauszusetzen ist, gibt es in Alt-Israel wie im gesamten (Alten) Orient die Möglichkeit der Mehrehe, genauer gesagt der Polygynie. Ein Mann konnte mehrere Ehe- oder auch Nebenfrauen gleichzeitig haben, während von der Frau in Zeiten eines mangelnden Vaterschaftstests absolute sexuelle Treue erwartet wurde. Da das gesamte Erbe nach der männlichen Linie vererbt wurde, wollte man sicher sein, dass die leiblichen Kinder die Nachfolge antraten. Die Lebenserwartung war aufgrund von Krankheiten, Kriegen, Mangelernährung und fehlender Gesundheitsvorsorge niedrig, weswegen Ehen sehr früh, bald nach der Geschlechtsreife, geschlossen wurden. Im Normalfall wurden Ehen von den Eltern der Brautleute arrangiert. Die sogenannte »Kreuzcousine«, die Tochter des Bruders der Mutter (sowohl Rebekka als auch Rahel und Lea sind für ihre Männer Isaak bzw. Jakob Kreuzcousinen), galt als ideale Ehefrau bei endogamer Eheschließung innerhalb der eigenen Sippe. Für eine reguläre Ehe war eine Brautgabe, der sog. Brautpreis, vorgesehen, der mit der Verlobung ausgehandelt und spätestens bei der Eheschließung übergeben wurde. Da normalerweise die Braut ihr eigenes Elternhaus mit der Hochzeit verlässt, verliert ihre Familie eine Arbeitskraft, die wohl durch den Brautpreis kompensiert wurde. Dennoch kann nicht von einer »Kaufehe« gesprochen werden, zumal der Status von Frauen in Gesellschaften mit Mitgifttradition meist wesentlich geringer ist, da in ihnen dafür bezahlt werden muss, um Frauen »an den Mann zu bringen«. Rechtstexte, die nähere Auskunft über die Modalitäten um die Heirat geben könnten, finden sich im AT nicht. Derlei Dinge sind offenkundig durch Sitte und Brauch geregelt. Nur dort, wo es Konflikte gibt, finden wir entsprechende Rechtstexte, wie etwa zum Problemkreis der mangelnden Jungfräulichkeit bei der Eheschließung (Dtn 22,13–21.23–29). Aus einigen Erzählungen lassen sich aber Einzelzüge zeigen, die auf mögliche Regelungen schließen lassen. So belegen die Erzählungen um Ja-

10 Siehe zum Folgenden Fischer, Erzeltern Israels, 78–116; Dies., Gottesstreiterinnen; sowie Westbrook, Property and the Family.

320

5. Kapitel: Menschenbilder

kob und seine Frauen (Gen 29–31), dass etwa der Brautpreis nicht nur durch Güter, Edelmetalle oder Geld entrichtet wurde (vgl. Gen 24,22.47.53), sondern auch durch den Gegenwert der Arbeitskraft geleistet werden konnte (Gen 29,18–30). Gleichzeitig bekommen die beiden Töchter Labans auch Hochzeitsgeschenke von ihrer Familie, wie die Notiz um die beiden Sklavinnen Bilha und Silpa erweist (Gen 29,24.29). Der später im Judentum allgemein übliche Heiratsvertrag (Ketuba) muss, wenn die Töchter das Haus nicht sofort verlassen, offenkundig nicht bei der Heirat abgeschlossen werden, sondern erst, wenn sie mit ihrem Mann in dessen Haus ziehen: Laban schließt diesen Vertrag mit Jakob erst nach zwanzig Jahren beim Abschied von den Töchtern (Gen 31,49f.). Aus der virilokalen Eheform, die im Haus des Mannes gelebt wird, entwickelt sich in Gesellschaften, in denen Kinder die einzige Absicherung in Krankheit und Alter darstellen, das in vielen biblischen Texten hervortretende Verlangen nach männlichen Nachkommen: Nur Söhne zählen für die Altersvorsorge der Eltern, Töchter verlassen ja mit der Eheschließung das Haus und versorgen die Eltern des Ehemannes. Söhne zu haben ist daher nicht nur für Männer eine Garantie der Weiterführung der genealogischen Linie (vgl. die Klage Abrahams wegen Kinderlosigkeit Gen 15,2), sondern bedeutet insbesondere für Frauen, die aufgrund der Erbregelung bei ihren Herkunftsfamilien leer ausgehen, soziale Sicherheit. Da sie ihren gewohnten Kontext und den Zusammenhalt der Sippe verlassen müssen, der Mann jedoch im angestammten Umfeld verbleiben kann, bewirkt dies eine Schwächung der Position der Frau. Ehen, die im Elternhaus der Frau gelebt werden, sind in biblischen Texten samt und sonders als irregulär beschrieben: Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder (Gen 27,41–45; 28,10–22) und bleibt daher bei Laban, dem Vater seiner Frauen (Gen 29,1–32,1); ähnlich ist dies bei Mose, der in Midian bei seinem priesterlichen Schwiegervater lebt, da er aus Ägypten fliehen musste (Ex 2,15–22). Dass David als Schwiegersohn des Königs mit seiner Frau Michal im Palast lebt, erklärt sich einerseits aus dem herrschaftlichen Milieu und andererseits aus der Geschichte um die Eheschließung: Die Königstochter wurde als Preis für militärische Tapferkeit in die Ehe gegeben (1Sam 18,17–29). Kinder sind, mit Ausnahme von solchen, die aus einem Ehebruch stammen (vgl. Weish 3,16), immer ein Segen. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass Frauen quasi als »Gebärmaschinen« gesehen wurden. Wenn man berechtigt annehmen könnte, dass Erzählungen gelebte Wirklichkeit reflektieren, dann könnte man von den Familienerzählungen der Genesis auf die Geburtenraten des ersten vorchristlichen Jahrtausends Rückschlüsse ziehen. Einzig und allein Lea fällt mit ihren sechs Geburten völlig aus dem Rahmen; alle anderen Ahnfrauen gebären ein (Sara, Hagar) bis zwei Kinder (Rebekka, Rahel, Silpa, Bilha, Tamar), selten noch drei (Eva, Bat Schua) – eine Fruchtbarkeitsrate, die der in den heutigen westlichen Gesellschaften entspricht. Der Tod des Ehemannes bedeutet für eine Frau einen gravierenden Einschnitt. Vor allem wenn die Kinder noch nicht erwachsen sind, sind für die ärmere Bevölkerungsschicht damit nicht nur wirtschaftliche Probleme verbunden, sondern auch häufig jene der mangelnden Rechtsvertretung. Frauen sind dann im Überlebenskampf auf sich allein gestellt. Arme, Witwen und Waisen stehen daher unter dem

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

321

besonderen Schutz Jhwhs (Ex 22,22; Dtn 10,18; 24,17 u. ö.). Reiche Witwen hingegen erlangten völlige Unabhängigkeit, insbesondere dann, wenn der Verblichene keine Brüder hatte. Judit mag hier als Beispiel gelten (Jud 8,1–8): Sie ist ökonomisch sehr gut gestellt, wird im Volk hoch geachtet und denkt nicht daran, ihre unabhängige Stellung durch eine neuerliche Heirat zu verlieren (Jud 16,22). Eine Sonderform der impliziten Witwenversorgung stellt offenkundig das sogenannte Levirat dar.11 Dtn 25,5–10 sieht beim Tod eines bislang kinderlos gebliebenen Erstgeborenen vor, dass sein Bruder mit seiner Witwe einen Sohn zeugen soll, der bei Erreichen des Erwachsenenalters sodann in die Rechte seines verstorbenen Vaters eintritt. Rechtsbegünstigter ist nach dem Rechtstext der Verstorbene, dem der Rechtstitel auf den Erbteil im Land erhalten bleibt. In den beiden anderen Texten der Hebräischen Bibel, die vom Levirat handeln, stehen Frauen im Zentrum der Erzählung. Das Levirat deuten sie zu ihren Gunsten als Witwenversorgung: In der Erzählung von Gen 38 gibt Juda nach dem Tod seines Erstgeborenen dessen Witwe Tamar seinem Zweitgeborenen Onan. Da dieser ihr allerdings die Nachkommenschaft gezielt verweigert, lässt Gott ihn sterben (V. 6–10). Juda entlässt daraufhin seine Schwiegertochter nicht aus dem Levirat, ist aber nicht bereit, sie weiterhin im eigenen Haus zu versorgen und hat auch nicht die Absicht, ihr seinen dritten Sohn zu geben (V. 11.14). Dadurch begeht er nicht nur ökonomisch Unrecht an ihr, sondern schließt sie zudem von der Möglichkeit einer weiteren Eheschließung außerhalb der Familie Judas aus. Tamar findet sich mit einem derartigen Schicksal eines dürren Asts des Stammbaums nicht ab und holt sich schließlich das von Juda, was er ihr zu Unrecht verweigert hat: Nachkommenschaft und damit eigenständige Versorgung. Im zweiten Erzähltext, im Buch Rut, wird das Levirat gänzlich zugunsten von Frauen gesehen: Die beiden Frauen negieren den Androzentrismus des Rechtstextes zweimal: Noomi führt in Rut 1,11–13 aufgrund der durch ein Levirat entstehenden langen Wartezeit die Hoffnung ad absurdum, dass die beiden verwitweten Schwiegertöchter noch auf einen Nachzügler von ihr warten könnten, der die Leviratsverpflichtung erfüllen könnte. Dabei geht sie davon aus, dass diese Institution verwandtschaftlicher Solidarität nicht zur Erhaltung eines Rechtstitels ihrer Söhne dient, sondern zur Witwenversorgung und sie selber die Legitimität eines noch vorher zu vollziehenden Levirats gewährleisten könnte, wo doch von keinem Bruder ihres Mannes je die Rede ist. In Kap. 4,5–10 vollzieht schließlich Boas das Levirat, zu dem er als nur naher Verwandter nicht verpflichtet ist, indem er die Moabiterin Rut heiratet. Auch hier geht es eindeutig um Witwenversorgung (Rut 3,9), die die Frau als Begünstigte sieht, und nicht den Verstorbenen. In Alt-Israel wurde aber durchaus nicht jede Ehe vom Tod geschieden. Dass es eine Scheidungsmöglichkeit für beide Partner gab, ist durch außerbiblische Dokumente wie etwa die Elefantinetexte gut bezeugt. Im Archiv der jüdischen Gemeinde fanden sich u. a. Heiratsdokumente einer reichen Frau Miphtachia,12 die in der Eheurkunde bereits die Konditionen für eine eventuelle Scheidung festlegt. Die

11 Siehe ausführlicher Fischer, Rut, 49–65. 12 Die Dokumente finden sich publiziert bei Porten/Yardeni, Aramaic Documents, 30–33.

322

5. Kapitel: Menschenbilder

Regelung aus Dtn 24,1, die den Mann verpflichtet, seiner geschiedenen Frau eine Scheidungsurkunde auszustellen, bedeutete ursprünglich sicher nicht, dass nur der Mann das Recht hatte, die Scheidung zu betreiben – auch wenn dies später häufig so ausgelegt wurde. Denn nicht der Mann, der ja auch polygyn leben kann, sondern nur die Frau braucht für eine Wiederverheiratung eine Scheidungsurkunde, andernfalls kann sie als Ehebrecherin gelten.13 So lässt sich resümieren, dass die rechtlichen Regelungen in Bezug auf die Ehe zwar deren patriarchale Grundlage widerspiegeln, dass sie aber durchaus nicht darauf schließen lassen, dass die Frau in Bezug auf die Ehe oder deren Lösung keine Rechte gehabt hätte. b)

Normative Heterosexualität

Geschlechtliche »Verhältnisse« gibt es nur zwischen den Geschlechtern, nicht aber innerhalb des eigenen Geschlechts, so wollen es einige Rechtstexte, die auf den ersten Blick homosexuellen Verkehr zwischen Männern14 untersagen (Lev 18,22; 20,13). Freilich lässt allein die Tatsache, dass etwas verboten werden muss, darauf schließen, dass es diese Realität gab, wenngleich sie freilich unerwünscht war. Die Schöpfungstexte sehen zwar heterosexuelle Geschlechterverhältnisse als Norm und Voraussetzung für Fruchtbarkeit an, lassen aber durchaus Raum für andere Orientierungen und geschlechtliche Ausprägungen. Andere Erzählungen jedoch geben – nicht wirklich versteckte – Hinweise darauf, dass es durchaus Beziehungen zum gleichen Geschlecht gab, die als Primärbeziehungen bewertet werden müssen. Wenn etwa der sonst als »Frauenheld« berühmte David im Leichenlied für Saul und Jonatan bekennt, dass ihm die Liebe des Thronfolgers über Frauenliebe ging (vgl. 1Sam 20,17; 2Sam 1,26), oder die Beziehung Ruts zu ihrer Schwiegermutter Noomi (vgl. Rut 1,14b.16f.; 2,11) mit dem Bräutigamsjubel von Gen 2,24 ausgedeutet wird und sie nach Meinung der Frauen von Betlehem ihr Kind nicht für den leiblichen Vater Boas, sondern für Noomi geboren hat (4,15f.), so wird deutlich, dass die Hinweise in den Texten nicht nach heutigen Maßstäben zu beurteilen sind. Eine Gesellschaft, für die Reproduktion existentielle Bedeutung hat, stellt sexuelle Orientierung nicht zur Disposition. Wenn aber junge Menschen keine anderen als heterosexuelle Orientierungen als Lebensmodelle vorgestellt bekommen und Ehen sehr früh geschlossen werden, findet man sich verheiratet, noch bevor man tatsächlich im Stande ist, seine eigene Sexualität zu reflektieren. Von einem »Coming-out« kann in solchen Gesellschaften ohnedies nicht die Rede sein. Vielmehr lebte man solche Beziehungen in irgendeiner Weise im Bereich der Bisexualität, ohne dass dadurch der gesellschaftliche Rahmen, der die Familie schützte, gesprengt werden musste. Beziehungen zwischen Frauen

13 Diese Rechtskonstellation spiegelt sich bis heute im katholischen Eherecht wider: Da es keine Scheidung gibt, muss jede folgende Ehe als kontinuierlicher Ehebruch bewertet werden. 14 Das Standardwerk zu diesem Themenkomplex ist Nissinen, Homoeroticism; vgl. auch Römer, Homosexualität.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

323

sind übrigens in den Rechtstexten nicht auf dem Radarschirm der Verbote – ganz ähnlich wie in der jahrhundertelangen Praxis im Christentum. c)

Zur Kultfähigkeit der Geschlechter

»Rein« und »Unrein« sind zwei polare Begriffe, die im semantischen Feld des Deutschen leider nicht das wiedergeben, was damit angezeigt ist, nämlich vorrangig die Kultfähigkeit und nicht einen Sauberkeitszustand.15 »Unreinheit« ist ein Zustand, der vorübergehend von der Teilnahme am Kult und teils auch von voller sozialer Partizipation ausschließt. Alle Vorgänge um den Anfang des Lebens und um sein Ende machen unrein (vgl. Lev 12; 15): Menstruation, Samenerguss, Geschlechtsverkehr, Geburt, aber auch spezielle (Haut-)Krankheiten (vgl. Lev 13) und das Berühren der Toten (Num 19,11). Alle diese Ereignisse werden dabei nicht negativ bewertet, sondern gerade mit Sexualität und in der Fortpflanzung erfüllen Menschen ihren schöpfungsgemäßen Auftrag. Tote begraben gehört zu den Werken der Barmherzigkeit (vgl. Tob 2,1–10), und dennoch macht es unrein. Mit der Kategorisierung »unrein« ist also keine Abwertung verbunden, wohl aber ein zwischenzeitlicher Ausschluss von kultischer, sexueller oder sozialer Gemeinschaft. Frauen sind aufgrund der weiblichen Biologie von Unreinheit zyklisch und damit wesentlich häufiger betroffen als Männer. Im Judentum wurde von diesem Faktum der Grundsatz abgeleitet, dass Frauen an kein Gebot gebunden sind, dessen Erfüllung von einer bestimmten Zeit abhängig ist. Diese »Befreiung« hatte aber auch zur Folge, dass Frauen aus Verantwortungspositionen insbesondere im Kult mehr und mehr ausgeschlossen wurden.

3.

Die unterschiedlichen Lebensläufe der Geschlechter

Der Geschlechtsunterschied wird in nachexilischer Zeit bereits mit der Geburt sozial manifest, wenn die Mutter einer Tochter für die doppelte Anzahl von Tagen als »unrein« erklärt wird als bei der Geburt eines Sohnes (Lev 12,2.5). Säuglinge werden von der Mutter großgezogen; wenn sie nach langer Stillzeit (2Makk 7,27: drei Jahre) entwöhnt werden, bleiben Mädchen bei der Mutter, Knaben aber kommen in die Obhut des Vaters. Beide werden quasi durch Imitation in geschlechtsspezifische Arbeiten eingeführt. a)

Männlich und weiblich geboren – zu Mann und Frau gemacht

Sozialisation bedeutet in allen Gesellschaften auch Zurichtung in Bezug auf Geschlechterrollen. Dies betrifft nicht nur geschlechtsspezifisch aufgeteilte Arbeit,16 15 Siehe dazu ausführlicher Erbele-Küster, Geschlecht und Kult; auch den Beitrag 4.3 »Opfer und Sühne« in diesem Band, bes. Abschnitt 2. 16 Siehe dazu Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina I–VIII; Zwickel, Leben und Arbeit in biblischer Zeit; García Bachmann, Women at Work; Fischer, Zur Arbeit erschaffen.

324

5. Kapitel: Menschenbilder

sondern ist auf alle Lebensbereiche anzuwenden. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist in Alt-Israel unter normalen Lebensumständen klar geregelt. Während bei größeren Kindern noch gleiche Arbeiten für beide Geschlechter bezeugt sind, wie etwa das Hüten und Tränken der Herden (vgl. Gen 29,6; Ex 2,16–18), war insbesondere die tägliche Nahrungszubereitung Aufgabe der erwachsenen Frauen. Da Mehl wesentlich schwieriger aufzubewahren ist als ungemahlenes Getreide, wurde die Tagesration für das Brot täglich mit der Handmühle gemahlen. Aus archäologischen Funden weiblicher Skelette zeigt sich, dass dies Schwerarbeit war und im fortschreitenden Alter zu charakteristischen Deformationen der Wirbelsäule führte. Andere typische Frauenarbeiten wurden wahrscheinlich in Gemeinschaft erledigt, wie etwa die vielfältigen Arbeitsschritte zur Textilproduktion, insbesondere das Weben. Die typischen Gewichte der großen Webstühle fanden sich in vielen altisraelitischen Häusern im größten Raum des Hauses, was darauf schließen lässt, dass das Haus nicht nach Machtverhältnissen, sondern nach ökonomischen Notwendigkeiten aufgeteilt war: Der größte Raum stand nicht dem Patriarchen zur Verfügung, sondern den Frauen mit ihrem voluminösen Arbeitsgerät.17 Ebenfalls Schwerarbeit bedeutete das Wasserholen am zentralen Brunnen einer Siedlung. Da dies eine typische Frauenarbeit war, kann der Brunnen auch als geschlechtsspezifischer Treffpunkt der Frauen gelten. Nicht umsonst gehen Männer zum Brunnen, wenn sie Frauen treffen wollen (Abrahams Knecht auf Brautschau in Gen 24,10–27 und Jakob in Gen 29,1–12; Mose in Ex 2,15–21). Als traditionelle Frauenarbeit sind auch alle Pflegetätigkeiten, sei es an Kindern, Kranken oder Alten, zu sehen. Das legte sich auch deswegen nahe, da diese Personengruppen nicht mobil waren und erwachsene Frauen einen Gutteil ihrer Arbeiten im Haus verrichten mussten. Grundbesitz war wohl durchgehend die Haupterwerbsquelle in Alt-Israel. Zu einer Stadt gehörten im Umland Äcker, Weinberge und Fruchtgärten, die von den Stadtbewohnern bewirtschaftet wurden. Gerade im Bereich der Landwirtschaft ist geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aus vielen Texten zu belegen; das Buch Rut etwa zeigt dies schön für die Getreideernte (Rut 2,3–17; 3,2–7). Frauen waren in städtischem Kontext aber sicher auch an Handel und Gewerbe beteiligt, wenn nicht gar federführend tätig, wie etwa aus Spr 31,10–31 geschlossen werden kann.18 Zumindest für die Textilproduktion ist dies nicht nur in der Perserzeit berechtigt anzunehmen. Wo allerdings äußere Umstände, wie etwa Krieg oder gravierende Armut, dies notwendig machen, erfüllen Männer wie Frauen auch die Arbeiten des anderen Geschlechts. So greifen Frauen, die das »Kriegshandwerk« normalerweise nicht ausführen, bei Belagerung einer Stadt selbstverständlich helfend ein, da sie sich ja auch selber mit ihren Familien verteidigen müssen, wenn die jungen Männer im Heer stehen. Die Frau von Tebez (Ri 9,50–57) ist hier ein sprechendes Beispiel, wenn sie ihr geschlechtsspezifisches Werkzeug, den Mühlstein, nimmt und ihn über die Mauer auf den angreifenden Feldherrn hinabwirft, so dass dieser tödlich verletzt

17 Meyers, Archäologie als Fenster zum Leben von Frauen. 18 Vgl. Yoder, Wisdom as a Woman, insbesondere das Kapitel: »Women’s Work«, 59–71.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

325

wird. Aber auch Jaël verwendet ihr ziviles Werkzeug, den Hammer zum Einschlagen der Zeltpflöcke, um den feindlichen Feldherrn zu töten (Ri 4,21).19 Insbesondere in Bezug auf Sitte und Brauch bedeutet Sozialisation einen Aneignungsprozess von genderspezifischen Verhaltensweisen und geschlechtsspezifischen Moralvorstellungen. Dass bei Abweichung von Normen gerade auf dem Gebiet der Sexualität auch auf brachiale Methoden der Einschärfung zurückgegriffen werden konnte, davon zeugen indirekt die metaphorischen Texte von Ez 16 und 23, die die beiden Königreiche Israel und Juda als Frauen ins Bild setzen: mit ihrer Bestrafung ergeht eine Warnung an alle Frauen in 23,10.48. b)

Liebesverhältnisse

Wurden Ehen im Normalfall zwischen jungen Leuten von deren Familien arrangiert, hieß das noch lange nicht, dass sie ohne Einverständnis der Brautleute beschlossen wurden. Rebekka wird explizit um ihre Zustimmung gefragt (Gen 24,58), zumal sie dabei nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Land verlassen muss. Jakob verliebt sich nach Gen 29,11.18 offenkundig in Rahel und wählt gerade sie zur begehrten Braut, nicht die ältere Lea, die vor der jüngeren Schwester verheiratet werden sollte (V. 26). Vor allem das Hohelied, in dem nirgends ein Hinweis auf den ehelichen Status des liebenden und sich begehrenden Paares zu finden ist, lässt auf die Möglichkeit der freien Partnerwahl schließen. Ganz anders als in unserer heutigen Literatur gehört in der Hebräischen Bibel das Lieben zu den Männern: Isaak ist Rebekka emotional verbunden (Gen 24,67), Jakob liebt Rahel (Gen 29,18), Elkana seine Hanna (1Sam 1,8), von keiner dieser Frauen wird erwähnt, dass sie die Liebe erwidern würde. Im Gegenteil, Rahel und Hanna drücken deutlich aus, dass ihnen die Liebe ihres Mannes nicht mehr wert ist als Kinder (Gen 30,1; 1Sam 1,9–18). Aufgrund der Tatsache, dass die weitgehend überwiegende Erzählperspektive in der Hebräischen Bibel jene von männlichen Handlungsfiguren ist (vgl. etwa Koh 9,9), verwundert es nicht, dass sehr selten bei Frauen vom Lieben die Rede ist. Die einzige ausdrücklich als Liebende Bezeichnete ist Michal (1Sam 18,20); sie liebt David und wird ihm dann auch um den Brautpreis tapferer Kriegsführung (der Text drückt dies recht blutrünstig aus) zur Frau gegeben. Gerade in dieser Episode wird deutlich, dass die Perspektive des höheren sozialen Status eingenommen wird: Hier ist es die Prinzessin, die einen Hirtenjungen liebt, der zum Krieger avanciert. Die Texte öffnen ein Fenster zur Realität, wie sie in Alt-Israel im ersten vorchristlichen Jahrtausend gelebt wurde, aber sie lassen uns diese nicht in ihrer vollen Breite und Tiefe wahrnehmen. Dennoch erfährt man viel über erfülltes Liebesleben, das man offensichtlich berechtigt erwarten konnte (vgl. Spr 5,15–21; das Hohelied sei hier abermals erwähnt), von Treue über den Tod hinaus (Sauls Nebenfrau Rizpa 2Sam 21,10–14; Jakob, der die Liebe zu Rachel bei ihren Kindern weiterführt

19 Vgl. Létourneau, Campy Murder in Judges 4.

326

5. Kapitel: Menschenbilder

Gen 35,18–20; 37,3f.) und über Liebe, die Schicksalsschläge überdauert wie etwa bei der Frau Hiobs,20 die alle Hiobsbotschaften gleich wie ihren Mann getroffen haben (2,9), aber durch die zweite Wette keinen Schaden mehr erleidet und seine Gerechtigkeit dennoch anerkennt, obwohl ihr Mann alle Anzeichen eines Fluches aufgrund von Gebotsübertretung an sich hat (vgl. Dtn 28,35). Geglückte Ehebeziehung ist ebenso wie heutzutage von gegenseitigem Vertrauen und Anerkennung gekennzeichnet (Spr 31,11.23.28.31). c)

Gewaltverhältnisse

Aus manchen Texten spricht jedoch auch die Enttäuschung über missglückte Liebes- bzw. Ehebeziehungen. So endet die eheliche Beziehung zwischen Michal und David in gegenseitiger Verachtung (2Sam 6,20–23). Zwischen Tobit und seiner Frau herrscht Misstrauen (Tob 2,11–14). Desinteresse aneinander charakterisieren die Ehe von Abigajil und Nabal (1Sam 25,3.36) und jene der Frau von Schunem und ihres Mannes (2Kön 4,21–24). Spr 19,13; 21,9.19; 27,15 zeugen vom stetigen Kampf, wer denn in der Paarbeziehung das Sagen habe; Sir 25,22 zeigt, dass die Männer der hellenistischen Epoche schwer damit umgehen konnten, wenn ihr Lebensunterhalt von ihrer Frau bestritten wurde. Wo emotionale Kälte, mangelnde Achtung, seelische Grausamkeit und dauernder Streit ausufern, kommt es zu Aggressionen. Auch auf solche Geschlechterverhältnisse lässt die Bibel schließen. Auffällig ist, dass in keiner einzigen Erzählung und auch nicht in Rechtstexten von Prügelstrafen des Ehemannes gegen seine Frau die Rede ist.21 Wohl aber wird viel von sexueller Gewalt erzählt, und deren Facetten werden sowohl in Gesetzen als auch in metaphorischen Texten thematisiert.22 Von sexueller und sexualisierter Gewalt als Mittel des Terrors gegen und der Dominanz über Männer und Frauen (vgl. Gen 19,1–11; Ri 19,22–30) wird schonungslos erzählt. Der wohl schockierendste Text ist Ri 19: Hier wird eine Frau zur Schonung des männlichen Gastes dem Pöbel vorgeworfen und in Gang-rape-Manier (fast?) zu Tode vergewaltigt. Die Erzählung lässt offen, ob die Frau am Morgen noch lebt oder ob erst ihr Ehemann sie tötet, indem er ihren Körper zerstückelt und seine Teile wie die Stücke eines Viehs zur Einberufung des Heerbanns (Ri 19,27–29; vgl. 1Sam 11,7) in Israel herumschickt, um die Tat zu rächen. Gen 34,1f. erzählt von der Jakobstochter Dina, die auf offener Straße auf ihren Vergewaltiger trifft. Auch um das Faktum, dass Inzest und sexuelle Gewalt häufig im familiären Kontext stattfindet, wissen die biblischen Erzählungen: Der Thronfolger Davids, Amnon, vergewaltigt seine Halbschwester Tamar, und der König wirkt dabei vorbereitend mit, ohne sich der Gefahr für die Tochter bewusst zu sein (2Sam 13).

20 Dieser Text wurde meist zu Lasten der Frau ausgelegt: Sie paraphrasiert allerdings nicht die Rede des Satans, sondern die Gottesrede! Siehe dazu ausführlicher: Fischer, Gotteslehrerinnen, 97–109. 21 Olojede, Absence of Wife Battering in Old Testament Narratives. 22 Siehe dazu: Müllner, Raum.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

327

Liest man die Erzählung vom inzestuösen Verkehr Lots mit seinen Töchtern vor dem Hintergrund heutiger Gerichtsprotokolle, so sind die Entschuldigungsversuche der Väter immer wieder dieselben: das Kind sei verführerisch gewesen und habe es doch gewollt, die Mutter typisch abwesend, Alkohol sei im Spiel gewesen.23 Befremdend ist die Tatsache, dass kein Rechtstext den Inzest des Vaters mit der Tochter verbietet; ob man daraus allerdings schließen kann, dass dem Vater als absolutem Potentaten der Familie dies freigestanden habe, bezweifle ich sehr – er würde damit die Heiratschancen seiner Tochter und den Ruf der Familie schwer schädigen und wohl keinen Brautpreis mehr erzielen. Gerade bei verbotenen innerfamiliären Sexualbeziehungen (siehe Lev 18) erkennt man, wie stark der genealogische Zusammenhalt der Sippe ist, denn die Verbote sind nicht auf Blutsverwandtschaft der beiden Sexualpartner aufgebaut. Aber auch von Grenzbereichen, wo sexuelle Nötigung zumindest im Spiel ist, weil sich der Begehrende in einer Machtposition befindet, wird erzählt: David lässt Batscheba holen, obwohl er weiß, dass sie verheiratet ist. Er kann sich sicher sein, dass niemand in die Gemächer des Königs ungefragt eindringt, für den Fall, dass die Frau sich wehren würde (2Sam 11,1–15). Wenn diese Aspekte nicht ausdrücklich thematisiert werden, so deswegen, weil der Erzähler Partei für Urija und gegen David ergreift – und nicht für die Frau. Von sexueller Ausbeutung Unfreier muss vom heutigen Standpunkt aus auch überall dort gesprochen werden, wo Sklavenhalterinnen den Ehemännern ihre Sklavinnen zum Zweck des Kindergebärens übergeben (Hagar in Gen 16,1–6; Silpa und Bilha in Gen 30,3–13), auch wenn wir aus außerbiblischen Texten wissen, dass dies gemeinorientalischem Rechtsverständnis entsprach. Bei der Lektüre derartiger Texte werden häufig die klassischen antijüdischen Vorurteile aktiviert, die das Alte Testament als grausam darstellen. Wer sich solchen Sichtweisen anschließt, sollte bedenken, dass es sexuelle und sexualisierte Gewalt in allen patriarchalen Gesellschaften gibt. Die Gewalt nicht zu thematisieren (wie dies die längste Zeit im Christentum der Fall war), heißt nicht, dass es sie nicht gibt, sondern kommt einer Solidarisierung mit den Tätern gleich und bringt die Opfer zum Schweigen.24 Demgegenüber geben biblische Texte bis heute Gewaltopfern eine Stimme und klagen die Täter an. Auch wenn es schreckliche Taten sind, die hier erzählt werden, sie wischen Gewalt wenigstens nicht vom Tisch.

4.

Theologische Implikationen der realen Geschlechterverhältnisse

Problematisch werden solche Texte allerdings dann, wenn Gott als Gewalttäter vorgestellt wird oder Gewalt durch ihn legitimiert wird. Gerade in prophetischer Strafdrohung und in den Völkersprüchen (z. B. Jes 23) ist dieses Problem flächendeckend

23 Seifert, Tochter und Vater im Alten Testament, 82–86. 24 Dies hat bereits Trible, Mein Gott, warum hast du mich vergessen!, gesehen.

328

5. Kapitel: Menschenbilder

vorhanden. Einen speziellen Fall der geschlechtsspezifischen Gewalt in der Gottesvorstellung bilden jene Texte, die Zion/Jerusalem/Juda/Israel im Bild einer Frau darstellen: als Jhwhs geliebte Braut (z. B. Jes 62,1–5; Ez 16,8–14), im Bund angetraute Ehefrau (Hos 2,20–25), aber als Kehrseite der Medaille auch als treulose Ehebrecherin (z. B. Jer 3,1–10; Hos 2,1–15;), die bestraft, beschämt und öffentlich der Schande preisgegeben wird (z. B. Ez 23,22–31), als Verlassene (z. B. Jes 50,1f.; 54,6–8) oder Verstoßene (z. B. Jer 3,8; Mi 1,14).25 Die Gefahr, dass mit solchen Texten Gewalt gegen Frauen legitimiert wird, ist groß.26 Denn Gott als Initiator sexueller oder sexualisierter Gewalt gegen Völker in weiblicher Personifikation trifft reale Frauen anders und unmittelbarer als die Männer, deren Geschlecht mit der Gottheit übereinstimmt, nicht aber mit jenem der »Stadt als Frau«, die sie in Bezug auf politische Machtverhältnisse mehr repräsentieren würden als ihre Frauen.27 In Bezug auf Geschlechterverhältnisse ist zudem nach den theologischen Konsequenzen insbesondere metaphorischer Texte zu fragen, die Gott als männlich vorstellen. a)

»Wie im Himmel so auf Erden«?

Menschen können Gottes Wirken nicht göttlich erzählen und begreifen, sondern nur in menschlicher Rede und in ihren eigenen Vorstellungen über das Göttliche reden und Gottes Verhalten nur anthropomorph darstellen. Dies bedeutet, dass jegliche Rede von Gott, so notwendig sie ist, gebrochen ist. Auch wenn sehr viele Texte das letztlich nicht Begreifliche und viel Größere der Gottheit betonen (vgl. Jes 66,1f.), befördert allein das Faktum, dass in einer Sprache, die nur zwei Geschlechter kennt, grammatikalisch männlich von Gott gesprochen wird, ein männliches Gottesbild. Da in patriarchalen Gesellschaften selbstverständlich Gott an der Spitze der Hierarchie steht und das Männliche positiv diskriminiert wird, verwundert diese Festlegung auf das höher bewertete Geschlecht nicht: die Machtverhältnisse werden von der Erde auf den Himmel projiziert. Offenkundig war man sich der Problematik dieser Übertragung zumindest ab der Phase der konsolidierten monotheistischen Gottesvorstellung bewusst: Mehrfach wird betont, dass man sich die eine und einzige Gottheit nicht geschlechtlich differenziert vorstellen (vgl. Hos 11,9) und sie keinesfalls bildlich darstellen soll (Dtn 4,16: an erster Stelle wird ein geschlechtlich differenziertes Gottesbild verboten; Gen 1,26f. verweist auf Männliches wie Weibliches in der Gottheit). In Bezug auf die Klassifizierung geschlechtsspezifischer Metaphorik ist darauf zu achten, dass nicht alle jene Gottesbilder als männlich betrachtet werden, die keine Aspekte der weiblichen Biologie ins Bild setzen. Denn ein derartiges »Gendern« würde ein biologistisches Verständnis des weiblichen Geschlechts verstärken. Viel25 Siehe dazu Maier, Tochter Zion im Jeremiabuch; Häusl, Bilder der Not; eine kurze Übersicht bietet Fischer, Das Buch Jesaja. 26 Siehe dazu Brenner, Pornoprophetisches. 27 Brenner / Dijk-Hemmes, On Gendering Texts, 181–187.

§ 22 Verhältnis der Geschlechter

329

mehr verweist all jene Metaphorik, die nicht explizit männliche Biologie oder Tätigkeiten, die in der Gesellschaft Alt-Israels Männern vorbehalten waren, als Bildgeber benutzt, auf menschliche Gottesbilder. So können etwa, da wir in biblischen Texten von Richterinnen (vgl. Ri 4,4), Hirtinnen (Gen 29,9; Ex 2,16) oder Königinnen (die Königin von Saba 1Kön 10,1–13; Atalja 2Kön 11; Ester) erfahren, Richter, Hirt oder König und viele andere Bilder, die Berufe, menschliche Tätigkeiten oder Eigenschaften verarbeiten, nicht als männliche Gottesbilder klassifiziert werden. b)

Die metaphorische Rede von Gott

Dem Darstellungsverbot, das die Imagination des Göttlichen möglichst offen halten will, entspricht in der gleichen Epoche eine überaus vielfältige Bildrede: Die Abbilder werden verboten, die Metaphern explodieren. In nachexilischer Zeit finden sich etwa in Jesaja vermehrt Texte,28 die Metaphern aus der weiblichen Biologie zur Beschreibung des Göttlichen benutzen. So wendet in Jes 42,14 die Gottheit alle für den Gebärvorgang nützlichen Techniken an, um Neues hervorzubringen, und übernimmt in Jes 66,9–13 die Funktion einer Hebamme und sodann einer Mutter. Während gerade das Einsetzen der Wehen in der prophetischen Literatur metaphorisch überwiegend für das unausweichlich hereinbrechende Gericht verwendet ist, wird hier die weibliche Innensicht der Vitalität und des Lebenschaffens ins Bild gesetzt.

5.

Resümee: Die Auslegung der Bibel in Geschlechterdemokratien

Wer die Bibel als zeitlos gültigen und unveränderlichen Text dem Buchstaben nach auslegt, gerät nicht nur in die fundamentalistische Falle, sondern nimmt ihr die Relevanz für die Gegenwart. Denn kanonische Texte zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass ihr abgeschlossener Text für die jeweilige Gegenwart ausgelegt und damit aktualisiert werden muss. Auslegung muss den gesamten Gegenwartskontext sowie aktuelle Methoden der Textanalyse und zeitgenössische Hermeneutik miteinbeziehen. Für die Auslegung der Bibel in Geschlechterdemokratien westlicher Gesellschaften bedeutet dies, dass problematische Texte in Bezug auf die Gleichheit der Geschlechter ebenso kritisch gelesen werden müssen wie all jene Texte, die Sklaverei legitimieren, Ethnien desavouieren, Menschen mit speziellen Bedürfnissen oder Kranke ausschließen oder diskriminieren. Sie müssen – wie alle Texte – aus ihrer Zeit, ihrer Bilderwelt und ihrem rechts- und sozialgeschichtlichen Milieu heraus interpretiert werden und können nicht eins zu eins ins Heute gebracht werden, denn gerade damit würde man die Bibel ihrer zeitlich unbegrenzten lebenspendenden und sinnstiftenden Kraft berauben.

28 Siehe dazu Gruber, The Motherhood of God; Fischer, Das Buch Jesaja; Løland, Silent or Salient Gender?

330

5. Kapitel: Menschenbilder

Bibliographie Beauvoir, Simone de, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (Rororo 6621), Reinbek 1984. Børresen, Kari Elisabeth/Prinzivalli, Emanuela (Hg.), Christliche Autoren der Antike (Die Bibel und die Frauen 5.1), Stuttgart 2016. Brenner-Idan, Athalya, Jahrzehnte später: »Pornoprophetisches« aus heutiger Sicht, in: Fischer, Irmtraud/Claassens, Juliana (Hg.), Prophetie. Die Bibel und die Frauen 1.2, Stuttgart 2019, 293–304. Brenner, Athalya/Dijk-Hemmes, Fokkelien van, On Gendering Texts. Female and Male Voices in the Hebrew Bible (BiInS 1), Leiden 1993. Dalman, Gustaf, Arbeit und Sitte in Palästina I–VIII, Gütersloh u. a. 1928–2001. Erbele-Küster, Dorothea, Geschlecht und Kult. »Rein« und »Unrein« als genderrelevante Kategorien: Fischer, Irmtraud u. a. (Hg.), Tora (Die Bibel und die Frauen 1.1), Stuttgart 2010, 347–374. Fischer, Irmtraud, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12–36 (BZAW 222), Berlin 1994. Dies., Das Buch Jesaja. Das Buch der weiblichen Metaphern: Schottroff, Luise/Wacker, MarieTheres (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 246–257. Dies., Rut (HThKAT), Freiburg i. Br. 22005. Dies., Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006. Dies., Egalitär entworfen – hierarchisch gelebt. Zur Problematik des Geschlechterverhältnisses und einer genderfairen Anthropologie im Alten Testament: Janowski, Bernd/Liess, Kathrin (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg i. Br. 2009, 265–298. Dies., Gottesstreiterinnen. Biblische Erzählungen über die Anfänge Israels, Stuttgart 42013. Dies., Zur Arbeit erschaffen. Zur Arbeitsteilung nach Intersektionalitätskriterien in Alt-Israel: Oorschot, Jürgen van/Wagner, Andreas (Hg.), Anthropologie(n) des Alten Testaments (VWGTh 42), Leipzig 2015, 187–202. Dies., Gleichwertig, andersartig – und daher nicht gleichberechtigt. Zur Problematik des traditionell-katholischen Menschenbildes in Geschlechterdemokratien – und was man dafür aus der Bibel und deren Auslegung lernen könnte: Rahner, Johanna/Söding, Thomas (Hg.), Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog (QD 300), Freiburg 2019, 269–282. Dies., Ungestörte, egalitär gelebte Geschlechtlichkeit. Rekurs auf Konrad Schmids These »No sex in paradise«: JBTh 33 (2018), Göttingen 2020, 13–22. García Bachmann, Mercedes L., Women at Work in the Deuteronomistic History (International Voices in Biblical Studies 4), Atlanta 2013. Onlineversion: https://www.sbl-site.org/assets/ pdfs/pubs/9781589837560_etxt.pdf (abgerufen am: 6.2.2017). Goodman, Nelson, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984. Gruber, Mayer I., The Motherhood of God and Other Studies (SFSHJ 57), Atlanta 1992. Häusl, Maria, Bilder der Not. Weiblichkeits- und Geschlechtermetaphorik im Buch Jeremia (HBS 37), Freiburg i. Br. 2003. Létourneau, Anne, Campy Murder in Judges 4. Is Yael a gebèrèt (heroine)?: Fischer, Irmtraud in Cooperation with Feichtinger, Daniela (Hg.), Gender Agenda Matters. Papers of the »Feminist Section« of the International Meetings of The Society of Biblical Literature, Cambridge 2015, 42–86. Løland, Hanne, Silent or Salient Gender? The Interpretation of Gendered God-Language in the Hebrew Bible, Exemplified in Isaiah 42, 46, and 49 (FAT 2.32), Tübingen 2008. Maier, Christl, Tochter Zion im Jeremiabuch. Eine literarische Personifikation mit altorientalischem Hintergrund: Fischer, Irmtraud u. a. (Hg.), Prophetie in Israel. Beiträge des Symposiums »Das Alte Testament und die Kultur der Moderne« anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (Altes Testament und Moderne 11), Münster 2003, 157–167.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

331

Meyers, Carol, Archäologie als Fenster zum Leben von Frauen in Alt-Israel: Fischer, Irmtraud u. a. (Hg.), Tora (Die Bibel und die Frauen 1.1), Stuttgart 2010, 63–109. Müllner, Ilse, Kein herrschaftsfreier Raum. Sexualität und Macht in biblischen Schriften: JBTh 33 (2018), 23–45. Nissinen, Martti, Homoeroticism in the Biblical World. A Historical Perspective, Minneapolis 1998. Nünning, Ansgar, Welten – Weltbilder – Weisen der Welterzeugung. Zum Wissen der Literatur und zur Aufgabe der Literaturwissenschaft: GRM 59 (2009), 65–80. Olojede, Funlola, Absence of Wife Battering in Old Testament Narratives. A Literary Omission or a Cultural Aberration?: Fischer, Irmtraud in Cooperation with Feichtinger, Daniela (Hg.), Gender Agenda Matters. Papers of the »Feminist Section« of the International Meetings of The Society of Biblical Literature, Cambridge 2015, 87–98. Porten, Bezalel/Yardeni, Ada (Hg.), Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt II. Contracts, Winona Lake 1989. Römer, Thomas, Homosexualität in der Bibel. Anmerkungen zu einem anachronistischen Diskurs: JBTh 33 (2018), 47–63. Schmid, Konrad, Die menschliche Sexualität als nachparadiesische Errungenschaft. Gen 2f. als Adoleszenzmythos der Species Mensch: JBTh 33 (2018), 3–12. Seifert, Elke, Tochter und Vater im Alten Testament. Eine ideologiekritische Untersuchung zur Verfügungsgewalt von Vätern über ihre Töchter (NThDH 9), Neukirchen-Vluyn 1997. Trible, Phyllis, Mein Gott, warum hast du mich vergessen! Frauenschicksale im Alten Testament (GTBS 491), Gütersloh 1990. Vogels, Walther, It Is not Good that the ›Mensch‹ Should Be Alone; I Will Make Him/Her a Helper Fit for Him/Her (Gen 2:18): EeT(O) 9 (1978), 9–35. Westbrook, Raymond, Property and the Family in Biblical Law (JSOT.S 113), Sheffield 1991. Yoder, Christine Roy, Wisdom as a Woman of Substance. A Socioeconomic Reading of Proverbs 1–9 and 31,10–31 (BZAW 304), Berlin 2001. Zwickel, Wolfgang, Leben und Arbeit in biblischer Zeit. Eine Kulturgeschichte, Stuttgart 2013.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen Melanie Köhlmoos, Frankfurt Es ist eine menschliche Grunderfahrung, dass Handeln Konsequenzen hat. Das gilt für die Natur, für den Einzelnen und für die Gesellschaft: Wenn ich eine Blume abpflücke, verwelkt sie. Wenn ich esse, bin ich satt. Wenn ich meine Nachbarin bestehle, werden sie und ihre Familie mich meiden oder mir gar Gewalt antun. Dies sind Erfahrungswerte. Ihre Erklärung, Systematisierung und Deutung erfolgt kulturspezifisch. In solcher Weise reflektierte Erfahrungswerte werden in den Gesellschaften auf dem Wege der Bildung und der Erziehung weitergegeben, im Alten Orient auf dem Weg der sog. »Weisheit«. Das kulturspezifische Element kommt dann ins Spiel, wenn es darum geht, Werte in eine Hierarchie zu bringen, Interessen gegeneinander abzuwägen und alle Beobachtungen und Erfahrungen in ein plausibles und stabiles System zu bringen. Nicht jedes Handeln ist selbstverständlich oder – im Blick auf seine Folgen – selbsterklärend. Vielmehr muss man zu manchem Handeln motiviert werden, indem bestimmte Folgen in Aussicht gestellt werden. Hierbei kommt es nicht nur darauf an, kausale Zusammenhänge zu verstehen und

332

5. Kapitel: Menschenbilder

abzuschätzen, sondern auch zu begreifen, dass man sich selbst häufig zurücknehmen muss, um einen Erfolg zu haben: Wenn ich etwas haben möchte, kann ich es mir nicht einfach nehmen, wenn ich damit die Interessen anderer verletze und mir hierdurch möglicherweise selbst schade. Bei all diesen Fragestellungen hat die biblische Bildungstradition in Form der Weisheit viel anzubieten. Darüber hinaus kennt die Hebräische Bibel aber auch andere Sprach- und Textformen, in denen Handeln motiviert wird, indem bestimmte Folgen in Aussicht gestellt werden: Recht und Gesetz, Prophetie, beispielhafte Erzählungen. Schließlich gibt es bei allem Handeln eine gewisse Grauzone: Nicht jede erwartete oder erwartbare Folge stellt sich ein, nicht jedes Erlebnis ist unmittelbar auf eine Ursache zurückzuführen. Es ist eine besondere Herausforderung, mittelbare, komplexe und zeitverzögerte Folgen eines Handelns wahrzunehmen und zu verarbeiten. Um meine Schafe erfolgreich über den Winter zu bringen, brauche ich einen Vorrat an Futter. Dass ich sehr alt werde, liegt möglicherweise daran, dass ich immer gesund gelebt habe. Eine politische Handlung kann sich erst an späteren Generationen auswirken. Auch diese Unwägbarkeiten werden in der Weisheit reflektiert, aber nicht nur dort: Gebet, Kult, Prophetie und Geschichtstheologie stellen Deutungsmuster bereit, die auf ihre Weise mit der Unberechenbarkeit der Welt umgehen. Für das biblische Israel wird dieser Sachverhalt unter dem Stichwort »Tun-Ergehen-Zusammenhang« (auch »Tat-Folge-Zusammenhang«) verhandelt. Der Begriff ersetzt im deutschen Sprachraum seit der Mitte des 20. Jh.s das ältere Konzept des »Vergeltungsdogmas«. »Tun-Ergehen-Zusammenhang« bezeichnet nichts weiter als: Gutes wirkt Gutes, Böses wirkt Böses. In den biblischen Texten wird dieser Sachverhalt fast ausschließlich in Richtung menschlichen Verhaltens ausformuliert.

1.

Aspekte der Forschungsgeschichte

a)

Vom »Vergeltungsdogma« zum »Tun-Ergehen-Zusammenhang«

»Auch Israel unterzog sich der Mühsal, den Abläufen und Widerfahrnissen eine erkennbare ›Gesetzmäßigkeit‹ abzulauschen«.29 Bis zur Mitte des 20. Jh.s bezeichnete die Forschung diese Gesetzmäßigkeit als »Vergeltungsdogma«: Jede Tat wird von Jhwh »vergolten«, d. h. entweder belohnt oder bestraft.30 Ernst Würthwein formuliert: »Der Ursprung des israelitischen Vergeltungsglaubens liegt jenseits des für uns historisch Beobachtbaren. (…) Seine Wurzel dürfte in der von einem persönlichen Gottesgedanken noch unabhängigen altisraelitischen, von dem tiefen Optimismus der Naturvölker gepräg-

29 von Rad, Weisheit, 166. 30 Besonders eindrücklich formuliert ist dies bereits bei Schleiermacher, Religion, 192: »Alle andern Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel [sc. der Vergeltung] und werden immer in der Beziehung auf diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das einzelne im einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt«. Weitere Belege bei Koch, Vergeltungsdogma, 2–22; Janowski, Tat, 249f.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

333

ten Vorstellung zu sehen sein, wonach eine gute Handlung entsprechend ihrem Charakter glücken und gute Erfolge haben muß, während Sünde weder Frieden noch Glück schaffen kann. (…) Der enge Zusammenhang, der zwischen menschlichem Tun und Geschick als bestehend angenommen wurde und der primitiven Anschauung als in der Natur der Sache liegend galt, wird nun auf Gott zurückgeführt. Und da, wie überhaupt für die Götter der Semiten, so für Jahwe insbesondere es gilt, daß er ein gerechter Gott ist, sieht man in ihm den Garanten dafür, daß das dem israelitischen Denken so wichtige rechte Verhältnis zwischen menschlichem Verhalten und Ergehen, die Harmonie zwischen Tat und Lohn bzw. Strafe gewahrt bleibt. Da sich der Vergeltungsglaube überall im AT beobachten läßt, erübrigt sich ein Nachweis in extenso.«31

In der Darstellung Würthweins ist der alttestamentliche »Vergeltungsglaube« zwar überall im Alten Testament anzutreffen, unterliegt aber einer geschichtlichen Entwicklung und hat unterschiedliche theologische Funktionen. Hinsichtlich der historischen Entwicklung ließe sich festhalten, dass der Vergeltungsglaube zunächst ausschließlich ein Glaube an die strafende Vergeltung Gottes sei, der sich vor allem beim »Jahwisten« und den frühen Propheten finde.32 Erst mit dem Deuteronomium trete neben Vergeltung als Strafe auch Vergeltung als Lohn; vor allem in der Weisheit werde dann diese »doppelte Vergeltung«33 »in ermüdender Häufigkeit … eingebläut«.34 Erst und lediglich Hiob, Kohelet sowie Ps 73 gelangten darüber hinaus.35 Für die ältere Forschung zum Tun-Ergehen-Zusammenhang gelten darüber hinaus zwei weitere Voraussetzungen: Erstens, dass auch dort von göttlicher Vergeltung auszugehen sei, wo Gott nicht explizit erwähnt wird,36 und zweitens, dass der Vergeltungsglaube vor allem dem eigenen Nutzen dient. Gehandelt wird in der Erwartung eines Lohns bzw. aus Furcht vor Strafe: »Mit der Herrschaft des Vergeltungsglaubens wird die ›Furcht‹ in Form der Angst vor dem allgegenwärtigen und allwissenden Richtergott besonders bestimmend für die persönliche Gottesbeziehung.«37

Dieser Vergeltungsglaube als Paradigma alttestamentlicher Wissenschaft ist in den 1950er Jahren durch die Arbeiten von Klaus Koch nachhaltig neu bestimmt worden.38 Seine Widerlegung gründet Koch auf mehrere Beobachtungen. In semantischer Hinsicht sei die Wiedergabe der einschlägigen Verben šlm (wörtlich »vollenden«) und šwb (»zurückkehren, zurückbringen«) mit »vergelten« unsachgemäß.39 Es ist vielmehr zu berücksichtigen, dass eine ganze Reihe von hebräischen Hand-

31 32 33 34 35 36 37 38

Würthwein, Vergeltungsglaube, 710f. Vgl. Würthwein, Vergeltungsglaube, 711–715. Würthwein, Vergeltungsglaube, 715. Würthwein, Vergeltungsglaube, 716. Vgl. Würthwein, Vergeltungsglaube, 717f. Vgl. Würthwein, Gott und Mensch, 249. Ders., Vergeltungsglaube, 717. Würthwein, Vergeltungsglaube, 716. Koch, Vergeltungsdogma, 1–42; Ders., Ṣdq. Vgl. zum Folgenden auch den exzellenten Forschungsüberblick von Freuling, Grube. 39 Koch, Vergeltungsdogma, 4f.

334

5. Kapitel: Menschenbilder

lungsbegriffen sowohl die Tat als auch ihre Folge bezeichnen.40 Daher ist die wörtliche Wiedergabe mit »vollenden« oder »zurückbringen« angemessen: Eine Tat vollendet sich am Täter bzw. wird an ihm vollendet. Zweitens kritisiert Koch das dem »Vergeltungsglauben« zu Grunde liegende juristische Denkmodell: »denn zum Gedanken der Vergeltung gehört, daß eine richterliche Instanz dem Täter, dessen persönliche Freiheit und wirtschaftliche Stellung durch seine Tat keineswegs verändert ist, eine solche ›Veränderung‹ seines Besitzes, seiner Freiheit oder gar seines Lebens auferlegt als ›Lohn‹ oder ›Strafe‹. (…) In den angeführten Aussagen war dagegen nachdrücklich – wie es uns schien – betont, daß Tat und Ergehen innerlich zusammenhängen und nicht erst nachträglich aufeinander bezogen werden müssen.«41

Der auffallende Sachverhalt, dass die Konsequenzen einer Tat einmal auf Gott zurückgeführt werden, dann sich wiederum gewissermaßen »von selbst« einstellen, belegt für Koch, dass hier gerade nicht in juristischen Kategorien gedacht wird. Vielmehr hat man sich das Verhältnis von Tat und Folge so vorzustellen, dass die Konsequenz sich mit Notwendigkeit einstellt, Jhwh aber von Fall zu Fall in diese Dynamik eingreift und »Hebammendienst« leistet, indem er »das vom Menschen Angelegte zur völligen Entfaltung bringt«.42 Koch verbindet seine Beobachtungen zu der Theorie, dass im Alten Testament nicht von einer Vergeltung, sondern von der »schicksalwirkenden Tatsphäre« geredet werden muss: »Jede sittlich qualifizierte Tat wirkt auf den Täter zurück, läßt um seine Person, besonders um sein Haupt, eine unsichtbare Hülle entstehen, die mit ihm wandert und eines Tages auf ihn in einem entsprechenden Ergehen zurückschlägt, also schicksalwirkende Tatsphäre darstellt. Grundsätzlich formulieren das Aussagen wie Spr 21,21: ›Wer Gerechtigkeit [d. h. Tat] und Treue nachjagt, der findet Leben, Gerechtigkeit [d. h. Heil] und Ehre‹. Oder Spr 26,27: ›Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‹. Häufig wird das Bild von Saat und Ernte gebraucht; das Ausreifen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs führt dazu, daß der Täter die Frucht seiner Taten genießt«.43

Vor allem am Konzept Kochs von der »schicksalwirkenden Tatsphäre« hat sich Kritik entzündet, so dass seine Ergebnisse unter dem weniger missverständlichen Begriff des »Tat-Folge-Zusammenhangs«44 oder »Tun-Ergehen-Zusammenhangs«45 rezipiert wurden. b)

Der Tun-Ergehen-Zusammenhang in der Diskussion

Eine neue Diskussion um den Tun-Ergehen-Zusammenhang hat Bernd Janowski 1994 eröffnet. Er setzt zunächst bei semantischen Beobachtungen ein und stellt fest, dass das deutsche »Vergelten« dem Ursprung nach kein juristischer, sondern

40 41 42 43 44 45

Koch, Vergeltungsdogma, 26–30. Koch, Vergeltungsdogma, 3f. Koch, Vergeltungsdogma, 5. Koch, Tat-Ergehen-Zusammenhang, 493f. Vgl. ausführlich Reventlow, Blut, 311–327. Vgl. z. B. von Rad, Weisheit, 165–181.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

335

ein sozialer Begriff ist: Es bedeutet »zurückgeben, bezahlen, erstatten«46. Als »Prinzip der Gegenseitigkeit« liegt die Vergeltung allem sozialen Handeln zu Grunde: »Die ›Goldene Regel‹ (Mt 7,12: ›Alles nun, was ihr wollt, daß die Menschen euch tun, so tut auch ihr ihnen; denn das ist das Gesetz und die Propheten‹) ist gleichsam die reinste Form dieses Prinzips der Gegenseitigkeit. Sie knüpft daran an, daß wir unsere Interaktionen über wechselseitige Erwartungen aufbauen. Die Regel gründet sich auf die Beobachtung, daß wir im Umgang miteinander gegenseitig Erwartungen aneinander herantragen, und formuliert es als Grund-Gesetz aller Gesetze, das eigene Verhalten von derjenigen Erwartung abhängig zu machen, die ich im Blick auf das Verhalten des anderen hege. Die Goldene Regel knüpft an das Prinzip der Gegenseitigkeit als eine allen menschlichen Interaktionen inhärente Kernstruktur an. Ihr Ursprung ist vorchristlich und tief verwurzelt in einer Ethik des gelingenden Zusammenlebens.«47

Janowski verknüpft dieses sozialanthropologische Prinzip mit ägyptischen Vorstellungen. In Ägypten wird rechtes Verhalten in der Maʻat (wörtlich etwa »Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung«) begründet. Auch hier liegt, wie Jan Assmann herausgearbeitet hat, ein Denken in Gegenseitigkeiten zu Grunde: Die Gesellschaft funktioniert, wenn Menschen aneinander denken, aufeinander hören und füreinander handeln.48 Janowski stellt für die biblischen Texte fest, dass »Gerechtigkeit«, d. h. der Zustand der Ordnung, der der ägyptischen Maʻat entspricht, kein Naturzustand, sondern eine Funktion gesellschaftlichen Handelns ist. Vor allem aber stelle sich eine Tatfolge nicht notwendig-naturgesetzlich ein, sondern nur mit Sicherheit.49 Eine erhebliche Anzahl von Texten aus dem Sprüchebuch belegt einen »interaktionellen, d. h. nicht selbstwirksamen Zusammenhang von Tun und Ergehen«.50 Für die Einbindung Gottes in diesen Zusammenhang hält Janowski fest: »Die vom ›Weisen‹ vollbrachte Tat (Spr 25,21) samt deren – zukünftiger – Wirkung (V.22a) wird von JHWH in einem ihr entsprechenden Akt ›vergolten‹ (šlm pi. V.22b). Der Nexus von Tun und Ergehen, wie er den Aussagen vom Füreinander-Handeln (›Vergeltung‹ als soziale Interaktion) zugrundeliegt, wird in Prov 25,21f und verwandten Sprüchen dadurch aufgebrochen, daß JHWH jetzt als Subjekt der ›Vergeltung‹ eingebracht und benannt wird, d. h. als jemand, der entsprechend menschlichem Tun handelt. Gottes Handeln folgt demnach demselben Prinzip der Gegenseitigkeit, wie es dem Handlungsmodell der sozialen Interaktion zugrundeliegt – mit dem entscheidenden Unterschied, daß sein Eingreifen zwar erwartbar ist, aber unverfügbar bleibt, also gleichsam ein Akt der ›Gnade‹ ist. JHWH steht zwar in Relation zum Tun-ErgehenZusammenhang, die Freiheit seines Willens bleibt davon jedoch unberührt.«51

Janowskis Untersuchungen haben den Begriff der »Vergeltung« für den Tun-Ergehen-Zusammenhang rehabilitiert.52 Damit ist die Diskussion um den Tun-Ergehen46 47 48 49 50 51 52

Vgl. Janowski, Tat, 257f. Janowski, Tat, 258. Vgl. Janowski, Tat, 259f. Vgl. Janowski, Tat, 261. Vgl. Janowski, Tat, 265f. Janowski, Tat, 269f. Vgl. die Angaben bei Janowski, Tat, 256. Von »Vergeltung« ist außerdem in neueren Studien zum Hiobbuch wieder häufig die Rede, vgl. z. B. Witte, Leiden, 4. 17. 63–72. 78f. 135–142. 160. 168f. 231–236; Nømmik, Freundesreden, 161–163. 187. 273. 280f. 294.

336

5. Kapitel: Menschenbilder

Zusammenhang wieder anschlussfähig an die internationale Forschung geworden, die in der Regel von retribution spricht.53 Im Rahmen einer Übersetzung hebräischer Konzepte ins Deutsche bleibt der Begriff jedoch missverständlich. Trotz der Überlegungen von Janowski54 hat das deutsche »vergelten« weiterhin den Beiklang von Lohn und Strafe bzw. Rache. Mit seinen Darstellungen zum Prinzip der Gegenseitigkeit als Grundlage sozialen Handelns kann Janowskis Entwurf zudem sehr leicht in Richtung einer reinen Vorteilsorientierung alttestamentlicher Ethik missverstanden werden. Gleichwohl ist das Konzept einer sozialen Verankerung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs leichter auf die Texte zu beziehen, die in der Regel nicht von kosmischen oder naturhaften Zusammenhängen sprechen.55 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die biblischen Texte nur einen Ausschnitt aus dem Denken des Alten Israel repräsentieren. Ob und wie Israel Kausalzusammenhänge abseits des sozialen Handelns erklärt und gedeutet hat – z. B. in der Medizin, in der Landwirtschaft, in der Technik usw. – ist uns zum größten Teil nicht bekannt. Der Tun-ErgehenZusammenhang steht mit Sicherheit im Kontext eines größeren Systems der Welterklärung und Kontingenzbewältigung, doch dies können wir nur theoretisch, auf jeden Fall nur in Umrissen ermitteln. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist demnach – gleichgültig in welcher Zuspitzung – eine Hypothese der Forschung, die bestimmte Textaussagen zu erklären versucht. Vor allem aber ist der jeweilige Aussagekontext zu beachten. Die letzte Studie zum Tun-Ergehen-Zusammenhang hat Georg Freuling 2004 vorgelegt.56 Er hat dabei wieder geltend gemacht, dass das Konzept des Tun-ErgehenZusammenhangs zwar in der weisheitlichen Literatur besonders intensiv zum Ausdruck kommt, jedoch auch anderen Literaturen zugrunde liegt.57 Entscheidend ist, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang in den theologischen Schulen jeweils unterschiedlich umgesetzt wird. Weisheitliche Literatur hat eine pädagogische Absicht: »Auch dort, wo die Zusammenhänge des Lebens in Sentenzen lediglich konstatiert werden, geht es um eine heilvolle Orientierung, für die die Lehrreden dann leidenschaftlich werben. Widersprüchliche Wahrnehmungen (z. B.) werden dabei nicht unterdrückt, treten jedoch hinter diese pädagogische Intention zurück: Es wird gelehrt, nicht problematisiert.«58

53 Vgl. Freuling, Art. »Tun-Ergehen-Zusammenhang«. 54 Vgl. Janowski, Tat, 257f. 266–270. 55 Koch, Zusammenhang, 293, verweist auf Naturvergleiche, die diese kosmische Ordnung widerspiegeln. Dagegen hat Hausmann, Menschenbild, 234–237, zeigen können, dass die Naturvergleiche innerhalb des Sprüchebuchs als Metaphern zu verstehen sind. Vgl. auch Janowski, Tat, 262f. 56 Freuling, Grube. Weiterführende Überlegungen: Freuling, Art. »Tun-Ergehen-Zusammenhang«. 57 Die ältere Forschung hatte dies noch reflektiert, vgl. Würthwein, Vergeltungsglaube, 712–718; Koch, Vergeltungsdogma, 10–26. Nach Koch lässt sich dann eine gewisse Engführung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs auf die Weisheit beobachten, vgl. von Rad, Weisheit, 165–181; Janowski, Tat, 256–271. 58 Freuling, Art. »Tun-Ergehen-Zusammenhang«.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

337

Recht und Gesetz hingegen versuchen, die soziale Ordnung funktionsfähig zu halten, indem sie Fehlverhalten durch Sanktionen regulieren und damit eine Korrelation zwischen Handeln und Ergehen erstellen. Dies geschieht überwiegend im Interesse Geschädigter und Benachteiligter.59 In der Prophetie schließlich wird der Zusammenhang zwischen (Israels) Handeln und (Israels) Geschick konsequent als Tat Gottes dargestellt.60

2.

»Wer eine Grube gräbt…«: Biblische Aspekte von Tun und Ergehen

a)

»Weisheit führt zum Leben«: Vom Sinn der Klugheit

Als »Weisheit« bezeichnet man den Bereich altorientalischen und altisraelitischen Denkens, der versucht, die Erfahrungen der Welt und des Lebens zu sammeln, zu ordnen und zu formulieren. Weisheitliches Wissen bildet den Grundstock von Wissen und Bildung, der dann in Geschichtstheologie, Recht und Kult weiter gedacht und ausdifferenziert wird. Weisheit macht es sich zur Aufgabe, Wirklichkeit zu beschreiben und zu ordnen, wie sie sich dem »gesunden Menschenverstand« darbietet. Dabei werden Zusammenhänge erkennbar, die sich schrittweise zu einem »Ordnungsraum«61 zusammenfügen lassen. Dadurch erscheint Weisheit häufig »profan« und wenig theologisch. Diesen Ordnungsraum weiter durchzubuchstabieren, ist dann Aufgabe spezialisierter Bildungseliten wie Politiker, Priester, Rechtsgelehrte.62 Sie stimmen die Weltordnung jeweils auf die religiös-theologische Begründung bestimmter Handlungsfelder ab. Die »Erfahrung einer stabilen und heilvoll geordneten Welt«63 wird im alten Israel durchaus auf die Wirkkräfte Gottes bezogen. Diese nehmen im Kult, im Recht, in sozialem Handeln usw. indes unterschiedliche Gestalt an64 und werden mithin mit unterschiedlichen Mitteln zum Ausdruck gebracht.65 Weisheit ist daher so etwas wie die »Schule Israels«. Das Ziel weisheitlicher Literatur ist es, aus einem jungen Menschen ein gebildetes, kompetentes, recht denkendes und recht handelndes Mitglied der Gesellschaft zu machen. Dies geschieht in der Form des eingängigen kurzen Spruchs oder Beispiels (maschal)66, worin eine Erfahrung so bündig formuliert ist, dass sie in Erinnerung bleibt. Dabei kann es sich um einfache Alltagswahrnehmungen handeln:

59 60 61 62 63 64 65 66

Vgl. ausführlich Graupner, Vergeltung, 459–477; Grünwaldt, Art. »Recht«. Herrmann, Intellekt, 156f. von Rad, Weisheit, 161. Vgl. zum Folgenden auch Freuling, Art. »Tun-Ergehen-Zusammenhang«. Janowski, Weltbild, 14. Janowski, Weltbild, 14. Ein Beispiel bietet Janowski, Weltbild, 16–18. Zu den Formen vgl. von Rad, Weisheit, 39–52; Köhlmoos, Art. »Weisheit«, 487–492; Klein, Kohelet, 40–62.

338

5. Kapitel: Menschenbilder

Spr 20,14: ›Schlecht, schlecht!‹, spricht der Käufer; aber wenn er weggeht, rühmt er sich. Spr 26,14: Die Tür dreht sich in ihrer Angel, und der Faule in seinem Bett.

Mit psychologischer Einsicht und einer Prise Humor, jedoch ohne erkennbare Wertung wird in solchen Sprüchen ein typischer Fall anschaulich gemacht. Eine Folge der geschilderten Verhaltensweise liegt nicht offen zu Tage. Der Käufer von Spr 20,14 verhält sich offenbar völlig normal: Er feilscht um eine Ware und freut sich am Ende, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Das ist menschlich; und hier dient der Spruch offenbar dazu, den Schüler (oder die Schülerin)67 auf Handelsgeschäfte mit schwierigen Kunden vorzubereiten.68 Auch der Faule von Spr 26,14 scheint einfach milden Spott hervorzurufen.69 Einen Schritt darüber hinaus gehen Sprüche, die die Folgen eines Handelns deutlich machen: Koh 10,8: Wer eine Grube gräbt, fällt hinein, und wer eine Mauer einreißt, den beißt die Schlange. 9: Wer Steine bricht, kann sich dabei wehtun, wer Holz spaltet, bringt sich dabei in Gefahr. 10: Wenn das Eisen stumpf wird und man schärft seine Schneide nicht, braucht man mehr Kraft. Und der Gewinn des Tauglichen liegt in der Weisheit.

In dieser kleinen Spruchreihe schildert Kohelet die Folgen unvorsichtigen Verhaltens.70 Er leitet dazu an, Arbeiten mit Vorausschau und dem notwendigen Geschick durchzuführen: Wer eine Grube gräbt, kann hineinfallen, wenn er sie nicht sichert. Da man nie weiß, was sich in Mauerritzen verbirgt, sollte man Wände mit Bedacht einreißen. Brecheisen und Äxte sind gefährliche Werkzeuge. Die implizite Schlussfolgerung für den Hörer ist also, dass er die inhärenten Folgen (Gefahren) eines Handelns im Voraus kalkulieren sollte. V. 10 geht noch einen Schritt weiter, indem er nun auch noch eine Strategie empfiehlt: Halte deine Werkzeuge stets scharf. Das Schlusswort V. 10b gibt den Horizont der kleinen Reihe ab: »Weisheit« bringt garantierten Erfolg – nämlich korrekt ausgeführte Tätigkeiten. Die drei Fälle, die Kohelet beibringt, haben eine gewisse Notwendigkeit in sich, weil die Gefahren in der Natur der Sache liegen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Verse 8–9 nur mögliche Folgen aussprechen. Kohelet verwendet das Imperfekt. Es kann sowohl einen Vorgang ausdrücken, der sich regelmäßig wiederholt,71 als auch den Vorgang, der lediglich möglich ist.72 Es liegt demnach beim Hörer, zu bewer67 Das Sprüchebuch und das Buch Kohelet wenden sich durchgängig an junge Männer. Ob auch junge Frauen eine regelrechte Ausbildung erhielten, ist unbekannt. Texte wie Spr 31,1.10–29 lassen aber darauf schließen. 68 Vgl. von Rad, Weisheit, 154; Sæbø, Sprüche, 254. 69 Dabei ist der Sinn dieses Vergleichs umstritten. Sæbø, ATD, 327 hält fest, dass weder die Tür noch der Faule bei ihrer Bewegung vorankommen und sieht daher eine Analogie der beiden Wahrnehmungen. Dagegen geht Spieckermann, Lebenskunst, 61, von einem Gegensatz aus: Die Bewegung der Tür hat einen Nutzen, die des Faulen nicht. 70 Zu Komposition und Details vgl. Köhlmoos, Kohelet, 220f. 71 Vgl. Gesenius-Kautzsch, Grammatik, § 107g: Das Imperfekt wird verwendet »zum Ausdruck von Handlungen, die sich … bei gegebener Gelegenheit zu wiederholen pflegen.« 72 Vgl. Gesenius-Kautzsch, Grammatik, § 107m.r.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

339

ten, ob es sich um eine unvermeidliche oder eine vermeidbare Folge handelt. Hier kommt die Erfahrung ins Spiel: Nicht jeder, der eine Grube gräbt, fällt hinein; nicht jeder, der eine Mauer einreißt, stößt auf eine Schlange; nicht jeder, der ein Werkzeug benutzt, verletzt sich dabei. Unweises Verhalten muss nicht zu Unfällen führen, weises Handeln kann den Unfall nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Das heißt also, dass nicht jede Folge sich mit Sicherheit einstellen muss, dass man aber die inhärenten Folgen einer Handlung durch korrektes Verhalten mit ziemlicher Sicherheit vermeiden kann. Indem der Zusammenhang zwischen Tat und Folge zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit oszilliert, lernt der Schüler beim Hören mit. Dabei lernt er in V. 8–10a, negative Handlungsfolgen einzukalkulieren. Der Abschluss V. 10b formuliert eine positive Aussage. Der endgültige Gewinn73 einer korrekt ausgeführten Tätigkeit geht über die Situation hinaus: »Es ist ein bleibender Gewinn, tauglich zu sein«74 (vgl. auch Spr 13,11; 14,23; 16,16; 19,2; 24,3f.). Denn die technische Kompetenz, die in Koh 10 reflektiert wird, hat weiter reichende Folgen. Wer seine Werkzeuge sachkundig handhabt, ist in der Lage, sein Leben und das seiner Familie und/oder seiner Umwelt zu sichern, Achtung und Vertrauen zu gewinnen. Der (sachnotwendige) Gewinn bzw. Ertrag richtigen Verhaltens liegt also in der Möglichkeit eines gelingenden Lebens. Die Spruchweisheit bringt dies auf die Formel »Weisheit führt zum Leben« (vgl. Spr 13,14.16; 19,8; 21,16; 24,14; 27,12). Anhand von Koh 10 lässt sich nachbuchstabieren, wie die Weisheit zu solchen Maximen kommt. Sie sind über das Sprüchebuch verteilt, ohne dass ihr unmittelbarer Kontext erkennbar wäre. Es wird aber deutlich, dass Maximen nach Art »Weisheit führt zum Leben« eine Abbreviatur eines Lehr- und Lernprozesses darstellen, der sich beim Aneignen der Sprüche wieder entfalten soll. Ob der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen mehr eine inhärente Notwendigkeit abbildet (Klaus Koch), eine Verpflichtung zu sozialem Handeln (Bernd Janowski) oder eine normative Vergeltung (Ernst Würthwein), ist von Fall zu Fall zu entscheiden und hängt von Gestalt, Gehalt und Kontext des Spruches ab.75 Auf jeden Fall wird deutlich, dass Handeln nicht nur Konsequenzen hat, sondern dass jedes einzelne Handeln mit weiteren Handlungen vernetzt ist: Selbst der Gebrauch von Werkzeugen ist mit der Gesellschaft und ihren Interessen verknüpft. b)

»Wenn ein Mann eine Zisterne gräbt«: Von der Funktion des Rechts

Koh 10 nimmt die Perspektive des Einzelnen ein und schildert explizit nur die Folgen, die Unachtsamkeit und Ungeschicklichkeit haben können. Schon im eigenen

73 Bei Kohelet: jitrȏn. Es bezeichnet das, was bleibt. 74 Die Stelle ist schwer übersetzbar, bezieht sich aber kaum nur darauf, seine Werkzeuge zu pflegen (so etwa Lauha, Kohelet, 189). Dafür sind die Begriffe jitrȏn (»Gewinn«) und ḥåkmāh (»Weisheit«) zu weitreichend. Vgl. zur Diskussion der Stelle Schoors, Preacher II, 425. 447–449. 75 Dabei bleibt die Komposition des Sprüchebuches in seiner vorliegenden Gestalt nach wie vor ein Rätsel. Es dokumentiert mit Sicherheit den Überlieferungsprozess weisheitlicher Werte, Normen und Regeln und ist auch auf eine gewisse Aneignungsmöglichkeit hin komponiert. Vgl. dazu unterschiedlich Sæbø, Sprüche; McKane, Proverbs; Scherer, Wort.

340

5. Kapitel: Menschenbilder

Interesse sollte man achtsam, vorausschauend und vorsichtig handeln. Der gesamtgesellschaftliche Horizont wird in Koh zwar nur in Umrissen erkennbar, V. 10b dient aber auch zur zusätzlichen Motivation: Weisheit hat eine gesamtgesellschaftliche Funktion. Der Sachverhalt scheint relativ banal. Gleichwohl weiß das Alte Israel sehr wohl, dass das Ideal verantwortungsbewussten Handelns nicht allein durch Bildung und Erziehung erreicht wird und sich schon gar nicht von selbst einstellt. Zum rechten Verhalten muss man motiviert werden, indem konkrete Folgen in Aussicht gestellt werden. Neben der Weisheit, die dies auf dem Weg der Didaktik versucht, nimmt auch das Recht diese Aufgabe wahr. Ex 21,33f. (ZüB): Wenn jemand eine Zisterne offen lässt oder wenn jemand eine Zisterne gräbt und sie nicht zudeckt, und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, muss der Besitzer der Zisterne Ersatz leisten. Er muss dem Besitzer des Tieres Geld erstatten, das tote Tier aber gehört ihm.

In Ex 21 geht es nicht um Werkzeuge und auch nicht um die direkten Folgen für den Täter, trotzdem gehört die Vorschrift in denselben Horizont wie Koh 10: Wer den gesamten Vorgang des Grubengrabens nicht überblickt, bringt Andere in Gefahr. Zisternen sind so tief und eng, dass ein Mensch oder ein Tier, die hineinfallen, nicht mehr hinauskommen und sterben müssen.76 Rinder und Esel sind Arbeitstiere, d. h. ihr Verlust bedeutet für den Besitzer einen empfindlichen Schaden. Für diesen Verlust muss der Verursacher angemessenen Ersatz leisten, der wahrscheinlich zwischen den Parteien ausgehandelt wird. Es dürfte sich jedoch um eine recht hoch bemessene Leistung handeln, weil dem Tierbesitzer wertvolles Gut abhandengekommen ist.77 Die Rechtstexte in Exodus und Deuteronomium dienen als Handreichung für diejenigen, die in Israel mit der Rechtspflege betraut sind.78 Sie sind indes zuvor durch die Schule der Weisheit gegangen. Zumindest ihnen gibt die Rechtsvorschrift eine weitere Motivation, das Alltagshandeln mit der notwendigen Weitsicht zu gestalten: Zum einen kann Unachtsamkeit lebensgefährlich sein. Das ist gewissermaßen die sachnotwendige Folge des Grubegrabens im Sinne Klaus Kochs. Wenn diese Folge aber eintritt und ein Schaden entstanden ist, wirkt sich das unachtsame Verhalten des Täters gemeinschaftsschädigend aus und muss – im Sinne Bernd Janowskis – vergolten werden. Die Ankündigung einer (empfindlichen) Strafe motiviert durch Abschreckung zu richtigem Handeln. Genauer gesagt, macht die Strafbestimmung hier deutlich, wie weit die Folgen des Handelns reichen können. Das Recht tritt somit der Weisheit zur Seite und dient in gewisser Weise auch der Belehrung der Unbelehrbaren. Wer nicht hören will, muss fühlen. An Fällen wie diesen wird deutlich, warum »Torheit« nicht nur der Gegensatz einer kognitiv ausgerichteten

76 Vgl. dazu Koenen, Art. »Wasserversorgung«. 77 Vgl. die weiteren Ersatztarife im unmittelbaren Kontext Ex 21,35–22,14. Der ähnlich gelagerte Fall von Dtn 22,8 stellt für einen solchen Unfall sogar den Tatbestand der Blutschuld in Aussicht – d. h. Unachtsamkeit kann im Bereich der Kapitalgerichtsbarkeit geahndet werden. 78 Vgl. dazu grundsätzlich Niehr, Rechtsprechung; Gertz, Gerichtsorganisation.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

341

Weisheit ist. »Torheit« ist nicht nur einfach Dummheit, sondern ein verantwortungsloses Handeln, sträfliche Dummheit. Aus diesem Grund sind der Törichte und der Bösewicht (hebr. rašaʻ) in letzter Konsequenz identisch – wie umgekehrt auch der Weise und der Gerechte. Recht und Gesetz sind in Israel in einem längeren Prozess der expliziten Autorität des göttlichen Wortes unterstellt worden: »Für das grundsätzliche Verständnis der Rechtsvorschriften des Alten Testamentes ist ihr Ort im Alten Testament zu berücksichtigen: Dekalog, Bundesbuch, Privilegrecht und Heiligkeitsgesetz sind Bestandteil der Sinaierzählung und damit Teil der Verpflichtung des Volkes, das eben zuvor von Gott aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit worden ist. Der auf JHWHs gnädigem Befreiungshandeln gründende Bund zwischen Gott und Volk ist also der Hintergrund, auf dem die Gesetzesbestimmungen erlassen worden sind.«79

Mit dieser Entwicklung wird der Zusammenhang zwischen Tat und Folge aber zusätzlich zu den bisher genannten Aspekten mit einer weiteren Dimension versehen: Es ist Gott, der gebietet, welche Folgen welche Handlungen zu zeitigen haben. Damit befindet man sich zwar nicht in einem »Vergeltungsdogma« älterer Prägung. Gleichwohl bekommt der naturhafte und/oder im Gewissen des Einzelnen verankerte Zusammenhang zwischen Tat und Folge eine weitere Instanz, die über ihn wacht, ihn in Kraft und in Geltung setzt. Umgekehrt sind es nicht mehr »nur« Weisheit oder Verantwortung für die Umwelt, die das Handeln leiten, sondern Israels Verpflichtung seinem Gott gegenüber, die sich auch in (scheinbaren) Kleinigkeiten zu bewähren hat. c)

»Wer andern eine Grube gräbt«: Vom Eingreifen Gottes

Die beiden Fälle von Koh 10 und Ex 21 befassen sich mit Schäden, die aus Unachtsamkeit entstehen. Was aber, wenn hinter einer Tat böse Absicht steckt? Die Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs besagt eigentlich, dass es hierbei besonders zu einer negativen Folge für den Täter kommen muss, weil er absichtlich Schaden zugefügt hat. Unrecht Gut gedeiht nicht (vgl. Spr 10,2). Tatsächlich belegt zumindest die Mehrzahl der Sprüche des Sprüchebuches eine gewisse Selbstwirksamkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, sei es nun aus inhärenter Notwendigkeit oder aus sozialem Gewissen, aus Angst vor negativen Folgen oder aus einer Mischung aus allen Dreien. Das zeigt sich besonders in der Variation des Grubenspruchs in Spr 26,27 (ZüB): Spr 26,18f.

Wie ein Unsinniger, der mit Geschoss und Pfeilen schießt und tötet, so ist ein Mensch, der seinen Nächsten betrügt und spricht: »Ich habe nur gescherzt.«

20

Wenn kein Holz mehr da ist, so verlischt das Feuer, und wenn der Verleumder weg ist, so hört der Streit auf.

79 Grünwaldt, Art. »Recht«. Vgl. auch zuletzt Fischer, Gerechtigkeit, 63f.

342

5. Kapitel: Menschenbilder

21

Wie die Kohlen die Glut und Holz das Feuer, so facht ein zänkischer Mann den Streit an.

22

Die Worte des Verleumders sind wie Leckerbissen und gehen einem glatt ein.

23

Glatte Lippen und ein böses Herz, das ist wie Tongeschirr, mit Silberschaum überzogen.

24 f.

Der Hasser verstellt sich mit seiner Rede, aber im Herzen ist er falsch; wenn er seine Stimme holdselig macht, so glaube ihm nicht; denn es sind sieben Gräuel in seinem Herzen.

26

Wer den Hass trügerisch verbirgt, dessen Bosheit wird doch vor der Gemeinde offenbar werden.

27

Wer eine Grube macht, der wird hineinfallen; und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen.

Spr 26,27 bildet den Abschluss einer Spruchreihe, die sich mit Verleumdung, Lüge und Täuschung befasst.80 Auch in Spr 26 ist – wie in Koh 10 – nicht davon die Rede, dass die Grube mit böser Absicht gegraben wurde. Das Sprichwort dürfte aber bewusst an den Schluss der Komposition gestellt worden sein und erhält vom Kontext her diesen seinen bekannten Sinn.81 Auch hier ist die Didaktik offensichtlich: Wenn schon bloße Unachtsamkeit zu bösen Konsequenzen führt, wieviel mehr dann die böse Absicht! Wird in Spr 26,18–26 in immer neuen Bildern eingeschärft, dass ein Unehrlicher sich selbst aus der Gesellschaft hinauskatapultiert, so gilt das in letzter Konsequenz auch, wenn er die Grube in böser Absicht gegraben haben sollte: Die Tat fällt auf den Täter zurück. Erneut ist nicht klar zu bestimmen, ob sie sich im Sinne Klaus Kochs am Täter vollendet oder ob im Sinne Bernd Janowskis dem Täter vergolten wird, was er angerichtet hat. Es ist auf jeden Fall keine äußere Instanz, die die Konsequenz herbeiführt. Das deutsche Sprichwort »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein« hat seine direkten Wurzeln nicht in der Weisheit, sondern geht auf die Formulierung Ps 57,7 zurück82:

7

Ein Netz haben sie (sc. die Feinde) bereitet für meine Schritte, gebeugt ›ist‹/›hat man‹ meine Lebenskraft (= mich), sie haben vor mir eine Grube gegraben, sie sind hineingefallen mitten in sie. – Sela

8

Fest ist mein Herz (leb), Gott, fest ist mein Herz (leb)! Ich will singen und auf Saiten spielen!

9

Wach auf, meine Herrlichkeit, wach auf, Harfe und Leier, ich will (die) Morgenröte wecken!

80 Zur Komposition vgl. Sæbø, Sprüche, 323–328. 81 So Sæbø, Sprüche, 328; Freuling, Grube, 50–57. 82 Zum verwandten Text Ps 7 vgl. Koch, Vergeltungsdogma, 16.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

343

10

Ich will dich loben unter Völkern, mein Herr, ich will dich mit Saitenspiel preisen unter Nationen!

11

Denn groß bis an (die) Himmel ist deine Gnade und bis an die Wolken deine Treue!

12

Erhebe dich über (die) Himmel, Gott, über die ganze Erde deine Herrlichkeit!

Ps 57 ist ein Gebet eines Einzelnen, das um Rettung vor Feinden bittet.83 Die Grube von V. 7 ist eine Fallgrube, die eigentlich zur Großwildjagd bestimmt ist.84 Anders als Spr 26; Koh 10; Ex 21 dient diese Grube also von vornherein einem tödlichen Zweck. D. h., das Vergehen der Feinde besteht nicht im Graben der Grube, sondern in ihrer Zweckentfremdung – dass sie verwendet wird, um Menschen zu fangen und nicht gefährliche Tiere.85 Wer aber seinen Mitmenschen behandelt wie einen Löwen oder einen Bären, d. h. wie einen Repräsentanten lebensfeindlicher Kräfte, geht über die Konstellation von Spr 26 noch deutlich hinaus. Die Grenzüberschreitung ist so eklatant, dass das Vertrauen auf die inhärenten Konsequenzen falschen Handelns nicht ausreicht – zumal für den Beter anscheinend eine unmittelbare Lebensgefahr besteht. Hier muss Gott um Einschreiten gebeten werden. Die »Rettung der Guten« bzw. die »(Selbst-) Zerstörung der Bösen«86 ist ein Grundmotiv des Psalters und tritt gleichberechtigt neben die pädagogisch ausgerichtete Weisheit. Dass das Böse sich über kurz oder lang selbst zerstört, ist durchaus ein Erfahrungswert. Gleichzeitig ist es ebenfalls ein Erfahrungswert, dass dem nicht so ist: Sozial und individuell ist das Böse unerklärlicherweise auch unzerstörbar. Klageund Bittgebete im Psalter sind von der Hoffnung und dem Vertrauen getragen, dass Gott zugunsten des und der Guten einschreitet. Dies drückt sich gerade in Ps 57 aus. Die Feinde werden nicht von Gott in die Fallgrube geworfen, sondern sind hineingefallen. Der Vers formuliert hier im sog. perfectum propheticum, d. h. er drückt die Gewissheit aus, dass das Ausgesprochene im Moment des Aussprechens eintritt. Also »erlangt der Beter seine ›Festigkeit‹ aus der Gewissheit, dass seine Feinde ›Opfer ihrer eigenen Bosheit‹ werden bzw. geworden sind (V.7b: ›sie sind hineingefallen mitten in sie [sc. die Grube]‹, vgl. Ps 7,16; 9,16; 35,8 u.ö.), wenn Gott im Sinne des Kehrverses V.6.12 seine universale Gerechtigkeitsordnung wiederherstellt«.87

Der ganze Psalm lebt von der Gewissheit, dass Gott diese Ordnung für seine Schützlinge immer wieder aufrichtet (V. 2–6). In den Psalmen verschränkt sich somit die empirische Wirklichkeitserfahrung mit der Gotteserfahrung, die bewirkt (oder bewirken kann), dass Gutes zu Gutem und Böses zu Bösem führt.

83 Analysen: Hossfeld/Zenger, Psalmen, 118–130; Riede, Netz, 127–134; Sticher, Rettung, 177–190; Janowski, Herz, 34–36. 84 Überblick: Koenen, Art. »Jagd«. 85 Dass die Formulierung hier metaphorisch zu verstehen ist, ändert daran nichts, vgl. Riede, Netz, 132f. 86 Vgl. dazu ausführlich Sticher, Rettung. 87 Janowski, Herz, 35.

344

3.

5. Kapitel: Menschenbilder

Rechtes Handeln, Tun und Ergehen

Das Motiv der Grube lässt sich noch in anderen biblischen Texten wiederfinden. Ein Echo von Ps 57 findet sich in der vierten Konfession Jeremias Jer 18,18–23 (bes. V. 20.22). Der Gesamtkontext des Kapitels weist darauf hin, dass in Jeremias Gegnern ganz Israel repräsentiert ist, das sich gegen Jhwh auflehnt. Demzufolge muss Jhwh gegen Israel einschreiten.88 Die Prophetie bearbeitet Israels Versagen und Vergehen gegenüber Jhwh mit dem Motiv des Zorns Gottes, der sich gegen die Übeltäter entlädt.89 Auch dies kann sowohl als Vollendung der Tat durch Jhwh90 wie als Erstattung des Verrats an Jhwh verstanden werden. Umgekehrt muss nicht jede Übeltat zwangsläufig in der Vernichtung des Täters enden. Josef wird von seinen Brüdern in eine Grube geworfen, doch die Vollendung bzw. Vergeltung dieser Tat besteht am Ende in Versöhnung.91 Der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen hat auch biblisch immer mehrere Dimensionen: Verzeihen, Vergeben und Neubeginn liegen durchaus auch in diesem Horizont.92 Rechtes Handeln steht biblisch im Horizont von Verantwortungsbewusstsein, Rücksicht, Weitblick und Geduld. Die damit verbundenen Verhaltensweisen wie Fleiß, Kompetenz, Großzügigkeit, Respekt und Bescheidenheit sind keine Tugenden »an sich«, sondern dienen dazu, Israel als Gesellschaft und Gottesvolk am Leben zu erhalten. Dazu bedarf es der ständigen Motivation durch Erziehung, rechtlicher Sanktion, beispielhafter Vorbilder und der Gottesgewissheit im Gebet.

Bibliographie Bultmann, Christoph, A Prophet in Desperation? The Confessions of Jeremiah: de Moor, Johannes Cornelis (Hg.), The Elusive Prophet. The Prophet as a Historical Person, Literary Character and Anonymous Artist (OTS 45), Leiden 2001, 83–93. Finsterbusch, Karin, Art. »Konfessionen Jeremias«: www.wibilex.de (http://www.bibelwissen schaft.de/stichwort/23904/), 2015 (Letzter Zugriff: 10.5.2016). Fischer, Georg, Die Josefsgeschichte als Modell der Versöhnung: Wénin, André (Hg), Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History (BEThL 155), Leuven 2001, 243–271. Fischer, Stefan, Der alttestamentliche Begriff der Gerechtigkeit in seinem geschichtlichen und theologischen Wandel: Seubert, Harald/Thiessen, Jacob (Hg.), Die Königsherrschaft Jahwes. FS Herbert H. Klement (STB 13), Wien 2015, 61–74. Freuling, Georg, »Wer eine Grube gräbt …« Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (WMANT 102), Neukirchen-Vluyn 2004. Ders., Art. »Tun-Ergehen-Zusammenhang«: www.wibilex.de (http://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/36298), 2008 (Letzter Zugriff: 16.5.2016). Gertz, Jan Christian, Die Gerichtsorganisation Israels nach dem deuteronomischen Gesetz (FRLANT 165), Göttingen 1994.

88 89 90 91 92

Vgl. Finsterbusch, Art. »Konfessionen Jeremias«. Ausführlich: Bultmann, Prophet, 83–93. Vgl. dazu grundlegend Jeremias, Zorn. Vgl. Koch, Vergeltungsdogma, 10–16. Vgl. ausführlich Fischer, Versöhnung. Siehe dazu Koenen, Gerechtigkeit, 274–303.

§ 23 Richtiges Leben, Tun und Ergehen

345

Graupner, Axel, Vergeltung oder Schadensersatz? Erwägungen zur regulativen Idee alttestamentlichen Rechts am Beispiel des ius talionis und der mehrfachen Ersatzleistung im Bundesbuch: EvTh 65 (2005), 459–477. Grünwaldt, Klaus, Art. »Recht (AT)«: www.wibilex.de (http://www.bibelwissenschaft.de/stich wort/32882/), 2011 (Letzter Zugriff: 10.5.2016). Hausmann, Jutta, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit (FAT 7), Tübingen 1994. Herrmann, Siegfried, Zwischen Intellekt und Charisma. Eine Auseinandersetzung mit Klaus Kochs »Profeten«: Daniels, Dwight R. u. a. (Hg.), Ernten, was man sät. FS Klaus Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 145–159. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg u. a. 32015. Janowski, Bernd, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des »Tun-ErgehenZusammenhangs«: ZThK 91 (1994), 247–271. Wieder abgedruckt in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191. Ders., Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze: Ders./Ego, Beate (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 3–26. Ders., Das Herz als Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments: Ders./ Schwöbel, Christoph (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge, Neukirchen-Vluyn 2015, 1–45. Jeremias, Jörg, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung, Neukirchen-Vluyn 22011. Klein, Christian, Kohelet und die Weisheit Israels. Eine formgeschichtliche Studie (BWANT 7), Stuttgart 1994. Koch, Klaus, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?: ZThK 52 (1955), 1–42. Wieder abgedruckt in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1991, 65–103. Ders., Ṣdq im Alten Testament. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung, Diss. masch. Heidelberg 1953. Ders., Art. »Tat-Ergehen-Zusammenhang«: Ders. u. a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, Stuttgart 4 1987, 493–495. Koenen, Klaus, Art. »Jagd«: www.wibilex.de (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 10321.), 2005 (Letzter Zugriff: 10.5.2016). Ders., Art. »Wasserversorgung«: www.wibilex.de (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 14617.), 2007, letzte Änderung 2010 (Letzter Zugriff: 10.5.2016). Ders., Gerechtigkeit und Gnade. Zu den Möglichkeiten weisheitlicher Lehrerzählungen: Mehlhausen, Joachim (Hg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit (VWGTh 14), Gütersloh 1998, 274–303. Köhlmoos, Melanie, Art. »Weisheit/Weisheitsliteratur II«: TRE 35 (2003), 486–497. Dies., Kohelet. Der Prediger Salomo (ATD 16,5), Göttingen 2014. Lauha, Aare, Kohelet (BK XIX), Neukirchen-Vluyn 1978. McKane, William, Proverbs. A New Approach (OTL), London 1980. Niehr, Herbert, Rechtsprechung und Israel. Untersuchungen zur Geschichte der Gerichtsorganisation im Alten Testament (SBS 130), Stuttgart 1987. Nømmik, Urmas, Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie (BZAW 410), Berlin/New York 2010. von Rad, Gerhard, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970. Graf Reventlow, Henning, »Sein Blut komme auf sein Haupt«: VT 10 (1960), 311–327. Wieder abgedruckt in: Koch, Klaus (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 412–431. Riede, Peter, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn 2000. Sæbø, Magne, Sprüche (ATD 16,1), Göttingen 2012. Scherer, Andreas, Das weise Wort und seine Wirkung. Eine Untersuchung zur Komposition und Redaktion von Proverbia 10,1–22,16 (WMANT 83), Neukirchen-Vluyn 1999.

346

5. Kapitel: Menschenbilder

Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hg. von Otto, Rudolf, Stuttgart 61962. Schoors, Anton, The Preacher Sought to Find Pleasing Words. A Study of the Language of Qoheleth. Part II: Vocabulary (OLA 143), Leuven u. a. 2004. Spieckermann, Hermann, Lebenskunst als Wegkunde. Proverbien: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie (FAT 91), Tübingen 2014, 55–79. Sticher, Claudia, Die Rettung der Guten durch Gott und die Selbstzerstörung der Bösen. Ein theologisches Denkmuster im Psalter (BBB 137), Berlin/Wien 2002. Witte, Markus, Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang (Hiob 21–27) und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches (BZAW 230), Berlin/New York 1994. Würthwein, Ernst, Der Vergeltungsglaube im Alten Testament: Preisker, Karl/Würthwein, Ernst, Art. »Μισθός κτλ.«: ThWNT IV (1943), 710–718. Ders., Gott und Mensch in Dialog und Gottesreden des Buches Hiob (1938): Ders., Wort und Existenz. Studien zum Alten Testament, Göttingen 1970, 217–277.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung Johannes Schnocks, Münster

1.

Einführung

Immer wieder begegnet uns in den Texten der Hebräischen Bibel Gewalt in ganz unterschiedlichen Ausprägungen: göttliche Gewalt und noch viel häufiger Gewalt von Menschen an anderen Menschen, Gewalt zwischen verschiedenen Völkern und von Einzelindividuen in Israel, Gewalt gegen Mächtige und Ohnmächtige, gegen Frauen und Männer, gegen Kinder und Greise, offen oder auch heimtückisch, meistens bitter beklagt, aber auch bejubelt. Diese Gewalthaltigkeit der biblischen Literatur wird ihr oft zum Vorwurf gemacht, weil sie mit der Frage nach dem Stellenwert von Gewalt in Judentum und Christentum – und mittelbar auch im Islam – in Verbindung gebracht wird. Damit stellt sich die brennende exegetische Frage, wie man mit dieser literarischen Gewalt umgehen kann. Klar ist dabei nur, dass wir die Gewalt nicht ignorieren oder wegdiskutieren können, wie dies in der Vergangenheit manchmal geschehen ist. Vielleicht wird so bei dieser Thematik deutlicher bewusst, was auch sonst gilt: die Gewaltüberwindung (s. u. Abschnitt 5) in der Lebenswirklichkeit der Rezipientinnen und Rezipienten bedarf der hermeneutisch reflektierten exegetischen Arbeit an den Texten und kann sich nie »automatisch« in einem biblizistischen Umgang aus ihnen ergeben.93 Im Gegensatz zu anderen Sprachen kann das Wort Gewalt im Deutschen sowohl für illegitime physische Gewalt (lat. violentia, engl. violence) als auch für die legitime Herrschaftsgewalt (lat. potentia, engl. power) verwendet werden und umfasst weitere Bedeutungsfelder. Diese begriffliche Unschärfe hat insofern eine sachliche Berechtigung, als zuweilen dieselbe Tätigkeit je nach Perspektive dem illegitimen oder dem

93 Vgl. auch die Aspekte bei Eder, Gewalt, 54–56.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

347

legitimen Bereich zugeordnet werden kann. Überall spielt das Verhältnis von Gewalt und Macht eine wichtige Rolle. Dabei sind Menschen nicht einfach mächtig oder ohnmächtig, sondern leben in Machtkonstellationen, die durch verschiedenste Faktoren bestimmt und gesellschaftlich zugeschrieben werden können. Fasst man Gewalt als eine mögliche Form der Machtausübung auf, so wird deutlich, dass sie sehr verschiedene Formen von roher physischer Gewalt über psychischen Zwang, sexualisierte Gewalt und institutionelle Gewaltausübung bis hin zu verbalen Gewaltformen und den vielen Aspekten struktureller Gewalt annehmen kann. Bereits diese Überlegungen zeigen, dass Gewalt und ihre Ausübung nur in einem gesellschaftlichen Kontext als solche erkannt und bewertet werden können: Das gegen einen anderen Menschen gerichtete Messer eines Mörders ist die Tatwaffe eines Gewaltverbrechens, das Messer des Chirurgen, das ebenso in den Körper eines anderen eindringt, ist dagegen ein notwendiges Instrument der Sorge um das körperliche Wohlbefinden dieses Menschen, der in diese Handlung zuvor eingewilligt hat. In diesem Beitrag soll es einerseits nicht um Gewalt im Krieg oder als Folge von Kriegshandlungen gehen (vgl. 3.5). Andererseits geht es auch nicht um die Rede von Gewalt oder gewalttätigem Handeln in Bezug auf Gott (vgl. 6.4), sondern um zwischenmenschliche Gewalt und ihre Überwindung, wie sie in den Texten der Hebräischen Bibel begegnet. Dabei sollen die Texte auf mögliche theologische Implikationen befragt werden, die mit den Darstellungen von Gewalt verbunden sind oder als Hintergrund zu Tage treten. Die unterschiedlichen Texte bieten ein vielstimmiges Konzert zu diesem Thema. Gerade weil sich Gewalt als eine Größe erweist, die von den sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexten her verstanden werden muss, lassen die Texte sich nur vor ihrem historischen und literarischen Hintergrund im Alten Orient sachgerecht einordnen, können aber gerade so auch im Blick auf ihre Rezeption ihre Relevanz entfalten.

2.

Dimensionen zwischenmenschlicher Gewalt

a)

Verbale Gewalt

Verbale Gewalt begegnet in der Hebräischen Bibel in unterschiedlichen Formen. Dass sie als ernst zu nehmender Angriff aufgefasst werden konnte, zeigt der Fall des Schimi (2Sam 16,5–14). Schimi beschimpft David mit wüsten Vorwürfen und Flüchen und bewirft ihn und seine Begleiter mit Steinen und Erde. Auch wenn David diese Attacke ohne Gegengewalt erträgt, wird sie in der Erzähllogik doch als erhebliche Beeinträchtigung und todeswürdige Schuld verstanden (vgl. 2Sam 16,9; 19,20–22). Insgesamt ist die Episode auch ein hervorragendes Beispiel für den klugen Verzicht auf Gewalthandlungen, obwohl diese in der Machtkonstellation möglich und in einer auch artikulierten Handlungslogik sogar naheliegend wären. Verbale Gewalt hat in der altorientalischen Umwelt der Hebräischen Bibel gegenüber unserem modernen Denken insofern ein größeres Gewicht, als Flüche – in dieser Hinsicht vergleichbar mit Krankheitserregern – als überaus wirkmächtig vorgestellt wurden. Sie konnten einen Menschen mit körperlichem und sozialem Unheil »infizie-

348

5. Kapitel: Menschenbilder

ren«, sofern sein »Immunsystem« in Form von persönlichen Schutzgottheiten einen solchen Angriff nicht abwehrte. Das prominenteste Beispiel im biblischen Psalmenbuch ist hier Ps 109, für den jahrhundertelang eine missbräuchliche Verwendung als Fluchpsalm belegt ist, die ihn zum »Totbeten« von Feinden in der Volksfrömmigkeit einsetzte.94 Bis heute wird diskutiert, ob die Verse 6–19, die massive Schädigungswünsche enthalten, vom betenden Ich gegen die Feinde gerichtet sind95 oder von diesem als Rede der Feinde zitiert werden.96 Das Gesamtverständnis des Psalms verändert sich entsprechend vom »Fluch- und Rachepsalm« zum »Gerechtigkeitspsalm«97. Charakteristisch für die Fluchaussagen – egal in welcher Richtung ausgesprochen man sie versteht – ist, dass sie nicht nur die körperliche, sondern immer auch die soziale Wirklichkeitsdimension mit einschließen wie etwa Ps 109,8–10.1398: 8

Es sollen werden seine Tage wenige, sein Amt übernehme ein anderer.

9

Es sollen werden seine Kinder zu Waisen und seine Frau zur Witwe.

10

Umherstreifen, ja umherstreifen sollen seine Kinder und betteln, sie sollen [Heimat] suchen fern von ihren Trümmern.

13

Es soll seine Nachkommenschaft zum Ausrotten sein, in der nachkommenden Generation schon sei sein Name ausgelöscht.

Die Gewalt, die hier herbeigewünscht wird, ist umfassender imaginiert als ein Mord. Das angestrebte Ziel ist die Auslöschung des Namens, der soziale Tod, der hier möglichst schnell auf den leiblichen Tod folgen soll, die damnatio memoriae, bei der jegliches Andenken und damit auch noch ein Weiterleben des Toten in der Erinnerung seiner Nachkommen ausgeschlossen wird. Ein etwas anderer Aspekt verbaler Gewalt ist ihre mögliche Metaphorik. Das Beispiel von Ps 58,4–799 mag dies verdeutlichen: 4

Abtrünnig sind die Frevler vom Mutterleib an, sie irren ab vom Mutterleib an, die Lügenredner.

5

Ihr Gift ist gleichwie das Gift der Schlange, wie (das) der tauben Kobra, die ihr Ohr verschließt,

6

(damit) sie nicht hört die Stimme der (Schlangen-) Beschwörer, des weisen Beschwörers von Beschwörungen.

7

Gott, reiße nieder ihre Zähne in ihrem Maul, das Gebiss der jungen Löwen reiße ein, Jhwh!

94 95 96 97 98 99

Vgl. Riede, Ausgrenzung, 31f. So zuletzt Artemov, Legitimierung, 200–207. So mit Vorläufern Zenger, Rache, 126–128 und Riede, Ausgrenzung. Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 181 (Zenger). Zur Übersetzung vgl. Riede, Ausgrenzung, 33. Zur folgenden Übersetzung vgl. Krawczack, Richter, 327.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

349

Die Bitte, Gott möge den Feinden die Zähne einschlagen, ist zweifellos ein massives Beispiel verbaler Gewalt. Sie dient im Duktus des Psalms als Ventil für die berechtigte Empörung des betenden Ichs über die »Frevler« und »Lügenredner«, ist also psychologisch immerhin erklärbar, wenn auch schwerlich zu rechtfertigen. Dann wird im Übergang von V. 4 zu V. 5 deutlich, dass die Lügen, die die Frevler im Mund führen, auf tödliche Wirkung angelegt sind – wie die Zähne einer Giftschlange. Die Betonung der Taubheit (V. 6) weckt zudem Assoziationen des (religiösen) Ungehorsams und des Abweisens von allen Formen verbaler Konfliktbeilegung. In V. 4–6 verbindet die Metapher die unheimliche und unberechenbare Mächtigkeit der Frevler ursächlich mit ihren Reden und bereitet damit die an Gott gerichtete Rettungsbitte aus dieser Bedrohungssituation vor: So wird mit dem Niederreißen der Giftzähne der Schlange die Neutralisierung der als Waffe des Unrechts eingesetzten Sprachmächtigkeit der Frevler eingefordert und mit dem Einreißen der Kinnlade/Gebisses der Löwen die Beendigung der gewaltsamen Rechtsbeugung eingeklagt.100

Der Vers oszilliert damit zwischen einer sehr präzisen Rettungsbitte, die Gott darum angeht, dem bösen Treiben ein Ende zu bereiten, und der derben Wunschvorstellung, dass die Feinde »eins aufs Maul bekommen«. Es liegt in der Eigenheit der poetischen Sprache, dass beide Aspekte letztlich nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Es ist aber entscheidend für eine Beurteilung des Psalms, dass einerseits jegliche (!) Gegengewalt gegen die Frevler an Gott delegiert wird und andererseits die metaphorische Leseweise lediglich das Unrecht neutralisieren will, eine weitergehende »Bestrafung« und damit eine Eskalation der Gewalt aber gerade nicht einfordert. b)

Gewalt gegen »Arme«

Bereits die einführenden Überlegungen haben gezeigt, dass schon die Wahrnehmung von Gewalt eng mit gesellschaftlichen Konstruktionen verbunden ist. Umso mehr gilt, dass die schwächsten Glieder der Gesellschaft in besonderem Maß der illegitimen Gewalt anderer Menschen ausgesetzt sind. Ganz klassisch gilt das für die personae miserae, die Witwen und Waisen, die im Rechtsstreit chancenlos waren, da sie keinen Rechtsbeistand hatten. Entsprechend wird die Unterdrückung dieser Personen in Gesetzeskorpora verboten und bei den Propheten mit moralischen Maßstäben bewertet. So heißt es in Ex 22,21: »Jeglicher Witwe und Waise dürft ihr nicht Gewalt antun.« Und Jes 1,17 fordert: »Lernt Gutes tun, sucht das Recht, weist einen Bedrücker zurecht, schafft Recht für die Waise, führt den Rechtsstreit der Witwe!« Im Deuteronomium werden diese beiden Personengruppen in vielen Rechtssätzen um die der Fremden ergänzt. Außerdem wird hier deutlich, dass die Fürsorge für diese Gruppen, die im Alten Orient Aufgabe des Königs ist, nun als Wesenseigenschaft auf Gott übertragen wird. So heißt es in Dtn 10,18 über Gott, er sei »einer, der Recht wirkt für die Waise und die Witwe, und einer,

100 Krawczack, Richter, 377.

350

5. Kapitel: Menschenbilder

der den Fremden liebt, indem er ihm Brot und Kleidung gibt.« Diese theologische Option für die Armen wirkt sich im Sinne eines Ethos aus, das den Armen schützen möchte. Ein gutes Beispiel sowohl für diese ethische Haltung als auch für prekäre Situationen, in die Arme leicht geraten konnten, ist die Natanparabel (2Sam 12,1–4). Der Prophet Natan erzählt hier David die Geschichte eines reichen Viehhalters und eines Armen, der nur ein Lamm besitzt. Um einen Gast zu bewirten, raubt nun der Reiche dem Armen sein Lamm, schlachtet es und bereitet es zu. Davids Reaktion ist heftig: Wer so etwas tue, sei ein Todeskandidat, ein »Kind des Todes«, wie es wörtlich heißt. Das Lamm solle vierfach erstattet werden. Die Begründung für dieses Urteil greift ein Stichwort der Parabel auf: Wurde von dem Reichen zuvor berichtet, dass es ihm um sein eigenes Vieh »leid tat«, so dass er sich für die Bewirtung am Lamm des Armen vergriff, so beklagt David nun, dass dieser genau dieses »leid tun« – als angemessene Haltung gegenüber dem Armen – nicht praktiziert habe und so schuldig geworden sei. Die Pointe der Natanparabel, dass nämlich David hier der Spiegel für sein eigenes Verhalten vorgehalten wird, verstärkt diese Lektüre nochmals, weil es bei der Übertragung in die Realität der Daviderzählung noch deutlicher um den Missbrauch eines Machtgefälles geht, das für ein Sexualdelikt und einen Mord eingesetzt wird. Gewalt gegen Arme ist ein häufiges Thema in den Klagepsalmen – wobei diese von Gott Rettung und damit letztlich alles erwarten. Daraus ergibt sich die Grundlage für die weisheitlich-religiöse Wertschätzung von Armut, die auch später im Neuen Testament besonders im Lukasevangelium rezipiert wird. c)

Gewalt gegen Kinder und Eltern

Kultursoziologisch hat sich seit der Antike der Blick auf Familie und Kinder stark verändert, so dass die Texte der Hebräischen Bibel nur mit größter Vorsicht mit modernen Fragestellungen in diesem Bereich bearbeitet werden können. Trotzdem müssen sie sich als kanonische Texte »vor dem Wahrheitsgewissen der jeweiligen Zeit verantworten.«101 Nach der hierfür einschlägigen Studie von Andreas Michel handelt es sich je nach Zählung um 250–300 Stellen in der Hebräischen Bibel. Ein Beispiel ist der Schluss von Ps 137102: 8

Tochter Babylon, du zur Verwüstung Bestimmte: Selig, wer dir vergilt deine Tat, die du uns getan hast.

9

Selig, wer ergreift und zerschlägt deine Kinder an dem Felsen.

Der Text ist ein extremes Beispiel für verbale Gewalt, die hier eine imaginierte Gewalt von Ohnmächtigen ist und, wie oft entschuldigend angeführt wird, eine psychologisch verstehbare Reaktion auf das perverse Ansinnen der Unterdrücker 101 Michel, Gewalt, 9. 102 Zur Übersetzung: Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 686 (Zenger).

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

351

sein mag, dass die trauernden Exilierten Zionslieder zur Unterhaltung singen sollten (V. 3). Andreas Michel hat aufgezeigt, dass die Gewalt hier horribile dictu poetisch wirkungsvoll in Szene gesetzt [ist]: mit einem in einen Makarismus (!) gekleideten Fluch; mit der Akzentuierung der dezidierten Wehr- und Hilflosigkeit der Opfer, den Kleinkindern der Tochter Babel; ... durch die Hinzufügung des Direktivs »an den Felsen«, was angesichts des semantischen Merkmals »Härte« in denkbar scharfem Kontrast zur Zerbrechlichkeit und Zartheit des direkten Objekts steht ...103

Um dem Text gerecht zu werden, ist es notwendig, ihn auch in seine literarischen Bezüge einzuordnen, die vielfältig sind und in eine biblische Welt führen, in der gerade Kinder die Zukunft und das (Über-)Leben einer Gesellschaft bedeuten und daher auch oft in symbolträchtiger Weise zu Opfern werden. Michel schließt seine Analyse ab: Die Formulierung zielt auf die Beseitigung des Gegners als Gegner durch die Verunmöglichung einer starken (militärischen) Zukunft, insofern auch auf den Abbruch der Gewaltspirale. Doch ist das angesichts der Plastizität des Bildes auch wieder nur ein geringer Trost.104

Fragt man nach Gewalt gegen Eltern, so weisen die wenigen biblischen Texte in Übereinstimmung mit altorientalischen Parallelen auf einen offenbar sensiblen Bereich. Schon im Codex Hammurapi heißt es in § 195: »Wenn ein Sohn seinen Vater schlägt, soll man ihm eine Hand abschneiden.«105 Mit dieser Körperstrafe wird die Gewalt gegen den Vater vergleichsweise hart geahndet. Biblisch verschärft sich die Sanktion nochmals. Ex 21,15 regelt: »Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muss getötet werden.« Ex 21,17 dehnt den todeswürdigen Angriff auf die Eltern sogar über die handgreifliche Gewalt hinaus aus: »Wer seinen Vater oder seine Mutter gering macht, muss getötet werden.« Das hier verwendete Verb umfasst auch das Verfluchen, meint aber umfassender, jemandem seine Würde zu nehmen. Dieser starke Schutz der Eltern vor familiärer Gewalt und umgekehrt die Aufnahme der Wendung dieser Todessätze in das positive Gebot der Elternehrung im Dekalog (Ex 20,12//Dtn 5,16) weist auf die tiefe Verankerung im altorientalischen bzw. biblischen Ethos – vielleicht aber auch auf die praktische Notwendigkeit, solche Dinge im täglichen Leben immer wieder zu betonen. d)

Sexualisierte Gewalt

Die Hebräische Bibel erzählt in einigen Texten schonungslos von sexualisierter Gewalt, deren Opfer fast immer Frauen sind. Eine Erzählung, die ein hohes Reflexionsniveau über das Problem sexualisierter Gewalt erkennen lässt, ist die Tamarerzählung in 2Sam 13. Tamar wehrt sich hier gegen die Vergewaltigung durch ihren Halbbruder Amnon mit den Worten:

103 Michel, Gewalt, 163 (Kursivierung im Original). 104 Michel, Gewalt, 335 (Kursivierung im Original). 105 TUAT I/1, 68.

352

5. Kapitel: Menschenbilder

Nicht, mein Bruder, entrechte mich nicht! Ja, so etwas wird nicht getan in Israel./ Tue nicht diese Schandtat! Und ich: wohin könnte ich die mir zugefügte Schmach bringen? Und du: du wirst sein wie einer der Schändlichen in Israel. Aber nun, sprich doch zum König, ja, er wird mich dir nicht vorenthalten. (2Sam 13,12–13)

Damit bringt sie präzise eine Reihe von Aspekten des Gewaltproblems zum Ausdruck. Bereits das für die Tat der Vergewaltigung verwendete Verb zielt weniger auf die physische als auf die soziale Seite eines negativ bewerteten (sexuellen) Aktes und wird hier daher mit »entrechten« übersetzt.106 Der folgende Satz appelliert an ein Ethos in Israel und bringt damit sofort nicht nur die persönliche, sondern auch die gesellschaftliche Dimension ins Wort. Dabei geht es weder um eine schriftliche Rechtsvorschrift noch darum, dass Israel im Blick auf Vergewaltigung engere Moralvorstellungen hätte als seine Umwelt. Es wird vielmehr festgehalten, dass selbst eine solch »private« Gewalttat unmittelbar gesellschaftliche Konsequenzen hat, weil die Haltung zu ihr sich auf die Identitätskonstruktion Israels auswirkt. Daher wird sie als »Schandtat«, der Täter entsprechend als »Schändlicher in Israel« qualifiziert. Die Konsequenzen für das Opfer sind ausweglos, weil Tamar die ihr zugefügte Schmach nicht mehr loswerden wird. Am Ende verweist sie dann auf die Möglichkeit der gesellschaftlichen Legitimierung der von Amnon angestrebten Verbindung. Nach der Vergewaltigung lebt Tamar bei ihrem Bruder Abschalom. Ihr Zustand wird mit einem Verb beschrieben, das so viel bedeutet wie »vom Leben abgeschnitten/dem Umgang mit Menschen entzogen sein« (2Sam 13,20). Abschalom gebietet ihr, über die Sache zu schweigen. Ilse Müllner und Luise Schottroff kommentieren die Erzählung folgendermaßen: Diese Erzählung wendet sich gegen ein Schweigegebot, das einer ihrer Protagonisten formuliert. Das ist zunächst eine literarische Technik; die Erzählstimme und die Stimme des Aktanten treten radikal auseinander. Mit dieser Technik schafft es die Erzählung, sowohl die gesellschaftliche Gewalt zu benennen als auch aufzuzeigen, dass die Opfer von Gewalt vom Verstummen und die Gewaltverhältnisse vom Verschweigen bedroht sind. ... Diese Erzählung macht, ebenso wie vergleichbare Erzählungen Gen 34 und Ri 19, deutlich, dass sexuelle Gewalt ein Machtphänomen ist. Hier geht es nicht um irregeleitete »Triebe«, sondern um handfeste politische Machtverhältnisse, in denen Sexualität als Mittel (eigentlich als Waffe) benutzt wird. Die Bibel spricht von Gewalt, weil Gewalt im Leben der Menschen vorkommt und dort eine existenzielle Rolle spielt.107

Dass Sexualität als Mittel der Gewalt eingesetzt wird, verbindet den Text mit der nächtlichen Straßenszene in Sodom, die zum göttlichen Strafgericht über die Stadt führt. Der Pöbel verlangt, die beiden Engel/Männer, die bei Lot Gastfreundschaft gefunden haben, zu vergewaltigen. Als Lot das verweigert, wird ihm dasselbe Schicksal angedroht, von seinen Gästen aber abgewendet. Es geht hier um den Umgang mit Fremden in der denkbar größten Opposition von Gastrecht einerseits 106 Vgl. dazu wie auch insgesamt zur Tamarerzählung: Müllner, Gewalt, 260–268. 107 Müllner/Schottroff, Gewalt, 265f.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

353

und sexualisierter Gewalt andererseits. Letztere wird von Gott selbst durch die Vernichtung Sodoms in nicht zu überbietender Deutlichkeit sanktioniert. Entgegen der weitverbreiteten Rezeption der Erzählung geht es hier nicht um eine Verurteilung männlicher homosexueller Partnerschaft, von der der Text mit keiner Silbe spricht. e)

Religiös motivierte Gewalt

Ein besonders sensibler Punkt in der aktuellen Diskussion ist die Frage, ob biblische Texte zur zwischenmenschlichen Gewalt um der Religion willen auffordern. Die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass biblische Texte immer wieder zur Legitimierung von Gewalt – von der Ausgrenzung und Drangsalierung religiöser Minderheiten bis hin zu Kriegen – benutzt wurden. Allerdings sind die hier im Hintergrund stehenden »Auslegungen« der Texte vom Willen zur Gewalt auf Seiten derer, die sie in dieser Weise verwenden, gesteuert und müssen daher rezeptionshermeneutisch untersucht werden. Fragt man nach Texten in der Hebräischen Bibel selbst, die Gewaltanwendung religiös motivieren, so gibt es Beispiele im Zusammenhang des goldenen Kalbes (Ex 32,26–28), der Baal-Pegor-Episode (Num 25,4f.) und des Militärputsches Jehus (2Kön 9f., bes. 2Kön 10,16.30), die immer mit der Abwehr von Fremdkulten zu tun haben, aber jeweils eigene Probleme für eine sachgerechte Auslegung bieten. Notorisch schwierig ist die Frage, ob die Hebräische Bibel Menschenopfer und spezieller Kinderopfer kennt. Die Texte, die solche Praktiken klar verbieten (z. B. Dtn 12,31) unterstellen bisweilen, dass es vor dem Exil solche Opfer gegen den Willen Gottes gegeben habe (Jer 7,31; 19,5; 32,35; Ez 16,20f. u. ö.). 2Kön 3,27 berichtet von einem Sohnesopfer durch den König von Moab, das sein Ziel – die Abwendung höchster Kriegsnot – erreicht. Die Erzählung um den Richter Jiftach (Ri 11), die zur Opferung seiner Tochter führt, zielt eher darauf ab, dass Menschen sich durch Gelübde, die von mangelndem Gottvertrauen angetrieben werden, in furchtbare Zwangslagen bringen können, als dass Gott Menschenopfer fordern würde. So steht auch die Erzählung von der Bindung Isaaks (Gen 22) in einem Kontext, in dem schon die Möglichkeit einer solchen Opferforderung Gottes an Abraham Fragen aufwirft.108 Wenn man diese abgründige und immer wieder verstörende Erzählung genau liest, so geht es in erster Linie um die Rettung Isaaks und das Vertrauen Abrahams auf Gott, das der Text »Gottesfurcht« nennt (Gen 22,12). Erst in zweiter Linie – und nur verstehbar vor dem großen Hintergrund aller Erzählungen über Abrahams Begegnung mit Gott und allen hier ausgesprochenen Verheißungen – geht es um Abrahams Gehorsam und den viele Generationen umfassenden Lohn dafür (V. 16–18). Liest man die Geschichte als Vertrauenserzählung, so ist sie immer noch ungeheuerlich, wird aber in einigen Zügen verständlicher. Das gilt besonders für die Antwort Abrahams auf die Frage seines Sohnes, wo denn das

108 Vgl. zu diesem Text Schnocks, Gewalt, 26–47.

354

5. Kapitel: Menschenbilder

Schaf für ein Brandopfer sei, und die lautet: »Gott wird sich ausersehen das Schaf für ein Brandopfer, mein Sohn« (Gen 22,8). Oft ist diese Antwort als Notlüge des greisen Vaters gelesen worden, damit ihm sein Sohn nicht im letzten Moment noch entflieht. Es ist weitaus stimmiger, hier ein echtes Glaubensbekenntnis Abrahams zu erblicken, der darin genau das Vertrauen ausdrückt, das er auch in der Verzweiflung des Sohnesopfers noch zu leben versucht. Dann aber ist diesem Text das geforderte Menschenopfer ein Extremfall, den die Erzählung als Gedankenexperiment konstruiert und mit der Umwandlung in ein Tieropfer wieder dekonstruiert. Wie Gott »wirklich« ist, erweist sich in der Rettung Isaaks, so dass Abraham die Opferstätte entsprechend benennt (V. 14), und gerade nicht in der Opferforderung.

3.

Todesstrafe

Ein besonderer Aspekt zwischenmenschlicher Gewalt ist der Vollzug der Todesstrafe. Für die altorientalischen Kulturen und so auch für die Texte der Hebräischen Bibel waren Hinrichtungen eine Realität, die nicht in gleicher Weise hinterfragt wurde, wie das in modernen Diskursen der Fall ist. Daher kann aus der Tatsache, dass in biblischen Erzähl- und Rechtstexten die Todesstrafe erwähnt wird, nicht geschlossen werden, dass die Hebräische Bibel hier ein ethisches oder theologisches Urteil über die Berechtigung oder gar die Gebotenheit der Todesstrafe fällen würde. In Gen 9,1–7 wird das Leben nach der Sintflut in einer Rede Gottes an Noach und seine Nachkommen neu geregelt. Das Problem, das sich hier stellt, ist, dass Gott einerseits wegen der Gewalt auf der Erde alles Leben mit der Sintflut vernichten musste (Gen 6,11–13) und dass andererseits eine solche Katastrophe für alle Zukunft ausgeschlossen werden soll (Gen 9,8–17). Damit ist Gen 9,1–7 auch einer der wichtigsten biblischen Texte, die über die Eindämmung von Gewalt nachdenken (vgl. unten Abschnitt 5):

1

Und Gott segnete Noach und seine Söhne/ und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und werdet zahlreich und erfüllt die Erde.

2

Und Furcht vor euch und Schrecken vor euch wird sein auf jedem Tier der Erde und auf jedem Fluggetier des Himmels./ Unter allem, wovon wimmeln wird der Erdboden und unter allen Fischen des Meeres sind sie in eure Hand gegeben worden.

3

Alles, was wimmelt, das lebendig ist, soll für euch Nahrung werden/ wie die Pflanze des Krauts habe ich euch alles gegeben.

4

Nur Fleisch, in dessen »Leben« sein Blut [ist], dürft ihr nicht essen.

5

Und nur euer Blut für eure »Leben« will ich einfordern; von der Hand jedes Tieres will ich es einfordern/ und von der Hand des Menschen, von der Hand eines jeden im Blick auf seinen [von ihm getöteten] Bruder will ich einfordern das »Leben« des Menschen.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

6

Einer, der das Blut des Menschen vergießt – um des Menschen willen wird sein Blut vergossen werden,/ denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.

7

Und ihr, seid fruchtbar und werdet zahlreich/ bewegt euch auf der Erde und werdet zahlreich auf ihr.109

355

Der Text verweist durch seine Rahmung – Fruchtbarkeit und Vermehrung – auf sein Ziel eines prosperierenden menschlichen Lebens auf der Erde. Innerhalb dieses Rahmens stehen die verschiedensten Maßnahmen, die der Eindämmung der Gewalt und damit diesem Ziel dienen sollen. Die erste Maßnahme ist die räumliche Trennung von Mensch und Tier durch die Scheu der Tiere vor dem Menschen (V. 2). Sie reduziert die Begegnungen und damit mögliche Situationen der Gewalt von Tieren gegen Menschen. Die zweite Maßnahme ist die Freigabe tierischer Nahrung für den Menschen (V. 3). Sie schafft eine deutliche Asymmetrie zu Gunsten des Menschen besonders gegenüber den grundsätzlich ja um dieselben Nahrungsressourcen konkurrierenden Landtieren. An dieser Stelle hakt dann aber ein anderes Interesse des Textes ein: Die neu eingeführte Gewalt der Tiertötung für Nahrungszwecke wird sofort ein wenig eingedämmt. Nur ein totes Tier – und die Abwesenheit von Blut wird hier zum Kriterium des Todes – darf gegessen werden (V. 4). Der in diesem Sinn zum Zweck der Nahrung freigegebenen Tiertötung wird dann gegenübergestellt, dass die Tötung eines Menschen in jedem Fall unter göttliche Sanktion fällt (V. 5). Sie betrifft Tiere und Menschen gleichermaßen. Im Fall des Menschen wird sogar mit einer sehr dichten und schwer zu übersetzenden Formulierung festgehalten, dass im Grunde jede Tötung unter Menschen ein Geschwistermord ist. Der folgende Vers ist mit der neueren Forschung zunächst aus philologischen Gründen ganz auf der Linie dieser vorangehenden Verse in dem Sinne zu übersetzen und zu verstehen, dass nun die in V. 5 genannte Sanktion sentenzenhaft konkretisiert und begründet wird: Wenn ein Mörder selbst Gewalt erfährt, so geschieht dies um des Mordopfers willen, weil dieses Opfer ein Mensch war, der als Bild Gottes geschaffen wurde – und daher, so würden wir heute hinzufügen, mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet war. Es ist sicher richtig, dass dieser Vers auch die Möglichkeit der Todesstrafe in dem Sinne eröffnet, dass der mögliche Tod eines Mörders als Konsequenz seiner Tat erklärt wird. Die Todesstrafe wird aber in dieser Lektüre weder als notwendige Folge eines Mordes eingefordert, noch wird gesagt, wer den Tod des Mörders herbeiführen soll. Damit unterscheidet sich dieses Verständnis des Verses von der traditionellen Übersetzung wie z. B. bei Luther: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.« Die Bedeutung ist dann, dass ein Mörder durch Menschen getötet

109 6 Zur Übersetzung vgl. Schnocks, Gewalt, 76f. Wo in der Übersetzung »Leben« steht, hat der hebräische Text ein Wort, das mit »Kehle«, »Lebenskraft« oder »individuelles Leben« übersetzt werden kann und hier als eine Art Fachterminus verwendet wird.

356

5. Kapitel: Menschenbilder

werden muss. Die Todesstrafe wird also unmittelbar als göttliches Gebot deklariert. Auch die Begründung bekommt eine andere Dimension, da sie sich nun nicht mehr auf das Mordopfer, sondern auf die Menschen beziehen muss, die die Todesstrafe vollziehen. Die Schöpfungswirklichkeit des Menschen als Bild Gottes würde ihn hier zum Vollstrecker der göttlichen Strafsanktion machen, also nicht nur eine Herrschaft über die Tiere beinhalten, sondern die Grundlegung von Obrigkeit, eine – auch mit tödlicher Gewalt ausgestattete – Herrschaft von Menschen über Menschen umfassen. Diese Ausweitung im Menschenbild würde allerdings nirgends zuvor angedeutet oder vorbereitet, ist also eine Interpretation, die starke Voraussetzungen machen muss, ohne dafür Anhaltspunkte im Text zu haben. Für die Konzepte von Macht und Gewalt ist die Auslegung an dieser Stelle also außerordentlich weitreichend. Blickt man auf die Einzelgesetze in den Gesetzessammlungen des Pentateuchs, so sind im Blick auf die Todesstrafe zwei Aspekte festzuhalten: Zunächst haben sich rechtsgeschichtlich die heutigen Texte, die ja alle in irgendeiner Form als von Gott erlassene Forderungen dargestellt werden, aus rein profanen Rechtssammlungen entwickelt. Es ging also ursprünglich um Sammlungen von Fällen, an denen sich (angehende) Richter für ihre eigene Rechtsprechung schulen konnten. Erst im Lauf der Zeit bekam ethisch richtiges Verhalten die Dimension der Religionsausübung, und parallel dazu wurden die Rechtstexte mit göttlicher Autorität ausgestattet. Trotzdem – und das ist der zweite Aspekt – lassen viele Gesetze noch deutlich erkennen, dass die Rechtspflege trotz »göttlicher« Gesetze primär ein zwischenmenschliches Geschehen ist. Dieser Aspekt lässt sich besonders im Deuteronomium gut beobachten. Wenn hier einige Handlungen mit dem Tod bedroht werden, so wird doch kein Zweifel daran gelassen, dass es keinen Automatismus von Tatbestand und dieser Rechtsfolge geben kann, sondern dass in jedem Einzelfall von Menschen verantwortungsvoll entschieden werden muss. So können dann Todesurteile nur durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen zustande kommen, und diese Belastungszeugen sollen, wenn es zur Hinrichtung durch Steinigung kommt, mit dieser beginnen und so ihre besondere Verantwortung für diese Tötung demonstrieren (Dtn 17,6f.). Auch die im Deuteronomium überwiegende Hinrichtungsart der Steinigung verankert die Tötung des Schuldigen tief in der Gesellschaft und delegiert sie nicht etwa an einen Henker. Angesichts der strengen Regelungen kann man mit Recht fragen, ob es auf dieser Basis für viele der mit dem Tod bedrohten Tatbestände überhaupt zu Verurteilungen kommen konnte.110 Allerdings ist die tatsächliche Rechtspraxis und ihr Verhältnis zu unseren Texten kaum rekonstruierbar, und die damalige Praxis trägt nichts für die Frage aus, wie Judentum und Christentum sich als Rezeptionsgemeinschaften sinnvoll auf diese Texte beziehen können. Das gilt besonders auch im Blick auf späte Texte in den Büchern Levitikus und Numeri, denen es um Konzepte von Heiligkeit und kultischer Reinheit geht und die so im Blick auf die Todesstrafe mitunter zu rigoristischen Aussagen kommen. Die verschiedenen Traditionen müs110 So Hieke, Todesstrafe, 89f.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

357

sen hier mit ihren sehr unterschiedlichen Anliegen wahrgenommen werden, statt dass man nach einheitlichen Aussagen oder gar Handlungsanweisungen zu diesem Thema in der Hebräischen Bibel sucht, die es nicht gibt.

4.

Gewalt und Gender

Zuweilen spielen die Geschlechterrollen der an einer Gewalttat beteiligten Personen eine für das Verständnis der Texte wichtige Rolle. Ein wichtiges Beispiel ist die Erzählung von der Tötung des feindlichen Heerführers Sisera in Ri 4. Auf der Flucht nach seiner militärischen Niederlage gegen Israel kommt Sisera zum Zelt eines Mannes, der mit seinem König, dem Auftraggeber Siseras, in Frieden lebt. Er wird von dessen Frau Jaël ins Zelt geführt, sie gibt ihm Milch zu trinken und deckt ihn mit einer Decke zu – spielt also eine geradezu mütterlich-fürsorgliche Rolle. Jaël kehrt dann ins Zelt zurück und tötet den schlafenden Heerführer, indem sie einen Zeltpflock durch seinen Kopf schlägt. Sie präsentiert dann die Leiche dem gerade eintreffenden siegreichen israelitischen Anführer Barak, der Sisera verfolgt hatte. Diesen Szenen geht nicht nur die Schilderung der Schlacht voraus, sondern davor noch die Berufung des Barak durch die Prophetin und Richterin Debora, die Barak auf sein Zögern hin verheißt, dass er zwar siegen, aber nicht den Ruhm des Unternehmens ernten, sondern dass Sisera der Hand einer Frau ausgeliefert werde. Die beiden Frauen haben also gegenüber den beiden mächtigen Befehlshabern über gewaltige Heere die stärkeren Rollen. Irmtraud Fischer hat das komplexe Zusammenspiel von Macht und Gender des Textes im Blick auf seine Rezeption problematisiert: Ob man mit vielen Feministinnen hier die im Judithbuch wiederkehrende Formulierung ›durch die Hand einer Frau‹ als doppelte Schande in der Niederlage deuten soll, was die Geschlechterverhältnisse intakt lässt, oder ob man die Befreiungstat hervorheben muß und damit das Zerbrechen der Geschlechterverhältnisse, ist eine wohl zu überlegende und nicht einfach zu entscheidende Frage. Geschlechterverhältnisse sind immer auch Machtverhältnisse. Sie darzustellen, kann stabilisierend oder destabilisierend wirken. Die Rezeptionsgeschichte hat freilich stets die erste Deutung favorisiert. Geht man allerdings vom Konzept der geschlechterübergreifenden Textzusammenhänge aus, dann bekommen solche Umkehrungen der Geschlechterrollen nicht nur punktuell eine Bedeutung, sondern sie erhalten eine hermeneutische Schlüsselfunktion: Die Botschaft dieser Texte ist die Umkehrung der Geschlechterrollen und der Zuschreibung geschlechtsspezifischer Eigenschaften.111

Gewalt ist in dieser Erzählung damit ein schillerndes Motiv. Sie wird hier im Ergebnis positiv gewertet und in der Erzählung angestrebt. Sie ist weiterhin mit Machtkonstellationen verknüpft, wird in diesem Fall aber dazu eingesetzt, diese gerade umzukehren. Schon Debora, die Frau, deren Name »Biene« bedeutet, muss den Krieger Barak, dessen Name »Blitz« heißt, geradezu zum Jagen tragen. So wie das übermächtige Streitwagenheer Siseras durch das Eingreifen Gottes in völlige Verwirrung gerät und von Baraks Truppen ohne großes Zutun völlig vernichtet wird, 111 Fischer, Gotteskünderinnen, 116f. (Kursivierung im Original).

358

5. Kapitel: Menschenbilder

so benimmt sich der gewaltige Heerführer Sisera bei Jaël wie ein ängstliches und schutzbedürftiges Kind. Jaël, die mütterliche Gastgeberin, dagegen wird zur Mörderin, obwohl ihre Familie mit den Leuten Siseras in Frieden lebt, und übt damit die Gewalt aus, für die Barak zu spät kommt.

5.

Überwindung von Gewalt

In den 1990er Jahren konnte man noch überzeugend das Gewaltthema als eine biblische Entwicklung hin zu einer Überwindung der Gewalt darstellen.112 Die massive Betonung der faktischen Gewalthaltigkeit der biblischen Texte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, verstärkt durch den Hintergrund islamistischen Terrors, hat diese Diskurse verdrängt. Seither muss einerseits die z. T. gewaltvolle Rezeptionsgeschichte der Texte auch exegetisch eingeholt und muss andererseits nachgezeichnet werden, welche literarische Strategie die Gewalthaltigkeit verfolgt oder verfolgen könnte. Mit Ilse Müllner und Luise Schottroff sollte man daher fordern, dass die Texte auf ihre Gewaltaffirmation und Gewaltkritik befragt, dass die Lenkung der Identifikation (mit Opfer oder Täter) herausgearbeitet und problematisiert wird und dass schließlich der historische Kontext und die literarische Situation des Textes in die Auslegung mit einfließen.113 Abgesichert durch solche methodischen Forderungen lässt sich dann entfalten, dass es in der Tat eine Reihe biblischer Textbereiche gibt, die Ansätze zur Eindämmung und Überwindung von Gewalt enthalten und von denen auch heute noch wichtige politische Impulse ausgehen können.114 Drei Bereiche seien hier beispielhaft genannt. Der erste Komplex der Gewalteindämmung betrifft die besonders im Deuteronomium und in prophetischen Texten vielfach vorgetragene Forderung einer aktiven Herstellung sozialen Friedens. In Dtn 15,1–11 wird aus der älteren Almosenregelung, dass im Brachjahr die auf einem Acker wild wachsenden Früchte von den Armen und den wilden Tieren geerntet werden dürfen, umgewandelt in ein System des regelmäßigen Schuldenerlasses in jedem siebten Jahr verbunden mit der Verpflichtung, einem Armen nach dessen Bedürftigkeit zu leihen. Wenn diese Regelung umgesetzt wird, führt das nicht nur dazu, dass es eigentlich keine Armen in Israel geben soll (V. 4) – Dtn 15,11 ist trotzdem realistisch genug, damit zu rechnen, dass Armut nie ganz aus dem Land verschwinden wird – sondern, dass es zumindest alle sieben Jahre keine wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen den Israeliten gibt. In Dtn 15,12–18 wird dann das Institut der Schuldsklaverei neu geregelt und so verändert, dass ein Weg aus der Armutsspirale heraus in eine Selbstständigkeit ermöglicht wird. So sollen Schuldsklaven am Ende ihrer Dienstzeit nicht »leer« entlassen werden (V. 13), so dass ihnen im Grunde nichts anderes übrigbleibt, als 112 Vgl. Lohfink, Gewalt. 113 Vgl. Müllner/Schottroff, Gewalt, 279. 114 Vgl. die Systematisierung der Themenbereiche bei Dietrich, Zeichen, 259–263: Der Gewalt in den Arm fallen, Gewalt begrenzen, auf Gewalt verzichten, der Gewalt vorbeugen und Gewaltursachen ausräumen.

§ 24 Gewalt und Gewaltüberwindung

359

sich wiederum zu versklaven, sondern sie sollen mit einem Startkapital an Vieh und Getreide ausgestattet werden (V. 14). Auch hier ist das Ziel eine solidarische Gesellschaft aus freien »Geschwistern«, in der es sicher soziale Unterschiede gibt, aber eben nicht dauerhafte totale Abhängigkeiten, die wiederum mit ihrem starken Machtgefälle sozialen Unfrieden und Gewalt begünstigen würden. Eine weitere in der Hebräischen Bibel verbreitete Textstrategie, die im Dienst der Gewaltüberwindung steht, ist die Vermeidung von Gegengewalt durch Delegation (vgl. auch zu Gen 9,1–7 oben unter 3). Gerade in den Psalmen ist der Wunsch, selbst Vergeltung üben zu können, extrem selten.115 Viel häufiger ist es, dass das betende Ich zwar die eigene Not und das erfahrene Unrecht deutlich benennt, aber eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit ganz von Gott erwartet (vgl. auch zu Ps 58 oben unter 2a). Auch wenn für uns heute ein Gottesbild, das auch Vergeltung einschließt, mit Recht problematisch erscheinen mag, ist doch auch die Leistungsfähigkeit einer solchen Delegation von Gegenwehr zu würdigen. Durchaus typisch ist hier Ps 94,16f.:

16

Wer wird für mich aufstehen gegen die Bösewichte, wer wird sich für mich hinstellen gegen die Übeltäter?

17

Wäre nicht Jhwh Hilfe für mich, so hätte beinahe (schon) mein Leben das Schweigen bewohnt.

Von diesen Strategien der Gewaltüberwindung abzusetzen sind die Gegenbilder zur Gewalt, die die Hebräische Bibel ebenfalls kennt und die gewissermaßen utopische Leitbilder für gelingendes Leben darstellen. Sie halten entgegen aller gegenläufigen Erfahrung daran fest, dass ein Verzicht auf Gewalt möglich ist. Ein Teil dieser Texte basiert auf der universalistischen Entwicklungslinie des Monotheismus, die die Konsequenz zieht, dass der Gott Israels als einziger Gott auch der Gott aller Völker sei. Für Israel als Volk und für Jerusalem als Ort entsteht so die Aufgabe, Gott in besonderer Weise erfahrbar zu machen. Das entsprechende Friedensbild, das daraus erwächst, ist das der Völkerwallfahrt: Statt mit Belagerungsheeren kommen die Völker nach Jerusalem, um dort Gott zu suchen und Orientierung in ihren Streitigkeiten zu finden. Aus Schwertern und Lanzen werden Pflugscharen und Winzermesser (Jes 2,1–5; Mi 4,1–3; vgl. auch Sach 8,20–23). Ein anderes Friedensbild speist sich aus der Erfahrung der Unvollkommenheit der Welt und widerspricht ihr. Selbst das hymnische Schöpfungslob von Ps 104 in den V. 20–22 weiß darum, dass es Raubtiere gibt, die vom Schöpfer ebenfalls ernährt werden müssen, und weist ihnen die Nachtstunden für ihre Beutezüge zu, damit der Mensch dann am Tage ungefährdet seiner Arbeit nachgehen kann. Die Vision vom Tierfrieden in Jes 11 geht in diesem Punkt einen Schritt weiter:

115 So aber Ps 41,11, wo die Wiederherstellung nach schwerer Krankheit gewissermaßen auch die erneuerte Ermächtigung zu eigener Gegenwehr umfasst.

360 6

5. Kapitel: Menschenbilder

Und Gast sein wird der Wolf beim Lamm, und der Leopard wird beim Böckchen lagern, Jungstier und Junglöwe ›werden‹ zusammen ›fett‹, und ein kleiner Knabe leitet sie.116

Auch dieser Text arbeitet mit Unterschieden bei der Verteilung von Macht – letztlich ist das Lamm dem Wolf schutzlos ausgeliefert –, aber der Wolf kehrt das Machtgefälle um, wenn er zum Gast des Lammes wird. Schließlich bleibt der Wolf ein Wolf und wird nicht zum Lamm, aber sein Verhalten ändert sich, weil er seine »natürliche Feindschaft« überwindet. Dass diese Konversion die Form der aktiven Entfeindung hat, bei der der Stärkere den ersten Schritt machen muss (V. 6a!) – das ist die gute Botschaft, aber auch das Geheimnis des hinreißenden Textes vom eschatologischen Tierfrieden.117

Diese Texte verlieren ihre politische Kraft, wenn sie – wie das oft geschehen ist und geschieht – als hübsche Märchen oder als Berichte über ein Ende der Welt, über eine fernste Zukunft gelesen werden, so dass sie mit unserer Welt nichts zu tun haben. Wenn wir sie dagegen als Herausforderungen, als formative Ideen auslegen, die uns das Anderssein unserer Welt schmerzlich vor Augen stellen, dann lassen sie uns die Aufgaben erkennen, die anstehen, um im Großen und im Kleinen die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.

Bibliographie Artemov, Nikita, Zur impliziten Legitimierung von Vergeltungswünschen in der alttestamentlichen Klage. Textanalytische und biblisch-anthropologische Annäherungen: Schnocks, Johannes (Hg.), »Wer lässt uns Gutes sehen?« (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen (HBS 85), Freiburg i. Br. 2016, 181–210. Dietrich, Walter, Im Zeichen Kains. Gewalt und Gewaltüberwindung in der Hebräischen Bibel: EvTh 64 (2004), 252–267. Dietrich, Walter/Mayordomo, Moisés, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005. Eder, Sigrid, »Tu mir keine Gewalt an, denn so handelt man nicht…« (2Sam 13,12). Wie und wozu biblische Gewalttexte heute lesen: Kügler, Joachim (Hg.), Prekäre Zeitgenossenschaft. Mit dem Alten Testament in Konflikten der Zeit (Bayreuther Forum Transit 6), Berlin 2006, 50–66. Dies., Gewalt in der Bibel. Begrifflichkeit – Verstehenshilfen – Perspektiven: PzB 19 (2010), 1–20. Fischer, Irmtraud, Gotteskünderinnen. Zu einer geschlechterfairen Deutung des Phänomens der Prophetie und der Prophetinnen in der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2002. Hieke, Thomas, Das Alte Testament und die Todesstrafe: Ders. (Hg.), Tod – Ende oder Anfang? Was die Bibel sagt, Stuttgart 2005, 77–102. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 101–150 (HThKAT), Freiburg 2008.

116 Zur Übersetzung und zu Jes 11,6–9 insgesamt vgl. Janowski, Wolf, 5. 117 Janowski, Wolf, 18.

§ 25 Schuld und Versöhnung

361

Janowski, Bernd, Der Wolf und das Lamm. Zum eschatologischen Tierfrieden in Jes 11,6–9: Eckstein, Hans-Joachim u. a. (Hg.), Eschatologie – Eschatology. The Sixth Durham-Tübingen Research Symposium; Eschatology in Old Testament, Ancient Judaism and Early Christianity (WUNT 272), Tübingen 2011, 3–18. Krawczack, Peter, »Es gibt einen Gott, der Richter ist auf Erden!« (Ps 58,12b). Ein exegetischer Beitrag zum Verständnis von Psalm 58 (BBB 132), Berlin 2001. Lohfink, Norbert, Art. »Gewalt/Gewaltlosigkeit«: NBL 1 (1991), 831–835. Michel, Andreas, Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament (FAT 37), Tübingen 2003. Müllner, Ilse, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13, 1–22) (HBS 13), Freiburg 1997. Dies./Schottroff, Luise, Der Gewalt widerstehen: Leuzinger-Bohleber, Marianne/Klumbies, Paul-Gerhard (Hg.), Religion und Fanatismus. Psychoanalytische und theologische Zugänge (Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog 11), Göttingen 2010, 261–282. Riede, Peter, Ausgrenzung durch Verfluchung oder Bitte um Gerechtigkeit? Zur Bedeutung der »Fluchaussagen« in Ps 109: Garnier, Claudia/Schnocks, Johannes (Hg.), Sterben über den Tod hinaus. Politische, soziale und religiöse Ausgrenzung in vormodernen Gesellschaften (Religion und Politik 3), Würzburg 2012, 29–54. Schnocks, Johannes, Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen (WMANT 136), Neukirchen-Vluyn 2014. Zenger, Erich, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen (Biblische Bücher 1), Freiburg i. Br. 1994.

§ 25 Schuld und Versöhnung Bernd Janowski, Tübingen Die Erfahrung von Schuld und der Umgang mit ihr gehören zu den elementaren Gegebenheiten des menschlichen Lebens. Wie schwer eine Verschuldung wiegt und in welcher Weise eine bestimmte Gesellschaft auf sie reagiert, hängt von der Sozialstruktur dieser Gesellschaft und ihren ethischen Normen ab.118 Sofern ein angerichteter Schaden durch das restitutive Handeln des Missetäters wieder gutgemacht wird, ist der Schuld/-Tatfolge-Zusammenhang unterbrochen und können die Konsequenzen einer Fehlhandlung kompensiert werden. Es gibt aber Grenzfälle, in denen nichts mehr zu helfen und sich auch kein Ausweg aufzutun scheint – es sei denn, der Geschädigte gibt sich der Rache anheim.119 Für das alte Israel gab es mehrere Wege, um aus Situationen der Schuldverstrickung und Unversöhntheit herauszufinden: »1. den Weg des Rechts mit der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens, 2. den Weg des Kultus mit dem Opfer und anderen Reinigungsmitteln, wobei Blut und Wasser eine große Rolle spielen, 3. den Weg der Fürbitte, welche eine Vertiefung und Vergeistigung des Opfers ist, in der Gott durch einen Mittler selber den zerbrochnen Bund wiederherstellt.

118 Siehe dazu Moos/Engert (Hg.), Umgang mit Schuld. 119 Siehe dazu Dietrich, Umgang mit Rache, 39–50.

362

5. Kapitel: Menschenbilder

Alle drei Wege zeigen, wie die Sünde ernst genommen wird und nur durch Aufwand aller göttlichen und menschlichen Kräfte überwunden wird.«120

Diesen drei »Wegen der Versöhnung« lassen sich, wie die folgende Darstellung zeigt, weitere Wege hinzufügen. Beginnen wir mit zwei berühmten Konfliktgeschichten des Genesisbuchs, der Begegnung zwischen Jakob und Esau und der Versöhnung Josefs mit seinen Brüdern.

1.

Versöhnung statt Vergeltung

Am Ende der Jakobgeschichte kommt es nach aufwändigen Vorbereitungen, die von Jakobs Furcht (Gen 32,4–22), aber auch von seiner Versöhnungsabsicht121 gekennzeichnet sind, zur Begegnung mit seinem Bruder Esau, der sein Erstgeburtsrecht an ihn verkauft (Gen 25,29–34) und den er um den väterlichen Segen betrogen hatte (Gen 27,1–40). Esau hätte trotz seines unüberlegten Handelns allen Grund gehabt, Jakob unversöhnlich gegenüberzutreten. Überraschenderweise passiert aber das genaue Gegenteil. Zunächst wird erzählt, was Jakob tat und wie er sich verhielt: Er sah Esau mit 400 Mann auf sich zukommen, teilte die Frauen, Mägde und Kinder so auf, dass sie nicht (gleich) in Gefahr gerieten, stellte sich selbst an die Spitze des Zugs und warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er sich Esau näherte. Und genau in diesem kritischen Moment wendet sich der Erzähler Esau zu, um seine Reaktion zu schildern: Esau aber lief ihm entgegen und umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten. (Gen 33,4)

Das ist nicht nur unerwartet, sondern im wörtlichen Sinn atemberaubend, denn Jakob hatte gar keine Möglichkeit, seine Schuld mit Worten – dafür aber mit seiner Körperhaltung (siebenmaliges Niederwerfen)! – zu bekennen. Er wird von den starken Emotionen seines Bruders geradezu überwältigt, so dass sich die jahrelange Spannung zwischen ihnen nun löst. »An kaum einer anderen Stelle des Alten Testaments wird von einer so herzlichen und intensiven Begrüßung erzählt wie hier.«122 Die andere Geschichte ist die Versöhnung Josefs mit seinen Brüdern, die in Gen 50 ihren Höhepunkt und Abschluss findet.123 Nachdem das Begräbnis Jakobs durch seine Söhne stattgefunden hatte und damit die familiäre Einheit wiederge-

120 Jacob, Art. »Versöhnung«, 2097 (Hervorhebung im Original). 121 Gen 32,21 hat die Form eines Reverenzerweises des Untergegebenen gegenüber dem Höhergestellten: »Ich (sc. Jakob) will sein (sc. Esaus) Angesicht besänftigen (= ihn versöhnen) mit dem Geschenk (mincha), das vor mir herzieht; erst dann will ich sein Angesicht sehen (= mich ihm nähern), vielleicht erhebt er mein Angesicht (= ist er mir gnädig gestimmt)«, s. dazu Albertz, Täter, 153–155; Fischer/Backhaus, Sühne, 28–30 und Dietrich/Mayordomo, Gewalt, 218–227. 122 Dietrich/Mayordomo, Gewalt, 221. 123 Siehe dazu Albertz, Täter, 156–158; Fischer/Backhaus, Sühne, 35f.; Lux, Josef, 205–212; Dietrich/Mayordomo, Gewalt, 227–237 und Ebach, Genesis 37–50, 650–665.

§ 25 Schuld und Versöhnung

363

funden wurde (V. 1–14), löst der Tod des Vaters dennoch Angst vor Vergeltung bei Josefs Brüdern aus. Daraufhin schicken sie zu ihm und lassen ihm ein Wort ihres Vaters ausrichten, das dieser zu ihnen vor seinem Tod gesprochen hatte: Und als Josefs Brüder sahen, dass ihr Vater gestorben war, sagten sie: »Wenn nun Josef uns anfeindet und uns all das Böse vergilt (schub hif. »zurückbringen«), das wir ihm angetan haben!« So entboten sie dem Josef und ließen sagen: »Dein Vater hat vor seinem Tod befohlen und gesagt: ›So sollt ihr zu Josef sagen: Ach, trag (nasa) doch das Verbrechen deiner Brüder und ihre Sünde,124 dass sie dir Böses angetan haben!‹ Und nun trag doch das Verbrechen der Knechte des Gottes deines Vaters!« Da weinte Josef, als sie zu ihm redeten. (Gen 50,15–17)

Das ist ein großer Fortschritt gegenüber Gen 44,1–13, wo die Brüder von Josef ein zweites Mal hart geprüft werden, indem er seinen silbernen Becher in den Sack Benjamins legen lässt (V. 2), um sie mit diesem »Diebstahl« zu konfrontieren: Als der Morgen hell wurde, wurden die Männer fortgelassen, sie und ihre Esel. Sie zogen aus der Stadt, waren noch nicht weit gekommen, da sagte Josef zu seinem Hausvorsteher: »Los, verfolge die Männer, hole sie ein und sage zu ihnen: ›Warum habt ihr Böses erstattet (schlm pi.) anstelle von Gutem? Ist da nicht der (sc. Becher), woraus mein Herr trinkt? Er ist einer, der damit treffsicher Vorzeichen deutet. Zu einem bösen Ende habt ihr gebracht, was ihr getan habt.‹« Und er holte sie ein und sprach zu ihnen eben diese Worte. (Gen 44,3–6)

Jetzt aber, in Gen 50,15–17, wird das Verbrechen der Brüder klar und sogar zweimal benannt und die Bitte geäußert, es zu vergeben bzw. zu »tragen«. Die dann folgende Reaktion Josefs ist unterwartet: er weint – und löst damit eine Gegenreaktion bei seinen Brüdern aus, die ihre Bereitschaft zur Schuldübernahme ausdrückt: Und auch seine Brüder gingen und fielen vor ihm nieder und sagten: »Siehe, da hast du uns zu deinen Knechten.« Josef aber sagte zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Bin ich denn an Gottes Stelle? Ihr habt Böses geplant gegen mich, Gott (aber) hat es zum Guten geplant, um zu tun, was heute am Tag ist: ein zahlreiches Volk am Leben zu erhalten. Und nun, fürchtet euch nicht! Ich werde euch und eure Kinder versorgen.« Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen. (Gen 50,18–21)

In diesem Text konzentriert sich die Kernbotschaft der Josefsnovelle. Denn hier führt Josef »die theologische Deutung von 45,5–8 weiter, indem er Gott sogar die Kraft zuspricht, geplantes Böses zum Guten zu wenden. Wer so glaubt ist versöhnt. Bei einem derart denkenden Menschen ist die Angst vor Rachsucht unbegründet. Josefs Zusage (vgl. 45,11) und tröstendes Reden ›zu ihrem Herzen‹ löst endgültig die vergangenen Spannungen«125.

Im Nicht-Vergelten, so lehrt die Josefsnovelle, kommt die Versöhnung von Täter und Opfer und damit die Wiedergutmachung von Schuld in überzeugender Weise zum Ausdruck. Die vergeltende Zufügung eines Strafübels – wie die vergeltenden Maßnahmen Josefs in Gen 42–44 – stellt die durch die Untat der Brüder gestörte

124 Zum »Tragen« der Schuld als Akt der Vergebung s. Lux, Josef, 206–209. 125 Fischer/Backhaus, Sühne, 36, vgl. Lux, Josef, 210–212.

364

5. Kapitel: Menschenbilder

Gerechtigkeit noch nicht wieder her, dazu bedarf es der Einsicht des Täters in die eigene Schuld. Die Schuldeinsicht, wie sie sich in der großen Rede Judas (Gen 44,14–34)126 ankündigt – »Gott hat die Missetat (awôn) deiner Knechte gefunden« (V. 16) –, eröffnet einen Lernprozess, dasjenige Verhalten an den Tag zu legen, das bei der Untat der Brüder an Josef (Gen 37,18–30) gefehlt hatte.127 Indem der Täter zu dieser Einsicht kommt, kann auch das Opfer den schwierigen Schritt von der Vergeltung zur Verschonung wagen. Genau das erzählt die Josefsnovelle.

2.

Das Bekenntnis der Schuld

Das Sündenbekenntnis, das in Gen 32f. fehlt, findet sich ebenso wie die Vergebungsbitte allenthalben in der Hebräischen Bibel,128 aber auffallend häufig in den Individualpsalmen. Jhwh, so heißt es, möge die/der »Verfehlung« (chattāt) des Beters »tragen« (Ps 25,18; 32,5), »bedecken« (Ps 32,1; 85,3), »abwischen« (Ps 109,14), »reinigen« (Ps 51,4.9), »nicht gedenken« (Ps 25,7), »entsündigen« (Ps 51,9) oder »sühnen« (Ps 79,9). Unter diesen Texten ragt Ps 51, der zusammen mit Ps 6; 32; 37; 102; 130 und 143 zu den sieben kirchlichen Bußpsalmen gehört, besonders hervor. Er stellt ein nachexilisches Bittgebet eines einzelnen mit biographischer Überschrift (V. 1f.) und zionstheologischer Fortschreibung (V. 20f.) dar. Im Anschluss an Hubert Irsigler129 lässt sich sein Aufbau wie folgt skizzieren:

3–4

Thema: Bitten um Reinigung von Sünde

5–14

Durchführung des Themas 5–8

Sündenbekenntnis

9–14

Bitten um Reinigung und Neuschaffung

15–19

Qualitäten des ›neuen Menschen‹ 15–17

Befähigung zum Lehren und Loben

18–19

Begründung

Während das Sündenbekenntnis in den Individualpsalmen auffallend zurücktritt – dominant sind hier die (An-)Klage und die Unschuldsbeteuerung130 – tritt es im ersten Teil von Ps 51 (V. 3–14) beherrschend in den Vordergrund:

126 127 128 129

S. dazu Lux, Josef, 165–171 und Ebach, Genesis 37–50, 362–377. Vgl. Albertz, Täter, 158. Vgl. Grund, Art. »Sünde/Schuld«, 1875f. S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 296f.; anders z. B. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 45–49 (V. 3–11 und 12–19). 130 Siehe dazu die Gesamtdarstellung bei Janowski, Konfliktgespräche mit Gott.

§ 25 Schuld und Versöhnung

365

3

Sei mir gnädig, Gott, nach deiner Güte, nach der Fülle deiner Barmherzigkeit wisch ab meine Verbrechen (pescha’îm)!

4

Wasche mich ganz rein von meiner Verkehrtheit (’āwôn), und von meiner Verfehlung (chattāt) reinige mich!

5

Denn meine Verbrechen erkenne ich selbst, und meine Verfehlung ist beständig vor mir.

6

An dir allein habe ich gesündigt, und das in deinen Augen Böse habe ich getan, so dass du dich als gerecht erweist in deinem Reden, makellos in deinem Richten.

7

Siehe, in Schuld wurde ich in Wehen geboren, und in Verfehlung hat mich empfangen meine Mutter.

8

Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen.

9

Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde, wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee!

10

Lass mich hören Wonne und Freude, es sollen jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen hast!

11

Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen, und alle meine Verkehrtheiten wisch ab!

12

Ein reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist erneuere in meinem Inneren!

13

Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir!

14

Bring mir zurück die Wonne deiner Rettung, und mit einem willigen Geist sollst du mich stützen!

Dieser erste Teil des Psalms wird in V. 3f. mit einem eindringlichen Appell an den Gott eröffnet, der sich nach Ex 34,6f. als barmherziger und gnädiger Gott vorgestellt hat, der Verkehrtheit, Verbrechen und Vergehen vergibt: 6

Jhwh zog vor ihm (sc. Mose) vorüber und rief: Jhwh, Jhwh, ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue:

7

der Güte bewahrt den Tausenden, der Verkehrtheit, Verbrechen und Verfehlung vergibt, aber (den Sünder) gewiss nicht aus der Haftung entlässt, der Rechenschaft einfordert bezüglich der Verkehrtheit der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.

Durch die drei Verben »ab-/wegwischen«, »waschen« und »reinigen«, mit denen in Ps 51,3f. (vgl. V. 9–11) um die Reinigung von der Sünde gebeten wird, wird diese als »Schmutz« qualifiziert, der den Menschen von innen her verunreinigt. Die Opposition von rein und unrein ist Ausdruck eines komplexen, auf die symbolische Ordnung der Wirklichkeit ausgerichteten Systems, das eine eigene Logik besitzt

366

5. Kapitel: Menschenbilder

und auch in der Hebräischen Bibel eine zentrale Rolle spielt. In Ps 51,9 (Ysop // Waschung) ist allerdings nicht (mehr) von einem konkreten Reinigungsritus die Rede, vielmehr wird mit Hilfe kultischer Begrifflichkeit von einer Unreinheit und ihrer Beseitigung gesprochen, die in die Tiefen menschlicher Existenz hinabreicht.131 Diese Tiefendimension ergibt sich vor allem aus V. 5–8. Denn hier hält sich der Beter – nicht aus eigener Einsicht, sondern angeleitet durch die Weisheit Gottes (V. 8)! – seine Sünde(n) vor Augen und bekennt, dass er nicht gegen dies und das, sondern allein an Gott gesündigt hat (V. 6, vgl. 2Sam 12,13).132 Was er dabei erkennt, nämlich seine eigene Sündhaftigkeit, ist schwerwiegend. Sie kommt »aus einer rätselhaften Tiefe seiner menschlichen Existenz«133 und bestimmt diese von Anfang an. Das zeigt die Rede von Geburt und Empfängnis (V. 7), die deutlich macht, dass er Teil einer sozialen Gemeinschaft ist, in die er hineingeboren wurde, in der er lebt und von der er sich als handelnde Person nicht dispensieren kann. Die Schulderfahrung des Menschen gründet in Unheilszusammenhängen, die täglich aufbrechen können und die immer wieder eine überindividuelle Dimension haben. Das meint das Symbol der Geburt: »Wir haben kein Recht, über das bereits vorfindliche Böse außerhalb des Bösen, das wir setzen, zu spekulieren. Hier liegt zweifellos das letzte Geheimnis der Sünde: Wir beginnen das Böse, durch uns kommt es in die Welt, aber wir beginnen es von einem bereits vorhandenen Bösen aus, wofür unsere Geburt das undurchdringliche Symbol bildet.«134

Nur eine fundamentale Neubestimmung kann dem Sünder eine neue Sicht auf sein Leben eröffnen. Diese Neubestimmung wird in V. 12–14 mit Hilfe der Verben »erschaffen« (immer mit Subjekt Gott) und »neu machen« als Neuschöpfung qualifiziert. Sie ist keine Wiedererlangung einer ehemals vorhandenen Reinheit, sondern eine »bleibende Verwandlung«135 des sündigen Menschen, die durch einen kreativen Akt Gottes in dessen Personzentrum, nämlich in seinem »Herzen« (V. 12a.19b) und in seinem »Geist« (V. 12b.13b.14b.19a) geschieht. Während das Herz als Sitz der Gefühle, des Verstandes und des Willens das Zentralorgan des Menschen ist,136 ist der Geist, wie vor allem Ez 11,19f. und 36,25–27 zeigen, die Quelle der von Gott geschenkten Lebenskraft:

131 Siehe dazu Irsigler, Neuer Mensch, 297–300.310f. Zur Reinigung mit Ysop s. Lev 14,1–9; Num 19,14–19 u. ö. 132 Siehe dazu Fischer/Backhaus, Sühne, 57–59. 133 Zenger, Erbsündentheologie, 16. Es geht hier nicht um »Erbsünde« im traditionellen Sinn, sondern um »eine von Anfang an gegebene Schuldverhaftung als allgemeine Sündhaftigkeit von den Anfängen menschlicher Existenz her« (Irsigler, Neuer Mensch, 307), also um eine überindividuelle Schuldverstrickung vom Lebensbeginn an, vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 51f. 134 Ricœur, Erbsünde, 161. 135 Irsigler, Neuer Mensch, 310. 136 Siehe dazu Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 166–173.

§ 25 Schuld und Versöhnung

367

25

Und ich sprenge über euch reines Wasser und ihr werdet rein sein. Von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch rein machen.

26

Und ich gebe euch ein neues Herz, und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Und ich entferne das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch.

27

Und meinen Geist gebe ich in euer Inneres, und ich mache, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und sie tut. (Ez 36,25–27)

Beide, Herz und Geist, sollen nach Ps 51,12 »rein« und »neu« werden, damit der Beter das mit dem Herzen Erkannte zuverlässig (»beständiger Geist« V. 12b) und hingebungsvoll (»williger Geist« V. 14b) tun kann.137 Das ist aber nur möglich, weil und sofern Gott sein Angesicht nicht vom Beter abwendet (V. 13a) und seinen »heiligen Geist« nicht von ihm wegnimmt (V. 13b), sondern die »Wonne« seiner Rettung zu ihm »zurückbringt« (V. 14a) – obwohl der Beter sich als Sünder weiß. Das ist ganz und gar paradox! »Wir spüren«, kommentiert Hubert Irsigler treffend, »die Spannung zwischen der Vorstellung von Verlierbarkeit heilvoller Erfahrung und intentionaler Endgültigkeit der Neuschöpfung durch Gott«138. Die Dringlichkeit, mit der in V. 12 um die »Beständigkeit« des Geistes gebeten wird, macht diese Spannung unübersehbar. Wenn man auf den Gebetsprozess des ersten Teils zurückblickt, wird deutlich, dass sich das, was Ps 51 unter Neuschöpfung versteht, nicht von selbst einstellt. Es bedarf der Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Sünde. Das aber gehört zum Schwersten. Niemand ist aus sich allein zu solcher Erkenntnis fähig, sie bedarf des Anstoßes von außen, der – wie der Beter von Ps 51 weiß – von Gott kommt: »Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen« (V. 8). Und weil der Beter um diese Initiative Gottes weiß und sie zu erleben hofft, setzt er im zweiten Teil mit einem Versprechen (V. 15) und nochmaligen Bitten (V. 16f.) ein:

15

Ich will lehren Verbrecher deine Wege, dass Sünder zu dir zurückkehren.

16

Errette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung, dass meine Zunge juble über deine Gerechtigkeit(stat)!

17

Herr, meine Lippen sollst du öffnen, so wird mein Mund verkünden dein Lob!

Hier geht es nicht um eine äußerliche Belehrung der Sünder, sondern um eine werbende Einsicht in die »Wege« Gottes, wie sie der Beter selbst gewonnen hat und die auch die Sünder zu Gott »zurückkehren« lassen kann (vgl. V. 14a). Solche

137 Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 53. 138 Irsigler, Neuer Mensch, 314.

368

5. Kapitel: Menschenbilder

Einsicht, die vor einer todbringenden Gefahr (»Blutschuld« V. 16a)139 warnt, macht frei und drängt zum jubelnden Gotteslob (V. 16b.17). Dieses wird in V. 18f. opfertheologisch begründet. Es ist aber, wie die auf die Metapher von den »zerschlagenen Gebeinen« (V. 10) zurückgreifende Formulierung zeigt, ein Opfer sui generis: 18

Denn ein Schlachtopfer gefällt dir nicht, und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (daran).

19

Schlachtopfer Gottes sind ein zerbrochener Geist ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz, Gott, verachtest du nicht.

Die vom Beter ersehnte und durch Reinigung von seiner Sünde geschenkte Neuschöpfung seiner Person – dafür stehen »Herz« und »Geist« – kommt nur durch einen »Bruch« mit seiner bisherigen Existenzweise zustande (vgl. Ez 6,9).140 Die Voraussetzung dafür ist das Bekenntnis der Sünde, das ihm die verfehlten Möglichkeiten eines wahren Lebens (vgl. V. 8) vor Augen stellt.

3.

Das Tragen der Schuld

Die innerhalb der Hebräischen Bibel theologisch vielleicht anspruchsvollste Form der Schuldbewältigung findet sich im vierten Gottesknechtslied Jes 52,13–53,12. Nach Jes 53,7–10a wird künftiges Heil für Israel dadurch erwirkt, dass der Gottesknecht sein Leben als »Schuldtilgung« (’āšām)141 einsetzt: 7

Er wurde bedrängt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Schaf, das zur Schlachtung gebracht wird, und wie ein Mutterschaf, das vor seinen Scherern stumm ist, so tat er seinen Mund nicht auf.

8

Aus Haft und Gericht wurde er weggerafft, und was seine Generation betrifft – wer bedenkt (es)? Denn er wurde abgeschnitten vom Land der Lebenden, wegen des Verbrechens ›seines‹ Volks ›wurde er zum Tode getroffen‹.

9

Und man gab (ihm) bei Frevlern sein Grab und bei ›Übeltätern‹ seine ›Grabstätte‹, obwohl er keine Gewalttat verübt hatte und in seinem Mund kein Trug war.

10

Aber Jhwh, dessen Plan es war, ihn zu schlagen, ›heilte den, der‹ als Schuldtilgung sein Leben ›einsetzte‹.142

139 Mit dieser »Blutschuld« ist nach Irsigler, Neuer Mensch, 315f. die drohende Schuld am Tod des Sünders gemeint, den der Beter durch sein »Lehren« (lmd pi.) zu Jhwh zurückführen will. 140 Vgl. Irsigler, Neuer Mensch, 307f. 141 Siehe dazu Janowski, Stellvertretung, 88–92, ferner Hermisson, Deuterojesaja, 397f. 142 Zur Übersetzung und Textkritik s. Janowski, Stellvertretung, 71f., ferner Schenker, Knecht, 67–69 und Hermisson, Deuterojesaja, 314–333.

§ 25 Schuld und Versöhnung

369

Das ist der für unseren Zusammenhang entscheidende Text. Da es bei Deuterojesaja und in den ersten drei Gottesknechtsliedern (Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9) um die »Rettung« Israels geht (vgl. Jes 49,5f. mit Jes 44,21f.), kann nur das unschuldige Leben, das der Gottesknecht in Handlungs- und Willenseinheit mit Jhwh hingibt (53,10aα.b), Israel aus seiner Schuldverfallenheit lösen. Ohne diese Hingabe, die in Jes 53,10a als Einsatz des Lebens zur »Schuldtilgung« bezeichnet wird, bliebe Israel dem eigenen Tun-Ergehen-Zusammenhang verhaftet, müsste also die Folgen seines Tuns selber tragen. Es trägt diese Folgen aber nicht selbst, sondern erkennt, dass dies ein anderer, der Gottesknecht, an seiner Stelle getan hat:

2

Er wuchs auf wie ein Schössling vor ›uns‹ und wie eine Wurzel aus dürrem Land. Keine (schöne) Gestalt hatte er und keinen Glanz, dass wir ihn angesehen, und keine Ansehnlichkeit, dass wir an ihm Gefallen gefunden hätten.

3

Er war verachtet und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut, und wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt, war er verachtet und wir schätzten ihn nicht.

4

Fürwahr: unsere Krankheiten – er trug sie, und unsere Schmerzen – ›er‹ schleppte sie. Wir aber hielten ihn für einen Getroffenen, für einen von Gott Geschlagenen und Gebeugten.

5

Er aber war durchbohrt wegen unseres Frevels, zerschlagen wegen unserer Verkehrtheiten. Züchtigung zu unserem Heil lag auf ihm, und durch seine Strieme wurde uns Heilung zuteil.

6

Wir alle irrten umher wie Schafe, ein jeder kümmerte sich um seinen Weg. Aber JHWH ließ ihn treffen die Verkehrtheit von uns allen. (Jes 53,2–6)

Während V. 2f. die frühere Sicht der Wir und damit die Abwendung Israels vom Gottesknecht beschreiben, setzt V. 4 mit der jetzigen Sicht ein, mit der die Wir auf dieses frühere Stadium zurückblicken: »Fürwahr: unsere Krankheiten – er trug sie« (V. 4a). Das Leiden des Gottesknechts – so erkennen sie jetzt – war nicht die Folge seines eigenen, sondern ihres, also eines fremden Tuns. Indem die Wir aufgrund des Jhwh-Orakels Jes 52,13–15 zu ihrer jetzigen Sicht gelangen, können sie sich den unheilvollen Konsequenzen ihres Tuns stellen. Das ist der Anfang, aber auch die Bedingung der Veränderung. Jes 53 hat diesen Vorgang der Stellvertretung in seiner ganzen Dramatik entfaltet und seine beunruhigende wie befreiende Seite aufgedeckt: Er ist beunruhigend, weil ein Unschuldiger sich schlagen lässt, ohne zurückzuschlagen, und alle Gewalt auf sich zieht, um die Macht der Sünde zu brechen. Und er ist befreiend, weil dieser Vorgang nicht einfach so hingenommen wird, sondern die Wir an ihm ihre eigene Schuld erkennen. Der Schuldige erkennt, dass er schuldig ist – das ist der Anfang der Veränderung. Die Wirklichkeit der Stellvertretung erschließt sich den Wir aber nicht einfach durch Reflexion oder Entschluss, sondern durch das im Bekenntnis von Jes 53,4 ergriffene Wort, das Jhwh nach Jes 52,13–15 über den Erfolg seines Knechts spricht. Dieses Wort hat bei den Wir den Prozess der Erkenntnis ausgelöst.

370

5. Kapitel: Menschenbilder

So einsichtig dieser Zusammenhang ist, so befremdlich wirkt doch der Gedanke, dass Gott selbst aktiv in das Geschehen involviert ist. »Musste« also der Gottesknecht – wie mutatis mutandis der Gottessohn (vgl. Lk 24,26, vgl. Mk 8,31 par.; 14,21 par.) – aufgrund der Initiative Gottes leiden und sterben? Jes 53,4–6 fasst dieses Problem in die anstößige Aussage, dass Jhwh den Knecht »die Schuld von uns allen treffen ließ« (V. 6b), ja, dass er »es geplant hatte, ihn zu schlagen« (V.10a). Beide Wendungen sind im Kontext von V. 2–10a aufeinander bezogen. Ebenso sind die Aussagen, die vom Gottesknecht als handelndem Subjekt sprechen (V. 4a und V. 7a) aufeinander bezogen. Neben der passiven, auf Leiden und Tod bezogenen, wird die aktive, auf die stellvertretende Lebenshingabe bezogene Rolle des Gottesknechts betont. Was aber, so müssen wir fragen, ist das für ein Gott, der seinen »Erwählten« (Jes 42,1) preisgibt und der Gewalt seiner Feinde ausliefert? Der ihn wohlmöglich »opfert«143, um Israel zu retten? Diese Frage berührt den empfindlichsten Punkt des vierten Gottesknechtslieds. Man kann sie aber nicht beantworten, ohne die Fortsetzung von V.7–10a in den Blick zu nehmen: 10a

Er wird Nachkommenschaft sehen, er wird lange leben,

10b und Jhwhs Plan – durch ihn wird er gelingen. (Jes 53,10)

Man muss diesen Satz vor dem Hintergrund der ersten drei Gottesknechtslieder lesen: Jhwh – und das ist sein »Plan« – hat seinen Knecht nach Jes 42,1–4 zu einem Weg beauftragt, der ihn Zug um Zug an die Stelle anderer treten lässt. Er übernimmt handelnd und leidend ein fremdes Geschick, das an ihm zur vollen Auswirkung kommt. Aber warum dieser dramatische, Abweisung, Leiden und Tod des Unschuldigen mit sich bringende »Rollentausch«? Warum eine Rettung der Vielen auf Kosten des Einen? Die Antwort lautet: um die Vielen von den bösen Folgen ihres bösen Tuns zu lösen, konkret: um Israel nach der Katastrophe von 586 v. Chr. zu Jhwh »zurückzubringen« (Jes 49,5f., vgl. 44,21f.). Im Leidens- und Todesgeschick des Gottesknechts vollzieht sich demnach eine Stellvertretung für die Sünder (die »Wir« von Jes 53), die als der von Jhwh bestimmte Weg zum Heil beschrieben und verstanden wird. Ausschlaggebend für diesen Sachverhalt ist nach Ernst Haag »... der Umstand, dass bei dieser von dem Mittler ausgeübten Stellvertretung primär Jahwe selbst das Subjekt des Geschehens ist, insofern er bei der Erwählung Israels von Anfang an auch dessen Sündenschuld sich aufgeladen und sie als Schöpfer und Erlöser schließlich überwunden und getilgt hat. Die Stellvertretung, die der Knecht in diesem Heilsgeschehen übernimmt, erklärt sich dann als ein in radikaler Solidarität mit Gott und seinem Volk gelebtes Mittlertum, durch dessen Einsatz Jahwe seinen Schöpfungs- und Geschichtsplan zur Vollendung führt. (...) Das Mittlertum des Knechts und dessen Stellvertretung hängen ... von dem Einsatz des Erwählten bei der Offenbarung Jahwes ab. Hierbei aber geht es

143 Zu der Frage, ob Jes 52,13–53,12 opfertheologisch zu interpretieren ist, s. Janowski, Stellvertretung, 88f. Vgl. auch § 19 in diesem Band.

§ 25 Schuld und Versöhnung

371

darum, daß Gott die schon bei der Auserwählung Israels geoffenbarte Liebe (Dtn 7,6–8) auch bei dem Zusammenstoß mit dessen Sünde nicht vergißt und aufgibt (Hos 11,8f.), sondern sie trotz allem Widerstand von seiten Israels am Ende siegen läßt (Jer 31,3). Für den Mittler aber, der bei dieser Heilszuwendung Jahwes in der Nachfolge (Jer 2,2) seines Gottes steht, bedeutet dies, daß er den sich hierbei offenbarenden, auch zu letztem Opfer bereiten Erlöserwillen Jahwes sich ganz zu eigen macht und so das Leiden der Verkennung und Zurückstoßung, wie es Verstocktheit und abgründiger Haß verursachen können, willig erträgt und gerade so die durchgehaltene Liebe Jahwes bezeugt«144.

Nicht das Leiden seines Knechts ist nach Jes 52,13–53,12 also Jhwhs Plan, sondern die Rettung Israels – aber Jhwh ließ es zu, dass sein Knecht um dieser Rettung willen ins Leiden geriet. Israel, das zur Übernahme seiner Schuld nicht imstande war, musste – so der Duktus der vier Gottesknechtslieder – aus ihr gelöst werden, um noch eine Zukunft zu haben. Eröffnet wird Israel diese Zukunft durch die Stellvertretung, die der Gottesknecht in liebender Hingabe an Israel (Jes 44,21f.), und in Bewahrheitung seiner Erwählung durch Jhwh (Jes 42,1–4) ausübt. Ein anderer Weg, etwa der, den die vorexilische Gerichtsprophetie mit ihrer Unheilsankündigung beschritten hatte, war gemäß der unbedingten Heilszusage von Jes 40–55 offenbar nicht gangbar. Es geht beim stellvertretenden Leiden des Gottesknechts also um die Rettung Israels und im Kontext der Gottesknechtslieder um die Rettung der Völker.145

4.

Das Geschenk der Versöhnung

Das dritte Beispiel führt mit Lev 16, dem Ritual des Großen Versöhnungstags, mitten ins Zentrum des Pentateuchs. Zusammen mit Lev 17 bildet dieses Kapitel die kompositorische und thematische Mitte des Levitikusbuchs, die die Botschaft vom Versöhnung stiftenden Gott propagiert. Schon die Wendung »Geschenk der Versöhnung« zeigt an, dass bei dieser Form des Umgangs mit Schuld ein Geschehen im Blick ist, das der Schuldige – kollektiv die Israeliten – nicht von sich aus herstellen oder gar erzwingen kann, sondern das ihm geschenkt wird. Er kann dieses Geschenk annehmen und wird, wenn er es annimmt, die Erfahrung eines fundamentalen Neuanfangs machen. Dieser Neuanfang wird in Lev 16 höchst dramatisch inszeniert. a)

Zur narrativen Struktur von Lev 16

In Lev 16 sind mehrere Rituale miteinander verbunden und zu einer Handlungseinheit verschmolzen. Liest man Lev 16,2–28.34b als synchronen Text, d. h. unbeschadet der redaktionellen Erweiterungen (im Folgenden kursiv), so lässt sich dessen

144 Haag, Stellvertretung, 13. 145 Zur Völkerperspektive s. Jes 42,1–4 und 49,1–6.

372

5. Kapitel: Menschenbilder

Struktur – ohne den narrativen Anfang V. 1 und ohne den paränetischen Schluss V. 29–34a – wie folgt gliedern:146 1

Narrative Einleitung (Lev 9,1–10,20) Ritual des Großen Versöhnungstags A Beginn des Rituals (2–5) Rede Jhwhs zu Mose (2) Vorbereitungshandlungen Aarons (3–5) B Losritus (6–10) C Sündopferriten Ritus an der kapporæt (11–17) Ritus am Brandopferaltar (18–19) B‘ Sündenbock-Ritus (20–22) A‘ Abschluss des Rituals (23–28) Kleiderwechsel, Darbringung des Brandopfers (23–25) Reinigungsriten, Beseitigung der Kadaver (26–28) 29–34a Paränetischer Schluss (→ Lev 23,26–32) 34b Ausführungsbericht Nach den Vorbereitungshandlungen in V. 2–5 beginnt das eigentliche Ritual in V. 6–10 mit dem Losritus: Zweckbestimmung von Stier und Ziegenböcken: 6 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft Sühne147 für sich und sein Haus. 7 Und er nimmt die beiden Böcke und stellt sie vor Jhwh an den Eingang des Begegnungszeltes. 8 Und Aaron gibt auf die beiden Böcke Lose, ein Los für Jhwh und ein Los für Asasel. 9 Und Aaron bringt den Bock dar, auf den das Los für Jhwh gefallen ist, und bereitet ihn als Sündopfer. 10 Und der Bock, auf den das Los für Asasel gefallen ist, wird lebend vor Jhwh gestellt, um auf ihm Sühne zu schaffen, um ihn zu Asasel in die Wüste zu schicken. Blutritus an der kapporæt: 11 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft Sühne für sich und sein Haus. Und er schlachtet den Sündopferstier, der für ihn ist. 12 Und er nimmt eine Feuerpfanne voll von glühender Kohle vom Altar vor Jhwh und beide Hände voll von wohlriechendem feinem Räucherwerk und bringt es hinter den Vorhang. 13 Und er gibt das Räucherwerk auf das Feuer vor Jhwh. Und die Wolke des Räucherwerks bedeckt die kapporæt, die auf dem Zeugnis ist, damit er nicht stirbt. 14 Und er nimmt vom Blut des Stiers und sprengt (es) mit seinem Finger vorn auf die kapporæt ostwärts. Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal vom Blut mit seinem Finger. 15 Und er schlachtet den Sündopferbock, der für das Volk ist. Und er bringt sein Blut hinter den Vorhang und verfährt mit seinem Blut, wie er mit dem Blut des Stiers verfahren ist. Und er sprengt es auf die kapporæt und vor die kapporæt. 16 Und er schafft dem Heiligtum Sühne wegen der Unreinheiten der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und so verfährt er mit dem Begegnungszelt, das bei ihnen wohnt inmitten ihrer Unreinheit.

146 Zur Textgliederung s. Janowski, Geschenk der Versöhnung, 120–126 und die dort genannte Literatur; ferner Hieke, Levitikus, 565–572. 147 Hieke, Kult, 144f. übersetzt kippær mit »Versöhnung erwirken«.

§ 25 Schuld und Versöhnung

373

17 Und niemand soll im Begegnungszelt sein, wenn er hineingeht, um Sühne im Heiligtum zu schaffen, bis er herauskommt. Und er schafft Sühne für sich und sein Haus und für die ganze Versammlung Israels. Ritus am Brandopferaltar: 18 Und er geht hinaus zum Altar, der vor Jhwh ist, und schafft Sühne auf ihm. Und er nimmt vom Blut des Stiers und vom Blut des Bockes und gibt es ringsum an die Hörner des Altars. 19 Und er sprengt auf ihn vom Blut mit seinem Finger siebenmal. Und er reinigt ihn und heiligt ihn von den Unreinheiten der Israeliten. Sündenbock-Ritus: 20 Und er vollendet, das Heiligtum, das Begegnungszelt und den Altar zu sühnen. Und er bringt den lebenden Bock dar. 21 Und Aaron stemmt seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks. Und er bekennt auf ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und er gibt sie auf den Kopf des Bocks. Und er schickt ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste. 22 Und der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt den Bock in die Wüste.

Wie der Text zeigt, steht der Ritus mit dem Sündopferstier für Aaron (vgl. V. 3) und einem der beiden Sündopferböcke für das Volk (vgl. V. 5) im Zentrum des Gesamtrituals, das die Riten an der kapporæt (V. 11–17) und am Brandopferaltar (V.18f) umfasst. Beide Riten werden gerahmt durch den Losritus V. 6–10 und den Ritus am lebenden Bock (»Sündenbock« V. 20–22). Den äußeren Rahmen bilden die Vorbereitungshandlungen V. 2–5 auf der einen und die Abschlussriten V. 23–28 auf der anderen Seite. b)

Zwei komplementäre Riten

Lev 16 ist vor allem wegen seines sprichwörtlich gewordenen Sündenbockritus bekannt. Das ist allerdings nur ein, wenn auch zentraler Aspekt des Rituals vom Großen Versöhnungstag. Der andere Aspekt ist mit dem Ritus an der kapporæt verbunden, die in der Mitte des Allerheiligsten auf der dort aufgestellten Lade angebracht ist. Der Blutritus an der kapporæt Die kapporæt genannte, auf einem offenen Kasten (’ārôn »Lade«) platzierte Goldauflage, die ihrerseits zwei aus den Plattenenden getriebene Keruben trägt, verdankt ihren Namen nicht ihrer äußeren Position, sondern der »Funktion im Rahmen des Ritualsystems zur Sühne (vgl. Lev 4,3–21; 16)«148. Sie ist deshalb und aufgrund des etymologischen Zusammenhangs mit kippær »sühnen, Sühne schaffen« oder »Versöhnung erwirken« am besten mit »Sühnmal, Sühneort« zu übersetzen; mit einem »Deckel« auf der Lade, so manche Bibelübersetzungen, hat dieser Kultgegenstand nichts zu tun.149 Seine Anfertigung wird in Ex 25 angeordnet:

148 Görg, Art. »Sühnestätte«, 727f., s. dazu ausführlich Janowski, Sühne, 277–294.443f. 149 Siehe dazu Janowski, Sühne, 274f.340.

374

5. Kapitel: Menschenbilder

17 Und du sollst eine kapporæt aus reinem Gold machen, zweieinhalb Ellen lang und eineinhalb Ellen breit. 18 Und du sollst zwei Keruben aus Gold anfertigen, als getriebene Arbeit sollst du sie machen aus den beiden Enden der kapporæt. 19 Und (zwar) mach den einen Kerub aus dem einen Ende und den anderen Kerub aus dem anderen Ende der kapporæt, aus der kapporæt sollt ihr die Keruben an ihren beiden Enden machen. 20 Und die Keruben sollen (so) sein, dass sie (ihre) Flügel nach oben hin ausbreiten, mit ihren Flügeln die kapporæt beschirmend; und ihre Vorderseiten sollen sich einander zuwenden, zur kapporæt hin sollen die Vorderseiten der Keruben (gerichtet) sein. 21 Und du sollst die kapporæt oben auf die Lade geben (setzen), und in die Lade sollst du das Zeugnis geben (legen), das ich dir geben werde. 22 Und ich werde dir dort begegnen (j‛d nif.)150 und mit dir von der kapporæt aus, von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben, die auf der Lade des Zeugnisses sind, reden alles, was ich dir für die Israeliten auftragen werde.

Wie dieser Text zeigt, ist die Lade nur »technisch« mit der kapporæt verbunden, um die Transportabilität dieses unberührbaren Kultgegenstands zu ermöglichen, d. h. sie fungiert als tragbarer (Ex 25,13–15), kastenförmiger Untersatz der kapporæt. In theologischer Hinsicht markiert diese den Ort der Gottesnähe, an dem Jhwh nach Ex 25,22 Mose begegnen und ihm alles mitteilen wird, was er den Israeliten weitersagen soll. War die Bedeutung der beiden Keruben im salomonischen Tempel – als Tragtiere des »Kerubenthroners«151 markieren sie die Grenze zur göttlichen Sphäre – darauf zurückzuführen, dass an diesem Ort himmlischer und irdischer Bereich ineinander übergehen (vgl. 1Kön 6,23–28 = 2Chr 3,10–13), so wird die Art der Gottesgegenwart im priesterlichen Begegnungszelt nach Ex 25,22 anders bestimmt: nicht als ein Thronen »auf/über« den Keruben, sondern als ein »Begegnen« (j‛d nif.) und als ein »Reden« Jhwhs mit Mose von der kapporæt aus, genauer »von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben aus, die auf der Lade des Zeugnisses sind«. Vor diesem Hintergrund bekommt die Szene von Lev 16,*11–17 ihre eminente kultsymbolische Bedeutung. Denn in dem zeichenhaften Blutritus von V. 14f. – der Hohepriester »nimmt vom Blut des Stiers und sprengt es mit seinem Finger vorn auf die kapporæt ostwärts. Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal von dem Blut mit seinem Finger« – wird das schuldig gewordene Israel in Kontakt mit dem sich auf der kapporæt offenbarenden Gott gebracht, der hier dem kultischen Repräsentanten seines Volks »begegnet«: »In einer Zeremonie, die das Nahekommen zu Gott bis zur letzten materiellen Berührung verdichtet und doch die äußerste Sublimität der Berührung in der Sprengung des Tropfens wahrt, wird das Urphänomen der heiligenden Gottesbegegnung vollzogen, der Kontakt des sich offenbarenden Gottes und des sich ganz und gar hingebenden Menschen.«152

Das ist das Herzstück des Rituals des Großen Versöhnungstags! Die kostbarste Gabe, die Jhwh seinem Volk zur Versöhnung gegeben hat, ist das tierische Blut, in dem, wie Lev 17,11 konstatiert, das »Leben« bzw. die »Lebenskraft« (næpæsch) ist:

150 Das Verb j‘d nif. »begegnen« kann auch mit »(sich treffen lassen>) offenbaren« übersetzt werden. 151 1Sam 4,4; 2Sam 6,2; 2Kön 19,15 = Jes 37,16; Ps 80,2; 99,1 und 1Chr 13,6. 152 Gese, Sühne, 104.

§ 25 Schuld und Versöhnung

375

Denn gerade das Leben des Fleisches ist im Blut. Und ich (sc. Jhwh) selbst habe es euch auf/für den Altar gegeben, damit es euch persönlich Sühne schafft/Versöhnung erwirkt; denn das Blut ist es, das durch das (in ihm enthaltene) Leben Sühne schafft/Versöhnung erwirkt.153

Im Zentrum des Begegnungszeltes findet damit eine Gottesbegegnung statt, deren kultsymbolische Bedeutung nicht zu überschätzen ist. Der Sündenbockritus Wenn man den Ritus an der kapporæt innerhalb des Vorhangs (Lev 16,*11–17) mit den vor dem Allerheiligsten und dem Vorhang vollzogenen Sühneriten von Lev 4f. und Lev 9 vergleicht, dann wird das sündige Israel nach der Komposition des Levitikusbuchs »schrittweise an das Heilige Jahwes angenähert«154. Dem entspricht – gemäß den kulttopographischen Gegebenheiten – gleichsam spiegelbildlich, dass der mit den Verschuldungen Israels beladene Sündenbock von einem Begleiter aus dem Bereich des Heiligtums in die »Wüste« bzw. in ein »abgeschnittenes Land« geführt wird (V. 8.10.20–22). Die für den Sündenbockritus charakteristischen Elemente sind das Aufstemmen der beiden Hände Aarons auf den Kopf des Tieres, die Übertragung der Verschuldungen Israels auf den rituellen Unheilsträger und das Wegschicken des Sündenbocks in die Wüste. Besonders die Formulierung von V. 22 veranschaulicht die Funktion dieses Ritus, nämlich dass der Sündenbock alle Verschuldungen Israels in ein abgeschnittenes Land wegträgt und damit die Kultgemeinde Israel von ihrer Schuld entlastet. Das ist auch der Sinn des alttestamentlichen Sündenbockritus. Nach Lev 16,22 wird nämlich der Sündenbock von seinem Begleiter in ein Gebiet geführt, das »abgeschnittenes Land« (’ærætz gezerāh) bzw. »Wüste« (midbār) genannt wird: Und der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt den Bock in die Wüste.

Diese gzr-Formulierung gehört zu einer Beleggruppe des Verbs, die vom »Abgeschnitten-Sein« vom Land der Lebenden (Jes 53,8),155 vom Haus Jhwhs (2Chr 26,21) oder von seiner Hand (Ps 88,6) handelt:156 4

Denn gesättigt mit Übeln ist meine næpæsch (Leben/Lebenskraft), und mein Leben hat die Unterwelt berührt.

5

Zugezählt worden bin ich denen, die in die Grube hinabsteigen, ich bin geworden wie ein Mann ohne Kraft.

153 154 155 156

Siehe dazu Janowski, Sühne, 242–247. Seidl, Levitikus 16, 239. Vgl. oben Abschnitt 2. Vgl. noch Ez 37,11 und Klgl 3,54, s. dazu Görg, Art. »gzr«, 1003f.

376 6

5. Kapitel: Menschenbilder

Unter den Toten (bin ich) ein Freigelassener, wie Erschlagene, die im Grab liegen, an die du nicht mehr gedacht hast, sind sie doch von deiner Hand abgeschnitten (gzr nif.). (Ps 88,4–6)

In ähnlicher Weise dürfte mit der Bezeichnung »abgeschnittenes Land« in Lev 16,22 »›unfruchtbares Land‹ gemeint sein, vielleicht aber auch ein Gebiet, das strikt getrennt vom kultisch relevanten Lagerbereich liegt«157. Der Sündenbockritus von Lev 16,20–22 ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Anders gesagt: das »abgeschnittene Land«, in das der Sündenbock geführt wird, repräsentiert raumsymbolisch die Sphäre des Todes bzw. die Gegenwelt. Darum muss auch sein Begleiter vor seiner Rückkehr ins Lager seine Kleider waschen und seinen Körper mit Wasser reinigen (V. 26). Nimmt man beide Riten – den Blutritus an der kapporæt und den Sündenbockritus – zusammen, so wird das Ritual des Großen Versöhnungstages »zwischen den beiden äußersten Polen der den Texten der Bücher Exodus bis Numeri zugrunde liegenden konzentrischen Heiligtumskonzeption vollzogen: dem Allerheiligsten im Innersten des Begegnungszeltes auf der einen und der Wüste (midbār Lev 16,10a.12.21d.22b) bzw. dem ›abgeschnittenen Land‹ (’ærætz gezerāh Lev 16,22a) auf der anderen Seite. Alle zwischen diesen beiden extremen Punkten liegenden Orte werden im Lauf des Rituals berührt«158.

5.

Schuldannahme statt Schuldverdrängung

Ziehen wir ein kurzes Fazit. Es gibt eine Form, mit Schuld fertig zu werden, die mit der Schuld nicht fertig wird, nämlich sie zu verdrängen oder zu leugnen. »Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der Strafe hinterdrein!«159 rief Friedrich Nietzsche in seiner Schrift »Morgenröthe« (1881/87) zur Beendigung des krankmachenden »Aufwiegenwollen(s) der Schuld durch die Strafe« auf. Penetrantes Herumreiten auf der Schuld – das macht die Traditionen des Judentums und Christentums in den Augen vieler Zeitgenossen zu einer Angelegenheit, von der man sich distanzieren muss.160 Hilfreich ist das nicht, weil die Schuld allzu oft durch die Hintertür wieder ins eigene Haus eindringt und alles Handeln lähmt. Deshalb ist es realistischer, wenn zuweilen auch schmerzhafter, sich dem eigenen Versagen zu stellen und die Schuld anzunehmen. Dies kann man vom Alten Testament und seinen großen Schuldgeschichten lernen. »Schuld« und »Sünde«, so schärft die priesterliche Kulttheologie ein, umfasst »alles, was von Gott trennt«161 oder die heilvolle Beziehung zu ihm stört. Schuldig zu werden, so wird sie nicht 157 158 159 160 161

Görg, Art. »gzr«, 1003. Jürgens, Heiligkeit, 75. Nietzsche, Morgenröthe, 177. S. dazu Werbick, Schuld-los-werden?, 114–118. Hieke, Kult, 142.

§ 25 Schuld und Versöhnung

377

müde zu betonen, ist aber menschliches Los (vgl. Lev 4f.). Dieses Los wiegt manchmal so schwer, dass es nicht getragen oder ertragen werden kann. In seiner langen Geschichte hat das alte Israel diese Erfahrung immer wieder gemacht und dennoch immer wieder die Kraft zu einem Neuanfang gefunden. Von einem solchen Neuanfang ist nicht nur in Lev 16, sondern auch in Gen 32f.; 37–50; Ps 51 und Jes 52,13–53,12 in eindrücklicher Weise die Rede.

Bibliographie Albertz, Rainer, Täter und Opfer im Alten Testament, ZEE 28 (1984), 146–166. Dietrich, Jan, Vom Umgang mit Rache im Alten Testament. Rechtliche, moralische und religiöse Grenzziehungen: Moos/Engert (Hg.), Vom Umgang mit Schuld (s. u.), 39–50. Dietrich, Walter/Mayordomo, Moisés, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005. Ebach, Jürgen, Genesis 37–50 (HThKAT), Freiburg u. a. 2007. Fischer, Georg/Backhaus, Knut, Sühne und Versöhnung. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Neue Echter Bibel. Themen 7), Würzburg 2000. Gese, Hartmut, Die Sühne: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 21983, 85–106. Görg, Manfred, Art. »gzr usw.«: ThWAT 1 (1973), 1001–1004. Ders., Art. »Sühnestätte«: NBL 3 (2001), 727f. Grund, Alexandra, Art. »Sünde/Schuld und Vergebung I«: RGG4 7 (2004), 1874–1876. Haag, Ernst, Stellvertretung und Sühne nach Jesaja 53: TThZ 105 (1996), 1–20. Hermisson, Hans-Jürgen, Deuterojesaja (BK VI/15–16), Neukirchen-Vluyn 2011/2012. Hieke, Thomas, Der Kult ist für den Menschen da. Auf Spurensuche in den Opfervorschriften von Levitikus 1–10: BiKi 64 (2009), 141–147. Ders., Levitikus (HThKAT), Freiburg u. a. 2014. Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg u. a. 2000. Irsigler, Hubert, Neuer Mensch – neues Jerusalem. Zur kultischen und eschatologischen Dimension in Psalm 51: Ernst, Stefan/Häusl, Maria (Hg.), Kulte, Priester, Rituale. FS Theodor Seidl (ATSAT 89), St. Ottilien 2010, 295–345. Jacob, Edmond, Art. »Versöhnung«: BHH 3 (1966), 2096f. Janowski, Bernd, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000. Ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997. Ders., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013. Ders., Das Geschenk der Versöhnung. Leviticus 16 als Schlussstein der priesterlichen Kulttheologie: Ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 117–145. Jürgens, Benedikt, Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext (HBS 28), Freiburg u. a. 2001. Lux, Rüdiger, Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern (BG 1), Leipzig 2001. Moos, Thorsten/Engert, Stefan (Hg.), Vom Umgang mit Schuld. Eine interdisziplinäre Annäherung, Frankfurt a. M. 2016. Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, hg. von Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino, München 21988. Ricœur, Paul, Die Erbsünde – eine Bedeutungsstudie: Ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen 2, München 1974, 140–161.

378

5. Kapitel: Menschenbilder

Schenker, Adrian, Knecht und Lamm Gottes (Jesaja 53). Übernahme von Schuld im Horizont der Gottesknechtslieder (SBS 190), Stuttgart 2001. Seidl, Theodor, Levitikus 16 – Schlußstein des priesterlichen Systems der Sündenvergebung: Fabry, Heinz-Josef/Jüngling, Hans-Winfried (Hg.), Levitikus als Buch (BBB 119), Berlin/Bodenheim 1999, 219–248. Werbick, Jürgen, Schuld-los-werden? Zwischen Moralisierung und Alibi-Mentalität: ru 28 (1998), 114–118. Zenger, Erich, Zum biblischen Hintergrund der christlichen Erbsündentheologie: Wiedenhofer, Siegfried (Hg.), Erbsünde – was ist das?, Regensburg 1999, 9–34.

§ 26 Leiden und Tod Thomas Krüger, Zürich

1.

Leiden

Die Hebräische Bibel spricht eher selten vom Leiden Gottes (z. B. an der Abtrünnigkeit und Bestrafung Israels, Hos 11, oder an der Schlechtigkeit der Menschen, Gen 6,6) oder der Tiere (z. B. unter Hunger und Durst, Jer 14,5f., oder der Grausamkeit ihres Besitzers, Spr 12,10). Dagegen kommt das Leiden der Menschen häufig und ausführlich zur Sprache. Ursachen des Leidens waren etwa Krankheiten oder Verletzungen des Körpers und der Seele, Todesfälle in der Familie und in der Nachbarschaft, Kinderlosigkeit, Hunger, Krieg, Erdbeben, Unwetter und Dürrekatastrophen, wilde Tiere, die Äcker und Gärten verwüsteten und Schafe, Ziegen oder Menschen töteten, Streitigkeiten oder Rivalität in der Familie oder in der Nachbarschaft, Beleidigung und Demütigung, Liebeskummer, Eifersucht, Ehebruch oder Vergewaltigung, Fremdenfeindlichkeit, Sklaverei, Zwangsarbeit und Unterdrückung, Angst vor Unglück oder dem Verlust des Eigentums, Habgier, Armut, die Abwendung Gottes (Ps 22,2f.), die Verfolgung durch ihn (Hiob 16,6–17) oder auch die Berufung zum Propheten (Jer 20,7–18). Die biblischen Texte sprechen von Leiderfahrungen in unterschiedlichen Zusammenhängen, auf unterschiedliche Weise und aus verschiedenen Blickwinkeln. Erzählungen über die ferne Vergangenheit oder die Urzeit der Welt sind manchmal mehr aus der Phantasie ihrer Verfasser gespeist als aus geschichtlichen Erinnerungen. Klagepsalmen sind meist so formuliert, dass sie von Menschen mit ganz unterschiedlichen konkreten Leiden benutzt werden konnten, um ihrer Not Ausdruck zu geben und Gott um Hilfe zu bitten. In Rechts- und Morallehren der Tora ist von Leiden als Strafe für oder Folge von menschlichem Fehlverhalten die Rede (Lev 26; Dtn 28). Sie rufen dazu auf, Leidenden zu helfen und die Ursachen von Leid zu bekämpfen, z. B. durch die Entlassung beziehungsweise humane Behandlung von Sklavinnen und Sklaven (Ex 21; Dtn 15; Lev 25) oder durch die Unterstützung von Armen, Witwen, Waisen und Fremden (Dtn 14,28f.; 24,19–22). In prophetischen Texten ist menschliches Leid oft ein Anlass für das Einschreiten Gottes gegen die, die solches Leid verursachen oder nichts dagegen unternehmen (Am 2,6–16). Gott kann

§ 26 Leiden und Tod

379

aber auch Menschen zur Strafe für ihre Untaten leiden lassen (Ez 5,7–17). Einige prophetische Texte geben der Hoffnung auf eine Welt ohne Leiden Ausdruck (Jes 11,6–9; 65,17–25). Auch in weisheitlichen Texten wird Leid oft als Folge von Unrecht oder Dummheit oder als Strafe dafür angesehen (Spr 11,1–8). Leiden kann aber auch als etwas betrachtet werden, das nun einmal zum menschlichen Leben (der conditio humana) gehört (Hiob 5,7: »der Mensch ist für das Unglück geboren«). Weisheit und Gerechtigkeit können Menschen vor Leid bewahren (Spr 3). Im Zweifelsfall ist es aber besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun (Spr 11,8). In manchen biblischen Texten ist eher abstrakt und summarisch von Leiden die Rede, während andere konkreter und detaillierter davon sprechen. So sind nach Ps 34,20 »die Leiden des Gerechten zahlreich«. Was man sich darunter in etwa vorstellen kann, wird in Texten wie Ps 22; Jes 52,13–53,12, den Danielerzählungen (Dan 1–6) oder der Josefsgeschichte (Gen 37–50) ausführlicher dargestellt. Das Leid, das Amnon seiner Schwester Tamar zugefügt hat, indem er sie vergewaltigte, wird in 2Sam 13,20 mit einem einzigen Satz aus der Sicht eines Beobachters beschrieben: »Tamar blieb vernichtet im Haus ihres Bruders Absalom.« Demgegenüber klagen Hiob oder die Klagelieder in den Psalmen aus der Innenansicht ausgiebig über selbst erfahrenes Leid. Vor allem in den Klagepsalmen wird Leid oft in bildlicher Sprache ausgedrückt. So können die Feinde, die einem einzelnen Menschen oder dem ganzen Volk Leid zufügen, als Tiere dargestellt werden. Beispielsweise beschreibt Ps 22 die Menschen, die den Sprecher des Psalms angreifen, als aggressive Stiere, Löwen und Hunde. Ihnen gegenüber ist der Sprecher selbst nur ein Wurm und kein Mensch. Hab 1 vergleicht die Armee der Babylonier, die in Juda einmarschiert, mit Leoparden, Wölfen und Adlern und die ihnen unterlegenen Judäer mit Fischen und Meeresgetier in einem Fischernetz. Damit wird poetisch angedeutet, dass solches Leiden unmenschlich ist und die Leidenden ebenso entmenschlicht wie die, die ihnen Leid zufügen. Häufig wird seelisches Leiden bildhaft als körperliches beschrieben, wie etwa in Ps 69,2f.: »Das Wasser steht mir bis zum Hals. Ich bin versunken in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist. In tiefes Wasser bin ich geraten, die Flut reißt mich fort.« In Ps 18,5f. wird das Bild des Ertrinkens mit dem des Gefesselt- und Ersticktwerdens verbunden: »Stricke des Todes schnürten mich ein, Ströme des Verderbens erschreckten mich. Die Fesseln der Unterwelt umfingen mich, die Schlingen des Todes fielen über mich.« Die Bilder sind so eindrücklich, dass sie Bestandteil unserer Sprachwelt geworden sind. Auch wer die Bibel nicht kennt, kann sagen, dass ihm oder ihr das Wasser bis zum Hals steht oder dass das Leid ihm oder ihr den Hals zuschnürt, und versteht, was damit gemeint ist, wenn andere es sagen. Trotzdem müssen wir immer mit der Möglichkeit rechnen, dass die Menschen im alten Israel Leiden und Schmerzen anders erlebt haben als wir. So leiden z. B. heute in Deutschland, Österreich oder der Schweiz Paare unter ungewollter Kinderlosigkeit, obwohl es Paaren ohne Kinder ökonomisch meist besser geht und Kinder das Leben und besonders die Berufstätigkeit ihrer Eltern oft nicht leichter machen. In vielen Fällen kann ein Kinderwunsch heute medizinisch erfüllt werden. Die Menschen der Hebräischen Bibel konnten dagegen nur auf Got-

380

5. Kapitel: Menschenbilder

tes Hilfe hoffen. Eine Frau ohne Kinder hatte einen niedrigeren Sozialstatus als eine Mutter. Wer keine Kinder hatte, konnte seinen (oder ihren) Landbesitz nicht vererben und lief Gefahr, im Alter zu verarmen (vgl. 1Sam 1; Dtn 25,5–10; Ps 127f.).162 Hiob 1 erzählt, wie der überaus fromme und rechtschaffene Hiob an einem Tag durch räuberische Horden aus dem Ausland, Blitzschlag und Sturm seinen gesamten Besitz und seine Kinder verlor. Nachdem er dies durch Boten erfahren hatte, stand er auf, zerriss sein Gewand, rasierte seinen Kopf kahl, warf sich auf den Boden und sagte: »Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen, und nackt werde ich dahin zurückkehren. Jhwh hat gegeben, Jhwh hat genommen. Der Name Jhwhs sei gepriesen« (V. 21). Hiob geht also davon aus, dass hinter den menschlichen Akteuren und den Naturereignissen, die ihm so viel Leid zugefügt haben, ebenso wie hinter den Vorgängen, durch die er zu so unermesslichem Reichtum gekommen war, Jhwh steht und das Geschehen lenkt. Diese Ansicht ist in der Hebräischen Bibel weit verbreitet. Sie wird durch den Erzähler in Hiob 1 bekräftigt, auch wenn hier neben Jhwh noch »der Satan« (oder übersetzt: »der Widersacher«) eine Rolle spielt. Er ist hier noch nicht wie in der späteren Überlieferung der Widersacher Gottes, sondern einer der untergeordneten Götter (später als »Engel« bezeichnet), die Jhwhs Aufträge ausführen, ihm berichten, was auf der Erde vor sich geht und ihn beraten. Er handelt im Auftrag und mit Erlaubnis Jhwhs, und Jhwh ist für das verantwortlich, was der Satan tut. Etwas weniger selbstständig als der Satan in Hiob 1–2 sind »der Verderber« in Ex 12,23, der »böse Geist« in 1Sam 16,14 oder die Zerstörer-Engel Jhwhs in Ez 9. Mit einer gewissen Eigendynamik agieren auch schwächer personifizierte Wesen wie »Seuche« und »Pest« in Hos 13,14; Hab 3,5 oder »Schwert, Hunger und Pest« in Jer 24,10 (vgl. auch »Tod« und »Unterwelt« in Jes 5,14; Jer 9,20). Ganz selbstständig wirkende Dämonen oder böse Geister, die im Alten Orient häufig als Verursacher von Leiden angesehen werden, kommen in der Hebräischen Bibel (anders als im Neuen Testament), wenn überhaupt, nur selten vor (vielleicht in Ps 59,7f.15f., vgl. Tob 3,8). Weit verbreitet ist dagegen die auch sonst im Alten Orient weithin selbstverständliche Ansicht, dass es guten Menschen, die rechtschaffen und anständig leben (den »Gerechten« und »Gottesfürchtigen«), langfristig gut gehen wird, schlechten Menschen (den »Frevlern«, »Sündern« oder »Gottlosen«) dagegen schlecht (vgl. Ps 1). Vor dem Hintergrund dieses so genannten »Tun-Ergehen-Zusammenhangs«163 kann wenigstens ein Teil des Leidens in der Welt auf menschliches Fehlverhalten zurückgeführt werden. Menschen, die anderen Leid zufügen, werden früher oder später selbst darunter leiden, sei es, weil sie eines Tages zum Opfer der von ihnen selbst angezettelten Intrigen werden und sprichwörtlich in die Grube fallen, die sie anderen (als Falle) gegraben haben (Spr 26,27; Ps 57,7), sei es, weil ihre Opfer, die Gemeinschaft oder Gott sie bestrafen werden. Die Hoffnung auf eine

162 Vgl. dazu § 22 in diesem Band. 163 Vgl. dazu § 23 in diesem Band.

§ 26 Leiden und Tod

381

»gerechte Strafe« für die Feinde Israels (oder auch die »Frevler« in Israel) hat manche Verfasser der Hebräischen Bibel zu Visionen inspiriert, die Gott als Amok laufenden Massenmörder darstellen (z. B. Jes 63,1–6; Ez 21,13–22). Öfters wird davon berichtet (oder stillschweigend vorausgesetzt), dass nicht immer (nur) die Übeltäter persönlich zur Strafe für ihre Untaten leiden müssen, sondern (auch) ihre Angehörigen oder Nachkommen (z. B. Num 14; Jos 7; 2Kön 23,25–27) oder auch ihre Volksgenossen (Ez 21,6–11). Nach Ex 20,5 ahndet Jhwh bei denen, die ihn ablehnen, die Schuld der Vorfahren an den Nachkommen bis in die dritte und vierte Generation. Dagegen erhebt Ez 18 Einspruch: Wenn der Sohn eines »Frevlers« ein »Gerechter« ist, soll er nicht für die Vergehen seines Vaters bestraft werden. Ja sogar wenn ein »Frevler« sich ändert (»umkehrt«) und zu einem »Gerechten« wird, sollen ihm seine früheren Verbrechen nicht mehr angerechnet werden. In diesem Sinne korrigieren dann die Chronikbücher die Geschichtsdarstellung der Königsbücher (vgl. 2Chr 33,11–17; 35,2–25 gegenüber 2Kön 21–23). Gott kann Menschen nicht nur leiden lassen, um sie für Fehler zu bestrafen, die sie gemacht haben, sondern auch, um sie zu erziehen (Spr 3,11f.), sie zu warnen (Hiob 33,14–22), sie zu ermahnen (Ps 119,71), sie zu läutern (Spr 20,30) und für das Leben zu ertüchtigen (Hiob 5,17–20). Hinter solchen Aussagen stehen Vorstellungen über die Erziehung von Kindern und jungen Menschen, die uns heute fremd und teilweise unverständlich geworden sind (vgl. Spr 23,13f.; 13,24). Mit Hilfe solcher Vorstellungen konnten sich die Menschen damals verständlich machen, wie es sein kann, dass Gott sie zugleich liebt und schlägt. Menschliches Leiden konnte aber auch erklärt werden als Prüfung durch Gott (Hiob 1f.), als Begleiterscheinung besonderer Aufträge Gottes (Jer 15,10–18; Jes 52,11–53,13) oder als Konsequenz der Treue zur eigenen Religion in einer feindlichen Umwelt (Dan 3; 6; 2Makk 6f.). Vielfach taucht in der Hebräischen Bibel die Frage auf, ob Leiden und Wohlergehen unter den Menschen gerecht verteilt sind. Erfahrungen, die dagegen sprachen, konnten im Rahmen des »Tun-Ergehen-Zusammenhangs« als Einzelfälle erklärt werden, in denen es für eine begrenzte Zeit einmal guten Menschen schlecht und schlechten Menschen gut geht. Auf längere Sicht würde sich aber die Gerechtigkeit durchsetzen (vgl. Ps 37). Das konnte umso leichter akzeptiert werden, wenn man davon ausging, dass das Leiden nun einmal zum menschlichen Leben dazugehört, so wie die Schwerkraft oder die Notwendigkeit zu essen und zu trinken (Hiob 5,17; 7,1f.; 14,1f.). Zudem gehen keineswegs alle Texte der Hebräischen Bibel davon aus, dass alles, was in der Welt geschieht, auf Gott zurückgeht. Oft wird die Welt als ein Kampfplatz von Ordnung und Unordnung (Chaos) betrachtet, in dem Gott auf der Seite der Ordnung steht und gegen das Chaos für das Leben und die Gerechtigkeit kämpft (vgl. Ps 74,12–17; 89,10f.; 93, wo das Meer als Chaosmacht dargestellt wird). Im Rahmen dieses Weltbilds kann man Gott nicht vorwerfen, dass es Ungerechtigkeit und Leiden in der Welt gibt, sondern höchstens, dass er nicht frühzeitig und konsequent genug dagegen einschreitet (Ps 74,1; 89,47). Je mächtiger sich aber die Menschen Gott vorstellten, desto mehr neigten sie auch dazu, alles, was geschieht, auf Gottes Wirken zurückzuführen, das Glück wie das Unglück, das Gute wie das Böse (Jes 45,7; Am 3,6; Klgl 3,38). Das war nun aber allem Anschein nach für viele Menschen schwer zu akzeptieren, widersprach es

382

5. Kapitel: Menschenbilder

doch der in der Hebräischen Bibel weit verbreiteten Annahme, dass Gott gut und gerecht ist (Gen 18,25; Ps 106,1). Wie ließ sich damit die Erfahrung vereinbaren, dass immer wieder Menschen unverdientermaßen leiden müssen? War es Gott gleichgültig (Hiob 21; 23)? War er vielleicht ein perverser Sadist, der es lustig fand, wenn Unschuldige leiden (Hiob 9,23f.)? Sollte man dann nicht lieber davon ausgehen, dass Gott besser wusste als die Menschen, wer Unglück und Leid verdient hat und wer nicht (Hiob 11,7–11)? In diesem Sinne argumentierten beispielsweise Elihu im Hiobbuch (Hiob 36f.) oder Jesus Sirach (Sir 39,21–41; 42,15–43,33). Alles, was Gott tut (und das heißt für Elihu und Jesus Sirach letztlich: alles, was in der Welt geschieht), ist gut und gerecht. Die Menschen können das aber nicht in allen Fällen vollständig begreifen. Zur Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes konnte man auch den Blick auf das Ende des menschlichen Lebens lenken. Nach Jesus Sirach kann im Leben eines Menschen früheres Glück durch späteres Unglück ausgeglichen werden und früheres Unglück durch späteres Glück. Man kann deshalb das Leben eines Menschen erst von seinem Ende her beurteilen, denn Gott kann jedem Menschen in der Todesstunde vergelten, wie er es verdient hat (Sir 11,5–28). Andere Texte gehen noch einen Schritt weiter und rechnen mit einer Vergeltung nach dem Tod (Ps 49; 73; Dan 12; Weish 3, s. u.). Eine andere Möglichkeit, die Güte und Gerechtigkeit Gottes angesichts der Ungerechtigkeit und des Leids in der Welt zu verteidigen, wird in der Urgeschichte (Gen 1–9 bzw. 1–11) erkennbar. Demnach hat Gott die Welt sehr gut geschaffen (Gen 1,31), doch die Menschen und Tiere haben mit ihrer Gewalttätigkeit die Erde verdorben (Gen 6,5–13, nach Gen 6,1–4 haben wohl auch einige Götter bzw. Engel dazu einen Beitrag geleistet, der aber in den Einzelheiten ein wenig undurchsichtig bleibt). Auf diese Weise konnte man Gott von der Verantwortung für Unglück und Leiden in der Welt entlasten. Doch war diese Erklärung auch für Naturkatastrophen wie Erdbeben, Unwetter oder Seuchen plausibel? Jes 65,17–25 erhofft, dass Jhwh einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen wird, auf der es kein Unrecht, keine Gewalt und kein Leiden mehr geben wird. Wird das so sein, weil Menschen und Tiere in der alten Welt leidvoll erlebt haben, wohin Gewalttätigkeit führt? Dann hätte es einen Sinn gehabt, dass Gott es zugelassen hat, dass seine erste Schöpfung von seinen Geschöpfen verdorben wurde. Sie hätten dabei nämlich gelernt, wohin es führt, wenn sie die ihnen von Gott gewährte Freiheit zu destruktiven Zwecken missbrauchen. Ähnliches gilt für die stärker politisch ausgerichtete Erwartung von Dan 7, dass die immer brutaler werdenden Weltreiche einmal von Gott vernichtet werden und einer menschlicheren Herrschaft Platz machen. Kohelet steht der Hoffnung auf eine neue Welt oder auf einen gerechten Ausgleich nach dem Tod skeptisch gegenüber. Er kann sich nicht vorstellen, dass Gott eine Welt geschaffen haben soll, die unvollkommen und verbesserungsbedürftig ist (Koh 3,14f.). Gott hat die Menschen sterblich geschaffen (Koh 3,19–21) und ihnen nichts über ein Leben nach dem Tod oder eine neue Welt prophezeit (Koh 3,22). Deshalb müssen sich nach Kohelet die Menschen damit abfinden, dass es Unglück und Leid gibt und dass sie unter den Menschen nicht gerecht verteilt sind (Koh

§ 26 Leiden und Tod

383

7,15–18; 8,10–14). Statt darüber zu klagen, sollten die Menschen sich selbst und ihren Mitmenschen das Glück gönnen, das Gott ihnen ermöglicht, und Gutes tun (Koh 8,15; 3,12f.) – und sich in Erinnerung rufen, dass kein Mensch so gut und gerecht ist, dass er ein Leben ohne Unglück und Leid verdient hätte (Koh 7,20; 9,3). Trotzdem behauptet Kohelet nicht, dass Gott gut und gerecht ist, sondern schließt sich der oben bereits genannten Ansicht an, dass Gott Gutes und Schlechtes schafft (Koh 7,14). Breiter ausgeführt wird dieses Verständnis Gottes im Buch Hiob. Zunächst stellt Hiob noch erstaunlich nüchtern fest, dass Menschen Gutes wie Böses bzw. Schlechtes von Gott zugeteilt bekommen und akzeptieren sollten (Hiob 2,10). Doch dann beginnt er sich zu fragen, warum Gott Menschen leiden lässt (Hiob 3,20–23), und klagt Gott an, dass er Hiob Unrecht getan hat (Hiob 19,6). In seiner Antwort in Hiob 38–41 stellt Gott sich dar als Schöpfer und Erhalter der Welt, der nicht nur die lebensfreundliche Ordnung der Welt hergestellt hat und erhält (Hiob 38,4–39,30), sondern auch das lebensfeindliche Chaos, verkörpert in den mythischen Ungeheuern Behemot und Leviatan, geschaffen hat und schön findet (Hiob 40,15–41,26). Jhwh setzt dem Unrecht in der Welt Grenzen (Hiob 38,15), beseitigt es aber nicht und behauptet auch nicht, dass die Welt oder ihr Schöpfer gerecht sind. So gibt er am Ende Hiob Recht gegen seine Freunde, die Gottes Gerechtigkeit gegen Hiobs Anklagen verteidigen wollten (Hiob 42,7f.). Gott ist also nach dem Hiobbuch nicht gerecht. Manchmal fügt er Menschen Schlechtes bzw. Böses zu. Und manchmal lässt er sich dazu bewegen, sein Handeln zu korrigieren, wenn Menschen wie Hiob ihn dazu herausfordern – oder wenn Menschen wie Hiobs Verwandte und Bekannte einem Menschen, über den Gott Schlechtes bzw. Böses gebracht hat, helfen, wieder auf die Beine zu kommen (Hiob 42,11f.). Das Buch Hiob führt damit nicht nur verschiedene Möglichkeiten vor, Unglück und Leiden zu erklären, sondern auch verschiedene Möglichkeiten, mit eigenem und fremdem Leid umzugehen: vom abgeklärten Erdulden (Hiob 1f.) über Klagen, Anklagen und Bitten an Gott (Hiob 3–31; vgl. die Psalmen) bis zur tatkräftigen Hilfe für leidende Mitmenschen (Hiob 42; vgl. Jes 58,6f.). Das Hiobbuch ist skeptisch gegenüber Versuchen, Unglück und Leid theologisch zu rechtfertigen, wie es die Freunde Hiobs tun und wie es auf unterschiedliche Weise in der Bibel immer wieder geschieht, aber auch gegenüber der Hoffnung, dass Gott von sich aus eine neue Welt schaffen wird, in der es kein Unglück und kein Leiden mehr gibt (Jes 65,17–25). So sehr sich diese prophetische Hoffnung von der weisen Nüchternheit des Hiobbuchs unterscheidet, sind sich doch beide Texte darin einig, dass Menschen sich mit dem Unglück und Leid, das ihnen in der Welt begegnet, nicht abfinden sollten, auch wenn sie manchmal nur wenig dagegen ausrichten können.

2.

Tod

In 1Sam 25,37f. wird der Tod Nabals folgendermaßen dargestellt: »Sein Herz starb in seinem Inneren, und er wurde zu Stein, und nach etwa zehn Tagen schlug Jhwh Nabal, und er starb.« Diese Passage macht schlaglichtartig deutlich, dass Sterben

384

5. Kapitel: Menschenbilder

und Tod in der Hebräischen Bibel nicht unbedingt dieselbe Bedeutung haben wie bei uns (wobei »wir« sehr wahrscheinlich auch nicht alle und nicht unter allen Umständen dasselbe darunter verstehen). Wenn der Sprecher von Ps 86,13 Gott dafür dankt, dass er ihn aus dem Totenreich errettet hat (vgl. Ps 30,4), handelt es sich wahrscheinlich nicht um einen Menschen, der nach dem Verständnis heutiger Medizin wirklich tot gewesen ist, sondern um einen, der dem Tode nahe war. So muss auch die Aussage, dass Jhwh tötet und lebendig macht, Menschen ins Totenreich hinab und wieder herauf bringen kann (1Sam 2,6; vgl. Dtn 32,29), nicht unbedingt eine regelrechte Auferstehung im Blick haben, sondern kann auch meinen, dass Jhwh Menschen, deren Tod nahe und unausweichlich schien, wieder ins Leben zurück geholt hat. Und selbst wenn hier an eine Wiederbelebung von Menschen gedacht sein sollte, die auch nach heutigem medizinischem Verständnis bereits tot waren, dürfte hier ebenso wenig eine Auferweckung zu einem ewigen Leben im Blick sein wie in den Wundererzählungen in 1Kön 17,17–24 und 2Kön 4,18–37, nach denen Elija und Elischa Tote wieder auferweckt haben sollen (nach 2Kön 13,21 haben sogar noch die Gebeine Elischas in seinem Grab einen Toten wiederbelebt). Diese Beispiele zeigen, dass es in der Hebräischen Bibel Vorstellungen vom Sterben und vom Tod gibt, die nach unserem heutigen Wissen schlicht und einfach falsch sind, aber auch solche, die wir als poetische und erlebnisnahe Beschreibungen durchaus nachvollziehen können, wie etwa die Vorstellungen, dass der Tod schon über Lebende Macht gewinnen kann, oder dass es einen fließenden Übergang vom Leben zum Tod gibt. Wieder andere Aussagen der Hebräischen Bibel können vielleicht auch unser heutiges (vermeintliches) Wissen kritisch in Frage stellen. Immer aber ist zu beachten, dass sich die in der Bibel vorausgesetzte Lebenswirklichkeit von unserer heutigen in Vielem unterscheidet und dass wir heute ein anderes Weltbild und Wirklichkeitsverständnis haben als die Menschen damals. Deshalb können wir uns nie sicher sein, ob wir die biblischen Aussagen heute so verstehen, wie sie damals gemeint waren. Wer biblische Aussagen oder Vorstellungen scheinbar unverändert in unsere Zeit übernimmt, gibt ihnen schon allein dadurch einen völlig neuen Sinn, dass er oder sie sie in ganz andere Lebens- und Denkwelten einbringt, als sie in der Bibel vorausgesetzt waren. Die Menschen der Hebräischen Bibel waren wahrscheinlich in ihrem Leben öfter und direkter mit dem Tod konfrontiert als die meisten von uns heute (also etwa die Menschen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz). Die Menschen sind damals jünger gestorben, und Krankheiten führten schneller zum Tod als heute. Besonders Kinder und Mütter starben oft schon in jungem Alter. Hungersnöte, Kriege und wilde Tiere trugen ebenso wie die Todesstrafe oder Selbsttötungen (1Sam 31,4f.; 2Sam 17,23) dazu bei, dass viele Menschen nicht erst an Altersschwäche starben. »Alt und lebenssatt« zu sterben (Gen 25,5; Hiob 42,17) war ein Wunsch, der sich für viele Menschen nicht erfüllte (Sir 41,1–7). Dass Henoch und Elija gar nicht sterben mussten, sondern lebendig zu Gott entrückt wurden (Gen 5,24; 2Kön 2,11), waren ganz seltene Ausnahmen (vgl. Sir 44,16; 48,9). Verstorbene wurden von ihren Angehörigen, Freunden und Nachbarn betrauert. Die Trauerzeit dauerte vom Tod bis zur Bestattung und noch eine Weile darüber hinaus. Genannt werden sieben (1Sam 31,13), dreißig (Num 20,29) oder siebzig Tage

§ 26 Leiden und Tod

385

(Gen 50,3). Judit trauerte noch länger um ihren verstorbenen Mann (Jud 8,4–6). Trauernde klagten und schrien laut, sie weinten und schlugen sich auf die Brust, legten ihren Schmuck ab, zerrissen ihre Kleidung, zogen einen »Sack« an (wohl ein Gewand aus rauem Stoff, wie es arme Leute trugen), streuten sich Asche auf den Kopf, verzichteten auf die übliche Körperpflege und fasteten. Der Sinn dieser Trauerriten wird in der Hebräischen Bibel nirgends erklärt. Vielleicht konnten sie schon damals (so wie manche Sitten und Bräuche heute) unterschiedlich gedeutet werden. Möglicherweise wollte man auf diese Weise dem verstorbenen Menschen ähnlich werden, um ihm oder ihr nahe zu sein. Weitere im Alten Orient übliche Trauerriten wie Selbstverletzungen oder das Kahlscheren des Kopfes werden in der Hebräischen Bibel verboten (Lev 19,28; Dtn 14,1), wurden aber allem Anschein nach trotzdem praktiziert (Hiob 1,20; Jer 7,29; 16,6; Esr 9,3). Vielleicht war es auch einfach umstritten, welche Trauerriten angebracht und akzeptabel waren und welche nicht. Ganz ungewöhnlich, aber durchaus nicht unverständlich verhält sich David in 2Sam 12,15–23: Als sein neugeborenes Kind schwer erkrankt, fastet und betet er. Sobald es tot ist, nimmt er sein normales Leben wieder auf. Von seinen Dienern ob dieses ungewöhnlichen Verhaltens zur Rede gestellt, antwortet David: »Solange das Kind noch lebte, habe ich gefastet und geweint, denn ich dachte: Wer weiß, vielleicht ist Jhwh mir gnädig, und das Kind bleibt am Leben! Jetzt aber ist es tot. Warum soll ich da fasten? Kann ich es noch zurückholen? Ich bin auf dem Weg zu ihm, das Kind aber wird nicht zu mir zurückkehren.« Eine würdige Bestattung galt in biblischer Zeit als Segen. Nicht bestattet zu werden war ein Fluch (Jes 14,18–20). Die Bestattung fand schon aus klimatischen Gründen wohl meist bereits am Tag des Todes statt. An den damit verbundenen Feierlichkeiten konnten professionelle Klagende (meist Frauen) beteiligt sein (Jer 9,17f.). Beispiele für Totenklagen finden sich in 2Sam 1,18–27 und 3,33f. Propheten konnten Menschen oder Menschengruppen das Ende ankündigen, indem sie die Totenklage bereits vorwegnahmen (Am 5,1f.; Ez 19,1–14; 32,2–16). Die Totenklage konnte musikalisch begleitet werden, wobei besonders Flötenmusik erwähnt wird (Jer 48,36). Vielleicht fand nach dem Begräbnis oder während der Trauerzeit ein Leidmahl (oder mehrere?) im Haus des oder der Verstorbenen statt (Jer 16,5–7). Bei der Bestattung von Königen konnten große Feuer angezündet werden (Jer 34,5; 2Chr 16,14). Das Verbrennen des Leichnams (1Sam 31,12f.) war in Israel und Juda wohl nicht üblich und galt als schimpflich (Am 2,1, vgl. das Verbrennen lebendiger Menschen als Strafe: Lev 20,14; 21,9; Gen 38,24). Die Einbalsamierung und Mumifizierung Jakobs und Josefs (Gen 50,2.26) nach ihrem Tod in Ägypten entspricht dem dortigen Brauch. In Israel und Juda wurden Tote üblicherweise in ihren Kleidern bestattet. Sarkophage wurden vielleicht bei Königsbestattungen verwendet, sonst aber nicht. Bestattet wurden die Toten in Erdgruben oder in ausgehauenen Felskammern mit Wandnischen für mehrere Tote. War eine Grabkammer voll belegt, wurden die Knochen eines bereits verwesten Leichnams abgeräumt und in einer Knochengrube im Grab deponiert. Mit Ausnahme der Königsgräber befanden sich die Grabstätten in der Regel außerhalb der Ortschaften.

386

5. Kapitel: Menschenbilder

Ausgrabungen zeigen, dass die Toten mit ihrem Schmuck bestattet werden konnten. Gelegentlich wurden ihnen wohl mehr symbolisch Pfeilspitzen oder Messer mit ins Grab gegeben, selten Libationsgefäße (zur Darbringung flüssiger Opfergaben), häufiger Tongefäße mit Nahrungsmitteln und Getränken sowie figürliche oder symbolische Darstellungen von männlichen oder weiblichen Gottheiten. »Viele Beigaben sind multifunktional zu sehen, so dass man sich vor einseitiger Interpretation und Einengung hüten muss. Insgesamt ergibt sich jedoch eine deutliche Vorstellung, was die Beigaben (und die Grabarchitektur) bewirken sollten, nämlich einen Schutz und eine Versorgung des kraftlosen Toten, der der Obhut seiner Familie und seines Schutzgottes anvertraut war, bis der Leichnam zerfallen war. Vorstellungen über ein Weiterleben im Grab, einer Jenseitsreise oder ein Weiterleben im Jenseits (...) werden durch Grab und Bestattung nicht nahegelegt.«164 In der Hebräischen Bibel werden Opfergaben für Tote selten erwähnt (Dtn 26,14; Ps 106,28). Unklar ist, ob es sich hierbei um einmalige Gaben bei der Bestattung (Grabbeigaben) handelt oder um wiederholte Gaben zur (symbolischen) Ernährung der Toten. Nach Lev 21,1–4; 22,4; Num 19,11–16 u. a. sind Gräber und Tote unrein. Vielleicht soll auf diese Weise ein Totenkult abgewehrt werden, wie er sonst im Alten Orient üblich war und zum ehrenden Angedenken an die Vorfahren gehörte (vgl. das Gebot der Elternehrung im Dekalog, Ex 20,12). Einige Texte der Hebräischen Bibel erwecken den Eindruck, dass der Mensch im Tod zerfällt und zu Staub wird (Gen 3,19). Wenn ein Mensch stirbt, verlässt ihn seine »Seele« (Gen 35,18) oder sein »(Lebens-) Geist« (Koh 12,7; Ps 104,29). In diesem Zusammenhang ist mit »Seele« oder »Geist« nicht ein Teil des Menschen gemeint, der weiter existiert, sondern die unpersönliche Lebenskraft, die zu Gott zurückkehrt und von ihm neuen Lebewesen eingehaucht werden kann. 2Sam 14,14 vergleicht das Sterben eines Menschen mit dem Ausgießen von Wasser auf die Erde: So wie das Wasser versickert und nicht wieder eingesammelt werden kann, verschwindet ein Mensch, wenn er stirbt, aus der Welt (vgl. Hiob 14,11f.). Vom Menschen bleibt nach dem Tod (zumindest auf längere Sicht) nichts übrig (Hiob 7,7–10). Andere Texte beschreiben das Sterben als Übergang des Menschen in das Totenreich bzw. die Unterwelt (hebräisch: Sche'ol, auch als »Grube« oder »Erde« bezeichnet). Nach Num 16,30–34 befindet sich die Unterwelt unter der Erdoberfläche, die sich allem Anschein nach grundsätzlich an jedem Ort öffnen kann, um Menschen in die Unterwelt hinabfahren zu lassen. Poetisch kann die Unterwelt wie eine Person dargestellt werden, die in ihrer unersättlichen Gier (Spr 27,20; 30,16) die Lebenden angreift (Ps 18,5; 116,3) und verschlingt. Wie genau sich Gräber und Unterwelt zueinander verhalten, ist unklar. Vielleicht hat man sich ein Grab als Teil der Unterwelt oder als Eingang dazu vorgestellt. Beschreibungen der Unterwelt finden sich besonders in Jes 14,9–20 und Ez 32,17–32. Demnach dämmern die Toten in der Unterwelt als kraftlose Schatten. Sie ruhen auf einem Lager aus Maden und decken sich mit Würmern zu. Kundige Männer oder Frauen können die Toten befragen 164 Robert Wenning, Art. »Bestattung (AT)«, WiBiLex 2006.

§ 26 Leiden und Tod

387

(1Sam 28), die dann wispernd und murmelnd Antwort geben (Jes 8,19). In Lev 19,31; Dtn 18,10–14 wird die Beschwörung und Befragung von Toten verboten. Nach Koh 9,5.10 ist sie sinnlos, weil die Toten nichts wissen. In seiner Klage schildert Hiob die Vorzüge der Unterwelt gegenüber dem Leben: »Dort lassen Frevler vom Wüten ab, und Erschöpfte finden dort Ruhe. Gefangene rasten miteinander, die Stimme des Treibers hören sie nicht. Die Kleinen sind dort wie die Großen, und der Sklave ist frei von seinem Herrn« (Hiob 3,17–19). Dabei hat Hiob aber nicht unbedingt ein anderes Bild der Unterwelt vor Augen als Jes 14 und Ez 32. Vielmehr will er rhetorisch eindrucksvoll sagen, dass das Leben auf der Erde mit allem Unglück und Leiden noch viel schlimmer ist als das trübselige Dahinvegetieren in der Unterwelt. Ganz anders sieht das Kohelet: »Wer zu den Lebenden gehört, hat Hoffnung; denn ein lebender Hund hat es besser als ein toter Löwe. Die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, aber die Toten wissen gar nichts, und sie haben keinen Lohn mehr, denn die Erinnerung an sie ist verschwunden. Ihre Liebe, ihr Hass, ihre Eifersucht sind längst vergangen, und sie haben niemals wieder einen Anteil an dem, was unter der Sonne getan wird« (Koh 9,4–6). Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod wird in der Hebräischen Bibel eher selten ausgesprochen. Soweit es sich erkennen lässt, gründet sie vor allem in der Unzufriedenheit mit der vermeintlichen Ungerechtigkeit des Lebens. Geht es nicht allzu oft schlechten Menschen gut und guten Menschen schlecht? Kann man sich damit begnügen, dass Gott solche Ungerechtigkeiten in der Todesstunde ausgleicht, wie Jesus Sirach meint? Könnte es nicht sein, dass Gottes ausgleichende Gerechtigkeit erst nach dem Tod zum Ziel kommt? In diesem Sinne erwartet etwa Ps 49, dass alle Menschen sterben und in die Unterwelt hinabsteigen, dass aber Gott die Guten nach dem Tod aus der Unterwelt zu sich holen wird. Ps 73 formuliert die Hoffnung, dass Gott den Sprecher am Ende seines Lebens ohne den Umweg über die Unterwelt zu sich nehmen wird (so wie er es mit Henoch und Elija getan hat). Auf dieser Linie konnten Aussagen anderer Psalmen wie Ps 16,10 (»du gibst mein Leben nicht der Unterwelt preis, du lässt deinen Getreuen das Grab nicht schauen«), die ursprünglich sehr wahrscheinlich nur die Rettung vor einem frühen Tod im Blick hatten, neu gelesen und interpretiert werden. Ez 37 kündigt dem Volk Israel eine Auferstehung an. Dabei wird eindrucksvoll beschrieben, wie die vertrockneten Knochen der toten Israeliten sich zusammenfügen, wie Sehnen und Fleisch an ihnen wachsen und wie die so entstandenen Leiber durch den Geist lebendig gemacht werden und sich auf ihre Füße stellen. Vielleicht handelt es sich hier nur um ein Bild für das Wiederaufleben des Volkes Israel nach dem Zusammenbruch 587 v. Chr. Dargestellt wird aber die Wiederherstellung und Wiederbelebung bereits verwester Toter. Jes 26,19 erwartet eine Auferstehung der Jhwh-Treuen, während alle anderen Toten von Gott vernichtet werden (V. 14). Eine ähnliche Hoffnung scheinen die Märtyrer in 2Makk 7 zu hegen. Dan 12,2 kündigt an, dass in der Endzeit viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, erwachen werden, die einen zu einem ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schande. Kapitel 22 des äthiopischen Henochbuchs, das vielleicht etwas früher geschrieben wurde als Dan 12, berichtet, dass die Toten je nach ihrer moralischen Qualität und ihrem irdischen Schicksal schon in der Unterwelt unter mehr oder weniger angenehmen

388

5. Kapitel: Menschenbilder

Umständen auf ihre Auferstehung warten. Nach Weish 3–4 dagegen sind die »Gerechten« unsterblich. Nach ihrem Tod sind ihre Seelen im Frieden bei Gott. Für die »Frevler« bzw. »Gottlosen« dagegen bedeutet der Tod Vernichtung und Vergessen. Dass Gott einmal den Tod »verschlingen« wird, kündigt Jes 25,8 an. Allen bisher besprochenen Texten ist die Überzeugung gemeinsam, dass Tote in der Unterwelt von Gott getrennt sind (Ps 6,6; 88,11–13). Will Gott einem Menschen über den Tod hinaus nahe sein, muss er ihn aus der Unterwelt herausholen oder erst gar nicht in sie hinabsteigen lassen. Dagegen ist Ps 139,8 der Ansicht, dass ein Mensch in der Unterwelt (d. h. nach dem Tod) Gott ebenso nahe ist wie irgendwo sonst im Universum. Ps 22,30 scheint sogar davon auszugehen, dass auch die Toten in der Unterwelt Gott verehren können. Unter dieser Voraussetzung konnten Hoffnungen auf ein Weiterleben, eine Wiederbelebung oder eine Auferstehung nach dem Tod unnötig erscheinen. Ausdrücklich widersprochen wird solchen Hoffnungen in den Büchern Hiob (Hiob 14), Kohelet (Koh 3,19–22; 9,4–10) und Jesus Sirach (Sir 41,5f.) Sie halten an dem fest, was Gott in Gen 3,19 über den Menschen gesagt hat: »Du bist Staub, und du wirst zum Staub zurückkehren« (vgl. Ps 90,3). Warum das so ist, versucht die Paradiesgeschichte in Gen 2–3 zu erklären. Demnach lebte das erste von Jhwh-Gott geschaffene Menschenpaar in einem paradiesischen Garten. In diesem Garten gab es zwei spezielle Bäume (oder Arten von Bäumen), den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, die in der Mitte des Gartens standen. Jhwh-Gott erlaubte es den Menschen, von allen Bäumen im Garten zu essen, außer vom Baum der Erkenntnis. Eines Tages aber stiftete die Schlange, das klügste der Tiere, die Menschen dazu an, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Daraufhin hat Jhwh-Gott sie aus dem Garten vertrieben und ihnen den Zugang dazu versperrt. Gegenüber den anderen Göttern (oder Engeln) begründete er das damit, dass die Menschen nun insofern den Göttern gleich geworden seien, als sie selbst erkennen können, was gut und was böse bzw. schlecht ist. Nun sollten sie nicht auch noch ewig leben. Denn dann (das ist hier stillschweigend vorausgesetzt) wären sie vollends den Göttern gleich. (Ob die Menschen, um ewig zu leben, nur einmal oder immer wieder vom Baum des Lebens hätten essen müssen, geht aus der Erzählung nicht klar hervor.) Gen 2f. setzt (ebenso wie Gen 1) voraus, dass die Menschen von Gott als sterbliche Lebewesen geschaffen wurden. Dass die Menschen sterblich sind, ist nach Gen 2f. nicht etwa die Strafe dafür, dass sie das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, übertreten haben. Wenn es sich hier überhaupt um eine Bestrafung handelt, dann besteht sie darin, dass die Menschen nicht mehr durch das Essen vom Baum des Lebens unsterblich werden können. Vor allem sagt die Paradiesgeschichte, dass Menschen nur entweder die Erkenntnis von Gut und Böse oder das ewige Leben haben können. Hätten sie beides, wären sie keine Menschen mehr, sondern Götter. Anders verstanden wurde die Paradiesgeschichte dann nicht erst im Neuen Testament (vgl. Röm 5,12–21), sondern schon in Weish 1,13–16: Gott hat den Tod nicht geschaffen. Seiner Absicht nach sollten alle seine Geschöpfe ewigen Bestand haben. Erst die »Frevler« bzw. »Gottlosen« haben den Tod in die Welt gebracht und tun das immer wieder. Nach Weish 2,23f. hat Gott die Menschen zur Unvergänglichkeit

§ 26 Leiden und Tod

389

erschaffen, doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt. Hier (und in weiteren frühjüdischen und frühchristlichen Schriften) entwickelt sich ein Verständnis der Paradiesgeschichte als Geschichte vom »Sündenfall« der Menschen, durch den der Tod in die Welt gekommen ist (vgl. z. B. 4Esr 7,118–126). Auch wenn nach der biblischen Urgeschichte die Menschen nicht unsterblich geschaffen worden waren, haben sie doch zunächst noch wesentlich länger gelebt als die späteren Menschen. So wurde etwa Adam 930 Jahre alt und Noah 950 Jahre. In Gen 6,3 setzt Jhwh die (maximale) Lebenszeit der Menschen auf 120 Jahre fest. In diesem Alter wird dann Mose sterben. Für die Verfasser und Leser der Hebräischen Bibel wird auch dies schon ein nur selten erreichtes Alter gewesen sein. Nach Ps 90,10 galten bereits 70 bis 80 Jahre als hohes Alter.

3.

Ausblick

An den unterschiedlichen Aussagen der Hebräischen Bibel zum Thema Tod und Jenseits zeigt sich beispielhaft, dass die Bibel nicht eine einheitliche Sicht auf die Welt und das Leben präsentiert, geschweige denn eine einheitliche Lehre darüber. Vielmehr dokumentiert sie ganz unterschiedliche Ansätze und Ergebnisse des Nachdenkens verschiedener Menschen. Dabei gibt es nach heutigem Erkenntnisstand sehr wahrscheinlich Entwicklungen. So finden sich beispielsweise Gedanken darüber, wie sich das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt mit der Annahme eines gütigen und gerechten Gottes vertragen, v. a. in jüngeren Texten der Hebräischen Bibel (obwohl sie in der altorientalischen Literatur schon sehr viel früher begegnen). Dasselbe gilt für Erwartungen einer Auferstehung oder eines ewigen Lebens bei Gott. Solche Entwicklungen sind aber keineswegs eindeutig und unumkehrbar. So gibt es auch junge Texte der Hebräischen Bibel, in denen die Güte und Gerechtigkeit Gottes selbstverständlich vorausgesetzt werden. Und neben Texten, die eine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zum Ausdruck bringen, stehen gleichzeitig oder wenig später entstandene Texte, die diese Hoffnung kritisieren und den Tod noch radikaler als ältere Texte als das definitive Ende des Menschen verstehen. Die theologische und anthropologische Diskussion in der Hebräischen Bibel entwickelt sich also im Laufe der Zeit, nähert sich dabei aber nicht irgend einem Ergebnis an, sondern vermehrt und verschärft eher noch die sachlichen Auseinandersetzungen und Probleme. Manche der Aussagen der Hebräischen Bibel zum Thema Leid und Tod erscheinen uns heute fremd oder schlicht durch neuere und bessere Einsichten überholt. Andere vermögen uns immer noch direkt anzusprechen und zu eigenem Nachdenken zu inspirieren. Auch das Fremdartige und Überholte kann uns aber darauf aufmerksam machen, dass auch unser eigenes Wissen zeitbedingt ist und wahrscheinlich irgendwann einmal unseren Nachkommen ebenso seltsam und veraltet erscheinen wird. Zudem kann es uns vielleicht auch Respekt abnötigen, zu sehen, wie Menschen, die sich unsere heutigen medizinischen und technischen Möglichkeiten nicht im Traum vorstellen konnten, die Herausforderungen des Leidens und des Todes denkend und handelnd zu bewältigen versucht haben. Und es kann uns

390

5. Kapitel: Menschenbilder

daran erinnern, dass auch heute noch sehr viele Menschen unter härteren Bedingungen ihr Leben fristen müssen als wir.

Bibliographie Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 1: Willkür und Gewalt, Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 62015/42015. Fischer, Alexander Achilles, Tod und Jenseits im Alten Orient und im Alten Testament, Leipzig 2014. Laato, Antti/de Moor, Johannes C., Theodicy in the World of the Bible: The Goodness of God and the Problem of Evil, Leiden 2003. Norrie, Philip, A History of Disease in Ancient Times, Basingstoke (UK) 2016. Staubli, Thomas/Schroer, Silvia, Menschenbilder der Bibel, Ostfildern 2014. Ferner: WiBiLex (Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet: www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/) zu den Stichworten Leid, Eschatologie, Gerechtigkeit, Klage, Krankheit und Heilung, Unheil sowie Ahnenkult, Auferstehung, Bestattung, Grab, Jenseitsvorstellungen, Klagefeier, Leiche, Tod, Todesstrafe, Totenklage, Totenkult, Trauer.

6. Kapitel: Gottesglaube

§ 27 Gottes Einzigkeit Bernhard Lang, Paderborn

1.

Zwei Wege zum einen Gott

Der Gott des Alten Testaments begegnet in zwei unterschiedlichen Rollen.1 Einmal erscheint er in der Rolle des Volksgottes: als Gott Israels, der sich nur um das Volk Israel kümmert, wie umgekehrt das Volk Israel nur Jahwe oder Jahu (so lautet sein Eigenname) als Gott verehrt. Daneben kommt demselben Gott die Rolle des Universalgottes zu, der die Welt erschaffen hat und die Geschicke aller Menschen und Völker lenkt. Auszugehen ist von der grundsätzlichen Gleichzeitigkeit der beiden Konzepte »Volksgott« und »Universalgott«. Beide Konzepte waren in Israel immer schon bekannt und wurden nebeneinander gepflegt, wenn auch von verschiedenen Kreisen innerhalb der Gesellschaft. Tatsächlich fanden beide Gotteskonzeptionen staatliche Unterstützung: Die meisten Könige des Nordreichs Israel verstanden die Verehrung des Volksgottes – oder, wie wir sehen werden: des »Exodusgottes« – als offizielle Religion des Staates, während die Könige des Südreichs Juda den Kult des Universalgottes – des »Himmelsgottes« – als Staatskult pflegten (Tab. 1). Lange Zeit standen die zwei Gottesvorstellungen getrennt nebeneinander; später wurden sie miteinander verknüpft – und reiften zum Monotheismus. Region

Nordreich Israel

Südreich Juda

Staatsform

ethnischer Staat mit tribalem Hintergrund

Stadtstaat, territorial konzipiert

Gott Jahwe

Exodusgott, »der Zornmütige«

Himmelsgott, »der Thronende«

Mythos

Auszug aus Ägypten

Erschaffung von Himmel und Erde

Aktionsradius

Gott kümmert sich nur um sein Volk

Gott agiert weltweit

Kultbild

Stierskulptur

thronender Gott oder Sonne

Geschichte

722 v. Chr.: Ende des Nordreichs →

620 v. Chr.: König Joschijas Reform führt die Exodusreligion ein

1 Keel, Sturmgott; Gonçalves, Deux systèmes religieux.

392

2.

6. Kapitel: Gottesglaube

Der Gott des Exodus und die Religion des Nordreichs Israel

Einzusetzen ist mit einer Überlegung über Wesen und Gestalt des Staates. Jeder Staat besteht aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Strukturell ist der antike Staat jeweils durch die Privilegierung von einer der drei Komponenten geprägt. So stand im alten Ägypten mit dem König die Staatsgewalt im Vordergrund, während in Babylonien und Assyrien das Staatsgebiet – genauer: das Netzwerk von Städten – vorherrschte. Der dritte antike Staatstyp, in welchem das Volk die erste Stelle einnimmt, stellt eine Neuerung der Eisenzeit (ca. 1200–600 v. Chr.) dar. Die kleinen Staaten der Ammoniter, Moabiter, Edomiter und (Nord-)Israeliten verstanden ihr Volk als Geflecht miteinander verwandter Familien, so dass die Gesellschaftsidee früherer, nun sesshaft gewordener nomadisch-tribaler Gruppen fortlebte.2 Der jeweilige Stammesgott ist Schutzgott nur des einen Volkes, und dementsprechend weit davon entfernt, universal zu agieren. In diesem Sinne ist Jahwe der »Gott Israels«.3 Wie Israel zu seinem Gott kam, wird im Buch Exodus erzählt. a)

Ursprungserzählung

Die Geschichte des Jahwekultes beginnt im Buch Exodus mit der bekannten Szene am Dornbusch in der Wüste: Der Hebräer Mose erhält von Jahwe den Auftrag, das Volk Israel aus Ägypten zu befreien. Nachdem dies gelungen ist, gipfelt die Mission des Mose in der Entgegennahme einer umfangreichen göttlichen Offenbarung auf dem Berg Sinai. Das wichtigste Stück der Offenbarung wird allerdings nicht von Mose vermittelt, sondern von Jahwe dem Volk unmittelbar gegeben: Alle am Sinai Versammelten hören die aus einer dunklen Wolke erschallenden Worte, mit denen Gott die Zehn Gebote verkündet; diesen Umstand hebt die Bibel (Dtn 5,22) besonders hervor, weil er dem Gebot der Alleinverehrung besondere Würde verleiht. »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Gottesbild machen noch irgendein Abbild von etwas, was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was unter der Erde ist. Du sollst dich nicht niederwerfen vor ihnen und ihnen nicht dienen, denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger« – oder, wohl besser: emotionaler – »Gott, der die Schuld der Vorfahren heimsucht an den Nachkommen bis in die dritte und vierte Generation, bei denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist tausenden, bei denen, die mich lieben und meine Gebote halten.« (Ex 20,2–6)4

2 Liverani, La Bible et l’invention de l’histoire, 73–76. 112–116. Anders als Liverani möchte ich das Südreich Juda als Territorial- oder Stadtstaat verstehen; vgl. Niemann, Judah and Jerusalem. 3 Dieser Ausdruck ist sehr oft belegt, vgl. etwa Ex 5,1; 1Kön 8,23; Apg 13,17. Gott sagt »mein Volk Israel« (2Sam 7,7). 4 Alle Bibelzitate folgen dem Wortlaut der Zürcher Bibel 2007, auch in der traditionellen Wiedergabe des Gottesnamens Jahwe durch »der Herr«.

§ 27 Gottes Einzigkeit

393

Das ist das religiöse Grundgesetz des Volkes. Mehrere Einzelzüge sind hervorzuheben: Der »Herr« – gemeint ist der Gott Jahwe – fordert zwischen sich und dem Volk Israel ein Verhältnis der Liebe, das die Verehrung anderer Götter vollständig ausschließt. Verbunden mit dem Verehrungsverbot ist das Verbot, Jahwe in Gestalt eines Menschen oder eines Symbols – etwa als Stier oder Gestirn – bildlich darzustellen. Andere Völker kennen kein solches Verbot und pflegen sich vor ihren Götterstatuen oder Kultsymbolen verehrend niederzuwerfen. Nach dem Wortlaut des Alleinverehrungsgebots scheinen andere Götter zu existieren, wenn dies auch nicht ausdrücklich gesagt wird. Gefordert wird also nicht der Glaube an einen einzigen Gott (das wäre nach heutigem Sprachgebrauch Monotheismus), sondern Alleinverehrung Jahwes (was mit dem Kunstwort »Monolatrie« bezeichnet wird). Insgesamt geht es nicht um theoretischen Glauben, sondern um Liebe und kultische Verehrung. Letztere erfolgt, antikem Brauch entsprechend, in erster Linie durch die Darbringung von Opfern. Daher auch die Regel: »Wer den Göttern opfert, und nicht dem Herrn allein, wird der Vernichtung geweiht« (Ex 22,19), nämlich getötet. Natürlich gilt die Strafandrohung nur für Israeliten, nicht für die Menschen anderer Völker. Das Gebot der Monolatrie betrifft das Volk, das Jahwe aus Ägypten herausgeführt hat. Andere Völker haben andere Götter; diese sind niedrigeren Ranges als Jahwe und lassen sich deshalb auch bildlich darstellen (Dtn 4,19–20). Nur in der Abschiedsrede des Mose an sein Volk klingt eine Weiterentwicklung der Monolatrie zum Monotheismus an: »Du hast es« – die Befreiung Israels aus Ägypten – »sehen dürfen, damit du erkennst, dass der Herr allein Gott ist und sonst keiner. ... Und heute sollst du erkennen und dir zu Herzen nehmen, dass der Herr allein Gott ist oben im Himmel und unten auf der Erde und sonst keiner« (Dtn 4,35.39). Der Abschiedsrede des Mose wird auch ein Satz entnommen, der bis heute als jüdisches Glaubensbekenntnis gilt – ein Satz, der sich monolatrisch, aber auch monotheistisch verstehen lässt: »Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr (unser) einziger (Gott)« (Dtn 6,4).5 b)

Propaganda

Das Programm der Alleinverehrung wird durch Propagandaerzählungen erläutert, in deren Mittelpunkt mehrere Heldengestalten stehen: Mose, Gideon und Elija. Alle drei bekämpfen den »Abfall« von der Bildlosigkeit oder der Alleinverehrung des einen Gottes. Während Mose auf dem Berg Sinai Gottes Gebote entgegennimmt, machen sich die Israeliten in ihrem Lager ein Kultbild, das Jahwe in der Gestalt eines Stierkalbs darstellt (Ex 32). Mose lässt die Schuldigen töten – doch ein Ende der Verehrung anderer Götter tritt nicht ein. In der (vorstaatlichen) Richterzeit kommt es zu einem geradezu dramatischen Abfall vom Jahwekult. Das Richterbuch erklärt den 5 Eigene Übersetzung, beruhend auf folgendem Textverständnis: Jahwe elohenu Jahwe (elohenu) echad. Eine andere Möglichkeit der Wiedergabe versteht echad als Beinamen Jahwes (vgl. Sach 14,9): »Jahwe ist unser Gott, Jahwe der Eine.«

394

6. Kapitel: Gottesglaube

Verstoß mit einem Generationenwechsel: Eine neue Generation »wusste nichts mehr« von Jahwe und der Befreiung aus Ägypten. Die Israeliten »verließen den Herrn ... und sie liefen anderen Göttern nach« (Ri 2,12). Der Jahwekult erscheint einer neuen Generation als der Kult der Väter, nämlich der Auszugsgeneration; jetzt, im Land Kanaan (Palästina) angesiedelt, gilt es, der dort üblichen rituellen Praxis zu folgen. Diese Ansicht wird von Gideon vehement bekämpft. Begleitet von zehn Männern zerstört Gideon in nächtlicher Aktion den Baal-Altar, der seinem Vater gehört; anschließend errichtet er einen Jahwealtar (Ri 6). Nach dem Richterbuch ist der Jahweverehrung nie lange Dauer vergönnt, da die Verehrung Jahwes nur vorherrscht, solange ein mächtiger und frommer Führer wie Gideon die Zügel in der Hand hält. Daher die Mitteilung: »Und als Gideon gestorben war, hurten die Israeliten wieder hinter den Baalen her und machten den Baal-Berit zum Gott. Und die Israeliten dachten nicht mehr an den Herrn, ihren Gott, der sie gerettet hatte aus der Hand aller ihrer Feinde ringsum« (Ri 8,33–34). Auch in der Königszeit ist der Jahwekult bedroht. König Ahab (874–853 v. Chr.) gilt als Begründer des Baalskultes im Nordreich der Königszeit. Angedeutet wird die Herkunft des fremden Kults durch den Hinweis auf seine aus dem Ausland stammende Gemahlin: »Er nahm Isebel, die Tochter des Etbaal, des Königs der Sidonier, zur Frau, und ging und diente dem Baal und warf sich vor ihm nieder. Und er errichtete dem Baal einen Altar im Haus des Baal, das er in Samaria gebaut hatte« (1Kön 16,31–32). Der Prophet Elija wird als Gegenspieler von König Ahab und dessen Frau Isebel in Szene gesetzt. Dabei sind die Rollen klar verteilt: Ahab und Isebel verehren Baal, Elija ist Anwalt der Jahweverehrung. Als es den Baalspropheten nicht gelingt, ihren Gott zur Beendigung einer Dürre zu bewegen, die das Land heimsucht, überschüttet sie der Prophet mit spitzem Spott. Dann lässt er das Wunder des Regens geschehen. Doch auch das von Elija vollbrachte Regenwunder kann Ahab und Isebel nicht überzeugen. Sie bleiben Gegner des Propheten. Ein gemeinsamer Zug der Propagandaerzählungen verdient es, hervorgehoben zu werden. Für sie gibt es immer nur entweder reine Jahweverehrung oder Abfall zum Kult anderer Götter. Die Propagandisten scheuen sich davor, einen Israeliten als Synkretisten zu porträtieren, der am Vormittag Jahwe ein Opfer darbringt und am Nachmittag anderen Göttern huldigt. Gleichzeitig Jahwe und andere Götter verehren – diese schreckliche Sünde kann nach Auffassung der biblischen Erzähler kein Israelit begehen. Nur bei Ausländern wird solcher Synkretismus geduldet (2Kön 5,18; 17,24–40), denn in diesem Falle fühlt sich der fromme Israelit geschmeichelt, wenn er von der Jahweverehrung erfährt, die von Nichtisraeliten praktiziert wird. c)

Geschichte

Die Anfänge der Exodusreligion reichen zweifellos in die vorstaatliche Zeit zurück, in eine Zeit, der das Königtum noch fremd war. Mit dem Berggott Jahwe scheinen proto-israelitische Stämme zuerst im Gebiet eines arabischen Vulkanberges, dem Wohnort dieses Gottes, begegnet zu sein. Spuren aus dieser Frühzeit sind nur spär-

§ 27 Gottes Einzigkeit

395

lich überliefert.6 Jahwe galt als der Gott, der sein Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreit hat. Quellenmäßig belegt ist die Jahweverehrung im Nordreich durch die Mescha-Inschrift (ca. 850 v. Chr.) und den Hinweis auf »Jahwe von Samaria« in einer Inschrift aus Kuntillet Adschrud (ca. 800 v. Chr.).7 Praktiziert wurde der Jahwekult in Tempeln, die wir uns teils als Haus zur Unterbringung einer Götterstatue, teils als einfachere Kultanlage mit freistehendem Opferaltar vorstellen dürfen. Dargestellt wurde Jahwe in Gestalt eines Stieres. Die Bibel spricht von goldenen Stierbildern in den Jahwetempeln der Städte Dan und Bet-El, ohne es zu versäumen, auf den Auszug aus Ägypten hinzuweisen. »Sieh, Israel, das ist dein Gott, der dich heraufgeführt hat aus dem Land Ägypten« (1Kön 12,28–29), ruft König Jerobeam seinem Volk zu. Jerobeam I. (ca. 931–910 v. Chr.) gilt der Überlieferung als erster König des Nordreichs Israel. Den Gott des Exodus hat man dem als Stier dargestellten Wettergott Baal-Seth angeglichen (Abb. 1).8 »Stier« wurde zum Beinamen des Exodusgottes, zum Hinweis auf seine unbändige Kraft. Baal, dem vorderasiatischen Gott des Wetters und Sturmes, sowie dem gewalttätigen, in der Wüste beheimateten ägyptischen Gott Seth verwandt, ist Jahwe eine kämpferische, kriegerische Gestalt.9 Seine Beinamen: »der Krieger« und »der Zornmütige« (Ex 15,3; 34,14).10

Abb. 1: Junger Stier. Die etwa 17,5 cm lange Skulptur wurde im Jahr 1970 von einem israelischen Soldaten in der Nähe von Tel Dotan (im Nordreich Israel) gefunden. Das Objekt wird in die Zeit um 1200 v. Chr. datiert und gehörte nach dem Fundkontext zu einem Heiligtum. Demnach darf man in dem Stier das Emblem eines Gottes sehen. Zu denken ist an den kämpferischen Wettergott Baal-Seth, der später mit Israels Gott gleichgesetzt wurde. – Skulptur aus Bronze, ca. 1200 v. Chr., Israel Museum, Jerusalem. Quelle: Keel, Othmar, Das Recht der Bilder, gesehen zu werden (OBO 122), Fribourg 1992, 184.

6 »Herr, als du auszogst von Seïr, als du einherschrittest von Edoms Gefilde, da bebte die Erde ... Die Berge wankten vor dem Herrn, dem vom Sinai« (Ri 5,5–6). Der Vulkanberg Sinai ist nicht sicher lokalisierbar, ein guter Kandidat ist der Vulkan Challat al-Badr im Westen des heutigen Saudi-Arabien. Vgl. Gal 4,25. 7 Weippert, Historisches Textbuch, Nr. 105 und 216. 8 Keel, Das Recht der Bilder, 169–180. 9 Keel, Sturmgott, 83. 10 Zur Übersetzung »der Zornmütige« statt »der Eifersüchtige« vgl. Lang, Le dieu de l’Ancien Testament; Ders., Der Gotteskrieger.

396

6. Kapitel: Gottesglaube

Die erwähnten Propagandaerzählungen zugunsten der Jahweverehrung im Nordreich lassen Instabilität und Kontroversen über die rechte Art des Jahwekults erkennen. Instabil war der Jahwekult insofern, als ihm zumindest einer der Könige – Ahab im 9. Jahrhundert v. Chr. – die staatliche Förderung entzog und, wie es scheint, den Kult des Gottes Baal als neuen Staatskult etablierte; wie lange sich der neue Kult halten konnte, bleibt unklar. Nach verbreiteter Forschungsmeinung hat sich der Kult des Exodusgottes zunächst mit dem anderer Götter vertragen. Die Forderung nach konsequenter Alleinverehrung Jahwes lässt sich auf eine etwa seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. bestehende Reformbewegung zurückführen, die sich der Radikalisierung der Exodusreligion verschrieb. Die Reformer verfolgten zwei Ziele: Alleinverehrung – fremde Götter dürfen neben Jahwe nicht mehr verehrt werden; Bilderverbot – im Kult Jahwes sollen auch keine Bilder mehr verwendet werden. Man mag die Bewegung als Jahwe-allein-Bewegung bezeichnen. Im Buch des Propheten Hosea finden sich erste Spuren dieser Bewegung, vor allem in dem Satz: »Ich aber bin der Herr, dein Gott, vom Land Ägypten her, und außer mir kennst du keinen Gott, und es gibt keinen Retter außer mir« (Hos 13,4). Wie ist die Idee entstanden, Jahwe sei allein zu verehren? Der Bibel selbst lässt sich darüber nichts entnehmen, so dass wir auf Mutmaßungen angewiesen sind. Stecken hinter dem Programm der Alleinverehrung vielleicht die Leviten, eine ordensähnlich organisierte Gruppe von Menschen, die ihre eigene Überzeugung von der reinen Jahweverehrung auch für andere propagierten? Oder müssen wir eher an ein politisches Programm denken? Das Nordreich war klein und militärisch nicht sehr stark; von einer ausschließlichen Verehrung Jahwes als des nationalen Schutzund Kriegsgottes mag man sich militärischen Sieg und Schutz vor den Großmächten erhofft haben. Für die letztere Überlegung könnte ein Vergleich mit der in der biblischen Welt verbreiteten persönlichen Frömmigkeit sprechen: In einer unsicheren Welt klammert sich der Einzelne an seinen persönlichen Gott, um von ihm Hilfe zu erhalten. Wie der einzelne Mensch, von Schicksalsschlägen bedroht, Sicherheit in der Verehrung eines persönlichen Schutzgottes sucht, so sucht auch der Staat Sicherheit in der ausschließlichen Verehrung seines Staatsgottes. Vielleicht zunächst nur als vorübergehende Maßnahme in einer Notzeit praktiziert,11 wäre die Monolatrie demnach als eine Form von Krisenreligion anzusprechen – als eine Religion, mit deren Hilfe eine Krise bewältigt werden soll. d)

Sieg

Die historischen Erzählungen über das Nordreich enden mit einem knappen Hinweis auf die Zerstörung des Reichs durch assyrisches Militär (ca. 722 v. Chr.). Ausführlich werden die Gründe dargelegt: Das Ende des Nordreichs Israel war geschehen, »weil die Israeliten gegen den Herrn, ihren Gott, gesündigt hatten, der sie heraufgeführt hatte aus dem Land Ägypten, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. Und

11 Van Selms, Temporary Henotheism.

§ 27 Gottes Einzigkeit

397

sie fürchteten andere Götter ... und vor dem ganzen Heer des Himmels warfen sie sich nieder, und sie dienten dem Baal« (2Kön 17,7.16). Man mag dies als generelle Verdammung einer Praxis verstehen, die den Kult des Exodusgottes durch den anderer Gottheiten ergänzte. Oder war in den letzten Jahrzehnten des Nordreichs der Kult des Exodusgottes zugunsten der Baalsverehrung zurückgetreten? Mit dem Untergang des Nordreichs Israel hätte auch die Exodusreligion an ihr Ende kommen können, und die Folge wäre das Verschwinden des Exodusgottes aus der Überlieferung gewesen. Das aber ist nicht geschehen. Wir kennen auch den Grund: das Nachleben der Exodusreligion im Südreich Juda. Zweifellos sind im ausgehenden 8. Jahrhundert viele Nordisraeliten ins Südreich gekommen und haben dort ihre Religion – die Exodusreligion – weiter praktiziert und überliefert. Der Bericht über König Joschijas auf Alleinverehrung Jahwes zielende Reform (um 620 v. Chr.) spiegelt den großen Einfluss, den der Kult des Exodusgottes in den späten Jahren des Südreichs bis in höchste Regierungskreise gewinnen konnte – in der Generation, die der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. vorausgeht. Der jüdäische König Joschija (641–609 v. Chr.) wird, ähnlich wie Gideon, als Mann geschildert, der das göttliche Gebot der Alleinverehrung Jahwes in einer umfassenden Religionsreform unter Anwendung von Gewalt durchsetzt. Ein altes Buch wird gefunden, dem jungen König zur Kenntnis gebracht, und dieser handelt umgehend nach der Weisung des Buches. Wir dürfen uns den historischen Jerusalemer Tempel der Zeit vor Joschija als Kultanlage des Himmelsgottes vorstellen, den es nicht störte, wenn dort noch andere, untergeordnete Gottheiten einen Kult erhielten. Joschija verwandelte den gesamten Kult in seinem Land in jenen Kult, der bis etwa hundert Jahre zuvor im Nordreich (nämlich bis zu dessen Untergang im Jahr 722 v. Chr.) – im Sinne der biblischen Erzähler – als orthodox gegolten hatte. Joschija befiehlt, aus dem Tempel »alle Geräte hinauszuschaffen, die gemacht worden waren für den Baal und für die Aschera und für das ganze Heer des Himmels. Dann verbrannte er sie außerhalb von Jerusalem, auf den Feldern am Kidron, und ihre Asche brachte er nach Bet-El. Und er schaffte die Götzenpriester ab, die die Könige von Juda eingesetzt hatten ... und die Rauchopfer darbrachten für den Baal, für die Sonne, für den Mond, für die Gestirne und für das ganze Heer des Himmels. Und die Aschera schaffte er aus dem Haus des Herrn ...« (2Kön 23,4–6). Nach Abschluss der Reformmaßnahmen feiert Joschija ein großes Fest, das Pesach, das an den Auszug aus Ägypten und damit an den Gott des Exodus erinnert. Damit ist der Sieg der Exodusreligion beschlossen – der Sieg einer Religion, die sich, wie es scheint, im Nordreich nie hat völlig durchsetzen können.

3.

Der Himmelsgott und die Religion des Südreichs Juda

Wir haben es im Folgenden mit der Religion des Jerusalemer Tempels zu tun, der Religion des Südreichs. Anders als der Exodusgott ist der Himmelsgott Jahwe nicht der Gott eines Nationalstaates, sondern der eines Territorial- oder Stadtstaates. Als Himmelsgott verkörpert Jahwe einen ganz bestimmten Gottestyp der alten Welt. Er gehört zur Gruppe jener Götter, die man als »universal waltende« oder »allgemeine« Götter bezeichnen mag. In der Bronzezeit (ca. 3400–1200 v. Chr.) aufgekommen und in

398

6. Kapitel: Gottesglaube

ihrem Charakter geprägt, beherrschen sie das Bild der antiken Religion bis zur Zeit des Christentums. Es handelt sich um große, universal agierende Gestalten. Beispiele sind der Regen spendende und Blitze schleudernde vorderasiatische Wettergott Hadad (Adad); der ägyptische Sonnengott Amun-Re, dem man die Erschaffung und Lenkung der Welt verdankt; der babylonische, für Recht und Gerechtigkeit sorgende Sonnengott Schamasch. Oft mit dem Himmel oder einem anderen kosmischen Bereich – der Erde oder der Unterwelt – verbunden, ist ihnen die feste Bindung an einen Kultort oder ein bestimmtes Land fremd oder hat für ihre universale Wirksamkeit keine Bedeutung. In Fortsetzung des bronzezeitlichen Internationalismus sagt der Psalmist über Jahwe: »Stiege ich hinauf zum Himmel, du bist dort. ... Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen« (Ps 139,8–10). Die Verehrer großer, universal wirkender Götter neigen dazu, diese Gestalten als eine die Welt regierende Familie oder einen Staat zu begreifen, an deren Spitze ein höchster Gott als Patriarch steht – etwa Anu bei den Babyloniern, Amun-Re bei den Ägyptern oder Zeus bei den Griechen. a)

Mythos

Von Mitreisenden nach seiner Religion befragt, gibt der Prophet Jona ein Kurzporträt des Himmelsgottes: »Ich bin ein Hebräer«, sagt er, »und ich fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat« (Jona 1,9). Kennzeichen eines Gottes ist dessen Mythos, und im Falle des Himmelsgottes Jahwe bezieht sich dieser auf die Erschaffung des Weltalls. Die Charakterisierung des Himmelsgottes als Welterschaffer kann poetischer und ausführlicher ausfallen als bei Jona. Beispiele bietet Amos. Gott ist für den Dichterpropheten der, »der die Berge gebildet und den Wind geschaffen hat« (Am 4,13). Ausführlicher: »Der das Siebengestirn und den Orion gemacht hat und tiefste Dunkelheit in Morgen verwandelt und den Tag verfinstert zur Nacht, der das Wasser des Meeres rief und es ausgegossen hat über den Erdboden. Herr ist sein Name!« (Am 5,8)

Solchen hymnischen Charakterisierungen stehen Referate gegenüber, die den Schöpfungsvorgang selbst schildern: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und öde, und Finsternis lag über der Urflut, und der Geist Gottes bewegte sich über dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis« (Gen 1,1–4). Das geschah am ersten Tag der Schöpfung, und in gleicher Weise werden die übrigen Schöpfungswerke Gottes beschrieben und auf insgesamt sechs Tage verteilt. Die Erschaffung des Menschen erfolgt am letzten, dem sechsten Tag. Bei Bibellesern weniger bekannt ist eine weitere, allerdings weniger ausführliche Schilderung des Schöpfungsvorgangs im Buch der Sprichwörter, wo sich Frau Weisheit als junge Göttin präsentiert, die als Kind ihrem göttlichen Vater bei der Welterschaffung zusehen durfte (Spr 8).

§ 27 Gottes Einzigkeit

399

Der Schöpfungsmythos setzt den Himmelsgott als Herrn und Eigentümer von Welt und Weltall in Szene. Alles gehört ihm, über alles hat er Macht, für sein Handeln gibt es keine Grenzen. Besonders zwei im Alten Testament prominente Themen leiten sich vom Schöpfungsmythos ab: das Wirken Gottes in der Natur und das Sorgen Gottes für Gerechtigkeit in der Welt der Völker und Staaten. Gottes Sorge für die Tierwelt wird am Ende des Hiobbuches ausführlich geschildert. Besondere Aufmerksamkeit verdient Psalm 104, wo das Welthaus als riesiges Wasserwerk erscheint, das von Gott in Gang gehalten wird. Der Himmelsgott spannt den Himmel aus wie eine Zeltplane, baut auf dem Wasser, das über der Zeltplane liegt, seinen Palast, fährt auf den Wolken dahin, scheidet Wasser und Land, stattet die Täler mit Quellen und Bächen aus. Bei solchen Texten muss der Leser stets im Auge behalten: Hier ist nicht von Gott und dem Volk Israel die Rede, sondern von Gott und der von ihm geschaffenen Natur sowie der Menschheit insgesamt. Fällt der Blick auf die Welt der Staaten, so weiß der Prophet Amos um das Wirken des Himmelsgottes im Geschick aller Völker: Er hat Israel aus Ägypten geführt, aber ebenso die Philister aus Kaftor (Kreta) und die Aramäer aus Kir (Am 9,7), ohne dass wir genau wüssten, wo Kir liegt. Der Himmelsgott bestraft nicht nur Israels Nachbarn für ihre Greueltaten, sondern auch Israel selbst. Amos nennt als Untaten den Bruch eines politischen Vertrags (Am 1,9), das Schänden von Gräbern (Am 2,1), das Aufschlitzen von Schwangeren im Krieg (Am 1,13) und die Versklavung zahlungsunfähiger Bauern (Am 2,6); er beruft sich nicht auf Rechtsbücher, sondern orientiert sich, modern gesprochen, am Naturrecht, das für alle Menschen gilt. Diese Konzeption liegt nicht nur dem Buch des Propheten Amos, sondern auch dem Jesajabuch sowie den Weisheitsbüchern (Sprichwörter, Hiob, Kohelet) zugrunde. Die Beziehung Jahwes zum Recht findet in einem Psalm eine besondere mythische Zuspitzung. In Psalm 82 wird Jahwe nicht nur als Wächter über das allgemein gültige Recht, sondern darüber hinaus als einziger Gott inszeniert. Das geschieht im Mythos vom Tod der Götter: »Gott steht in der Götterversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht: Wie lange wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Schafft Recht dem Geringen und der Waise, den Elenden und Bedürftigen verhelft zum Recht. ... Sie wissen nichts und verstehen nichts, im Finstern tappen sie umher, es wanken alle Grundfesten der Erde. Ich habe gesprochen: Götter seid ihr und Söhne des Höchsten allesamt. Doch fürwahr, wie Menschen sollt ihr sterben und wie einer der Fürsten fallen.« (Ps 82,1–7)

Manches bleibt rätselhaft in diesem knappen mythischen Referat, doch soviel ist klar: Der Himmelsgott beruft eine Götterversammlung ein, zu der sich die Götter, seine Söhne, allesamt einfinden. Der Himmelsgott hatte sich zurückgezogen und von der Ausübung der Regierungsgeschäfte entlastet, indem er diese seinen Söhnen

400

6. Kapitel: Gottesglaube

übertragen hatte. Sie sind gleichsam als Gottes Minister tätig, damit beauftragt, die Geringen und Armen zu unterstützen und vor schlechten, ausbeuterischen Menschen zu beschützen. Doch dann hat der Himmelsgott nachgeforscht und musste feststellen: Seine Söhne, die Götter, kommen ihrer Aufgabe nicht ordnungsgemäß nach. Die Götterversammlung wird nun zu einem Gericht, und der Richterspruch des Göttervaters und Himmelsgottes lautet: Ihr müsst sterben! Das bedeutet aber: Es gibt nur noch einen Gott, der nun die Weltregierung selbst in die Hand nimmt. Nirgendwo in der Bibel wird der Übergang von einem polytheistischen zu einem monotheistischen Weltbild klarer ausgesprochen als hier. Der sich anschließende Psalm 83 bekräftigt den Monotheismus: Alle Welt wird erkennen »Herr ist dein Name, du allein bist der Höchste über die ganze Erde« (Ps 83,19). Dennoch regiert der Himmelsgott nicht als einsamer Weltenherr. Er bleibt von Dienern und Helfern umgeben, die er selbst erschaffen hat: »Du bist der Herr, du allein! Du hast den Himmel gemacht, den höchsten Himmel und sein ganzes Heer ... Und das Heer des Himmels wirft sich nieder vor dir« (Neh 9,6). Unklar bleibt, ob mit dem Heer des Himmels die Gestirne gemeint sind oder aber die himmlische Dienerschaft Gottes. Mehr über die himmlische Welt verrät uns das Buch Daniel, das uns einen Blick in das zentrale Büro der himmlischen Weltregierung tun lässt – den Ort, wo alle den Weltenlauf betreffenden Entscheidungen fallen (Dan 7). Mit schneeweißem Gewand angetan, nimmt der hochbetagte, weißhaarige Himmelsgott auf einem fahrbaren Thronsessel Platz. Alle Anwesenden erheben sich. Man setzt sich, Schriftrollen werden aufgerollt. Berichte und Anfragen werden vorgelesen und dem Himmelsgott zur Entscheidung vorgelegt. Dieser erteilt Anweisungen, die irdische Königreiche und königliche Herrschaft betreffen. Dann geschieht etwas Unerwartetes: Auf Wolken schwebt ein menschengestaltiges Wesen herbei, das vom Himmelsgott mit besonderer Machtbefugnis ausgestattet wird. Wer dieses Wesen ist, bleibt verborgen; es mag sich um Judas den Makkabäer oder den Erzengel Michael handeln, eine junge, dynamische, vielleicht kriegerische Gestalt, dem der Weltenherr umfassende Kompetenzen überträgt. Von einem Rückzug des Himmelsgottes von den Regierungsgeschäften verlautet allerdings nichts. Der monotheistische Gott schafft sich Entlastung durch ein differenziertes Herrschaftssystem, das die Delegation von Entscheidungsbefugnis nicht ausschließt. b)

Propaganda

Nicht bei allen biblischen Texten über den Himmelsgott steht die mythische, erklärende und belehrende Funktion im Vordergrund. Bei vielen Texten dominiert der empfehlende, propagandistische Zweck. Das ist der Fall bei einem Prophetenwort, das fast gleichlautend in die Bücher Jesaja und Micha eingefügt ist. Angekündigt wird eine Völkerwallfahrt zum Tempel von Jerusalem, der sich als internationales Heiligtum versteht. Durch seine Priester – so ist der Text zu verstehen – wird der dort residierende Himmelsgott »für Recht sorgen zwischen den Nationen«, die keine Kriege mehr gegeneinander führen und ihre Waffen zu Pflugscharen umschmieden (Jes 2,2–4; Mi 4,1–3). Auf die Schlichtung von Streit bedacht, erinnert das Wort an die Tätigkeit des international anerkannten Orakels des griechischen Gottes Apollon zu Delphi.

§ 27 Gottes Einzigkeit

401

Andere Propagandatexte feiern den Himmelsgott in hymnischer Form und Sprache, so besonders im Buch der Psalmen. Ein Beispiel mag genügen: »Singt dem Herrn, preist seinen Namen ..., Tut kund seine Herrlichkeit unter den Nationen, unter allen Völkern seine Wunder. Denn groß ist der Herr und hoch zu loben, furchterregend über allen Göttern. Denn alle Götter der Völker sind Nichtse, der Herr aber hat den Himmel gemacht.« (Ps 96,2–5 in Auswahl)

Verglichen mit dem höchsten Gott sind alle Götter Nichtse: das ist fast schon Monotheismus. Den endgültigen Schritt tut Deuterojesaja, der Theoretiker unter den Propheten. Er lässt den Himmelsgott sprechen: »Ich bin der Herr, der alles macht, der den Himmel ausspannt, ganz allein, der die Erde ausbreitet« (Jes 44,24). »Ich bin der Herr und keiner sonst, außer mir gibt es keinen Gott« (oder: keine Götter). Jahwe handelt an Israel »damit sie« – die Völker – »erkennen, vom Aufgang der Sonne und von ihrem Untergang her, dass es keinen gibt außer mir. Ich bin der Herr und keiner sonst. Der das Licht bildet und die Finsternis schafft ...« (Jes 45,5–7). Um jeden Zweifel auszuschließen, heißt es: »Vor mir ist kein Gott gebildet worden, und nach mir wird keiner sein« (Jes 43,10); was offenbar besagen soll: Der monotheistische Gott bildet kein Glied einer theogonischen Kette; er hat keinen Vater und keinen Nachkommen. Das ist wiederum ein lehrhaftes Moment, eingemischt in die Propaganda. c)

Geschichte

Wie ist die Himmelsgott-Verehrung nach Jerusalem gelangt? Nicht erst durch David, der diese Stadt erobert hat. Der Himmelsgott besaß in Jerusalem bereits in vor-judäischer Zeit einen Tempel. Der alte Jerusalemer Himmelsgott hieß jedoch nicht Jahwe, sondern vermutlich Schalem, erkennbar im Namen der Stadt Jerusalem. Jahwe mag zunächst ein zweiter, in diesem Tempel verehrter Gastgott gewesen sein, eingeführt, als die Israeliten diese Stadt eroberten und zu ihrer Hauptstadt machten.12 Bald setzte man die beiden Götter gleich – und Jahwe wurde zum Himmelsgott, oder der Himmelsgott zu Jahwe. Besonders in Werken der Spätzeit des Alten Testaments – den Büchern Esra, Nehemia, Chronik und Daniel – wird Jahwe als »Gott des Himmels« bezeichnet.13 Diese Schriften stammen alle von Autoren, die in Jerusalem leben oder denen diese Stadt als das Zentrum ihrer religiösen Welt gilt. Als Beispiel sei Daniel genannt, der in Babylonien lebt und dreimal täglich, nach Jerusalem gewandt, sein Gebet verrichtet (Dan 6,11). Jahwes Position am Himmel hat dazu geführt, ihn als Sonne oder sonnengestaltig zu verstehen, eine Auffassung, die im Text der Bibel mancherlei Spuren hinterlassen hat, beispielsweise in der Bezeichnung Gottes als »Sonne der Gerechtigkeit«

12 Keel, Die Geschichte Jerusalems, 267–276. 13 Esr 1,2; Neh 1,5; 2Chr 36,23; Dan 2,18 u. ö.

402

6. Kapitel: Gottesglaube

(Mal 3,20). Spuren hinterlassen hat Jahwes Sonnengestalt auch in der Bildkunst der Siegelschneider, wenn sie ihn als thronenden Sonnengott Jahwe Zebaot14 (Abb. 2) und als geflügelte Sonnenscheibe (Abb. 3) darstellen. Nach einer verbreiteten Forschungsmeinung hat es in jener Zeit ein anthropomorphes Standbild Jahwes im Jerusalemer Tempel gegeben. Vieles spricht für die Annahme, im Jerusalem der Königszeit (ca. 1000–586 v. Chr.) habe es kein Bilderverbot gegeben.

Abb. 2: Der Himmelsgott von Jerusalem. Angeordnet zwischen Mondsichel (links) und vier Sternen (rechts), symbolisiert das runde, mit einem Bart versehene Haupt des thronenden Gottes die Sonnenscheibe. Die vier Sterne bilden gleichzeitig die rückwärtige Lehne des Thrones. – Althebräisches Stempelsiegel, ca. 700 v. Chr., Rockefeller Museum, Jerusalem. Quelle: Keel, Othmar/Uehlinger, Christoph, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg 1992, 351.

Abb. 3: Geflügelte Sonne. Die geflügelte, mit sechs Lichtstrahlen versehene Sonne schmückt das Siegel. Links und rechts steht das ägyptische Henkelkreuz (anch), das »Leben« bedeutet und auch auf dem Siegel Abb. 2 zu sehen ist: Der Sonnengott spendet Leben. Der Name des Besitzers umrandet die Darstellung in althebräischer Schrift: »Hiskijahu [Sohn des] Ahas, König von Juda«. Wie oft in Inschriften, ist der Ausdruck »Sohn des« weggelassen. – Althebräischer Siegelabdruck, ca. 700 v. Chr., in Privatbesitz. Quelle: Deutsch, Robert, Biblical Hebrew Bullae. The Josef Chaim Kaufman Collection, Tel Aviv 2003, 13.

14 »Jahwe Zebaot«, heute oft als »Herr der Heerscharen« wiedergegeben (Jes 6,3 u. ö.), bedeutet eigentlich »der thronende Jahwe«; vgl. Kreuzer, Zebaot.

§ 27 Gottes Einzigkeit

403

Charakteristisch für den Exodusgott ist seine unmittelbare, durch Befreiung aus Ägypten, Offenbarung seines Willens und Bundesschluss begründete Beziehung zum Volk Israel. Dem Himmelsgott fehlt eine solche Beziehung zum Volk nicht, doch kann von ihr – in der Weisheitsliteratur (Sprichwörter, Hiob, Kohelet) – auch ganz abgesehen werden. Die Beziehung des Himmelsgottes zum biblischen Volk wird als Teil der vom Schöpfergott etablierten Weltordnung aufgefasst. In mythischer Erzählung ausgedrückt: den Völkern wurden im Anbeginn Schutzgötter zugeteilt, und der Himmelsgott nahm das Volk Israel in seine Obhut.15 Insgesamt ist weniger von Gottes Beziehung zum Volk als zum König und zur Stadt Jerusalem die Rede: der Himmelsgott ist Königsgott von Jerusalem und Gott des dortigen Tempels. Erzählerisch entfaltet wird diese Beziehung ausführlich in den Samuelbüchern; in ihnen ist die Nationalerzählung des Südreichs niedergelegt. Der Stellung der Exoduserzählung im Nordreich entspricht die Bedeutung der Davidsgeschichte im Südreich. Beide, König und heiliger Tempelberg, sind im Krönungs-Psalm 2 nebeneinander genannt. »Ich selbst«, spricht der Himmelsgott, »habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg« (Ps 2,6). Die Erwählung des Zionsberges und des Jerusalemer Königs durch den Himmelsgott ist von großer Bedeutung für das Judentum geworden: Jerusalem gilt bis heute als heiliger Ort, und ein vom Himmelsgott erwählter König wird als künftiger Herrscher, als Messias, erwartet.

4.

Die Verknüpfung von Exodus- und HimmelsgottReligion

Dem Himmelsgott eignet gleichsam von Natur aus die Tendenz zum Monotheismus. Die biblischen Zeugnisse über den Himmelsgott lassen sich als Zeugnisse eines evolutionären Monotheismus lesen, der sich im Laufe der Geschichte immer deutlicher zeigt, um in der Perserzeit seine klare und endgültige Artikulation zu finden – besonders im Spott, mit dem über Polytheisten und ihren Bilderkult hergezogen wird (Jes 44,9–20; 46,6–9). Dem Exodusgott wohnt von Anfang an die Tendenz zur Monolatrie inne, die ebenfalls im Laufe der Zeit ihrer selbst bewusst wird. Besonders deutlich tritt sie in jenen Zeugnissen zutage, die von der gewaltsamen Unterdrückung fremder Kulte und Götter handeln. Während wir den Himmelsgott-Monotheismus mit dem Eigenschaftswort »evolutionär« kennzeichnen, können wir im Falle der Monolatrie zum Beiwort revolutionär greifen, weil ihre Befürworter eine revolutionäre Bewegung bilden. Evolutionärer Monotheismus und revolutionäre Monolatrie haben dasselbe praktische Ziel: die Verehrung des einen Gottes. Daher können sich beide miteinander verbünden. Der Zusammenschluss der beiden Gotteskonzeptionen – Himmelsgott und Exodusgott – kennzeichnet das Gottesbild, das dem heutigen Leser, der heutigen Leserin der Bibel geläufig ist. Wie drückt sich der Zusammenschluss in der Bibel selbst aus?

15 Die Erwählung Israels bei der Welterschaffung (Ps 33,12; Jes 43,20; 44,1–2) und der Mythos der Völkerverteilung (Dtn 4,19–20; 32,8–9; Sir 17,17; Dan 10,13.20) werden nur kurz referiert.

404 a)

6. Kapitel: Gottesglaube

Verknüpfung

Die eleganteste und dem Bibelleser vertraute Verknüpfung von Himmelsgott und Exodusgott geschieht durch ihre Zusammenschau in einer einheitlichen Heilsgeschichte, die mit der Erschaffung der Welt beginnt und die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft als integralen Bestandteil enthält. Textlich ist die ausdrückliche Verbindung jedoch nur selten und in Israels Spätzeit zu finden – in frühjüdischen Texten, die frühestens aus dem 6., eher aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. stammen. Das gilt für das Lied »Preiset den Herrn, denn er ist gut«, wo dem Exodus-Referat der Hinweis auf Gottes Schöpfungshandeln vorangestellt wird: »Preiset den Gott der Götter ... der den Himmel in Weisheit gemacht hat ... der die Erde über den Wassern gefestigt hat ... der die Erstgeborenen schlug in Ägypten und Israel herausführte aus ihrer Mitte ... und den Pharao und sein Heer ins Schilfmeer trieb« (Ps 136,2–15 in Auswahl). Je nach Betrachtungsweise erscheint das Exodusgeschehen als Nachspiel der Welterschaffung durch den Himmelsgott, oder die Erschaffung der Welt als Vorspiel des Auszugs aus Ägypten. Ein weiteres augenfälliges Beispiel für die Verbindung beider Gotteskonzeptionen ist der Dekalog, dessen Gebote traditionell in zwei Tafeln gegliedert werden. Auf der »ersten Tafel« kommt der Exodusgott zu Wort: »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. ... Halte den Sabbattag und halte ihn heilig ... Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der Herr, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat« (Dtn 5,6–7.12.15). Durch die Wiederholung unübersehbar ist der Bezug zum Exodus und zum Exodusgott. Davon abgesetzt ist die »zweite Tafel«; sie formuliert ihre Gebote aus der Perspektive des Himmelsgottes, der für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung zuständig ist: »Du sollst nicht töten. Und du sollst nicht ehebrechen. Und du sollst nicht stehlen. Und du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen ... Und du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren ...« (Dtn 5,17–21 in Auswahl). Mit keinem Wort verweist die zweite Tafel auf den Auszug aus Ägypten. Auf diese Weise hat jede der beiden Dekalogtafeln ihr eigenes theologisches Fundament – die erste Tafel den Alleinverehrung fordernden Exodusgott, die zweite den Recht und Gerechtigkeit überwachenden Himmelsgott.16 b)

Geschichte

Wie ist es zur Verknüpfung der beiden Gottesauffassungen, zur Synthese von Exodusgott und Himmelsgott gekommen? Auch darüber kann die historische Forschung Auskunft geben, wenn auch nur versuchsweise.

16 Bemerkenswert ist die Begründung des Sabbatgebots durch die Schöpfungsordnung in der Dekalogfassung des Buches Exodus (Ex 20,11): Hier kommt ein theologisches Motiv zum Tragen, das mit dem Himmelsgott verknüpft ist.

§ 27 Gottes Einzigkeit

405

Nord- und Südreich sind 722 bzw. 586 v. Chr. untergegangen. Nach 722 begann die Exodus-Religion des Nordreichs, im Südreich an Einfluss zu gewinnen, besonders um 620 v. Chr. in der Regierungszeit des Königs Joschija von Juda. Der Untergang des Südreichs 586 bedeutete keinen Traditionsabbruch. Die Erinnerung an den Exodusgott wie an den Himmelsgott wurde weiter gepflegt. Beide Überlieferungen waren offenbar sehr präsent und sehr vital, so dass sie noch weitergedacht und ausgestaltet werden konnten. Dem Himmelsgott wuchs die Geschichte von der Erschaffung von Adam und Eva zu. Dem Exodusgott wurde eine religionsbegründende Offenbarung am Berg Sinai zugeschrieben; die entsprechende Erzählung gilt heute vielen Forschern als ein Werk frommer Fiktion aus dem 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. – ohne dass wir darüber letzte Sicherheit gewinnen können. Die beiden Gottesvorstellungen wurden von Intellektuellen, die wir uns als Schriftgelehrte vorstellen mögen, miteinander verknüpft: Um das religiöse Erbe der alten Zeit möglichst vollständig zu bewahren, haben sie den Schöpfungsmythos des Himmelsgottes und die Befreiungserzählung des Exodusgottes in eine umfassende Großerzählung eingeordnet, die von der Welterschaffung zur Befreiung des Volkes aus Ägypten führt. Die Brücke zur Verknüpfung bot bereits alte Tradition. Schon der Prophet Amos hatte im 8. Jahrhundert beide göttlichen Rollen miteinander verknüpft: Von Himmelsgott und Schöpfung sprach er als Bürger des Südreichs, als im Nordreich auftretender Prophet aber verwies er gleichzeitig auf den Auszug aus Ägypten (Am 2,10; 5,8). Himmelsgott und Exodusgott konnten schon früh als Rollen oder Aspekte des einen Gottes erscheinen. Die Verknüpfung von Himmelsgott und Exodusgott zeugt von Israels großer geistiger Kraft, die in der Perserzeit – unter Verzicht auf die Errichtung eines die Religion stützenden jüdischen Staates – die monotheistische jüdische Religion hervorbrachte. In dieser gilt nun das der polemischen Überlieferung des Nordreichs entstammende Bilderverbot: Der monotheistische Gott entzieht sich bildlicher Darstellung. c)

Folgen

Vereinigungen wie die der beiden Gottesauffassungen lassen sich durch zwei Modelle veranschaulichen: Nach dem einen fließen zwei Flüsse zusammen, um fortan einen einzigen Strom zu bilden; nach dem anderen werden zwei unterschiedliche Sätze von Spielkarten – einer mit deutschem und einer mit französischem Blatt – miteinander vermischt, so dass die Herkunft jeder Karte im kombinierten Satz noch erkennbar bleibt. Zur Veranschaulichung der Verbindung der zwei Gottesvorstellungen kommt nur das Spielkartengleichnis in Betracht, denn Himmelsgott und Exodusgott lassen sich in der biblischen Literatur stets unterscheiden, so dass für den Leser einmal die eine und einmal die andere Gestalt hervortritt. Wenn es in den Psalmen heißt »Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat« (Ps 124,8), dann ist an den Himmelsgott gedacht; wenn es in der Einleitung der Zehn Gebote heißt »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten« (Ex 20,2), dann an den Exodusgott. Auf diese

406

6. Kapitel: Gottesglaube

Weise bleibt das monotheistische Gottesbild stets an einen Mythos oder eine Erzählung geknüpft. Exodusgott und Himmelsgott erscheinen zwar nur noch als Aspekte desselben einen und einzigen Gottes, doch in dessen Charakterbild bleibt das Erbe der Religion des Nordreichs und des Südreichs ungeschmälert erhalten – und erkennbar. Aus dem Erbe des Exodusgottes stammen kriegerische, gewalttätige Züge sowie die Idee des exklusiven Bundes, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat: ein junger, vitaler, zum Zorn neigender, jedem Kompromiss abholder, ungeduldiger Gott! Auf das Erbe des Himmelsgottes gehen göttliches Drängen auf Frieden und Gerechtigkeit ebenso zurück wie die Erwartung eines messianischen Friedenskönigs: ein alter, weiser, weltüberlegener Gott, der Ruhe ausstrahlt und eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen bestrebt ist. Der Exodusgott verlangt von den Menschen eher Treue, Anhänglichkeit, Begeisterung und Liebe als Glaube: Du sollst Gott »lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft« (Dtn 6,5). Dem Schöpfergott wird eher Ehrfurcht und Glaube als Liebe entgegengebracht, ein Gedanke, den das Buch Jona nahelegt. Von Jonas Bekenntnis »Ich fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat« (Jona 1, 9) ist nur ein kleiner Schritt zum Glaubensbekenntnis: »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Die Praxis emotionaler Gottesbeziehung stammt aus der Jahwe-Monolatrie, während sich der intellektuelle Glaube an einen monotheistischen Schöpfer der Welt der Vorstellung vom Himmelsgott verdankt. Emotionale Gottesbeziehung verleiht Sicherheit des Herzens, intellektueller Glaube überzeugt den Geist. So entsteht eine umfassende, bis heute gültige Synthese.

Bibliographie Gonçalves, Francolino J., Deux systèmes religieux dans l’Ancien Testament: de la concurrence à la convergence: Annuaire de l’École pratique des hautes études. Section des sciences religieuses 115 (2006–2007), 117–122. Keel, Othmar, Das Recht der Bilder, gesehen zu werden (OBO 122), Fribourg 1992. Ders., Sturmgott – Sonnengott – Einziger. Ein neuer Versuch, die Entstehung des judäischen Monotheismus historisch zu verstehen: BiKi 49 (1994), 82–92. Ders., Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Göttingen 2007. Kreuzer, Siegfried, Zebaot – Der Thronende: VT 56 (2006), 347–362. Lang, Bernhard, Die Jahwe-allein-Bewegung. Neue Erwägungen über die Anfänge des biblischen Monotheismus: Oeming, Manfred/Schmid, Konrad (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel, Zürich 2003, 97–110. Ders., Le dieu de l’Ancien Testament est-il un dieu jaloux?: Rouillard-Bonraisin, Hedwige (Hg.), Jalousie des dieux – jalousie des hommes, Turnhout 2011, 159–171. Ders., Die Leviten. Von der Gegnerschaft einer alttestamentlichen Priesterzunft gegen Ahnenverehrung und Bilderkult: Ders., Buch der Kriege – Buch des Himmels. Kleine Schriften zur Exegese und Theologie (CBET 62), Leuven 2011, 45–82. Ders., Der Gotteskrieger: Woyke, Johannes (Hg.), Eifer Gottes – Eifern für Gott, Göttingen 2020, 117–151. Liverani, Mario, La Bible et l’invention de l’histoire. Histoire ancienne d’Israël, Paris 2008.

§ 28 Gottes Offenbarung

407

Machinist, Peter, How Gods Die, Biblically and Otherwise. A Problem of Cosmic Restructuring: Pongratz-Leisten, Beate (Hg.), Reconsidering the Concept of Revolutionary Monotheism, Winona Lake, Ind. 2011, 189–240. Niemann, Hermann Michael, Judah and Jerusalem: ZDPV 135 (2019), 1–31. Selms, Adrian van, Temporary Henotheism: Beek, Martinus A. u. a. (Hg.), Symbolae Biblicae et Mespotamicae. Francisco Mario Theodoro de Liagre Böhl Dedicatae, Leiden 1973, 341–348. Weippert, Manfred, Historisches Textbuch zum Alten Testament, Göttingen 2010.

§ 28 Gottes Offenbarung Johannes Klein, Fogarasch/Bern Offenbarung ist der Teil der Kommunikation zwischen Gott und Mensch, der Informationen aus der göttlichen Sphäre in die menschliche überträgt. Das können Informationen über die Zukunft des Handelns Gottes oder über das Wissen, den Willen oder die Erscheinungsform Gottes sein, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie nicht intellektuelle Leistungen aufgrund früherer eigener oder fremder Erfahrungen mit Gott sind, sondern direkte Informationen, die aus der göttlichen Welt in die menschliche einbrechen, unabhängig davon, ob sie durch die Gottheit oder durch Menschen initiiert werden. Der andere Teil der Kommunikation zwischen Mensch und Gott, die Beeinflussung Gottes durch das Gebet oder die Beschwörung, gehört nicht zum Thema Offenbarung, allenfalls das Resultat dieser Beeinflussung, sollte es in die Vermittlung von Informationen münden, die Gott Menschen zuteil werden lässt. Die Bibel, sofern sie Wort Gottes oder »Heilige Schrift« ist, stellt als solche den Niederschlag der Offenbarung Gottes dar. Durch die Kanonisierung ist der Rahmen festgelegt, der Inhalt durch Interpretation und Systematisierung aber immer aufs Neue erhebbar. Deshalb geht die theologische Diskussion immer weiter. Die Bibel besteht aber auch aus der Summe von Einzeloffenbarungen. So offenbart Gott seinen Willen beispielsweise den Erzvätern, die Weisung seinem Volk durch Mose, erklärt Josua, dass er Jericho in seine Hand gegeben hat (Jos 6,2) oder Natan, dass David sich versündigt hat (2Sam 12). Er spricht durch Ahija zu Jerobeam (1Kön 14,7), durch Jehu zu Bascha (1Kön 16,7). Auf der anderen Seite legen Gideon und Jonatan Zeichen fest, an denen sie die Offenbarung Gottes erkennen wollen (Ri 6,36–40; 1Sam 14,8–12). Außer der Befragung Gottes anhand vorher festgelegter Zeichen schweigt die Bibel fast durchgängig über die Methoden, durch die Gott seinen Willen vermittelt. Woran das hängt, ist nicht sicher zu klären; vielleicht liegt es daran, dass die Methoden der Befragung – im Alten Orient übrigens reichlich bezeugt – zur Zeit der Endredaktion der Bibel bereits tabu geworden waren.

1.

Offenbarung im Alten Orient

Noch in neutestamentlicher Zeit waren die Babylonier für ihre Sternkunde berühmt. Die Geburtsgeschichte Jesu nach Matthäus setzt das Wissen um die Stern-

408

6. Kapitel: Gottesglaube

deutungskunst der Babylonier voraus (Mt 2,2). Flavius Josephus meint, dass diese »Wissenschaft« durch Abraham von Babylonien nach Ägypten gelangt sei und später dann von da aus zu den Griechen (Jüdische Altertümer 1,8). Beginnend mit dem 19. Jahrhundert wurden nach und nach Schätze dieser uralten »Wissenschaft« ausgegraben. Im Mesopotamien des 2.–1. Jahrtausends war die Ansicht verbreitet, dass Götter durch ein menschliches Medium, beispielsweise Propheten (āpilu – »Beantworter«, maḫhû̮ – »Ekstatiker«, raggimu – »Rufer«, šāil(t)u – »Frager«, bārû – »Seher«) kommunizieren, im Traum eines Menschen erscheinen oder durch Zeichen (ittu) Weisungen erteilen. Als Methoden der Offenbarungseinholung galten das Werfen von Steinchen oder Stöckchen zur Losermittlung, das Ausstreuen von Mehl, das Beobachten eines in Wasser gegossenen Öltropfens oder der Rauchschwaden angezündeter Aromatika sowie die Eingeweideschau.17 Dazu kommen Propheten/Prophetinnen als Offenbarungsmittler. Charakteristisch für diese ist, dass sie schreien, in Trance verfallen, sich erheben oder sich durch eine symbolische Geste mitteilen.18 Bezeichnend ist, dass diese Verfahren an sich zur damaligen Zeit nie grundsätzlich in Zweifel gezogen worden sind. Wenn Zweifel aufkamen – und das geschah nicht selten –, dann ging es um die Kompetenz der Zeichendeuter.19 Um sich zu vergewissern, dass Propheten nicht falsch weissagten, wurden von ihnen in Mari gelegentlich Haar und Gewandsaum beschlagnahmt, als Symbol, dass man Macht über sie hatte.20 Interessant ist auch, dass die offenbarte Zukunft nur in seltenen Fällen als unumstößlich galt. »Gebet, Opfer und Beschwörungskunst (āšpūtu) gaben dem Menschen Mittel in die Hand, zornige Götter zu besänftigen und sie zu bewegen, ihre Absichten zugunsten der Menschen zu revidieren«.21 Auf diese Weise konnte – so paradox es auch klingt – die Kenntnis der Zukunft die Veränderung derselben bewirken. Und wenn man darin keine Chance mehr sah, konnte man zumindest versuchen, sich selbst durch ein Ersatzopfer zu schützen. Eindrückliches Beispiel dafür war der Ersatzkönigskult. Der assyrische König Asarhaddon (681–669) setzte dreimal für je 100 Tage einen Ersatzkönig ein, wovon einer in der dafür bestimmten Zeit starb; die anderen beiden ließ er töten und durch Staatsbegräbnisse ehren und meinte, sich auf diese Weise vor dem Zorn der Götter zu schützen.22 Obwohl die Wahrsagekunst Prämissen unterlag, die heute eher mit Aberglauben in Verbindung gebracht werden, geht aus den zahlreichen Dokumenten aus Mesopotamien hervor, dass die Methode der Antwortsuche durchaus Kriterien in sich barg, die für wissenschaftliches Arbeiten unabdingbar sind. So wurde etwa die Leber bei einer Opferschau genau nach Katalog protokolliert, so dass die Systematisierung der Zukunftszeichen durchaus objektive Züge tragen musste. Die Opferschau-

17 18 19 20 21 22

Vgl. Pientka-Hinz, Omina, 16. Pientka Hinz, Omina, 54. Maul, Omina, 50. Noth, Bemerkungen 240. Maul, Omina, 46. Von Soden, Orient, 184f.

§ 28 Gottes Offenbarung

409

spezialisten schrieben alle Zeichen auf und wogen dann unter den positiven und negativen Indikatoren ein Ergebnis sorgfältig ab, das in allen Fällen überprüfbar sein sollte. In seinem Buch über die Wahrsagekunst im Alten Orient stellt Stefan Maul die Frage, wie die mesopotamischen Großreiche mit einer an Aberglauben grenzenden Auffassung von Offenbarung erfolgreich sein konnten und antwortet damit, dass die königlichen Wahrsager und Zeichendeuter in Zukunftskommissionen versammelt wurden, in denen die unterschiedlichsten Beobachtungen aus dem ganzen Land wie Zufallsgeneratoren wirkten und auf diese Weise wirkmächtige Reflexionskatalysatoren waren.23 Da aufgrund der Vielzahl an zufälligen Beobachtungen jede denkbare Zukunftsvision angesprochen wurde, gab es intensive Beratungen, in denen alles Mögliche in den Blick kam und dadurch fundierte Entscheidungen getroffen werden konnten.

2.

Termini für Offenbarung im Hebräischen

Das hebräische Wort, das am stärksten mit dem deutschen Wort »offenbaren« übereinstimmt, ist glh. Es leitet sich vom profanen »enthüllen, entblößen« ab.24 Das Verb, das das Erleben einer »Vision« (maḥazeh, Num 24,4) beschreibt, lautet ḥaza, wovon sich die Funktion des »Visionärs« (ḥozæh) ableitet. Für dasselbe kann auch das Verb r’h – »sehen« benutzt werden, und der »Seher« heißt ro’æh (1Sam 9,9). Wenn Jhwh erscheint bzw. gesehen wird, wird das oft mit Hilfe von r’h ni. beschrieben. Wenn Jhwh etwas kundtut, wird dafür die Wurzel ngd hi. verwendet, oder es wird einfach gesagt, dass er »redet« (dbr) oder etwas »sagt« (’mr). Um eine Offenbarung kundzutun, wird gelegentlich »das Ohr geöffnet« (1Sam 9,15; 2Sam 7,27; Hiob 33,16; 36,10.15, vgl. auch Jes 22,14), um zu »hören« (šm‛), oder das »Auge« (Num 22,31; 24,4.16; Ps 119,18; Ps 98,1–4; Dan 2,19), um zu »sehen«. Die Konzeption dieser Dinge ist nicht eins zu eins in die moderne Welt zu übertragen. Das geht daraus hervor, dass »Worte geschaut« werden können (Am 1,1; Jes 2,1).

3.

Offenbarungsinhalte

a)

Gottes Selbstoffenbarung

Gott wendet sich Menschen zu und zeigt sich ihnen. Das kann verschiedene Gründe haben. Bei den Erzvätern Abraham und Jakob handelt es sich um die Selbstvorstellung Jhwhs als deren Gott (Gen 28,13) mit dem Ziel, Vertrauen aufzubauen und die Zukunft über viele Generationen hinweg zu verheißen (Gen 17,1f.; 28,15). Im Exil stellt er sich denen, die ihn befragen wollen, als der Gott vor, der das Volk aus Ägypten geführt hat (Ez 20,5). Herausragendes Beispiel der Selbstoffenbarung ist Ex 3, wo sich Gott Mose gegenüber zunächst in einem Dornbusch sehen lässt, sich 23 Maul, Wahrsagekunst, 302. 24 Zobel, Art. »glh«, 1029; Gesenius, Wörterbuch, 215.

410

6. Kapitel: Gottesglaube

als Gott Abrahams und Jakobs vorstellt und danach seinen Namen mit einem Wortspiel offenbart. Der Gottesname Jhwh wird hier vom Verb hjh – sein abgeleitet. Die Septuaginta deutet den Ausspruch als »Ich bin der Seiende« und gibt so der Offenbarung eine philosophische Komponente. Der Hebräische Text gibt das nicht her. Vielmehr enthält er einen Hinweis auf das Geheimnisvolle, die Unvorhersehbarkeit, Unverfügbarkeit und Spontaneität, ja auf die Fähigkeit, überraschend zu wirken, aber auf jeden Fall da zu sein, wenn es heißt »Ich bin, der ich bin«, oder »Ich werde sein, der ich sein werde«.25 Der Zweck dieser Offenbarung besteht darin, Mose als Volksführer einzusetzen und sein Vertrauen auf die Unterstützung Gottes zu stärken. Von der Selbstoffenbarung Gottes als Jhwh mit dem Hinweis, dass er sich den Vätern als El Schaddaj bzw. »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« offenbart habe, spricht auch Ex 6,2f. Der Zweck dieser Offenbarung ist die Bestätigung der Verheißung Gottes, Israel aus Ägypten zu befreien, und des Beschlusses, Mose als Volksführer zum Pharao zu schicken (Ex 6,6–13). In Hos 13,4 stellt sich Jhwh als der rettende Gott vor, der Israel aus Ägypten befreit hat, und knüpft so an die Exoduserzählung – in welcher Gestalt auch immer – an. An anderen Stellen offenbart Gott, ohne sich selbst vorzustellen, seine Pläne oder den Sinn seines Handelns. Beispielsweise präsentiert er Noah gegenüber seine Enttäuschung, dass die Erde voller Frevel ist, und seinen Beschluss, sie durch eine Sintflut zu verderben. Auch spricht er von einem Bund, der darin besteht, dass Noah seine Familie und von allen Tierarten je ein Paar rettet (Gen 6,12–22). Gott handelt mit Abraham um die Vernichtung von Sodom (Gen 18,16–33). Jakob begleitet er mit Anweisungen auf seinem Weg nach Haran und wieder zurück (Gen 28,13; 31,3.13). Samuel gegenüber legt er seine Pläne bezüglich der Vernichtung des Hauses Eli offen (1Sam 3). Gott erteilt Aufträge. So verlangt er von Abraham, seine Familie und seine Verwandtschaft zu verlassen und ins Land Kanaan zu gehen (Gen 12,1–3), gebietet Samuel, dass er Saul und David salbt (1Sam 9,16; 16,1). Verführung kann dabei mitspielen. In 2Sam 24,2 ist es der Zorn Gottes, der David aufreizt, Israel verbotenerweise zu zählen; in 1Kön 22 ist es ein Lügengeist, der von Gott ausgeht und eine vierhundertköpfige Prophetenschar verführt. In Jes 29,10 ist es ein Geist der Betäubung, der Augen verschließt und Seher verhüllt. Der Auftrag Gottes an Abraham in Gen 22 erweist sich in seiner Intention nur als Probe. Unverständlich ist der Auftrag an Jesaja, das Volk in einer Weise zu warnen, indem alles gesagt, aber nichts verstanden wird (Jes 6). Um seine Macht zu offenbaren, lässt Jhwh Zeichen und Wunder geschehen. Er lenkt die Geschicke der Väter, führt Israel aus Ägypten und durch das Schilfmeer, versorgt das Volk in der Wüste mit Wachteln und Manna, zeigt Gideon Wunder und verschafft Israel militärische Siege gegen die Feinde. Er bewahrt Jerusalem vor Sanherib, straft Juda durch das Exil und lässt sein Volk wieder heimkehren und den Tempel bauen. Als Lenker der Geschichte hat er die Geschicke Israels fest in der Hand und ist in der Schöpfung wiedererkennbar. Wie gewaltig seine Macht 25 Vgl. Dohmen, Mose, 95–105.

§ 28 Gottes Offenbarung

411

auch ist, am ehesten erfahrbar ist er in der Stille (1Kön 19,12), und gesehen werden kann er nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern nur von hinten (Ex 33,23, vgl. auch Gen 16,13).26 b)

Offenbarung der Zukunft

Die Neugier auf die Zukunft hat nichts mit Glauben an Prädestination zu tun. Zwar ist das Ende Sauls und seiner Söhne zur Zeit der Befragung des toten Samuel (1Sam 28) bereits besiegelt, aber gerade dieses Schicksal wird als Folge menschlichen Versagens, sogar als Ausdruck der Reue Gottes (1Sam 15,35) und nicht als ewiger Ratschluss begründet (1Sam 28,18). Die Grundannahme, dass Fehlverhalten zu düsterer Zukunft führen kann, ist die Triebfeder jeder Suche nach Offenbarung. Man möchte Informationen über die Zukunft kennen, um diese danach so beeinflussen zu können, dass sie sich günstig darstellt. Deshalb fragt beispielsweise David, ob die Herren von Keïla ihn an Saul ausliefern werden. Als Gott diese Frage bejaht, zieht David aus Keïla aus, so dass eine Auslieferung nicht mehr möglich ist und Saul seinen Feldzug abbricht (1Sam 23,12f.). Aus ähnlichen Erwägungen heraus begnügen sich die Leute nicht mit dem Orakel, dass David Keïla einnehmen soll, sondern drängen David, auch nach dem Ausgang des Kampfes zu fragen, um für den Fall einer Niederlage den Kampf lieber gar nicht zu beginnen (1Sam 23,1–5). Auf diese Weise ist auch Jes 56,1 zu deuten. Jhwh offenbart das bevorstehende Heil, mahnt aber gleichzeitig Recht und Gerechtigkeit an und vermittelt so, dass das Heil unter Umständen noch verwirkt werden kann. Ähnliche Erfahrungen dürften auch hinter den Texten stehen, die unumstößliche Urteile Jhwhs mitzuteilen scheinen. Wenn Propheten den Untergang Israels oder Judas bedingungslos prophezeien, dann ist dieser durch früheres Verschulden des Volks, vor allem der Könige, begründet. Die Struktur des Richterbuches legt dies nahe, denn hier fallen nach Versündigungen Israels die Feinde in das Land ein, danach steht ein neuer Retter auf, betet für das Volk und befreit es aus der feindlichen Bedrohung, bis dann nach seinem Tod sich das Volk wieder versündigt und das Ganze von vorn beginnt. Dass Propheten sich nicht wohlfühlen, wenn sie düstere Zukunftsbilder verkünden, die durch eine Besserung des Volkes noch verhindert werden können, ist ein Thema, dem sich das Buch Jona widmet. Jona muss lernen, dass Offenbarung des Gerichts vor allem den Zweck erfüllt, Menschen – auch Angehörige anderer Völker – auf den richtigen Weg zu bringen. Dass es auch ein zu spät gibt, gehört ebenfalls zu den biblischen Verkündigungsinhalten. Das ist die schmerzhafte Erfahrung Jesajas bei seiner Berufung (Jes 6). Sein Auftrag ist seltsam paradox. Einerseits soll er predigen, andererseits soll er das so tun, dass das Gepredigte nicht wahrgenommen wird, bis alles zerstört ist. Wenn eine offenbarte Zukunft unter Umständen noch wandelbar ist, lohnt es sich, Methoden zu entwickeln, düstere Zukunftsbilder aufzuhellen. Außer ernsthaf-

26 Vgl. Oeming, Offenbarung.

412

6. Kapitel: Gottesglaube

ten moralisch-ethischen Bemühungen als Befolgung prophetischer Forderungen kommen auch Tricks in Frage. Die Geschichte um Micha ben Jimla (1Kön 22) zeigt im Gegensatz zum mesopotamischen Glauben an die Wirksamkeit des Ersatzkönigsrituals, dass das nicht geht. Der israelitische König Ahab kann sich nicht dadurch retten, dass er sich im Krieg verkleidet und daran denkt, seinen judäischen Kollegen Joschafat in den Tod zu schicken. Da der Tod Ahabs zum göttlichen Plan gehört (vgl. 1Kön 21,19), trifft ihn trotz Tarnung ein zufällig abgeschossener Pfeil. Interessant ist in dieser Geschichte, dass Jhwh seinerseits einen Trick anwendet. Er hatte einen Lügengeist ausgesandt, um die Propheten zu bewegen, fälschlicherweise einen positiven Ausgang des Krieges zu prophezeien. Dass bereits feststehende göttliche Urteile, wenn Menschen ihnen widerstreben, durch Tricks durchgesetzt werden können, geht auch aus der Geschichte Jakobs hervor. Rebekka holt bei der Geburt ihrer Söhne ein Orakel ein, aus dem hervorgeht, dass der ältere dem jüngeren dienen wird (Gen 25,23). Nachdem der blinde Isaak traditionsgemäß den älteren Esau segnen will, zettelt Rebekka den Betrug an, durch den schließlich der jüngere Jakob ganz orakelgemäß gesegnet wird und der Erstgeborene fast leer ausgeht (Gen 27). Offenbarung von Schuld in der Vergangenheit bezieht sich durch die Gerichtsproblematik auch auf die Zukunft, vor allem durch ihren Zweck, die Gesinnung der Menschen zu verändern. In der Bibel ist Noah der erste, dem Gott die Sündhaftigkeit der Menschen offenbart, gleichzeitig mit seinem Beschluss, diese zu vertilgen, und dem Angebot, Noahs Familie und die Tierwelt zu retten (Gen 6,13–22). Auch zur Zeit Abrahams gibt es Gericht, diesmal gegen Sodom und Gomorra, wobei Lot gerettet wird (Gen 18,17–19,24). In 1Sam 2,27–36 legt ein Gottesmann die Schuld des Hauses Eli offen und prophezeit den Untergang. Durch die Schriftpropheten Amos, Hosea, Micha, Jesaja, Jeremia u. a. kommt sehr häufig Schuld in der Vergangenheit zur Sprache und wird verknüpft mit Gerichtsaussagen für die Zukunft. Charakteristisch für die Exilszeit ist die Offenbarung einer heilvollen Zukunft. Sie dient dem Zweck, durch Vermittlung von Hoffnung positive Kräfte zu mobilisieren (Jes 40,1–5). In der nachexilischen Tempelbauzeit unterstützen Propheten die Projekte des Wiederaufbaus in der Gegenwart und in der Zukunft. c)

Offenbarung der Tora

Nach Dtn 5,4 hat Jhwh auf dem Berg Sinai von Angesicht zu Angesicht mit dem Volk Israel aus dem Feuer gesprochen. Die Tora gilt als von Gott Mose diktiert und gehört zum Zentrum der Identität Israels, ist im Unterschied zur prophetischen Offenbarung, die für eine bestimmte Situation gilt, zeitlich unbegrenzte, ewige Offenbarung (Dtn 29,28). Um zu erkennen, dass sie wundervoll ist, bedarf es geöffneter Augen (Ps 119,18). Als Zentrum der Toraoffenbarung gilt die Enthüllung der Zehn Gebote, die durch eine Theophanie eingeleitet wird (Ex 18–20, vgl. Dtn 5), in weitere Weisungen mündet (Ex 24; 33–34), die vom Volk einstimmig akzeptiert werden (Ex 24,3), ja zu einem Bundesschluss führt (Ex 24,7-8), der im Dtn breite Entfaltung erfährt. Hosea prophezeit seinem Volk Gericht, weil es sich gegen die Gebote auflehnt (Hos 8,1).

§ 28 Gottes Offenbarung

4.

413

Offenbarungsmedien

Für alle Offenbarung ist das Wort zentral, denn Jhwh »ist der redende Gott schlechthin«.27 Spätestens bei der Weiterleitung an Menschen muss sie in Worte gefasst werden. Habakuk erhält den Auftrag, das Geschaute aufzuschreiben (Hab 2,2). Worte können aber auch direkt geschaut werden (Gen 15,1; Am 1,1; Jes 2,1), und Gott kann in einer Schauung reden (Ps 89,20). Bileam definiert seine Rede als »Spruch des Mannes mit offenem Auge« (Num 24,3f.). Jesaja sieht den Herrn und hört seine Stimme (Jes 6,1.8, vgl. auch 21,1f.). Ezechiel sieht die Gestalt der Herrlichkeit Jhwhs und hört die Stimme von einem, der redet (Ez 1,28f.). Hiob sieht ein Bild und hört das Flüstern einer Stimme (Hiob 4,16), Daniel hat eine Vision und hört eine Menschenstimme über dem Ulai (Dan 8,13–16), schaut Gabriel, der ihn verstehen lässt und mit ihm redet (Dan 9,21–23). Sehr oft wird lediglich gesagt, dass Gott zu den Offenbarungsempfängern spricht. Wie er dies tut, bleibt meist im Dunkeln. Nur manchmal wird ein Medium angegeben oder die Umstände, unter denen solches Sprechen geschieht. In 1Sam 28,6 werden drei mögliche Medien genannt, durch die Jhwh auf die Befragung Sauls hin nicht geantwortet hat: Träume, Orakel (Urim) und Propheten. Wahrscheinlich hat der Autor dieses Verses gemeint, dass diese drei Medien legale Befragungsformen darstellen. Eine vierte – sogar effiziente – Möglichkeit wird dann in der Geschichte selbst geschildert: die Totenbeschwörung. Diese sorgt dann allerdings für einen gewissen Ärger bei dem befragten Toten (28,15).

a)

Traum

Zu Abimelech spricht Gott im Traum (Gen 20,3.6). Auf seiner Flucht nach Haran träumt Jakob eine Stiege, auf der die Engel auf- und absteigen; ganz oben steht Gott und verheißt ihm Land, Nachkommen und Segen (Gen 28,12–15). Bei seiner Rückkehr träumt er wieder und erhält den göttlichen Auftrag, in das Land seiner Verwandtschaft zurückzukehren (31,11–13). Gott erscheint auch Laban und weist ihn an, freundlich mit Jakob umzugehen (31,24). Die Träume Josefs erscheinen im Kreis seiner Familie zunächst als narzisstische Äußerungen des Selbst (Gen 37,8.10). Doch Josef kann später das Schicksal eines Bäckers und eines Mundschenks anhand deren Träume vorhersagen (Gen 40). Danach hilft er dem Pharao, zwei Träume zu deuten und Ägypten vor einer lange währenden Hungersnot zu retten (Gen 41). Selbstverständlich ist auch hier, dass Gott – diesmal in Bildern, die erst noch zu deuten sind – durch die Träume spricht. Blickt man am Ende der Josefsgeschichte auf die Träume Josefs zurück, dann erscheinen sie als erfüllt: Die ganze Familie hat sich – so wie im Traum – vor Josef verneigt.

27 Lang, Redender Gott, 181.

414

6. Kapitel: Gottesglaube

Daniel (vgl. Dan 2) übertrifft Josef in der Traumdeutungskunst. Er kann mit Hilfe Gottes sogar den Traum Nebukadnezars erfahren, diesen mitteilen und anschließend deuten. Träume figurieren hier als objektive Mitteilungen Gottes, die nicht mehr an die Subjektivität des Träumenden gebunden sind. Die Traumdeutungskunst als Beweis göttlicher Nähe, die Zukunftswissen und besondere Fähigkeiten für die Beratung des Herrschers bewirkt, führt Daniel ähnlich wie Josef zu einem Karierresprung. In der Folge wird Daniel noch einen weiteren Traum Nebukadnezars deuten (Dan 4) und einen eigenen apokalyptischen Traum haben (Dan 7). Zu Bileam und Samuel spricht Gott in der Nacht, möglicherweise im Traum (Num 22,20 ; 1Sam 3,1–11), von Nachtgesichten ist bei Sacharja die Rede (Sach 1,7–6,8). Auch die Feinde Israels träumen. Gideon belauscht seine Gegner, erfährt anhand der Schilderung eines Traumes und dessen Deutung den Ausgang der Schlacht und fällt anbetend nieder (Ri 7,13–15). Salomo erscheint Gott nicht nur im Traum, sondern die beiden führen ein regelrechtes Gespräch, in dem Salomo um ein gehorsames Herz bittet und ein weises Herz, Reichtum und Ehre erhält (1Kön 3,5–13). In der Bibel finden sich auch kritisch abwertende Urteile über Träume. Jeremia spricht von prophetischen Lügen, die auf Träumen gründen (Jer 23,25–28) und mahnt, dass das Gotteswort ausschlaggebend sei. Nach Dtn 13,2–6 ist ein Traum nicht die Garantie für die Qualität eines Gottesworts. Er kann sogar zum Abfall von Gott führen und stellt dann eine Versuchung dar. b)

Repräsentanzen Gottes

Gelegentlich offenbart Jhwh sich oder seinen Willen vermittels seiner Repräsentanzen. Jakob kämpft mit einem ominösen Mann in der Nacht (Gen 32), drei Männer kommen zu Abraham und verheißen ihm einen Sohn im Namen Gottes (Gen 18), Mose offenbart die Macht Jhwhs durch die Bundeslade (Num 10,33–35), ein Mann mit einem Schwert erscheint Josua und stellt sich als Heerführer Jhwhs vor (Jos 5,13f.). Die Philister haben Angst, dass Gott durch die Bundeslade seine Macht erweist (1Sam 4,6f.). David spricht davon, dass der Geist Jhwhs durch ihn redet (2Sam 23,2). Ein guter und ein böser Geist haben entgegengesetzte Wirkungen auf das Verhalten Sauls. Hagar erscheint der Engel (wörtlich: »Bote«) Jhwhs und verheißt ihr einen Sohn und viele Nachkommen (Gen 16,7–11; 21,17). Lot wird von Engeln vor dem Untergang gerettet (Gen 19), ein Engel schreit zweimal zu Abraham, dass er seinen Sohn nicht töten solle (Gen 22,11). Mose erscheint ein Engel im Dornbusch (Ex 3,2–4). Später zeigt ein Engel dem Volk Israel den Weg (Ex 14,19; 32,34; 33,2). Israel wird verheißen, dass ein Engel es begleiten, behüten und an den Ort bringen werde, den Jhwh ihm bereitet hat (Ex 23,20–23). Ein Engel versucht über die Eselin, Bileam daran zu hindern, Israel zu verfluchen (Num 22,23–30), und offenbart sich danach auch Bileam (V. 31–35). Ein Engel weist Gideon an, Fleisch und ungesäuerte Brote auf einen Felsen zu legen, die danach durch ein Feuer aus einem Felsblock verzehrt werden (Ri 6,11–23). Ein Engel Jhwhs verheißt der Frau des Manoach die Geburt

§ 28 Gottes Offenbarung

415

eines Sohnes, bespricht Details mit den beiden und verschwindet in der Altarflamme (Ri 13). Elija wird von einem Engel geweckt und ermutigt, zu essen und sich für den Weg zu bereiten (1Kön 19). Später sendet ihn der Engel zum König von Israel, ihm das Todesurteil zu verkünden (2Kön 1). 185.000 Krieger aus Assur werden von einem militärisch wirkenden Engel erschlagen (2Kön 19,35; Jes 37,36). Als Engel Jhwhs wird Haggai bezeichnet (Hag 1,13), ein Engel Jhwhs spricht durch Sacharja (Sach 1,9–14; 2,7 usw.), Maleachi verkündet das Kommen des Engels Jhwhs (Mal 3,1). Auch in den Psalmen ist immer wieder von Engeln Jhwhs die Rede (Ps 34,8; 35,5f.; 91,11; 104,4; 148,2). Offenbar wird auch Gottes Herrlichkeit (kābôd). Am Sinai erscheint sie wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges (Ex 24,17). Mose darf sie in besonderer Weise sehen (Ex 33,18–23), was bedeutet, dass er seine Güte an Mose vorüberziehen lässt und den Namen Jhwhs ausruft: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich«. Die Herrlichkeit Jhwhs erfüllt das Zelt der Begegnung (Ex 40,34) und erscheint vor ihm dem ganzen Volk (Lev 9,23; Num 14,10; 16,19; 17,7). Wer sie in der Wüste zehn Mal gesehen hat und nicht auf die Stimme Jhwhs hört, darf das Land Israel nicht schauen (Num 14,22f.). Im Land Israel erfüllt sie den Tempel (1Kön 8,11) und wohnt da (Ps 26,8). Seraphim verkünden sie im Tempel (Jes 6,3). Der Himmel erzählt oder verkündet sie (Ps 19,2; 97,6). Der Beter in Ps 57,6.12 fordert Gott auf, die Herrlichkeit über den Himmel und die ganze Erde zu erheben. Jhwh demonstriert seine Herrlichkeit an dem verstockten Pharao (Ex 14,4.17). Auch seinem Volk zeigt er seine Herrlichkeit durch das Wunder des Manna und der Wachteln (Ex 16). Ezechiel sieht am Fluss Kebar die Herrlichkeit Jhwhs (Ez 1,28; 3,23; 8,4; 11,22–25; 43) und beschreibt diese im Detail (Ez 1). Deuterojesaja prophezeit den Menschen im Exil, dass sich die Herrlichkeit Jhwhs offenbaren wird (Jes 40,5), Tritojesaja prophezeit die Erscheinung der Herrlichkeit dort, wo Finsternis die Erde bedeckt (Jes 60,1f.). Das Gesicht Jhwhs werden die Aufrichtigen schauen (Ps 11,7). Der Beter von Ps 17,15 wünscht sich, das Gesicht Gottes in Gerechtigkeit zu schauen. Der Beter von Ps 27,4 möchte im Tempel die Freundlichkeit Jhwhs schauen, der Beter von Ps 46,9 fordert auf, die Taten Jhwhs zu schauen, jener von Ps 63,3 schaut Jhwh im Heiligtum und sieht seine Macht und Herrlichkeit. Das Besuchen des Kultorts wird gleichgesetzt mit dem Sehen des Gesichts Jhwhs (1Sam 1,22; Ps 42,3; 84,8; Jes 1,12). c)

Vision

Offenbarung kann einen visuellen Akt bedeuten. Bileam bezeichnet sich als einen, der Gottesworte hört und die Offenbarung Schaddajs schaut (Num 24,4.16). Samuel (1Sam 9,10), Gad (2Sam 24,11) und Amos (Am 7,12) werden als Visionäre bezeichnet, die Prophezeiungen von Samuel (1Sam 3,1), Natan (2Sam 7,17) und Hosea (Hos 12,11) als Visionen. Jhwh lässt Elischa sehen, dass Hasaël König über Aram wird (2Kön 8,9–13). Micha ben Jimla sieht Israel auf den Bergen wie Schafe ohne Hirten (1Kön 22,17) und Jhwh auf seinem Thron vom himmlischen Heer umgeben (1Kön

416

6. Kapitel: Gottesglaube

22,19). Bileam stellt sich vor als »Mann, dem die Augen geöffnet sind« (Num 24). Jesaja sieht Jhwh auf seinem Thron mit seinem Saum den Tempel ausfüllend, dazu Serafen mit sechs Flügeln, die sich zurufen »Heilig, heilig, heilig, ist Jhwh Zebaot, alle Länder sind seiner Herrlichkeit voll« (Jes 6,1–3). Jeremia sieht bei seiner Berufung einen Mandelbaum und einen überkochenden Kessel (Jer 1,11–13), die dafür stehen, dass Jhwh über seinem Wort wachen und dass Unheil aus dem Norden hereinbrechen wird. Gemäß Jer 4,23–31 sieht der Prophet eine öde Erde und wankende Berge, niedergerissene Städte und wüste Baumgärten als Veranschaulichung der Zukunft Israels. Später sieht er je einen Korb mit guten und schlechten Feigen und erfährt von Jhwh, dass die guten Feigen für die Verbannten stehen, die schlechten für die im Land Verbliebenen (Jer 24,1–10). Aus dem letzten Beispiel geht hervor, dass eine Vision selbst noch nicht Klarheit über die Zukunft schafft, sondern noch ausgelegt werden muss, und dass dabei Jhwh durch sein Wort beteiligt sein kann. Bei seiner Berufung sieht Ezechiel einen Thronwagen, den er mit vielen Details beschreibt (Ez 1). Daraufhin sieht er eine ausgestreckte Hand mit einer Schriftrolle, auf der Klagen, Seufzer und Weherufe stehen (Ez 2,8f.), die er essen, danach sich aufmachen und zu Juda sprechen soll (Ez 3). Später sieht er die Herrlichkeit Gottes und Abscheulichkeiten Judas (Ez 8, vgl. auch Ez 44). Bald darauf kehrt die Thronwagenvision in etwas veränderter Form wieder (Ez 10), und er spricht zu den Verbannten »Worte«, die Jhwh ihn hat sehen lassen (Ez 11,25). In Kap 37 sieht er ein Knochenfeld, wo sich aufgrund seiner Weissagung die Knochen aufrichten. Später sieht er als Gerichtsvision einen Mann mit einer Messschnur (Ez 40). Amos hat eine dreifache Vision. Zweimal tut das geplante Unheil Jhwh leid, das dritte Mal verkündet sein Prophet die Verwüstung Israels (Am 7). Darauf sieht er einen Korb mit reifem Obst als Symbol dafür, dass Israel reif für das Ende ist (Am 8). Schließlich erblickt der Prophet Jhwh, wie er über dem Altar steht und Gericht über Israel spricht (Am 9). Sacharja ist für seine nächtlichen Visionen (1,8f.; 2,1–5; 3,1; 5,1; 6,1) berühmt, und Daniel wird in einer Schauung eines Geheimnisses gewahr (Dan 2,19). Hiob grübelt und meditiert über Träume und nächtliche Schauungen (Hiob 4,13; 7,14; 33,14–16). d)

Ekstase

Die Hitpael-Form des Verbs naba’ – »prophezeien« bedeutet »in Ekstase geraten«. Die Erzählung der Salbung Sauls scheint so konzipiert zu sein, dass die Lesenden und Hörenden sich darüber freuen, dass Saul unter den Propheten ist und in Ekstase gerät (1Sam 10,6.10); das Blatt wendet sich jedoch in 1Sam 19,18–24, wo die Frage: »Ist auch Saul unter den Propheten?« mit eher ironischem Anklang wiederholt wird. Umstritten ist die Wertung der Ekstase auch im Numeribuch. Nachdem Jhwh für die Erledigung aller anfallenden Aufgaben siebzig Älteste eingesetzt und den Geist zu ihrer Unterstützung geschickt hat, gerät der Geist auch auf Eldad und Medad, ohne dass diese jedoch vor die Stiftshütte getreten waren. Als die beiden

§ 28 Gottes Offenbarung

417

in Ekstase geraten, beschwert sich Josua bei Mose über sie und fordert ihn auf, ihnen zu wehren. Mose sieht in der Ekstase aber kein Problem, im Gegenteil, er wünscht sich, dass alle im Volk Jhwhs Propheten wären (Num 11,26–30). e)

Befragung und Gottesurteil

Rebekka leidet unter ihrer Schwangerschaft so sehr, dass sie in ihrer Verzweiflung Jhwh befragt. Ihre Kinder werden Nationen vertreten, die miteinander kämpfen (Gen 25,22–23), erfährt sie. Am Ende des Richterbuchs wird von einer Befragung berichtet, in der die Bundeslade eine Rolle spielt (Ri 20,23–28). David befragt Jhwh häufig (1Sam 23,2–4; 30,7; 2Sam 2,1; 5,19–23) und holt den Priester Abjatar mit dem Efod zu sich ins Lager (1Sam 23,6). Eine der herausragenden Methoden der Befragung ist das Losorakel, die sogenannten Urim und Tummim, die im Efod (Priestergewand oder Orakeltasche) aufbewahrt wurden. Nach Dtn 33,8 war das Losorakel den Leviten anvertraut. Anscheinend trug Ahija einen Efod bei seiner abgebrochenen Befragung in 1Sam 14,3.18. Orakelt wurde nach Schuldigen an einer militärischen Niederlage; gefunden wurde auf diese Weise der Dieb Achan (Jos 7) und der Retter Jonatan; beide wurden zum Tode verurteilt, letzterer aber vom Volk losgekauft (1Sam 14, bes. V. 41f. LXX). Als König ausgelost wurde Saul (1Sam 10,20–24). Befragungen konnten auch scheitern, wenn Jhwh nicht antwortete (1Sam 14,37). Obwohl vor allem in den Erzähltexten das Orakel oft mit dem Gotteswort gleichgesetzt wird, gibt es auch kritische Stimmen zu dieser Praxis: eher verdeckt noch in 1Sam 10,27, wo nur die Gegner Sauls an dem Resultat des Losverfahrens zweifeln, während die Linie der Erzählung das Resultat unterstützt; etwas deutlicher in 1Sam 14, wo sich das Volk gegen Saul durchsetzen kann und Jonatan vom durch das Losorakel bestimmten Todesurteil freikauft (14,45). Entschieden kritisch spricht sich Hos 4,12 aus: Das Volk befrage ein Holz und erhalte Antwort von einem Stab – und werde dabei vom Geist der Hurerei verführt. In 1Sam 28 wird zunächst berichtet, dass Saul die Wahrsager und Totenbeschwörer des Landes verwiesen hat. Danach appelliert er allerdings selbst an diesen Dienst und erhält eine korrekte Antwort, wenn auch von einem etwas unmutigen Samuel. Die negative Antwort kann nicht als direkte Reaktion auf die Illegalität der Totenbeschwörung ausgelegt werden, denn sie stand vorher schon fest. Vielmehr scheint die Totenbeschwörung hier die einzige und letzte Möglichkeit für Saul zu sein, mit Gott überhaupt noch in Kontakt zu treten (vgl. 1Sam 28,6). Auch wird die Beschwörung nicht als etwas Irreales, auf Aberglauben Beruhendes, sondern als durchaus konsistente Befragungsmöglichkeit angesehen. Neben der Totenbeschwörung gibt es auch noch andere illegale Praktiken der Befragung Gottes wie Feuerprobe, Wahrsagerei, Hellseherei, geheime Künste oder Zauberei (Dtn 18,10, vgl. 2Kön 16,3; 17,17; 21,16; 23,10; 2Chr 33,6; Jer 32,35; Ez 20,26.31). An einer einzigen Stelle ist im Alten Testament eine Methode beschrieben, wie in einem Streitfall ein Gottesurteil einzuholen ist. Es handelt sich um ein Verfahren

418

6. Kapitel: Gottesglaube

zur Ermittlung eines Ehebruchs in Num 5. Die für moderne Menschen schwer nachvollziehbare Prozedur rechnet damit, dass durch die Verabreichung einer bestimmten Flüssigkeit eine eventuelle Versündigung offenbar wird. Alle anderen – im Alten Orient im Detail beschriebenen – Prozeduren von Ordalen sind nicht biblisch.

5.

Kriterien der Beurteilung von Offenbarung

Viele Erzählungen im Alten Testament suggerieren dadurch, dass so unverblümt davon die Rede ist, dass Gott zu Menschen spricht, dass es sich bei der Offenbarung um eindeutige Botschaften oder klar interpretierbare Ereignisse handelt. Die Erzählungen, aus denen hervorgeht, dass dies nicht sicher ist, sind in der Minderheit, aber prägnant. Zunächst erscheint der Tatbestand wichtig, dass in 1Kön 18 und 22 Skepsis gegenüber einer Prophetenmenge suggeriert wird, die einstimmig etwas Bestimmtes behauptet. Ferner geht aus 1Kön 22 nicht hervor, dass die falschen Propheten absichtlich die Unwahrheit prophezeien, sondern sie werden durch einen von Jhwh gesandten Lügengeist verblendet. Sie können gar nicht anders als falsch prophezeien, denn die falsche Prophetie gründet sich auf eine bereits verfälschte Offenbarung, die dem Zweck dient, den König in die Irre zu führen. Ganz verfälscht ist sie dann aber doch nicht, denn einer der Propheten, Micha ben Jimla, prophezeit richtig und enthüllt die Hintergründe, und zwar so, dass der König die wahre Botschaft versteht. Da dieser aber meint, sein Schicksal durch Verkleidung austricksen zu können, geht er in den Tod. Auch dem Denken des Micha aus Moreschet liegt es fern, dass Prophezeiungen frei erfunden werden können, selbst wenn er von Propheten spricht, die je nach Lohn bald Frieden verkünden, bald den Krieg für heilig erklären und dadurch das Volk in die Irre führen (Mi 3,5f.). Denn er prophezeit ihnen, dass sie keine Schauungen mehr haben werden und es finster um sie werden wird, als ob es selbstverständlich wäre, dass es keine – selbst falsche – Prophezeiungen ohne Schauungen geben kann. Ähnliches sagen auch Ezechiel und Sacharja, wenn sie davon sprechen, dass Propheten und Wahrsager Nichtiges und Lüge schauen und diese zu Unrecht auf Jhwh beziehen (Ez 13,6–9; Sach 10,2). Es scheint so etwas wie ein Prophetenethos zu geben, das davon ausgeht, dass Prophezeiungen nur aufgrund tatsächlich erfolgter Visionen möglich sind. Dies dürfte auch in Jes 30,9 vorausgesetzt sein, wenn von Israeliten die Rede ist, die den Sehern befehlen, nichts zu sehen oder Schmeichelhaftes oder sogar Täuschungen zu erschauen, oder bei Sacharja, der prophezeit, dass Propheten sich für ihre Schauungen schämen werden (13,4). Anders scheint die Situation bei Jeremia zu sein, wenn er anprangert, dass Propheten selbst ersonnenen Betrug prophezeien (Jer 14,14; vgl. auch Jer 23,16). Allerdings ist auch hier von Lügenschauung die Rede, sind also möglicherweise reale Visionen vorausgesetzt, die aber nicht auf Jhwh zurückgehen. Immer wieder wird von Wundern erzählt, die die Zuverlässigkeit von Offenbarung unterstützen. Beispielsweise kann das Wunder mit der Wolle angeführt werden, das Gideon in zweifacher Ausfertigung fordert, um Gewissheit über die Authentizität der göttlichen Botschaft zu erhalten (Ri 6,36–40). Schon hier offenbart

§ 28 Gottes Offenbarung

419

sich der grundsätzliche Zweifel an der Aussagekraft der Wunder, sonst würde Gideon schon der ersten Variante des Wunders Glauben schenken und nicht eine Wiederholung mit umgekehrten Vorzeichen fordern. Dass Wunder kein Beleg für die Richtigkeit von Offenbarung sind, geht auch aus der Auszugsgeschichte hervor. Was Aaron vor dem Pharao mit seinem Stab tut, gelingt auch den Zauberern und Wahrsagern des Pharaos (Ex 7,10–14). Die Tatsache, dass der Stab Aarons die ägyptischen Stäbe verschlingt, zeigt zwar die Überlegenheit Jhwhs, beweist aber nicht grundsätzlich die Aussagekraft von Wundern als Beleg für Offenbarung. So fühlt sich der Pharao auch nur herausgefordert, seine eigene Macht zu demonstrieren, was von Jhwh als Verstockung gedeutet wird. Ähnliches geht auch aus der Rede des Rabschake in 2Kön 18,19–25 hervor. Während Hiskija auf Jhwh vertraut, dass er ihn vor den Feinden beschützen wird, fragt der Rabschake rhetorisch, ob er denn gegen den Willen Jhwhs gehandelt habe. Sowohl Hiskija als auch der Rabschake scheinen sich der Unterstützung Jhwhs gewiss zu sein. Wie kann ein Zeitgenosse entscheiden, wem er Recht geben soll? Die biblischen Autoren wissen es: Hiskija, weil er einer der wenigen guten Könige ist. Grundlegend nicht anders verhält sich die Situation während des Kampfes von Elija mit den Baalspropheten auf dem Karmel (1Kön 17–18). Zwar erweist sich im Sinne des Erzählduktus Jhwh als alleiniger Gott durch das Wunder, das dort geschieht, und das gibt Elija die Möglichkeit, die Baalspropheten zu töten, aber letztlich scheint dieses Ereignis die Gegenseite nicht zu überzeugen, vielmehr zur Rache herauszufordern. Isebel wird Elija verfolgen, und der flieht um sein Leben (1Kön 19,1–3), und das – gemäß biblischer Schilderung – nach einem so herrlichen Sieg. In den biblischen Erzählungen ist Jhwh immer der Sieger, und die Figuren stehen oft auf der guten oder bösen Seite. Die Rezipierenden der biblischen Texte werden so gelenkt, dass sie sich schon während des Verlaufs der Erzählung auf der Seite Jhwhs positionieren können. Für die Zeitgenossen der Ereignisse war das sicherlich nicht so einfach. Das belegt beispielsweise der Streit zwischen Jeremia und Hananja (Jer 28). Beide Propheten beanspruchen durch Zeichen, die Zukunft richtig vorauszusagen. Recht kann natürlich nur einer haben – und die Lesenden ahnen es: das muss Jeremia sein, denn sie lesen im Jeremiabuch. Aber warum sollte nicht Hananja Recht haben? Die Zukunft erweist im Nachhinein, dass Jeremia tatsächlich richtig geweissagt hatte. Und deshalb wird sich als ein wichtiger Maßstab für die Beurteilung von Offenbarung die Erfüllung oder Nichterfüllung in der Zukunft erweisen (Dtn 18,22). Dieses Kriterium erscheint plausibel, zumindest im Rückblick. Aber es nützt nicht viel in der Situation, in der die Zukunft offenbart wird, denn da gibt es den Rückblick noch nicht. In der Suche nach Kriterien, Offenbarung zu beurteilen, sind auch andere Gedanken geäußert worden. Jer 28,9 deutet an, dass sich das Kriterium der Erfüllung nur auf die Heilsprophetie bezieht. Möglicherweise war die Gerichtsprophetie von diesem Kriterium ausgenommen. So zumindest schien man zu Beginn der Exilszeit anzunehmen, nachdem zahlreiche Propheten Heil angekündigt hatten und Unheil gekommen war. Aber bald danach fingen doch wahre Propheten wieder an, Heil zu verkündigen, wie Ezechiel und Deuterojesaja. Deshalb scheint ein anderes Kriterium überzeugender zu sein: Über die Ausschließlichkeit Jhwhs kann sich kein Prophet in Israel hinwegsetzen. Weist ein Prophet auch Zei-

420

6. Kapitel: Gottesglaube

chen und Wunder vor und mahnt, anderen Göttern zu folgen, dann kann das nur eine Versuchung sein, der man nicht folgen darf (Dtn 13,2–4). Mit Ausnahme des Kriteriums der Ausschließlichkeit Jhwhs bleibt die Beurteilung von Offenbarung eine Schwierigkeit, die kaum grundsätzlich gelöst werden kann. Deshalb führen die biblischen Verfasser ihre Adressaten zielsicher durch die konkreten Gegebenheiten, um sie nicht orientierungslos werden zu lassen. Offenbarung ist ein wichtiges Thema der Bibel, es fordert heraus zu ständigem Nachdenken und neuem Überdenken des Gedachten, so dass sich bis heute auch die »Offenbarung« erfüllt, dass das Büchermachen kein Ende hat (Koh 12,12).

Bibliographie Böck, Barbara, Die babylonisch-assyrische Morphoskopie (AfO Beiheft 2), Wien 2000. Dohmen, Christoph, Mose. Der Mann, der zum Buch wurde (BG 24), Leipzig 2011. Falkenstein, Adam, »Wahrsagung« in der sumerischen Überlieferung: La divinacion en Mésopotamie ancienne et dans les régions voisines (CRRA 14), Paris 1966, 45–68. Gesenius, Wilhelm, Hebräisches und Aramäisches Wörterbuch über das Alte Testament, Heidelberg 182013. Jeremias, Jörg, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung (WMANT 10), Neukirchen-Vluyn 1965. Ders., »Wahre« und »falsche« Prophetie im Alten Testament. Entwicklungslinien eines Grundsatzkonfliktes: Ders., Studien zur Theologie des Alten Testaments. Herausgegeben von Friedhelm Hartenstein und Jutta Krispenz (AT 99), Tübingen 2015, 343–350. Knierim, Rolf, Offenbarung im Alten Testament: Wolff, Hans Walter (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS Gerhard von Rad, München 1971. Lang, Bernhard, Der redende Gott. Erfahrene und erfundene Offenbarung im Alten Testament: Assmann, Jan/Strohn, Harald (Hg.), Orakel und Offenbarung. Formen göttlicher Willensbekundung, München 2013, 181–208. Maul, Stefan Mario, Omina und Orakel. A. Mesopotamien: RLA X (2003–2005), 45–88. Ders., Die Wahrsagekunst im alten Orient. Zeichen des Himmels und der Erde, München 2013. Noth, Martin, Bemerkungen zum 6. Band der Mari-Texte: Ders., Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde 2, Neukirchen-Vluyn 1971, 234–244. Oeming, Manfred, Gottes Offenbarung »von hinten« (Ex 33,24). Erwägungen zu einem wenig beachteten Aspekt des alttestamentlichen Offenbarungsverständnisses: Ders., Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments, Hamburg 2003, 109–119. Pientka-Hinz, Rosel, Akkadische Texte des 2. und 1. Jt. v. Chr: 1. Omina und Prophetien: TUAT NF 4, Gütersloh 2008, 16–60. Preuß, Horst Dietrich, Art. »Offenbarung. II. Altes Testament«: TRE 25 (1995), 117–128. Rendtorff, Rolf, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel: Pannenberg, Wolfhart (Hg.), Offenbarung als Geschichte (Kerygma und Dogma Beiheft 1), Göttingen 31965, 21–41. Schmitt, Rüdiger, Mantik im Alten Testament (AOAT 411), Münster 2014. von Soden, Wolfram, Der Alte Orient. Eine Einführung, Darmstadt 2006. Wagner, Siegfried, 1. Sam. 9,15: »Jahwe aber hatte das Ohr des Samuel geöffnet ...«. Bemerkungen zum Problem der Offenbarung im Alten Testament: Bernhardt, Karl-Heinz (Hg.), Schalom. Studien zu Glaube und Geschichte Israels, FS Alfred Jepsen, Stuttgart 1971, 65–72. Zgoll, Annette, Traum und Welterleben im antiken Mesopotamien. Traumtheorie und Traumpraxis im 3.–1. Jahrtausend v. Chr. als Horizont einer Kulturgeschichte des Träumens (AOAT 333), Münster 2006. Zobel, Hans-Jürgen, Art. »‫ה‬«: ThWAT 1, Stuttgart 1973, 1018–1031.

§ 29 Gottes Schöpfung

421

§ 29 Gottes Schöpfung Andreas Schüle, Leipzig

1.

Schöpfung als Thema alttestamentlicher Theologie – ein umstrittener Fall

Schöpfung ist eines der großen Themen der Theologie unserer Zeit. In vieler Hinsicht gewinnt man den Eindruck, dass die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens – nach innen wie nach außen – wesentlich davon abhängt, ob es gelingt, Gott als Schöpfer und die Welt in all ihren Aspekten als Schöpfung Gottes zu verstehen. Es geht darum, dass Religion und Glaube nicht nur Teilaspekte oder Nischen menschlicher Existenz sind, sondern hier das Ganze, die Welt in ihrer realen Vielgestaltigkeit in den Blick genommen wird. Daran schließt ein zweiter Aspekt an: Die Schöpfungslehre markiert den Punkt, an dem sich der christliche Glaube mit anderen Weltverständnissen auseinanderzusetzen hat – vor allem mit denen der Naturund Lebenswissenschaften. Die Schöpfungslehre wird heute oft mit der Erwartung betrieben, dass sie in diesem Diskurs so etwas wie eine Grundausrichtung der Theologie insgesamt leistet und so den größtmöglichen Nenner definiert, den die Theologie nun einmal braucht, um sich im Kontext ihrer jeweiligen Zeit und Welt zurechtzufinden. Umso mehr lohnt es, sich in Erinnerung zu rufen, dass diese prominente Rolle der Schöpfungslehre für die Theologiegeschichte der Neuzeit eher untypisch ist. Im Gegenteil zeigte sich die moderne Theologie aufs Ganze gesehen zunächst desinteressiert an diesem Thema und stand ihm teilweise sogar skeptisch bis ablehnend gegenüber – auch und gerade innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft. Gerhard von Rad gehört sicher zu den prominentesten Stimmen, die das Thema Schöpfung als ein uneigentliches Element des Glaubens des biblischen Israel betrachten. In seiner berühmten Theologie des Alten Testaments formuliert er diesbezüglich folgendes Urteil: »Nach alledem, wie wir meinten, den Glauben Israels an Jahwe verstehen zu müssen, ist es begreiflich, daß er immer da am schwersten gefährdet war, wo ihm der Kontakt mit dem Wirken Jahwes in der Geschichte verlorenzugehen drohte.«28

Schöpfungstheologie ist ein Krisenindikator. Wann immer der Glaube seinen eigentlichen Gegenstand, die Heilsgeschichte, aus dem Blick verliert, bleibt nur der Ausweg ins Naturhafte. Das Spezifische weicht dem Allgemeinen, die geschichtliche Partikularität des Glaubens wird zugunsten des allgemein Geschöpflichen zurückgenommen. Es bedarf nicht mehr als eines kurzen scharfen Blicks, um in von Rads Position die durchaus gewollten Anleihen aus der Theologie Karl Barths zu erkennen. Barth

28 v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, 467.

422

6. Kapitel: Gottesglaube

spricht bekanntlich von der Schöpfung als »äußerem Grund« des Bundes zwischen Gott und Welt und umgekehrt vom Bund als »innerem Grund« der Schöpfung. Auch hier gibt es also ein Gefälle zwischen Kern und äußerer Schale: »Die Schöpfung ist eine einzige Bereitstellung und also das Wesen und die Existenz des Geschöpfs eine einzige Bereitschaft für das, was Gott in der Geschichte des Bundes mit ihm wollen und tun wird. Seine Natur ist nichts Anderes als seine Zurüstung für die Gnade.«29

Es mag dahingestellt bleiben, ob und inwiefern die Verbindung von Schöpfung und Erwählung mit der Denkfigur des inneren und äußeren Grundes biblischen Aussagen gerecht wird. Allerdings erkennt Barth zu Recht, dass Schöpfung kein unabhängiges Thema ist, keine Alternative zu anderen Themen der Theologie, sondern eine Facette des Gesamtbildes. Insofern ist es problematisch (wenngleich dies auch hier so geschehen wird), von »Schöpfungstheologie« zu sprechen,30 so als gäbe es das als eigenständige Größe. Die Verwobenheit der Schöpfungsthematik in den Gesamtzusammenhang alttestamentlicher Theologie hat vor allem Hans Heinrich Schmid als Reaktion auf Gerhard von Rad dargestellt. Schmid arbeitet vor allem anhand von Texten des Jesajabuches heraus, wie die Rede von Schöpfung eingebettet ist in die jesajanische Vorstellung von Gerechtigkeit und Heil. Der Gott, der seinem Volk Recht schafft und Heil bringt, ist der Schöpfer der Welt – und umgekehrt. Das Eine lässt sich nicht ohne das Andere denken. Aber anders als bei Barth wird dieser Verweisungszusammenhang nicht noch einmal hierarchisch im Sinne eines innen/außen geordnet. Vielmehr verweist Schmid darauf, dass die Vorstellung der Welt als von Gott geschaffen so etwas wie der Resonanzboden vieler, wenn nicht aller, theologischer Themen des Alten Testaments ist: »Das alles zusammengenommen besagt: Der Schöpfungsglaube, das heißt der Glaube, daß Gott die Welt mit ihren mannigfaltigen Ordnungen geschaffen hat und erhält, ist nicht ein Randthema biblischer Theologie, sondern im Grund ihr Thema schlechthin. Was Israel in seiner Geschichte und die urchristliche Gemeinde an Jesus erfahren hat, ist auf seine Bedeutung hinsichtlich dieses einen Grundthemas befragt und ausgelegt worden.«31

Diese umfassende Würdigung wirft allerdings die Frage auf, was genau sich hinter dem komplexen Begriff der »Schöpfung« verbirgt. Bei Schmid steht vor allem der Gedanke der Ordnung im Zentrum. Gottes Schaffen ist primär ein gegen das Chaos gerichtetes Ordnen, das die Voraussetzung von Leben überhaupt gewährleistet. Dieses Ordnen ist allerdings nicht nur auf den Bereich der Kosmogonie begrenzt, sondern gilt – als Festsetzung von Recht und Gerechtigkeit – ebenso für die soziale Welt. Allerdings ist Schöpfung verstanden als Ordnungssystem nur eine, wenngleich zentrale Facette des Gesamtbildes. In zahlreichen alttestamentlichen Texten kommt das Thema Schöpfung unter der Frage in den Blick, was es eigentlich bedeutet, an

29 Barth, KD III/1 (§ 41.3), 261. 30 Schmid, K., Schöpfung, 73. 31 Schmid, H. H., Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil, 25.

§ 29 Gottes Schöpfung

423

Gott als Schöpfer zu glauben, und was es umgekehrt für Menschen – als Völker und Individuen – bedeutet, sich als Geschöpfe zu begreifen. Insofern erstreckt sich das Thema ganz automatisch in die Gotteslehre und die Anthropologie hinein.32 Vor allem Texte der prophetischen Literatur und der sog. kritischen Weisheit (Hiob und Kohelet) nähern sich dem Thema Schöpfung im Sinne eines Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch. Mit anderen Worten: mit dem Thema Schöpfung kommt das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Ordnungsdenken (in Kosmogonie, Kosmologie und Recht), Theologie und Anthropologie in den Blick. Diesem Zusammenhang und seiner inneren Logik soll im Folgenden anhand ausgewählter Einzeltexte nachgegangen werden. Freilich kann auf diese Weise – und in der hier gebotenen Begrenzung – kein umfassendes Bild gezeichnet werden. Gleichwohl richtet sich die Textauswahl darauf, Schöpfung als Thema zu profilieren, das für alle Teile des alttestamentlichen Kanons charakteristisch ist und insofern tatsächlich einen roten Faden alttestamentlicher Theologie bildet.

2.

Kosmos, Kult und Lebenskraft: Schöpfungstheologie in den Kultpsalmen

Die vielleicht frühesten Schöpfungsaussagen begegnen in einigen der alttestamentlichen Kultpsalmen.33 Diese führen uns ein Bild der Entstehung der Welt vor Augen, das sich von den »großen« Schöpfungstexten, allen voran Gen 1,1–2,3, deutlich unterscheidet. Das betrifft zunächst die Art und Weise, wie Gott das Weltgebäude errichtet. In Ps 24,1f. (vgl. auch Ps 50,12 und 89,12) geschieht dies, indem er auf dem Urozean eine Scheibe gründet, die wiederum zum Lebensraum von Tieren und Menschen wird – »der Erdkreis und die darauf wohnen« (Ps 33,8). Diese Scheibe ruht auf Fundamenten, die in den Urgrund eingesenkt sind und immer dann sichtbar werden, wenn Gott in den Kampf zieht und dabei die Ozeane bewegt (Ps 18,16). In der Mitte des Erdkreises wiederum erhebt sich ein Berg, der das Heiligtum, den Tempel Gottes, trägt. In seiner horizontalen Erstreckung ist der Kosmos demnach in konzentrischen Kreisen angeordnet, deren Mittelpunkt der Tempel ist und die vom Chaos am Rand der Welt zu Ordnung und Gottesnähe führen. Insofern kann man von einer »kultzentrischen« Weltsicht sprechen. Das gilt auch für die vertikale Erstreckung. Der Tempel ist nicht nur Mitte des Erdkreises, er ist auch der Punkt, an dem Himmel und Erde miteinander verbunden sind. Gott wohnt im Tempel und thront zugleich im Himmel. Der Herr weilt in seinem heiligen Tempel, der Sitz des Herrn ist im Himmel. Seine Augen schauen herab, seine Blicke prüfen die Menschen. (Ps 11,4)

Um auszudrücken, dass himmlisches und irdisches Heiligtum zwei Seiten derselben Medaille sind, erscheint das Bild des »Thrones«. Für die altorientalische Welt besteht ein Thron aus einem Materialblock mit zwei »Auflageebenen«: Die eine ist 32 Janowski, Konstellative Anthropologie, 68–72. 33 Wagner, Gottes Herrlichkeit, 297–306.

424

6. Kapitel: Gottesglaube

die eigentliche Sitzfläche, die andere die Fußstütze.34 Insofern können die Psalmen die Einwohnung Gottes im Himmel und auf der Erde in das Bild eines solchen Thrones fassen: Lasst uns hingehen zu seiner Wohnung und niederfallen vor der Stütze seiner Füße! (Ps 132,7; vgl. Ps 99,5)

So ergibt sich das Bild des Kosmos, in dem der irdische Tempel und sein himmlisches Gegenstück die Mittelachse des Erdkreises (axis mundi) bilden.35 Entsprechende Kultkosmologien begegnen auch in den anderen Kulturen des alten vorderen Orients. Man findet sie in Ägypten ebenso wie in Mesopotamien.36 In letzterem Fall weisen die Namen der Heiligtümer bereits auf ihre kosmologische Bedeutung hin. So lautet die mythische Bezeichnung des Tempels der Hauptgottheit É.KUR »Berghaus« mit Bezug auf den Weltenberg in der Mitte der Erdscheibe, auf dem die Götter wohnen und von wo aus sie die Welt regieren. In den Namen des Tempels und des Tempelturms von Babylon artikuliert sich beispielhaft die Vorstellung von der axis mundi: É.SAĜ.ILA (»Haus, das das Haupt [zum Himmel] erhebt)« und É.TEMEN.AN.KI (»Haus, Fundament von Himmel und Erde«).37 Dieser Kosmologie entspricht folgerichtig ein Bild vom Menschen, das dessen Existenz auf die Gegenwart Gottes im Tempel hin ausgerichtet sein lässt. Der Mensch sehnt sich danach, Gottes Angesicht zu schauen38 (etwas, das in anderen Texten der Hebräischen Bibel allerdings als gefährlich oder grundsätzlich unmöglich betrachtet wird): Wie eine Hirschkuh lechzt nach frischem Wasser so verlangt meine Lebenskraft (næpæš) nach dir. Meine Lebenskraft dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen? (Ps 42,2f.).

Ohne dass dies hier genauer erörtert werden kann, betrachten vor allem die Kulttexte den Menschen als mit einer Lebenskraft (næpæš, in deutschen Bibelausgaben oft mit »Seele« übersetzt) ausgestattet, die sich nach Gott ausstreckt, die Gottes Gegenwart spürt oder umgekehrt unter der Ferne Gottes leidet.39 Der Lebensraum des Menschen wie auch der Tiere ist die von Gott auf die Urfluten gesetzte Erdscheibe. Gleichzeitig aber gehört der Mensch auch zum Tempel und damit in die Nähe Gottes.

3.

Deuterojesaja

Die nunmehr skizzierte Kosmologie der Kultpsalmen findet ihre Fortsetzung in der Prophetie des sog. Deuterojesaja (Jes 40–55). Diese Prophetie reagiert auf Israels Er34 Im Unterschied dazu wird der »Fußschemel« seit der römischen Antike zu einem separaten Gegenstand, der nicht mehr in den eigentlichen Thron integriert ist. 35 Maul, Die altorientalische Hauptstadt, 118–120. 36 Janowski, Tempel und Schöpfung, 216–223. 37 Maul, Die altorientalische Hauptstadt, 115. 38 Aoki, »Wann darf ich kommen und schauen«, 124f. 39 Wolff, Anthropologie, 41f.

§ 29 Gottes Schöpfung

425

fahrung des babylonischen Exils. Teile der Bevölkerung Judas waren im frühen 6. Jh. v. Chr. nach Babylonien deportiert worden. Jerusalem lag in Trümmern, das Königtum war abgesetzt. Dieses Exil dauerte etwa fünfzig Jahre (also deutlich länger als die durchschnittliche Lebenserwartung der damaligen Zeit). Die politische Lage änderte sich erst, als mit dem Perserkönig Kyros d. Gr. eine neue Großmacht die Kontrolle über den alten vorderen Orient übernahm. Für die deportierten Judäer (bzw. deren Kinder und Enkel) brachte dies die Möglichkeit der Rückkehr mit sich und damit die Restauration ihrer nach wie vor desolat daliegenden früheren Heimat. In dieser Situation stellte sich freilich die Frage, ob der Gott, den Israel verehrt hatte und dessen Tempel auf dem Zion stand, dem Machtspiel der Großreiche zum Opfer gefallen war und sich somit als unbedeutender Provinzgott erwiesen hatte. Genau darauf reagiert Deuterojesajas Prophetie, indem sie den Gott Israels nicht mehr primär als Nationalgott Israels, sondern als Weltschöpfer darstellt: Wisst ihr es nicht, hört ihr es nicht, war es euch nicht von Anfang an bekannt? Habt ihr es nicht immer wieder erfahren seit der Grundlegung der Erde? Er ist es, der über dem Erdenrund thront. Wie Heuschrecken sind ihre Bewohner. Wie einen Schleier spannt er den Himmel aus, er breitet ihn aus wie ein Zelt zum Wohnen. Er macht die Fürsten zunichte, er nimmt den Richtern der Erde jeden Einfluss. Kaum sind sie gesät und gepflanzt, kaum wurzelt ihr Stamm in der Erde, da bläst er sie an, so dass sie verdorren. Der Sturm trägt sie fort wie Spreu. »Mit wem wollt ihr mich vergleichen? Wem sollte ich ähnlich sein?«, spricht der Heilige. Hebt eure Augen in die Höhe, und seht: Wer hat die (Sterne) dort oben erschaffen? Er ist es, der ihr Heer täglich zählt und heraufführt, der sie alle beim Namen ruft. Vor dem Allgewaltigen und Mächtigen wagt keiner zu fehlen. Jakob, warum sagst du, Israel, warum sprichst du: »Mein Weg ist Jhwh verborgen, meinem Gott entgeht mein Recht?« Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Jhwh ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt, unergründlich ist seine Einsicht. (Jes 40,21–28)

Die Vorstellung der Stärke und Übermacht Gottes als Schöpfer seit dem Beginn der Zeit bildet hier den Ausgangspunkt, von dem her verschiedene Schlussfolgerungen gewonnen werden.40 Als derjenige, der die Fundamente der Welt gelegt und den Himmel über ihr ausgespannt hat, ist Gott auch derjenige, der die Völker und ihre Herrscher regiert (V. 23f.). Weil Jhwh der alleinige Schöpfer ist, gibt es nichts auf oder in der Welt, das ihm gleicht (V. 25) – was Deuterojesaja weiterhin zu der Schlussfolgerung führt, dass Gott nicht in Gestalt eines (Kult-)Bildes dargestellt werden kann (Jes 44,12–19). Und schließlich: Als Schöpfer bestimmt Gott das Geschick des Volkes, das er sich erwählt hat – auch und gerade dann, wenn die eigene geschichtliche Erfahrung dieses Volkes eine solche Wahrnehmung nicht nahelegt (V. 27f.). Daran wird deutlich, dass Deuterojesaja mit Schöpfung nicht nur das bezeichnet, was Gott uranfänglich gemacht hat, sondern auf was er einen bleibenden Besitzanspruch erhebt, den er gegen die menschliche Neigung durchsetzt, diesen Anspruch zu ignorieren oder auf Wesen zu übertragen, die nicht Gott sind. Das Thema Schöpfung wird für Deuterojesaja so auch zur Basis politischer und kultischer Theologie.41 40 Berges, Jesaja 40–48, 131f. 41 So Anderson, Mythopoeic and Theological Dimensions, 3–11.

426

6. Kapitel: Gottesglaube

Diese beiden Aspekte (in der Gestalt von Sozial- und Kultkritik) sind freilich auch schon aus der Prophetie des 8. Jh.s v. Chr. bekannt, werden dort allerdings anders begründet. Für Amos, Hosea und Micha ist es die frühe Geschichte Gottes mit seinem Volk – die Zeit des Exodus und der Wüstenwanderung –, die den Maßstab von Gottesverehrung und Sozialmoral bildet. Israels eigene geschichtliche Erfahrung oder, mit Jan Assmann gesprochen, Israels »kulturelles Gedächtnis«, bildet für die frühe Prophetie die Bezugsgröße, an der die Verhältnisse der Gegenwart gemessen werden. Das ist bei Deuterojesaja, ungefähr zweihundert Jahre später vor dem Hintergrund des babylonischen Exils, nur noch in abgeschwächter Form der Fall. Auch hier gibt es Anspielungen auf den Exodus, allerdings nun in Gestalt eines neuen Exodus, der die über die Welt verstreuten Kinder Israels zurück zum Zion führt (Jes 43,1–7). Auch von Abraham als Vorbild des Glaubens ist die Rede (Jes 41,8; 51,2), aber all dies steht nun unter dem dominanten Vorzeichen, dass Israels Gott Schöpfer und Herrscher über den Erdkreis ist. Nur in diesem Horizont kann Deuterojesaja den politischen Wandlungen seiner Zeit Sinn und Bedeutung abgewinnen. Die Welt um Israel herum ist deutlich größer und gleichzeitig unüberschaubarer geworden, was allem Anschein nach – zumindest für die Prophetie dieser Zeit – den Rekurs auf das eigene kulturelle Gedächtnis allein nicht mehr ausreichen lässt. Erst der umfassende Horizont von Weltschöpfung und universaler Gottesherrschaft erlaubt es Deuterojesaja, die Welt im Sinne des Glaubens Israels zu deuten.42 So wird es möglich, den Perser Kyros als einen Messias zu verstehen, den Gott zu seinem Instrument gemacht hat: So spricht Jhwh zu Kyros, seinem Gesalbten, den er an der rechten Hand gefasst hat, um ihm die Völker zu unterwerfen, um die Könige zu entwaffnen, um ihm die Türen zu öffnen und kein Tor verschlossen zu halten: »Ich selbst gehe vor dir her und ebne die Berge ein. Ich zertrümmere die bronzenen Tore und zerschlage die eisernen Riegel. Ich gebe dir verborgene Schätze und Reichtümer, die im Dunkel versteckt sind. So sollst du erkennen, dass ich Jhwh bin, der dich bei deinem Namen ruft, ich, Israels Gott. (Jes 45,1–3)

Selbst dieser fremde Großkönig soll erkennen, dass hinter seinen Siegeszügen ein noch viel mächtigerer Herrscher steht. Spürbar scheinen im Hintergrund solcher Aussagen die Faszination für die politischen Umwälzungen jener Zeit und die Überzeugung durch, dass sich in alledem der souveräne Wille Gottes erweist. Erst in dieser umfassenden Perspektive wird deutlich, wie Gott handelt und wie er seine Gerechtigkeit erweist: Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin Jhwh, der das alles vollbringt. Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen! Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor, sie lasse Gerechtigkeit sprießen. Ich, Jhwh, will es vollbringen. (Jes 45,7f.)

Interessanterweise hält Deuterojesaja trotz – oder vielleicht gerade wegen – der politisch größer und komplexer gewordenen Welt daran fest, dass diese eine Mitte

42 Vgl. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 327f., der die Schöpfungstheologie gerade auch der Exilszeit nachdenkenswert unter den Begriff der »Vergewisserung« gestellt hat.

§ 29 Gottes Schöpfung

427

hat, aber nicht etwa in Babylon oder Persien, sondern auf dem Zion. Von hier aus regiert Gott die Völker. Wie oben beschrieben ist diese Vorstellung bereits in den alttestamentlichen Kultpsalmen grundgelegt, hat nun aber im Zusammenhang der (nach)exilischen Zeit eine nochmals gesteigerte Bedeutung. Der Zion ist nicht nur für Gottes eigenes Volk die axis mundi, vielmehr weitet sich der Blick auf alle Völker, die nun aus den vier Weltgegenden zum Gottesberg strömen (Jes 2,1–4; 49,12–18). Freilich handelt es sich hierbei um religiöse Imagination, die offenbar gezielt auf die politischen Verhältnisse der Zeit reagierte. Jerusalem und der Zionsberg waren Mittelpunkt einer kleinen, aufs Ganze gesehen unbedeutenden, Provinz im Perserreich. Dass die Völker den Zion als Zentrum des Erdkreises betrachten würden, lag außerhalb jeder historischen Plausibilität. Vermutlich wurden hier die tatsächlichen Verhältnisse (die Vasallenstaaten mussten beim Perserkönig in Persepolis Tribute abliefern und sich von dort »Weisung« holen) gewissermaßen umgekehrt. Haben wir es beim Schöpfungsuniversalismus Deuterojesajas demnach mit einer zeitgeschichtlich verständlichen Reaktion auf die eigene Ohnmachtssituation zu tun, der man den Vorwurf der Selbstüberschätzung allerdings nicht ganz ersparen kann? Dieser Eindruck ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl wird hier ein theologisches Problem grundsätzlicherer Art deutlich, nämlich das Verhältnis von Schöpfungsuniversalismus und partikularer Identität. Der Glaube Israels ist einerseits partikularistisch ausgerichtet: Jhwh rettet sein Volk vor dem Pharao, führt es aus Ägypten heraus, verteidigt es gegen andere Völker (und deren Götter) und gibt ihm ein Land. Entscheidend für die partikulare Identität Israels ist demnach die Unterscheidung von »innen« und »außen«, von »selbst« und »fremd«. Andererseits ist der Glaube Israels von Anfang an auch Schöpfungsglaube, der sich in geschichtlicher Zeit zu einem universalen Weltverständnis weitet und in Gott entsprechend den Schöpfer aller Völker erkennt. Genau auf diese Schnittstelle von partikularer und universaler Weltwahrnehmung konzentriert sich die Theologie Deuterojesajas, und an dieser Schnittstelle entscheidet sich, ob Schöpfung und Heilsgeschichte, wie von Rad vermutet hatte, am Ende doch zwei miteinander unverträgliche Ausrichtungen des Glaubens bezeichnen. Wie nun dargestellt, löst Deuterojesaja dieses Problem in Gestalt der Zionstheologie. Der Ort, den Gott sich inmitten Israels erwählt hat, ist zugleich die Mitte des Kosmos. Partikulare Erfahrung und universale Wahrnehmung haben auf diese Weise denselben Ort. Wie nun anschließend zu zeigen ist, gehen andere theologische Entwürfe des Alten Testaments mit diesem Thema anders um als Deuterojesaja, den wir hier als Vertreter einer traditionellen Kultkosmologie eingeordnet haben. Ein demgegenüber ganz anders pointierter Ansatz findet sich in dem wohl berühmtesten aller alttestamentlichen Schöpfungstexte: Gen 1,1–2,3.

4.

Der Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,3)

Sehr viel expliziter als alle bisher betrachteten Texte weist sich Gen 1,1–2,3 (im Folgenden Gen 1) als Schöpfungsmythos aus. Das kommt bereits in dessen erstem Satz zum

428

6. Kapitel: Gottesglaube

Ausdruck, der in den gängigen Bibelübersetzungen »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« lautet.43 Ebenfalls wird deutlich, dass die Erschaffung der Welt hier zunächst einmal als ein Einrichten mehrerer ineinandergreifender Formen von Ordnung verstanden ist. Das zeigt sich an der sog. Tagesformel (»es wurde Abend und es wurde Morgen«), die dem Schöpfungsgeschehen einen zeitlichen Rhythmus verleiht. In dieses Tagesschema eingefügt ist die räumliche Gestaltung der Welt. So dienen die Tage zwei und drei dazu, die Räume (Himmel, Erde und Meer) in der Form einzurichten, in der sie dann während der Tage fünf und sechs von den jeweils zugehörigen Lebewesen bevölkert werden.44 Man kann hier im wörtlichen Sinne von einem ökologischen Schöpfungsverständnis sprechen, insofern die Welt tatsächlich als oikos, also ein in sich geschlossenes Gebäude, dargestellt wird. Dabei fällt auf, dass Gen 1 in der Wahrnehmung der Zeiten, Räume und Lebensformen ungleich detailreicher angelegt ist als die Kultpsalmen und die einschlägigen Texte Deuterojesajas. Aber auch hinsichtlich der Einrichtung des Weltgebäudes ist einiges anders. So ist das erste materiale Schöpfungselement nicht die auf dem Urozean fixierte Erdscheibe, sondern das Himmelgewölbe (1,6f.), das gleich einer Käseglocke die unter ihr liegende Erdfläche vor den Chaoswassern ringsum abschirmt. In der Regel wird hier mesopotamischer Einfluss vermutet. Im großen Schöpfungsepos (dem nach seinen ersten beiden Worten sog. Enuma eliš) besteht der anfängliche Schöpfungsakt darin, dass das Firmament zusammen mit der Erdfläche einen Innenraum bildet, der gegen das umgebende Chaos abgegrenzt ist und auf diese Weise die Entstehung von Ordnung und somit von Leben ermöglicht. Neben der Einrichtung des Weltgebäudes mit Himmel, trockenem Land und Wasser ist für Gen 1 die Taxonomie des Lebens das zentrale Thema. Eingezeichnet in das Sechs-Tage-Schema ist eine aufsteigende Ontologie der Schöpfungswerke, die sich an der Unterscheidung von belebt/unbelebt orientiert. Zunächst einmal entstehen unbelebte Entitäten wie das erste Licht, das Firmament und die Himmelskörper (1,14–18). Im Fall des trockenen Landes handelt es sich allerdings nicht um ein Schaffen, sondern um ein Freilegen des bereits vorhandenen Urgrunds (1,9). Man hat in der Forschung immer wieder vermutet, dass die Leblosigkeit insbesondere der Himmelskörper und des Urgrundes gezielt als Polemik gemeint sei, weil es sich in den mesopotamischen Paralleltexten dabei zum Teil um Götter handelt. So werden das Firmament und der Erdboden aus dem Leib der geschlachteten Gottheit Tiamat geformt. Sonne und Mond sind Verkörperungen zweier Hauptgötter des mesopotamischen Pantheons, Šamaš und Śin. Dagegen spricht allerdings, dass Gen 1 sonst zu keiner polemischen Rhetorik greift, sondern ganz im Gegenteil Elemente vorderorientalischer Kosmologie konstruktiv aufnimmt und dabei an den Stand antiker Weltkenntnis anschließen möchte. Allerdings steht die Welt am Anfang in spannungsvollem Kontrast zur christlichen Lehre der Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo).45 Es gibt eben schon

43 Zur Übersetzungsproblematik Bauks, Die Welt am Anfang, 65–91. 44 Zenger, Gottes Bogen, 200. 45 Zur Notwendigkeit der christlichen Auffassung der Kosmogonie als creatio ex nihilo Moltmann, Gott in der Schöpfung, 91.

§ 29 Gottes Schöpfung

429

eine Welt, bevor Gottes Schöpfungswerk beginnt, wenngleich diese Welt das sprichwörtliche Tohuwabohu ist (Gen 1,1), das der Entfaltung von Leben entgegensteht.46 Es ist nicht ein »Nichts«, das durch etwas »Seiendes« ersetzt wird, vielmehr geht es um die Überwindung des Chaos zugunsten des Lebens (also gleichsam eine creatio ex tumultu). Diese Akzentsetzung ist von Belang, weil damit hier – am Beginn der Hebräischen Bibel – etwas Grundsätzliches über die Eigenart des Handelns Gottes gesagt wird. Ein erster Schritt über die Gestaltung von toter Materie hinaus wird mit der Erschaffung von Pflanzen getan. Allerdings erfolgt diese auf indirektem Weg: Gott weist den Erdboden an, Vegetation hervorzubringen (1,11f.). Interessanterweise ist die Vorstellung demnach, dass dem Erdboden eine urweltliche Vitalität eigen ist, die immerhin genügt, um den Lebenszyklus von Vegetation in Gang zu bringen. Nimmt man die Entstehung der Pflanzen als Ausgangspunkt, kann man nun erkennen, wie im Blick auf Tiere und Menschen Gottes schöpferisches Engagement sukzessive zunimmt. Auch für die Landtiere (und vermutlich auch für die Fische und Vögel) wird gesagt, dass sie aus ihren jeweiligen Lebensbereichen hervorgehen sollen, also in gewisser Weise Ausformungen von Land, Wasser und Luft sind (1,20.24). Allerdings tritt dazu nun jeweils die dezidierte Aussage, dass Gott selbst die Lebewesen erschafft, einschließlich der Seeungeheuer (1,21.25). Zur Klassifizierung der Tierwelt verwendet Genesis überdies einen eigenen Begriff, nämlich den des »Lebewesens« (næpæš chajjā, Gen 1,20.21.24.30) und deutet damit an, dass mit dem fünften Tag nun tatsächlich das Leben in der Welt beginnt. Am Ende des Sechstagewerkes steht der Mensch, dessen Erschaffung noch einmal eigens von Pflanzen und Tieren abgehoben wird, insofern sie allein dem göttlichen Handeln entspringt. Hier werden nun nicht mehr die Elemente aufgefordert, Gott gleichsam zu assistieren, vielmehr spricht Gott nun zu sich selbst (oder zu seinem himmlischen Thronrat): »Lasst uns Menschen machen zu unserem Bild und zu unserer Ähnlichkeit!« (1,26). Dem folgt die Ausführung, die wiederum Gottes eigenes Werk ist (1,27). Wenngleich hier nicht der Ort ist, eigens auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen einzugehen, seien diesbezüglich zumindest zwei Anmerkungen gemacht. Zum einen wird auch der Begriff »Bild Gottes« in Gen 1 in klassifikatorischer Absicht verwendet. Freilich sind auch die Menschen »Lebewesen«, und doch sind sie mehr als Tiere. Neuzeitlich würde man an dieser Stelle vom Menschen als »Person«, »Subjekt« oder »Individuum« sprechen. Dieses Begriffsregister existiert im Hebräischen allerdings nicht, und so wird eine Wendung gebraucht, die die Sonderstellung des Menschen begrifflich als »Bild« des höchsten Wesens zur Sprache bringt. Ähnliches gilt auch für Ps 8, weil auch dort das Besondere des Menschen in der Relation zu Gott liegt: Der Mensch ist nur wenig geringer als Gott (Ps 8,6), was positiv gewendet besagt, dass er über allen anderen Geschöpfen steht.47 Insofern kann man mit einigem Recht festhalten, dass der Schöpfungsbericht der Genesis

46 Blenkinsopp, Creation, 30. 47 Schellenberg, Der Mensch, das Bild Gottes?, 49–59.

430

6. Kapitel: Gottesglaube

neben den etwa zeitgleichen vorsokratischen Philosophenschulen in Griechenland einer der ersten Texte der Antike ist, der die Entstehung der Welt mit einer begrifflich systematisierten Taxonomie des Lebens – von der unbelebten Materie hin zum Menschen als Bild Gottes – verbindet. Der zweite Aspekt, der die Menschenschöpfung im Gesamtbild heraushebt, ist die explizit erwähnte Unterscheidung der Geschlechter nach »männlich« und »weiblich« (1,27). Man hat dies in der Forschung gelegentlich als (wie auch immer genau zu verstehende) Aussage über Gottes eigenes Wesen gedeutet, das der Mensch als männlich und weiblich »abbildet.« Vermutlich liegt die Aussageintention allerdings auf einer anderen, eher anthropologischen Ebene. Dass die Unterscheidung von männlich und weiblich im biologischen Sinn auch für die Tierwelt gilt und die Voraussetzung von Fortpflanzung und Mehrung ist, war auch den Menschen der Antike nicht verborgen. Um das Thema Fortpflanzung scheint es in Gen 1,27 allerdings nicht zu gehen, sonst hätte der Schöpfungsbericht die Unterscheidung von männlich und weiblich für den Menschen genauso unerwähnt lassen können wie für die Tiere. Deswegen empfiehlt es sich, eine andere Deutungsebene zu wählen: Für Gen 1 sind Menschen (mehr als alle anderen Geschöpfe) Beziehungswesen oder, genauer, Wesen, die sich nicht nur nach Maßgabe eines Artmusters zueinander verhalten, sondern die soziale Beziehungen gestalten.48 Das wird auch daran deutlich, dass im Zusammenhang der Gottebenbildlichkeitsaussagen von Gen 5,1–3 und Gen 9,4–6 von Eltern und Kindern sowie allgemein vom Menschen und seinem Nächsten gesprochen wird. Die Rede von der Gottebenbildlichkeit im Zusammenhang sozialen Lebens dürfte damit zu tun haben, dass Menschen zu freiem Handeln in der Lage gesehen werden und auf diesem Wege Beziehungsstrukturen kontingent gestalten können. Dieses Thema wird nachfolgend sehr viel deutlicher in den Edenerzählungen (Gen 2,4–3,24) aufgegriffen, wo eigens gesagt wird, dass es nicht gut für den Menschen sei, allein zu bleiben (2,18), weswegen Gott dem Erdling (»Adam«) eine Partnerin schafft. Es geht hier also um den Menschen als geselliges Wesen, jenseits der Notwendigkeit, für die Arterhaltung zu sorgen. Hat man die Darstellung von Schöpfung in Gen 1 soweit nachvollzogen, fallen allerdings zwei Details auf: 1. der Vegetarismus aller Geschöpfe und 2. die Frage nach Gottes Gegenwart innerhalb des geschaffenen Raumes. 1. Zur Bestimmung der Welt, die Gott schafft, gehört das Fehlen einer Nahrungskette. Tiere und Menschen sollen sich gleichermaßen von Pflanzen und deren Früchten ernähren (Gen 1,30). Damit besteht keine Notwendigkeit zu töten. Die Welt, die Gott geschaffen hat, ist so angelegt, dass sich Leben nicht auf Kosten anderen Lebens erhalten muss. Aber wie jeder Leser weiß, funktioniert die »wirkliche« Welt so eben nicht, zu der vielmehr das Töten zum Nahrungserwerb hinzugehört. Wer die Weltordnung von Gen 1 am eigenen Welterleben misst, ahnt bereits, dass die Schöpfung damit noch nicht abgeschlossen sein kann. Noch fehlt ein Ordnungselement, das mit der Gewalt umgeht, die sich offenbar so massiv in der Welt ausbreitet 48 Schüle, Die Würde des Bildes, 446–448.

§ 29 Gottes Schöpfung

431

(Gen 6,11), dass die Welt nach zehn Generationen (Gen 5) bereits am Ende ist. So erhält die Schöpfungsordnung tatsächlich erst nach der Flut ihre endgültige Form, wenn Gott nun Gebote erlässt, die das Töten (als legitime, weil limitierte Form der Gewaltausübung) auf die Nahrungsfindung begrenzt, alle darüber hinausgehende Gewalt allerdings mit von Gott selbst durchgeführter Vergeltung bestraft (Gen 9,4–6).49 Dieses oft übersehene Detail ist wichtig, weil hier zum ersten Mal im Alten Testament kasuistisches Recht implementiert und auf diese Weise Gottes Gebot zum Bestandteil der Schöpfungsordnung gemacht wird. 2. Wo aber ist in Gen 1 der Platz Gottes? Der zentrale Weltenberg und ein Tempel fehlen in diesem Text. Das ist oft bemerkt und kommentiert worden. Dieses Fehlen wird gelegentlich so erklärt, dass Gen 1 selbst ein Kulttext sei. Was hier über die Welt als Schöpfung gesagt wird, geschehe bereits aus der Innensicht des Kults heraus. Das Hauptargument hierfür ist freilich der siebte Schöpfungstag, den Gott auszeichnet, indem er ihn heiligt und an ihm Ruhe hält (Gen 2,2f.). Das Schöpfungsgeschehen steuere demnach geradezu auf den siebten Tag als Tag des Kultes zu, dessen Heimat der Jerusalemer Tempel auf dem Zion gewesen wäre.50 Vermutlich verwischt diese Interpretation allerdings eine Unterscheidung, die für die priesterschriftliche Textschicht, der Gen 1 zugehört, gerade die Pointe ist. Die Welt ist so, wie sie geschaffen ist, mit ihren vielfältigen Lebensformen, mit ihren Sprachen und Völkern die sehr gute Schöpfung Gottes. Das stellen die entsprechenden Texte von Gen 1–11 in aller Deutlichkeit heraus. Aus dieser sehr guten Welt ragt weder ein bestimmter Ort noch ein bestimmtes Volk heraus, vielmehr ist alles von Gott gesegnet und wird in seiner Existenz bejaht. Darin liegt der konsequent umgesetzte Universalismus der urgeschichtlichen Erzählungen. Dieser Welt fehlt nichts – und doch ist sie noch nicht ganz abgeschlossen. Tatsächlich legt die Erwähnung des siebten Tages als eines geheiligten Tages eine Spur, die weit über den Schöpfungsbericht hinausweist und erst am Ende des Buches Exodus wieder aufgenommen wird, wo von der Vollendung des Zeltheiligtums die Rede ist, das Israel für seinen Gott errichten soll und in das schließlich die Herrlichkeit Gottes einzieht (Ex 40,34). Die Vollendung der Schöpfung und die Vollendung des Heiligtums, die Ruhe Gottes am siebten Tag und die Einwohnung im Tempel schließen sich auf diese Weise zusammen (Gen 2,1; Ex 40,33),51 und doch sind sie nicht einfach dasselbe. Die Kulttheologie ist im Rahmen der Bücher Genesis und Exodus etwas, das allein auf Israel bezogen wird ohne universalistischen Anspruch. Gott erwählt sein Volk, errettet es aus Ägypten, führt es von dort zum Sinai und lässt sich in seiner Mitte nieder. Der Kult wird hier nicht mehr kosmologisch, sondern geschichtlich begründet. Es geht um das Besondere, das diesem Volk widerfährt und seine Identität bestimmt. Auf diesem Weg wird Israel eine intime Kenntnis des Gottes beigelegt, der auch die ganze Welt geschaffen hat. Die partikulare Identität Israels wird eingebettet in das

49 Schüle, Prolog, 270f. 50 Levenson, Creation and the Persistence of Evil, 121–127. 51 Zenger, Gottes Bogen, 170–172.

432

6. Kapitel: Gottesglaube

Verständnis Gottes als Schöpfer. Dabei ist sicher (wie auch bei Deuterojesaja) an eine Überbietung oder, vielleicht besser, an eine Vertiefung gedacht: Inmitten Israels – und eben nur dort – wohnt die Herrlichkeit des Schöpfers. Andererseits ist alles, was Gott geschaffen hat, gut und im Gesamten sogar sehr gut, und insofern wird, anders als bei Deuterojesaja, auch gar nicht erwartet, dass sich andere Völker zum Gott Israels wenden, dessen Geschöpfe sie ja ohnehin schon sind.

5.

Psalm 104: Gott als Geber allen Lebens

Gerahmt ist dieser Psalm wie ein »klassischer« Kultpsalm, indem die Lebenskraft (næpæš) zum Lobpreis Gottes aufgefordert wird (V. 1.35b). Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen Schöpfungshymnus – eine Gattung, die im Alten Testament ansonsten wenig Parallelen hat (vgl. noch Ps 103; 145; 150), die aber interessanterweise direkte Bezüge zu außerbiblischen Texten aufweist, wie z. B. dem ägyptischen Aton-Hymnus aus der Zeit des Königs Echnaton. Der Aufbau des Psalms folgt zunächst der gleichen Logik, die auch hinter Gen 1 steht. Zunächst kommt die materiale Welt in den Blick, die die Architektur des »Schöpfungsgebäudes« bildet: der himmlische Bereich in V. 1–4 und dann der irdische in V. 5–9. Anders als in Gen 1 ist diese Welt allerdings nicht nur von einem ansonsten distanzierten Gott gemacht, vielmehr ist er in ihr dynamisch präsent: Er hat seine Gemächer im Himmel (V. 2), fährt auf den Wolken einher (V. 3), bedroht die Chaoswasser, so dass sie ihre Grenze nicht überschreiten (V. 7). Im zweiten Teil (V. 10–23) folgt die hymnische Beschreibung der Lebewesen, die den Kosmos füllen. Hier allerdings arbeitet Ps 104 anders als Gen 1 nicht eine gestufte Ontologie heraus, die von den niederen zu den höheren Lebensformen und schließlich zum Menschen führt. Vielmehr werden hier einzelne Lebensbereiche betrachtet samt den Lebewesen, die darin vorkommen (V. 10–18): Du lässt die Quellen hervorsprudeln in den Tälern, sie eilen zwischen den Bergen dahin. Allen Tieren des Feldes spenden sie Trank, die Wildesel stillen ihren Durst daraus. An den Ufern wohnen die Vögel des Himmels, aus den Zweigen erklingt ihr Gesang. Du tränkst die Berge aus deinen Kammern, aus deinen Wolken wird die Erde satt. Du lässt Gras wachsen für das Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt. Die Bäume Jhwhs trinken sich satt, die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat. In ihnen bauen die Vögel ihr Nest, auf den Zypressen nistet der Storch. Die hohen Berge gehören dem Steinbock, dem Klippdachs bieten die Felsen Zuflucht.

So weist der Kosmos von Ps 104 eine von Gott planvoll und »weise« (V. 24) gefügte Ordnung auf, die aber weder eine innere Mitte hat noch auf ein bestimmtes Lebewesen (den Menschen) ausgerichtet ist.52 Was diese Welt zusammenhält und was sie belebt, ist vielmehr Gottes fortgesetzte Gegenwart als Schöpfer und Versorger. Im Mittelteil des Psalms wird Gott entsprechend als derjenige charakterisiert, der 52 Krüger, »Kosmo-theologie«, 118.

§ 29 Gottes Schöpfung

433

sich um seine Geschöpfe und deren jeweilige Bedürfnisse kümmert. Der Schluss des Psalms geht jedoch noch einen gewichtigen Schritt weiter: Hier ist Gott nicht nur der Geber guter Gaben, vielmehr ist es Gottes eigener Geist, der in allen Geschöpfen pulsiert und damit Leben und Vergehen bestimmt (V. 27–30): Sie alle warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit. Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein, öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem. Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört, nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde. Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde.

Thomas Krüger hat diese Vorstellung der Gegenwart des Schöpfers innerhalb der Schöpfung treffend als »Kosmo-theologie« beschrieben.53 Tatsächlich handelt es sich hier um eine Schöpfungstheologie, die im Gesamten der Hebräischen Bibel eine kühne Position bezieht, insofern Gott hier kaum noch das Gegenüber der Welt ist, sondern sie von innen heraus erfüllt. Entsprechend fehlt in Ps 104 nun jede Referenz zu Kult und Tempel,54 weil es keinen besonderen Ort der Gegenwart Gottes (mehr) gibt oder geben muss. Damit ist ein Punkt in der alttestamentlichen Schöpfungstheologie erreicht, an dem die Wahrnehmung ganz auf Gott und das Leben gerichtet ist – egal in welcher Form, tierisch oder menschlich. Dies wird auch im Vergleich mit Gen 2,7 (und 6,3) deutlich, wo der göttliche Lebensatem allein den Menschen zukommt. Ob man demgegenüber in Ps 104 eine gezielte Selbstrelativierung des Menschen zu erkennen hat, lässt sich erwägen, aber nicht mit Sicherheit sagen. Deutlich ist jedoch, dass es hier um die vitale Souveränität Gottes geht, der gegenüber alle Geschöpfe ohne Unterschied als bedürftig und vergänglich, aber eben auch als behütet und umsorgt erscheinen. Die grundsätzliche Frage, ob und in welcher Weise der Mensch überhaupt aus der Fülle der Geschöpfe herausragt und eine besondere Verbindung zu seinem Schöpfer besitzt (wie in Gen 1 und Ps 8), stellen die Gottesreden des Hiobbuches, die insofern auch so etwas wie den thematischen Schlusspunkt alttestamentlicher Schöpfungstheologie bilden – was freilich nicht bedeutet, dass damit tatsächlich auch das »letzte Wort« gesprochen ist.

6.

Die Gottesreden des Hiobbuches (Hiob 38–41): Schöpfungstheologie als Kritik menschlichen Erkennens und als Relativierung der Vorstellung vom Menschen als Ziel der Schöpfung

Die Gottesreden bilden die lang erwartete Antwort auf die Klage Hiobs, Gott möge doch erklären, warum das, was Hiob widerfahren ist, Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit ist. Genau das tut Gott allerdings nicht. Er lässt sich von Hiob nicht in die Rolle des Angeklagten (oder, vielleicht besser, des angeklagten Richters) drängen, der 53 Krüger, »Kosmo-theologie«, 112f. 54 Jeremias, Das Königtum Gottes in den Psalmen, 45.

434

6. Kapitel: Gottesglaube

sein Handeln rechtfertigen muss. Genauer verweist Gott seinen renitenten Herausforderer darauf, dass dieser die Logik und den Plan des göttlichen Denkens und Handelns nicht zu ermessen vermag. Dieser Abstand und die menschliche Unfähigkeit zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (wie Goethe dies in Anlehnung an das Hiobbuch in seinem Faust formuliert), wird nun schöpfungstheologisch erklärt. Das Hiobbuch lässt Gott in seiner Antwort an Hiob also gleichsam das Szenenbild wechseln. Es ist nicht mehr der Gerichtssaal, sondern die Schöpfung, die darüber Aufschluss gibt, in welcher Weise Gott gerecht ist. Dazu eröffnen die Gottesreden eine grandiose Weltsicht. Es ist fast so, als wäre es Hiob (und mit ihm der Leserschaft) erlaubt, Gott auf einer Reise durch die Schöpfung zu begleiten. Hiob bekommt die Welt in ihrer ganzen Größe zu sehen, und gleichzeitig wird ihm deutlich gemacht, dass er sie zwar bestaunen, aber eben nicht begreifen kann. Die Welt ist Gottes Schöpfung, das steht außer Frage, aber hinter diese Tatsache, hinter das Sosein der Welt, kommt menschliches Erkennen nicht zurück. An dieser Stelle bricht das Hiobbuch mit den anderen (vermutlich älteren) schöpfungstheologischen Traditionen, vor allem mit Deuterojesaja und Gen 1, die gerade die Transparenz des göttlichen Schöpferhandelns herausarbeiten. Diese Texte erklären je auf ihre Weise, was Gott sich dabei dachte, als er die Welt erschuf, und nach welchen Kriterien er sie seither lenkt. Für Hiob dient Schöpfungstheologie umgekehrt dem Nachweis, dass man Gott und sein Werk gerade nicht verstehen kann. Der Mensch kann sich als Teil der Schöpfung begreifen und (analog zu Ps 104) auch existentiell wahrnehmen, dass sich seine Existenz der Schöpfermacht Gottes verdankt. Aber genau an dem Punkt endet menschliches Erkennen. »Bis hierher und nicht weiter« – dieses geflügelte Wort ist ein Zitat aus den Gottesreden (Hiob 38,11) und beschreibt, wie Gott die Ozeane daran hindert überzufließen. Es ist aber in gewisser Weise auch eine prägnante Bezeichnung der Grenzen menschlichen Erkennens. Um den Kontrast zu anderen Traditionen im Alten Testament zu profilieren, greifen die Gottesreden auf das gleiche schöpfungstheologische Schema zurück, das uns inzwischen mehrfach begegnet ist. Im ersten Teil (Hiob 38,1–38) geht es um die physische Welt, die Gott als Architekt geplant und eingerichtet hat: Bist du gekommen bis zu den Quellen des Meeres, und hast du den Urgrund der Tiefe durchwandelt? Sind dir die Tore des Todes aufgedeckt worden, und hast du die Tore der Finsternis gesehen? Hast du auf die Breiten der Erde geachtet? Teile es mir mit, wenn du das alles erkannt hast! Wo ist denn der Weg dahin, wo das Licht wohnt? Und die Finsternis – wo ist denn ihre Stätte, so dass du sie in ihr Gebiet bringen könntest und dass dir die Pfade zu ihrem Haus bekannt wären? (Hiob 38,16–20)

Erkennbar durchleuchtet die Gottesrede hier die Winkel der Welt, die dem Auge normalerweise entzogen sind. Gottes Souveränität wird gerade an den Stellen aufgewiesen, an denen menschliches Wahrnehmen abnimmt oder eben ganz endet. Das gilt auch für den nächsten Redegang (Hiob 38,39–39,30), der die Welt der Geschöpfe, genauer der Tiere, in den Blick nimmt: Kennst du die Wurfzeit der Steinböcke? Beobachtest du das Kreißen der Hirschkühe? Zählst du die Monate, die sie erfüllen müssen, und kennst du die Zeit ihres Werfens? Sie kauern

§ 29 Gottes Schöpfung

435

sich, lassen ihre Jungen durchbrechen, entledigen sich ihrer Wehen. Ihre Kinder werden stark, wachsen auf im Freien, sie ziehen hinaus und kehren nicht mehr zu ihnen zurück. (Hiob 39,1–4)

Auch hier liegt deutlich zutage, dass sich die Gottesreden durch die Auflistung »wilder« Wesen von anderen Schöpfungstexten absetzen, die die Wahrnehmung der Tierwelt auf das menschliche Kulturland begrenzten. Im Gegenteil betont Hiob 39, wie die Tiere sich der Beanspruchung durch Menschen geradezu widersetzen und entwinden. Hier klingt bereits ein Motiv an, das im Folgenden noch eingehender entfaltet wird, nämlich dass Gottes Schöpfung nicht um die Bedürfnisse menschlichen Lebens kreist: Hältst du den Büffel in der Furche an seinem Seil, oder wird er die Talgründe hinter dir her eggen? Traust du ihm, weil seine Kraft so groß ist, und überlässt du ihm deine Arbeit? (Hiob 39,10f.)

Folgt man der Logik der Abfolge von physischer Materie hin zu den tierischen Lebewesen, erwartet zumindest der an Gen 1 (und Ps 8) geschulte Leser, dass im nächsten Schritt nun auch der Mensch zum Thema wird. Das geschieht aber gerade nicht, und darin dürfte eine besondere Pointe der Gottesreden bestehen.55 Von der Erschaffung des Menschen ist in Hiob 38–41 überhaupt nur an einer einzigen Stelle die Rede (Hiob 40,15), und hier in relativierender Weise. Vielmehr sind es die beiden »Monster« Behemot und Leviatan, die besondere Aufmerksamkeit erhalten: Sieh doch den Behemoth, den ich wie dich erschuf. Gras frisst er wie ein Rind. Sieh doch die Kraft in seinen Lenden und die Stärke in den Muskeln seines Leibs! Wie eine Zeder lässt es hängen seinen Schwanz; straff sind verflochten seiner Schenkel Sehnen. Seine Knochen sind Röhren von Erz, wie Eisenstangen sein Gebein. Er ist der Anfang der Wege Gottes – der, der ihn gemacht hat, gab ihm sein Schwert. (Hiob 40,15–19)

Die Formulierung »Er ist der Anfang der Wege Gottes« erinnert an Spr 8,22, wo die personifizierte Weisheit von sich sagt: »Er schuf mich am Anfang seiner Wege.« Im einen wie im andern Fall zeichnet die Rede von der Schöpfung am Anfang das aus, was Gott zuerst und vor allem anderen wichtig ist. Für die Gottesreden ist es entweder nicht der Mensch oder nicht der Mensch allein, an dessen Dasein und an dessen Bedürfnissen sich Gottes Schöpferhandeln ausrichtet. Das führt nun aber auch zu der Konsequenz, die für das Hiobbuch insgesamt von Bedeutung ist, dass nämlich Gottes Gerechtigkeit als Gerechtigkeit des Schöpfers den Rahmen menschlichen Verstehens (und Akzeptierens) übersteigt. Damit ist eine Ausrichtung der Schöpfungstheologie erreicht, die einige der Grundüberzeugungen anderer Positionen innerhalb der Hebräischen Bibel in Frage stellt. In Deuterojesaja und Gen 1 dient das Thema Schöpfung nicht zuletzt dem Ziel, Gottes Wesen und Handeln in Natur, Kultur und Geschichte verstehen zu können. Es geht darum, den Gott zu zeigen, der sich in seiner souveränen Gestaltungskraft der Welt zuwendet. Die Gottesreden lassen demgegenüber den Schöpfer hinter

55 Knohl, Divine Symphony, 121.

436

6. Kapitel: Gottesglaube

seine Schöpfung zurücktreten und markieren dadurch eine Erkenntnisgrenze, die gerade auch im Gesamtbild der alttestamentlichen Traditionen als kritische Stimme ernst zu nehmen ist. Auch für die Gottesreden dürfte außer Frage stehen, dass Gottes Schöpfung »gut«, im Gesamten sogar »sehr gut« ist, wie Gen 1 dies feststellt. Die Aufgabe, die menschlichem Leben gestellt ist, besteht nun aber darin, sich in die Ordnungen dieser sehr guten Schöpfung einzufinden, seinen Platz darin einzunehmen, ohne eine letzte Gewissheit über das Wesen und die Absichten des Schöpfers selbst zu haben.

Bibliographie Anderson, Bernhard W., Mythopoeic and Theological Dimensions of Biblical Creation Faith: Ders. (Hg.), Creation in the Old Testament, Minneapolis 1984, 1–24. Aoki, Takako, »Wann darf ich kommen und schauen das Angesicht Gottes?« Untersuchungen zur Zusammengehörigkeit beziehungsweise Eigenständigkeit von Ps 42 und Ps 43 (ATM 123), Münster 2008. Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik III,1 §§ 40–42 (Studienausgabe Bd. 13), Zürich 1993. Bauks, Michaela, Die Welt am Anfang. Zum Verständnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (WMANT 74), Neukirchen-Vluyn 1997. Berges, Ulrich, Jesaja 40–48 (HThKAT), Freiburg i. Br. u. a. 2008. Blenkinsopp, Joseph, Creation, Un-Creation, Re-Creation. A Discursive Commentary on Genesis 1–11, New York 2010. Janowski, Bernd, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der priesterlichen Heiligtumskonzeption: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 214–246. Ders., Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten Testament: Frevel, Christian (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg i. Br. u. a. 2010, 64–87. Jeremias, Jörg, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987. Ders., Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015. Knohl, Israel, The Divine Symphony. The Bible’s Many Voices, Philadelphia 2003. Krüger, Thomas, »Kosmo-theologie« zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Kontext altorientalischer und alttestamentlicher »Schöpfungs«-Konzepte: Ders., Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik im Alten Testament (AThANT 96), Zürich 1997, 91–120. Levenson, Jon D., Creation and the Persistence of Evil. The Jewish Drama of Divine Omnipotence, Princeton 1988. Maul, Stefan, Die altorientalische Hauptstadt – Abbild und Nabel der Welt: Wilhelm, Gernot (Hg.), Die Orientalische Stadt: Kontinuität, Wandel, Bruch, 1. Internationales Colloquium der Deutschen Orient-Gesellschaft, 9.-10. Mai 1996 in Halle/Saale, Saarbrücken 1997, 109–124. Moltmann, Jürgen, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 31987. von Rad, Gerhard, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 91987. Schmid, Hans Heinrich, Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. »Schöpfungstheologie« als Gesamthorizont biblischer Theologie: Ders., Altorientalische Welt in der alttestamentlichen Theologie, Zürich 1974, 9–30. Schmid, Konrad, Schöpfung im Alten Testament: Ders. (Hg.), Schöpfung, Tübingen 2012, 71–120.

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

437

Schellenberg, Annette, Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen (AThANT 101), Zürich 2011. Schüle, Andreas, Der Prolog der Hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1–11) (AThANT 86), Zürich 2006. Ders., Die Würde des Bildes. Eine Re-Lektüre der priesterlichen Urgeschichte: EvTh 66 (2006), 440–454. Wagner, Thomas, Gottes Herrlichkeit. Bedeutung und Verwendung des Begriffs kābôd im Alten Testament (VT.S 151), Leiden 2012. Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, hg. v. Janowski, Bernd, Gütersloh 2010. Zenger, Erich, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte (SBS 112), Stuttgart 21987.

§ 30 Gottes Liebe und Zorn Jörg Jeremias, Marburg Die Texte der Hebräischen Bibel besitzen darin ihre Eigenart, dass sie ganz überwiegend religiöse Erfahrungen in sprachlicher Verdichtung zum Ausdruck bringen. Weil dies so ist, muss den Beispielen besondere Aufmerksamkeit gelten, die Heilsund Unheilserfahrungen einander unmittelbar gegenüberstellen und sie im Lichte Gottes zu begreifen versuchen. Auf Gott als Verursacher dieser Erfahrungen gewendet, beantworten sie die Frage, wie sich seine Zuneigung zum Menschen zu dessen Abweisung verhält, sein Segen zu seinem Fluch, seine Belohnung zu seiner Bestrafung, vor allem aber seine Liebe zu seinem Zorn. Wäre dieses Verhältnis beliebig oder unbestimmbar, wäre Gott nichts anderes als die Verkörperung des Schicksals.

1.

Begriffsklärungen

In Wörterbüchern zur Theologie wird unter solchen Gesichtspunkten Gottes Zorn gern seiner Liebe gegenübergestellt wie auch im Titel dieser Ausführungen. In Abwandlung dieser Gewohnheit ist der Zorn jüngst sogar wenig glücklich und überaus missverständlich »die andere Seite der Liebe Gottes« genannt worden.56 Die Gegenüberstellung von Zorn und Liebe verdankt sich dabei vornehmlich einer polemisch ausgerichteten Bestimmung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament zueinander, bei der die Liebe Gottes wesentlich dem Neuen Testament, der Zorn Gottes vor allem dem Alten Testament zugeordnet wird. Ein einziger Blick in den Beginn des Römerbriefes lehrt schon, dass diese Verhältnisbestimmung auf falschen Voraussetzungen fußt.

56 Tück, Der Zorn, besonders 401–409.

438

6. Kapitel: Gottesglaube

Für die Hebräische Bibel ist die Korrelation von Liebe und Zorn nur in einem sehr allgemeinen und abstrakten Sinne möglich.57 Hier sind Liebe und Zorn keine Oppositionsbegriffe. Der Gegensatz zur Liebe ist der Hass, und mit beiden Begriffen sind bei Gott wie beim Menschen grundsätzliche Haltungen und Einstellungen zu (anderen) Menschen bezeichnet. Ein Mann, der eine Frau liebt, umsorgt sie und ihre Kinder; eine Frau, die er hasst, verstößt er (Dtn 21,15; 24,3). Von dieser Voraussetzung aus wird verständlich, dass wohl häufig von Gottes Liebe zu Israel die Rede ist (z. B. Hos 11,1; Jer 31,3; Dtn 7,7f.), aber nur in seltenen Ausnahmefällen und in Extremsituationen von seinem »Hass« gegen sein Volk (Hos 9,15; Jer 12,8). Wenn Gott etwas »hasst«, sind es gemeinhin Handlungen: heidnische Bräuche (Dtn 12,31; 16,22 u. ö.), Äußerungen des Hochmuts (Am 6,8) etc. Der Gegensatz zum Zorn ist im Alten Testament vielmehr Gottes »Güte« (ḥæsæd; im Griechischen meist éleos, in der Vulgata oft misericordia). Mit diesem Begriff ist im Hebräischen weit mehr gemeint als nur freundliche Zuneigung; die deutsche Wiedergabe ist nur ein Notbehelf. Vielmehr hat ḥæsæd in einem bestehenden Beziehungsverhältnis zumeist die Nuance des für den Empfänger Überraschenden und Unerwarteten; mit dem Begriff ist »etwas Besonderes … gemeint …, etwas, das über das eigentlich Selbstverständliche hinausgeht«.58 Noch im heutigen Alltagshebräisch ist diese Nuance erhalten geblieben: »Tu mir einen ḥæsæd!« heißt: »Tu mir einen Gefallen!«, also etwas, das über das pflichtgemäße Handeln hinausgeht. Im Blick auf Gott ist ḥæsæd daher »Ausdruck für Großherzigkeit«.59 Zahlreiche Texte rühmen, dass Gottes großherzige Güte beständig und zuverlässig sei.60 Wenn nun in der Mehrzahl der Belege der Zorn Gottes in Opposition zu seiner Güte tritt, wird sogleich deutlich, dass mit dem Begriff für die betroffenen Menschen mehr gemeint ist als nur der Entzug der göttlichen Güte. Der Zorn Gottes ist eine äußerste und extreme Reaktion Gottes auf denkbar schwerste Schuld von Menschen; er ist zerstörerisch und prinzipiell tödlich. Während von Gottes Strafen dann die Rede ist, wenn Gott als Richter auf die jeweiligen Vergehen von Menschen adäquat und angemessen reagiert, ist Gottes Zorn maßlos, weil Antwort auf maßlose Schuld von Menschen. Dem Zorn Gottes kann kein betroffener Mensch ausweichen, und keiner kann ihn verkraften. Ein Hiob sagt von Gottes Zorn, dass er ihn nur überleben könnte, wenn es auf der Erde oder in der Unterwelt einen Ort gäbe, an dem Gott ihn vor seinem Zorn verbergen würde, bis sein Zorn vorüber sei (Hiob 14,13). Hiob weiß, dass diese Möglichkeit irreal ist; einen solchen Ort kann es nicht geben. Insofern ist die von ihm genannte Vorstellung für ihn kein Trost, da er weiß, dass er Gottes Zorn nicht überleben kann. Allerdings enthält der irreale Gedanke zwei andere Merkmale des göttlichen Zorns neben seiner Unentrinnbarkeit, die tröstlich sind: Zum einen wissen alle Texte der Hebräischen Bibel, die vom Zorn

57 So etwa Dietrich/Link, Dunkle Seiten Gottes, 148–161; Janowski, Ein Gott, der straft?, 148–150. 58 Stoebe, ‫חסד‬, 607. 59 Stoebe, ebd. 611. 60 Zobel, ‫חסד‬, 55f.

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

439

Gottes reden, dass dieser Zorn zeitlich begrenzt ist; zum anderen erscheint der Zorn Gottes – wiederum wie in vielen anderen Texten – wie eine eigene Wesenheit, von der Gott sich zu distanzieren vermag.61 Hier zeigt die Rede vom Zorn Gottes eine Eigenart, die allen sog. Anthropomorphismen eignet, d. h. allen Übertragungen menschlicher Handlungen und Gefühle auf Gott: Mit derartigen Übertragungen sind immer auch (teilweise gravierende) Veränderungen gegeben, weil Erfahrungen Gottes sich von Erfahrungen menschlichen Handelns wesenhaft unterscheiden. Beim Zorn Gottes ist das wohl wichtigste Unterscheidungsmerkmal zum menschlichen Zorn: dass Gottes Zorn einerseits zwar Gottes leidenschaftliches Entsetzen über schwerste menschliche Schuld ausdrückt, auf die er sogleich und sozusagen automatisch mit äußerster Schärfe reagiert, und doch andererseits (mehr und mehr) zu einer eigenen Wesenheit wird, der Gott fremd gegenübersteht, ja, gegen die er selber angeht. Aber damit greife ich dem Gang der Untersuchung voraus. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang nur, dass Gott in der Hebräischen Bibel nie ein »zorniger Gott« ist, d. h. dass das Hebräische (im Gegensatz zu Gottes Güte) kein Adjektiv »zornig« für Gott bildet. Aber er kann Menschen zürnen – dann sind die Betroffenen verloren. Zwei weitere Eigenarten der biblischen Rede vom Zorn Gottes sollen einleitend zumindest mit einem Seitenblick betrachtet werden. Zum einen ist bemerkenswert, dass die Hebräische Bibel etwa ein Dutzend Begriffe für den göttlichen Zorn kennt, unter denen die Hälfte häufige Verwendung findet. Daran zeigt sich, dass mit dem Zorn Gottes keine von vornherein festliegende Begrifflichkeit, keine eng umrissene Konzeption verbunden ist. Vielmehr kann man gerade an den prophetischen Schriften, in denen der Zorn Gottes am häufigsten genannt wird, beobachten, wie in ihnen behutsam tastend ausgelotet wird, wann und wie sinnvoll vom Zorn Gottes geredet werden kann. Zum anderen muss auffallen, dass in diesen prophetischen Schriften vom Zorn Gottes fast ausschließlich im Rückblick auf Geschehenes die Rede ist (selbst wenn formal der Modus der Ankündigung von Zukünftigem gewählt wird), anders ausgedrückt: dass für sie der Zorn Gottes eine Kategorie der Deutung zurückliegender extremer Erfahrungen und nicht der vorausblickenden Zukunftsschau ist. Kein alttestamentlicher Text ist der Auffassung, dass ein Mensch zu jeder beliebigen Zeit mit dem Zorn Gottes zu rechnen hat, von ihm also unvorbereitet und plötzlich überrascht werden kann.

2.

Die Unvergleichlichkeit von Zorn und Güte Gottes

Zu den bewegendsten Texten der Hebräischen Bibel, wenngleich auch zu den unbekanntesten, gehört Klgl 2, das vermutlich älteste Kapitel der sog. Klagelieder des 61 Diese Dimension des Zornes Gottes ist all den Exegeten verborgen geblieben, die im Gefolge der bedeutenden Systematiker Schleiermacher und Ritschl die Rede vom Zorn Gottes als mit dem christlichen Glauben unvereinbar hielten. Vgl. zu diesem Missverständnis besonders Gross, Zorn Gottes; Hermisson, Von Zorn und Leiden Gottes, und zuletzt Jeremias, Zorn Gottes, 1–14.

440

6. Kapitel: Gottesglaube

Propheten Jeremia. In ihm schreien tief verwundete Menschen auf, die Furchtbares erlebt haben und ihre Erlebnisse als Wirkung des göttlichen Zorns begreifen. Gott ist für sie auf die Seite des Feindes getreten, ja ist selbst zum Feind seines Volkes geworden (V. 4f.22); er hat ohne jegliches Erbarmen Jerusalem zerstören und seine Menschen grausam töten lassen. Wieviel leichter wäre es für diese Menschen, wenn sie ihre schrecklichen Kriegserfahrungen wie im klassischen Dualismus von einer anderen (Schicksals-)Macht herleiten und dem geglaubten Gott nur die guten Widerfahrnisse ihres Lebens zuschreiben könnten! Aber eine solche Deutung ist für die Menschen, die in Klgl 2 ihre Not im wahrsten Sinn des Wortes herausschreien, keine Möglichkeit. Zwar wissen sie – wie alle alttestamentlichen Menschen in ähnlicher Lage –, dass man zum zürnenden Gott nicht beten kann, weil er nicht hört und nicht antwortet. Aber sie halten ihm dennoch – auch ohne Gebetsanrede – klagend ihre schrecklichen Erlebnisse vor, weil sie hinter dem im Zorn verborgenen Gott den vertrauten Gott wissen, der den Menschen zugewandt ist. a) Damit stehen wir vor der Eigenart aller biblischen Rede von Gottes Zorn. So sehr diese Texte die im Letzten unerklärlichen Schrecken ihrer Erfahrungen mit einem zürnenden Gott offen benennen, weil der Gott der Bibel entweder alle Dimensionen des Lebens seiner Menschen abdeckt oder nicht Gott ist, so sehr sind sie ausnahmslos der Meinung, dass Gottes Güte ungleich stärker und wirkungsmächtiger ist als sein Zorn. Es gibt keinen einzigen Text in der Hebräischen Bibel, der Gottes Güte und seinen Zorn als gleichgewichtige Handlungsweisen Gottes und damit als gleichgewichtige Erfahrungen des Menschen beschreiben würde. Ja, bei näherem Zusehen gibt es nicht einmal einen Text, der es bei einem bloßen Komparativ belassen würde: Gottes Güte ist mächtiger als sein Zorn. Alle Texte sind vielmehr auf der Suche nach einer Sprachform, mit der ein solcher Komparativ als unzureichend erwiesen und gesteigert werden kann. Denn hinter Gottes Zorn steht für sie verborgen Gottes Güte, und diese Güte »bleibt für alle Zeiten«, wie der ständig wiederholte Kehrvers der Litanei Ps 136 betont – also selbst in Zeiten des Zorns, weil Gott wesenhaft gütig ist. Daneben gibt es freilich im Kontext von Not und Leid andere Zeugnisse, die die unerträglichen Schläge des göttlichen Zornes beklagen und wie Ps 77 die Frage stellen, ob Gottes Güte »für immer zu Ende sein kann« und Gott »im Zorn sein Erbarmen verschließen kann« (V. 9f.). Aber sie stellen diese Frage nur, um wie alle anderen Texte zu antworten, dass Gott zu einem solchen Tun ganz und gar unfähig ist. Die Differenz zwischen Gottes zeitlich begrenztem Zorn und seiner dauerhaften Güte hat kein anderer Psalm so knapp und präzise zum Ausdruck gebracht wie Ps 30,6: Sein Zorn währt einen Augenblick, lebenslang (aber) seine Güte! Am Abend kehrt Weinen ein, doch am Morgen Jubel.

Der Mensch, der hier Gott dankt, hat alle Schrecken des Lebens durchlitten und hat sich schon in den Fängen des Todes befunden (V. 4). Aber er hat nicht nur

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

441

erlebt, wie die Macht Gottes weit stärker ist als die Macht des Totenreiches, die nach ihm griff, sondern auch, wie diese Erfahrung der Güte Gottes nahtlos anknüpft an analoge Erfahrungen seines früheren Lebens, über die er vor seiner Todesangst weniger nachgedacht hatte. So wagt er im Rückblick auf sein bisheriges Leben seine Erfahrungen zu generalisieren: Die Güte Gottes, die ihm jetzt wie so häufig zuvor widerfuhr, darf Gültigkeit auch für andere Menschen beanspruchen; sie bestimmt ihr Leben genauso wie das seine. Vorübergehende Zeiten des Zornes Gottes können diese Grunderkenntnis nicht widerlegen. Aus diesem Grund soll und kann das Danklied nachgebetet werden: von Menschen in guten Tagen wie von solchen in schweren Zeiten. b) Das prägnanteste und wirkungsmächtigste Zeugnis für die Ungleichgewichtigkeit von Gottes Zorn und seiner Güte bietet Ex 34,6f. mit seinen Parallelen: das bedeutendste Bekenntnis zu Gottes Wesen und seinem Handeln aus Israels Spätzeit, das in unterschiedlicher Gestalt nicht weniger als 20 mal belegt ist, verteilt über alle drei Teile des Kanons: In seiner Langform begegnet es neben Ex 34,6f. in Num 14,18, in seiner üblichen Gestalt in Joel 2,13; Jona 4,2f.; Nah 1,3; Ps 86,15; 103,8; 145,8 und Neh 9,17, in den übrigen Belegen in kürzeren Anspielungen. Hermann Spieckermann hat dieses Bekenntnis wenig schön, aber einprägsam »die Gnadenformel« genannt.62 Ihr Gewicht erhellt nicht nur aus der Zahl der Belege, sondern auch aus der Tatsache, dass das Alte Testament, das sonst äußerst zurückhaltend gegenüber Wesensaussagen Gottes in adjektivischer Form ist und lieber verbal von Handlungen Gottes redet, hier in Form von Adjektiven und Partizipien mehrere Aussagen über Gottes wesensgemäßes Handeln gegenüber dem Menschen wagt. Zudem steht Ex 34,6f., der Text, den die neuesten Monographien zum Thema63 für den ältesten Zeugen halten, an einer Weichenstellung der Geschichte Gottes mit Israel: Er begründet, warum eine weitergehende Geschichte Gottes mit seinem Volk möglich ist, obwohl dieses Volk schon bei der ersten Gelegenheit, bei der es ohne Mose war, den Gott, der sich ihm offenbart hatte, sogleich verwarf. Für Ex 34,6f. liegt die Möglichkeit einer Fortsetzung der Geschichte Gottes mit seinem Volk trotz dieser Verwerfung nur in Gott und seinem Wesen begründet. Ex 34,6f. lautet: Jhwh, Jhwh: ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn64, aber reich an zuverlässiger Güte65: der Güte Tausenden bewahrt, der Schuld, Verbrechen und Vergehen vergibt, aber ganz ungestraft lässt er nicht …

62 Spieckermann, Barmherzig und gnädig. 63 Scoralick, Gottes Güte; Franz, Der barmherzige und gnädige Gott. Ähnlich zuvor Schmidt, »De Deo«, 89–101. 64 Durch Luthers Übersetzung »geduldig« ist für Leser der deutschen Bibel die Spannung zwischen Zorn und Güte Gottes verloren gegangen. 65 »Güte« und »Treue« bilden ein Hendiadyoin.

442

6. Kapitel: Gottesglaube

Die Wesensbestimmung Gottes besteht aus drei Teilen. Im Zentrum steht die spannungsreiche Beziehung zwischen Zorn und Güte Gottes, deren Ungleichgewichtigkeit so stark wie möglich hervorgehoben wird: Während Gott die Zeit möglichst weit hinauszögert, zu der er seinem Zorn Handlungsfreiheit gestattet, können Menschen den Reichtum seiner Güte ständig und zuverlässig erfahren. Diese Spannung erfährt im letzten Teil des Textes (V. 7) eine Explikation in Partizipien: Gottes überreiche Güte erweist sich primär in der Vergebung von Schuld, und zwar in jeder Gestalt, wie die Aufzählung der geläufigsten Begriffe für Schuld erweist, und zu solcher Vergebung ist er jederzeit bereit. Allerdings muss Israel wissen, dass auch diese Bereitschaft eine Grenze besitzt, jenseits derer Gott Vergebung nicht mehr möglich ist, wie es selbst in der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels sowie der Verbannung so vieler Menschen ins babylonische Exil bitter hat erfahren müssen. Dann muss Gott strafen und im äußersten Fall seinem Zorn Raum geben, auch wenn er sein Volk vor solchen Erfahrungen bewahren möchte. Sachlich gewichtiger als diese Explikation der Güte Gottes mit ihrer Konzentration auf seine Vergebung, die auf die Langform beschränkt ist, ist der Einsatz der »Gnadenformel«: Dem Gegensatzpaar von Zorn und Güte sind zwei Adjektive vorgeordnet, die Handlungsweisen Gottes beschreiben, die ohne Einschränkung permanente Gültigkeit beanspruchen. Sie bilden ein zusammengehöriges Begriffspaar, dessen Reihenfolge wechseln kann, das aber überschriftartig die Aussagen über Zorn und Güte Gottes dominiert. Es schränkt den Raum des Zornes Gottes noch stärker ein als die Rühmung seiner überreichen Güte. Dabei besitzt der Begriff »barmherzig« eine stark emotionale Komponente: Im zwischenmenschlichen Bereich wird der Begriff besonders von Müttern (von der gleichen Verbwurzel ist das Wort »Mutterleib« gebildet) oder genereller von Eltern gegenüber Kindern verwendet. Demgegenüber entstammt das Adjektiv »gnädig« dem höfischen Bereich und wird zwischenmenschlich von einem Höhergestellten einem Untergebenen erwiesen. Zusammen wollen beide Begriffe, auf Gott übertragen, seine grundlose und intensive Zuneigung zu seinem Volk beschreiben, die die Basis und Voraussetzung aller Vergleiche von seinem Zorn und seiner Güte sowie von Heils- und Unheilserfahrungen seiner Menschen ist. Das Erstaunliche an dieser Überbetonung der Güte Gottes ist, dass hier ein Volk von seinem Gott redet, das die volle Wucht seines Zornes in der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels vor nicht allzu langer Zeit erfahren hat! Wie das spätere Israel mit den Aussagen der Gnadenformel gelebt hat, zeigt etwa Ps 103. Er zitiert in V. 8 die Gnadenformel (fast) wörtlich (»barmherzig und gnädig ist Jhwh, langsam zum Zorn, aber reich an Güte«), um in V. 10f. die eigenen Erfahrungen der Gemeinde als Beleg ihrer Wahrheit anzuschließen: Nicht nach unseren Vergehen hat er an uns gehandelt und nicht nach unseren Verschuldungen uns vergolten, sondern so hoch der Himmel über der Erde ist, so mächtig hat sich seine Güte über denen erwiesen, die ihn fürchten.

Die Gemeinde, die Gott hier lobt, hat nicht nur auf vielfältige Weise immer wieder die Vergebung ihrer Schuld erfahren, sondern sie preist Gottes Güte als eine Macht,

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

443

die die Welt bestimmt und nur in kosmischen Vergleichen recht beschrieben werden kann. Von einer Grenze der göttlichen Güte, an der sein Strafen oder gar sein Zorn einsetzt, weiß sie nichts. Letztlich sind es solche Erfahrungen gewesen, die in zugespitzten Aussagen zu der Hoffnung geführt haben, dass Gott seinen Zorn ganz überwinden werde. Aber von diesen Hoffnungen soll erst am Ende dieser Ausführungen die Rede sein.

3.

Gottes Zorn und Gottes »Reue«

Auch wenn die alttestamentlichen Texte ausnahmslos dessen gewiss sind, dass Gottes Güte unvergleichlich mächtiger als sein Zorn ist, bleibt die andere Grundüberzeugung bestehen, von der schon eingangs die Rede war, dass kein Mensch, der vom Zorn Gottes betroffen wird, ihn überleben kann. Auf Israel, von dem die Mehrzahl der Texte redet, gewandt, heißt das prinzipiell: Wenn ein extrem schuldiges Gottesvolk von der vollen Wucht des göttlichen Zorns getroffen wird, ist es verloren. a) Und doch gibt es keinen einzigen Text in der Hebräischen Bibel, der eine solche Aussage enthält oder eine solche Konsequenz in Aussicht stellt.66 Es sind vor allem die Propheten gewesen, die ihrem Volk immer wieder die Gewissheit vermittelt haben, dass Gott es zwar aufgrund schwerer Schuld hart strafen, dass er es aber nicht verwerfen könne. Um diese Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, haben sie einen Begriff geprägt, der im späteren Alten Testament zentrale Bedeutung gewinnen sollte: die »Reue« Gottes. Dabei ist bei diesem Anthropopathismus noch stärker als beim Zorn mit Händen zu greifen, wie die Übertragung menschlicher Gefühlsäußerungen auf Gott nur möglich ist, indem der Begriff für das betreffende Gefühl ganz neue Nuancen gewinnt. Die Wurzel ‫נחם‬/nḥm, die dem Begriff der »Reue« zugrunde liegt, hat bemerkenswerterweise noch ganz andere Bedeutungen aus sich entlassen: Sie steht auch für Trost, ja sogar für Rache. Der Grundgedanke, der hinter den so unterschiedlichen Sinnzusammenhängen steht, ist der einer Erleichterung. Im Arabischen hat das entsprechende Verb die Grundbedeutung »kräftig Atem holen, aufatmen«, d. h. nach einer (seelischen) Atemnot durch einen tiefen Atemzug Erleichterung empfinden. Bei bitterer Verletzung wird dieser Atemzug in Gestalt der Rache empfunden,

66 Genauer gesagt: Wo derartige Sätze in der Prophetie (besonders in den Büchern Jeremia und Ezechiel) formal niedergeschrieben werden, handelt es sich um retrospektive Deutungen der Zerstörung Jerusalems, die im Modus der prophetischen Ankündigung verdeutlichen wollen, dass Gott sein Volk bisher vor dieser letzten Konsequenz seines Zorns immer neu bewahrt hat; vgl. Jeremias, Gottes Zorn, 95–112.

444

6. Kapitel: Gottesglaube

im Leid durch den Trost, den andere spenden, beim Unmut über eine zuvor getroffene Entscheidung durch Reue.67 Der entscheidende Unterschied zwischen Gottes Reue und menschlicher Reue liegt dabei darin, dass Menschen eine Entscheidung oder eine Tat bereuen, weil sie falsch oder auch schuldhaft war. Auf Gott angewandt, meint der Begriff der Reue dagegen neutral einen Willenswandel, und zwar (mit den Ausnahmen von Gen 6,6 und 1Sam 15,10f.) immer einen Willenswandel, der Israel zugutekommt und es vor dem Untergang bewahrt. Den Grund für diesen Willenswandel suchen die Texte im Mitleid Gottes mit seinem Volk, während sie alle davon ausgehen, dass Gottes zugrunde liegender Vernichtungsbeschluss durch schwere Schuld Israels rechtens und gut begründet war. Wie aus den ältesten Belegen, den ersten beiden Visionen des Propheten Amos (Am 7,1–6), hervorgeht, kann Gott selbst dann noch »Reue empfinden« und sein Gerichtshandeln zurücknehmen, wenn Israels Schuld schon so groß ist, dass ihm eine Vergebung der Schuld, wie sie Amos von ihm erbittet, nicht mehr möglich ist. So ist die Reue das äußerste Mittel Gottes, um sein mit schwerster Schuld belastetes Volk vor dem göttlichen Zorn zu bewahren, der ihm den Untergang bringen würde. Das wahrscheinlich älteste Zeugnis für die Konfrontation von Zorn und Reue Gottes bietet Hos 11, ein Kapitel, das eine Fülle vorausgehender Gerichtsankündigungen Gottes durch seinen Propheten bündelt und den Ton grenzenloser Verzweiflung Gottes hörbar macht. Gott hat seinem Volk, das er liebt, im Verlauf der Geschichte alle Arten der Zuneigung zukommen lassen, deren er fähig war, aber sein Volk hat stets nur auf eine Weise reagiert: mit dem entschlossenen Willen, von ihm zu anderen Heilbringern fortzulaufen. Als Vater hat Gott seinen ›Sohn‹ Israel aus Ägypten in die Freiheit gerufen, als Arzt hat er seinem Volk, wann immer ihm Wunden geschlagen wurden, Heilung zukommen lassen, als guter Bauer hat er seine Tiere mit bester Nahrung versorgt – alles vergeblich, er hat nur Undankbarkeit als Antwort erhalten (V. 1–4). Zuletzt hat er Israel mit harten Kriegserfahrungen strafen müssen, aber die erhoffte Einsicht ist auch jetzt nicht erfolgt (V. 5–7). Gott steht vor dem Scherbenhaufen der Geschichte mit seinen Menschen: Immer neue Heils- und zuletzt auch Unheilserfahrungen haben nur undankbare und widerspenstige Reaktionen hervorgerufen. Was kann er nun anderes tun, als sein Volk von sich zu stoßen, das unwillig ist, Gottes Partner oder auch nur der Empfänger der Erweise seiner Güte zu sein? Schon lodert sein Zorn auf und will Israel vertilgen. In dieser Extremsituation, in der es um Bestand oder Untergang Israels geht, lässt der Prophet seine Leser Zeugen eines erregenden Kampfes in Gott werden, dessen Ausgang ergibt, dass Gott unfähig ist, seine Menschen von sich zu stoßen oder sie zu vernichten, so schuldig, widerborstig und undankbar sie auch sein mögen (Hos 11,8f.):

67 Vgl. Jeremias, Reue Gottes, 15–18; Döhling, Der bewegliche Gott, 15–19.

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

445

Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, dich ausliefern, Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, dich zurichten wie Zeboïm? Mein Herz ist in mir umgestürzt, mit Macht ist meine Reue entbrannt! Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken, kann Efraim nicht wieder verderben, denn Gott bin ich, nicht Mensch, in deiner Mitte der Heilige: Ich lasse Zornesglut nicht aufkommen.

Zwei Kräfte ringen hier in Gott miteinander, die beide als feurig und brennend beschrieben werden. Die eine Kraft ist Gottes Zorn, und sie entflammt geradezu automatisch, wann und wo schweres Unrecht und Verwerfung Gottes unter Menschen geschieht. Die andere Kraft ist eine reine Gegenkraft gegen diesen Zorn, die nur dazu auflodert, um den Zorn an seinem zerstörerischen Handeln zu hindern. Weil sie aggressiv gegen Gottes Zorn ausgerichtet ist, heißt sie Gottes »Reue«, und sie ist es, die in diesem Kampf den Sieg davonträgt. Die Folge des Sieges der Reue Gottes über seinen Zorn ist, dass Gottes »Herz« – im Hebräischen nicht der Ort des Gefühls, sondern des rationalen Denkens und Planens – »umstürzt«, ein Verb, das in der Tradition für den totalen Umsturz Sodoms und Gomorras (bzw. Admas und Zeboïms, zweier Städte, die das Geschick Sodoms und Gomorras teilten) verwendet wird. Es ist der Sieg der »Unlogik« Gottes. Nach menschlichen Maßstäben logisch wäre die Vernichtung eines Volkes, das alle Wohltaten Gottes von sich gestoßen hat und sich auch von Gottes Strafen nicht zur Einsicht führen ließ. Diese Logik vertritt Gottes Zorn. Aber so sehr dieser Zorn in seinem spontanen Aufflammen die Existenz Israels bedroht, so sehr ist es doch der sogleich einsetzende »Herzensumsturz« in Gott, der Sieg seiner gegen den eigenen Zorn gerichteten »Reue«, der in radikalem Willenswandel Gottes Handeln bestimmt. Gott kann hart strafen, aber er kann seine Menschen nicht vernichten. Der abschließende Vers des Kapitels (V. 11) wagt behutsam, von einem Neuanfang eines (nun einsichtigen) Gottesvolks zu sprechen. Wie grundsätzlich dieser Kampf in Gott vom Propheten gedacht ist, zeigt die abschließende Begründung des Kampfgeschehens: Im Sieg der »Reue« Gottes über seinen Zorn erweist sich Gottes Gottheit, erweist sich seine »Heiligkeit«, die ihn vom Menschen trennt. Würde Gott wie ein Mensch und nach menschlicher Logik handeln, wäre Israels nur allzu gut begründete Vernichtung nicht aufzuhalten. Der Sieg über seinen Zorn ist zum wichtigsten Kennzeichen Gottes geworden, das sogar die göttliche »Heiligkeit« prägt, die doch in der älteren Tradition gerade davon bestimmt war, dass Gott Schuld und Unrecht nicht zu ertragen vermag! b) Gilt diese Erkenntnis nur für Israel oder auch für die Menschheit generell? In der kosmopolitischen Stimmung der beginnenden hellenistischen Zeit spiegelt das klei-

446

6. Kapitel: Gottesglaube

ne Büchlein Jona einen heftigen Streit in Israel um diese Frage wider, in einer Erzählung, die in zwei Etappen verläuft. Auf der ersten Etappe gerät der vor Gott fliehende Prophet Jona auf ein Schiff mit Matrosen aus aller Herren Länder, die eine Weltgesellschaft in nuce darstellen. Diese Weltgesellschaft in nuce verhält sich nun aber überraschend viel frömmer und weit rationaler als Jona selbst: Während Jona im Angesicht des lebensbedrohenden Sturmes, den Gott schickt, im untersten Deck des Schiffes schläft, beten sie intensiv zu dem jeweiligen Gott, den sie kennen; während Jona in seinem Herzen weiß, dass man vor dem lebendigen Gott nicht fliehen kann und trotzdem flieht, steigert sich die anfängliche Furcht der Matrosen vor dem Untergang zu einer Gottesfurcht gegenüber dem wahren Gott, den sie erst durch Jona kennenlernten und zu dem sie sich nun bekehren. Aber diese erste Etappe der Erzählung (Kap. 1) bildet nur den Auftakt für den eigentlichen Kern der Erzählung. Jetzt (in Kap. 3) steht Jona nicht mehr Matrosen gegenüber, sondern der notorisch bösen und gewalttätigen Stadt Ninive, zu der ihn Gott sendet. Jona soll ihr ihren Untergang ankündigen, aber Jona weigert sich, solange er kann, diesen Auftrag auszufüllen, ohne dass der Leser zunächst versteht, warum. Der König von Ninive und alle Bewohner der Stadt aber vollziehen, kaum dass Jona seine kurze Ankündigung ausgesprochen hat, eine radikale und umfassende Buße, wie sie das biblische Israel trotz der vielfältigen prophetischen Stimmen, die es gehört hat, nie auch nur in annähernd vergleichbarer Weise zu realisieren vermocht hat. Der König von Ninive hofft nämlich in seinem Inneren, dass er mit der Umkehr aller seiner Einwohner Gottes Mitleid erwirken kann. Auch ohne dass Jona davon geredet hat, ahnt er, dass Gott mehr und anderes ist als eine vergeltende Schicksalsmacht, und er wagt es, mit der Möglichkeit zu rechnen (V. 9): Vielleicht kehrt der Gott (seinerseits) um und übt Reue, so dass er sich von seinem glühenden Zorn abwendet, damit wir nicht zugrunde gehen.

Auch darin erweist sich der König der bösen Stadt als ein im Herzen frommer Mann, dass für ihn die Reue Gottes und mit ihr die Verschonung des schuldigen Ninive und seiner Bewohner nichts Selbstverständliches ist und schon gar nicht etwas, das auf die Buße der Einwohner hin automatisch erfolgt. Vielmehr hofft er darauf, dass Gott »vielleicht« Reue übt und gibt damit der Freiheit der Entscheidung Gottes Raum. Er weiß ja durch Jona nur zu gut, dass Ninive aufgrund seiner vormaligen Taten nur den Untergang verdient hat. Der König von Ninive hat sich nicht getäuscht. Die radikale Umkehr Ninives hat zur »Umkehr« Gottes geführt, wie die Erzählung den »Herzensumsturz« Gottes nennt, von dem Hosea sprach. Gott hat sein geplantes Unheil »bereut« und Ninive verschont. Nun aber ist Jona empört, und jetzt erst, am Schluss der Erzählung (Kap. 4), erfährt der Leser den Grund der Flucht Jonas vor Gottes Auftrag. Jona kennt sein Grundbekenntnis der »Gnadenformel« gut, und er hatte schon im Voraus geahnt, dass Gott wieder einmal erweisen würde, wie er ist (Jona 4,2): ein Gott, gnädig und barmherzig, langsam zum Zorn, aber reich an Güte,

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

447

und nun ergänzt er (wie auch Joel 2,13 es tut) dieses vertraute Bekenntnis um den Satz: und lässt sich des Unheils gereuen.

Jona hat verstanden, dass auch die Reue Gottes, auch der Wille Gottes, seine Menschen trotz schwerster Schuld vor dem Untergang zu bewahren, zum Wesen Gottes gehört. Aber er ist nicht bereit, dieses tiefste Geheimnis Gottes mit der Hauptstadt der Weltmacht Assyrien, Ninive, zu teilen, von der so viel Gewalt und Leid für Israel ausging. Muss Gott dieses böse Reich, unter dem alle Völker leiden (und muss er alle folgenden bösen Weltmächte) nicht um seines Volkes willen vernichten? Muss Gott nicht für Gerechtigkeit auf der Welt sorgen? Das Büchlein Jona ist das einzige Buch der Bibel, das mit einer Frage endet. Gott versucht, den enttäuschten und erbosten Jona, der jetzt für weite Kreise Israels steht, für sein Mitleid zu gewinnen, das nicht nur allgemein den Völkern gilt, wie sie die Matrosen repräsentieren, sondern speziell auch der ungerechten Weltmacht Ninive. Gottes Mitleid mit seinen Geschöpfen ist unbegrenzt. Freilich setzt die Jonaerzählung voraus, dass diese Weltmacht umfassende Buße tut, damit Gott sie aufgrund seiner Reue vor der Vernichtung bewahren kann. Kann man das von einer bösen Weltmacht (wie von dem Ninive der Erzählung) erwarten? Der Erzähler des Jonabüchleins hält dies für weit eher möglich als dass Israel begreift, dass Gott mit seinem Willen zur Reue nicht nur das Heil des Gottesvolks, sondern das Heil der Welt im Blick hat.

4.

Gott überwindet seinen Zorn

Andere Theologen der Hebräischen Bibel haben sich mit dem grandiosen Bild eines Kampfes zwischen Zorn und »Reue« in Gott (Hos 11) bzw. mit der Vorstellung, dass die Umkehr schuldiger Menschen Gottes »Umkehr« von seinem Zorn hervorruft (Jona; vgl. Jer 18,7–10; 26,3), nicht zufriedengegeben. Sie wollten ihren ängstlichen, durch die Zerstörung Jerusalems und die Erfahrung des Exils verunsicherten Zeitgenossen eine noch stärkere Gewissheit vermitteln, dass Gott sein Volk unter keinen Umständen verwerfen und von sich stoßen kann. Dafür haben sie ein Doppeltes getan: Sie haben den Sieg der Reue Gottes über seinen Zorn schon im Zuge der Anfangsgeschichte Israels in der Zeit Moses erzählt, und sie haben diese Erzählung mit einer Fülle rationaler Argumente ausgestattet, um ihre zweifelnden Leser zu vergewissern, dass Gott sein Volk zwar hart strafen, es aber nicht vernichten kann. a) Dazu haben sie die berühmte Erzählung vom Goldenen Kalb (Ex 32) erweitert und fortgeschrieben. Diese Erzählung hatte berichtet, wie Israel, schon in der Stunde der grundlegenden Offenbarung Gottes am Sinai, kaum dass Mose sein Volk für wenige Tage verlassen hatte, den unsichtbaren, ihm fremden Gott verwarf, um sich nach eigenem Gutdünken und Geschmack einen Gott zu gestalten, wie er ihm aus

448

6. Kapitel: Gottesglaube

vielen Abbildungen seiner Umwelt vertraut war; ihn konnte es sehen und ihn konnte es handhaben. Bei seiner Rückkehr hatte der entsetzte Mose das Gottesbild sogleich zertrümmert, hatte aber in seiner Fürbitte für sein schuldiges Volk bei Gott keine Vergebung dieser denkbar schweren Schuld erwirken können – trotz des Angebots seiner Lebenshingabe –, sondern hatte nur einen Strafaufschub gewährt erhalten (V. 30–35). Diesem Gebet des Mose haben die genannten Theologen eine frühere, nun aber erfolgreiche Fürbitte vorangestellt, die Mose an Gott richtete, als er noch auf dem Berg weilte (V. 7–14). Als ihn Gott dort von der Errichtung des Goldenen Kalbs durch das Volk unterrichtet und Mose seine Absicht eröffnet hatte, dieses von Anbeginn abtrünnige und ungehorsame Volk zu vertilgen, hat Gott für jeden Leser überraschend Mose gebeten (V. 10): Lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne!

Mose als der einzig Schuldlose in Israel besitzt für diesen Text ein Mitspracherecht an Gottes Zorn! Gottes Zorn ist hier deutlich nicht mehr als spontane, gefühlsbetonte Regung in Gott verstanden, sondern als ein äußerstes Mittel seiner Reaktion auf schwerste Schuld von Menschen, dessen Einsatz Gott sorgfältig abwägt und nach Berücksichtigung aller Gründe dafür oder dagegen entscheidet. Und Mose wird als Gottes Vertrauter an dieser Beschlussfassung nicht nur beteiligt, sondern er erhält sogar ein Einspruchsrecht. Mose muss sein Volk erst zur Vernichtung durch Gottes Zorn freigeben, damit Gott seine Absicht, aus Mose ein neues und besseres Gottesvolk entstehen zu lassen, realisieren kann. Aber Mose ist keineswegs bereit, in die Vernichtung des schuldigen Israel einzustimmen. Er steht – sozusagen ein christologischer Mose – wie eine unbezwingbare Mauer vor Gott und erreicht mit einer Fülle an Argumenten, dass Gottes Plan, sein Volk im Zorn auszulöschen, als nicht sinnvoll erscheint. Für jeden verständigen Leser der Zwiesprache zwischen Gott und Mose wird schnell deutlich, dass Mose mit der Fülle seiner Argumente gegen die Sinnhaftigkeit des göttlichen Zorns nicht Gott überzeugen will, der solcher Belehrung nicht bedarf, sondern vielmehr die Leser des Textes, sofern sie mit der Möglichkeit rechnen, Gott könne sein eigenes Volk auslöschen. Es sind drei Gründe, die schon je für sich Gottes zerstörerischen Zorn als widersinnig erweisen sollen (V. 11–13): Israels Vernichtung würde ein Scheitern der Geschichte Gottes mit seinem Volk bedeuten, das trotz aller Schuld sein Volk ist und bleibt; Gott würde mit der Vollstreckung seines Zorns zudem für Ägypten und damit für die gesamte Menschheit unglaubwürdig werden und die Völkerwelt für alle Zeit verlieren; vor allem aber würde er wort- und sogar eidbrüchig werden, da er sich selbst mit einem Schwur an seine Verheißung gebunden hat, den Vätern das Land zu geben. Am Ende wird Moses Bitte um Gottes Reue und Israels Verschonung erfüllt; Gott wird seinen Zorn nicht vollstrecken, sollte er auch noch so glühen und aufflammen. Jeder Leser versteht, dass hier nicht eine punktuelle Entscheidung Gottes in einer singulären geschichtlichen Situation geschildert werden soll, sondern eine Entscheidung Gottes, die grundsätzlichen Charakter besitzt und für alle Zeiten gültig ist. Zugleich erfährt der Leser freilich am Ende der Erzählung, dass Moses weiterrei-

§ 30 Gottes Liebe und Zorn

449

chende Bitte um Vergebung von Gott nicht erfüllt wird. Die Verwechslung des lebendigen Gottes mit einem selbsterdachten Wunschgott bleibt eine Schuld, die Gott nicht vergeben kann. Aber Gott hat sich zuvor auf Moses Fürbitte hin gebunden, seinen Zorn nicht entbrennen zu lassen. Gott kann künftig sein Volk hart strafen, aber er wird es nie vernichten. In dieser Gewissheit darf das Israel der Mosezeit und aller künftigen Zeiten trotz schwerer Schuld getrost in seine Zukunft ziehen.

b) Dieser großartige Text der Anfangsgeschichte Israels fußt letztlich auf prophetischen Einsichten. Wie die »Reue« Gottes ihren schönsten Ausdruck in Hos 11 gefunden hat, so die Überwindung seines Zorns durch Gott selber beim »Evangelisten« unter den Propheten, Deuterojesaja, in Jes 54,7–10, wenngleich in sehr andersartiger Terminologie als in Ex 32–33. Bei dem Versuch, seinen desillusionierten und in Lethargie versunkenen Zeitgenossen im Exil und unmittelbar danach den Anbruch des Heils zu verdeutlichen, das Gott ihnen in ihren Tagen bereiten will, geht der Prophet in zwei Schritten voran. In einem ersten Schritt stellt er Zorn und Güte Gottes einander komparativisch gegenüber wie auch die Texte, mit denen wir einsetzten, aber er steigert den Komparativ bis ins Extrem (V. 7f.): Einen kurzen Augenblick lang habe ich dich verlassen, aber mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln. Im Aufwallen des Zorns habe ich einen Moment mein Angesicht vor dir verborgen, aber mit immerwährender Güte habe ich mich deiner erbarmt, hat Jhwh, dein Erlöser, gesagt.

In der Perspektive Gottes war die Zeit des babylonischen Exils, in der Israel als schuldbeladenes Gottesvolk unter der Erfahrung des göttlichen Zorns leiden musste, nur ein »kurzer Augenblick«, in dem Gott »einen Moment lang« die Verbindung mit seinem Volk unterbrach und für es unerreichbar wurde. Die betonte Untertreibung bei dieser Zeitmessung dient nur einem Ziel: Gottes Güte im Kontrast zum Zorn als unermesslich und vor allem als zeitlich unbegrenzt, als »immerwährend« darzustellen. Sie war auch zur Zeit des Zornes wirksam, allerdings verborgen, und sie ruft jetzt, ihrem Wesen gemäß, Gottes Erbarmen mit seinem geplagten Volk hervor. Ja, die Zeit des Erbarmens ist bei Gott schon angebrochen, bevor die Menschen sie spüren – die Gottesrede geht vom Futur (»… werde ich dich sammeln«) zum Perfekt über (»… habe ich mich deiner erbarmt«); Israel wird in Kürze von diesem Erbarmen ganz umfangen sein. Stärker als hier ist die Ungleichgewichtigkeit von Zorn und Güte Gottes, die allen Texten des Alten Testaments zugrunde liegt, nie hervorgehoben worden. Aber der Prophet gibt sich mit dieser extremen Steigerung des Vergleichs von Zorn und Güte Gottes noch nicht zufrieden. Die folgenden Verse 9f. kündigen eine Selbstverpflichtung Gottes an, die ungleich weiter reicht und die Israel für alle Zeiten der Güte Gottes vergewissern will:

450

6. Kapitel: Gottesglaube

Ja, wie die Wasser Noahs soll es für mich gelten: Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nie wieder die Erde überschwemmen sollen, so habe ich (jetzt) geschworen, dir nicht mehr zu zürnen und dich nicht mehr anzufeinden68. Selbst wenn Berge weichen und Hügel ins Schwanken geraten sollten, soll doch meine Güte nicht von dir weichen und mein Bund zum Heil nicht ins Wanken geraten, hat dein Erbarmer, Jhwh, gesagt.

Der Sinn dieser ungewöhnlichen Zusage Gottes wird vor allem durch den Vergleich mit der Sintflut deutlich. Die Sintflut gilt in der Hebräischen Bibel als eine überaus schmerzliche, aber letztlich unumgängliche Reaktion Gottes auf schwerste Schuld der Menschheit, die er vernichten musste, obwohl er sie erschaffen hatte. Dennoch aber enden die Berichte von der Sintflut mit der Zusage Gottes, ein entsprechendes Vernichtungshandeln für alle kommende Zeit auszuschließen. Nur um dieser Selbstverpflichtung Gottes willen wird von der Sintflut erzählt. Gottes Zusage an die zweite Menschheit klingt umso wunderhafter, als in Gen 8,21 betont hervorgehoben wird, dass die Menschen sich nicht verändert und in nichts verbessert haben. Einzig Gott hat sich geändert, indem er künftig seine Allmacht einschränken will und eine nochmalige Vernichtung der Menschheit verbindlich ausschließt, wie schuldig sie auch immer sein mag. In analoger Weise geht Gott nach Jes 54,9f. in der Selbsteinschränkung weiter. Jetzt schwört er – die allergewisseste Form der Zusage –, dass das Wirken seines Zornes, wie ihn Israel soeben im Exil erfahren hat, ebenso ein einmaliges und unwiederholbares Geschehen bleiben wird wie seinerzeit die Sintflut. Der Text sagt nicht, dass jegliche individuellen Erfahrungen des Zornes Gottes künftig unmöglich sein sollen; wohl aber enthält er die verbindliche Zusage Gottes, dass nicht nur die Vernichtung seines Volkes (wie in Ex 32), sondern auch die scheinbare Verstoßung seines Volkes und die Gottesferne sowie das Schweigen Gottes, wie von Israel im Exil als Wirkung des Zornes Gottes erfahren, künftig ausgeschlossen bleiben sollen. Gottes Allmacht wird noch einmal – von ihm selber! – weiter eingegrenzt: zugunsten seines Volkes und zu dessen Vergewisserung. Der abschließende V. 10 geht noch über diese Selbsteinschränkung Gottes hinaus, indem er durch seinen Propheten die Zukunft ausmalt, die er herbeiführen wird. Diese Zukunft lässt sich nur in kosmischen Kategorien recht darstellen. Der Prophet beschreibt eine Welt, die in sich gefährdet ist und zusammenbrechen kann, wenn die Berge als ihre Fundamente ins Wanken geraten. Aber gleichzeitig nennt er mit der Güte Gottes eine Größe, die nicht ins Wanken geraten kann und damit gewisser ist als der Bestand der Welt. Weil Gottes Güte eine unwandelbare Macht ist, die dauerhaft wirkt, bleibt für Gottes Zorn, wie ihn Israel soeben erfahren hat, künftig kein Raum mehr.

68 Das üblicherweise »schelten« übersetzte Verb ‫ גער‬wird von Gott überwiegend in Berichten von seinem Kampf gegen die Chaoswasser verwendet.

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

451

Bibliographie Berges, Ulrich, Der Zorn Gottes in der Prophetie und Poesie Israels auf dem Hintergrund altorientalischer Vorstellungen: Bib 85 (2004), 305–330. Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt, NeukirchenVluyn 42015, 148–168. Döhling, Jan-Dirk, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel (HBS 61), Freiburg u. a. 2009. Durand, Jean-Marie/Marti, Lionel/Römer, Thomas (Hg.), Colères et repentirs divins (OBO 278), Fribourg/Göttingen 2015. Franz, Matthias, Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart 2003. Gross, Walter, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon: Beinert, Wolfgang (Hg.), Gott – Vor dem Bösen ratlos? (QD 177), Freiburg u. a. 1999, 47–85 = Ders., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern (SBA.AT 30), Stuttgart 1999, 199–238. Hermisson, Hans-Jürgen, Von Zorn und Leiden Gottes: Dalfert, Ingolf u. a. (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. FS Eberhard Jüngel, Tübingen 2004, 185–207. Janowski, Bernd, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013. Jeremias, Jörg, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn ³2002. Ders., Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung (BThSt 104), Neukirchen-Vluyn ²2011. Schmidt, Ludwig, »De Deo«. Studien zur Literarkritik und Theologie des Buches Jona, des Gesprächs zwischen Abraham und Jahwe in Gen 18,22ff. und von Hi 1 (BZAW 143), Berlin/ New York 1976. Scoralick, Ruth, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Ex 34,6f. und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg u. a. 2002. Spieckermann, Hermann, »Barmherzig und gnädig ist der Herr …«: ZAW 102 (1990), 1–18. Ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen 2001. Stoebe, Hans Joachim, Art. ‫ חסד‬ḥæsæd »Güte«: THAT I (1971), 600–621. Tück, Jan-Heiner, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes. Dogmatische Anmerkungen zur Wiederkehr eines verdrängten Motivs: ThPh 83 (2008), 385–409. Zobel, Hans-Jürgen, Art. ‫ חסד‬ḥæsæd: ThWAT III (1982), 48–71.

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht Walter Dietrich, Bern Diese Überschrift könnte wie eine Provokation wirken. Ist es nicht klar, dass Gott, wenn er denn ist, allmächtig sein muss? Würde nicht, wer ihm Ohnmacht nachsagte, faktisch seine Existenz bestreiten? Sollte es in der Bibel anders sein? Tatsächlich beschreibt die Bibel an unzähligen Stellen Gott als mächtig, wohl allmächtig. Doch diese Auskunft ist in sich noch nicht beruhigend, denn die Behauptung eines allmächtigen Gottes wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie könnte neben ihm noch der Mensch als eigenverantwortliches Wesen existieren? Was stünde in meiner Macht, wenn Gott wirklich alle Macht hätte? Wie ist es mit machtvollen

452

6. Kapitel: Gottesglaube

Naturerscheinungen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis, Überschwemmungen, wenn Gott all-mächtig ist? Schickt er diese Ereignisse? Und wie steht es mit Kriegen und Genoziden, Gewalttaten und Unglücksfällen? Woher kommt das Leid, und wozu dient es, und warum gebietet Gott ihm nicht Einhalt? Wo bleibt seine Macht angesichts vielfältigen Unheils? Sind machtvolle Dinge, Ereignisse, Kreaturen nur Emanationen seiner Macht – oder vielleicht etwas wie Gegen-Mächte, die seiner Macht Grenzen setzen? Muss man nicht annehmen, seine Macht sei hier und dort begrenzt, ja er sei, zumindest gelegentlich, ohn-mächtig? Oder verzichtet er in Fällen, die diesen Verdacht wecken, nur auf den Einsatz seiner (All-)Macht? Aber warum? Vor diesen Fragen standen auch die Menschen der Bibel. Es lohnt sich, darauf zu hören, wie sie sie aufnahmen und zu beantworten suchten.69

1.

Gottes Allmacht

»Ich glaube an Gott, den Allmächtigen«. Dieser – leicht gekürzte – Anfang des Apostolischen Glaubensbekenntnisses scheint es klar zu machen, dass Christen an der Allmacht Gottes gar nicht zweifeln können bzw. dürfen. Gleiches gilt von den Angehörigen der beiden anderen »abrahamitischen« Religionen, Judentum und Islam, hat sich der biblische Gott dem gemeinsamen Urahn Abraham doch mit den Worten vorgestellt: »Ich bin der allmächtige Gott« (Gen 17,1). Allerdings steht an dieser Stelle ein hebräischer Ausdruck, dessen Bedeutung nicht so klar ist: El Schaddaj. Das könnte etymologisch bedeuten: »Gott der Wildnis«, vielleicht im Sinn von: Überall, auch in der Wildnis, bin ich Gott. Die griechisch-jüdischen Übersetzer der Septuaginta gaben diesen Ausdruck oft mit pantokratōr, »Allherrscher«, wieder, woraus in der lateinischen Vulgata omnipotens wurde, »der alles Könnende, der Allmächtige«. Kann Gott aber alles können? In der (Vulgär-)Philosophie zirkuliert das sog. Allmachtsparadox in Gestalt der scheinbar arglosen Frage: Kann Gott einen so schweren Stein erschaffen, dass er ihn nicht hochzuheben vermag? Die Antwort ist für Gottgläubige schwierig. Könnte er es nicht, wäre er nicht allmächtig; könnte er es, wäre seine Macht durch das Nicht-hochheben-Können begrenzt. Der mittelalterliche Philosoph Averroës fragte ähnlich hintergründig: Kann Gott ein Dreieck schaffen, dessen Winkelsumme nicht 180 Grad ergibt? Könnte er es, wäre es gemäß Euklid kein Dreieck mehr. Nach der reinen Logik kann Gott also gar nicht allmächtig sein. In der griechischen genauso wie in der altorientalischen, z. B. der ugaritischen, Mythologie waren die Götter denn auch nicht allmächtig, sondern in ihrer Macht durch andere Götter oder durch vorgegebene Verhältnisse beschränkt.

69 Mit dem Thema haben sich Exegese und Theologie in letzter Zeit verschiedentlich befasst. Hier nur einige einschlägige Titel: Bachmann, Göttliche Allmacht; Dietrich, Art. »Allmacht Gottes«; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes; Ritter, Der Allmächtige; Schiwy, Abschied vom allmächtigen Gott.

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

453

Angesichts dieser logischen Schwierigkeiten ist eine erste Klärung vorab vorzunehmen: Wenn von Allmacht Gottes die Rede sein soll, dann nicht in einem abstraktlogischen, sondern in einem spezifisch-theologischen Sinn. Es ist nicht sicher, ob er alles kann, was wir für denkbar oder wünschbar halten; doch ist sich der Glaube gewiss, dass er alles kann, was er will und was seinem Wesen entspricht. Gottes Allmacht kann nicht ziellos und wertneutral, sondern wird auf bestimmte, ihm gemäße Ziele und Werte ausgerichtet sein. Welches sind die wichtigsten Ziele und Werte Gottes? Die Bibel bringt Gott durchgehend mit Leben und mit Liebe in Verbindung. Seine Allmacht müsste sich demnach darin äußern, dass er jederzeit und überall in der Lage ist, Leben zu schaffen und Liebe zu bewirken – und davon ist die Bibel tatsächlich auf weiteste Strecken überzeugt. a)

Rühmungen von Gottes (All-)Macht

Das Hebräische kennt kein Wort mit der Bedeutung »allmächtig, Allmacht«. El Schaddaj oder auch Jhwh Zebā’ôt (von der Septuaginta ebenfalls oft – nicht immer! – mit pantokratōr wiedergegeben, wörtlich aber »Jhwh der Heerscharen«) sind keine wirklichen Äquivalente. In der Sache allerdings, im Sinn einer – jedenfalls im Augenblick – grenzenlosen Machtvollkommenheit, kennt die Hebräische Bibel die Vorstellung eines all-mächtigen Gottes sehr wohl. Abrahams Frau Sara, die über die unglaubliche Verheißung, sie werde in weit fortgeschrittenem Alter einen Sohn gebären, gelacht hat, wird belehrt: »Ist denn irgendetwas zu wunderbar für Jhwh?« (Gen 18,14) Und der Prophet Sacharja schließt die zu seiner Zeit ebenfalls unglaubliche Verheißung, demnächst werde es in Jerusalem wieder viele Alte und Kinder geben, mit der feierlichen Versicherung: »Auch wenn das zu wunderbar wäre in den Augen des Restes dieses Volks … – ist es dann zu wunderbar auch in meinen Augen?, Raunung Jhwh Zebaots« (Sach 8,6). Und dem Jeremia eröffnet Gott: »Sieh, ich bin Jhwh, der Gott allen Fleisches. Sollte mir irgendetwas zu wunderbar sein?« (Jer 32,27) Und Jeremia betet voll Ehrfurcht: »Ach Herr Jhwh, sieh, du hast den Himmel und die Erde gemacht … – gar nichts ist dir zu wunderbar« (Jer 32,17). Der Begriff des »Wunderbaren« (die hebräische Wurzel pl’) führt ins Zentrum der Vorstellung eines unbegrenzt mächtigen Gottes.70 Namentlich in den Psalmen häufen sich die Belege, etwa: »Zahlreich sind deine Wunder« (Ps 40,6). »Gesegnet sei Jhwh…, der allein Wunder tut« (Ps 72,18). »Wir wollen erzählen … seine Wunder, die er getan hat« (Ps 78,4). »Du bist groß und tust Wunder« (Ps 86,10). »Singt Jhwh ein neues Lied, denn Wunder hat er getan« (Ps 98,1). »Gedenkt seiner Wunder, die er getan hat« (Ps 105,5). In der Hymnendichtung wird Gottes Macht auch in anderen Sprachbildern gepriesen, etwa dem der Größe: »Groß ist Jhwh und sehr zu rühmen, seine Größe ist unergründlich« (Ps 145,3). »Ich weiß, dass Jhwh groß ist, unser Herr (größer) als alle Götter. Alles, was Jhwh gefällt, das tut er im Himmel und auf Erden, im Meer und in allen Tiefen« (Ps 135,5f.).

70 Vgl. Albertz, Art. ‫ פלא‬pl’ ni.

454

6. Kapitel: Gottesglaube

Außer den Wortwurzeln für »Größe, groß« (gdl) und »Wunder« (pl’) dient noch ein ganzes weiteres Wortfeld der Beschreibung von Gottes Macht. Hier sind insbesondere die Adjektive »stark« (’br oder ḥzq), »mächtig« (’dr), »überlegen« (gbr oder jkl) und »gewichtig, herrlich« (kbd), die Nomina »Kraft« (kḥ) und »Stärke« (‛z) sowie das Verb »erhaben sein« (rwm) zu nennen. Diese Terminologie wird auf den biblischen Gott immer und immer wieder angewandt. An manchen Stellen häufen sich solche Begriffe in auffallender Weise, z. B.: »Jhwh, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große und der überlegene und der gefürchtete Gott« (Dtn 10,17). Oder: »Dir, Jhwh, gehören Größe und Kraft und Herrlichkeit und Glanz und Hoheit. Ja, alles im Himmel und auf Erden (gehört dir). Dein ist das Reich, Jhwh, erhaben bist du über jedes Haupt« (1Chr 29,11). Manche hymnischen Texte haben kaum ein anderes Thema als die Macht Gottes, etwa das Hanna-Lied (1Sam 2,1–10) oder die sog. Jhwh-Königs-Lieder im Psalter (Ps 47; 93; 95–99). Manche biblischen Erzählungen sind eigentlich nichts als Beispiele für Gottes machtvolles Wirken: so etwa der erste Schöpfungsbericht, in dem das pure Wort Gottes genügt, die Welt ins Leben zu rufen (Gen 1,1–2,4a), oder die Geschichte von der Befreiung Israels aus Ägypten, in der Gott eine ganze Weltmacht niederringt (Ex 1–14), oder die Erzählungen von der heiligen Lade, auf der Gott anwesend gedacht ist und die sich mit unheimlicher Kraft durchs Philisterland bewegt, bis sie wieder im Heiligen Land ist (1Sam 4–6). Wenn also gemäß der Hebräischen Bibel Gott so ungeheuer groß ist, wenn er alles tun kann, was er will, wenn ihm nichts »zu wunderbar« ist, dann ist freilich damit zu rechnen, dass er auch Dinge bewirkt, welche die Menschen (oder zumindest bestimmte Menschen) überhaupt nicht wünschenswert finden. Das gilt schon von den Ägyptern und den Philistern in den zuletzt genannten Beispielen. Doch auch sein eigenes Volk kann davon betroffen sein. Drohend lässt Gott sich bei Jesaja vernehmen: »Darum, siehe, will ich weiterhin wundersam handeln, wunderlich und wundersam – und untergehen wird die Weisheit seiner [d. h. Judas] Weisen und der Verstand seiner Verständigen sich verstecken« (Jes 29,14). Ebenfalls bedrohlich, letztlich aber tröstlich klingt es, wenn im sog. »Gebet Habakuks« das ungemein machtvolle Einbrechen Gottes in die Welt geschildert wird: »Vor ihm her geht der Pestdämon, und der Seuchendämon zieht unmittelbar hinter ihm aus. Er tritt hin und erschüttert die Erde, er schaut und lässt die Völker auffahren. Und es bersten die uralten Berge und ducken sich die ewigen Hügel … Im Grimm schreitest du über die Erde, im Zorn zertrittst du die Völker. Du bist ausgezogen zur Hilfe für dein Volk, zur Hilfe für deinen Gesalbten« (Hab 3,5f.12.13a)71. b)

Leiden unter Gottes (Über-)Macht

An der Grenze zwischen der Rühmung von Gottes Macht und dem Leiden unter ihr steht die Hiob-Gestalt bzw. das Hiob-Buch. Gleich zu Beginn lässt Gott sich durch

71 Zur Auslegung dieses erratischen Textes vgl. Dietrich, Nahum – Habakuk – Zefanja, 164–187.

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

455

Satan in einer Wette dazu reizen, mit Hiob völlig willkürlich umzugehen (Hiob 1). Zunächst erduldet dieser das, doch dann brechen sich seine Klagen und Anklagen gegen einen Gott Bahn, der »alles macht«, was er will – und nicht tut, was er tun sollte. Die Vorwürfe gehen weit über ein individuelles Schicksal hinaus, sie betreffen generell Gottes (Un)Fähigkeit zur Lenkung der Welt. In bewegenden Worten schildert Hiob das elende Schicksal marginalisierter und ausgebeuteter Menschen (Hiob 24,5–12), gibt denen Stimme, die zu sterben wünschen, aber weiterleben müssen (Hiob 3,20–22), wünscht sich selbst, nie geboren zu sein (Hiob 3,6f.; 10,18f.), schreit Gott entgegen, dieser verfolge mit Ingrimm Unschuldige (Hiob 9,15–22), die Erde sei »in die Hand eines Frevlers gegeben« (Hiob 9,24). Und Gott? Er schweigt beharrlich, lässt Hiobs Freunde zu seiner Verteidigung reden, ohne ihnen am Ende Recht zu geben. Schließlich aber tritt er selbst auf, »im Sturm«, wie es heißt (Hiob 38,1). Und dann schildert er in zwei langen Reden die Wunder der Schöpfung; die seltsamsten und erstaunlichsten Dinge und Wesen führt er auf, am Ende sogar höchst gefährliche, die das Chaos verkörpern – und sagt, all das unterstehe seinem Willen, ob wir Menschlein das nun bemerken, begreifen und billigen oder nicht (Hiob 38–41).72 Derart belehrt, antwortet Hiob bescheiden: »Ich weiß, dass du alles vermagst. Nichts, was du willst, ist dir unmöglich … Ich habe vorgebracht, was ich nicht verstehe, was zu wunderbar für mich ist und was ich nicht begreife« (Hiob 42,2f.). Gott also ist nichts unmöglich, dem Menschen aber ist manches zu wunderbar! Fast zu wunderbar ist dann auch, wie Hiob anschließend für all das entschädigt wird, was ihm zuvor angetan worden ist (Hiob 42,7–17). Hiob ist nicht die einzige Stimme der Anklage gegen Gott in der Bibel. Im Psalter melden sich deren viele zu Wort (fast die Hälfte der Psalmen sind Klagepsalmen – und Klage ist dem hebräischen Menschen immer auch Anklage: sei es gegen Menschen, sei es gegen Gott). »Deine Faust ist auf mich herabgefallen« (Ps 38,3). »Du hast mich in die Grube hinuntergeworfen« (Ps 88,7). »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Ps 22,2) So hört man Individuen (an)klagen. Aber auch das Kollektiv – Israel oder die Gemeinde – legt Protest ein: »Du machst uns zum Hohn unserer Nachbarn« (Ps 80,7). »Du hast verstoßen und verworfen« (Ps 89,39). »Warum, Gott, hast du uns auf ewig verstoßen?« (Ps 74,1) Anders als Hiob beruhigen sich die Psalmisten am Ende (fast) immer, fassen Mut, ringen sich zu neuem Gottvertrauen durch. Leicht fällt das aber nicht, und zurück bleibt kein fröhlich-frommes Gottesbild, sondern gleichsam eines mit Blessuren. Der Gott Israels scheint an den Seinen zumindest manchmal und zeitweise eine zerstörerische Macht auszulassen. Ein eindrückliches Beispiel des Leidens an der völlig unverfügbaren und unberechenbaren Macht Gottes sind die sog. Konfessionen Jeremias. Es ist strittig, ob sie vom Propheten selbst verfasst oder ihm von anderen sozusagen auf den Leib geschrieben worden sind (wobei für das Erste mehr spricht). Da ersteht das Bild eines Mannes, den Gott mit aller Macht in seinen »Beruf« gedrängt und dann aufs

72 Die sog. »Gottesreden« des Hiobbuches hat Othmar Keel ganz neu sehen und verstehen gelehrt: Jahwes Entgegnung an Ijob.

456

6. Kapitel: Gottesglaube

Elendeste versetzt hat. »Du hast mich betört, Jhwh, und ich habe mich betören lassen. Du hast mich gezwungen und überwältigt« (Jer 20,7), sagt der Prophet im Stil einer genötigten, ja vergewaltigten Frau. Und dann über seinen Beruf als »Sprachrohr« Gottes: »Fanden sich deine Worte, verschlang ich sie, und deine Worte wurden mir zur Wonne, zur Freude meines Herzens«. Doch das Erfülltsein vom schweren Wort Gottes macht den Propheten einsam: »Nie habe ich im Kreis derer gesessen, die scherzen, und nie war ich heiter; vor deiner Faust saß ich einsam, ja, mit Grimm hast du mich erfüllt« (Jer 15,16f.). Die Leute, sogar die eigene Familie, werden ihm feind: »Ich war wie ein zutrauliches Lamm, das zur Schlachtung geführt wird« (Jer 11,19). »Achte auf mich, Jhwh, und höre die Stimme meiner Widersacher … Du, Jhwh, kennst ihren ganzen tödlichen Ratschlag gegen mich!« (Jer 18,19.23) Doch Gott lässt Jeremia im Stich: »Warum ist mein Schmerz so dauerhaft und mein Schlag so unheilvoll, ohne Heilung? Du bist mir tatsächlich zu einem Trugbach geworden, zu Wasser, auf das kein Verlass ist« (Jer 15,18). Aus der vertrauten Umgebung gerissen, mit einer harten Botschaft befrachtet, von Menschen angefeindet und dann sich selbst überlassen: Geht Gott so mit seinem Propheten um? Zur Parabel verdichtet findet sich das Problem in der Jona-Schrift (Jona 1–4): Gott will diesen Propheten mit einer Drohbotschaft in die östliche Weltmetropole Ninive schicken. Als der Mann sich per Schiff nach Westen zu entziehen versucht, fängt Gott ihn mit aller Macht wieder ein: Er schleudert einen Sturm aufs Meer, und als die verzweifelten Schiffsleute den »schuldigen« Jona über Bord werfen, besänftigt er handkehrum den Sturm und entsendet einen Riesenfisch, der den ertrinkenden Jona schluckt und an der Ostküste des Mittelmeers an Land spuckt. Das alles kann Gott. Endlich richtet Jona in der bösen Riesenstadt eine knappe Bußbotschaft aus – und dann bewirkt Gott wieder etwas Ungeheuerliches: Ganz Ninive, vom Großkönig bis hinunter zum Kleinvieh, tut Buße – und schon verzichtet Gott auf das angedrohte Strafgericht. Gott schaltet und waltet, wie er will, und der Prophet ist mehr sein Spielzeug als sein Werkzeug. Das Problem mit einem Gott, der alles kann, der aber nicht tut, was man von ihm erwartet, ist in der Bibel von Anfang an präsent. Kain und Abel, das erste Brüderpaar auf Erden, opfert – aber Gott sieht nur auf Abel und sein Opfer, Kain lässt er links liegen. Warum? Niemand weiß es, doch man kennt die Folgen. Dem von ihm auserwählten Urahn Israels, Abraham, verheißt er eine zahlreiche Nachkommenschaft, tut dann aber jahre-, vielleicht jahrzehntelang nichts, um die Verheißung wahr werden zu lassen. Als Abraham und Sara endlich doch einen Sohn haben, fällt es Gott ein, Abraham zu »prüfen« und von ihm zu verlangen, dass er seinen Sohn ihm opfert; Abraham scheint zur Tat zu schreiten (seine Gefühle will man sich gar nicht ausmalen), doch plötzlich eröffnet ihm Gott, er wolle jetzt doch nicht den Isaak, sondern einen Widder zum Opfer (Gen 22,1–14). Den übernächsten Urahn Israels, Jakob, scheint Gott bei einer nächtlichen Flussdurchquerung hinterrücks angefallen und auf den Tod bedroht zu haben – ehe er ihn plötzlich segnete (Gen 32,23–33). Was ist das für ein Gott, was – die Formulierung sei erlaubt – erlaubt er sich? Die Schauergeschichten gehen weiter. Zwar rettet Gott die Ahnfamilie Israels vor dem Verhungern, führt sie durch Josef nach Ägypten. Doch dann lässt er es gesche-

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

457

hen, dass das wachsende Volk dort aufs Übelste unterdrückt und dezimiert wird. Als er sich endlich einen ausgesucht hat, der beim Pharao vorstellig wird und verlangt, dass Israel entlassen werde aus der Sklaverei, da reagiert der Herrscher mit noch unbarmherzigerer Bedrückung. Israel ist verzweifelt und wütend, und Mose wendet sich an Gott: »Herr, warum hast du boshaft an diesem Volk gehandelt, warum hast du mich gesandt?« (Ex 5,22) Ist Gott boshaft, treibt er die Seinen ins Unglück?73 Israel kann schließlich doch fliehen, und nach endloser Wüstenwanderung erreicht es das Gelobte Land. Mehr oder weniger glorreich erobert es Kanaan (Gott ist bei Bedarf eben auch ein mächtiger Kriegsherr), doch schon bald setzen wieder schwere Probleme ein: Alle möglichen Nachbarn fallen über die Neuangesiedelten her, und zwar immer dann, wenn diese ihren Gott vergessen haben: auch kein eben gewinnender Charakterzug einer Gottheit. Sobald Israel Buße tut, stehen kraftvolle Retter auf, die die Feinde außer Landes treiben. Im biblischen Richter-Buch scheint es, als bringe Gott seinem Volk per Kippschalter bald Unheil, bald Rettung. Endlich ist Israel des Spiels müde und verlangt einen König, also politische und militärische Stabilität. Gott lässt sich – wie es scheint: widerwillig – auf diesen Wunsch ein (1Sam 8) und präsentiert den Benjaminiten Saul als ersten König (1Sam 9–10). Benjamin ist ein kleiner Stamm, Sauls Hausmacht also schwach. Umso stärker ist Gottes Macht – im Guten wie im Bösen. Wie durch Wunderkraft lässt er Saul anfangs eindrucksvolle Siege gegen übermütige Nachbarn erringen (1Sam 11; 13–14). Doch zugleich schon beginnt er seine Amtsführung zu kritisieren, um ihn dann durch seinen Propheten Samuel gleich zweimal »verwerfen« zu lassen (1Sam 13,7b–15; 15). Es soll ein anderer König werden: David, dem Gott alles gelingen lässt, während Saul in Schwermut und Wahn versinkt (1Sam 16–31). Der erste König Israels ist eine tragische Figur; niemandem kann er es recht machen: den Menschen nicht und Gott schon gar nicht.74 Im Buch Kohelet75, einer Spätschrift der Hebräischen Bibel, zieht ein skeptischer Philosoph die Summe aus den irritierenden Erfahrungen Israels mit der (All-)Macht Gottes: »Ich erkannte: Alles, was Gott tut, besteht für die Ewigkeit, dem kann man nichts hinzufügen und von dem kann man nichts wegnehmen« (Koh 3,14). »Betrachte das Werk Gottes: Wer kann gerade machen, was er krumm gemacht hat?« (Koh 7,13). »Wie du den Weg des Windes nicht erkennen kannst …, so kannst du das Werk Gottes nicht erkennen« (Koh 11,5). »Alles hat er schön gemacht zu seiner Stunde; sogar die Ewigkeit hat er in ihren [der Menschen] Verstand gesetzt – ohne dass doch der Mensch das Werk, das Gott tut, von Anfang bis Ende herausfinden kann« (Koh 3,11). Das heißt: Beuge dich, schwacher Mensch, unter Gottes Macht – sie ist willkürlich und unnachrechenbar.

73 Vgl. dazu Ebach, Klage vor Gott. 74 Gunn, Fate of King Saul; Hentschel, Saul. 75 So ist die hebräische Bezeichnung (deutsch: »Rufer«) des sog. »Predigers Salomo«. Eine gute Übersetzung und Einführung bietet Michel, Qohelet.

458

6. Kapitel: Gottesglaube

Von da her betrachtet, muss man es fast als befreiend empfinden, dass die Hebräische Bibel nicht nur von Gottes (All-)Macht redet, sondern ihn gelegentlich auch als nicht-mächtig, gar als ohn-mächtig zeichnet.

2.

Gottes Ohnmacht

Der Gedanke, Gott sei vielleicht nicht all-, sondern womöglich ohnmächtig, stellt sich vor allem dann ein, wenn ein erkennbares göttliches Wirken dort ausbleibt, wo der glaubende Mensch zu wissen meint, dass es unbedingt erfolgen müsste. Ein krasses modernes Beispiel ist der Holocaust. Wenn Gott den beispiellosen Genozid an dem von ihm erwählten Volk nicht verhinderte, dann doch wohl nicht, weil er es nicht wollte, sondern weil er es nicht konnte? Bleibt denn ein Drittes? Ein Vorläufer von »Auschwitz« in biblischer Zeit war die Katastrophe von 587/6 v. Chr., als die Babylonier das Königreich Juda zerschlugen, die Hauptstadt Jerusalem samt dem Tempel niederbrannten und einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ins Exil verschleppten. Wenn Gott das nicht verhinderte, dann doch wohl nicht, weil ihm der Wille, sondern weil ihm die Macht dazu fehlte? Oder gab es ein Drittes? Ja, damals gab es ein Drittes. Schon vor der Katastrophe, verstärkt aber nach ihr, suchten Denker des Jhwh-Volkes nach Erklärungen für das Unfassbare: dass Jhwh sein Volk in einen schier bodenlosen Abgrund fallen ließ. Die klassischen Propheten des 8. und 7. Jahrhunderts – von Amos über Jesaja und Micha bis Jeremia – hielten Jhwhs Bund mit Israel für schwer gefährdet, wenn nicht schon für zerbrochen durch permanente Übertretungen seitens Israels bzw. Judas; als Folge erwarteten sie ungefähr das, was dann in mehreren Schüben, mit vernichtender Wucht aber im Jahr 587/6, eintraf. Ebenso suchten Propheten und Geschichtsschreiber nach dem Eintreten der Katastrophe die Schuld an ihr nicht bei Gott, sondern bei seinem ihm untreu gewordenen Volk. Gottes Untätigkeit wäre dann Ausdruck nicht der Unfähigkeit, sondern der Unwilligkeit zu handeln – oder des Willens, anders zu handeln als erhofft. In den Threni, dem Buch der »Klagelieder«, die eben zur Zeit der Katastrophe von 587/6 entstanden, finden sich immer wieder Äußerungen der Reue und der Buße über eigene Verfehlungen, die zu diesem Unheil geführt hätten: »Schwer hat sich Jerusalem verfehlt, ins Wanken ist sie deswegen geraten« (Klgl 1,8). »Deine Propheten, sie schauten dir Trug und Tünche und deckten deine Schuld nicht auf« (Klgl 2,14). »Die Schuld der Tochter meines Volkes war größer als die Verfehlung Sodoms« (Klgl 4,6). Nun ist freilich die Devise »Nicht Gott ist schuld, sondern wir (bzw. ich)« keineswegs unproblematisch. Es gibt Katastrophen, die man nicht auf die Schuld der Betroffenen zurückführen kann – und auch nicht sollte, entstehen daraus doch destruktive (Selbst-)Beschuldigungen. Einem Schwerkranken vorzurechnen, womit er sein Leid verdient habe, einer Vergewaltigten vorzuhalten, dass sie ihr Unglück selbst heraufbeschworen habe, ist unweise, allermeist sogar unmenschlich und damit unzulässig. Es gibt allzu oft Leiden, bei denen das Suchen nach ursächlicher

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

459

menschlicher Schuld verfehlt ist. In derartigen Fällen liegt die Frage nahe, ob etwa Gott »schuld« sei, indem er nicht handelte, wo er hätte handeln müssen. a)

Irritation über Gottes Untätigkeit

In den schon zitierten Threni kommen immer wieder Töne der Fassungslosigkeit über das auf, was da geschieht, geschehen ist; Zweifel werden wach, ob derart Furchtbares zu Recht geschehen kann, Vorwürfe an Gott werden laut, dass er all dies geschehen lässt: »Unsere Väter, sie haben sich verfehlt; sie sind nicht mehr. Ihre Schuld schultern wir« (Klgl 5,7) – will sagen: Werden wir für die Schuld anderer bestraft? »Sieh, Jhwh, und schau her: Wem hast du so zugesetzt? Dürfen Frauen ihre Frucht essen, umhegte Kleinkinder? Dürfen im Heiligtum des Herrn Priester und Prophet getötet werden?« (2,20) – will sagen: So schlimm kann keine Schuld sein, dass diese Strafe angemessen wäre. »Warum willst du uns für immer vergessen, uns für die Länge der Tage verlassen?« (5,20) – will sagen: Ist auf Gottes Treue kein Verlass, »vergisst« er das Volk, mit dem er einen Bund eingegangen ist? Die rat- und hilflosen Fragen »Warum? Wie lange?« finden sich auch in Klageliedern des Psalters: »Warum, Gott, hast du uns für immer verstoßen, raucht dein Zorn gegen das Kleinvieh deiner Weide [d. i. Israel]? … Wie lange, Gott, soll der Bedränger schmähen, soll der Feind deinen Namen immerzu lästern? Warum ziehst du deine Hand zurück und hältst deine Rechte im Schoß verborgen?« (Ps 74,1.10f.) In Ps 80 begegnet der Kehrvers: »Jhwh, Gott der Heerscharen, lass uns zurückkehren, lass dein Antlitz leuchten, dann ist uns geholfen« (Ps 80,20, vgl. 80,4.8). In Ps 89 vernimmt man nach einer langen, bitteren Klage die verzweifelten Rufe: »Wie lange, Jhwh, verbirgst du dich immerzu? … Wo sind deine früheren Treuerweise, Herr?« (Ps 89,47.50) In den Psalmen begegnet in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Vorstellung, dass Gott womöglich »schlafe« und »geweckt« werden müsse. An sich glaubte Israel natürlich, sein Gott sei immer hellwach: »Der dich behütet, schlummert nicht; siehe, nicht schlummert noch schläft der Hüter Israels« (Ps 121,3f.). Wenn aber erhoffte Hilfe gar zu lange ausbleibt, melden sich Zweifel zu Wort: »Jhwh, schweige nicht! Herr, bleibe nicht fern von mir! Wach auf und erwache für mein Recht, mein Gott, und für meine Rechtssache, Herr!« (Ps 35,22f.) »Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache! Verstoße nicht auf ewig! Warum verbirgst du dein Angesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis?« (Ps 44,24f.) Gegen die Besorgnis, Gott sei womöglich gefühllos oder machtlos, setzen die Beter den Gedanken, er schlafe nur; bald werde er erwachen und das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen. Mit der Metaphorik vom Schlaf Gottes verwandt ist die von seinem Schweigen.76 Das betreffende hebräische Wortfeld ist außerordentlich weit verzweigt; mit dem

76 Vgl. die umfassende Arbeit von Korpel/de Moor sowie den von Becking edierten Diskussionsband dazu.

460

6. Kapitel: Gottesglaube

Hauptverb für »schweigen« (ḥšh) verbinden sich Verben wie »taub, reglos sein« (ḥrš), »an sich halten« (’pq), »stillhalten« (šqṭ), »schlafen« (jšn), »vergessen« (šqḥ), »sich verbergen« (str), »verlassen« (‛zb) sowie Negationen wie »nicht hören« (l’ šm‛), »nicht antworten« (l’ ‛nh), »nicht gedenken« (l’ zkr). In diesen Ausdrücken zeichnet sich das Bild eines abgewandten, abweisenden Gottes ab, der sich den Wünschen und Hoffnungen seiner Gläubigen verweigert; deus absconditus, »verborgener Gott«, heißt er in der Dogmatik. Doch jemand, der schweigt, muss nicht grundsätzlich gesprächsunwillig oder -unfähig sein, ein augenblicklicher Mangel an Kommunikation muss keinen dauerhaften Kontaktabbruch bedeuten. Niemals heißt es an Stellen, wo vom Schweigen Gottes die Rede ist, er könne nicht reagieren. Vielmehr ist jeweils vorausgesetzt, dass er nur zeitweise unzugänglich ist, dass er irgendwann sich eines anderen besinnen und den Kontakt wieder aufnehmen wird. Dies sind vergleichsweise differenzierte Weisen des Umgangs mit dem Problem der Untätigkeit Gottes. Es gibt daneben – namentlich in der älteren Zeit – sehr handfeste Vorstellungen davon, dass er, jedenfalls in bestimmten Bereichen, nicht tätig werden kann. Ein solcher Bereich ist der des Todes. Mochte es anderswo Todesgötter geben (Osiris in Ägypten, Mot in Ugarit-Kanaan), der Gott Israels war dezidiert ein Gott des Lebens. An der Grenze vom Leben zum Tod endete seine Macht; wenn er helfen will, dann muss er es vor dem Hinscheiden der Seinen tun, und diese können ihn nur als Lebende preisen: »Kehre wieder, Jhwh, rette mein Leben, hilf mir um deiner Treue willen; denn im Tod gibt es kein Gedenken an dich, wer wird in Scheol dich preisen?« (Ps 6,5f.) »Was hast du davon, wenn mein Blut ins Verderben niedersteigt? Preist dich der Staub, verkündet er deine Zuverlässigkeit?« (Ps 30,10) »Tust du an den Toten Wunder? Als ob die Totengeister aufstünden, dich zu preisen!« (Ps 88,11) Der Tod ist ein Ort absoluter Gottferne. Wer dorthin gelangt ist, für den gibt es keine Rettung mehr. Darin erinnert Hiob Gott: »Wie die Wolke dahingeht, so kommt nicht mehr herauf, wer in Scheol hinabstieg; nicht kehrt er mehr in sein Haus zurück, und seine Stätte kennt ihn nicht mehr« (Hiob 7,9f.). Scheol hat Stricke und der Tod Schlingen, mit denen die festgehalten werden, die in ihre Gewalt geraten sind (2Sam 22,6). Es sollte lange dauern, bis Israel nach und nach und in zögernden Schritten zu der Hoffnung und der Zuversicht vordrang, sein Gott habe Macht auch im Totenreich. Noch archaischer wirkt die Vorstellung, Israels Gott habe Macht nur in Bezug auf sein Volk und nur in dessen Land, seine Macht habe also ethnische und geographische Grenzen. Gelegentlich schimmert ein Mythus durch, wonach vor Urzeiten den einzelnen Göttern ihre Völker zugeteilt wurden – so Jhwh das Volk Israel (Dtn 32,8f.; Ps 83). Über Babylon herrschte Marduk, über Assur der gleichnamige Gott; Jhwh herrschte nur über Israel. Für das ostjordanische Ammon war Kamosch zuständig, Jhwh bestenfalls für das Westjordanland (Ri 11,24). Doch auch hier war sein Anspruch nicht unbestritten; Baal rechnete sich die Fruchtbarkeit des gesamten Landes Israel zu – Jhwh galt in Sachen Landwirtschaft als wenig ausgewiesen (Hos 2). Und auch militärische Macht hatte Jhwh nur im Bergland Israels – die Ebenen Kanaans gehörten Hadad (vgl. 1Kön 20,23). Wer sich aus dem judäischen Bergland nach Westen, ins Küstenland der Philister, begab, hatte dort anderen Göttern zu dienen (1Sam 26,19). Als dann die Großmächte Assur und Babylon den

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

461

Königreichen Israel und Juda die Luft zum Leben abschnürten, bedeutete dies scheinbar die Entmachtung Jhwhs im ureigenen Land. Es bedurfte der visionären Kraft der Propheten, sich vorzustellen, dass die Großreiche ihre Macht Jhwh verdankten (z. B. Jes 7,20; Jer 27,5–7). Die wohl tiefgründigste Überlegung, die in der Hebräischen Bibel zur Begrenztheit der Macht Gottes angestellt wird, betrifft die Möglichkeit seiner Selbstbegrenzung. Er könnte also handeln, er will es aber nicht, weil es nicht seinem Wesen entspricht. In diesen Zusammenhang gehört das höchst überraschende Theologumenon von der »Reue« Gottes. Kann Gott, der Allmächtige und Allwissende, denn je etwas zu bereuen haben?77 Laut der Bibel: ja! Schon ganz an ihrem Anfang, vor und nach der Sintflutgeschichte, geht Gott zweimal in sich: Zuerst »bereut« er, dass er die zu so viel Bosheit fähigen Menschen geschaffen, dann, dass er in seiner Enttäuschung und seinem Zorn das Leben auf der Erde fast ganz ertränkt hat (Gen 6,5f.; 8,21f.); an der zweiten Stelle verspricht er feierlich: »Nie wieder werde ich schlagen, was da lebt« – das heißt: Gott setzt sich selbst eine Grenze. Wohl könnte er das Leben wieder auslöschen, doch er will und wird es erhalten. Wie zum Leben auf der Erde, so steht Gott auch unerschütterlich zu seiner Liebe zum Volk Israel. Dem Propheten Hosea eröffnet sich einmal ein tiefer Einblick in das Innere Gottes, genauer: in das dort stattfindende Ringen zwischen seinem Zorn und seiner Liebe gegenüber Israel.78 Wie eine Mutter, so sagt er, habe er sich fürsorglich um sein »Kind« bemüht, doch dieses habe sich immer wieder von ihm abgewandt; er habe es mit »Stricken der Liebe« gezogen, doch es ließ sich nicht bewegen, zu ihm umzukehren. Eigentlich müsste er es »preisgeben«, »ausliefern«, doch da »hat mein Herz sich gegen mich gewandt, meine Reue ist mit einem Mal entbrannt. Ich lasse meine Zornesglut nicht gewähren und kehre nicht um, Efraim zu vernichten. Denn Gott bin ich und kein Mann, ein Heiliger in deiner Mitte, aber ‘ich lodere nicht’« (Hos 11,8f.). Diese Worte sind wahrscheinlich kurz vor der Assyrerkrise gesprochen, die das Königreich Israel die Existenz kostete; die Liebe seines Gottes sollte Israel aber nie verlieren. Im Anschluss an die Geschichte von Israels Abfall zum Goldenen Kalb in der Sinaiwüste wird der Sinneswandel Gottes vom Zürnen zum Erbarmen mit Israel in eine anrührende Erzählung gefasst: Gott habe Mose, der gerade mit den Tafeln der Tora vom Gottesberg zurückkehrt, die empörende Untreue Israels eröffnet und ihm seinen Entschluss mitgeteilt, dieses »halsstarrige« Volk auf der Stelle zu vernichten und sich aus ihm, Mose, ein neues, besseres Gottesvolk zu erschaffen. Daraufhin habe Mose Gott »besänftigt«: Er könne sich keinesfalls zu solch einer Zornestat hinreißen lassen, nachdem er doch eben erst Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreit habe! Würden die Ägypter da nicht denken, er sei ein bösartiger Gott, der ein Volk nur dazu befreie, um es hernach zu vernichten? »Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Unheil gegen dein Volk gereuen!« (Ex 32,7–12) Und siehe da, Gott tut, was Mose ihm anrät.

77 Vgl. Jeremias, Reue Gottes. 78 Dazu Jeremias, Reue Gottes, 52–59. 137–140.

462

6. Kapitel: Gottesglaube

Bei Hosea wollte Gott »nicht umkehren«, Israel zu vernichten, bei Mose soll er sich »abkehren« von seinem Vernichtungsbeschluss über Israel. Es ist ein enorm flexibler, sogar zur »Reue« fähiger Gott, mit dem die Bibel an solchen Stellen rechnet. Ein allmächtiger Gott, denkt man unwillkürlich, ist das nicht, sondern einer, der auf seine Macht verzichtet – auch auf die Gefahr hin, dass dies für Ohnmacht gehalten werden könnte. b)

Erleichterung über Gottes Nähe zu den Ohnmächtigen

Die selbstgesetzten Grenzen Gottes entsprechen nach biblischer Auffassung seinem innersten Wesen. Der Gott der Bibel ist kein Tyrann, kein »Allherrscher« (trotz der griechischen Bezeichnung pantokratōr). Das sei an drei Beispielen gezeigt. Den eben noch machtvoll und gewalttätig aufgetretenen Propheten Elija (1Kön 18) verlässt nach einer Drohung der Königin Isebel der Mut; er flüchtet Richtung Sinai und möchte am liebsten nicht mehr leben. Doch ein Engel flößt ihm wieder Kraft ein, er begibt sich zum Gottesberg, und dort erscheint Gott ihm persönlich: nicht im Sturmwind, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, sondern in der »Stimme eines verschwebenden Schweigens« (1Kön 19,11f.). Kraftlos und matt ist dieser Gott aber keineswegs; er richtet Elija wieder auf, und er kündigt umstürzende Ereignisse an (1Kön 19,13–18). Doch er selbst enthält sich der Gewalt, er gebärdet sich nicht laut, sondern zart. In mehreren Prophetenbüchern der Hebräischen Bibel ist ein Phänomen anzutreffen, das man als »Messiaserwartung« zu bezeichnen sich angewöhnt hat.79 Das hebräische Verb mšḥ heißt »salben«; gesalbt wurden gemäß Hebräischer Bibel vor allem Könige, aber etwa auch Hohepriester. Der »Messias«, der Gesalbte (neutestamentlich-griechisch: der christos!) ist eine königliche Gestalt, von der man im alten Israel (namentlich eben in prophetischen Kreisen) glaubte, Gott werde sie in einer nicht näher bestimmten Zukunft senden und durch sie die Misere Israels und der ganzen Welt beenden.80 Von diesem gottgesandten Retter werden allerlei Machttaten erwartet: Er soll Frieden und Recht und Gerechtigkeit bringen (Jes 9,6), gerechtes Gericht üben und sogar in der Tierwelt für Sanftheit und Ausgleich sorgen (Jes 11,3f.7f.), das übermächtige Assur zurückdrängen (Mi 5,4f.), Juda und Israel ein Leben in Sicherheit verschaffen (Jer 23,6) u. a. m. Erstaunlicherweise wird dieser »Gesalbte« niemals als Krieger und Gewalthaber porträtiert, im Grunde ist es – und wird es immer mehr – Gott, der durch ihn seine heilsame Macht ausübt, während der Messias immer friedfertigere Züge annimmt, bis es in der jüngsten messianischen Weissagung heißen kann: »Siehe, dein König kommt zu dir; gerecht und hilfsbedürftig81 ist er, arm und reitet auf einem Esel« (Sach 9,9). Und eben dieser

79 Vgl. dazu § 32. 80 Die wichtigsten einschlägigen Texte sind Jes 9,1–6; 11,1–9; Jer 23,5f.; Ez 34,23f.; Mi 5,1–5; Sach 9,9f. Vgl. dazu Schmidt, Ohnmacht des Messias. 81 Die meisten antiken Versionen und auch modernen Übersetzungen haben hier »Helfer« o. ä., doch steht im hebräischen Text tatsächlich eine Passivform.

§ 31 Gottes Allmacht und Ohnmacht

463

nach herkömmlichen Maßstäben ohnmächtige Mann kann Wunderbares vollbringen: Aus Efraim verschwinden die Streitwagen, aus Jerusalem die Rosse, die Kriegsbogen aus aller Welt – und allen Völkern wird der Friede verkündet (Sach 9,10). Man wagt es kaum, eine solche Vision auf die heutige Situation in Nahost hin zu konkretisieren oder sie auf andere Situationen heutiger Weltpolitik hin zu generalisieren. Wahrscheinlich traut die Menschheit noch immer viel zu sehr auf Macht und Gewalt statt auf Macht- und Gewaltlosigkeit, als dass sie sich auf die »messianische« Perspektive einlassen könnte. Das Jesajabuch durchziehen Worte, in denen Gott sich im Bild einer Mutter vorstellt: Israel habe er (oder sie) wie »Kinder großgezogen und hochgebracht« – doch sie wollten von ihm (bzw. ihr) nichts wissen (Jes 1,2f.). Nachdem dann schwere Strafgerichte über das Volk hereingebrochen sind, lässt Gott sich so vernehmen: »Wird eine Frau ihren Säugling vergessen, kein Erbarmen haben mit dem Kind ihres Leibes? Selbst wenn sie es vergäße: Ich vergesse dich [Israel] nicht« (Jes 49,15). »Wie einen seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten« (Jes 66,13). Gott als Frau und Mutter: Das ist zumal in einer patriarchalen Gesellschaft ein gewagtes Bild von Machtlosigkeit – und doch ein ungemein wohltuendes. Es ist gut, dass Gott sich dem Elija nicht im Erdbeben offenbart, dass sein zukünftiger »Gesalbter« nicht ein Machthaber von gängigem irdischem Schlag ist und dass er sich bei Jesaja als sanfte Mutter zeigt. Dieser Gott ist fähig nicht nur zu Sanftheit und Zurückhaltung und Mitempfinden, sondern zu wirklichem Mit-Leiden mit den Seinen, wenn diese von Leid betroffen werden. Bei Jeremia finden sich mehrere Sequenzen, in denen ein »Ich« das unausweichliche Unglück Israels beklagt – und es ist eher das Ich Gottes als das des Propheten. »Es zerfließen meine Augen in Tränen, Tag und Nacht finden sie keine Ruhe, denn völlig zerbrochen ist die Tochter meines Volkes, getroffen von unheilbarem Schlag« (Jer 14,17). Oder: »Aufsteigt in mir der Kummer, mein Herz ist krank. Da! Horch! Geschrei der Tochter meines Volkes weit und breit im Land … Ob des Schlages der Tochter meines Volkes bin ich zerschlagen, niedergedrückt, von Entsetzen erfasst« (Jer 8,18.19aα.21). Tief bekümmert ist Gott, er fühlt sich förmlich krank. Ihn trifft das Elend seines Volkes, er teilt seine Schmerzen. Kein Wort davon, dass er das Leid beseitigen wollte oder könnte. Doch die Zusicherung, dass er im Leiden neben den Seinen steht, ist wohl kostbarer als begütigende und aufmunternde Worte. Denn das Mitleiden Gottes verändert die Qualität des Leids, und einen ewig leidenden Gott gibt es nicht! Ein Textbereich, in dem Gott sich besonders tief in menschliche Ohnmacht zu verstricken scheint und sie doch überwindet, sind die sog. »Gottesknechtslieder«, vier in das Deuterojesaja-Buch eingestreute Texte ganz eigener Prägung.82 Episodenartig, dabei hochpoetisch, schildern sie Auftrag und Ergehen einer rätselhaften Gestalt, die nie einen Namen erhält, sondern immer nur als Gottes »Knecht« tituliert wird. Zuerst präsentiert Gott ihn der himmlischen Ratsversammlung (und damit der Weltöffentlichkeit) als denjenigen, der auf der ganzen Erde Gottes »Rechtsentscheid« und »Wei-

82 Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–11; 52,13–53,12. Die ungemein facettenreiche Forschungsgeschichte zu diesen Texten findet sich dargestellt bei Haag, Gottesknecht.

464

6. Kapitel: Gottesglaube

sung« kundtun soll. Von ihm wird man kein Geschrei und Gezeter zu hören bekommen, er wird »zerknicktes Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen« (Jes 42,3), d. h., er wird sanft und still zu Werk gehen. Irgendwann indes wird der »Knecht« seiner völligen Erfolglosigkeit gewahr und klagt dies Gott: »Umsonst habe ich mich abgemüht, für nichts und wieder nichts meine Kraft verbraucht« (Jes 49,4). Gott reagiert mit einer Bestätigung, ja Verstärkung seines Auftrags (Jes 49,6). Doch der »Knecht« stößt erneut auf Ablehnung, jetzt sogar auf höchst gewalttätige. Still und stark erduldet er die Anfeindungen: »Ich aber, ich widerstrebte nicht, ich wich nicht nach hinten aus … Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel … Ich mache mein Gesicht wie Kieselstein« (Jes 50,*5–7). Die Lage spitzt sich weiter zu. Eine Wir-Gruppe, die den »Knecht« zunächst missachtet, dann aber in ihm Gottes Abgesandten erkannt hat, berichtet: »Misshandelt wurde er, und er, er beugte sich, tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird« (Jes 53,7). Man habe gedacht, er werde »von Gott getroffen und geplagt« (Jes 53,4), doch in Wahrheit trafen und plagten die, die ihm Leid zufügten, Gott! Der »Knecht« trug die Strafe für eine Schuld, die nicht er begangen hatte, sondern andere. Schließlich starb er. Gott aber ließ ihn nicht im Tod, machte ihn vom Verlierer zum Sieger, der »unter Vielen seinen Anteil bekommt und mit Zahlreichen die Beute teilt« (Jes 53,12). Es zeigt sich: Gott erspart diesem von ihm Erwählten das Leiden nicht – sei es, dass er es nicht kann, sei es, dass er es nicht will. Stattdessen gibt er seinem Leiden einen tiefen, befreienden Sinn: »Unsere Krankheiten«, bekennt die Wir-Gruppe, »hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich genommen« (Jes 53,4). Und Gott bestätigt dies: »Er hat die Verfehlung Vieler getragen, und für die Aufrührer trat er ein« (Jes 53,12). Kein Wunder, dass im Neuen Testament dieser »Knecht« mit Jesus Christus gleichgesetzt wird (Apg 8). Und Paulus spricht von der »Kraft« Gottes, die »in der Schwäche« ihr Ziel erreicht (2Kor 12,9). Was wie Ohnmacht aussieht, kann von Gott her Macht sein, unbezwingbare Kraft.

Bibliographie Albertz, Rainer, Art. ‫ פלא‬pl’ ni. wunderbar sein: THAT II 413–420. Bachmann, Michael, Göttliche Allmacht und theologische Vorsicht. Zu Rezeption, Funktion und Konnotationen des biblisch-frühchristlichen Gottesepithetons pantokrator (SBS 188), Stuttgart 2002. Becking, Bob (Hg.), Reflections on the Silence of God (OTS 62), Leiden 2013. Dietrich, Walter, Art. »Allmacht Gottes«: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/13033. Ders., Schläft Gott?: Ders., Gottes Einmischung, Neukirchen-Vluyn 2013, 41–50. Ders./Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, NeukirchenVluyn 42015. Ebach, Jürgen, »Herr, warum handelst du böse an diesem Volk?« Klage vor Gott und Anklage Gottes in der Erfahrung des Scheiterns: Ders., Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 1995, 73–83. Gunn, David M., The Fate of King Saul (JSOT.S 14), Sheffield 1980. Haag, Herbert, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja (EdF 233), Darmstadt 1985. Hentschel, Georg. Saul. Schuld, Reue und Tragik eines »Gesalbten« (Biblische Gestalten 7), Leipzig 2003.

§ 32 Gottes Zukunft

465

Janowski, Bernd, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997. Jeremias, Jörg, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn 21997. Keel, Othmar, Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst (FRLANT 121), Göttingen 1978. Korpel, Marjo/de Moor, Johannes, The Silent God, Leiden/Boston 2012. Michel, Diethelm, Qohelet (EdF 258), Darmstadt 1988. Ritter, Werner H. u. a., Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat, Göttingen 1997. Schiwy, Günther, Abschied vom allmächtigen Gott, München 1995. Schmidt, Werner H., Die Ohnmacht des Messias. Zur Überlieferungsgeschichte der messianischen Weissagungen im Alten Testament: Ders., Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1995, 154–170.

§ 32 Gottes Zukunft Ernst-Joachim Waschke, Halle

1.

Grundlegung

Die Frage, was Israel von Gott in seiner Zukunft erwartet und welche Hoffnungen sich nach den Zeugnissen der Hebräischen Bibel mit diesen Erwartungen verbinden, ist weder einfach noch eindeutig zu beantworten. Dies hat mehrere Gründe, die einleitend kurz darzulegen sind. Im Kontext der christlichen Theologie gehört die Frage nach der Zukunft Gottes traditionell in den Bereich der Eschatologie und damit zum »Lehrstück von den letzten Dingen«. Da sich aus den Texten der Hebräischen Bibel, abgesehen von den Daniel-Visionen (Dan 8–12) keine geschlossene Lehre vom »Ende der Geschichte« oder vom »Ende der Welt« mit einem darüber hinausgehenden Heilsplan Gottes für Israel oder die Menschheit entwickeln lässt, muss die Frage nach den alttestamentlichen Zukunftserwartungen vom Begriff her weiter und der Sache nach anders gestellt werden, als dies innerhalb einer christlichen Dogmatik in der Regel der Fall ist. Wenn in der Hebräischen Bibel von Gericht und Heil, von einem »neuen Bund« (Jer 31,31–34), von einem »neuen Himmel« und einer »neuen Erde« (Jes 65,17; 66,22), von Gottes Verheißung und Israels Hoffnungen die Rede ist, so bleiben diese Aussagen, abgesehen von denen in den späten und nur marginal bezeugten Texten der Apokalyptik (siehe unten 5), stets an Raum und Zeit gebunden. Dieses Zeitverständnis lässt sich schon an dem für die Frage nach der Eschatologie wichtigen hebräischen Begriff ‘ôlām verdeutlichen, der aufgrund der griechischen Übersetzung mit aiōn/aiōnion im Deutschen zumeist mit »Ewigkeit« wiedergegeben wird. ‘ôlām bezeichnet zwar in Rückschau auf die Vergangenheit und in Vorschau auf die Zukunft stets die denkbar »fernste Zeit«; niemals aber wird damit wie mit dem deutschen Wort »Ewigkeit« auf die Entgrenzung der Zeit (Zeitlosigkeit)

466

6. Kapitel: Gottesglaube

angespielt. Allenfalls wo der Begriff in Bezug auf die Begrenztheit der Lebenszeit des Menschen (Gen 3,22; 6,3) oder auf Gott (Ps 25,6; 90,2; 93,2) Verwendung findet, ist der Aspekt von »Ewigkeit« im Hintergrund zu erahnen. Dennoch umfasst ‘ôlam auch in Bezug auf Gott (vgl. noch Jes 40,28; 63,16) nie abstrakt dessen Zeithorizont, sondern stets konkret den Zeithorizont seines innerweltlichen Handelns. So erklärt sich, dass alle göttlichen Verheißungen, die auf Dauer (‘ôlām) angelegt sind, eine je eigene, wenn auch teils unbestimmte Grenze in der Zeit haben. Das gilt sowohl für die großen »Bundesverheißungen« (Gen 9,16; 17, 7; Ex 31,16; vgl. auch Jer 32,40; Ez 37,26) als auch für die Verheißung einer »dauerhaften« Dynastie Davids (2Sam 23,5; Jes 55,3), um nur die markantesten Beispiele zu nennen. Für keine dieser Verheißungen gibt es eine die Geschichte übersteigende Transzendierung. Dementsprechend formuliert der Prediger (Kohelet) im Anschluss an sein Gedicht über die »Zeit« (Koh 3,1–9), dass Gott »alles schön gemacht hat zu seiner Zeit (‘et)« und dass er dem Menschen dafür ein umfassendes Verständnis der Zeit (‘ôlām) in sein Herz eingegeben hat (Koh 3,11). Der Mensch ist von daher in der Lage, von seiner Gegenwart aus sowohl in die Vergangenheit zurück- als auch in die Zukunft vorauszuschauen. Diese Möglichkeit der Zeitübersicht bildet dann das eigentliche Problem des spätbiblischen Weisheitslehrers. Denn er erkennt, dass es im Leben des einzelnen wie in dem der Generationen nichts gibt, was den Tod überdauert, und dass der Mensch mit dem Versuch, Vergangenheit und Zukunft ins »Unendliche« zu transzendieren, notwendig scheitern muss. Die Begrenztheit des eigenen Lebens lässt die Abläufe und die steten Wiederholungen der überschaubaren Ereignisse und Dinge letztlich als »nichtig« (hæbæl) erscheinen (Koh 1,2.14; 2,1 u. ö.). Allein dass dies Gottes Wille ist, bietet dem Prediger den Grund dafür, sein carpe diem zu formulieren (vgl. Koh 3,12f.; 5,17–19; 6,9; 9,7–10). Dabei steht der Prediger mit seiner Vorstellung kaum außerhalb des allgemeinen Zeitverständnisses der Hebräischen Bibel. Was allerdings die Sinndeutung und Bewertung von Vergangenheit und Zukunft betrifft, zeigen sich an anderen Stellen deutliche Unterschiede, wenn es z. B. in Dtn 29,28 heißt: »Was noch verborgen ist (Zukunft), steht bei Jhwh, unserem Gott, was aber offenbar ist (Vergangenheit), gilt uns und unseren Kindern für immer (‘ôlām), so dass wir alle Worte dieser Weisung (tôrāh) erfüllen.« Dass das Hebräische mit ‘ôlām einen Zeitbegriff besitzt, der Vergangenheit und Zukunft umfasst, der im nachbiblischen Hebräisch auch »Welt« und »Weltzeit« (Sir 39,20; 42,18) bedeuten kann, zeigt eine Besonderheit des auf die »Zeit« bezogenen Denkens im Alten Testament auf. Die Frage nämlich, ob dieses eher mythisch-zyklisch oder linear-geschichtlich zu deuten sei, lässt sich ganz einfach dahingehend beantworten, dass es sich bei dem hebräischen Zeitverständnis um ein integratives handelt, das stets beide Aspekte enthält. Umgesetzt in ein geometrisches Bild würden der Kreis für das zyklische und der Pfeil für das lineare Denken dann eine Spirale ergeben (Ludger Schwienhorst-Schönberger). Diese Einsicht ist nicht unwichtig für die entscheidende Frage, worin die Hoffnungen und Erwartungen an eine durch Gott initiierte »Zukunft« in der Hebräischen Bibel gründen und aus welcher Perspektive sie formuliert werden.

§ 32 Gottes Zukunft

467

Der Ausgangspunkt hierfür dürfte entgegen älteren Auffassungen weder allgemein im Kult, etwa in der Erneuerung der Königsherrschaft Gottes durch ein jährlich begangenes »Thronbesteigungsfest« (Sigmund Mowinckel), noch völlig abstrakt im Ursprung des Jhwh-Glaubens zu suchen sein (Horst Dietrich Preuß). Natürlich bricht die Frage nach der Zukunft nicht unabhängig von einem bestimmten Gottesglauben auf, aber ebenso wenig stellt sie sich außerhalb konkreter »geschichtlicher« Erfahrungen. Darauf bezogen hat Reinhard Gregor Kratz formuliert: »Solange ein König für Frieden nach innen und außen sorgte, Weisheitslehrer die Eliten schulten, Priester, Propheten und Richter ihren Pflichten nachkamen, die Ernte erträglich war und sich das Leben in den Familien, Stämmen und Ortschaften unter dem einigenden Dach der Monarchie sowie nach den eigenen Regeln und Gebräuchen entfalten konnte, bestand kein Anlaß, sich Gedanken zu machen, wer oder was Israel, Juda oder Jhwh sei oder sein sollte. Israel und Juda waren wie Moab. Und Jhwh war der Gott Israels und der Gott Judas wie Kemosch der Gott Moabs.«83

Der Anlass, sich über die Zukunft Gedanken zu machen, ergab sich, soweit wir die Texte der Hebräischen Bibel historisch einordnen können, frühestens im Zeitalter der sogenannten »assyrischen Krise«, als das neuassyrische Reich im 8. und 7. Jh. v. Chr. als militärische Großmacht Syrien-Palästina überrollte und die Existenz der in diesem Bereich beheimateten Kleinstaaten bedrohte. Dass diese wie auch die spätere Bedrohung durch das neubabylonische Reich im Übergang vom 7. zum 6. Jh. v. Chr. einschließlich der damit verbundenen Zerstörung der »Bruderstaaten« Israel und Juda in den Texten der Hebräischen Bibel nicht als Fatum oder irrationales Schicksal gedeutet worden sind, verdankt Israel seinen Propheten und ihrer Botschaft, mit der sich dann eine ganz eigene Reflexion über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Schon Julius Wellhausen hatte in der prophetischen Verkündigung den Ursprung der alttestamentlich-»jüdischen« Eschatologie gesehen. Er hatte diesen allerdings verkürzt auf die Weissagung des Ezechielbuches über Gog und Magog (Ez 38,17; 39,8) beschränkt, eine Weissagung, »welche die Ereignisse auf grund theologischer Ideen postulirt, nicht auf grund der schon in der Gegenwart sie ankündigenden Zeichen voraussieht«.84 Die radikale Unterscheidung zwischen einer vorexilischen Gerichtsprophetie in kritischer Auseinandersetzung mit den Zeichen ihrer Zeit und der in der Exilszeit einsetzenden Heilsprophetie mit ihren teilweise illusionären Spekulationen, wie sie hier vorausgesetzt wird, verkennt den Zusammenhang der beiden Seiten. Dieser muss dabei, zumal das Verhältnis von Heils- und Unheilsprophetie in der neueren Forschung umstritten ist, keinesfalls als ursprünglich angesehen werden. Vielmehr ist der Zusammenhang von Unheil und Heil im Aufbau der prophetischen Bücher durch ein »dreigliedriges eschatologisches Schema« (Otto Kaiser) dokumentiert. Am deutlichsten ist dieses Schema im Ezechielbuch erkennbar, in dem auf die Berufungserzählung (Kap. 1–3) zunächst die Gerichtsworte gegen Israel (Juda und Jerusalem [Kap. 4–24]) zusammengestellt sind, auf welche die

83 Kratz, Komposition, 318. 84 Wellhausen, Geschichte, 155.

468

6. Kapitel: Gottesglaube

Fremdvölkersprüche (Kap. 25–32) folgen. Die Übertragung des »Wächteramts« auf den Propheten (Kap. 33; vgl. das Motiv auch in 3,16b–21, als inclusio für Kap. 4–32) leitet dann die Heilsworte für Israel (Kap. 34–39 [40–48]) ein. Ähnlich, wenn auch mit Abweichungen, ist das Schema im Jesaja- und im Jeremiabuch (Septuaginta) sowie in der Zefanja-Schrift erkennbar, wobei im Jesajabuch die Worte über Israel, Juda und Jerusalem (Kap. 1–12; 28–35) noch durch ein Zweierschema von Gericht und Heil geprägt sind. Adressat dieser Art Schemata bildete das exilisch-nachexilische Israel: »Es sollte durch den in den Gerichtsreden geführten Schuldaufweis davon überzeugt werden, daß der Untergang des Nordreiches Israel im Jahr 722 v. Chr. und zumal des Südreiches Juda im Jahr 587 v. Chr. nicht die Folge der Macht- oder Interessenlosigkeit Jahwes an dem Geschick seines Volkes, sondern der Schuld der eigenen Väter gewesen ist. Gleichzeitig mahnte es an, anders als die Väter Jahwe unbedingte Treue zu bewahren und seinem Willen, daß Recht und Gerechtigkeit auf Erden geschähen, mit ihren Taten zu gehorchen, wenn anders kein weiteres Zornesgericht über sie oder ihre Kinder hereinbrechen sollte. Die erfüllten Unheilsworte gegen das eigene Volk und gegen die Fremdvölker hielten ihm die Macht ihres Gottes vor Augen, mit dem nicht zu spaßen war und auf dessen Heilsworte es bauen konnte.«85 Die Gerichtsworte der Propheten gehören nicht zur Eschatologie, aber im Kontext der in den prophetischen Büchern tradierten Heilsverheißungen bilden sie die Grundlage (Rudolf Smend) dafür, die Vergangenheit zu überdenken, um aus der kritischen Reflexion der eigenen Geschichte Hoffnung für die Zukunft zu gewinnen. Im Blick auf die Frage nach Gottes Wirken in der Zukunft ergeben sich von daher mehrere Themenkreise (»Tag Jhwhs«, »Messias«, »Zion«), die im Folgenden behandelt werden.

2.

Der »Tag Jhwhs«

Das differenzierte Verhältnis prophetischer Gerichtsankündigung und der sich daran später anknüpfenden Heilserwartungen, die am Ende schon eine deutliche Nähe zur Apokalyptik aufweisen, spiegeln die Vorstellungen vom »Tag Jhwhs« wider. Diese nur in der prophetischen Überlieferung bezeugte Gerichtsschau (Jes 2,12–17; 13; 34; Jer 46,2–12; Ez 7; 30,1–8; Joel 1,15; 2,1.11; 3,4; 4,14; Am 5,18–20; Zef 1,2–18; 2,1–3; 3,6–8; Sach 14,1–5; Mal 3,13–21.23) ist hinsichtlich ihres Ursprungs kaum sicher zu bestimmen und in ihrer traditionsgeschichtlichen Entwicklung nur mit aller Vorsicht zu beschreiben. Den ältesten Textbeleg für diese Vorstellung bietet nach allgemeiner Überzeugung Am 5,18–20: »Wehe denen, die hoffen auf den Tag Jhwhs! Was erwartet ihr denn vom Tag Jhwhs? Er ist Finsternis und nicht Licht. Er gleicht einem, der vor dem Löwen flieht, da begegnet ihm der Bär,

85 Kaiser, Theologie, 83.

§ 32 Gottes Zukunft

469

und er kommt ins Haus und stützt sich mit der Hand an die Wand, da beißt ihn die Schlange. Ist der Tag Jhwhs nicht Finsternis und ohne Licht, Dunkel und ohne Glanz?«

Im Hintergrund wird eine Heilserwartung vorausgesetzt, begründet entweder in einem kultischen Festtag oder einer militärischen Siegesfeier, der seitens des Propheten mit einem Wehe-Ruf radikal widersprochen wird. An Stelle des erwarteten »Lichts« deutet der Prophet diesen Tag für Israel als »Finsternis« und illustriert das zu erwartende Geschehen anhand der Metapher von jenem, der zwei Gefahren entflieht, um der dritten mit tödlicher Sicherheit zu erliegen. Die darin angekündigte Unentrinnbarkeit aus dem »Gericht« korrespondiert mit der Ansage des »Endes« Israels in der vierten Vision (Am 8,2; vgl. auch 9,1–4), symbolisiert durch einen »Korb« und ausgedrückt in einem Sprachspiel der im Hebräischen gleichlautenden Begriffe für »Sommerobst« und »Ende«. Wenn Christoph Levin diese Vision »als eine Art Urbild prophetischer Gerichtsankündigung« bezeichnet,86 dann gilt dies selbstredend auch für die Vorstellung vom »Tag Jhwhs«. Denn sowohl diese als auch die Ankündigung eines unabwendbaren »Endes« im Amosbuch sind in der prophetischen Überlieferung weiter tradiert und neu ausgelegt worden.87 Während Amos den »Tag Jhwhs« als einen Gerichtstag deklariert, dessen Begründung in den sozialen Missständen der Gesellschaft zu suchen ist (Am 3–6), wird dieser Aspekt in Jes 2,12–17 durch die Ankündigung, dass an diesem Tag aller Hochmut und aller Stolz vor der Erhabenheit Jhwhs zerbricht, konkret auf die Jerusalemer Oberschicht übertragen (vgl. auch Jes 3,16–26). Dass dieser »Tag« nicht nur eine allgemeine Metapher für Jhwhs Gericht darstellt, sondern sich in Naturkatastrophen und in realem Kriegshandeln verwirklicht, zeigen dann die weiteren Belege. In Jes 22,1–14 findet sich die Rede vom »Tag Jhwhs« angesichts einer im Krieg belagerten Stadt, deren Zerstörung unausweichlich ist, weil ihre Bewohner in völlig falschen Handlungen die Zeichen der Gegenwart missachten bzw. missdeuten. Dieser Tag wird daher erweitert als ein »Tag der Verwirrung, der Zertretung und des Umherirrens für den Herrn, Jhwh Zebaot« (V. 5) deklariert. Dabei ist nicht ganz klar, ob entsprechend dem Kontext die Belagerung Jerusalem 701 v. Chr. durch die Assyrer im Blick oder schon die Belagerung und Zerstörung der Stadt 587 v. Chr. mitzudenken ist. Diese Katastrophe wird in Klgl 2,21 mit den Worten beschrieben: »Auf der Erde, auf den Straßen liegen Junge und Alte, meine jungen Frauen und Männer sind gefallen durch das Schwert! Du hast sie umgebracht am Tag deines Zorns, hast sie abgeschlachtet, ohne Mitleid« (vgl. auch Klgl 1,12; 2,1. 22).

Rückbezüge auf die Not Jerusalems finden sich auch in den entsprechenden Ankündigungen in Ob 12–14, Ez 7,6–7 und Zef 1,7–18, wobei Obadja den südlichen Nach-

86 Levin, Amosbuch, 265. 87 In Ez 7 sind beide Aussagen miteinander kombiniert, indem der zu erwartende »Gerichtstag« als ein »Tag des Zorns Jhwhs« (V. 19) deklariert wird und der Begriff des »Endes« als ein Leitwort (V. 2.3.6) fungiert.

470

6. Kapitel: Gottesglaube

barn Edom davor warnt, sich an dem Leid Judas zu ergötzen, während in Ez 13,3–7 die Anklage gegen Jerusalem noch um den Vorwurf gegen die »falschen Propheten«, die mit ihrer Verkündigung den Gerichtstag nicht verhindert, sondern geradezu heraufbeschworen haben, erweitert wird. Den Zusammenhang von Gerichtsankündigung und Heilserwartung stellt dann das Joelbuch heraus, in dem der »Tag Jhwhs« das zentrale und alles bestimmende Thema ist. Diese wohl als »literarische Prophetie« verfasste Schrift deutet das Geschehen in einem zweistufigen eschatologischen Schema und zeigt dabei ein geradezu janusförmiges Gesicht. Im ersten Teil (Joel 1,2–2,17) wird Israel rückblickend auf eine »Heuschreckenplage« und »Dürre« (vgl. dazu auch die ersten beiden Visionen in Am 7,1–3.4–6) die totale Vernichtung vor Augen geführt, um im zweiten Teil (Joel 2,18–4,21) Jerusalem die Chance seiner Rettung in Aussicht zu stellen. Die weitgehende Symmetrie zwischen der Klage der Not des ersten und der Ankündigung des Heils im zweiten Teil (Sättigung an Stelle des Hungers, Freude an Stelle der Schmach, Regen statt Dürre, Überfluss statt Mangel etc.) sowie die Textbezüge zu Hosea und Amos (vgl. Joel 2,12 mit Hos 14,2f.; Joel 2,11 mit Am 1,2 u. a.) sprechen in jedem Fall für eine kompositorische Einheit des Buches. In der Gewissheit, dass der richtende Gott noch immer ein barmherziger ist, der an dem Leid seines Volkes mitleidet (Joel 2,18), fordert diese prophetische Schrift Israel zur Umkehr und Buße auf (Joel 2,12–17). Nur so kann Israel dem Gericht entgehen, das dann an den Völkern vollzogen wird, weil sie selbst durch ihr Handeln an Israel schuldig geworden sind (Joel 4,1–8). Die ganze Spannweite der »Tag Jhwh«-Vorstellung in diesem Buch kommt darin zum Ausdruck, dass sich das Heil für Israel endgültig nur dadurch sichern lässt, dass Gott seinen »Geist über alles Fleisch ausgießt« (Joel 3,1), seinem Volk also »das Charisma der Gottunmittelbarkeit gibt (vgl. Jer 31,34; Ez 36,26f.)«,88 so dass alle, die sich zu ihm bekennen, gerettet werden (Joel 3,5). Die Geretteten werden dann an dem Völkergericht auf Zion beteiligt sein, weshalb im Joelbuch das bekannte Heilswort aus Jes 2 und Mi 4 (s. u.) von einer Entmilitarisierung durch das »Schmieden der Schwerter zu Pflugscharen« in einer Aufforderung zur »Heiligung im Krieg« wieder in sein Gegenteil verkehrt werden kann (Joel 4,9f.). Weitergeführt wird diese Vorstellung in Sach 14 als ein durch Gott selbst heraufgeführter »Völkerkampf« (vgl. auch Zef 2,1–3). In diesem wird zunächst Jerusalem noch einmal selbst in Mitleidenschaft gezogen (V. 1–2). Dann aber tritt der »Königsgott von Zion« auf den Plan, um alle gegen Jerusalem gezogenen Nationen zu vernichten (V. 12–13). Das schon in apokalyptischen Farben ausgemalte Kapitel deutet den »Tag Jhwhs« als ein universales Weltgericht, das in einer groß angelegten Theophanie von Zion ausgeht und dessen Ziel darin besteht, die Welt und ihre Völker am Ende auf Dauer zu befrieden. Während die Verfasser von Sach 12–14 ihre Verkündigung als den Abschluss der Prophetie verstehen (Sach 13,2–6), bindet das Maleachibuch am Schluss die gesamte Prophetie an die Torah des Mose und verkündet die Wiederkunft Elias als Vorboten für den noch ausstehenden »Tag Jhwhs« (Mal 3,22–24). 88 Zenger, Joël, 533.

§ 32 Gottes Zukunft

3.

471

Der »Messias«

Der Ursprung der »messianischen« Vorstellungen, die das Judentum wie dann auch das Christentum in ihren Zukunftshoffnungen maßgeblich geprägt haben, liegt in der Hebräischen Bibel. Der Titel »Messias« (griechisch: Christos – Gesalbter) geht auf die im Alten Testament mehrfach bezeugte Königssalbung (1Sam 10,1; 16,13; 2Sam 2,4; 5,3; 2Kön 9,6; 23,30) zurück und zeigt in dem Titel »Gesalbter Jhwhs« (1Sam 16,6; 24,7; 2Sam 22,51 par Ps 18,51; 2Sam 23,1; Ps 2,2 u. ö.) die enge Beziehung Gottes zum König auf. Schon in der Theologie des deuteronomistischen Geschichtswerkes stellt David das königliche Ideal schlechthin dar. Während von den meisten seiner Nachfolger gesagt wird, dass ihr »Herz nicht ungeteilt mit Gott war« (1Kön 14,8; 15,3; 2Kön 16,2), ist er der Mann nach Jhwhs Herzen (1Sam 13,14). Um seines »Knechtes David willen« hat Jhwh Juda und Jerusalem trotz ständiger Missachtung seiner Gebote lange Zeit verschont (1Kön 11,13.34; 2Kön 8,19; 19,34; 20,6). Die hohe Wertschätzung Davids ist in diesem Kontext durch sein Wirken für Jerusalem, für die Lade und den Tempel begründet, weshalb die göttliche Verheißung einer »ewigen Dynastie« (2Sam 7; vgl. Ps 89,20–38) auch im Zentrum des deuteronomistischen Davidbildes steht. Die Verheißungen an David gelten in diesem Kontext, nicht zuletzt durch den Aufschub des Gerichts, als erfüllt. Die Zerstörung Jerusalems und der Untergang Judas werden allein mit der Schuld des Volkes und seiner Könige begründet (2Kön 17,7–23) und nicht damit, dass Gott seine Verheißungen nicht eingehalten hätte (vgl. dagegen die Klage Ps 89,39–46). Erst wenn Israel zu Jhwh umkehrt, werden auch die früheren Verheißungen neu in Kraft gesetzt. In den Prophetenbüchern finden sich vereinzelt Texte, in denen die Erneuerung des Königtums verheißen wird (Jes 7,14–16; 9,1–6; 11,1–10; Mi 5,1–5; Sach 9,9–10; vgl. auch Jes 32,1–8; Jer 23,5f.; 33,14–26; Ez 17,22–24; 34,23f.; 37,21–25; Amos 9,11f.; Hag 2,20–23; Sach 4,6–10; 6,9–14). Während einige Texte den zukünftigen Herrscher namentlich aus dem davidischen Geschlecht erwarten (Jes 9,5f.; Jer 23,5f.; Ez 34,23f.), zum Teil in Rückbezug auf die Anfänge der Dynastie (Mi 5,1: Betlehem; Jes 11,1: Spross Isais), lässt sich der Bezug auf David auch für die anderen Verheißungen voraussetzen. Erwartet werden von dem neuen König bzw. der neuen Herrschaft die Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit im Inneren sowie die Gewährung von Schutz und Sicherheit gegenüber äußeren Bedrohungen. Am weitesten ist diese Vorstellung in Jes 11 fortgeschritten, wo das angesagte Heil sich nicht wie in Jes 9,5f. auf das davidische Reich beschränkt, sondern die gesamte Kreatur in einem universalen Friedensreich mit einschließt (Jes 11,6–8). Wichtig für die Beurteilung dieser »messianischen« Erwartungen ist die Beobachtung, dass die meisten Texte am Schluss kleinerer und größerer Spruchsammlungen stehen (Jes 9,1–6; 11,1–10; Jer 23,5–6; Amos 9,11–12; Mi 5,1–5; Sach 9,9–10) und somit eine Bedeutung für die jeweilige Komposition besitzen. Dabei sind unterschiedliche Perspektiven erkennbar. Im Jesajabuch etwa stehen jene Verheißungen, die sowohl an der Dynastie Davids (Jes 7,14–16; 9,1–6; 11,1–10) als auch – mit der Proklamation der Thronnamen »Wunderplaner, Gottheld, Ewigvater, Friedefürst«

472

6. Kapitel: Gottesglaube

(Jes 9,5) – an der Jerusalemer Königstheologie orientiert sind, am Anfang. Demgegenüber werden am Ende der Sammlungen des ersten Jesajabuches (Jes 32,1–5) die Erwartungen sehr viel allgemeiner formuliert, und an der Schnittstelle zwischen dem zweiten und dritten Jesajabuch können die Verheißungen an David als ein »ewiger Bund« auf Israel selbst übertragen werden (Jes 55,3–5). Die gleiche Tendenz verraten auch Jes 11,10–16 und 32,15–20. Insgesamt zeigt sich in dieser kompositorisch gestalteten Abfolge, dass im Laufe der Überlieferung die Hoffnung auf eine Erneuerung des davidischen Königtums immer mehr an politischer Kraft verliert und der König zur reinen Symbolgestalt einer zukünftigen Heilszeit wird (Ez 34,23f.; 37,21–25). Dennoch haben sich innerhalb der prophetischen Überlieferungen auch politisch-restaurative Hoffnungen erhalten (vgl. Hag 2,20–23; Sach 4,6–10; 6,9–14). Demgegenüber lassen Aussagen in den Königspsalmen (Ps 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 101; 110; 132; 144,1–11) noch eine deutliche Nähe zur Jerusalemer Königstheologie erkennen. Nach dieser gilt der König als Gottes Sohn (Ps 2,7; 110,3). Gott ist sein Vater (89,27), zwar nicht der Physis nach, aber per Adoption im Vollzug seiner Inthronisation. Als höchster irdischer Repräsentant sitzt er zu Gottes rechter Hand (Ps 110,1). Ihm ist die Welt übereignet (2,8; 72,8; 89,26), die Völker und Nationen gelten als das ihm von Gott verliehene Erbe (2,8). Deshalb erbittet und erwartet man von seiner Herrschaft den Sieg (Ps 20,10) und einen alles umfassenden Heilszustand, so dass nicht nur das gesellschaftliche Gefüge, sondern die ganze Natur befriedet werden. In seiner Herrschaft, in der sich die Herrschaft Gottes widerspiegelt, ist der Segen der Völkerwelt begründet (Ps 72). Allseitiges Wohlergehen, Heil und der Bestand seines Thrones sind Wünsche, die ihm gleichermaßen auch als göttliche Zusagen zugesprochen werden (89,29f.37f.). Keiner dieser Psalmen hat ursprünglich einen zukünftigen König im Blick. Dennoch besteht eine deutliche Entsprechung zur prophetischen Überlieferung. Auf Grund der späteren Rahmung der ersten beiden Psalmenbücher durch die Königspsalmen 2 und 72 wird der schon durch seine Überschriften und biographischen Notizen am Lebensweg Davids orientierte Psalter auf dessen Königsherrschaft hin erweitert. Aus dieser Perspektive erscheint David als der in Ps 2 auf dem Zion eingesetzte König, und er ist zugleich der Beter, der in Ps 72 die rechte Königsherrschaft für seinen Nachfolger erfleht. Am Ende des dritten Psalmenbuches (Ps 73–89) steht mit Ps 89 der Psalm, der den Untergang des Königtums beklagt und Gott darum bittet, die David erwiesene Gnade doch wieder zur Geltung zu bringen. Gegenüber dieser »messianischen« Perspektive wird im vierten und fünften Psalmenbuch (Ps 90–106; 107–150) allerdings eine »theokratische« erkennbar, die schon in den Jhwh-Königspsalmen (Ps 93; 95–99) dazu anweist, das Vertrauen nicht auf irdische Macht, sondern auf die universale Königsherrschaft Gottes auszurichten. Dass politische Enttäuschungen die Hoffnungen auf eine Erneuerung des Königtums verändert haben, ist anzunehmen. Der Wechsel der Perspektive von einem König mit politischer Macht zu einem geistigen Führer seines Volkes bzw. zur reinen Symbolgestalt in der Königsherrschaft Gottes kann in diese Richtung verstanden werden. Aber ähnlich wie bei der Übertragung der Davidverheißung auf das Volk handelt es sich primär um einen theologischen, wenn auch nicht von seinem politischen Kontext zu trennenden Interpretationsvorgang. Hinter allen Texten

§ 32 Gottes Zukunft

473

steht die Überzeugung, dass Gott selbst das Heil für sein Volk heraufführen wird. Deshalb musste nicht notwendig ein »neuer David« kommen, aber die mit ihm verbundenen Hoffnungen lebten in Israel fort. David wurde zum Vorbild und Israel zu seinem »Abbild«. In den Prophetenbüchern waren die Verheißungen auf Dauer eingeschrieben und mit dem auf David hin orientierten Psalter besaß Israel ein geistiges Kompendium, sich seiner »Geschichte« zu erinnern und sich seiner Hoffnungen, unabhängig von der jeweiligen politischen Situation, zu vergewissern.

4.

Der »Zion«

Die Zionsvorstellungen des Alten Testaments sind eng mit dem Königtum Davids und seiner Dynastie verbunden. Nach den Überlieferungen des deuteronomistischen Geschichtswerkes hat David die Stadt des Zions, Jerusalem, erobert (2Sam 5), die Lade als religiöses Symbol dorthin überführt (2Sam 6) und sein Sohn und Nachfolger Salomo daselbst den Tempel erbaut (2Kön 5–8). Von daher ist der Jerusalemer König »nicht einfach ein Stammes- oder Volkskönig«, sondern er ist eingesetzt als der Sachwalter des auf Zion thronenden Königsgottes, der diesen Kosmos hervorgebracht hat«.89 Während es sich bei dem Namen »Zion« ursprünglich um die topographische Bezeichnung des Südosthügels von Jerusalem handelt, auf dem der Tempel erbaut worden ist, bildet dieser dann mit der Stadt und ihrem Heiligtum eine Trias, in der die religiöse und politische Bedeutung Jerusalems ihren Ausdruck findet. Unabhängig von einer umstrittenen, aber dennoch vorauszusetzenden vorexilischen Zionstheologie war für deren Entwicklung entscheidend, dass sich, parallel zum Glauben an Jhwh als den »einzigen Gott« für Israel (Dtn 6,5), auch das Bekenntnis zu dem Tempel in Jerusalem als dem von Gott selbst erwählten einzigen Kultort (Dtn 12; vgl. neben 1Kön 8,16.44.48; 11,32.36; 14,21; 2Kön 23,27 auch Ps 132) entfaltet hat. Die enge Verbindung mit dem davidischen Königshaus ist eine mögliche Erklärung dafür, dass die mit dem Zion und Jerusalem verbundenen Zukunftshoffnungen in Überlieferung und Tradition teilweise Entsprechungen zu den »messianischen« Königserwartungen aufweisen. Dabei lassen sich die Grundlagen einer »Zionstheologie« – ähnlich denen der Jerusalemer Königstheologie – am klarsten in den Psalmen, hier vorab den »Zionsliedern«, nachzeichnen, während die mit dem Zion verbundenen Zukunftserwartungen wiederum in dem Gegenüber von Gericht und Heil der prophetischen Überlieferungen ihren eigentlichen Ort haben. Die in den Jhwh-Königspsalmen (Ps 93; 95–99) vorausgesetzte Sicht, dass der Gott Israels der Herr und Schöpfer der Welt ist, wird in den Zionspsalmen (Ps 46; 48; 76; 84; 87) auf den Ort selbst übertragen, und dieser gilt unter der Bezeichnung »Gottesstadt« und »Gottesberg« als Wohnstatt des großen Weltkönigs (Ps 46,5; 48,2f.). Der Zion bildet dabei nicht nur Burg, Schutz und Zuflucht für seine Bewohner (Ps 46,6; vgl. Ps 14,7; 20,3), sondern gilt auch als Ziel und Angriffspunkt der

89 Steck, Friedensvorstellungen, 19.

474

6. Kapitel: Gottesglaube

Israel feindlichen Völker (Ps 46,7; 48,5f.; vgl. auch Ps 2,2–6). Wie aber Jhwh als König der Welt deren Ordnung gegen alle Chaosmächte der Schöpfung verteidigt (Ps 93,3f.; 97,2–6; vgl. auch Ps 89,9–15), so muss auf Grund seiner Präsenz auch jeder militärische Angriff auf seinen Wohnsitz scheitern (Ps 46,9–11; 48,6f.). Dass solche, vor allem aus den Psalmen rekonstruierbare Vorstellungen schon im vorexilischen Jerusalem präsent gewesen sein müssen, zeigen wiederum die prophetischen Überlieferungen. In diesen vollzieht sich die Eschatologisierung des Zions unter dem Aspekt von Gericht und Heil, dessen Grundstruktur und Spannung in dem WeheRuf über Jerusalem in Jes 1,21–26 gut erkennbar ist. In diesem in drei Kreisen konzentrisch kunstvoll aufgebauten Gedicht, in dessen Zentrum das Bekenntnis zu dem »Herrn Jhwh Zebaoth, dem Starken Israels« steht (V. 24a), wird eingangs die Treulosigkeit der Stadt und der Verlust ihrer Rechtschaffenheit beklagt (V. 21), um am Ende die Wiederherstellung Jerusalems zur »treuen Stadt«, in der Recht und Gerechtigkeit walten, zu verheißen (V. 26). Die beiden inneren Kreise beschreiben dann mit Hilfe verschiedener (u. a. metallurgischer Metaphern) den Weg in eine politisch-soziale Krise (V. 22f.) und der in einem Gericht stattfindenden Läuterung (V. 24bf.). Wie hier wird auch an anderen Stellen das Gericht über Jerusalem mit dem Mangel an »Recht und Gerechtigkeit« auf Grund einer korrupten Oberschicht begründet (Jes 5,1–7; Jer 26,1–6) und damit jener in der vorexilischen Zionstheologie offensichtlich schon verankerten Heilsgewissheit widersprochen, dass die Stadt uneinnehmbar sei. Auch wenn solche Art Selbstsicherheit möglicherweise durch »geschichtliche« Erfahrungen wie die der wundersamen Rettung Jerusalems angesichts der Belagerung durch Sanherib im Jahr 701 v. Chr. (2Kön 18,13–19,37) bestärkt worden sein könnte, so handelt es sich nach prophetischer Überzeugung hierbei um falsches Vertrauen und irregeleiteten Glauben (vgl. Jes 7,1–9; 8,5–8; Jer 7,4). Denn Gott selbst als »Herr des Zions« ist der Initiator des Gerichts (vgl. Klgl 4,11). Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet Mi 3,9–12 (vgl. auch Jer 26,18): »Hört doch dies, ihr Häupter des Hauses Jakob und ihr Führer des Hauses Israel, die das Recht verabscheuen und alles, was gerade ist, verdrehen, die Zion bauen mit vergossenem Blut und Jerusalem mit Unrecht! Ihre Häupter sprechen Recht nach Bestechung, ihre Priester erteilen Weisung gegen Bezahlung, und ihre Propheten wahrsagen für Geld! Dabei verlassen sie sich auf Jhwh und sagen: Ist nicht Jhwh in unserer Mitte? Es kann kein Unheil über uns kommen! Deshalb wird um euretwillen der Zion gepflügt als Feld, Jerusalem wird zu einem Trümmerhaufen und der Tempelberg zu waldreichen Höhen!«

Nachdem sich diese Prophezeiung durch die Zerstörung Jerusalem und seines Tempels (586 v. Chr.) bewahrheitet hatte, war die Bedeutung des Zions zunächst grundsätzlich in Frage gestellt. Während sich die frühnachexilischen Propheten Haggai und Sacharja für den Wiederaufbau des Tempels und damit für die Restitution Jerusalem einsetzten, wird in anderen exilisch-nachexilischen Überlieferungen die ursprüngliche Identifikation zwischen Gott und Jerusalem/Zion in mehrfacher Weise gebrochen. Da an der Macht Gottes nicht zu zweifeln war, wurde der »Himmel« von jetzt an zu seiner eigentlichen Wohnstatt (Ps 103,19; 115,3; 123,1; vgl. 1Kön 8,27). Im Heiligtum hatte er nach deuteronomistischer Auffassung allein »seinen

§ 32 Gottes Zukunft

475

Namen hinterlegt« (Dtn 12,5.11.21), und nach der Priesterschrift offenbarte er sich dort in seiner »Herrlichkeit« (kābôd: Ex 29,43; 40,34f.; Num 14,10). In dieser Tradition beschreibt dann das Ezechielbuch in einer Vision, wie die »Herrlichkeit Jhwhs« die Stadt und ihr Heiligtum zeitweilig verlassen kann (Ez 11,22f.). Dennoch wurden die mit Zion verbundenen Erwartungen nicht außer Kraft gesetzt. Mit dem Bekenntnis zur universalen Weltherrschaft des Gottes Israels verlagerte sich der Schwerpunkt vom Zion als Jhwhs Wohnstatt auf den Zion, nach dem sich das in alle Welt verstreute Israel sehnte und auf den es als Ort seiner Wiederherstellung hoffte (vgl. Ps 137,1–6). Am nachdrücklichsten sind diese Hoffnungen in das Jesajabuch, das in allen drei Teilen (Jes 1–30; 40–55; 56–66) um das Thema Zion und Jerusalem kreist, eingeschrieben worden. Während die Gerichtsansagen des ersten Teils die Gefährdung Jerusalems thematisieren (Jes 1,7f.21f.; 3,1; 5,1–7; 8,5–9), werden im zweiten und dritten Teil dieses prophetischen Buches die Wiederherstellung des Zions und Jhwhs Rückkehr erwartet (Jes 49,14–16; 51,3.11; 52,7; 62,11f.; 66,8–10). Mit dieser Erwartung verbindet sich dann die Hoffnung der Heimkehr Israels aus dem Exil, die in überschwänglichen Bildern in Anspielung auf die Herausführung aus Ägypten und auf Jhwhs Sieg über das Meer (Jes 40,1–5; 43,16–21; 51,9f.) als »neuer Exodus« gefeiert wird, von dem es in 51,11 heißt: »Die Befreiten Jhwhs werden zurückkehren und nach Zion kommen mit Jubel, und über ihrem Haupt wird ewige Freude sein. Frohlocken und Freude werden bei ihnen sein, Kummer und Seufzen aber werden fliehen«.

Bei dieser Hoffnung auf Zion handelt es sich nicht wie bei Haggai und Sacharja um die Restauration eines vormaligen Zustandes. Vielmehr präsentiert der »Gott des Zions« seine Stadt als »Königin« unter den Völkern (Jes 49,23; 52,1f.; 54,4–8; 60–62). »Damit rückt Zion in der Heilszeit in die Stellung des davidischen Königs […] ein.«90 Ermöglicht wurde diese Sicht dadurch, dass die Königsverheißungen des ersten Teils des Jesajabuches in Jes 55,3–5 auf Israel als Gottesvolk übertragen wurden (s. o.), so dass Israel und der Zion zu Symbolen der »messianischen« Zeit werden. Aus dieser Perspektive kann dann auch das Motiv des »Völkerkampfes« umgedeutet werden zur »Völkerwallfahrt« zum Zion. Entgegen der bis in die Spätzeit des Alten Testaments bezeugten Vorstellung, dass die Völkerwelt dem auserwählten Volk und seinem Gott feindlich gegenübersteht und Israel allein dadurch gerettet werden kann, dass Gott als König des Zions diese in einem Gericht vernichtet (Jes 33,10–17; Jo 4,9–17; Sach 14,13–19), tritt die Hoffnung, dass sich auch die Völker zu dem wahren Gott des Zions bekennen, ihm huldigen (Jes 45,14; 49,17–26; 60) und gleich Israel von ihm Heil und Frieden erwarten. Am klarsten ist diese Anschauung in der zweifach belegten Verheißung von Jes 2,2–4 und Mi 4,1–4 zum Ausdruck gebracht:

90 Jüngling, Jesaja, 451.

476

6. Kapitel: Gottesglaube

»Es wird geschehen in künftigen Tagen: da wird der Berg des Hauses Jhwhs fest gegründet sein, als Haupt der Berge und erhabener als die Hügel. Und es werden zum ihm strömen Völker, und hingehen viele Nationen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufziehen zum Berg Jhwhs, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns Unterweisung gebe von seinen Wegen und wir auf seinen Pfaden gehen. Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort Jhwhs von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern und Rechtsbescheid erteilen mächtigen Nationen […]. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nie wieder erhebt eine Nation gegen die andere das Schwert, noch werden sie Kriegsführung lernen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock sitzen und unter seinem Feigenbaum, und da wird keiner sein, der sie aufschreckt, denn der Mund Jhwh Zebaots hat gesprochen!« (Mi 4,1–4)

Die Hoffnung auf eine befriedete Welt ohne Krieg und Gewalt hat dann auch Eingang in die »Zionslieder« (Ps 46,10; 74,4) gefunden und insgesamt die Zukunftshoffnungen der prophetischen Überlieferung und des Psalters geprägt.

5.

Ausblick

Während sich das auf Zukunft ausgerichtete eschatologische Denken noch ganz im Raum der geschichtlichen Zeit bewegt, rechnet die Apokalyptik mit dem Ende der »Geschichte«. Dieses erfolgt nach Ablauf bestimmter und apokalyptisch berechenbarer Weltzeitalter in einer Äonenwende, in der in einem Endkampf zwischen »Gut und Böse«, zwischen »Licht und Finsternis« die alte Welt in einem kosmischen Gericht zerschlagen und das »Reich Gottes« als ein »ewiges« und unzerstörbares begründet wird. Dabei verbindet sich das eschatologische Schema von Gericht und Heil der Prophetie mit dem vor allem in der späten Weisheit reflektierten »Tun-Ergehen-Zusammenhang«. Die gerechten Frommen sollen gerettet und die sündigen Frevler vernichtet werden. Das apokalyptische Denken bricht dort auf, wo politische Bedrängnis und Unterdrückung ein Maß erreichten, für das es nach menschlichem Ermessen keine innerweltliche Konfliktlösung mehr geben konnte. Eine solche Situation stellt die Entweihung des Jerusalemer Tempels und die darauf folgende »Zwangshellenisierung« der Juden unter Antiochus IV. in den Jahren 169–167 v. Chr. dar. In verschiedenen jüdischen Kreisen konnte dieses Sakrileg am Heiligtum und das Verbot der eigenen Religionsausübung kaum noch mit der »Sünde der Väter« als Strafe für das gesamte Volk erklärt werden. So musste der Gedanke aufbrechen, dass mit diesen Drangsalen das »Ende der Zeit« hereingebrochen sei, in der sich jetzt der gerechte Ausgleich zwischen den Frommen und Gottgetreuen auf der einen und den Frevlern und Gottvergessenen auf der anderen Seite vollziehen sollte.

§ 32 Gottes Zukunft

477

Die Kapitel Dan 8–12 reflektieren diese Ereignisse. Dabei wird das kommende Gericht nicht mehr von einem »Propheten« entsprechend der »Zeichen seiner Zeit« verkündet, sondern in mehreren Visionen als »Zeichen des Himmels« offenbart. Der Vision über die »vier Weltreiche« (Dan 8) und der Kundgabe über die Dauer der Endzeit (Dan 9,20–27) folgt die große Vision über den »Völkerengel« und die Deutung der Weltreiche (Dan 10,1–12,4). Die ganze Offenbarung wird in einem Buch versiegelt, in dem auch jene verzeichnet sind, von denen die einen »zum ewigen Leben« und die anderen »zu Schmach und zu ewiger Schande« erweckt werden (Dan 12,2). Auch wenn die Visionen Daniels als der einzige apokalyptische Text des Alten Testaments gelten, so gibt es doch weitere Texte, die eine gewisse Nähe zum apokalyptischen Denken aufweisen und dieses möglicherweise mit vorbereitet haben. Die kleine separate Sammlung Jes 24–27, in der älteren Auslegung als »JesajaApokalypse« bezeichnet, beschreibt die Verwüstung der Welt (Jes 24) und die Rettung des Zion (Jes 25–27) in einer universalen Perspektive. Darin konkretisieren die Orakel Jes 24,21–23 und 25,6–8 die in der Sammlung ausgesprochene Erwartung eines nahe bevorstehenden Gerichts, in dem zunächst der Gottkönig des Zions alle ihm entgegenstehenden irdischen und kosmischen Mächte zur Rechenschaft zieht, um danach allen Völkern auf dem Zion ein üppiges Festmahl zu bereiten. Vernichtet werden soll, was trennend zwischen ihm und der Völkerwelt steht, um so die Schmach seines Volkes von der Erde zu tilgen. Die letzte Handlung verdichtet sich in der Metapher: »Verschlungen hat er den Tod für immer und der Herr Jhwh wischt ab die Tränen von allen Angesichtern« (V. 8). Die Aussagen liegen durchaus schon im Bereich des Wechsels von einer prophetischen Eschatologie zur Apokalyptik. Durch seine machtvolle Gegenwart erhebt Gott den Zion zum Mittelpunkt der Welt, zu dem die Völker wallfahren werden (vgl. Jes 2,2–4; Ps 72,10; 96,7f. u. ö.). Auch wenn in diesem Gericht die Welt nicht vernichtet wird, sondern am Ende alle Völker in die Gottesgemeinschaft geführt werden, bildet die Hoffnung der Königsherrschaft Gottes einen so tiefen Einschnitt in das Weltgeschehen, dass dies nicht mehr als die Verlängerung von etwas Bekanntem, sondern nur als der vollkommene Neubeginn Gottes mit der Welt verstanden werden kann. Die Ansage der Vernichtung des Todes muss nicht notwendig ein Hinweis für den Glauben an die Auferstehung der Toten sein. Aber der älteren und weitverbreiteten Auffassung, dass Jhwhs Macht an den Grenzen des Totenreiches (scheôl) endet und die Toten in keiner Beziehung zu Gott stehen (Ps 6,6; 39,10; 88,11–13; 115,17f.), wird mit einer solchen Aussage grundsätzlich widersprochen. So rechnet auch die Vision von der »Auferweckung der Totengebeine« (Ez 37,1–14) mit der Schöpfermacht Gottes, der nicht nur im Anfang den Menschen aus »dem Staub des Ackers« gebildet und mit seinem »Atem« belebt hat (Gen 2,7), sondern der die vertrockneten Gebeine wieder zu einem Körper zusammenfügen und durch seinen Geist neu erstehen lassen kann. Auch wenn diese Vision konkret auf die Rückführung Israels aus dem Exil in das von Gott verheißene Land zielt, so ist mit ihr doch der Gedanke der Auferstehung der Toten vorgeprägt. Entsprechend findet sich in der Klage von Jes 26,7–21 (durchaus in Kontrast zu V. 14) dann in V. 19 die Aussage: »Leben sollen

478

6. Kapitel: Gottesglaube

deine Toten, meine Leichen auferstehen! Erwacht und jubelt ihr Bewohner des Staubes…«. Insgesamt steht die Hebräische Bibel der Hoffnung einer Auferstehung der Toten eher skeptisch gegenüber (vgl. Koh 3,19–21; 9,10). Aber von dem Moment an, wo die Wiederbelebung im Blick auf Israel als Volk (Ez 37) formuliert und den Gerechten im Endgericht »ewiges Leben« (Dan 12,1–4) verheißen werden konnte, war eine Möglichkeit eröffnet, dass die Hoffnung auf Auferstehung auch an Texten Halt fand, in denen der Gedanke ursprünglich nicht angelegt war. Angesichts der Nähe und Auswechselbarkeit der Bilder von Krankheit und Heilung, Tod und Leben lässt sich die Grenze zwischen Heilung, Errettung vom Tod und Auferstehung ohnehin nicht eindeutig festlegen. Hoffnungsaussagen in den Klageliedern des Psalters (Ps 16,10; 22,31f.; 49,14–16; 73,23–26; vgl. auch Hiob 19,25–27; Jes 53,10–12) blieben immer mehrdeutig, wie ihre Wirkungsgeschichte im Judentum wie im Christentum zeigt. Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass die Texte der Hebräischen Bibel mit den in ihnen präsentierten Begriffen, Bildern und Symbolbeständen eine wesentliche Quelle für die Ausformung christlicher Eschatologie dargestellt haben und noch darstellen. Von daher begründet sich ihr bleibender hermeneutischer Wert.

Bibliographie Beck, Martin, Der »Tag YHWHs« im Dodekapropheton. Studien im Spannungsfeld von Traditions- und Redaktionsgeschichte (BZAW 356), Berlin/New York 2005. Beyerle, Stefan, Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schriften Altisraels und des Frühjudentums: VF 43 (1998), 34–59. Gross, Walter, Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998. Hartenstein, Friedhelm, Das Archiv des verborgenen Gottes. Studien zur Unheilsprophetie Jesajas und zur Zionstheologie der Psalmen in assyrischer Zeit (BThSt 74), Neukirchen-Vluyn 2011. Jeremias, Jörg, Theologie des Alten Testaments (ATD. E 6), Göttingen 2015. Jenni, Ernst, Das Wort ‘ôlām im Alten Testament: ZAW 64 (1952), 197–248; 65 (1953), 1–35. Jüngling, Hans-Winfried, Das Buch Jesaja: Zenger, Erich (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 427–451. Kratz, Reinhard Gregor, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000. Ders., Art. »Apokalyptik II. Altes Testament«: RGG4 1 (1998), 591f. Kaiser, Otto, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT 3: Jahwes Gerechtigkeit, Göttingen 2003. Krüger, Thomas, Wahrnehmung und Deutung der Zeit im Buch Kohelet: JBTh 28 (2013), 21–45. Levin, Christoph, Das Amosbuch der Anawim (1997): Ders., Fortschreibungen (BZAW 316), Berlin/ New York 2003, 265–290. Mowinckel, Sigmund, Psalmenstudien II. Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie, Oslo 1922. Müller, Hans-Peter, Ursprünge und Strukturen alttestamentlicher Eschatologie (BZAW 109), Berlin 1969. Ders., Art. »Eschatologie II. Altes Testament«: RGG4 2 (1999), 1546–1553. Otto, Eckart, Das antike Jerusalem. Archäologie und Geschichte, München 2008.

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

479

Pilger, Tanja/Witte, Markus (Hg.), Zion. Symbol des Lebens in Judentum und Christentum (Studien zu Kirche und Israel, Neue Folge 4), Leipzig 2013. Preuss, Horst Dietrich, Jahweglaube und Zukunftserwartung (BWANT 87), Stuttgart 1968. Ders. (Hg.), Eschatologie im Alten Testament (WdF 480), Darmstadt 1978. Schmidt, Werner H., Aspekte der Eschatologie im Alten Testament: JBTh 8 (1993), 3–23. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, Die Ordnung der Zeit im Alten Testament: JBTh 28 (2013), 3–20. Sæbø, Magne, Zum Verhältnis von »Messianismus« und »Eschatologie« im Alten Testament. Ein Versuch terminologischer und sachlicher Klärung: JBTh 8 (1993), 25–55. Smend, Rudolf, Art. »Eschatologie II. Altes Testament«: TRE 10 (1982), 256–264. Steck, Odil Hannes, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem. Psalmen. Jesaja. Deuterojesaja (ThSt 111), Zürich 1972. Waschke, Ernst-Joachim, Der Gesalbte. Studien zur alttestamentlichen Theologie (BZAW 306), Berlin/New York 2001. Wellhausen, Julius, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 51904. Zenger, Erich, Das Buch Joël: Ders. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 528–533.

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven Friedhelm Hartenstein, München

1.

Was ist und wozu braucht man eine »Theologie des Alten Testaments?«

a)

Zum Begriff »Theologie des Alten Testaments«

Spricht man von »Theologie des Alten Testaments«, so meint man damit mindestens zweierlei: Einerseits Aussagen in den Schriften der Hebräischen Bibel, die als Ausdruck eines antiken reflektierten Nachdenkens über den biblischen Gott Jhwh angesehen werden und insofern auch in einem heutigen Sinn »theologisch« genannt werden können. Hier unterscheidet man dann teilweise auch zwischen impliziter und expliziter Theologie, weil erst mit dem schöpfungstheologischen Monotheismus der persischen und hellenistischen Zeit sowie der umfassenden Geschichtsdeutung der fortgeschrittenen Prophetenbücher von Ansätzen zu einer übergreifenden Reflexion des Gottesverständnisses gesprochen werden kann. Andererseits zielt die Bezeichnung »Theologie des Alten Testaments« auch auf einen bestimmten Typ von Gesamtdarstellung des Inhalts des ersten christlichen Kanonteils, die seit dem 19. Jh. oft als Krönung der wissenschaftlich-theologischen Beschäftigung mit dem ersten Teil der christlichen Bibel galt. Es handelt sich dann um die Sicherung des Ertrags der exegetischen Forschung vor allem im Blick auf das Gespräch zwischen den Fächern innerhalb der Theologie, aber auch über sie hinaus für alle an der Bibel Interessierten. Zugleich trägt eine zusammenfassende »Theolo-

480

6. Kapitel: Gottesglaube

gie des Alten Testaments« auch immer zum tieferen Verständnis der zweiteiligen christlichen Bibel im Ganzen bei. Sie ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Teil der Bemühung um eine (gesamt-)biblische Hermeneutik (s. u. 3.). b)

Probleme einer »Theologie des Alten Testaments«

Diese doppelte Verwendung von »Theologie des Alten Testaments« schließt sich nicht aus, sondern ergänzt sich. Sie verweist auf eine Reihe von Problemen, die sich zwangsläufig mit dem Versuch verbinden, in der vielfältigen Schriftensammlung des jüdischen Tanakh und der zweiteiligen christlichen Bibel übergreifende Sinnlinien und Strukturen festzustellen: Trägt man hier nicht spätere und eventuell unangemessene Vorstellungen von Einheit und Systematik ein, die weder der Entstehung noch der Eigenart der vielstimmigen »biblischen Bibliothek« gerecht werden? Oder gibt es doch schon in den biblischen Texten selbst Tendenzen zu einheitlichen Sichtweisen? War die Hebräische Bibel dann bereits in ihrem Werden »unterwegs zu ihrer Theologie«? Liegt der Entstehung der biblischen Textsammlung, die erst nach vielen Jahrhunderten zur uns vertrauten Überlieferungsgestalt gefunden hat, vielleicht auch eine innere sachliche Dynamik zugrunde, die über die Einzeltexte hinausweist? Tatsächlich kann man je unterschiedlich für Judentum und Christentum auf Phänomene in der antiken Bibelentstehung und -rezeption verweisen, die sich gegenseitig befruchtet und befeuert haben: An der Entstehung der Texte war recht bald ein Bewusstsein für andere als orientierend und leitend angesehene Texte beteiligt, auf die sich die Verfasser bezogen haben (wie das für Literatur auch heute noch gilt, die niemals vollkommen originell bei einem »Punkt Null« anfängt). Der Horizont der werdenden biblischen Literatursammlung weitete sich, je mehr die Texte anwuchsen und auf eine gemeinsame Lektüre hin angelegt waren. Es war dann vermutlich jene zunehmende wechselseitige Textbewusstheit, welche die werdende jüdische Bibel – neben eher zufälligen Faktoren – durch Verweise und Verstärkung zu einem »vernetzten« Ganzen werden ließ. Man hat hier von einem »kreativen Kanon« gesprochen, der Schriftwerdung und Schriftauslegung in sich vereinigt. Der Versuch, Kriterien aufzudecken, die für diesen literarischen Prozess maßgeblich waren, stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für eine heutige »Theologie des Alten Testaments« dar. Nebenbemerkung: Eine relativierende Bemerkung ist hier noch zu machen: Es fällt auf, dass »Theologien des Alten Testaments« fast ausschließlich aus christlicher, vor allem aus protestantischer Sicht verfasst wurden. Jüdische Stimmen haben das zu Recht vermerkt und ein vergleichbares Unternehmen für das Judentum weder als aussichtsreich noch als notwendig angesehen. Sie verweisen darauf, dass hinter dem Willen zur Systematisierung der biblischen Inhalte oft unausgesprochen ein späteres normatives christliches Kanonprinzip steht, für das es in der jüdischen Tradition so keine Entsprechung gibt. Auch lehrt die aus den Textfunden vom Toten Meer ersichtliche tatsächliche Vielfalt an Texten der frühjüdischen Zeit (ca. 200 von 800 Manuskripten enthalten »biblische« Schriften), dass man mit den Bezeichnungen »Bibel« und »Kanon« im Blick auf die Antike vorsichtig verfahren muss. In jedem Fall sollte sich eine Zusammenschau frühjüdischer Leitgedanken und Gottesvorstellungen der Gefahr der Eintragung christlich-dogmatischer Prinzipien bewusst sein.

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

c)

481

Die Aufgabe einer »Theologie des Alten Testaments«

Die Aufgabe einer »Theologie des Alten Testaments« muss also im Ganzen aus einer möglichst geklärten Gegenwartsperspektive erfolgen. Zugleich arbeitet sie in den alttestamentlichen Texten solche übergreifenden Elemente und Querverbindungen heraus, die es rechtfertigen, von im werdenden Kanon selbst liegenden Tendenzen eines theologischen Zusammendenkens zu sprechen. Für beides wird man den Versuch unternehmen, thematische »Zentren« und »Knotenpunkte« zwischen den großen Literaturwerken und Traditionen aufzudecken. Ein wesentlicher solcher Bezugspunkt ist die sogenannte »Gnadenformel« in Ex 34,6f., die in vielen Texten der Hebräischen Bibel aufgenommen und als feste Ausgangsbasis weitergedacht wurde (s. u. 2.b–c). Auffällig ist die gleichmäßige Verteilung von Anspielungen auf die und Reformulierungen der Gnadenformel über die drei späteren Kanonteile (Tora, Nebiim, Ketubim) hinweg. Die »Gnadenformel« ist eine auf den Begriff gebrachte Einsicht in die Asymmetrie des Gotteshandelns zwischen Zorn (als Ausdruck von Jhwhs Gerechtigkeit) und Liebe (als Ausdruck der Barmherzigkeit des Schöpfers, s. u. 2). Ab der Verarbeitung der großen geschichtlichen Katastrophen der beiden Untergänge Israels und Judas 720 und 586 v. Chr. hat sich immer stärker die Einsicht in die grundlegende Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen durchgesetzt, die in den bestimmenden Theologien der nachexilischen Zeit (6.–2. Jh. v. Chr.) damit rechnet, dass sich zwar der menschliche Hang zur Verfehlung nicht ändert, aber Jhwhs Umgang damit (vom Gericht zum Heil). Mit diesen anhand der sog. Gnadenformel benannten explizit theologischen Einsichten der späteren Texte der Hebräischen Bibel gehen zugleich sachliche und gedankliche Spannungen einher: 1) Inhaltliche Spannungen als »Motor« des innerbiblischen Nachdenkens über Gottes Handeln Auf der einen Seite handelt es sich um inhaltliche Spannungen der Texte, die vor allem mit der Vorstellung des monotheistischen Schöpfergottes zusammenhängen, welche die späten Redaktionsebenen der Hebräischen Bibel prägt (z. B. die Gegensätze von Liebe/Barmherzigkeit – Zorn/Gerechtigkeit Gottes, von Israels Erwählung und der Völkerwelt, oder auch die interne Spannung zwischen den Gerechten und den Frevlern, die das Gottesvolk gefährden). Solche Spannungen bezeichnen theologische Probleme, die in den Schriften klar hervortreten, aber nicht abschließend gelöst werden, sondern bleibend über sie hinausweisen (auch die frühchristlichen Autoren bearbeiteten in ihrer christologischen Perspektive dieselben Spannungen lediglich unter anderem Vorzeichen weiter, s. u. 2.d; 3). Für die späten Textschichten der Hebräischen Bibel handelt es sich um am Ende nur durch Gott selbst aufhebbare Probleme, darunter auch die Spannungen von Einheit und Vielfalt, von Vorläufigem und Endgültigem oder auch von Ursprung und Vollendung (s. u. 3.b 5). Außerdem zeigt sich im Werden der Hebräischen Bibel ein zunehmendes Bewusstsein für die Unangemessenheit menschlicher Rede von Gott angesichts wachsender Einsichten in seine Unerforschlichkeit (z. B. in Hiob und Koh, s. auch Röm 11). Die Manifestationen Gottes (»Offenbarung«), von denen biblische Texte scheinbar naiv und unverstellt sprechen, sind für die wissenschaftliche Analyse symbolischer

482

6. Kapitel: Gottesglaube

Ausdruck immer schon gedeuteter Erfahrungen, zumeist in narrativen Formen. In wenigen literarisch späten alttestamentlichen Texten (z. B. Gen 22, Ex 33,18–23, Ps 139, Hiob 38–41) artikuliert sich ausdrücklich ein entsprechendes Grenzbewusstsein. In ihnen wird neben der Nähe Gottes dessen bleibende Entzogenheit bedacht – in der Zeit und angesichts prinzipieller Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Deutung. Das Alte Testament ist ein Buch der (sprachlichen) Bilder und anschaulichen Erzählformen und deshalb einer nicht beliebigen Mehrdeutigkeit. Reflexion vollzieht sich in vielen seiner Texte vor allem in Metaphern. Ein wichtiger moderner Zugang zur Bibel ist deshalb derjenige der Ästhetik. 2) Neuzeitliche Einsichten in die Differenz zwischen Geschichte und Offenbarung als hermeneutische Herausforderung Auf der anderen Seite sind Spannungen zu bearbeiten, die vor allem mit der neuzeitlichen historischen Kritik und dem durch sie gewonnenen Bild der Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel einhergehen (z. B. die Gegensätze zwischen historischer Realität, die immer nur näherungsweise erfasst werden kann, und fiktionaler »geglaubter Geschichte« als derjenigen Form identitätsstiftender Erzählungen, welche die Hebräische Bibel prägen, vgl. in diesem Band § 3). Eine spezifische Weise, diese Spannung zu benennen, kreist um den Gegensatz von Mythos und Geschichte. Gerade ihn gilt es angesichts der langen Tradition der Mythoskritik und moderner Entmythologisierung für das Verstehen neu fruchtbar zu machen: Auch die christliche Religion formt ja ihre Identität mit Bezug auf gründende Ereignisse einer »Urzeit« (die Geschichte Jesu von Nazareth als des Offenbarwerdens des Christus durch Kreuz und Auferstehung hindurch). Nur in der Einstimmung in die narrativen Zeugnisse (Evangelien, Bekenntnisse) wird diese Identität immer wieder begründet und bestärkt (s. u. 3). Ganz analog verhält es sich mit den im Tanakh überlieferten »Gründungsmythen« des frühen Judentums, der Rettungstat vom Schilfmeer, der Kundgabe Gottes am Sinai in Epiphanie und Tora, der Erwählung der Erzeltern und Davids. Es gilt dann – für manche ganz auf die Erfahrung des religiösen Subjekts konzentrierte protestantische Traditionen problematisch – die Vorgegebenheit und Interpretationsaufgabe des Mythos anzunehmen (als nicht hintergehbare Erzählung, welche die eigene Identität immer schon formt). Das meint freilich keine kritiklos naive Übernahme abständiger und irrationaler Inhalte, sondern das gerade auch historisch- wie ideologiekritisch gewonnene Bewusstsein des eigenen Ortes »vor dem Text« – ein Bewusstsein, das Fremdheitserfahrungen einschließt. Am Ende kann eine Aneignung zweiter Ordnung (z. B. im Sinne einer »zweiten Naivität« [Paul Ricœur]) stehen, welche die Fülle der Symbole der biblischen Tradition wahrnimmt und – zumindest ästhetisch, zuletzt aber existentiell – bejaht, ohne die Fähigkeit zur Distanz und Kritik zu verlieren: Eine zeitgemäße, die Bruchlinien der Moderne und Nachmoderne integrierende Zustimmung zur unendlichen Aufgabe des Verstehens (wissenschaftlich und religiös). Vorausgesetzt ist dabei das seit dem 18. Jh. erfolgte Auseinandertreten eines kritischen historischen Bewusstseins für die Ferne und Fremdheit der Bibel und einer sich relativ unvermittelt auf biblische Inhalte beziehenden Religionspraxis.

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

483

Im Blick darauf hat eine »Theologie des Alten Testaments« auch den Kulturwandel des Christentums bis in die Gegenwart zu bedenken. Dabei muss gerade im Blick auf die Inhalte des Alten Testaments auch von seiner langzeitigen Wirkung in der europäischen Kulturgeschichte die Rede sein. Dieser Einfluss lässt sich oft jenseits von religiösen Institutionen bis hinein in die Rechtsbegründung (Menschenwürde, Dekalog) oder auch die Popkultur aufzeigen (vgl. stellvertretend den Film »Noah« von Darren Aronovsky). Auch in diesem weiteren Kontext stellt sich der »Theologie des Alten Testaments« nicht zuletzt die Frage, wie die Distanz zur Bibel (bei teils überraschender, aber oft nicht realisierter Nähe zu ihr) gegebenenfalls produktiv überbrückt werden kann. Es geht dann um die bewusst interpretierende »Arbeit am Mythos« als eine Weise individueller und kultureller Aneignung. Sie kann sich allein durch differenzierende Bildung einstellen, das einzig probate Mittel gegen gängige Vorurteile (etwa das AT als Buch eines »Willkür- und Rachegottes«). d)

Die Bedeutung der Form einer »Theologie des Alten Testaments«

Schließlich muss es bei einer »Theologie des Alten Testaments« auch um Spannungen in der gewählten Form der Darstellung gehen. Vergleicht man verschiedene Entwürfe von »Theologien des AT« miteinander, stellt man schnell fest, wie stark sich hier die Subjektivität der Verfasserinnen und Verfasser bemerkbar macht, ja, machen muss: Von allen Büchern, die Alttestamentlerinnen und Alttestamentler schreiben, sind »Theologien des Alten Testaments« offensichtlich das nächste Pendant zu systematisch-theologischen Entwürfen. Mit ihnen haben sie den Willen zur Durchdringung eines umfassenden Gegenstandsfelds sowie zur wissenschaftlichen Verständigung angesichts übergreifender theologischer Ziele gemeinsam. Für eine »Theologie des Alten Testaments« wurden/werden v. a. folgende Grundoptionen realisiert: 1) Orientierung an »klassischen« Aufrissen christlicher Dogmatiken Oft findet sich in älteren Entwürfen eine an einer dogmatischen Perspektive (der christlichen Tradition) orientierte Gliederung. Sie folgt – ähnlich wie die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse – einer Erzählung von der Schöpfung bis zur Eschatologie (auch der Anordnung der den Gottesvorstellungen gewidmeten Paragraphen des vorliegenden Buches liegt implizit dieses Schema zugrunde). Oder sie setzt im Sinne klassisch-dogmatischer Ordnungsprinzipien mit der Gotteslehre ein und geht anschließend von der Anthropologie zur Soteriologie über. Mit einer solchen Wahl verbinden sich – oft unausgesprochene – Geltungsansprüche. Sie enthält normative Vorgaben und erwartet möglicherweise von den Texten etwas, wofür diese gar nicht gedacht waren. Normativität stellte sich zumeist erst im Verlauf der Genese der Texte und ihrer Auslegung durch fortgesetzten konkreten Gebrauch ein (s. u. 3.c). 2) Orientierung an der Rekonstruktion der Literatur- und Theologiegeschichte des AT Eine dem entgegengesetzte Option, die möglichst dem historischen Eigenwert der biblischen Schriften gerecht zu werden sucht, ohne diese für moderne Ansprüche zu

484

6. Kapitel: Gottesglaube

vereinnahmen, bildet die bewusst deskriptive Darstellung. Sie stellt sich die Aufgabe, unter Wahrung des historischen Abstands die inhaltliche Vielfalt der biblischen Literaturwerke unter den Bedingungen ihrer Entstehung und frühen Rezeption zu beschreiben und zu erklären. In beiden Fällen ist es nötig, möglichst genau die eigenen Voraussetzungen und Absichten zu reflektieren und in die Arbeit an der Darstellung einfließen zu lassen. Das gilt z. B. auch für die Frage, ob eine »Theologie des Alten Testaments« eher nacherzählend (den biblischen Text paraphrasierend) oder systematisch rekonstruierend und damit selektiv durchgeführt wird (auch die narrative Form kommt nicht ohne eine Auswahl an Texten aus, wie das z. B. der berühmte Entwurf Gerhard von Rads zeigt, bei dem die Weisheitstraditionen und die Schöpfungstheologie fast ganz fehlen, ein Mangel, den er bewusst in seiner späteren Monographie »Weisheit in Israel« behoben hat). Nebenbemerkung: Zum Verhältnis von Religionsgeschichte des antiken Israel und »Theologie des Alten Testaments« In jedem Fall wird eine heutige »Theologie des Alten Testaments« nicht umhinkönnen, auch Erkenntnisse der Religionsgeschichte des alten Israel und Juda sowie des frühen Judentums (auch auf Grundlage nichtbiblischer archäologischer und textlicher Quellen) mit einzubeziehen. »Theologie des Alten Testaments« und Religionsgeschichte Israels zeigen Überschneidungen und Unterschiede im Zugriff auf dieselben Quellen (die biblischen Texte) und berühren sich eventuell auch in der Darstellungsform, sofern diese historisch nacherzählend erfolgt. Ohne einander bleiben beide Perspektiven – jedenfalls für den Fächerverbund der Theologie – kaum aussagekräftig. Gerade ihr spannungsvoller Dialog bietet die Chance einer Schärfung der hermeneutischen Grundprobleme, denen sich die Theologie als Wissenschaft immer dann zu stellen hat, wenn es um das Problem von Geschichte und Offenbarung geht.

3) Orientierung am überlieferten »Endtext« (kanonische Perspektive) Eine ebenfalls gegenwärtig gewählte Option ist ein kanonischer Zugang. Man ist aber vermutlich gut beraten, sich für eine »Theologie des Alten Testaments« nicht allein synchron an einem überlieferten »Endtext« zu orientieren, den es im Licht der Qumranbefunde und späterer Manuskripte niemals einheitlich gegeben hat (die vielfältig variierenden Kanonformen sind stets mit konkreten Interpretationsgemeinschaften verbunden, ohne deren Berücksichtigung man den Sinn des »Kanonischen«, nämlich den unaufhebbaren Bezug der je gültigen Schriften auf die Praxis des Schriftgebrauchs, verfehlt). Die Perspektive des »canonical approach« hat mit Blick auf die Vorgabe der zweiteiligen christlichen Bibel unleugbare Vorteile. Aber erst der Blick in die historische Tiefe der Entstehung von Texten ermöglicht die Nachzeichnung der Entwicklung theologischer Einsichten und ihrer Artikulation in der Hebräischen Bibel wie im christlichen Alten Testament. Nur ein mindestens auch historischer Zugriff wird der zeitlich gestaffelten Fülle der Textschichten und den mit ihnen verbundenen Neuinterpretationen (»Fortschreibung«) bis hinein in die Auslegungsgeschichte am ehesten gerecht. Deren ureigener innerer Antrieb und ihr großes übergreifendes Thema ist ja gerade das sich über Jahrhunderte erstreckende Handeln Jhwhs an seinem Volk, der Gruppe wie dem Einzelnen, und auch – zunehmend – das gründende und vollendende Handeln des Gottes Israels an und in der Gesamtwirklichkeit (vgl. zur Spannung von Weltschöpfung und Neuschöpfung Gen 1 und Jes 65–66).

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

e)

485

Die Frage nach einer »Mitte« des Alten Testaments: Die Beziehungsgeschichte Jhwhs mit Israel und der Welt

Die viel diskutierte Frage, ob es im Alten Testament eine »Mitte«, ein organisierendes Prinzip von Einheit in der Vielfalt, gibt, ist dann, wenn überhaupt, nicht in einem spezifischen Theologumenon wie dem »Bund« zu suchen. M. E. kommt dafür nur die Entwicklung der biblischen Rede von Jhwh als einer dynamischen, sich ständig in Beziehung setzenden wirklichkeitsbestimmenden Macht in Frage. Für sie steht im Zentrum der »Theologie des Alten Testaments« stellvertretend der Name Gottes, das Tetragramm, als ein herausragendes sprachliches Zeichen für die Einzig(artig)keit seiner »Person« (mit Ausnahme der Bücher Ester, Koh und Hld [Ausnahme: Hld 8,6] ist Jhwh in allen Texten des Tanakh als direkter und oft entscheidender Akteur benannt). Indem die Hebräische Bibel Gott elementar als Handelnden imaginiert und durchgehend auf entsprechend gedeutete Erfahrungen/Ereignisse verweist, setzt sie Geschichte als sachliche Bezugsgröße immer schon voraus: Es geht um das ganze Feld der mit der Geschichte verbundenen Erfahrungen, die sich in kulturellen Erinnerungen und Erwartungen artikulieren und dabei vor allem die Grundform einer identitätsstiftenden Erzählung annehmen. Auch die Sprache des Bekennens und Preisens angesichts von Rettungserfahrungen, von Schuldanerkenntnis und Bitte um Vergebung, folgt diesem Muster, wie es vor allem die wechselseitige Erhellung von Geschichtserzählungen und Gebeten zeigt. So reflektieren Psalmen, v. a. die sogenannten »Geschichtspsalmen« (Ps 78; 105–106 u. a.), die fundierenden Erzählungen von Schilfmeer, Wüstenwanderung, Sinai und David. Ebenso finden sich in den großen Erzählzusammenhängen von Pentateuch und Propheten an entscheidenden Stellen (Ex 15; Ri 5; 2Sam 22 u. a.) deutende und die Narration auf Grundsätzliches hin überschreitende poetische Texte in Gebetsform (»Psalmen außerhalb des Psalters«). Trotz dieser hohen Bedeutung von geformter und geglaubter Geschichte verfügt die hebräische Sprache der Bibel über kein eigenes Wort für unser modernes Abstraktum »der« Geschichte. Dem spezifischen Geschichtsbezug der Hebräischen Bibel, der immer von den wechselseitigen Beziehungen zwischen Jhwh und Israel bzw. der Gesamtwelt her gedacht ist, gilt es in einer »Theologie des Alten Testaments« gerecht zu werden. Seine Grundlage ist die Vorstellung eines (einzigen) Rettergottes und Schöpfers, durch dessen Handeln die Wirklichkeit konstituiert und durchdrungen ist. Das soll nun im zweiten Teil dieses Paragraphen beispielhaft demonstriert werden: Zunächst anhand der Eigenart der gründenden Großerzählungen, welche die Identität Israels im Blick auf seine »Ursprünge« formen und erneuern; zugleich auch anhand der sich steigernden Einsichten in die offene, aber nicht beliebige Zukunft Jhwhs mit seinem Volk, der Menschheit und der Welt, wie sie sich u. a. gerade im Blick auf die Gründungsmythen herausgebildet hat. Mit beidem nimmt der Beitrag indirekt auch auf Hermann Gunkel Bezug, der 1895 programmatisch das Anliegen der sog. religionsgeschichtlichen Schule anhand des Spannungsbogens von Gen 1 zur Johannesapokalypse entfaltet hat (»Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit«).

486

2.

6. Kapitel: Gottesglaube

Die Barmherzigkeit des Schöpfergottes als grundlegende Sinnlinie der Hebräischen Bibel und einer »Theologie des Alten Testaments«

Einige grundsätzliche Beobachtungen an den überlieferten großen Textkompositionen des späteren masoretischen Kanons (die LXX klammere ich hier aus) können belegen, dass die prägenden Redaktionsebenen der nachexilischen Zeit (6.–2. Jh. v. Chr.) wie oben erwähnt übergreifende theologische Tendenzen zeigen, welche die einzelnen Literaturwerke übersteigen. Als wesentliches Beispiel nenne ich das monotheistisch entfaltete Verhältnis von Schöpfungstheologie und Anthropologie und mit ihm die Frage nach Schuld und ihrer Überwindung. a)

Schöpfungstheologischer Monotheismus als theologischer Rahmen des Pentateuchs

Unbeschadet dessen, dass in der Debatte um die Entstehung des Pentateuch unklar ist, ab wann die Tora als eigenständige Größe mit höchster Autorität anzusprechen ist (sicher belegt ab 300 v. Chr.), zeigen die fünf Bücher doch Anzeichen einer relativen Geschlossenheit, die vor allem an ihren Rändern sichtbar wird. Man kann als eine Art Faustregel formulieren, dass Textkomplexe der Hebräischen Bibel häufig von innen nach außen gewachsen sind, wobei älteres Material einen Nukleus bildete, um den herum sich – wie bei Zwiebelschalen – spätere Texte anlagerten, die zugleich die älteren Texte kannten: So beginnt die Genesis mit dem universalen Vorbau der Urgeschichte Gen 1–11. Diese enthält durchaus ältere Erzählelemente, ihre überlieferte Gestalt aber verdankt sie der nachexilischen Zeit: Den priesterlichen Kompositionsschichten der Tora, deren Sicht auf die Welt- und Menschenschöpfung und die Sintflut den Anfang der Bibel prägt. Theologisch bezeugen jene ab der frühen Perserzeit entstandenen Texte einen schöpfungstheologisch begründeten Monotheismus, der die Bibel von vornherein als ein Buch mit größtmöglichem Horizont ausweist. Für die ansonsten überwiegend auf das Volk Israel und dessen Gründungsgeschichte bezogene Tora wird durch die Urgeschichte ein Vorbau geschaffen, der – anders als in vergleichbaren mythischen Geschichtskonstruktionen des Alten Orients – die große Bühne bereitstellt, auf der sich dann die Entstehung Israels und seiner Lebensordnungen abspielt (von Gen 12 an mit den Erzeltern und in Ex-Num mit Exodus, Sinai und Wüstenwanderung). Im Licht der Urgeschichte wird grundlegend deutlich, dass der sich an Israel bindende und es dadurch allererst konstituierende Gott Jhwh immer auch die Gesamtwelt im Blick hat, auf die er sich als einziger Schöpfer bleibend bezieht (das machen z. B. die ägyptischen Plagen und die Wüstenerzählungen deutlich, in denen Jhwh als Herr des Wetters und als Nahrungsspender sowie als Retter vor Feinden nicht nur im Sinne einer politischen Theologie gezeichnet wird, sondern vor allem auch als der eine geschichtsmächtige Schöpfergott). Ein Pendant zu dieser theologischen Funktion der Urgeschichte im Buch Genesis findet sich im 5. Buch der Tora, dem Deuteronomium: Dtn 4, der Schlusstext des einleitenden Buchrahmens, enthält einen spätperserzeitlich entstandenen ausführ-

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

487

lichen Kommentar zum Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,4/Dtn 5,8). In ihm werden eindeutig die priesterlichen Schöpfungstexte der Urgeschichte (wie auch die des sog. Deuterojesaja) vorausgesetzt und auf sie angespielt. Dtn 4 fungiert dabei – in der Großerzählung der Tora – wie die Urgeschichte als Erinnerung an die weltumspannende Macht des eigenen Gottes über die gesamte Völkerwelt. Israel hat darin zwar eine Sonderstellung, doch bleibt es sich der weltumfassenden Reichweite des Gotteshandelns bewusst (Dtn 4,32–36, vgl. V. 32–33): »Untersuche doch im Blick auf die früheren Tage ..., von dem Tag an, als Gott den Menschen auf der Erde geschaffen hat [Terminologie aus Gen 1,26–28], von einem Ende des Himmels bis zum anderen, ob ... je ein Volk die Stimme Gottes aus dem Feuer reden hörte, wie du sie gehört hast, und am Leben blieb [Bezug auf die Theophanien am Dornbusch und Sinai Ex 3; 19–20; 33–34; Dtn 5; 9–10]«.

b)

Die Barmherzigkeit des Schöpfergottes in der Sintfluterzählung als Entsprechung zur Reue Jhwhs in der Sinaiperikope

Zu den grundlegenden theologischen Einsichten der nachexilischen Zeit gehört die in der oben erwähnten sogenannten Gnadenformel aus Ex 34,6f. auf den Begriff gebrachte Einsicht in die umfassende Barmherzigkeit Jhwhs (s. u. 2.b 3). Dass der Pentateuch/die Tora und mit ihr der ganze spätere Tanakh insofern zuletzt ein »Buch der Gnade« des barmherzigen Schöpfers ist, zeigt sich wiederum sogleich am Anfang in der Urgeschichte. Es ist lange Zeit verkannt worden, welch grundlegende (im Sinn des Mythos: von vornherein sinnstiftende) theologische Bedeutung die biblische Sintfluterzählung in ihrer priesterlich/nachpriesterlichen Endform hat. Wie in den altorientalischen Vorbildern aus Mesopotamien (Atramchasis, Gilgamesch Tf. XI) liegt der Hauptton von Gen 6–9 auf dem Ende nach der Urkatastrophe als neuem Anfang: Signifikant anders als in den Traditionsvorbildern und theologisch tiefgründig wird hier eine dauerhafte Änderung in der Haltung des einen Schöpfers zu seinen Geschöpfen und zur Welt betont. Niemals wieder soll die menschliche Gewalt dadurch eingedämmt werden, dass Gott die kosmische Ordnung außer Kraft setzt, um danach neu zu beginnen (mit der in dem einen Gerechten, Noah, bewahrten Keimzelle des Lebens). Die den Lesenden der Bibel gleich am Anfang begegnende Charakterisierung des barmherzigen Schöpfers, der den als schuldig erkannten Menschen aus Gnade leben lässt, beruht auf der kühnen Übertragung einer zuvor in der Geschichte Israels mühsam gewonnenen Einsicht auf alle Menschen: 1) Geschichtsdeutung der Gerichtsprophetie als Traditionshintergrund Die Blaupause dafür stellen zum einen die schriftprophetischen Texte aus vorexilischer Zeit dar, die einen unausweichlich in den Untergang führenden Zuwachs an kollektiver Schuld wahrgenommen haben (vgl. die Anfänge des Zwölfprophetenbuchs in Hosea und Amos [8. Jh. v. Chr.] sowie des Jesaja- [8.–7. Jh. v. Chr.] und Jeremiabuchs [7.–6. Jh. v. Chr.]). Die gewissermaßen zur zweiten Haut gewordene Neigung von Herrschenden und Volk zum Tun des Bösen (vgl. Jer 13,23) führte aus Sicht der Propheten und ihrer Tradenten zum Ende der Staaten Israel und Juda. Dass diese traumatischen Ereignisse (720 und 586 v. Chr.) in hohem Maße literatur- und identi-

488

6. Kapitel: Gottesglaube

tätsbildend waren, gehört zu den Grundeinsichten der Forschung. Die theologische Bewältigung des Geschehens wurde zunächst in den Kategorien des Rechts als Vertragsbruch (»Bundesbruch«) der gegenüber Jhwh übernommenen Verpflichtungen verstanden. Es gab zuvor eine lange vorexilische Traditionslinie gerichtsprophetischer Unheilsansagen, die sich im Untergang Israels und dann noch umfassender in demjenigen Judas bestätigten. Diese schriftprophetische theozentrische Deutung der Geschichte im Muster einer Zu- und Abwendung Jhwhs aufgrund des Verhaltens Israels und seiner Könige etablierte sich nach dem Untergang Jerusalems als entscheidendes Deutemodell: Sowohl in den noch spätvorexilisch anzusetzenden Anfängen des Dtn wie in den darauf sich beziehenden sog. dtr. Geschichtstexten der exilisch-nachexilischen Zeit (s. in diesem Band § 9) nahm man diese Perspektive ein, die eine rational nachvollziehbare Erklärung für den Untergang bot. Gegen Ende des Exils trat dem eine zweite, noch fundamentalere Einsicht zur Seite, die den Blick in die Zukunft eröffnete: Die schöpfungstheologisch begründete dauerhafte Zuwendung Jhwhs. Am eindrücklichsten manifestierte sie sich zuerst im zweiten Teil des Jesajabuches, dem sog. Deuterojesaja (Jes 40–55), der nach der Strafe des Exils die Rückkehr Jhwhs und seines Volkes nach Jerusalem ankündigte (Jes 40,1–11). Die Glaubwürdigkeit dieser Heilsbotschaft wurde – angesichts der offensichtlichen Apathie der Adressaten (vgl. Jes 40,27) – mit der Schöpfermacht des Gottes Israels als des allein handlungsfähigen Gottes begründet: »Weißt du es nicht und hast du es nicht gehört? Ein Gott fernster Zeit ist Jhwh, der die Enden der Erde geschaffen hat!« (Jes 40,28, vgl. 40,21: »Habt ihr es nicht begriffen von der Gründung der Erde her?«). 2) Die Parallelen zwischen Gen 6–9 und Ex 32–34 Auch die Sinaiperikope des Pentateuch (Ex 19–24; 32–34) zeigt in ihren Wachstumsphasen die Rezeption der prophetentheologischen Einsicht, dass der Gott Israels der für das Weiterleben seines abtrünnigen Volkes zur Umkehr bereite Herr der Welt ist: Analog zu Noah in der Sintflutgeschichte hängt in der Sinaierzählung, deren ältester Bestand Gen 1–9 (P) noch vorausgeht, das Überleben Israels am seidenen Faden eines Einzelnen: Mose. Die »Ursünde« Israels, die Gottes Gericht heraufbeschworen hat, ist in Ex 32 nicht wie später in Gen 6 eine Korruption des gesamten Lebenszusammenhangs, sondern die Herstellung des goldenen Stierbildes (Bezug auf den Staat Israel und seinen Untergang 720 v. Chr.: Hos 8,5f.; 10,5f.; vgl. 1Kön 12). Im überlieferten Kontext erscheint dies als Bruch des Bilderverbots (Ex 20,4). Es ist beachtlich, dass schon die aus dem späten 7. Jh. v. Chr. stammende Grundschicht der Erzählung vom »goldenen Kalb« auch eine anthropologische Erklärung für den Abfall bietet: Er ereignet sich aufgrund des menschlichen (nicht nur Israel eigenen) Bilderbegehrens, das deshalb als ambivalent wahrgenommen wird, weil es die Gottheit im Bild greifbar »fixieren« möchte, auch um die Erreichbarkeit Jhwhs sicherzustellen. Geschildert wird eine kollektive, von Gott nicht angeordnete Kultgründung um das Stierbild. Ex 32 begründet das näher durch die lange Verborgenheit Gottes und Moses auf dem Berg und die Unsicherheit, ob und wie es mit der versprochenen Hineinführung in das Land weitergehen kann. Mit der spät-dtr. Fortschreibung Ex 32,7–14 wird dem älteren Text eine explizit theologische Leseanleitung eingefügt: Jhwh kann demnach nicht an Mose vorbei das Gericht an seinem Volk

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

489

vollziehen. Der Einspruch Moses zugunsten Israels bewirkt die Abkehr Jhwhs von seinem Zorn. So wird die in den nächsten Kapiteln Ex 33–34 langsam erfolgende Überwindung des Abstands zwischen Jhwh und dem schuldigen Volk ermöglicht. Sie gipfelt in einem erneuten Bundesschluss und der Einrichtung einer institutionalisierten Kommunikation mit Gott, bei der Mose als alleiniger Mittler agiert (Ex 34, bes. V. 29–35). 3) Resümee Es geht beim zuvor Geschilderten um eine theologisch signifikante Entsprechung zwischen Sintflut und Sinai und damit um einen wichtigen »Querbalken« in der erzählerischen Architektur der Tora: Das Überleben der korrumpierten Schöpfung (Gen 6–9) und des bundesbrüchigen Israel (Ex 32–34; Dtn 9–10) hängt jeweils an einer einzelnen Gestalt, Noah bzw. Mose, die – trotz der Schuldbeladenheit aller anderen – eine positive Möglichkeit des Menschen »vor Gott« verkörpert. Noah erscheint so als ein urzeitliches Vorbild Moses. Theologiegeschichtlich verhält es sich aber genau umgekehrt: Aus Jhwhs Barmherzigkeit gegenüber Israel trotz dessen Schuld erwächst die tiefe Einsicht in die allgemeine Dimension dieses Geschehens. Explizite Theologie und reflektierte Anthropologie werden engstens aufeinander bezogen. Der in der sog. Gnadenformel Ex 34,6f. ausgedrückten Barmherzigkeit Jhwhs, die jetzt vollends als diejenige des Schöpfers erkannt wird, entspricht die Einsicht in die prinzipielle Fehlbarkeit des Menschen. Auf sie reagiert Jhwh mit Akten der Langmut, Nachsicht, Reue und unermüdlichen Zuwendung, freilich nicht ohne zugleich menschliche Übertretungen wahrzunehmen und zu bestrafen – wenn auch nicht mehr bis hin zur Totalvernichtung. Die Deutung der geschichtlichen Katastrophen hat Israel dazu geführt, Gott in einer asymmetrischen Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit wahrzunehmen. Ein spätperserzeitlicher Text im sog. Deuterojesaja, Jes 54,7–10, führt den israelitisch umgeformten Sintflutmythos und die israelitische Geschichtstheologie zusammen. Hier wird die Abwendung Jhwhs in seinem gerechten Zorn, d. h. der Untergang Jerusalems und das Exil, als in der Sicht Gottes nur »kurze Unterbrechung« seiner Zuwendung bezeichnet – ausdrücklich in Parallele zu den urzeitlichen »Tagen Noahs«. Der entscheidende Punkt ist dabei das, was der Hebräerbrief später als »(eph’) hapax« »ein für alle Mal« bezeichnet: Jhwh, der »Löser« (Jes 54,8: gō’ēl, zum Begriff s. u. 2.c 2) hat ureinst nach der großen Flut seinen Gerichtszorn für immer eingedämmt. Das wiederholt sich, so Jes 54, nach der Zerstörung Jerusalems: Beides wird so nicht mehr geschehen, die unverbrüchliche Gnade Gottes in seinem Weltverhältnis bleibt beide Male fortan garantiert (Jes 54,9f.): »Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde kommen, so habe ich jetzt geschworen, dir nicht mehr zu zürnen. Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und mein Bund des Friedens wird nicht wanken, spricht der Herr, dein Erbarmer!«

Mit dem Titel »dein Erbarmer« (meraḥamēk vom Verb rḥm Pi. »sich erbarmen«) wird eine nachexilisch schöpfungstheologisch besonders profilierte Begrifflichkeit aufgenommen. Das Nomen ræḥæm aus derselben Wortfamilie bezeichnet auch den

490

6. Kapitel: Gottesglaube

Mutterschoß. Es verweist insofern für die nachexilisch im Blick auf den Schöpfergott zugespitzte Sprache des Erbarmens auf die Einsicht in die Bedeutung der Elternschaft Gottes seinen Geschöpfen gegenüber. Das Adjektiv »barmherzig« findet sich auch in der oben erwähnten – vermutlich ältesten – Belegstelle für die Gnadenformel Ex 34,6f.: »Jhwh, Jhwh, erbarmender (rāḥūm) und gnädiger (ḥānnūn) Gott, langmütig und reich an Gnade und Treue, der bewahrt Gnade (ḥæsæd) für Tausende, der vergibt Sünde und Frevel und Verfehlung, aber nicht ungestraft lässt, sondern heimsucht Sünde(n) von Vätern an Söhnen und an Söhnen von Söhnen, an der dritten und vierten Generation!«

Die in der Gnadenformel begrifflich gefasste Theologie der größeren Barmherzigkeit Jhwhs prägt sowohl in direkter Bezugnahme wie in terminologisch variierender Form viele nachexilische Fortschreibungen nicht nur im Dekalog, sondern vor allem in Prophetenbüchern und Psalmen. Dass man darin die mit rḥm bezeichneten Akte Gottes präzise schöpfungstheologisch (als Ausdruck der tiefen Bindung von Elternschaft) verstanden hat, zeigt z. B. Ps 103 (s. u. 2.c 2; zur frühchristlichen Rezeption 3.b 1). Das explizierende Weiterdenken der Gnadenformel verweist auf einen intensiven Diskurs über die gründenden Texte der Tora und der Geschichtserzählungen Jos–2Kön. Es seien hierzu das Jeremia- und Ezechielbuch sowie einige Reflexionstexte des Psalters herausgegriffen. c)

Reflexe der Barmherzigkeit Jhwhs in später Prophetie und im Psalter

1) Jeremia- und Ezechielbuch Zunächst soll an das »Töpfergleichnis« und seine dtr. Interpretationen in Jer 18 erinnert werden: Wie der Töpfer bei der Verfertigung seiner Gefäße die Macht hat, Missratenes wieder zu zerstören, um es dann neu zu formen, so ist auch Israel im Weltgeschehen in der Hand des Schöpfergottes, der als einzige bestimmende Macht die Geschichte zu Gunsten oder Ungunsten der Völker und Israels lenkt (Jer 18,7–10). Diese Erkenntnis, die ausdrücklich wieder das Moment der Reue Gottes (vgl. oben zu Ex 32,14) einschließt, wird wie in der spät-dtr. Fürbitteszene des Mose in Ex 32,7–14 in den universalen Horizont der Völkerwelt gestellt: Die Einzigartigkeit Israels besteht nach Jer 18,11f. in der vorgängigen Mitteilung des Gerichts an sein Volk und der ihm dadurch eröffneten Möglichkeit zur Umkehr, die jedoch – so die folgende Fortschreibung V. 13–16 – verspielt wurde, so dass die Abwendung Jhwhs im Zorn die Zukunft bestimmt (V. 17). Hier muss beachtet werden, dass ein solcher Text die bereits eingetretene Zerstörung Jerusalems nachträglich bedenkt, seine Erzählperspektive aber zeitlich vor der Katastrophe angesiedelt ist. Mit solchen Erwägungen gehen im Jeremiabuch nüchterne Einsichten in die Ambivalenz des Menschen und seinen ständigen Hang zum Bösen einher, die in der Urgeschichte wie auch im Psalter Entsprechungen haben. Der leitenden nachexilischen Einsicht in die monotheistische Schöpfungstheologie entspricht also eine tief realistische theologische Anthropologie, im Blick nicht allein auf Israel, sondern damit auf den Menschen »vor Gott«. Ein wichtiger Lösungsweg aus dem Dilemma, dass der Mensch sich aus eigener Kraft nicht dauerhaft zum Guten zu verändern vermag,

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

491

liegt für das Jeremia- wie das Ezechielbuch zunächst in der Aufhebung des »Dogmas« einer Generationen überspannenden Kollektivschuld zugunsten der Verantwortung jedes Einzelnen für seine Taten. Die kritische Revision des Sprichwortes »die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf« (Ez 18,2 und Jer 31,29) bot aber lediglich eine eingrenzende Erleichterung. Beide Prophetenbücher ziehen deshalb die weitere Konsequenz, dass es neben der Vergebung und dem Hinwegsehen Gottes über Verfehlungen eines tieferen Eingriffs des Schöpfers bedarf: Die berühmten, als Heilsankündigung formulierten Verse vom »neuen Bund« in Jer 31,27–34 kündigen nichts weniger als eine dauerhafte Umwandlung des Personzentrums an: »Ich werde meine Weisung (tōrā) in ihr Inneres legen und sie ihnen ins Herz schreiben« (Jer 31,33, vgl. Jer 32,40). Die Gebote (vom Sinai), die inhaltlich unverändert bleiben, werden künftig nicht mehr äußerlich, sondern direkt im Inneren des Menschen verankert. Sie sind »inkorporiert« und entsprechen so dem leiblichen Personsein. Dann wird sich ihre Lebensdienlichkeit (die in Ez 20,25 aus anthropologischen Gründen bezweifelt wurde) endlich ungestört entfalten (s. u. 3.a 2 zur christlichen Rezeption). Unmittelbar an den Passus vom »neuen Bund« folgt in der Fortschreibung Jer 31,35–37 noch eine umfassende kosmologische Begründung für Gottes unverbrüchliches Verhältnis zu Israel: »So hat Jhwh gesprochen, der die Sonne gesetzt hat als Licht am Tag, die Ordnungen von Mond und Sternen als Licht bei Nacht; der das Meer erregte, so dass seine Wogen tosten ... Wenn diese Ordnungen mir entgleiten könnten, würden auch die Nachkommen Israels aufhören, vor mir ein Volk zu sein für alle Tage ... Wenn die Himmel oben vermessen und die Grundfesten der Erde unten ergründet werden könnten, dann würde ich die Nachkommen Israels verwerfen, um all ihrer Taten willen.« (vgl. analog Jer 33,25f., mit dem betont angekündigten »Erbarmen« des Schöpfers [Verb rḥm]).

So wie die Ordnungen der Schöpfung seit der Sintflut unverbrüchlich sind (Gen 8,21f. [Nicht-P]; 9,14–17 [P]), so steht der Erschaffer des Kosmos trotz der Verfehlungen zu seinem Volk. Das Ezechielbuch spricht analog zum Wort vom neuen Bund in Jer 31 von einem Austausch des dauerhaft verhärteten Herzens Israels durch ein lebendiges Herz, das empfänglich ist für die Gottesbeziehung und diejenige zum Nächsten (Ez 11,19–20; 36,26f.). In Ez 36,26 wird diese Neujustierung der Anthropologie als Gabe eines »neuen Herzens« und eines »neuen Geistes« bezeichnet. 2) Psalter und Hiob Die Aussage von Ez 36,26f. wird von dem sich seiner Sünden und prinzipiellen Fehlbarkeit bewussten Beter von Psalm 51 zitiert und variiert: Er bittet über jede aktuelle Vergebung von Sünden und Reinigung von Schuld hinaus ebenfalls den Schöpfer um die Neuschaffung seines Herzens und Geistes (Ps 51,12). Am Ende des Psalms mündet das dann nicht zufällig in die Bitte um die Erneuerung auch des zerstörten Jerusalem, die den Blick auf die Eröffnung einer neuen Zukunft für Israel richtet (Fortschreibung in V. 20f.). Der Psalter ist – gemäß Martin Luthers eindringlicher Vorrede von 1528 – eine »kleine Bibel«. Seine masoretische Gestalt enthält alle wesentlichen theologischen Perspektiven der Hebräischen Bibel und vereinigt sie wie in einem Brennspiegel. In ihm finden sich viele nachexilische Psalmen, die man mit Recht als Ausdruck

492

6. Kapitel: Gottesglaube

expliziter Theologie im Alten Testament bezeichnen kann. Nur zwei sollen herausgegriffen werden, um die übergreifende Sinnlinie des barmherzigen Schöpfers noch einmal zu konturieren: In Ps 78, dem zweitlängsten Psalm überhaupt, der die Pentateucherzählungen der Wüstenwanderung aufnimmt und schöpfungstheologisch neu bedenkt, findet sich eine bemerkenswerte anthropologische Aussage, die wie in den eben behandelten Prophetenstellen den gerechten Zorn Jhwhs (über den Abfall Israels in der Wüste) mit seiner Barmherzigkeit zusammendenkt: 38 Er aber: barmherzig ist er (rāḥūm)! Er deckt immer wieder Schuld zu (= sühnt Schuld), und nicht verdirbt/vernichtet er! Vielfach hat er abgewendet seinen Zorn und nicht erregt seinen ganzen Grimm! 39 Er dachte daran, dass sie Fleisch sind, Lebensatem/Hauch (rūaḥ), der dahingeht und nicht zurückkehrt!

Ähnlich grundsätzlich führt auch der oft zu Recht in die Nähe des frühjüdischen Gebets Jesu (Vaterunser) gerückte Psalm 103 die Vergänglichkeitserfahrung des Menschen als Hauptgrund für Gottes Barmherzigkeit trotz der Verfehlungen an. Er verwendet in schöpfungstheologischer Auslegung der in Ps 103,8 direkt zitierten Gnadenformel aus Ex 34,6f. das Bild der Elternschaft, die eine grundlegende Beziehung stiftet (vgl. 2.2c und 3.2a), die von Zuneigung und Sorge geprägt wird: 10 Nicht nach unseren Sünden hat er an uns gehandelt, und nicht nach unserer Schuld hat er uns vergolten ... 13 Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich (jeweils Verb rḥm) Jhwh über die, die ihn fürchten. 14 Denn er weiß, woraus wir geformt sind, er gedenkt daran, dass wir Staub sind.

In Ps 103 ist es deshalb auch die Aufgabe der himmlischen Wesen (Engel) in der Thronumgebung Jhwhs, seinen Willen zu erfüllen, auch um Israel zu entlasten, das wegen seiner geschöpflichen Schwäche aus eigener Kraft hierzu nur unzureichend in der Lage ist (Ps 103,20f.). Schließlich ist auch in dem zutiefst von Skepsis und Verzweiflung geprägten Buch Hiob die Beziehung zum Schöpfer jenseits von Schuld und Strafe der letzte Anker des gebrochenen Vertrauens auf die Gerechtigkeit Gottes: Der leidende, zwischen Tod und Leben gefangene Hiob erhofft gegen allen Augenschein eine aufklärende Gottesschau, für die er an den ihm feindlich begegnenden Gott appelliert (Hiob 19,25–27): Er erwartet ihn nämlich als seinen »Verwandten«, als »Löser« (gō’ēl, s. o. 2.b 3), der verpflichtet ist, seinem Nächsten, der sich aus eigener Kraft nicht helfen kann, unter die Arme zu greifen (vgl. Lev 25,48f.; Rut 4). Der Schöpfer als Vater und Mutter, als nächster Verwandter des Menschen ist so die allerletzte Instanz in der Krise der »Gottesfinsternis« (Martin Buber), bei der alle heilvollen Gotteserfahrungen auf dem Spiel stehen. Auch in der kritischen Weisheitsschrift Hiob ist der Anker gegen die Anfechtung also der barmherzige Schöpfer. Den an Gottes Undurchschaubarkeit Leidenden wird aufgezeigt, dass Jhwh sich am Ende nicht selbst widersprechen wird, eben weil er sich verlässlich immer neu als rettender Gott gezeigt hat. Die antike Theodizee bleibt also anders als ihr neuzeitliches Pendant innerhalb der Gottesbeziehung. Das Nachdenken über Gott ist verankert in der konkreten Beziehungsmetaphorik, mit der die Autoren und Rezipienten der biblischen Texte ihr Vertrauen und ihre Anfechtung zum Ausdruck brachten. Wie es die in Qumran gefundenen Texte des frühen Judentums zeigen, die nicht in den Tanakh

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

493

aufgenommen wurden, setzt sich diese Sinnlinie fort bis in die Genese der frühchristlichen Schriften hinein (s. u. 3.). d)

Bleibende Probleme des schöpfungstheologischen Monotheismus und die Hoffnung auf ihre Lösung

Die soeben skizzenhaft dargelegten Querverbindungen einer frühjüdischen expliziten Theologie biblischer Texte wurde nicht von außen herangetragen, sondern auf einer Ebene »mittlerer Systematisierung« aus den Texten selbst gewonnen. Nebenbemerkung: Das geht selbstverständlich nicht ohne moderne Begrifflichkeit. So hat ein Beschreibungsbegriff wie »Monotheismus« kein Pendant in der Hebräischen Bibel, wohl aber gibt es biblische Ausdrücke für Gottes »Einzigkeit«, seine »allein für sich« getroffenen Entscheidungen, seine umfassende Wirkmacht und seine die Welt in Zeit und Raum transzendierende Präsenz (vgl. nur Gen 1,1; Jes 43,10; Jes 45,7; Ps 102,26–28).

Neben der fundamentalen Betonung der Barmherzigkeit des Schöpfers sind noch andere perserzeitliche und hellenistische theologische Einsichten für den werdenden Tanakh konstitutiv: Zu ihnen gehört an erster Stelle die immer wichtiger werdende Rolle der Tora. Ihre Regeln werden schon in der Hebräischen Bibel ansatzweise diskursiv aktualisiert, wie es dann für die spätere Mischna typisch ist (z. B. im Heiligkeitsgesetz Lev 17–26 und darauf bezogen in Num 15,37–41). Theologisch wird die Tora zur entscheidenden Größe der Vermittlung zwischen dem transzendenten Jhwh und seinem Volk. In hellenistischer Zeit wird ihr auch eine schöpfungstheologische Qualität zugesprochen. Sie wird so auch zum Prinzip der Erkenntnis der Weltordnung (vgl. die beiden Teile von Ps 19 [s. u. 3.b 2 zur frühchristlichen Rezeption]). Mit dem Stichwort Weltordnung verbindet sich in der Hebräischen Bibel aus langer Tradition auch die Wahrnehmung von und die Frage nach der »Gerechtigkeit«. Für die im Alten Testament wie in altorientalischen Kulturen gültige Durchlässigkeit zwischen Sozialsphäre und nichtmenschlichem Kosmos gilt, dass die Schöpfungsordnung und gesellschaftliche Solidarität dynamisch voneinander abhängen. Wir haben das bereits an der Sintfluterzählung gesehen, wo die Welt durch Gewalt völlig korrumpiert wurde. Ähnliches befürchten manche nachexilischen Texte aus Propheten, Psalmen und Weisheitsliteratur aufgrund der Zersetzung der Gesellschaft durch soziale Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Diese Wahrnehmungen spitzten sich unter hellenistischer Herrschaft, v. a. im 2. Jh. v. Chr., unerträglich zu (sog. makkabäische Krise, vgl. das Danielbuch). Sie prägen aber auch schon Texte im Kernbereich des sog. Tritojesaja (vgl. Jes 58–59) oder auch viele Psalmen, die vom Toben der »Frevler« (rešā‘īm) handeln (vgl. die Feststellung der »Sintflutreife« der Gesellschaft in Ps 12 und Ps 14). Aus Sicht der Psalmbeter, die sich selbst als Jhwh-Treue (»Gerechte«) bezeichnen, sind die »Frevler« unheimliche Gegner, weil sie Argumente gegen Gott vorbringen, mit denen sie ihr rücksichtsloses Handeln legitimieren. Die Psalmen zeigen in der Auseinandersetzung mit dieser Bedrohung daher neben Untergangswünschen auch Formen der Diskursivität: zum einen, um die Frevler wieder in die Gottesgemeinschaft zurückzuholen, zum anderen, um zu verhindern, dass man ihrer Verführungskraft erliegt (vgl. nur Ps 1; 36;

494

6. Kapitel: Gottesglaube

37; 139). Die ab der Seleukidenzeit verschärfte Thematisierung einer zusätzlich auch von außen kommenden Unterdrückung der eigenen Identität durch die Weltmächte führte zur dringlichen Erwartung einer baldigen Durchsetzung und sichtbaren Restitution von Jhwhs Gerechtigkeit (als Weltordnung). Es lassen sich daher mindestens drei offene Probleme des schöpfungstheologischen Monotheismus beschreiben, welche die werdende Hebräische Bibel beschäftigen. Zwei von diesen Problemen sind ähnlich gelagert: Die bereits angesprochenen Fragen des Verhältnisses von Israel und den Völkern sowie das Problem der ausbleibenden Gerechtigkeit (als Weltordnung). Das dritte offene Problem liegt noch einmal auf einer anderen Ebene (s. o. 1.c 1): Es geht in späten Texten auch um prinzipielle Grenzen der Gotteserkenntnis (s. in diesem Band § 31). So heißt es in Koh 3,10–11: 10 Ich sah die Beschäftigung, die Gott den Menschen gegeben hat, um sich mit ihr abzumühen. 11 Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit, auch die fernste Zeit (‘ōlām) hat er in ihr Herz/ihren Verstand (lēb) gegeben, nur dass nicht entdecken kann der Mensch das Werk, das gemacht hat der Gott vom Anfang bis zum Ende.

Besonders das Buch Kohelet, aber auch spätprophetische Texte und skeptische Psalmen (wie Ps 90; 139) sind hier einschlägig. Angesichts einer letzten Unverfügbarkeit des göttlichen Handelns verwenden diese Texte relationale Grenzbegriffe und zeigen ein präzises Denken in Metaphern. Oft erwarten sie, so in den schriftprophetischen theologischen »Summen« aus hellenistischer Zeit, eine »eschatologische«, durch Jhwh am Ende zu eröffnende Eindeutigkeit (vgl. Jes 65f.), etwa in Sach 14,9: »Und es wird König sein Jhwh über die ganze Erde, an jenem Tag wird Jhwh einer sein und sein Name einer.« Die Sehnsucht nach endgültiger Überwindung aller Spannungen und Widersprüche ist ein wesentlicher Richtungssinn des sich herausbildenden Kanons zunächst von Tora und Propheten (s. u. 3.a 1). Diese Dynamik der Erwartung hält in der frühjüdischen wie frühchristlichen Literatur an. In beiden wurden die monotheistischen Folgeprobleme weiterbearbeitet. In den frühchristlichen Schriften fügte man ihnen eine neue – christologische – Dimension hinzu, ohne sie jedoch auflösen zu können. Den damit verbundenen Kontinuitäten und Transformationen der theologischen Grundaussagen des Alten Testaments im Rahmen einer Hermeneutik der zweiteiligen christlichen Bibel ist der abschließende Ausblick gewidmet.

3.

Gesamtbiblische Perspektiven

a)

Die jüdische(n) Schrift(en) als bleibender Bezugspunkt und Deutehorizont des frühen Christentums

Im frühen Christentum war die werdende jüdische Bibel unbestrittener und gültiger Bezugspunkt der Lebensdeutung und Lebensführung. Insbesondere die oben an den späten Stadien der Hebräischen Bibel aufgezeigten übergreifenden theologischen Aussagen und Sinnlinien waren daher der selbstverständliche Deutehorizont der beginnenden christlichen Identitätsbildung. Eine wichtige Voraussetzung der frühchristlichen Interpretationsprozesse war die Mehrsprachigkeit schon des antiken Judentums der letzten vorchristlichen Jahrhunderte. So hatten die hebräisch-aramäische des

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

495

palästinischen und die griechischsprachige Kultur des hellenistischen Judentums je eigene Identitäten ausgebildet. Sie beeinflussten sich gegenseitig. Die doppelte Gestalt der hebräischen und griechischen Bibel (LXX) differenzierte die Wahrnehmung des Reichtums der Inhalte der heiligen Schriften im Licht antiker Wissenstraditionen. Beiden jüdischen Prägungen war die Hochschätzung der hebräischen Tora gemeinsam, in der nach der Weltschöpfung und Vätererwählung die entscheidende Gründungsgeschichte von Exodus und Sinai mit der Gesetzgebung Moses berichtet wurde. So bedurfte die Übertragung der Tora ins Griechische im hellenistischen Bereich einer besonderen göttlichen Autorisierung. Unter wunderhaften Umständen – so Philos Lesart des Aristeasbriefs (de Vita Mosi II,37) – brachten die Übersetzer ein »Abbild des Urbildes« (Robert Hanhart) hervor. Dabei ist das Wissen um die Existenz des älteren hebräischen Textes vorausgesetzt. Dieses Wissen teilten auch die frühchristlichen Schriften, wenngleich sich die moderne Exegese uneins ist, wie stark man jeweils den Einfluss der konkreten Sprachgestalt der Vortexte auf die Denkformen des Neuen Testaments gewichten muss. Für den folgenden Ausblick auf gesamtbiblische Perspektiven der die beiden späteren christlichen Kanonteile verbindenden theologischen Sinnlinien spielen diese Differenzierungen zwar eine Rolle. Die Skizze konzentriert sich aber auf solche fundamentale Themen, Motive und gedankliche Einsichten, die innerhalb des jüdischen Pluralismus um die Zeitenwende im Ganzen vorauszusetzen sind. Das Christentum war von vornherein und ist bis heute von seinen antik-jüdischen Voraussetzungen geprägt. 1) Die frühchristlichen Texte als Fortschreibung Für das Verständnis der in frühchristlicher Zeit vorherrschenden Praxis des Umgangs mit den überlieferten »Schriften« sind folgende Gesichtspunkte wichtig: Zum einen reiht sich z. B. der Schriftgebrauch des Paulus, des Matthäus-Evangeliums, aber auch des johanneischen Corpus in den Kontext antik-jüdischer Hermeneutiken ein: Dies zeigen vor allem die ca. 800 Texte vom Toten Meer aus den letzten Jahrhunderten vor und dem ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende (vgl. auch Judith, 1–2 Makk u. a.). Sie beleuchten plurale jüdische Gemeinschaften. Die in den Handschriften erkennbaren textbezogenen Praktiken deuten auf eine Schreiber- und Diskurskultur wie auf liturgischen Gebrauch. Beides war auch für die Entstehung der neutestamentlichen Texte prägend. Zum anderen zeichnet sich in Qumran die hohe Autorität des Doppelkanons aus »Gesetz/Weisung und Propheten« ab, der so auch von den neutestamentlichen Autoren vorausgesetzt wird. Auch manche literarische Verarbeitung der Vortexte, z. B. als »rewritten Bible« (vgl. etwa die Neuerzählung der Genesis im Jubiläenbuch), finden sich im Neuen Testament wieder (z. B. die Genealogie in Mt 1 mit Blick auf die priesterliche Urgeschichte und 1Chr 1–9 sowie Joh 1 als Paraphrase von Gen 1). Der grundlegende Deuterahmen des Wirklichkeitsverständnisses der frühchristlichen Schriftsteller waren Tora und Propheten und (wenige) weitere Texte. Ihnen kam höchste Autorität als schriftgewordene Offenbarung und als in seiner Geltung immer auch aktuell auszulegender Gotteswille zu. Das galt neben der Tora besonders für die prophetische Tradition, zu der im NT wie in den Qumrantexten auch die Psalmen

496

6. Kapitel: Gottesglaube

zählten. Sie wurde im entstehenden Christentum zum wichtigsten hermeneutischen Schlüssel für die Neudeutung der Tradition im Licht der eigenen Erfahrungen und Überzeugungen (vgl. ähnlich die Prophetenkommentierung aus Qumran [Pesharim]). Die frühchristlichen Texte stellen nach ihrem Selbstverständnis eine aktualisierende Fortschreibung des Vorgegebenen dar. Sie wurden von der Überzeugung geleitet, dass Gott sich in der Geschichte des Volkes Israels immer wieder konkret und gültig offenbart hat (s. o. 1.e und § 28 in diesem Band) und dass es eine bleibende Aufgabe ist, dies im Licht neu erkannter Offenbarung zu verstehen und zu versprachlichen. 2) Ansätze der Verhältnisbestimmung von »Altem« und »Neuem« Sowohl in Debatten um eine »gesamtbiblische Theologie« wie auch im Streit um die leitenden Absichten wissenschaftlicher Exegese des NT wie des AT spielt die Betonung von Kontinuität oder Diskontinuität zwischen jüdischer Tradition und christlichen Deuteperspektiven eine große Rolle. Für beides finden sich in den ersten Texten des frühen Christentums Belege: Die Realisierung von »Neuem« (ḥādāš) ist seit der nachexilischen prophetischen Tradition ein zentrales Element der Zukunftserwartung (s. o. 2.c). Das Motiv steht im Zusammenhang der endgültig von Gott erwarteten Auflösung bleibender Probleme (s. o. 2.d). Das »Neue« wird dabei primär als Wiederherstellung von bereits Vorgegebenem, aber auch als dessen Aufhebung und Überbietung ersehnt (neuer Exodus [Dtjes], ein Bund mit der Qualität des Sinaibundes, der jedoch nicht mehr durch die Sünde gebrochen werden kann, weil der Mensch neu gestaltet wurde [Jer 31; Ps 51], ein restituierter Kosmos ohne Gewalt [Jes 11; 65f.] und zuletzt auch die Überwindung der Macht des Todes [Jes 25f.]). Diese Figuren einer Erfüllung letzter Erwartungen (s. u. 3.b 5), die schon in frühjüdischen Texten auch radikale Überschreitungen des Bisherigen enthalten konnten, bekamen in christlicher Deutung ein spezifisches Gewand: Sie verbanden sich mit der »Geschichte von Jesus Christus « (Ulrich Luz), einer (mythischen) Gründungserzählung in Analogie zu den früheren Heils- und Rettungstaten des Gottes Israels. So bestimmten Kontinuität und Diskontinuität zu tragenden Grundeinsichten der jüdischen Bibel die Herausbildung frühchristlicher Theologie. b)

Kontinuität und Transformation der »Theologie des AT« in frühchristlichen Schriften

1) Monotheismus und Christologie Sowohl im palästinischen wie im hellenistischen Judentum (Philo von Alexandrien) war vollends ein Bewusstsein für die Differenz des biblischen Monotheismus zu allen anderen Gotteskonzepten gewachsen, das auch die frühchristlichen Texte teilten. Dies rief sowohl Ärger und Verwunderung als auch Respekt der nichtjüdischen Umgebung hervor, die sich u. a. auch durch die archaische Würde der biblischen Texte vom unsichtbaren einzigen Gott angezogen fühlte. In den frühchristlichen Texten spielte z. B. die heis theos-Akklamation (»ein einziger Gott«) – auch in Aufnahme und Ausdeutung von Dtn 6,4 – eine wichtige Rolle. Zugleich hat man den einzigen

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

497

Gott unter Betonung der Metaphorik von Elternschaft (vgl. etwa Ps 103 [s. o. 2.c 1], Qumran) auch als »Vater« Jesu Christi und aller Glaubenden bezeichnet: »Ein Gott, der Vater« (1Kor 8,6). Nebenbemerkung: Die für frühchristliche Texte geltende Grundvoraussetzung der Identität des einen Gottes Israels und Schöpfers der Welt mit dem Vater Jesu Christi zeigt sich auch in der gängigen Praxis antiker christlicher Schreiber in alt- wie neutestamentlichen Bibelhandschriften, die Bezeichnungen für »Gott« (theos) und »Herr« (kyrios) in einer graphisch auffallenden Weise abgekürzt wiederzugeben, wobei entsprechende Abkürzungen für den Gottesnamen Jhwh in LXX-Handschriften Pate gestanden haben.

Eine Mehrdeutigkeit des Gottesnamens Kyrios (im NT wie in der LXX für Jhwh, aber auch als früher Titel für den Auferstandenen) belegt das Spezifische der christlichen Gottesvorstellung: Vater und Sohn wurden vor dem Hintergrund v. a. einschlägiger Psalmenstellen (Ps 2,7; Ps 110) aufs engste aufeinander bezogen (vgl. auch im Johannesevangelium die Betonung von deren Einheit). 2) Schöpfung und Schöpfungsmittlerschaft Die neutestamentlichen Texte schließen auch darin nahtlos an die späten Redaktionsschichten der alttestamentlichen Literatur an, dass sie den Monotheismus schöpfungstheologisch begründen (s. o. 2.a). Das wird so umfassend vorausgesetzt, dass es in keiner neutestamentlichen Schrift eigens erklärt wird. Vielmehr sind Aussagen zur Weltschöpfung und Kosmologie wie in Röm 8 oder Joh 1 vielfältig auf die Kenntnis alttestamentlicher Bezugstexte, darunter v. a. Gen 1, angelegt. Zwei nur in Ansätzen in der jüdischen Bibel, dafür aber im frühjüdischen (v. a. hellenistischen) Schöpfungsdenken verankerte Aspekte kennzeichnen eine Besonderheit des christlichen Schrifttums: Zum einen deutet sich eine Auseinandersetzung mit antiken und orientalischen Kosmogonien im Blick auf die Voraussetzungslosigkeit des göttlichen Schaffens am Anfang an: Der einzige Schöpfer lässt sich ja schon bei Deuterojesaja (vgl. Jes 43,10f.) nicht in eine Göttergenealogie einzeichnen, sondern steht in »splendid isolation« am Beginn von allem, was ist. Der antik-philosophische Denkhintergrund, der besonders für hellenistisch-jüdische Autoren eine feste Bezugsgröße war, postulierte demgegenüber eine eigenschaftslose Urmaterie als Vorgabe (»von nichts kommt nichts«). Frühjüdische Texte waren hierin uneins; die spätere Lehre von der aus einem rein göttlichen Entschluss »aus dem Nichts« heraus geschaffenen Welt zeichnet sich erst in Ansätzen ab (evtl. 2Makk 7,28). Einen besonderen Schritt in diese Richtung geht Röm 4,17 (vgl. 4,24f.). Dort wird von Paulus die Auferweckung der Toten durch Gott als radikal neuer Schöpfungsakt des »Herausrufens dessen, was nicht ist, dass es sei« verstanden. Zum anderen ist ein besonderer Akzent frühchristlichen Schöpfungsdenkens die Identifikation der präexistenten Weisheit (Spr 8,22–31) mit dem Christus vor aller Zeit (Joh 1,3.10; 1Kor 8,6b; Kol 1,15–17; Hebr 1,2; Apk 3,14). Im Prozess der Weltwerdung wird der im Uranfang zusammen mit Gott handelnde Christus als Prinzip der kosmischen Ordnung etabliert. Deren Struktur kann dann auch – wie schon zuvor im kosmologischen Weisheitsdiskurs (vgl. Sir 24, Aristobul) – im Licht Christi erkannt werden (Seins- und Erkenntnisprinzip). Diese Idee der Schöpfungsmittlerschaft fügt

498

6. Kapitel: Gottesglaube

sich in kosmogonisch wie kosmologisch orientierte Diskussionen v. a. hellenistischjüdischer Texte ein, bei denen auch der Tora eine kosmische Offenbarungsqualität und eine Rolle bei der Weltschöpfung zugewiesen wurde (vgl. z. B. Ps 19 [s. o. 2.d]; Philo, R. Aqiba u. a.). Dazu gehörte in der Zeit des Zweiten Tempels auch die Verbindung von Kosmologie und Eschatologie und ihre Rückkopplung an ethische Fragen des Handelns und des Scheiterns an der Tora. Wie in Ps 103 (s. o. 2.c 2) spielen auch die Engel in der Thronumgebung Gottes eine wichtige Rolle, mit denen sich die irdische Gemeinde im rituellen Vollzug vereint wusste (z. B. Sabbatopferlieder aus Qumran). Die Engel agierten in priesterlichen und höfischen Handlungsrollen vor dem Thron Gottes und eröffneten den Zugang zur Gnade Gottes durch die himmlische Liturgie. Die Figur des Christus übernimmt in frühchristlicher Literatur die Herrschaft über alle Engel und Gewalten (Phil 2,9–11; Eph 1,20–23). Sie wird – anders als in vorigen Kosmos- und Engelkonzeptionen – in die unmittelbare Nähe des Schöpfers und Herrn der Welt gerückt (Röm 8,34f. u. a.). 3) Gottes Handeln und die »Geschichte von Jesus Christus« Den frühchristlichen Texten liegt durchweg die frühjüdische Anschauung zugrunde, nach der das Handeln Jhwhs, des Gottes Israels, stets zugleich eine schöpferische wie geschichtliche Seite hat. Die moderne Unterscheidung von beidem folgt einer Differenz zwischen Natur und Geschichte, die den antik-jüdischen wie frühchristlichen Denkformen fremd ist. Das Handeln des Gottes Israels wurde im Medium der gründenden Ursprungserzählungen (s. o. 1.c 2) als konstituierend für das Welt- und Selbstverständnis wahrgenommen: In konkreten Taten, die erzählt und gepriesen werden (vgl. die Toda: Dankopfer und Danklied), wird die Treue und Zuverlässigkeit des Schöpfers erkannt und weitergegeben. So wurde auch das Leben und Sterben sowie die gegen jede Erwartung bezeugte Auferweckung Jesu von Nazareth als eine solche umfassende Rettungstat aus dem Tod und »für die Vielen« verstanden. Die erste christliche Traditionsbildung pries Gott für dieses neue »Wunder« im Sinne der gründenden Machttaten beim Exodus und am Sinai (vgl. Mt 21,42; Apg 4,11 mit Blick auf Ps 118,22f.). Die von Anfang an vielstimmige Erzählung von Jesus, dem auferweckten Christus, in der man sofort auch Folgen für das Heil aller erkannte (vgl. 1Kor 15), wurde zum neuen Paradigma: Die frühen Christen, die immer noch Teil des Judentums waren, verstanden das Auftreten des Propheten und Täuferanhängers und seinen Straftod im Licht der Auferweckungserfahrung als endgültige Offenbarung des Gottes Israels. Mit dieser exklusiven Konzentration auf den Christus unterschieden sie sich zunehmend vom antiken Judentum. Die Wege beider Religionen blieben dabei noch lange benachbart und beeinflussten sich. Sie sind bis heute auf religionsgeschichtlich einmalige Weise miteinander verknüpft. 4) Anthropologie und das Heil in Christus Mit den späten Schichten des Tanakh und ähnlichen frühjüdischen Texten teilten die frühchristlichen Autoren eine spezifische Sicht der Vergänglichkeit und Fehlbarkeit des Menschen – Israels und der Völkerwelt (s. o. 2.c 1). Hierfür waren, neben der mit Hilfe der biblischen Urgeschichte entworfenen Typologie von Adam und

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

499

Christus (vgl. 1Kor 15; Röm 5; 7), die prophetischen Schriften des AT die entscheidenden Vortexte, v. a. das Jesaja- und Jeremiabuch: Die andauernde menschliche Feindseligkeit, Gewalt, Ungerechtigkeit und Missachtung des Gotteswillens (der Tora) zeigt, wie tiefgreifend die Macht des Bösen von innen wie von außen das menschliche Dasein bestimmt. Egal, ob in politischen (Weltmächte) oder metaphysischen bzw. mythologischen Kategorien gedacht (das Böse und der Böse/Satan und Dämonen), die Erwartungen einer endgültigen Befreiung zum Guten und einer Rückkehr zur anfänglichen guten Weltordnung Gottes standen wie in den Vortexten im Zentrum christlicher Sinnbildung. Für diese Erwartungen hatte allerdings mit der Auferweckung Jesu von den Toten – und zuvor mit seinem Wirken in Worten und Taten – die Umwandlung der Weltwirklichkeit durch den barmherzigen Schöpfer Jhwh bereits begonnen, wenn auch noch nicht für alle erkennbar (s. u. 3.b 5). Im Licht dieser entscheidenden Rettungstat erschloss sich für Paulus und seine Nachfolger die ganze Wahrheit über den Menschen und über Gott. Dass sich ein gemeinsames Zeugnis vom Handeln Gottes an Jesus von Nazareth, der den Kreuzestod gestorben war, schnell in der damaligen Mittelmeerwelt verbreitete, erwies sich in dieser Sicht selbst als Erweis der Vollendung der Geschichte des Gottes Israels mit aller Welt. 5) Die ausstehende Gerechtigkeit und der wiederkommende Herr Eine kaum zu überschätzende Gemeinsamkeit der frühjüdischen und frühchristlichen Schriften war die Ausrichtung auf ein noch ausstehendes endgültiges Kommen Gottes, die Vollendung seiner Offenbarung. In der erst im 4. Jh. vollends abgeschlossenen christlichen Kanonbildung aus »Altem und Neuem Testament« zeigt dies etwa die Stellung der Apokalypse des Johannes am Ende der christlichen Bibel. In ihr artikuliert sich der »bleibende Verheißungscharakter« der jüdischen Bibel für das christliche Wirklichkeitsverständnis. Der alttestamentliche Teil der Bibel erinnert an die gültigen Schöpfungs- und Rettungstaten des Gottes Israels nach der Sintflut, beim Exodus und am Sinai (s. o. 2.b). Die eine neue Identität begründende »Geschichte von Jesus Christus« steht zu diesen fundierenden Taten Gottes in Kontinuität und Differenz (s. o. 3.a 2). Das endgültige Heil Gottes ist für die frühen Christen ganz konkret erst kürzlich in der Geschichte geschehen: Der auferweckte Jesus von Nazareth bedeutete den Beginn der Beseitigung aller Leiden und Gewalterfahrungen und des Todes. Damit antwortet das frühchristliche Bekenntnis auf die offenen Probleme des schöpfungstheologischen Monotheismus (s. o. 2.d). Unter Aufnahme frühjüdischer Endzeiterwartungen aus prophetischer wie apokalyptischer Tradition (Danielbuch) bekommt das Wechselspiel zwischen bereits geschehener Offenbarung und ausbleibender Vollendung eine neue konkrete Füllung durch die in den frühen Christusgemeinschaften erinnerte Geschichte. So entspringen – formal wie bei den endzeitlichen Szenarien der früheren Prophetie – die Heilserwartungen des Christentums einer Entsprechung von gründender Vergangenheit (bereits in Christus erfüllten Ankündigungen) und spezifischen Hoffnungen, die sich aus der durch die Jesus-Christus-Geschichte geformten Identität ergeben. Im antiken Judentum wie dem sich aus ihm lösenden Christentum werden Erinnerungen und Erwartungen rituell erneuert und gefestigt (in Synagogen und Kirchen). Beide auseinander treten-

500

6. Kapitel: Gottesglaube

den Religionen feierten auf ihre Weise die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Gottes Israels und Herrn der Welt. Dass sich dies – entgegen aller Vorstellungen von der Herrlichkeit des Kommens Gottes – unter dem Gegenteil von Leid und Tod am Kreuz gezeigt hat, ist die Besonderheit des frühchristlichen Zeugnisses. In ihm erhält die Betonung der Zuwendung des Gottes Israels und Schöpfers der Welt zu den Schwachen und Marginalisierten eine umfassende Ausdeutung (vgl. 1Kor 1–2 und die Deutungen des Todes Jesu im Licht von Jes 53 als Lebenshingabe für die Vielen wie in Mk 10,54, par. Mt 20,28). Daher verstärkt sich der Anspruch christlicher Wirklichkeitsdeutung an die endgültige Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes. Die Liebe des Schöpfers zu den Geschöpfen und die nötige Sanktionierung ihrer zerstörerischen Taten stehen in Spannung, die nach Auflösung drängt (s. o. 2.c). Paulus entwarf hierzu das Bild eines Verwandlungsprozesses der ganzen Welt durch den barmherzigen Gott: Am Ende wird alles, auch der Tod und schließlich »der Sohn selbst«, im Schöpfer aufgehoben sein (1Kor 15,28; Röm 11,36; vgl. Apk 21,1–5 unter vielfältiger Rezeption des Jesaja- und Ezechielbuchs). Der Schluss der zweiteiligen christlichen Bibel eröffnet dann auch einen ganz bestimmten dialogischen Erwartungsraum: Auf das Versprechen des Herrn Jesus Christus »Ja, ich komme bald« antworten die auf ihn Hoffenden: »Komm, Kyrios Jesus!« (Apk 21,20).

c)

Schlussbemerkung

Das Ziel einer »Theologie des Alten Testaments« erfüllt sich nach dem Gesagten also nicht allein in der Zusammenfassung der Resultate exegetischer Forschung. Vielmehr ist es immer auch ihre Aufgabe, den Stellenwert der alttestamentlichen Texte für das Christentum mit im Blick zu haben. Dazu ist eine Rekonstruktion gesamtbiblischer Sinnlinien zwischen Altem und Neuem Testament notwendig. Beide Kanonteile stehen in Kontinuität und fruchtbarer Diskontinuität zueinander. Die Bestimmung dessen, was das Alte Testament für die religiöse Praxis und das theologische Nachdenken heute jeweils bedeutet, unterliegt dabei selbst ständigen (theologie-)historischen Wandlungen. So ist infolge der oben (1.3b) benannten neuzeitlichen Emanzipation der historischen Betrachtungsweise biblischer Texte eine zugleich destruktive wie produktive Differenz zwischen Dogmatik und Exegese eingetreten. Ein wünschenswertes Zusammenspiel beider Zugänge wird sich, wenn es für Theologie und Kirche fruchtbar werden soll, daher immer auf den unauflöslichen Zusammenhang von Entstehung (Genese) und Normativität (Geltung) der Bibel richten (s. o. 1.d 1). Auch die Geltung der Bibel ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Ihr Maßstab bleibt der konkrete Gebrauch in vielfältigen Deutungsgemeinschaften. Deshalb gilt es, sich der andauernden Vorläufigkeit des christlichen Zeugnisses wie der genau darin bleibenden Bezogenheit auf das Judentum bewusst zu sein: »Juden und Christen stehen nicht nebeneinander wie die blinde Synagoge und die hellsichtige triumphierende Kirche, sondern sie gehen beide suchend und hoffend der Heilszukunft entgegen.« (Hahn, Theologie des Neuen Testaments Bd. 2, 142).

§ 33 Theologie des Alten Testaments und gesamtbiblische Perspektiven

501

Bibliographie Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (ATD-Erg. 8/1 u. 8/2), Göttingen 1992. Berlejung, Angelika/Frevel, Christian (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT), Darmstadt 52016 (2006). Brooke, George J., Reading the Dead Sea Scrolls. Essays in Method, Atlanta 2013. Crüsemann, Frank, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes. Band 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 62015; Band 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 42015. Dohmen, Christoph/Stemberger, Günter, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (KStTh 1/2), Stuttgart 22019 (1996). Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (Topoi biblischer Theologie 1), Tübingen 2011. Franz, Matthias, Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt (BWANT 160), Stuttgart 2003. Hahn, Ferdinand, Theologie des Neuen Testaments. Band 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums (UTB 3500), Tübingen 32011; Band 2: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung (UTB 3500), Tübingen 32011. Hartenstein, Friedhelm, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (BThSt 165), Göttingen 2016. Ders., Gott als Horizont des Menschen. Studien zur Theologie des Alten Testaments (erscheint in FAT), Tübingen 2021. Hermisson, Hans-Jürgen, Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israels (ThLZ.F 3), Leipzig 2000. Janowski, Bernd, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Göttingen 42020 (2013). Ders., Anthropologie des Alten Testaments, Tübingen 2019. Jeremias, Jörg, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015. Ders., Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 99), Tübingen 2015. Kaiser, Otto, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments Teil 1: Grundlegung (UTB 1747), Göttingen 1993; Teil 2: Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen (UTB 2024), Göttingen 1998; Teil 3: Jahwes Gerechtigkeit (UTB 2392), Göttingen 2003. Keel, Othmar/Schroer, Silvia, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen/Fribourg 2002 Kessler, Rainer, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh 2017. Levenson, Jon D., Creation and the Persistence of Evil. The Jewish Drama of Divine Omnipotence, Princeton, New Jersey 1988. Ders., The Hebrew Bible, The Old Testament, and Historical Criticism. Jews and Christians in Biblical Studies, Louisville, Kentucky 1993. Levinson, Bernard M., Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012. Luz, Ulrich, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014. Otto, Eckart, Theologische Ethik des Alten Testaments (ThW 3), Stuttgart 1994. Rendtorff, Rolf, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. Band 1: Kanonische Grundlegung, Neukirchen-Vluyn 1999; Band 2: Thematische Entfaltung, Neukirchen-Vluyn 2001. Schäfer, Peter, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017.

502

6. Kapitel: Gottesglaube

Schmid, Konrad, Gibt es Theologie im Alten Testament? Zum Theologiebegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft (ThSt 7), Zürich 2013. Ders., Theologie des Alten Testaments (Neue Theologische Grundrisse), Tübingen 2019. Smend, Rudolf, Die Mitte des Alten Testaments: Ders., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien 1 (BEvTh 99), München 1986, 40–84. Spieckermann, Hermann, Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen 2001. Stolz, Fritz, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996. Theißen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. von Rad, Gerhard, Theologie des Alten Testaments. Band 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, München 81982 (1957); Band 2: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 71980 (1960). Witte, Markus, Jesus Christus im Alten Testament. Eine biblisch-theologische Skizze (SEThV 4), Münster u. a. 2013. Zimmerli, Walter, Grundriß der alttestamentlichen Theologie (ThW 3), Stuttgart u. a. 1972.

Anhang

Tabelle zur Geschichte des biblischen Israel Walter Dietrich

Politische Vormacht

Archäologische Epochen

Israelitische Geschichtsabschnitte

Epoche machende Ereignisse

Neolithikum ab 700'000 Bronzezeit

---

Frühbronze ab 3300

---

Ägypten

Mittl. Bronze ab 2200

---



Spätbronze ab 1500

--(Erzeltern, Exodus)

Eisenzeit E I ab 1200

»Landnahme« und Stämmezeit

~ 1200: Merneptah-Stele

(Phönizier)

E IIA ab 1000

frühe Königszeit, »United Monarchy«

926 Reichsteilung

(Aramäer)

E IIB ab 900

Königreiche Israel und Juda

853 Schlacht bei Qarqar 845 Sturz der Omriden 734/33 Syrisch-efraim. Krieg 722 Untergang Nordisraels

Assyrien

E IIC ab 700

Juda allein

701 622 612 604

E III ab 600

Altjuda und Gola

597 Erste Deportation Judas 586 Zerstörung Jerusalems 538 Fall Babylons 515 Einweihung des 2. Tempels ~ 450 Nehemia

(Philister)

Babylonien

Persien

Jehud und Diaspora

Zernierung Jerusalems Reform Joschijas Zerstörung Ninives Schlacht bei Karkemisch

504

Anhang

Politische Vormacht

Archäologische Epochen

Israelitische Geschichtsabschnitte

Epoche machende Ereignisse

Ptolemäer Seleukiden

hellenistisch ab 333

Judäa und Diaspora

333 Schlacht bei Issos 198 Ptolemäer > Seleukiden 165 Entweihung des Tempels

Römer

römischbyzantinisch ab 37

Makkabäer

64v. Pompejus, Provinz Syria 70n. Zerstörung des 2. Tempels 138n. Bar Kochba

Karte: Regionen und Landschaften Palästinas/Israels

Karte: Regionen und Landschaften Palästinas/Israels

505

506

Anhang

Register Bibelstellen Genesis 1–11 97, 382, 486 1–9 488 1–3 309–310 1 24, 308–310, 317, 427–428, 430–431, 436, 484, 495, 497 1,1–2,4 316 1,1 429, 493 1,26f. 286, 328 1,26 310, 316 1,27f. 310 1,27 316 1,28 311, 317 2–3 307, 388 2 168, 308–310, 317 2,4 308 2,7 306, 317 2,16 318 2,18 317 2,20 317 2,23 317 2,24 317, 322 3 309, 311, 318 3,1–4 318 3,11–13 318 3,14 318 3,15 318 3,16 167, 318 3,20 318 4,3–5 278 4,7 312 5,3 310 6–9 487–489 6,3 389 6,5f. 461 6,13–22 412 6,13 312 8,20–22 282 8,21f. 461, 491 8,21 307 9,1–7 354 9,11 57 9,14–17 491 11,1–9 312 12 486 12,1–3 47, 126

13,18 47 14,14f. 47 15,2 320 15,13 52 15,16 52 16,1–6 327 17 125 17,1 452 18,14 453 18,22–33 311 19,1–11 326 22 282, 353 22,1–14 456 22,8 354 24,10–27 324 24,22 320 24,47 320 24,53 320 24,58 325 24,60 318 24,62f. 291 24,67 325 25–33 188 25,20 24 27,41–45 320 28,10–22 320 29–31 320 29,1–12 324 29,6 324 29,9 329 29,11 325 29,14 317 29,18–30 320 29,18 325 29,24 320 29,26 325 29,29 320 30,1 325 30,3–13 327 31,47 76 31,49f. 320 32,14.19.21.27 278 32,23–33 456 33,4 362 34,1f. 326 34 231 35,18–20 326

37 413 37,3f. 326 38 321 38,6–10 321 38,11 321 38,14 321 40 413 41 413 42,23 72 44,3–6 363 46,8–26 52 49 197 50,15–17 363 50,18–21 363 Exodus 2,15–22 320 2,15–21 324 2,16–18 324 2,16 329 3 409, 487 3,14 126 3,16–20 210 5,22 457 6,2f. 410 8 295 12 281 12,40 52 12,48 272 13,14 58 14 231 15 485 15,1–19 296 15,3 231 15,21 48, 295, 300 17,8–16 170 18–20 412 18 210 19 – Num 10 250 19–20 487 20,2–6 392 20,4 487–488 20,5 381 20,10 308 20,12 351 20,17 190 20,22–23,33 122

507

Register 20,24–23,19 202, 209 21,15 351 21,17 351 21,33f. 340 21,35–22,14 340 22,21 349 22,22 321 23,9 313 23,10–19 268 24 282 24,8 282 25 373 28 273 29,43–46 56 31,18 78 32–34 488–489 32 447, 488 32,7–14 488, 490 32,7–12 461 32,26–28 353 33–34 487 34,6f. 365, 441, 481, 487, 489–490, 492 34,14 395 34,18–26 268 24,3.4–8 209 29,43.45 180 Levitikus 4,26 284 10,1–7 279 10,11 211 12,2 323 12,5 323 12,15 323 13 323 16 269, 371 16,7–10.20–22 285 16,22 375 17–26 493 17,11 282, 284–285, 374 18 327 18,22 322 20,13 322 23,3 271 23,4–44 268 24,10–16 211 25 195 25,23–28 168 25,23f. 215 25,31 214 25,35 192

25,48f. 492 27,29 243 Numeri 5 418 6,22–27 127 6,24–26 79, 278 11 212 15,32–36 211 15,37–41 493 16 268 19,11 323 22–24 79 25,4f. 353 27,1–11 195 28 268 29 107, 268 36,1–12 196 Deuteronomium 1,1 87 1,9–15 210 4 486 4,6–8 31 4,6 31 4,16 328 4,32–33 487 5 412, 487 5,4 412 5,8 487 5,14 190, 308 5,16 351 6,4–5 118 6,4 393, 496 6,20 58 9–10 487, 489 10,17 454 10,18 321, 349 12–26 202, 209 12 211, 264 12,31 353 13,2–4 420 15 178 15,1–18 225 15,1–11 179, 358 15,12–18 179, 192, 358 16,1–17 118, 179, 268 16,18–20 210 17,6f. 356 17,8–13 210 17,14–20 210 18,9–22 210

18,15 210 18,22 419 20,14 238 21,15–17 188 22,1–12 179 22,8 340 22,13–21 319 22,23–29 319 23,20 225 24,1 322 24,6–25,4 179 24,10–14 225 24,17 321 24,19–22 225 25,5–10 168, 188, 321 25,17–19 170 26,16–19 209 27,2 78 28,3–12 316 28,35 326 29,3 307 29,28 466 31,9–12 104, 106–107 31,24–26 104 32,7 46, 313 32,8f. 460 32,8 81 33 197 34,12 85 Josua 6 243 15–19 197 17,14 220 Richter 1,27–33 221 2,14 220 4 357 4,4 329 4,21 325 5 73, 197, 234, 485 5,13–18 199 6,1–6.11 220 6,27f.30 220 8,5.8f.16f. 220 8,16 220 9,50–57 313, 324 11 199, 353 11,5.8–11 220 17,10 266, 273 19 326

508 19,2 188 19,22–30 326 19,27–29 326 Rut Rut 321, 324 1,11–13 321 1,14 322 1,16f. 322 2,3–17 324 2,10–12 108 2,11 322 3,2–7 324 3,9 321 4 492 4,5–10 321 4,11 318 4,15f. 322 4,18–22 169 1 Samuel 1–2 266 1 294 1,8 325 1,9–18 325 2,1–10 454 2,12–14 273 6,18 214 9,11–14 280 10,13f. 266 10,27 417 11,3 220 11,7 326 13,19–21 204 14 417 15,35 411 16,1–13 194 16,4 220 17 138, 234–235 17,5–7 244 17,45–47 245 18,17–29 320 18,20 325 20 279 20,6.28f. 194 20,17 322 22,2 205 23,1–5 411 23,6 417 25,3 326 25,36 326 25,37f. 383

Anhang 26,19 277–278 28 411, 417 2 Samuel 1,7 136 1,26 322 2,1–4 220 5,1–5 220 5,6–10 220 6,20–23 326 7 471 7,8–16 207 8 48 8,9–14 221 8,16–18 134, 204, 207, 221 11,1–15 327 12,1–4 350 12,15–23 385 13 326, 351 13,1–22 314 13,12–13 352 13,20 379 14,7 194 14,14 386 15,18 221 16,5–14 347 18,8 216 19,1 295 20,23–26 134, 204, 207, 221 21,10–14 325 21,15–22 204 21,19 138 22 485 1 Könige 3,1 24 3,9 307 4 204 4,1–19 207, 221 5,4 47 6–8 253 8 267 8,54 293 8,65 47 10 47 10,1–13 329 11–12 49 11,3 47 11,7 272 12 488 14,19.29 46, 134 15,15 134

16,5 134 16,31 25 17–18 419 17,17–24 384 19,11f. 462 20,23 460 20,28 232 20,34 222 21 221 21,1–2 223 22 412, 418 2 Könige 3,27 353 4,18–37 384 4,21–24 326 7,1.18 223 8,1–6 221 8,5–6 223 9f. 353 11 329 12,12f. 223 15,19f 25 16,7f. 49 16,7 25 17,3f. 277 17,5f. 25 17,25f. 277 18,13–16 40 18,19–25 419 18,26–28 72–73 21,1–18 49 22,8–10 105 23 273 24,14.16 225 25,12 226 1 Chronik 1–9 495 6,16 264 16,7 264 23–26 267 29,11 454 29,29 47 2 Chronik 6,34f. 236 14,10 232 36,22–23 49 36,23 25

509

Register Esra 1,1–6,18 24 1,1–4 49 1,2–4 25 4,7 73 4,8–6,18 77 5,14 25 6,3–5 25 7 105 7,12–26 77, 212 9–10 169 10,3 106 Nehemia 3,5 227 5,1–5 227 5,4f.7 227 8,1 106 8,18 106 9,36f. 227 13 169 13,10–13 211 13,16 227 13,23f. 107 13,24 73 Tobit 2,1–10 323 2,11–14 326 Ester Est 485 1,13 46 3,38 171 3,43 171 5,7 171 9,20–32 271 1 Makkabäer 1,1 47 1,41–43 24 6,2 47 14,29 237 2 Makkabäer 2,13–15 111 6 24 7,27 323 7,28 497 4 Makkabäer 7,21 101

Hiob 1–2 380 2,9 326 3,17–19 387 7,9f. 460 10,1f. 292 13,28 26 14,13 438 15,14 311 19,21f. 171 19,25–27 492 31,38f. 227 38,16–20 434 38,41 310 39,1–4 435 39,10f. 435 40,15–19 435 42,2f. 455 42,5 163–164 Psalmen 1 303, 380, 493 1,1 290 2 303, 472 2,7 270, 497 3 298 3,1 88 6,5 299 7 342 8 308 8,6 310 11,4 423 12 493 14 493 14,1 310 16,9 161 18,5f. 379 19 493, 498 20 76 22 72, 379 28,2 292 29 182 30,6 440 30,11 317 34,20 379 35,22f. 459 36 493 37 494 42,2f. 424 44,2 58 44,24f. 459 46 182, 473

48 182, 473 51 364, 367, 491, 496 51,11–14 242 51,15 367 51,16f. 367 51,18 368 51,19 368 54,6 317 57 343 57,7 342 58,4–7 348 69,2f. 379 72 207, 472 72,1f. 209 72,12 317 73 333 78 485, 492 78,2–4 58 78,3–5 131 82,1–7 399 86,13 384 88,4–6 376 88,11 460 89 472 89,20–38 471 89,39–46 471 90 494 90,10 389 93 93, 182 94,16f. 359 96,2–5 401 102,5.12 26 102,26–28 493 103 442, 490, 492, 497–498 104 302, 310, 399, 432–434 104,21 310 105–106 485 109,8–10.13 348 110 497 110,1 270 118,22f. 498 121,3f. 459 132,7 424 133 194 136,2–15 404 137 350 137,5 313 139 494 140,5f. 28 144,1 242 148 274 150 275

510 151

Anhang 242, 303

Sprichwörter 1–9 161 1 161 1,1 88 1,7 161 1,20–33 161 5,15–21 325 8 161 8,22–31 177, 497 8,22 435 9,1 161 9,10 161 10,2 341 12,10 306 15,33 161 16,17 311 19,13 326 20,14 338 21,9 326 21,19 326 21,21 334 22,17–23,11 29 22,17 29 22,19.23 29 22,22 29 23,10f. 29 23,31 309 25,21 335 26 343 26,14 338 26,18–26 342 26,27 334, 341–342 27,15 326 30 162 31,1.10–29 338 31,10–31 192, 324 31,11 326 31,23 326 31,26 161 31,28 326 31,30 161 31,31 326 Kohelet 1 97 1,1 88 3,1–9 466 3,10–11 494 3,11 466 3,18–21 308

3,19–21 306 5,1 167 5,19 165 7,11 167 8,6f. 167 9,4–6 387 9,9 325 9,12 27 10 339 10,8 338 10,9 338 10,10 338 12,1 166 Hoheslied 1,1 88 1,15 308 4,12 167 4,16 168 8,6 307 Weisheit 1,13–16 388 3–4 388 3,16 320 Sirach 11,5–28 382 25,22 326 44–50 111 47,7 237 47,10 274 51,23 91 Jesaja Jes 487 1–11(*) 150 1,1 88 1,3 310 1,10–17 274 1,17 349 1,21–26 474 2–6* 151 2,1–5 359 2,2–4 475 2,3f. 235 2,4 233 2,12–17 468–469 5,23 222 6 411 6,1–8,18 149 7,9 82

7,14–16 471 7,14 82 8,16–18 146 8,16 80 9,1–6 471 10,1–2 222 10,2 222 11 359, 471, 496 11,1–10 471 14,9–20 386 19 25, 265 19,9 223 19,23–25 236 22,1–14 469 22,9–11 224 23 327 24–27 172, 477 25f. 496 25,8 245 26,7–21 477 28–32* 150 29,14 454 29,21 222 30,8 78, 146 30,9 418 32,1–5 472 40–55 488 40,1–52,10 153 40,1–11 488 40,6–8 308 40,21–28 425 42,14 329 43,10f. 497 43,10 401, 493 43,18f. 313 44,24 401 45,1–3 426 45,1 25 45,5–7 401 45,6f. 171 45,7f. 426 45,7 493 49,5 209 50,1f. 328 51,11 475 52,13–53,12 287, 379 53,2–6 369 53,7–10 368 53,10 370 54,6–8 328 54,7–10 449, 489 54,16 223

511

Register 55,3–5 472, 475 56,1–7 108 56,1 411 58–59 493 60,19 24 62,1–5 328 62,10–12 154 65–66 97, 484 65f. 494, 496 65,17–25 382 66,1f. 328 66,9–13 329 Jeremia Jer 487 1,1 88 1,5 209 2 168 2,20 80 3,1–10 328 3,8 328 7 274 7,1–15 279 8,18f. 463 10,11 76 14,17 463 18 490 18,2–4 223 18,18–23 344 22,18f 151 24,1–10 416 28 419 29,2 225 31 496 31,20 307 31,27–34 491 31,35–37 491 32,6–15 195 32,17 453 32,27 453 32,40 491 36 77, 88, 146 36,4 79 36,12 91 36,32 88–89 40–42 208 40,6 49 44,22 49 52,16 226

Klagelieder 2 439 2,21 469 3,57 299 5,7 459 Baruch 2,35 57 3,9–4,4 108 Ezechiel 1 416 3,2 77 7 468–469 11,19–20 491 14,12–23 163 16 168 16,8–14 328 16,23 325 18 171, 381 20,25 491 23 168 23,10 325 23,22–31 328 23,48 325 27,17 225 32,17–32 386 33,21–29 153 33,27f. 226 36,25–27 367 36,26f. 491 36,26 312, 491 37 387 37,1–14 477 38,17; 39,8 467 40–47 256 40 416 Daniel 2–7 77 2 414 3–6 172 4 414 7 382, 400, 414 7,13f. 173 7,13 173 8–12 465, 477 9,27 24 11,31 24 12,2 173 12,11 24

Hosea Hos 222, 487 2 168 2,1–15 328 2,6f. 222 2,20–25 328 3,4 280 4,12 80, 417 7,11 307 8,5f. 488 8,14 214 10,5f. 488 11 311, 444 11,1–9 307 11,8f. 57, 444, 461 11,9 328 12 108 13,4 410 Joël 1,2–2,17 470 2,18–4,21 470 3,1 470 4,9f. 470 4,12 233 Amos Am 487 1–2 235 2,7 222 3,15 223 4,1–3 148 4,1f. 222 4,1 215, 222 4,4–5 279–280 4,7 216 4,13f 222 5,6 147 5,7.10 222 5,8 398 5,11 222 5,18–20 468 5,21–25 279–280 5,21–24 274 5,22 278 5,23 267 7f. 146 7,13 267 8,2 147, 469 8,4–6 222 11,8–11 149

512

Anhang

Jona Jona 446 1,9 398, 406 2,1 47

Maleachi 1,11 279 3,8.10 273 Matthäus 1 495 1,23 82 2,2 408 7,12 335 21,42 498 27,46 72

Micha 1,14 328 3,9–12 474 3,9.11 222 3,10 222 3,12 149 4,1–4 475 4,1–3 359 4,3 233 7,1–7 192 7,4 101 Habakuk 1 379 2,2 78 3 454 Haggai 2,19.20–23*

1 Korinther 1–2 500 8,6 497 8,6b 497 15 499 15,28 500 16,22 72

154

Sacharja 3 278 8,6 453 8,9–13 154 9,9 462 13,4 418 14 470 14,9 494 14,11 243

2 Korinther 12,9 464

Lukas 10 268

Epheser 1,20–23 498

Johannes 1 495, 497 1,3.10 497 5,2 72 19,17 72

Philipper 2,9–11 498 Kolosser 1,15–17 497

Apostelgeschichte 2,25–28 161 4,11 498 19,9 91 Römer 4 497 5 499 7 499 8 497 8,34f. 498 9,4–6 56 11 481 11,1–2 56 11,36 500

Hebräer 1,2 497 Judas 8,1–8 321 13,6 101 16,22 321 Offenbarung 3,14 497 21 500

Namen und Sachen Aaron 127 Abgaben 273 Abraham 47 Abstammung 187 Absurdes 165 Achiqar 30 Adam 498 ADEMNES 42 Adonaj 85 Ahas 49 al-Yaḫūdu-Texte 49 Alexandria 21

allegorische Interpretation 167 Allmacht 451 Allmachtsparadox 452 Alltagskultur 26 Alphabet 75 Alt, Albrecht 41 Altar 250, 252, 254, 257, 259 Alter 389 Altersvorsorge 320 Amenemope 29 Amos 398–399 Anat-Betel 265

513

Register Annalen 133 Anthropologie 486, 489–491, 498 Anthropomorphismen 439 Antiochus IV. Epiphanes 265, 271 Apokalyptik 237, 465, 476 apokalyptisch 172 Apokryphen 60–61, 65, 81 Aramäisch 76 Arbeit 323–324 Arbeitskräfte 218, 220–222, 224 Arbeitsteilung 189–190 Archäologie 54 Archäologie Palästinas 33 Aristeasbrief 81, 109 Arme 349 Asasel 270, 285 Ascham 283 assyrische Krise 467 Ätiologie 318 Atramḫasis-Epos 48 Aufbau der christlichen Bibel 129 Auferstehung 173, 387, 477 Auferweckung 499 Auseinandersetzungsliteratur 163–164 Autonomie 174 axis mundi 424, 427 Baal 397, 460 Babel-Bibel-Streit 22 babylonische Theodizee 30 Babylonischer Talmud 108, 112 Bäcker 223 Bagohi 265 Bann 242 barmherzig 442 Barmherzigkeit 481, 486–487, 489–490, 492, 499–500 Baruch ben Nerija 79 Baum der Erkenntnis 388 Baum des Lebens 388 Beamtenlisten 134 Bedürftigkeit 306 Beerscheba 250 Bekenntnis der Schuld 364 bellum iustum 238 Benjamin, Walter 53 Bericht 48 Beschneidung 126 Beschwörung 407 Bestattung 385 Bet-El 249–251, 255–256 Bezirksstadt 222 biblische Anthropologie 305

biblische Archäologie 32 biblische Geschichtsschreibung 137 biblische Theologie 67, 69–70 Bild Gottes 429–430 Bilderverbot 396, 487–488 Bileam-Inschrift 79 Bittpsalmen 158 Blut 281–285, 287 Blutgenuss 282 Blutopfer 282, 287 Blutritus 372–374, 376 Böses 499 Brandopfer 280, 282–283 Brandopferaltar 282, 284 Brotopfer 283 Bruderethos 178 Bruderkriege 231 Buße 276 Bund 123, 341, 410 Bundesbruch 488–489 Bundesbuch 122, 341 Bundeslade 126 Bundesschluss 489 Bürgerstaat 209–210 Bürger-Tempel-Gemeinde 212 Byblos 78 carpe diem 30 Chanukka 271 Chaos 381 Chattat 283 Chnum 265 christlich-jüdischer Dialog 68 Christologie 160 Christus 482, 494, 496–499 chronistisches Geschichtswerk 135, 137 Chronologie 52 corporate personality 174 creatio ex nihilo 428 Dan 255–256 Dankopfer 283 Dankpsalmen 158 David 48, 160, 239–241 Davidhausgeschichte 134 Davidverheißung 472 Dekalog 89, 341, 404, 487 Delitzsch, Friedrich 22 demokratisch 202 Denkschrift 149 deus absconditus 460 Deuterojesaja 401, 424–427, 488 deuterokanonisch 60, 81 Deuteronomismus 182

514 deuteronomistisches Geschichtswerk 137, 239 Deuteronomium 118, 123, 178, 333 Deutscher Palästina Verein 41 Diaspora 170 Dogmatik 483 Dorf 214, 217–219, 221, 223, 226 Dörfer 214 Dumuzi 27 Dyadismus 184 Dynastie 207 Dynastie Davids 471 Ebenbildlichkeit 310 Echnaton 91 Efod 417 Ehe 187, 317–322, 325–326, 328 Eheschließung 24 eifersüchtig 395 Eingeweideschau 408 Ekstase 416 El Schaddaj 125, 452 Elephantine 78, 259, 265 Elija 145, 462 Eliminationsritus 286 Elischa 145 Elohîm 120 Eltern 351 Ende der Prophetie 156 Endtext 484 Engel 81, 414, 498 Entmythologisierung 482 Entsündigung 284 Enuma Anu Enlil 103 Enuma Elisch 21 Epen 133 Erbarmer 489 Erfahrung 482 Erinnerung 312 Erinnerungskultur 130, 132–133 Erkenntnis 493 Eroberungskriege 231 Ersatzkönig 408, 412 Erwählung 56 Erwählung (Israels) 481 Erzählung 46 Erzelterngeschichte 116 Erziehung 381 Eschatologie 465, 468, 483 eschatologisches Schema 470 Etheria 35 Ethik 28 Eusebius von Caesarea 34

Anhang 135,

ewige Dynastie 471 ewiges Leben 305 Exil 313, 488 Exodus 48, 52, 57 Exodusbuch 117 Exodusgott 391–392, 403–404 Ezechielbuch 490 Fakt und Fiktion 139 falsche Prophetie 418 Familie 218, 220, 222, 226 Familienhaushalt 219 Fehlbarkeit 498 Feinde 343, 379 Fernhandel 221–222, 225 Festkalender 118 Fisher, Clarence Stanley 37 Flavius Josephus 48, 88, 111, 130 Flinders Petrie, William Matthew 36 Fluch 348 Fortschreibung 484, 495–496 Frau Torheit 30 Frau Weisheit 30 Frauen 169, 188, 307, 315, 323 Freiheit 312 Freude 165 Freundlichkeit Jhwhs 415 Frevler 481, 493 Friedensreich 236 Frömmigkeit 310 Fundamentalismus 47, 55 Fürbitte 286, 295, 361, 448 Garizim 256, 258, 260, 264 Gartenmetaphorik 167 Gattung 144 Gebet 271, 297 Gebet eines Einzelnen 343 Gebetsformulare 299 Gebetsgesten 292 Gebetshaltungen 293 Gebetssituationen 296 Gebetstheologie 291 Gebot 491 Geburt 309, 366 Gegenbilder zur Gewalt 359 Gegenwartskritik 147 Gehöft 214, 223, 226 Geist 366, 368, 386 Geist Jhwhs 414 geistliche Gedichte 301 Geldwirtschaft 223 Gelübde 283 Gemeinschaft 309

Register Genealogien 133, 187, 198 Generalbewahrheitung 150 Gerechte 481, 492–493 Gerechtigkeit 177, 334–335, 343 Gerechtigkeit (Gottes) 382, 481, 489, 492–494, 499–500 Gericht 469, 490 Gericht und Heil 474, 476 Gerichtsankündigung 470 Gerichtsprophetie 145, 467, 487 Geschichte 50, 482, 485, 487–488, 496, 498–499 Geschichtsbewusstsein 130, 132 Geschichtsbücher 128, 130 Geschichtsdeutung 130 Geschichtspsalmen 485 Geschichtsschreibung 47, 130, 133, 138–139 Geschichtstheologie 57, 95, 153, 173 Geschichtswerke 135 Geschichtswissenschaft 131, 137 Geschlechterrollen 357 Geschlechterverhältnis 316–318, 322, 326–328 Geschlechtlichkeit 309 Gesellschaft 214, 222, 225, 227 Gesellschaftskritik 149 Gesetz 337 Gesetzgebung 202–203 Gesicht Jhwhs 415 Gewalt 326–328 Gezer Kalender 175 Gilgamesch-Epos 21, 48 Glaube 406 Glück 165–166 Gnade 335, 343, 487, 489 Gnadenformel 441, 446, 481, 487, 489–490, 492 gnädig 442 Gola 95 Gott 391, 442, 461, 492 Gott als Frau 463 Gottebenbildlichkeit 309 Gottes- und Nächstenliebe 162 Gottesbild 328–329 Gotteserkenntnis 148, 494 Gottesknecht 171, 287 Gottesknechtslieder 463 Gottesname 410, 485 Gräuel der Verwüstung 24 Guerillakrieg 231 Gussopfer 281 Güte 415, 438

515 Handaufstemmung 284 Handel 220, 223, 225, 227 Handelsbeziehung 219, 222 Harfnerlieder 30 Hass 438 Hauptstadt 221–223 Haus 187, 189–191, 193 Haushalt 219 Haushaltshandwerk 218–219 Haushaltswirtschaft 219 Hebräisch 73–75 Heerführer Jhwhs 414 Heil 488, 491, 496, 498–499 Heilige Schrift 107 Heiliger Krieg 232 Heiligkeit 278, 445 Heiligkeitsgesetz 124, 341 Heiligtum 266 Heilserwartung 469–470 Heilsgeschichte 56, 404 Heilsperspektive 152 Heilsprophetie 467 Herbstfest 269 Hermeneutik 68–70, 495–496 Herodot 134, 138 Herrlichkeit 117, 415 Herrschaft 313 Herz 307, 342, 366, 368 Heterosexualität 322 Heterotopie 179 Hexateuchkomposition 126 High and Low Chronology 43 Himmelsgott 391, 397, 403–404 Hiob 380, 383, 399, 454, 492 Hiskija 79 historische Zuverlässigkeit 139 Historizität 52 Hoffnung 171, 465–466, 468, 472–473 Höfisches Erzählwerk 134 Höhen 266 Hoherpriester 212 Holocaust 458 holokautoma 282 Homosexualität 322 Horeb 250–251 Hosea 80, 396 Hymnen 158, 300 Identität 58, 482, 485, 487, 494, 497, 499 Individualität 174 Inkarnation 57 innerbiblische Schriftauslegung 97 Inschrift von Tel Dan 48

516 Inthronisierung 270 Ipu-wer 30 Irenäus von Lyon 130 Ischtar 27 Israel und die Völker 494 Israelerinnerung 69 ius ad bellum 238 ius in bello 238 Jagd 26 Jahresfeste 182 Jahwe-allein-Bewegung 396 Jahwistisches Erzählwerk 134 Jakob 52 Jehowa 85 Jenseits 389 Jeremiabuch 490 Jerobeam 49 Jerusalem 48, 249, 253–261 Jesus Sirach 87 Jhwh Zebā’ôt 453 Jhwh-Furcht 161 Jhwh-Königs-Lieder 454 Jhwhs Herrlichkeit 152 Jhwhs Reue 149 Jobel-Jahr 124 Jom Kippur 284–285 Jona 456 Joschija 397, 405 Judenfeindschaft 170 Judenverfolgung 169 jüdisch-christlicher Dialog 67, 70 jüdischer Kanon 129 Kain und Abel 456 Kanon 59–62, 64–66, 479–480, 484, 495, 499–500 kapporæt 372–373, 376 Katastrophe 489 Kenyon, Kathleen 38 Keramik 38 Kerubenthroner 374 Kinder 350 Kinderopfer 353 Klage 171, 455 Klage- und Bittgebete 343 Klagegebete 298 Klagelieder 458 Klagepsalmen 158, 379 Klerus 267 Kohelet 87, 382, 457 kollektives Gedächtnis 23 Kollektivschuld 491 Kommunikation 311, 407

Anhang Kommunikation zwischen Mensch und Gott 290 Kommunikationsformen 290 Konfessionen Jeremias 455 König 457 Königin von Saba 47 königliche Annalen 136 königlich-messianische Perspektive 169 Königreich 183 Königsideologie 201 Königskritik 151 Königspsalmen 159 Königstravestie 165–166 Königszeit 91, 94 Konstruktion 51, 53 Körper 307 Körpersymbolik 307 Kosmologie 497 Kosmos 310 Krankheit 27 Kriegskritik 235 Krise der Weisheit 28 Kritische Weisheit 492 Krongüter 223 Kult 181, 248–249, 251, 253, 260, 337, 423, 426–427, 431, 433 Kultfähigkeit 323 Kulthöhe 281 Kultkalender 268 Kultkritik 148, 279 Kultmusik 264 Kultpsalm 423, 427, 432 kulturelles Gedächtnis 426 Kultzentralisation 280 Kuntilet Ajrud 250 Kyros 25 Kyrosedikt 77 Lachisch 41 Lade 234, 252, 255 Landnahme 48 Landschaft Palästinas 33 Landstadt 220–223 Landverheißung 122 Landwirtschaft 216, 218–221, 223, 225–227 Leben 453 Lebensbuch 303 Lebenslehre 161 Legende 48 Leid 164, 371, 378, 452, 463 Leiden Gottes 378 leidender Gerechter 30 Leidenspädagogik Gottes 164

517

Register Leontopolis 259, 265 Lessing, Gotthold Ephraim 53 Leviratsehe 168 Leviten 169, 258, 261, 267–268, 278, 321, 396 Levitikusbuch 118 Liebe 307, 325–326, 406, 437, 453, 461, 489, 500 Liebeslied 167 Literaturgeschichte 88–90, 92–94, 98 Lobaufruf 300 Löser 489, 492 Losorakel 417 ludlul bel nemeqi 30 Lüge 414 Lügengeist 410, 412, 418 Luther, Martin 72 Maʻat 335 Madebakarte 35 Makkabäerbücher 135 Mamre 250 Manasse 49 Markt 220, 223–224 Marktwirtschaft 214, 221 Masora 85 Maximalisten 54 Mazzot 269, 281 Mehrsprachigkeit 20 Menschensohn 173 Merenptah 24 Mescha-Inschrift 49 Mescha-Stele 78 Messias 471, 473 Messiaserwartung 462 Metaphorik 26, 328–329 Midrasch 60, 63, 67, 69 Mincha 277, 280–281 Minimalisten 54 Mirjamlied 295 Mischehe 169 Mischna 63, 66–67, 107 Monarchie 206 Monokultur 223–224 Monolatrie 393, 396, 403, 406 Monolith-Inschrift Salmanassars III. 49 Monotheismus 22, 90, 171, 393, 403, 486, 494, 496–497, 499 Mord 355 Mose 87–89, 117, 488–489 mündliche Erinnerungskultur 133 mündliche Kommunikation 131 Muraššû-Archiv 49

Musiker 268 Mythos 48, 482–483 naepaeš 27, 306 Name Gottes 497 Natur 498 Naturalwirtschaft 223 Neuer Bund 491 neuer David 473 Neues Testament 61, 63, 66–67 Neujahrsfest 269 Neumond 271 Neuschöpfung 366–368, 491 nichtsprachlich 290 Nihilismus 166 Noah 488–489 Normativität 99, 483, 500 Noth, Martin 41 Numeribuch 118, 125 Offenbarung 57, 407, 481, 498 Omriden 49 Onias IV 265 Opfer 249, 254, 257, 260, 277, 280, 286 Opfer der Lippen 287 Opferordnung 281 Opferschau 408 Opfersequenz 281 Orakel 413 Ordnung 381 Organisation 215, 217–220, 223 Ostraka 78 Palestine Exploration Fund 36 Panbabylonismus 22 Papyrus 77–78 Papyrus Chester Beatty 4 102 Parallelismus membrorum 158 pater familias 266 patriarchal 316, 318–319, 322, 327 Patrilokalität 187 Pazifizierung 245 Pentateuch 115 Pentateuchkritik 201 Pesach 269, 272, 278, 281, 283, 287 Pesach-Lamm 281 Philo von Alexandrien 111, 496 Pilgerwesen 34 Pithos 218–219 Polemik gegen Kriege 244 Polis 209 Politik 200 Prädestination 411 präexistente Weisheit 497 Präexistenz 497

518 Priester 249, 254, 258, 261, 278–279, 287 Priesterschrift 123, 180 priesterschriftliche Grunderzählung 122 Priestersegen 278 Privatreligion 280 Privilegrecht 341 Prophet 487 Propheten 107, 144, 458 Prophetenbuch 144, 152 Prophetenethos 418 Prophetentypen 143 Prophetie 143, 145, 332, 337, 344 Prosaerzählung 131, 133 Provinz Jehud 183 Provinzstadt 221–222 Prüfung des Frommen 164 Psalmen 181, 302 Psalter 181, 303, 343 Purimfest 170 Qorban 278 Qumran 78, 89, 108–109, 484 rabbinische Literatur 63 rabbinisches Judentum 66 Radiokohlenstoffmethode, 14C- 43 Ranke, Leopold von 53 Räuchern 281 Räucheropfer 281, 283 Recht 332, 337, 339–341 Recht und Gerechtigkeit 201, 206 Rechtstexte 356 Rehabeam 49 rein 278, 365, 367 Reinigung 365 Reisner, George Andrew 37 Religionsgeschichte 484 Religionskriege 237 Rettung 485, 492 Rettung Israels 371 Rettungstat(en) 482, 496, 498–499 Reue Gottes 443, 447, 461, 487, 490 rewritten Bible 495 Robinson, Edward 36 säbach schelamîm 280 Sabbat 124, 269, 271 Salomo 47 Samaritaner 269 Sänger 268 Satan 380 Saul 457 Schabuot 269 Schaden 361 Schalom 177

Anhang Schechina 278 Scheidung 321–322 Schelem 280 schicksalwirkende Tatsphäre 334 Schilo 252–253 Schlachtfest 280 Schlachtopfer 280 Schlachtopferfest 279 Schlaf Gottes 459 Schönheit 308 Schöpfer 486–487, 489–492, 497–500 Schöpfergott 490 Schöpfung 24, 56, 421–423, 425, 427–428, 430–433, 436, 455, 483, 486, 489, 491, 497, 499 Schöpfung aus dem Nichts 497 Schöpfungsbericht 429 Schöpfungstexte 316 Schöpfungstheologie 421–422, 433–435, 486, 488, 490, 494, 499 Schreiber 90–91 Schrift 60 Schriftauslegung 61 Schriftprophetie 144 Schriftrolle 77 Schuld 164, 171, 287, 311, 361–362, 486–487, 492 Schuldannahme 376 Schuldopfer 283 Schuldsklaverei 191, 195 Schuldtilgung 368–369 Schuldverdrängung 376 Schutz des Schwachen 29 Schutzrechte 123 Seele 306, 386 Seevölkergruppen 20 Segen 126 segmentäre Gesellschaft 205 segmentärer Staat 205 Selbstverpflichtung Gottes 449 Selbstvorstellung Jhwhs 409 Septuaginta 20, 82, 109, 495 sexualisierte Gewalt 351 Sichem 250, 258 Siedlung 193, 217–218, 220–221, 224, 226 Siedlungsstruktur 217, 220–221, 223 Siloah-Inschrift 79 Sinai 250–251, 258, 489 Sinaierzählung 341 Sinaiperikope 487–488 Sintflut 48, 450, 486–489, 491, 493 Sippe 183

Register Sirachbuch 110 Sohn Gottes 207 Sonne 401 sozialer Frieden 358 sozialer Tod 348 Sozialisation 323, 325 Sozialkritik 147, 149 Speisopfer 281, 283 Sprechen 297 Sprechrichtungswechsel 302 Staat 217, 220–221, 223, 225, 266, 392 Staatlichkeit 89, 93 Staatsheiligtum 267 Stammesbewusstsein 198 Stammesüberlieferungen 198 Stämmeverband 210 stellvertretende Lebenshingabe 370 stellvertretendes Leiden 286 Stellvertretung 286–287, 369–370 Sterben 384 Sternkunde 407 Steuern 227 Stierbild 488 Stierkalb 393 stilles Beten 294 Stimmungsumschwung 272, 298 Strafe 276, 287, 492 Stratigraphie 37 Subsistenz 218 Subsistenzwirtschaft 214, 226 Sühne 276, 282, 284, 286–287 Sühnehandlung 284, 287 Sühneleistung 287 Sünde 362, 365 Sündenbekenntnis 285, 364 Sündenbock 284–287, 373, 375 Sündenfall 389 Sünder 367 Sündopfer 283–284 Synagoge 260–261 Systematische Theologie 483 Tag Jhwhs 468 talio 123 Talmud 60, 63, 66–67 Tamid 282 Targum 63, 69, 82 Täter und Opfer 363 Tel Dan Inschrift 78 Tel Rehov 44 Teleologie 56 Tell el-Hesi 37 Tempel 423–425, 431, 433

519 Tempelbank 267 Tempelbau 53 Tempelrolle 260 Tempelstaat 211 Tempelzerstörung 62–63, 66, 170 Terrasse 218–220, 223 Tetragramm 485 Teufel 389 Texte aus al-Yaḫūdu 50 Texte aus Elephantine 50 Theodizee 30, 492 Theologie des Betens 291 Theologisierung der Weisheit 30 Theophanie 282, 412 Thermolumineszenzdatierung 43 Thot 82 Thronbesteigungsfest 270 Thronbesteigungspsalmen 270 Thronfolgeerzählung Davids 134 Tier 308 Tierfrieden 233 Tiertötung 355 Tod 26, 307, 460 Todesstrafe 354 Tora 60, 62–63, 66, 69, 105, 108, 115, 144, 412 Tora und Propheten 144 Totenbeschwörung 387, 413 Totenklage 147, 385 Totenkult 386 Totenreich 384, 386 Tradition 496 Traditionsliteratur 87, 97 Tragen der Schuld 368 Trauerriten 385 Traumdeutung 414 Träume 413 Tun-Ergehen-Zusammenhang 28, 162, 177, 332–336, 341, 344, 380 Überschuldung 191 Überwindung der Gewalt 245 Umkehr 146, 446–447, 488, 490 unrein 278, 365 Untergang Jerusalems 488 Unterwelt 26, 386 Unvergänglichkeit 389 Urbanisierung 220 Urgeschichte 116, 486–487, 498 Urkundenhypothese 120 Ursprung 481 Ursprungserzählung 498 Ursprungsgeschichten 133

520 Vater 497 verbale Gewalt 347 Verbrennung 283 Verfassung 203, 211 Vergänglichkeit 308, 498 Vergebung 442, 449 Vergeltung 276, 359 Vergeltungsdogma 332, 341 Verhältnis der Geschlechter 189 Verheißungen 466 Versöhnung 277, 284, 362 Versöhnungstag 269, 284 Verteidigungskriege 231 Vertrauen 492 Vertrauenserfahrungen 298 Verwaltung 222–225, 227 Verwandtschaft 193, 199, 222, 225–226 Verzweiflung 492 Vetus Latina 65, 82–83 via maris 20, 34 virtueller Kult 274 Vogelfang 26 Volk Jhwhs 234 Völker- und Weltgerichtstexte 155 Völkerkampf 470 Völkerwallfahrt 475 Völker(welt) 481 Volksklagelieder 159 Vulgata 65–66, 82–83 Wahrheit 51, 56, 335 Wahrsager 419 Wallfahrt 252 Wallfahrtsfest 281 Warren, Charles 36 Wasser 215–216, 221 Wassermanagement 221, 223

Anhang Wassersystem 224–225 Wasserversorgung 218, 221 Weihrauch 281 Weisheit 23, 28, 176, 331–332, 336–341, 343 Weisheit und Gesetz 30 Weisheitstraditionen 312 Weissagungsbeweis 153 Wellhausen, Julius 54 Weltbild 21, 29 Weltordnung 493 Wesen Gottes 447 Wiederherstellung 475 Wirklichkeitsverständnis 384 Witwe 320–321 Wochenfest 269 Wolff, Hans Walter 305 Wunder 418, 453 Zauberer 419 Zehn Gebote 412 Zehnter 273 Zeichen 419 Zeichendeuter 408 Zeit 465 Zeitverständnis 465–466 Zelt 253, 256 Zerstörung Jerusalems 149, 490 Zeus Olympios 173 Zion 470, 472–473, 475 Zionspsalmen 159 Zionstheologie 473 Zorn 481, 489, 492 Zorn Gottes 344, 438 Zukunft 485, 488, 491 Zukunftserwartung 465, 496 zwölf Stämme 196–197 Zwölfstämmesystem 52

Die AutorInnen Reinhard Achenbach, geb. 1957. Promotion in Göttingen 1989, Habilitation in München 2001. 1986–1991 Kirchlicher Dienst in Namibia und Deutschland, 1992–1994 Dozent für Biblische Theologie in Indonesien, 1995–1996 Repetent der EKHN an der Universität Mainz, 1996–2005 Dozent für Hebräisch an der LMU München. Seit 2006 Professor für Altes Testament an der WWU Münster. Angelika Berlejung, geb. 1961. 1997 Promotion in Heidelberg. 1999–2004 Professorin für Sprachen und Kulturen Syriens und Palästinas an der Katholieke Universiteit Leuven/Belgien. Seit 2004 Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaft: Geschichte

Die AutorInnen

521

und Religionsgeschichte Israels und seine Nachbarn an der Universität Leipzig. Seit 2009 Professor extraordinaire (Ancient Near Eastern Studies) an der Faculty of Arts der Universität Stellenbosch/Südafrika. Seit 2017 Visiting Full Professor (Dept. Archaeology) der Bar Ilan University/Israel. Walter Dietrich, geb. 1944. Dr. theol. in Münster/Westf. 1971; Habilitation für Altes Testament in Göttingen 1975. Wiss. Assistent in Göttingen; Pfarrer in Dassel; Professor für Altes Testament in Oldenburg. Seit 1986 Professor für Altes Testament in Bern, jetzt emeritiert. Dr. theol. h. c. in Klausenburg 1998, in Helsinki 2005. Beate Ego, geb. 1958. 1987 Promotion, 1994 Habilitation in Tübingen. 1998–2010 Professur für »Altes Testament und Antikes Judentum« an der Universität Osnabrück, seit 2010 Lehrstuhl für »Exegese und Theologie des Alten Testaments« an der Universität Bochum. Irmtraud Fischer, geb. 1957. Promotion 1988, Habilitation 1993 in Graz. 1993–97 a. o. Prof. in Graz. 1997–2004 Professorin für Altes Testament und Theologische Frauenforschung an der Universität Bonn. Seit 2004 Prof. für alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Graz, 2007–11 Vizerektorin für Forschung an der Uni Graz. Gastprofessuren in Bamberg, Wien, Jerusalem und Rom; 2017 Dr. h. c. Uni Gießen. Christian Frevel, geb. 1962. Dr. theol. Bonn 1994, Habilitation Bonn 1998. 2000 Professor für Biblische Theologie an der Universität Köln, seit 2004 Professor für Altes Testament an der Universität Bochum, seit 2015 auch Extraordinary Professor am Department for Old Testament, University of Pretoria. Sebastian Grätz, geb. 1964. Promotion in Kiel 1998, Habilitation in Bonn 2003. Seit 2008 Universitätsprofessor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz. Friedhelm Hartenstein, geb. 1960. Promotion in München 1997, Habilitation in Marburg 2001. 2002–2010 Professor für Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte an der Universität Hamburg. Seit 2010 Professor für Theologie des Alten Testaments und Religionsgeschichte Israels in ihrem altorientalischen Kontext an der Universität München. Bernd Janowski, geb. 1943. Dr. theol. in Tübingen 1980; Habilitation für Altes Testament in Tübingen 1984. Professor für Altes Testament in Hamburg (1986–1991), in Heidelberg (1991–1995) und seit 1995 in Tübingen, seit 2011 emeritiert. Seit 1996 Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Jörg Jeremias, geb. 1939. Promotion Bonn 1964, Habil. Heidelberg 1969. 1972–1994 Prof. für Altes Testament an der Universität München, 1994–2005 an der Universität Marburg. Ehrendoktor von Klausenburg/Cluj (Rumänien).

522

Anhang

Rainer Kessler, geb. 1944. 1972 Promotion zum Dr. theol. in Heidelberg, 1991 Habilitation für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld. Pfarrer, seit 1993 Professor für Altes Testament an der Universität Marburg. Seit 2010 im Ruhestand. Johannes Klein, geb. 1969. Promotion in Bern 2001, Habilitation dort 2011. Seit 1996 Evangelischer Pfarrer in Fogarasch (Rumänien), Seit 2011 Privatdozent für Altes Testament an der Universität Bern und Dozent an der deutschsprachigen lutherischen Fakultät in Sibiu/Hermannstadt (Rumänien). Melanie Köhlmoos, geb. 1966. Promotion 1998 im Hamburg, Habilitation 2005 in Göttingen. Seit 2010 Professur für Altes Testament in Frankfurt. Thomas Krüger, geb. 1959. Promotion München 1986, Habilitation München 1991. Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich seit 1992. Bernhard Lang, geb. 1946. Dr. theol. Tübingen 1975; Habilitation Freiburg 1977. Professor für antikes Judentum in Tübingen 1977–1983. Professor für Altes Testament in Mainz 1983–1985, in Paderborn 1985–2011. Professor for Old Testament and Religious Studies in St. Andrews (Schottland) 1999–2003. Seit 2011 emeritiert. 2008 Dr. theol. h. c. der Universität Aarhus, Dänemark, dort seit 2010 Honorarprofessor an der Fakultät für Kultur und Gesellschaft. Martin Leuenberger, geb. 1973. 2003 in Zürich promoviert, dort 2007 habilitiert. Nach einer Professur in Münster (2008–2012) seit 2012 Professor für Altes Testament an der Ev.-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Hans-Peter Mathys, geb. 1951. Promotion 1983 in Bern, Pfarrer in Saignelégier bis 1985. Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds von 1985–1988 (Göttingen, Jerusalem), danach bis 1991 Pfarrer in Porrentruy. 1990 Habilitation in Bern. 1991–1997 Extraordinarius für Altes Testament in Heidelberg, 1997–2017 Ordinarius für Altes Testament und Semitische Sprachwissenschaft in Basel. Thomas Naumann, geb. 1958. Promotion 1987 in Halle/Saale, Habilitation 1996 in Bern. seit 1997 Professor für Biblische Theologie und Biblische Exegese (Altes Testament) an der Universität Siegen. Ed Noort, geb. 1944. Dr. theol. Göttingen 1975, Professorate für Altes Testament, Religionsgeschichte und materielle Kultur Palästinas in Kampen (Niederlande) 1979–1989, Hamburg 1989–1993 und Groningen (Niederlande) 1993–2011. Seit 2012 Vizepräsident der Europäischen Föderation der Akademien der Wissenschaft. Manfred Oeming, geb. 1955. Promotion 1984 in Bonn, dort 1989 Habilitation. 1993–1996 Professor für Altes Testament und Antikes Judentum an der Universität

Die AutorInnen

523

Osnabrück, seit 1996 Ordinarius für alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Jürgen van Oorschot, geb. 1957. 1986 Promotion zum Dr. theol.; 1988 Ordination; 1991 Habilitation. 1995–2006 Professor für Altes Testament an der Universität Jena; seit 2006 ordentlicher Professor für Altes Testament an der Universität ErlangenNürnberg; seit 2014 Leitung (mit Andreas Wagner) der Projektgruppe »Anthropologie Altes Testament« im Rahmen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh). Wolfgang Oswald, geb. 1958. Promotion in Zürich 1998, Habilitation 2006 in Tübingen. Seit 2010 außerplanmäßiger Professor für Altes Testament und Dozent für besondere Aufgaben in der alttestamentlichen Lehre und Forschung an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Martin Rösel, geb. 1961. Promotion in Hamburg 1993, Habilitation in Hamburg 1993. Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Altes Testament und Altorientalische Religionsgeschichte (Klaus Koch), Hamburg 1988–1992; seit 1993 Akademischer Oberrat für Hebräisch, Altes Testament und Altorientalische Religionsgeschichte an der Universität Rostock. Christa Schäfer-Lichtenberger, geb. 1948. Promotion zum Dr. theol. 1980 in Heidelberg, Berufstätigkeit als Diplompsychologin, Pfarrerin und wiss. Mitarbeiterin 1975–1989. DFG-Stipendiatin 1989–1992, Habilitation 1992 in Heidelberg. Professorin für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel (2009 Wuppertal/ Bethel) 1993 bis 2013. Seit 2013 Emerita. Konrad Schmid, geb. 1965. Promotion in Zürich 1996, Habilitation in Zürich 1998. 1999–2002 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Seit 2002 Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich. Johannes Schnocks, geb. 1967. 2002 in Bonn zum Dr. theol. promoviert, dort 2008 habilitiert. Nach Tätigkeit als Projektleiter im Exzellenzcluster »Religion und Politik« in Münster seit 2012 Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Alten Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Silvia Schroer, geb. 1958. Promotion 1986 in Fribourg, 1989 Habilitation daselbst. 1987–1992 Leiterin des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks, Lehraufträge an zahlreichen Fakultäten im deutschsprachigen Raum. Seit 1997 Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, seit 2011 Mitglied des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds, ab Sommer 2017 Vizerektorin der Universität Bern.

524

Anhang

Andreas Schüle, geb. 1968. Dr. phil. in Heidelberg, 1998, Dr. theol. in Heidelberg, 2002. Dr. habil. Zürich 2005. 2005–2012 Professor of Old Testament am Union Presbyterian Seminary, Richmond, Virginia; seit 2012 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Universität Leipzig. Extraordinary Professor of Biblical Studies an der University of Stellenbosch, Südafrika. Ludger Schwienhorst-Schönberger, geb. 1957. Promotion in Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster 1989, Habilitation 1992 ebendort. 1993–2007 Professor für Alttestamentliche Exegese und hebräische Sprache an der Universität Passau, seit 2007 Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Andreas Wagner, geb. 1963. Promotion in Mainz 1995, Habilitation in Mainz 2002, Umhabilitation Heidelberg 2004. 1990–2004 Assistent am Seminar für Altes Testament und Biblische Archäologie, FB Ev. Theologie in Mainz. 2004–2008 DFG-Forschungsstipendiat an der theologischen Fakultät Heidelberg, 2009–2013 DFG-Projektleiter am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt. Seit 2009 Prof. für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, 2012 Gastwissenschaftler an der NYU in New York. Ernst-Joachim Waschke, geb. 1949. Promotion in Leipzig 1979, Habilitation in Greifswald 1986. 1988–1990 Hochschuldozent für Altes Testament und Palästinakunde an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald, 1990–2015 Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg. Seit 2008 Vorstandsvorsitzender der Leucorea in Wittenberg, Stiftung des öffentlichen Rechts an der Universität Halle-Wittenberg. Ina Willi-Plein, geb. 1942. Promotion in Tübingen 1970, Habilitation in Basel 1988. 1994–2007 Professorin für Altes Testament in Hamburg. Wolfgang Zwickel geb. 1957. Promotion in Kiel 1988, Habilitation in Kiel 1992. Seit 1998 Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie in Mainz.