Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Innsbruck vom 1. bis 4. Oktober 1980 [Reprint 2012 ed.] 9783110921502, 9783110086140


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German Pages 451 [452] Year 1981

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Table of contents :
Jahrestagung 1980
Erster Beratungsgegenstand: Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen
1. Bericht von Professor Dr. Karl Korinek
Leitsätze des Berichterstatters
2. Mitbericht von Professor Dr. Jörg P. Müller
Leitsätze des Berichterstatters
3. Mitbericht von Professor Dr. Klaus Schlaich
Leitsätze des Berichterstatters
4. Aussprache und Schlußworte
Zweiter Beratungsgegenstand: Besteuerung und Eigentum
1. Bericht von Professor Dr. Paul Kirchhof
Leitsätze des Berichterstatters
2. Mitbericht von Professor Dr. Hans-Herbert v. Arnim
Leitsätze des Berichterstatters
3. Aussprache und Schlußworte
Verzeichnis der Redner
Verzeichnis der Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
Satzung der Vereinigung
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Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Innsbruck vom 1. bis 4. Oktober 1980 [Reprint 2012 ed.]
 9783110921502, 9783110086140

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Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer = = = Heft 39 -

Karl Korinek, Jörg P. Müller und Klaus Schiaich

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

Hans Herbert von Arnim und Paul Kirchhof

Besteuerung und Eigentum

Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Innsbruck vom 1—4. Oktober 1980

W DE 1981

Walter de Gruyter • Berlin · New York

Redaktion: Prof. Dr. Martin Bullinger

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Korinek, Karl Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen / Karl Korinek, Jörg P. Müller u. Klaus Schiaich. Besteuerung und Eigentum / Hans Herbert von Arnim u. Paul Kirchhof. Berichte u. Diskussionen auf d. Tagung d. Vereinigung d. Dt. Staatsrechtslehrer in Innsbruck vom 1.—4. Oktober 1980. — Berlin; New York: de Gruyter 1981. (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer; H. 39) ISBN 3-11-008614-X NE: Müller, Jörg Paul:; Schiaich, Klaus:; Arnim, Hans Herbert von: Besteuerung und Eigentum; Kirchhof, Paul: Besteuerung und Eigentum; Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer: Veröffentlichungen der Vereinigung...

©

Copyright 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., 1 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Limburger Vereinsdruckerei, 6250 Limburg 4 (Offheim) Buchbindearbeiten: Thomas Fuhrmann KG, 1 Berlin 36

Inhalt Seite 5

Jahrestagung 1980 Erster Beratungsgegenstand: Die Verfassungsgerichtsbarkeit

im Gefüge der

Staatsfunktionen

1. Bericht von Professor Dr. Karl Korinek Leitsätze des Berichterstatters

7 51

2. Mitbericht von Professor Dr. Jörg P. Müller Leitsätze des Berichterstatters

53 96

3. Mitbericht von Professor Dr. Klaus Schiaich Leitsätze des Berichterstatters

99 144

4. Aussprache und Schlußworte

147

Zweiter Beratungsgegenstand: Besteuerung

und

Eigentum

1. Bericht von Professor Dr. Paul Kirchhof Leitsätze des Berichterstatters

213 281

2. Mitbericht von Professor Dr. Hans-Herbert v. Arnim . . . Leitsätze des Berichterstatters

286 358

3. Aussprache und Schlußworte

361

Verzeichnis der Redner

425

Verzeichnis der Mitglieder der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

427

Satzung der Vereinigung

449

Jahrestagung 1980 Nach Wien (1958) und Salzburg (1972) war dieses Mal Innsbruck als Tagungsort gewählt, wo der Kaiser-Leopold-Saal für die Mitgliederversammlung und die wissenschaftlichen Beratungen einen würdigen Rahmen bot. Der Vorsitzende, Günther Winkler (Wien), konnte über 200 Teilnehmer mit ihren Damen begrüßen. In der Mitgliederversammlung wurde der verstorbenen Mitglieder Carlo Schmid und Wilhelm Hoegner gedacht. Neun neue Mitglieder konnten begrüßt werden. Nach einer Erörterung allgemeiner Satzungsfragen entschloß sich die Versammlung, über den Antrag des Vorstandes noch hinausgehend den jährlichen Mitgliedsbeitrag beträchtlich zu erhöhen, um den gestiegenen Kosten Rechnung zu tragen und auf einen besonderen Tagungsbeitrag verzichten zu können. Für die nächste Jahrestagung in Trier wurde die Zeit vom 30. September bis 3. Oktober 1981 vorgesehen. Von den Rahmenveranstaltungen sind die Empfänge durch den Landeshauptmann von Tirol, zusammen mit der Stadt Innsbruck, am Abend des 2. Oktober sowie durch den Landeshauptmann von Südtirol beim Ausflug am 4. Oktober hervorzuheben. Die landschaftlichen Schönheiten Innsbrucks erschlossen sich vor allem den Damen, die sich an einem Bergwandern beteiligen konnten. Die nachstehend abgedruckten Referate wurden am 2. und 3. Oktober gehalten. Ihnen Schloß sich eine Diskussion an, die von den Vorstandsmitgliedern Martin Bullinger (Freiburg) am ersten Tag, Wolf gang Martens (Hamburg) am zweiten Tag geleitet wurden. Dem Vorstandsmitglied Peter Pemthaler (Innsbruck) und seinen stets hilfsbereiten Mitarbeitern ist die organisatorische Vorbereitung und Betreuung der Veranstaltungen zu danken.

Erster Beratungsgegenstand:

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen 1. Bericht von Professor Dr. Karl Korinek, Wien Inhalt Einleitung I. Rechtstheoretische Grundlegung

Seite 8 11

II. Zum Begriff „Verfassungsgerichtsbarkeit" 1. Verfassungsgerichtsbarkeit als Gerichtsbarkeit . . . 2. Der Verfassungsbezug der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Vielfalt verfassungsgerichtlicher Verfahren

17

III. Zum Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den klassischen Staatsgewalten 1. Allgemeines 2. Verhaltenskontrolle versus Ergebniskontrolle . . . 3. Kontrolldichte und Regelungsdichte

22 22 23 26

IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber 1. Unterschiede in der J u d i k a t u r des BVerfG und des VfGH 2. Ursachen f ü r diese Unterschiede a) Einzelfallbezogenheit b) Verfahrensrechtliche Bindung c) Gestaltung der Wirkung von Erkenntnissen . . . d) Methodisches Selbstverständnis 3. Grenzen verfassungsgerichtlicher Gesetzesprüfung in rechtstheoretischer Sicht a) Prüfungskompetenz als Ausfluß rechtlicher Gebundenheit b) Konsequenzen dieser Position c) Inhaltskontrolle gegenüber einem demokratisch legitimierten Gesetzgeber? d) Thesen zur verfassungsgerichtlichen Verfassungsanwendung Schluß

14 14

31 31 34 34 35 37 39 40 40 41 45 47 49

Karl Korinek

8 Einleitung

Der Zeitpunkt unserer diesjährigen Tagung und das Land, i n d e m unsere Aussprache stattfindet, sind nicht ohne Bezieh u n g zu u n s e r e m h e u t i g e n Thema: Gestern v o r 60 Jahren hat die Konstituierende Nationalv e r s a m m l u n g der R e p u b l i k Österreich in Wien das in seiner Grundstruktur heute noch g e l t e n d e Bundesverfassungsgesetz (B-VG) beschlossen 1 und damit die in Österreich schon seit 1868 b e s t e h e n d e Verfassungsgerichtsbarkeit 2 u m einen e n t s c h e i d e n d e n P u n k t , n ä m l i c h u m die F u n k t i o n der Gesetzesprüfung erweitert 3 . Noch w i c h t i g e r als dieser historische

1

Gesetz v. 1. 10. 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz) StGBl. 450/1920 = BGBl. 1/1920. 2 Dazu insb. Ernst Hellbling, Die geschichtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, JB1. 1951, 197 ff.; Felix Ermacora, Der Verfassungsgerichtshof, Graz 1956, 79 ff.; Hans Spanner, Bedeutung und Bewährung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, DÖV 1955, 65 ff.; Erwin Melichar, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, Köln 1962, 439 ff.; Robert Walter, Die Organisation des Verfassungsgerichtshofes in historischer Sicht, in FS Hellbling, Salzburg 1971, 731 ff.; ders., Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Österreich, in: Vogel (Hg.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, Wien 1979, 4 ff.; Hans Ulrich Evers, Zur Stellung der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DVB1. 1980, 779 ff. Zur Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit der Schweiz vgl. etwa Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, insb. 27 ff.; zur historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland vgl. insb. Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. 1, Tübingen 1976, 1 ff. (m. w. H.); Rainer Wahl — Frank Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, in: Conze-Lepsius (Hg.), Historische Grundlagen der Bundesrepublik, in Vorbereitung. 3 Vgl. dazu neben den in FN 2 genannten Arbeiten insb.: Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, Wien 1979, 1 ff. (m. w. H.) sowie Karl Korinek, Das Gesetzesprüfungsrecht als Kern der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Schäffer (Hg.), Salzburger Symposion zum Jubiläum „60 Jahre Bundesverfassung", Salzburg 1980, 108 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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scheint aber der gedankliche Bezug zu sein: der besondere Einfluß der österreichischen Schule der Rechtstheorie (Adolf Merkl4 und Hans Kelsen5 in Wien, Frantisele Weyr6 in Brünn) auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei und in Österreich 7 . Diese historischen und geistesgeschichtlichen Bezüge werden es w o h l gewesen sein, die Haberle zu der Formulierung von der Schrittmacherrolle Österreichs in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit b e w o g e n haben 8 . Cappelletti und Ritterspach9 haben daher das in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und anderen europäi-

4

Vgl. insb. Adolf Merkl, Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 und das richterliche Überprüfungsrecht, ZöffR II (1915), 295 ff.; ders.. Das doppelte Rechtsantlitz, JB1. 1918, 425 ff. (neu abgedr. in: Klecatsky-Marcic-Schambeck (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien-Salzburg 1968, 1091 ff.); ders., Das Recht im Spiegel seiner Auslegung, DRiZ 1917, H 7/8, 3 ff. (neu abgedr. in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, 1167 ff.); ders.. Die gerichtliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen, ZB1. für die jur. Praxis 39 (1921), 569 ff. s Vgl. insb. Hans Kelsen, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1923/1924, 374 ff. (neu abgedr. in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, 1625 ff., insb. 1644); ders.. Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, insb. 243; ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Mitbericht auf der Wiener Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, VVDStL 5, 30 ff. 6 Vgl. insb. Frantisek Weyr, Rahmengesetze, Studie aus dem österreichischen Verfassungsrecht, Wiener staatswissenschafliche Studien, Bd. 11, 1913, 647 ff.; ders., Teorie práva, Brno-Praha 1936, 124 ff. (neu abgedruckt in: Kubes-Weinberger (Hg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule, Wien 1980, 139 ff.). 7 Vgl. René Marcie, Verfassungsgerichtsbarkeit als Sinn der Reinen Rechtslehre, FS-Leibholz, Tübingen 1966, Bd. 2, 481 ff.; Robert Walter, Rechtsstaat — Rechtsschutz — Gerichtsbarkeit, ÖstNZ 1971, 184 sowie Herbert Haller, 29 ff. 8 Peter Haberle, Vorwort in: Haberle (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, XIV. Vgl. auch Max Imboden, Normkontrolle und Norminterpretation, in: FS-Hans Huber, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Bern 1961, 133. 5 Mauro Cappelletti — Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, JöR 1971, 65 ff.

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Karl Korinek

sehen Staaten, wie Italien10, Jugoslawien 11 , der Türkei12 und Spanien 13 herrschende System der bei einem Verfassungsgericht konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit auch über Akte des Gesetzgebers als „österreichisches Modell"14 dem amerikanischen Modell, dem im Prinzip auch die Schweizerische Rechtsordnung folgt15, gegenübergestellt 16 . Die Disharmonie zwischen der zur Verfügung stehenden Zeit und der Weite des Themas schließt es aus, die Fülle des Materials und dessen literarischer Aufarbeitung 17 nur einigermaßen vollständig zu referieren. Sie macht es notwendig, sich auf Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen zu beschränken. Der Vorstand hat uns Referenten in dieser Auffassung bestätigt. Wir hoffen, daß die drei Referate im Zusammenhang mit der Aussprache insgesamt ein umfassendes Bild unseres Themas zeigen können. Dieses Referat kann und will jedenfalls nur einige Mosaiksteinchen für dieses Gesamtbild beitragen. Die Auswahl der in diesem Bericht behandelten Punkte ist geprägt durch eine schwergewichtsmäßige Aufteilung der zu behandelnden Probleme unter den Referenten und durch den Versuch, vor allem jene Fragen zu behandeln, für die die österreichische Staatsrechtswissenschaft nach Ansicht des Berichterstatters einen gewissen erkenntnismäßigen Beitrag zu leisten imstande ist. Der eingangs skizzierte geistige Bezug der Verfassungsgerichtsbarkeit zu der in Österreich entwickelten rechtstheoretischen Schule hat es nahegelegt, das Gewicht vor allem auf rechtstheoretische Fragen zu legen.

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Vgl. insb. Gaetano Azzariti, Die Stellung des Verfassungsgerichtshofes in der italienischen Staatsordnung, JöR 1959, 13 ff. 11 Vgl. Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, Opladen 1980, 11 (FN 20). 12 Vgl. Klaus Stern, ebenda, 11. 13 Hans Joachim Faller, Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, EuGRZ 1979, 237 ff.; Herbert Schambeck, Die Verfassung Spaniens 1978, in: lus Humanitatis, FS-Verdroß, Berlin 1980, 208 ff. 14 Cappelletti-Ritterspach, 82. 15 Vgl. den folgenden Bericht von Jörg P. Müller. 16 Cappelletti-Ritterspach, 81 ff. 17 Vgl. insb. die Literaturzusammenstellung in Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 463 ff. und Klaus Stern, Staatsrecht II, München 1980, 933 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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Das Referat möchte daher die Basis für die Aussprache zunächst dadurch aufbereiten, daß es kurz die rechtstheoretischen Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Erinnerung ruft (I) und sodann den Gegenstand „Verfassungsgerichtsbarkeit" skizziert (II). Auf dieser Grundlage sollen dann einige allgemeine Fragen der Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den in ihrem Handeln durch sie kontrollierten Staatsorgane erörtert werden (III). Abschließend sollen Fragen der im Zentrum der Diskussion stehenden Problematik des Verhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung behandelt werden (IV). I. Rechtstheoretische Grundlagen Notwendige Voraussetzung für jede Verfassungsgerichtsbarkeit sind die rechtliche Existenz einer Verfassung als normative Grundordnung des Staates1' und die normative Überordnung dieser Verfassung gegenüber anderen Rechtserscheinungen19, die sich aus der höheren Bestandskraft des Verfassungsrechts ergibt. Wir verdanken es vor allem Adolf Merfcl20, daß wir die Rechtsordnung als ein System von Rechtsnormen verstehen, präziser gesagt: als ein genetisches System von ermächtigenden Rechtsnormen und aufgrund der Ermächtigung erzeugter, durch die jeweiligen Ermächtigungsnormen bedingter Rechtsnormen21. Die verschiedenen in diesem Rechtserzeu18

Vgl. insb. Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945. Zu den hier relevanten Zusammenhängen vgl. insb. Ernst Friesenhahn, Wesen und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZSR 1954, 129 ff. (hic.: 151 ff.) und Gerhard Leibholz, Bericht des Berichterstatters des BVerfG zum Status des BVerfG (im folgenden: Statusbericht), JöR 1957, 120 ff., insb. 125. 19 Dazu insb. Ulrich Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, DVB1. 1952, 294 und Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 14 f. 20 Vgl. neben den in FN 4 zitierten Arbeiten insb. auch: Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: FS-Kelsen, Wien 1931, 252 ff. 21 Vgl. aus der jüngeren österreichischen Literatur hiezu insb.: Kurt Ringhofer, Strukturprobleme des Rechts, Wien 1966, 21 ff,; Karl Korinek, Die Zustimmung zur Kündigung von Invaliden als Ermessensakt — zugleich ein Beitrag zur Lehre vom freien Ermessen, ZAS 1970, 89 ff.; Gerold Stoll, Ermessen im Steuerrecht, 4. ÖJT 1/2, Wien 1970; Robert V/alter, Der Aufbau der Rechtsordnung2, Wien 1974; Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung, Wien 1975, insb. 11 ff.

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Karl Korinek

gungsprozeß miteinander unmittelbar verknüpften Rechtssatzformen sind im Verhältnis zueinander relativ abstrakt und relativ konkret22. Das gilt nicht nur im Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag, Verwaltungsakt oder Urteil, sondern auch im Verhältnis der Verfassung zum Gesetz: Jede Form der Rechtsetzung, sei es die Setzung genereller oder individueller Akte ist eben — durch die Technik der stufenweisen Rechtserzeugung bedingt — sowohl durch eine heteronome Determinante, als auch autonom bestimmt 23 , durch rechtliche Bindung und ein „Belieben gestaltender Anwendung"24. Jede Rechtsetzung ist damit auch Rechtsanwendung — das doppelte Rechtsantlitz hat Merkl das plastisch genannt25. Oskar Bülow hat uns schon vor rund 100 Jahren gelehrt, daß sich richterliche Entscheidungen nicht als Ergebnisse einer Subsumtionsautomatik verstehen lassen, und daß jede richterliche Entscheidung zum Teil auch autonome richterliche Gestaltung ist26. Aber das gilt nicht nur für die Organe der sogenannten Vollziehung, für die vor allem Ermessen und unbestimmte Rechtsbegriffe einen autonomen Bereich konstituieren 27 , sondern auch für den Gesetzgeber28: Auch dessen Rechtserzeugung ist Anwendung der ihn zur Gesetzgebung ermächtigenden Norm, der Verfassung. Auch der Gesetzgeber ist an den Rahmen, den ihm die Verfassung zieht,

22 Vgl. insb. Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, 142. 23 Vgl. Kurt Ringhofer, 24 sowie auch die übrigen in FN 4 u. 21 zit. Arbeiten. 24 So Walter Leisner, Imperium in fieri, Der Staat 1969, 273 ff., hic.: 297 f. 25 Vgl. die in FN 4 zit. Arbeit. 26 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885. Vgl. dazu insb. auch Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, insb. 5 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3 , Berlin 1975, 255 ff., 298 ff., 350 ff.; Norbert Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970, insb. 85 ff., 149 ff.; Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts 3 , 1974, insb. 14 ff., 24 ff. 27 Vgl. etwa Fritz Ossenbühl, Ermessen, Verwaltungspolitik und unbestimmter Rechtsbegriff, DÖV 1970, 86. 28 So schon treffend Alfred Verdroß, Das Problem des freien Ermessens und die Freirechtsbewegung, ZöffR I (1914), 616 ff.; vgl. auch die übrigen in FN 4—6 u. 20—26 zit. Untersuchungen.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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rechtlich gebunden; innerhalb dieses Rahmens aber hat er eine Freiheit zur rechtsschöpfenden Gestaltung 29 . Das Verhältnis von Gebundenheit und Freiheit kann freilich je und je verschieden sein — in aller Regel ist die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine größere, als die autonome Gestaltungsfreiheit des Richters oder behördlichen Verwaltungsorgans. Aber die prinzipielle und strukturelle Gleichartigkeit der sogenannten Rechtsetzung und der sogenannten Vollziehung ist nicht zu übersehen30. Gerade in jüngeren literarischen Äußerungen wird häufig darauf verwiesen, daß „zwischen Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung keine prinzipiellen Unterschiede" 31 bestehen32; darin aber neuere Erkenntnisse der Methodenlehre zu sehen, wie das Herr Schneider formuliert 33 , ist doch etwas kühn. Die Einsicht in die strukturelle Verwandtschaft der Normsetzung generell abstrakter Normen, die eben auch Rechtsanwendung ist und der Rechtsanwendung der Organe der Vollziehung, die eben auch Rechtssetzung ist, ist viel älter34; sie war ja geradezu gedankliche Vorraussetzung für die Gesetzesprüfungskompetenz der Verfassungsgerichte 35 , die die Verfassung in bezug auf die Gesetzgebung zur lex per-

29

Siehe insb. Robert Walter, Aufbau 55 ff. Vgl. auch Jürgen Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, Berlin 1977, 30 ff. Die Differenz zu Peter Badura (Richterliches Prüfungsrecht und Wirtschaftspolitik, in: Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gésellschaft, FS-Fröhler, Berlin 1980, 321 ff., hic.: 338 f.), der formuliert, Gesetzgebung sei nicht Anwendung oder Vollzug der Verfassung, scheint, wie sich aus dem Zusammenhang der Argumentation Baduras zeigt, eine bloß terminologische zu sein. 31 Hans Peter Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, 2103 ff.; hic.: 2104. In diesem Sinn auch Walter Haller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DÖV 1980, 465 ff., hic.: 466. 32 Vgl. auch Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung — entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin 1967 insb. 167 ff.; Winfried Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, Stuttgart 1969, 230 ff.; Friedrich Müller, Juristische Methodik, Berlin 1971, etwa 125 ff.; Hans Peter Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1969, 24 ff.; René Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, Basel 1979, insb. 240 ff. 33 Ebenda, 2104. 34 Sie wurde in den Jahren 1913 bis 1917 insbesondere von Adolf Merkl (vgl. FN 4) entwickelt. 35 Vgl. Karl Korinek, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 108. 30

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Karl Korinek

fecta machte 3 6 . D e n n soweit R e c h t s a n w e n d u n g g e b u n d e n ist, hat sie der Norm, an die sie g e b u n d e n ist, zu entsprechen 3 7 . D i e s e Entsprechung ist m e ß b a r und damit möglicher Gegenstand rechtsförmiger und auch gerichtsförmiger Prüfung 3 8 . D a s aber gilt für jede F o r m der R e c h t s a n w e n d u n g — auch für die Gesetzgebung, soweit Gebundenheit herrscht. Durch diese Einsicht w i r d die rechtstheoretische Möglichkeit einer u m f a s s e n d e n Verfassungsgerichtsbarkeit deutlich 3 9 . II. Zum Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit U m d e n G e g e n s t a n d unserer Untersuchung „Verfassungsgerichtsbarkeit" naher zu beschreiben, sind die b e i d e n Elem e n t e dieses B e g r i f f s ins A u g e zu fassen: das E l e m e n t der Gerichtsbarkeit und das E l e m e n t der Verfassungsbezogenheit. 1. Verfassungsgerichtsbarkeit

als

Gerichtsbarkeit

Ich m ö c h t e mich m i t der Frage, die die frühere D i s k u s s i o n so stark b e w e g t hat 40 , also der Frage nach der Gerichtsquali36 Vgl. Adolf Merkl, Diskussionsbeitrag in: W D S t L 5, 102; René Marcie, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, 86; Hans Kelsen, Professor Marcics Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZöffR 1965, 272. 37 „Rechtmäßigkeit ist nur das Verhältnis der Entsprechung, in dem die niedere zur höheren Stufe der Rechtsordnung steht": Hans Kelsen, W D S t L 5, 32. 38 René Marcie, Verfassung und Verfassungsgericht, 70 ff.; ders., in: FS-Leibholz, Bd. 2, Tübingen 1966, 502 f. 35 Zur Relevanz dieser Einsicht f ü r die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, zunächst in der Tschechoslowakei und in Österreich, vgl. die in FN 3 zit. Untersuchungen. 40 Vgl. die Disskussion auf der Wiener Tagung der Vereinigung im April 1928 ( W D S t L 5) insb. zwischen Heinrich Triepel (2 ff.) und Hans Kelsen (30 ff.) sowie in der Aussprache vor allem zwischen Walter Jellinek (94 ff.) und Hermann Heller (111 ff.) einerseits und Adolf Merkl (97 ff.), Richard Thoma (104 ff.) und Hans Kelsen (Schlußwort, 117 ff.) andererseits sowie die Kontroverse zwischen Carl Schmitt (Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931) und Hans Kelsen (Wer soll der Hüter der Verfassung sein? in: Die Justiz 6 (1931), 576 ff.). Für die Schweiz vgl. etwa Dietrich Schindler, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Schweiz, ZSR 1925, 19 ff. und Fritz Fleiner, Zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bundesgesetze durch die Richter, ZSR 1934, la ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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tät des Verfassungsgerichts und der Qualität der Entscheidungen des Verfassungsgerichts als richterliche Entscheidungen nicht näher auseinandersetzen. Einerseits, w e i l wir das im Laufe des Tages noch in anderem Zusammenhang werden tun können 41 , und andererseits, weil ich glaube, hier mit der einhelligen österreichischen 4 2 und bei w e i t e m herrschenden deutschen Auffassung 4 3 übereinzustimmen in der These, daß Verfassungsgerichtsbarkeit Gerichtsbarkeit ist, und zwar schon deshalb, w e i l sie durch unabhängige (das heißt weisungsfreie und mit g e w i s s e n Garantien der Unabhängigkeit, insbesondere der Unabsetzbarkeit ausgestattete) Organwalter besorgt wird, sich aber andererseits durch einige Besonderheiten sehr w o h l von der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterscheidet. Solche differentia specifica sehe ich insbesondere im organisatorischen Bereich, vor allem der Richterbestellung 4 4 , 41

Dazu insb. den Bericht von Klaus Schiaich. Vgl. Felix Ermacora, Die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit seit 1945, JöR 1959, 49 ff. insb. 54 ff.; Hans Spanner, Rechtliche und politische Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, Gutachten zum 1. ÖJT 1960, Wien 1961, 8 ff.; Robert Walter — Heinz Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts 3 , Wien 1980, 275 ff.; Ludwig Adamovich, Die rechtliche Kontrolle, in: Schambeck (Hg.), Das österreichische B-VG und seine Entwicklung, Berlin 1980, 541 ff., insb. 548 ff. sowie die in FN 2 genannten Arbeiten. 43 Grundlegend Ernst Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, in: FS Richard Thoma, Tübingen 1949, 21 ff. Vgl. weiters insb. Statusbericht 120 ff. sowie statt vieler: Klaus Stern, Staatsrecht II, 346 f. (m. w. H. in FN 80 u. 81) und 942 f. (m. w. H. in FN 31); so jüngst auch Detlef Merten, Demokratischer Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1980, 773 ff., hic.: 776. 44 Vgl. etwa die grundlegenden Untersuchungen von H. Müller, Die Auswahl der Verfassungsrichter, ZöffR 8 (1957/58), insb. 149 ff. (m. w. H.) und Werner Billing, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, Berlin 1969 sowie jüngst: Karl August Bettermann, Opposition und Verfassungsrichterwahl, in: FSZweigert, Tübingen 1981, 723 ff. Vgl. weiters Hans Dichgans, Wahl der Bundesverfassungsrichter, ZRP 1972, 85 ff.; Klaus Kröger, Richterwahl, in: FS 25 Jahre BVerfG, 76 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht II, 356 ff (m. w. H.). Für die österreichische Diskussion vgl. insb. Manfried Welan, Der Verfassungsgerichtshof, in: Pelinka-Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, Wien 1971, 211 ff., insb. 241 ff.; Hans Spanner, Zwei Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit: Besetzung des Gerichts und dissenting opinion, GedS Marcie, Berlin 1974, 689 ff.; Hans Klecatsky, Über die Notwendigkeit einer grundlegenden Re42

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Karl Korinek

w e i t e r s b e i den A u f g a b e n , die t y p i s c h e r w e i s e in stärkerem Maße politisch, das h e i ß t auf die woXireia, die ö f f e n t l i c h e Ordn u n g des S t a a t e s bezogen sind 4 5 (ein Verfassungsgericht entscheidet — w i e Friesenhahn t r e f f e n d formuliert hat — Rechtsfragen, die i m politischen Bereich des Verfassungsleb e n s e n t s t a n d e n sind 46 ) und schließlich in der Wirkung der Entscheidungen, die e b e n f a l l s w i e d e r t y p i s c h e r w e i s e in stärk e r e m Maß eine über die Einzelfallentscheidung hinausgeh e n d e ist 47 . In all d e m liegt z w e i f e l l o s eine politische Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Maßstab, an d e m das Verfassungsgericht zu m e s s e n hat 48 , die Methode seiner

form der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung — FS-Geiger, Tübingen 1974, 925 ff. und Karl Wenger, Gedanken zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, St. Pölten 1978. 45 Vgl. Otto Bachof, Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 285 ff.; Ernst Friesenhahn, Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gesamtgefüge der Verfassung, ebenda, 355 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 10 , Karlsruhe 1977, 226 ff.; Heinz Laufer, Typus und Status des BVerfG, in: FS-Leibholz, Bd. 2, 427 ff.; Hans Dichgans, Recht und Politik in der J u d i k a t u r des Bundesverfassungsgerichts, in: FS-Geiger, 945 ff.; Rüdiger Zuck, Political-Question-Doktrin, Judicial self-restraint und das Bundesverfassungsgericht, JZ 1974, 361 ff., insb. 366 f. sowie insb. Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, dort vor allem 17 ff.; ders., Staatsrecht II, 944 ff. Für Österreich vgl. insb. Manfried Welan, in: Pelinka-Welan, 213 ff. 46 Ernst Friesenhahn, in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 357. 47 Vgl. insb. Adolf Arndt, Das Bundesverfassungsgericht, DVB1. 1951, 297 ff.; Statusbericht, 126; Otto Bachof, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, insb. 302; Ernst Friesenhahn, Art. Verfassungsgerichtsbarkeit in: HdSw 11, Göttingen 1961, 84; ders., in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 361 ff.; Hans Hugo Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, Frankfurt/Main 1968, 8 ff., 30 ff.; Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Cappenberger-Gespräch 1980, Köln 1980, 24 ff. insb. 31 ff. 48 Vgl. schon den Bericht von Erich Kaufmann auf der Münchner Tagung der Vereinigung im J a h r 1950, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStL 9, 4 ff. sowie weiters Statusbericht, 120 ff.; Otto Bachof in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 289 ff.; Heinz Laufer, in: FS-Leibholz, insb. 443 ff.; Gerhard Leibholz, Das Bundesverfassungsgericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, DVB1. 1974, 396 ff. und Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 19 ff.

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Entscheidungsfindung49 und das Verfahren, in dem es zu seiner Entscheidung gelangt50, unterscheiden sich hingegen qualitativ nicht von herkömmlichen gerichtlichen Maßstäben, Methoden und Verfahren51. 2. Der Verfassungsbezug der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Vielfalt verfassungsgerichtlicher Verfahren

Zumeist umschreibt man Verfassungsgerichtsbarkeit als „jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll"52. 49 Vgl. insb. Ernst Friesenhahn, ZSR 1954, 158 f.; Otto Bacho} in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 287 ff.; Ernst Friesenhahn, ebenda 355 ff.; Hans Hugo Klein, 11 ff.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 20 f.; Helmut Quaritsch, Diskussionsbeitrag, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, Cappenberger Gespräch 1980, 65 ff.; Detlef Merten, DVB1. 1980, 778. 50 Vgl. f ü r die bundesdeutsche Rechtsordnung insb. Klaus Stern, Staatsrecht II, 1028 ff. und f ü r Österreich Robert Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1972, 788 ff. 51 Vgl. FN 42 u. 43. Anderer Ansicht etwa Odwin Massing, Recht als Korrelat der Macht, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 411 ff., der die Gerichtsqualität der Verfassungsgerichte ihrer politischen Dimension wegen zu leugnen scheint. Manche, wie etwa Gaetano Azzariti, JöR 1959, 15 ff., Karl Doehring, Der „Pouvoir neutre" und das Grundgesetz, Der Staat 1964, 201 ff. oder Gerd Roellecke, Cappenberger Gespräch 1980, 24 ff. sehen in der Verfassungsgerichtsbarkeit eine von der Gerichtsbarkeit abgehobene vierte Gewalt. Mitunter wird die Verfassungsgerichtsbarkeit zwar allgemein der Gerichtsbarkeit zugeordnet, die Normenkontrollbefugnis jedoch materiell als Gesetzgebung qualifiziert; paradigmatisch für diese Sicht: Wilhelm Henke, Verfassung, Gesetz und Richter (Das Normenkontrollverfahren), Der Staat 1964, 433 ff. und Christian Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStL 34, 74 f. 52 So Hermann Mosler, Das Heidelberger Kolloquium über Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, XII. In diese Richtung gehen schon die Umschreibungsversuche etwa von Hans Kelsen, Die Justiz 1931, 576 ff. und Zaccaria Giacometti, Verfassungsgerichtsbarkeit, 4 f. Peter Häberle (Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 6) bezeichnet das wohl zu Recht als die herrschende Umschreibung der Verfassungsgerichtsbarkeit.

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Ernst Friesenhahn hat schon vor rund 50 Jahren die Verfassungsgerichtsbarkeit als Sammelbezeichnung f ü r verschiedene Arten von Rechtsprechung bezeichnet und damit einen einheitlichen Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit geleugnet 53 . Martin Drath ist dem in seinem Referat auf der Münchner Tagung der Vereinigung entgegengetreten und hat eine materielle Umschreibung der Verfassungsgerichtsbarkeit versucht, die auf den gerichtlichen Schutz des Verfassungsrechts zur Gewährleistung des verfassungsmäßigen Funktionierens des Staates abgestellt hat 54 ; er hat aber präzisierend die These hinzugefügt, daß „nicht nur förmliches Verfassungsrecht, sondern auch Recht niedrigeren Ranges Gegenstand — gemeint wohl: Maßstab — der Verfassungsgerichtsbarkeit sein kann, wenn seine Wahrung f ü r das von der Verfassung gewollte Funktionieren des Staates von unmittelbarer Bedeutung ist" 55 . Aber trotz der Einheitlichkeit des Zwecks und der politischen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit 5 6 , die später auch von Friesenhahn akzeptiert wurde 57 , zeigt die Analyse des positiven Rechts, daß es den verschiedenen Kompetenzen der Verfassungsgerichte entsprechend durchaus verschiedene Formen des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gibt. „Die Gestalt der Verfassungsgerichtsbarkeit wird 53 Ernst Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: AnschützThoma (Hg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts II, Tübingen 1932, 523 ff. 54 Martin Drath, Leitsatz 2 zum Referat über die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStL 9, 112. 55 Ebenda, Leitsatz 6. Vgl. auch Hans Spanner (in: 1. ÖJT I960, 8 ff.), der der herrschenden Umschreibung der Verfassungsgerichtsbarkeit (vgl. zu F N 52) entgegenhält, daß es äußerst unklar sei, ohne Erläuterungen des Verfassungsbegriffs von der „Verfassung als Maßstab" auszugehen. 56 So auch Ulrich Scheuner, DVB1. 1952, 293 ff., insb. 296 f. und Josef Wintrich, Aufgaben, Wesen, Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS-Nawiasky, München 1956, 191 ff., insb. 200 f. Vgl. auch die weiteren Hinweise bei Klaus Stern, Staatsrecht II, 952, FN 78. Jüngst hat Ulrich Scheuner (Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, 473) diesen Zweck und diese politische Funktion treffend mit den Worten umschrieben, daß Verfassungsgerichtsbarkeit der Verfassung Vorrang vor dem Gesetzgeber und den politischen Organen gewähre und damit deren Entscheidungen bestimmte Grenzen setzen sowie der Grundordnung Schutz und Beständigkeit verleihen will. 57 Ernst Friesenhahn, ZSR 1954, 135 ff.

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daher in h o h e m Maße durch das j e w e i l i g e p o s i t i v e Recht bes t i m m t und es erscheint daher ratsam, zwar nicht auf eine a l l g e m e i n e B e g r i f f s b e s t i m m u n g dieser Einrichtung zu verzichten, diese aber a l l g e m e i n zu h a l t e n und v o n Schlüssen aus der Natur der Institution abzusehen" 5 8 . Gegenstand, Maßstab und Verfahren der Kontrolle sind den einzelnen K o m p e t e n z t y p e n und Verfahrensarten verfassungsgerichtlicher Kontrolle entsprechend eben je und je verschieden. D e m e n t s p r e c h e n d ist es erforderlich, die verschiedenen Kompetenzen, die den Verfassungsgerichten t y p i s c h e r w e i s e z u k o m m e n , in den Blick zu nehmen. Im A n s c h l u ß an den Systematisierungsversuch v o n Stern 59 , d e s s e n Z w e c k m ä ß i g k e i t sich insbesondere auch i m Vergleich unserer Rechtsordnung e n zeigt, sind f o l g e n d e in ihrer F u n k t i o n i m Verfassungssys t e m und in ihrer v e r f a h r e n s m ä ß i g e n A u s g e s t a l t u n g unterschiedliche K o m p e t e n z t y p e n festzuhalten 6 0 : — die Zuständigkeit zur Wahrung der bundesstaatlichen Ordnung 61 ;

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Ulrich Scheuner, in: FS 25 Jahre BVerfG, 2. Klaus Stern, Einführung, in: Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder, Hamburg 1978, XXXVII ff. 60 Um die positiv-rechtliche Basis für die in Pkt. III und IV folgenden Überlegungen transparent zu machen, soll zu den einzelnen Kompetenztypen jeweils die strukturelle Besonderheit der österreichischen Verfassungsrechtslage skizziert werden. Im einzelnen sei auf die Darstellungen der verfassungsrechtlichen Kompetenzen bei Felix Ermacora, Verfassungsgerichtshof, 85 ff. und Robert Walter, Bundesverfassungsrecht, 718 ff. (beide tlw. überholt) sowie f ü r den derzeitigen Stand der Rechtsordnung auf die Darstellung bei Kurt Ringhofer, Die österreichische Bundesverfassung — Kommentar, Wien 1977, 431 ff. und Robert Walter — Heinz Mayer, 279 ff. verwiesen. 61 Hierher zählt insbesondere die Kompetenzgerichtsbarkeit (vgl. f ü r die deutsche Rechtslage insb. Walter Leisner, Der Bund-LänderStreit vor dem BVerfG, in: FS 25 Jahre BVerfG, 260 ff.). Für Österreich ist — neben Kompetenzkonfliktsentscheidungen — vor allem die Zuständigkeit des VfGH von Bedeutung, a priori (in Form einer authentischen Interpretation der Kompetenzbestimmungen) mit allgemeiner Verbindlichkeit festzustellen, ob ein Akt der Gesetzgebung oder der Vollziehung in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fällt. (Vgl. dazu Erwin Melichar, Die Bedeutung der präventiven Normenkontrolle in Österreich, in: FSConstantopoulos, Thessaloniki 1977, 457 ff.; Kurt Ringhofer, 438 ff). 59

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— die Zuständigkeit zur Schlichtung sonstiger Organstreitigkeiten 6 2 ; — die Zuständigkeit zur Kontrolle der k o r r e k t e n Durchführung von Wahlen 6 3 sowie zur Entscheidung über einen Mandatsverlust 6 4 ; — die S t a a t s g e r i c h t s b a r k e i t im engeren Sinn 6 5 ; — die Zuständigkeit zur Kontrolle generell-abstrakter Normen, in Österreich von Gesetzen und von verwaltungsbehördlichen Verordnungen 6 6 , wobei diese Normenkontrollv e r f a h r e n sowohl als konkrete, von einem Anlaßfall ausgehende, als auch als a b s t r a k t e N o r m e n k o n t r o l l v e r f a h r e n möglich sind;

62 Diese Kompetenz ist in Österreich wesentlich weniger ausgeprägt als in der Bundesrepublik Deuschland; für diese vgl. insb. Dieter Lorenz, Der Organstreit vor dem BVerfG, im KS 25 Jahre BVerfG 225 ff. 63 Die Wahlprüfungskompetenz des Vf GH ist sehr ausgebaut: Ihm obliegt die Kontrolle der korrekten Durchführung von Wahlen des Bundespräsidenten, der allgemeinen Vertretungskörper in Bund, Ländern und Gemeinden, der Wahlen in die obersten Vollzugsorgane der Länder und Gemeinden (die obersten Vollzugsorgane des Bundes werden in Österreich vom Bundespräsidenten ernannt und nicht gewählt, so daß hier eine Wahlkontrolle nicht in Frage kommt) sowie auch in die satzungsgebenden Organe der beruflichen Interessenvertretungen, was angesichts des besonders stark ausgeprägten Systems der wirtschaftlichen Selbstverwaltung in Österreich (vgl. Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien 1970) von besonderer Begeutung ist. In diesen Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit fällt auch die Kompetenz zur Prüfung der Ergebnisse von Volksbegehren und Volksabstimmungen. Vgl. zum gesamten Komplex: Robert Walter, Bundesverfassungsrecht 754 ff.; Kurt Ringhofer, 470 ff. " Vgl. Robert Walter, Bundesverfassungsrecht, 759 ff. 65 In Österreich gibt es hier lediglich einen repressiven Verfassungsschutz, diesen aber nicht nur gegen den Bundespräsidenten wegen schuldhafter Verfassungsverletzung, sondern auch gegen eine Reihe anderer Organe, insbesondere die Mitglieder der Bundesregierung und der Landesregierungen wegen schuldhafter Gesetzesverletzung. (Hingegen ist in Österreich eine staatsrechtliche Anklage gegen Richter unbekannt.) Derartige Verfahren können nur über parlamentarische Mehrheitsentscheidung in Gang gesetzt werden. 66 Dazu Kurt Ringhof er, 444 ff., 457 ff.; Robert Walter — Heinz Mayer, 285 ff., 291 ff.

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— die Zuständigkeit zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden67; während man sich aber nach dem GG gegen alle Akte öffentlicher Gewalt mit der Behauptung an das Verfassungsgericht wenden kann68, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt zu sein, ist diese Beschwerdekompetenz in Österreich nur gegen individuelle Akte der Verwaltung möglich, also gegen Bescheide und Akte unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt 69 . Das bedeutet insbesondere, daß auf diesem Weg Akte der Gerichtsbarkeit, aber auch jene Akte der Verwaltung mit individueller Wirkung auf den einzelnen nicht überprüft werden können, die nicht in einer mehr oder weniger formalisierten Form ergehen70. Ein Schutz gegen generelle Rechtsnormen, durch die unmittelbar in die Rechtssphäre eines Betroffenen eingegriffen wird, ist jedoch im Bereich der Normenkontrollverfahren gegeben71. Hält man sich diese Vielfalt verfassungsrechtlicher Kompetenzen, die diesen entsprechende Verschiedenheit des verfassungsgerichtlichen Maßstabs72 sowie die Unterschiedlichkeit der einzelnen verfassungsrechtlichen Verfahren vor Augen, so bestätigt sich wohl die Skepsis gegenüber einem einheitlichen Begriff der Verfassungsgerichtpbarkeit.

67 Vgl. aus der reichen Literatur insb. Hans Huber, Die Verfassungsbeschwerde, Karlsruhe 1954; Felix Ermacora, Verfassungsgerichtshof, 298 ff .·, Andrea Hans Schuler, Die Verfassungsbeschwerde nach schweizerischem, deutschem und österreichischem Recht, JöR 19 (1970), 129 ff.; Hans Spanner, Die Beschwerdebefugnis bei der Verfassungsbeschwerde, in: F S 25 Jahre BVerfG, 374 ff.; Josef Azizi, Probleme der geteilten Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, ÖJZ 1979, 589 ff., 627 ff. 68 Vgl. insb. Walter Seuffert, Die Verfassungsbeschwerde in der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951—19712, Karlsruhe 1971, 159 ff. 69 Vgl. insb. Felix Ermacora, Verfassungsgerichtshof, 292 ff. (tlw. überholt) und (zur aktuellen Rechtslage) Robert Walter — Heinz Mayer, 304 ff. 70 Zur Konsequenz dieser Kontrollücke vgl. unten III/2 sowie Karl Korinek, 60 Jahre Bundesverfassung — Verfassungsbewußtsein in Österreich, Schriftenreihe der nöJurGes., St. Pölten 1981, in Vorbereitung. 71 Vgl. dazu jüngst Bernd-Christian Funk, Der Individualantrag auf Normenkontrolle, in: F S Klecatsky, Wien 1980, 287 ff. (m. w. H.). 72 Vgl. unten III/3.

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Wenn man sich also mit einer bloß organisatorisch-funktionellen Umschreibung der Verfassungsgerichtsbarkeit73 nicht begnügen will und auf eine materielle Umschreibung Wert legt, ist es wahrscheinlich ehrlicher, darauf zu verzichten, den Verfassungsbezug des Begriffs Verfassungsgerichtsbarkeit zu definieren und ihn — mit dem Ziel, dadurch den rechtlichen Strukturtypus der Verfassungsgerichtsbarkeit74 zu erfassen — durch Charakterisierung der Kompetenztypen statt dessen beschreibend zu explizieren75. III. Zum Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den klassischen Staatsgewalten 1.

Allgemeines

Die Beziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den klassischen Staatsgewalten kann eine dreifache sein: — Es kann die Ordnungsmäßigkeit der Kreation von Staatsorganen kontrolliert werden — dem dient insbesondere die Zuständigkeit der Verfassungsgerichte als Wahlgerichtshöfe; — es kann die Frage geklärt werden, welches Staatsorgan zur Erlassung eines Rechtsaktes zuständig ist, wobei sich diese Frage im Bundesstaat nicht nur im Bereich der Vollziehung, sondern auch im Bereich der Gesetzgebung stellt — dem dient primär die Zuständigkeit der Verfassungsgerichtshöfe zur Klärung bundesstaatlicher Streitigkeiten und von Organstreitigkeiten; — schließlich kann das Handeln von Staatsorganen selbst kontrolliert werden — dem dienen vorzüglich die Verfahren der Staatsgerichtsbarkeit, der Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde. Die beiden ersten Relationen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den Staatsgewalten werden im allgemeinen nicht als 73 Diesen Weg geht unausgesprochen die gesamte österreichische Lehre. 74 Vgl. zum Methodischen etwa: Karl Larenz, Methodenlehre, 450 ff. 75 Vgl. für den Rechtsbereich der Bundesrepublik Deutschland insb. Klaus Stern, Einführung, XXXVII ff.; ders., Staatsrecht II, 975 ff.; für Österreich: Robert Walter — Heinz Mayer, 279 ff.; Ludwig Adamovich, in: Schambeck, B-VG, 548 ff.

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problematisch empfunden; das Schwergewicht der Diskussion liegt bei der Erörterung der Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den in ihrem Handeln durch diese kontrollierten Staatsorganen 76 . Dabei stellt sich die Problematik sowohl für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Vollziehung 77 , als auch für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, freilich mit je und je anderen Schwerpunkten der Diskussion 78 . 2. Verhaltenskontrolle

versus

Ergebniskontrolle

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle kann — darauf hat Hans-Peter Schneider systematisierend hingewiesen — eine Verhaltenskontrolle oder eine Verfahrens- und Ergebniskontrolle sein79. Soweit die Kontrolle des Staatshandelns an die Voraussetzung der Formalisierung von Staatsakten geknüpft ist, kann sie als bloße Kontrolle von Zuständigkeit, Verfahren und Ergebnis funktionieren. Hier reicht es aus, die Einhaltung des positiv-rechtlich vorgesehenen Verfahrens zu überprüfen und das Ergebnis dieses Verfahrens, den (formalisierten) Staatsakt auf seine Übereinstimmung mit der ihn determinierenden übergeordneten Rechtsnorm (der heteronomen Determinante) zu messen. Auf diese Weise wird durch die Verfahrens- und Ergebniskontrolle mittelbar auch das Ver76 Vgl. dazu auch Haberle, in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 12 ff. 77 Wobei hier in Österreich das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und der übrigen Gerichtsbarkeit anders gelagert ist, als etwa in Deutschland, weil Gerichtsakte nach österreichischem Verfassungsrecht einer Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof in keiner Richtung zugänglich sind: vgl. dazu jüngst Ferdinand O. Kopp — Norgard Pressinger, Entlastung des VfGH und Abgrenzung der Kompetenzen von VfGH und VwGH, JB1.1978, 617 ff., insb. 623 ff.; für die Situation in Deutschland vgl. insb. Walter Seuffert. Die Abgrenzung der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Gesetzgebung und der Rechtsprechung, NJW 1969, 1369 ff. 78 Zur besonderen Problematik des Verhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung vgl. insb. Pkt. IV dieses Beitrages. 79 Hans Peter Schneider, NJW 1980, 2106 ff. Schneider behandelt diese Fragestellung unter dem rubrum „Kontrolldichte".

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halten der Staatsorgane kontrolliert. Denn wie immer dieses Verhalten für sich zu qualifizieren ist, wenn es in einem rechtmäßigen Verfahren erfolgt und zu einem rechtmäßigen, d. h. der übergeordneten Norm entsprechenden, Ergebnis führt, wird es nicht zu beanstanden sein. Wenn aber das Verhalten der Staatsorgane zu einem Ergebnis führt, das selbst nicht Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle sein kann80, dann ist es erforderlich, das Verhalten des Organs auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Nicht formalisierte Staatsakte bedürfen daher in stärkerem Maße einer Verhaltenskontrolle81. In Österreich funktioniert die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Handelns von Staatsorganen aufgrund von Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden nur, soweit es sich um formalisierte Staatsakte handelt, also um Gesetze, Verordnungen, Bescheide oder Akte unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt. Hier gibt es eine wirksame Verfahrens- und Ergebniskontrolle; eine Verhaltenskontrolle unterbleibt82 83. Insbesondere unterbleibt eine solche auch gegenüber dem Gesetzgeber. Während in der Bundesrepublik bei Akten der Man denke etwa an innerbehördliche Richtlinien über eine Schwergewichtsbildung im Rahmen der Förderungsverwaltung; an die Vergabe eines Förderungspreises, dem in Wahrheit Entgeltcharakter zukommt; an die Placierung bezahlter Informationsanzeigen; an ein Verhalten im Rahmen eines Pressegespräches usw. 11 Im wesentlichen entspricht diese Unterscheidung der Unterscheidung zwischen Rechtsschutz und Kontrolle, wie sie die Lehre vom allgemeinen Verwaltungsrecht in Österreich entwickelt hat: vgl. dazu Ludwig Adamovich — Bernd-Christian Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1980, 332. 12 Vgl. Franz Eberhard, Grenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Rill (Red), Allgemeines Verwaltungsrecht — FS-Antoniolli, Wien 1979, 599 ff.; diese Abhandlung bezieht sich zwar auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, ist aber dem materiellen Gehalt ihrer Aussage nach hinsichtlich des Gegenstandes und des Maßstabes der Kontrolle mutatis mutandis auch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zu übertragen. 83 Dieser Aussage widerspricht auch nicht, daß der VfGH bei der Kontrolle von Planungsakten in Verordnungsform in jüngerer Judikatur unter Hinweis auf die bloß finale Programmierung derartiger Staatsakte eine besonders genaue Kontrolle des Verfahrens der Verordnungserlassung durchführt, soweit dies positiv-rechtlich vorgesehen ist. (Vgl. das grundlegende Erk d VfGH Slg 8280/1978; dazu: Peter Oberndorfer, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Flächenwidmungsplänen, ÖZW 1978, 97 ff.).

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Gesetzgebung zwar nur, aber immerhin gefragt wird, ob die tatsächlichen Annahmen, Prognosen und Erwartungen des Gesetzgebers haltbar, die angestellten Erwägungen vollständig, die Sachlage hinreichend aufgeklärt und die festgestellten Tatsachen in ihren Auswirkungen zutreffend bewertet worden sind84, wird in Österreich eine solche Fragestellung weder von der Lehre postuliert, noch von der Rechtsprechung aufgegriffen 85 . Der VfGH kontrolliert — abgesehen von der Überprüfung der Einhaltung der verfahrensrechtlichen Vorschriften — nur das Ergebnis. Wie dieses Ergebnis zustande kommt, aufgrund welcher Überlegungen, Annahmen und Erwartungen, das schauen wir uns, sozusagen, lieber gar nicht an. Während aber im Bereich der Kontrolle der Gesetzgebung der Verzicht auf die Verhaltenskontrolle angesichts der stets gegebenen Zuständigkeit zur Verfahrens- und Ergebniskontrolle nicht relevant ist, gibt es bei der Kontrolle von Regierung und Verwaltung einen Bereich, der mangels eines formalisierten Ergebnisses des verwaltungsbehördlichen Handelns von der Verfassungsgerichtsbarkeit exempt bleibt: Immer dann, wenn das Ergebnis des Verhaltens staatlicher Organe — etwa mangels Formalisierung — nicht direkt angreifbar ist, läuft das verfassungsgerichtliche Kontrollsystem einer Ergebniskontrolle leer. Für Österreich ist dieser Bereich beachtlich. Zu ihm zählen nicht nur politische Entscheidungen 86 , sondern auch eine Reihe von Maßnahmen im Bereich der privatwirtschaftlichen Tätigkeit des Staates 87 . In all diesen Fällen, in denen die verfassungsgerichtliche Kontrolle als Ergebniskontrolle nicht funktionieren kann, weil es kein geeignetes Substrat für eine solche Kontrolltätigkeit gibt, könnte eine Verhaltenskontrolle eine

M

Vgl. Hans Peter Schneider, NJW 1980, 2106. Die oben in FN 83 geschilderte Entwicklung zu einer Verhaltenskontrolle bei der Erlassung genereller Verwaltungsakte ist für den Bereich der Gesetzgebung nicht zu konstatieren. Hier hat der VfGH bewußt eine Verhaltenskontrolle dieser Art nie durchgeführt. 88 Hierzu gehören insbesondere auch jene Akte von denen Erich Kaufmann (VVDStL 9, 10) seinerzeit gesagt hatte, daß es für den Inhalt ihrer Tätigkeit grundsätzlich keine Rechtsnormen gäbe. Er hatte das im Auge, was man als „Politik" der „Verwaltung" entgegenzusetzen gewohnt ist. 87 Vgl. dazu Karl Korinek, 60 Jahre Bundesverfassung, a. a. O. 85

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wichtige rechtsstaatliche Funktion wahrnehmen 8 8 . Soweit der Zugang zur Kontrolle über Staatsakte nicht funktioniert, weil die individuelle Verfassungsbeschwerde etwa mangels entsprechend formalisierten Anfechtungssubstrats „nicht greift", könnte die Schaffung oder Aktivierung des Instituts der Staatsgerichtsbarkeit (Ministeranklage) Abhilfe schaffen 89 : Denn auf diesem Weg ist eine umfassende Kontrolle des Verhaltens der Organe der Regierung und Verwaltung im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit des Verhaltens auch dort möglich, wo das Ergebnis des Verhaltens selbst nicht Kontrollgegenstand sein kann 90 . 3. Kontrolldichte

und

Regelungsdichte

Der Blick auf die unterschiedlichen Aufgaben des Verfassungsgerichts kann uns auch bewußt machen, daß bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung durchaus unterschiedliche Kontrollmaßstäbe anzuwenden sind. So ist etwa der Kontrollmaßstab im Bereich der Gesetzesprüfung durchaus verschieden: Die Einhaltung von positivrechtlichen Verfahrensvorschriften wird nach anderem Maßstab geprüft werden können, als die Frage der Verletzung des verfassungsgesetzlichen Rahmens in inhaltlicher Hinsicht. • Man k a n n die Trias der vom Bundesverfassungsgericht angewendeten Kontrollmaßstäbe: Inhaltskontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und Evidenzkontrolle 9 1 als typische Prüfungsmuster durchaus akzeptieren, wenn man sich dessen bewußt ist, daß es eben nur typische Muster sind, daß aber 88

„Schon der Bestand der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit löst hier eine korrigierende Wirkung aus", meint Ulrich Scheuner, (DÖV 1980, 474) dazu. Zu ergänzen wäre wohl, daß eine solche korrigierende Wirkung nur in jenem Bereich anzunehmen ist, in dem die Verfassungsgerichtsbarkeit auch realistischerweise tätig werden kann. 89 Dazu näher: Karl Korinek, 60 Jahre Bundesverfassung, a. a. O. 50 Soll die Sache auch politisch funktionieren und will man verhindern, daß die parlamentarische Mehrheit die Kontrolle über die von ihr gebildete und getragene Regierung verhindern kann, müßte freilich die Zuweisung der Antragsberechtigung an ein bestehendes Spannungsverhältnis zwischen Antragsteller und Kontrollierten anknüpfen, etwa an das Spannungsverhältnis von politischer Minderheit und politischer Mehrheit; vgl. auch dazu Karl Korinek, ebenda. 91 Vgl. BVerfGE 50, 290 ff. (333) m. w. H.; vgl. dazu Peter Badura, in: FS-Fröhler, 343 ff. und insbes. Hans Peter Schneider, NJW 1980, 2105 ff.

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die Übergänge zwischen diesen Kontrollmaßstäben fließend sind. Vor allem aber ist festzuhalten, daß die Frage nach der Kontrollintensität nicht von der Art der Kompetenz oder davon abhängt, gegen welche der klassischen Staatsgewalten der Kontrollakt gerichtet ist92, sondern vom anzuwendenden Maßstab, also davon, wie weit der dem Normsetzer gegebene Rahmen rechtlicher Gebundenheit ist. Die Kontrolldichte ist eben von der verfassungsgesetzlichen Regelungsdichte abhängig, hat Detlef Merten treffend formuliert 83 . Regelungsdichte und Kontrolldichte sind ihrerseits wiederum von der Justiziabilität der Normen abhängig, die Maßstab für die Kontrolle sind. Es erweist sich daher die Frage nach der Justiziabilität der Normen, die den Verfassungsgerichten als Prüfungsmaßstab zur Verfügung stehen, als entscheidend. Hans Kelsen hat zu dieser Problematik auf der Wiener Tagung der Vereinigung eine Extremposition bezogen, als er die Auffassung vertreten hat, daß keine justiziablen Richtlinien der Verfassung vorlägen, würde die Verfassung an den Gesetzgeber die Aufforderung richten, seine Tätigkeit im Einklang mit der Gerechtigkeit, Freiheit, Billigkeit, Sittlichkeit usw. zu entfalten 94 . Ganz im Sinne dieser Auffassung Kelsens hat der österreichische Verfassungsgerichtshof früher95 auch judiziert. So hat er es etwa in einer Entscheidung vom Dezember 1928, mit der über die Verfassungsmäßigkeit der im österreichischen Mietengesetz enthaltenen schwerwiegenden Eigentumsbe92

In diese Richtung gehen aber die Ausführungen von Hans Peter Schneider, ebenda. 93 Detlef Merten, DVB1 1980, 777. Beachte auch Statusbericht, 125; Ernst Friesenhahn, ZSR 1954, 149 ff.; Heinz Lauf er, in: FS-Leibholz 443 ff. sowie die treffenden Ausführungen von Klaus Stern, Staatsrecht II, 958 ff. 94 Hans Kelsen, VVDStL 5, 69. Man wird an Argumente erinnert, die vor nicht allzu langer Zeit auch dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entgegengehalten wurden, wenn man bei Kelsen (ebenda, 70) liest, die Zuweisung derartiger Kompetenzen an das Verfassungsgericht würde diesem eine Machtvollkommenheit einräumen, die als unerträglich empfunden werden müßte. Vgl. dazu jüngst auch Walter Haller, DÖV 1980, 472. 95 In seiner späteren Judikatur ist der VfGH von dieser Extremposition deutlich abgerückt. So hat er insbesondere die dem Eigentumsbegriff innewohnende Schranke, daß es nur im Interesse des allgemeinen Besten beschränkt oder entzogen werden kann, auch inhaltlich näher ausgeführt: vgl. dazu insb. Karl Korinek, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Raumplanung, Linz 1977, 29 ff. (m. w. H.).

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schränkungen erkannt wurde 96 , vermieden, darüber abzusprechen, ob diese Beschränkungen dem allgemeinen Besten entsprächen, und mit ungewöhnlicher Entschiedenheit formuliert: „Das allgemeine Wohl oder das allgemeine Beste ist ein juristisch gar nicht faßbarer Begriff; es ist ausschließlich Sache des Gesetzgebers, das Vorhandensein dieser Voraussetzung festzustellen,. . . der Verfassungsgerichtshof muß es aber entschieden ablehnen, in einer solchen Frage eine Meinung zu äußern." Es ist nun zweifellos nicht richtig, sehr allgemeinen Begriffen jede Justiziabilität abzusprechen. Sicherlich lassen sich aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Normierungen (man denke etwa an die Sozialstaatsklausel) keine konkreten Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber ableiten 97 — es wäre aber auch verfehlt, in das andere Extrem zu verfallen und verfassungsgesetzlich normierten Generalklauseln jeden Kommunikationsgehalt abzusprechen 98 . Bachof hat auf der Augsburger Tagung in der Aussprache zu den Referaten über die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung sehr anschaulich formuliert, ,,daß ein Begriff wie .öffentliches Wohl' zwar mehr als nichts an Bindung hergibt, aber doch 96

VfSlg 1123/1928. Vgl. die Rechtfertigung dieser Judikatur noch bei Wilhelm Rosenzweig, Enteignung und öffentliches Interesse, JB1. 1950, 49 ff. (dagegen insb. Norbert Wimmer, Zur Funktion des öffentl. Interesses als Schranke der Enteignung, ÖVA 1967, 141 ff.). 97 Hier geht die Dogmatik mitunter zweifellos zu weit (vgl. etwa den Bericht über die arbeitsgerichtliche Judikatur in Deutschland durch Alfred Hueck, Der Sozialstaätsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Forsthoff (Hg), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, 411 ff.; Zur Frage der Justiziabilität etwa der Sozialstaatsklausel vgl. z. B. Klaus Albrecht Gerstenmaier, Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab im Normenkontrollverfahren, Berlin 1975, insb. 83 ff.). Beachte die zurückhaltenden und ausgewogenen Stellungnahmen etwa von Konrad Hesse, 123 ff.; ders., Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der BRD.EuGRZ 1978, 427 ff.; Jörg P. Müller, Soziale Grundrechte in die Verfassung?, ZSR 1973, 687 ff.; Ernst Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, 50. DJT 1974, G 3; Hans Heinrich Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 1976, 170 ff.; Rudolf Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, 385 ff. 98 Es wird wohl niemanden geben, der eine völlige Preisgabe des Systems kollektiver sozialer Sicherheit als mit dem Sozialstaatsgebot, oder die gesetzliche Ermächtigung, geschlossene Verträge nicht zu halten, als mit dem Gebot der „guten Sitten" vereinbar ansehen würde.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der S t a a t s f u n k t i o n e n

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e b e n s e h r wenig" 9 9 . D e r ö s t e r r e i c h i s c h e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s hof jedenfalls hat seine geschilderte Extremposition längst v e r l a s s e n . Er h a t d e n B e g r i f f des a l l g e m e i n e n B e s t e n k o n k r e t i s i e r t 1 0 0 u n d e b e n s o a l s M a ß s t a b s e i n e r P r ü f u n g gegenüber dem Gesetzgeber angewendet, w i e etwa den Gleichheitsgrundsatz 1 0 1 . Freilich, d e r S p i e l r a u m , der durch a l l g e m e i n e , generalk l a u s e l a r t i g e F o r m u l i e r u n g e n d e n r e c h t s a n w e n d e n d e n Org a n e n b e l a s s e n wird 1 0 2 , ist r e l a t i v w e i t . A b e r in s e i n e n Grenz e n ist er bestimmbar 1 0 3 . Es irrt e b e n , w e r m e i n t , d i e A n t w o r t auf d i e F r a g e , ob e i n e N o r m j u s t i z i a b e l ist, k ö n n e b l o ß ja o d e r n e i n sein: D i e F r a g e n a c h d e r J u s t i z i a b i l i t ä t i s t n i c h t d i e n a c h d e m ,,ob", s o n d e r n n a c h d e m „ w i e w e i t " 1 0 4 . E s h ä n g t v o m Grad der B e s t i m m t h e i t d e r N o r m , d i e d e n M a ß s t a b f ü r die g e r i c h t l i c h e Kontroll e b i l d e t , ab, w i e g r o ß e i n e r s e i t s die G e b u n d e n h e i t d e s zu 99 Otto Bachof, Diskussionsbeitrag in: W D S t L 34, 107. In dieser Richtung schon Erich Kaufmann, W D S t L 9, 10 f. und Peter Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 1965, 346 ff. 100 Vgl. etwa VfSlg 3666/1959. 101 Vgl. etwa Robert Walter — Heinz Mayer, 342 ff. (m. w. H.) und Karl Korinek — Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Schambeck, B-VG, 310 ff. 102 Beachte etwa Robert Walter (Gleichheitsgrundsatz und Schadenersatzrecht, ZVR 1979, 33 f.), der, in der Tradition der Reinen Rechtslehre stehend, den Gleichheitsgrundsatz als Einfallspforte f ü r außerrechtliche Wert Vorstellungen des jeweils zur Vollziehung des Gleichheitssatzes zuständigen Organs qualifiziert und betont, daß das rationale Erkennen der Grenzen hier n u r in Grenzfällen möglich sei. 103 Wenn m a n bedenkt, daß diese Grenzziehungsfunktion von der Regelungsdichte abhängt, so k a n n m a n die — an Carl Schmitt anschließende — Diagnose Ernst Forsthoffs (in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 272 ff.) nicht teilen, daß die Entformalisierung der Verfassung zur Auflösung ihres normativen Gehalts f ü h r e (vgl. auch Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 1960, 241 ff.). 1M Zur methodischen Grundposition sei auf Walter Wilburg verwiesen, der in seiner b e r ü h m t e n Schrift über die Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht (Graz 1950, 24) darauf hingewiesen hat, daß es im Bereich rechtlicher Normierung häufig zu wenig ist, in schwarz und weiß zu scheiden, sondern notwendig, alle F a r b e n und Farbtönungen zu sehen. Zur Anwendung der Wilburg'schen Konzeption im öffentlichen Recht vgl. Karl Korinek, Der gewerberechtliche Industriebegriff nach Wilburgs beweglichem System, in: FS-Wilburg, Graz 1975, 163 ff.

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b e u r t e i l e n d e n A k t e s und w i e groß andererseits die a u t o n o m e Gestaltungsfreiheit des Rechtsanwenders ist. Es gibt auch auf Verfassungsebene inhaltlich w e i t g e h e n d b e s t i m m t e Normen, es gibt aber auch — und zwar t y p i s c h e r w e i s e in größer e m A u s m a ß als in anderen Rechtsbereichen 1 0 5 , aber keinesw e g s nur dort 106 — relativ u n b e s t i m m t e Verfassungsrechtssätze 107 . Je u n b e s t i m m t e r die übergeordnete, ermächtigende Norm, u m so geringer die Möglichkeit des Messens der Ü b e r e i n s t i m m u n g — u m so größer andererseits die Freiheit zur autonom e n Rechtsgestaltung 1 0 8 . D i e S t e l l u n g der Verfassungsgerichte i m G e f ü g e der S t a a t s g e w a l t e n ist daher nicht nur v o n den K o m p e t e n z e n des j e w e i l i g e n Verfassungsgerichts und dem, w a s das Gericht daraus macht, abhängig, sondern auch v o m Maßstab der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Dieser b e s t i m m t entscheidend 1 0 9 die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Prüfung 1 1 0 . 105 Vgl. etwa Otto Bachof, in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 285, 289; Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation — Bestandaufnahme und Kritik, NJW 1976, 2089 ff.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 19 f. 106 Man denke an Generalklaubt-ln im allgemeinen Zivilrecht oder im Wettbewerbsrecht! 107 Auf diese beiden Bereiche weist Ernst Forsthoff (in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 275) implizit hin, wenn er den organisatorischen Vorschriften als verfassungsgesetzliche Normierungen alten Stils die inhaltlich-werthaften Normierungen sehr unbestimmter Art entgegensetzt, die in ihrer weitgehenden Interpretation nach seiner Auffassung zur Auflösung dieses Teils des Verfassungsrechts geführt haben. Mitunter hat es den Anschein, als ob die Lehre überhaupt nur diese allgemeinen Normierungen ins Auge fassen würde. Beispielshaft für eine solche einseitige Sicht: Martin Drath, VVDStL 9, 90 ff. 108 Diese Aussage impliziert die Ablehnung präpositiver Maßstäbe f ü r die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Vgl. dazu insb. Hans Spanner, 1. ÖJT,62 ff. und die dort erfolgte Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen. 109 Vgl. Statusbericht 125; Heinz Lauf er, in: FS-Leibholz, 443 ff.; Gerhard Leibholz, DVB11974, 396 ff.; Karl August Bettermann, Diskussionsbeitrag in: Vogel, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 100 f.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 27 f.; Detlef Merten, DVB1 1980, 777; Konrad Hesse, 227 f.; Rainer Wahl — Frank Rottmann, in: Conze-Lepsius, Grundlagen. 110 Wenn Peter Lerche (Grundrechtsverständnis undNormenkontrolle in Deutschland, in: Vogel, Grundrechtsverständnis, 40 ff.) der

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IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber 1. Unterschiede

in der Judikatur

des BVerfG

und des

VfGH

In der h e u t i g e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n und politischen Diskussion in Österreich ist die G e s e t z e s p r ü f u n g s k o m p e t e n z des Verfassungsgerichtshofes an sich unumstritten 1 1 1 . Was umstritten ist an der F u n k t i o n der Gesetzesprüfung, w a s daher ein N a c h g e h e n erfordert, ist — a b g e s e h e n davon, daß manche Entscheidung hinsichtlich des Ergebnisses 1 1 2 , oft auch hinsichtlich des Weges, auf d e m es zu d i e s e m Ergebnis gelangt, und hinsichtlich seiner Begründung 1 1 3 u m s t r i t t e n ist — v o r a l l e m die Frage, wieweit das Verfassungsgericht den Gesetzgeber zu kontrollieren hat. Eine zu s t a r k e Zurückhaltung ins-

Eingriffsintensivität des Staatsaktes eine die Kontrolldichte beeinflussende Funktion zuerkennt, so ist dem entgegenzuhalten, daß ein solcher unmittelbarer Einfluß der Eingriffsintensität auf die verfassungsgerichtliche Kontrollintensität einer dogmatischen Begründung nicht zugänglich ist; es ist jedoch zuzugestehen, daß die Frage der Eingriffsintensität f ü r die Interpretation des Maßstabs verfassungsgerichtlicher Prüfung von Bedeutung sein kann. Als typisches Beispiel hierfür sei aus der Judikatur des VfGH die nach der Natur der Sache und dem Rechtsschutzinteresse differenzierte Judikatur zum Legalitätsprinzip genannt; vgl. dazu: Heinrich Neisser — Manfried Welan, Betrachtungen und Bemerkungen zur Judikatur des VfGH (Slg 1965), ÖJZ 1968, 58 ff.; Günther Winkler, Gesetzgebung und Verwaltung im Wirtschaftsrecht, Wien 1970, 47 ff.; Heinz Peter Rill, Grundfragen des österreichischen Preisrechts III, ÖZW 1975, 97 ff. 111 Vgl. etwa Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, 24 ff.; René Marcio, Verfassung und Verfassungsgericht, insb. 77 ff.,202 ff.; Heinz Schäffer, Die Interpretation, in: Schambeck, B-VG, insb. 75 ff.; Hans Ulrich Evers, DVB1 1980, 779 ff. 112 Vgl. aus der jüngeren literarischen Kritik insb. Heinz Mayer, Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, ÖJZ 1980, 337 ff. 113 Vgl. Peter Pernthaler — Peter Pallwein-Prettner, Die Entscheidungsbegründung des österreichischen VfGH, in: Sprung-König (Hg), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, 209 ff.; Karl Wenger, Gedanken, 26 ff.; beachte aber jüngst: Helmut Freudenschuß, Entscheidungsbesprechung, JBI 1980, 310 ff. (mwH) und Peter Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, ÖZW H..1/1981, 27 ff.

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besondere b e i inhaltlichen Fragen der Verfassungsinterpretation, das Praktizieren eines ausgeprägten judicial self restraint 1 ", sind Vorwürfe, die in der Literatur d e m österreichischen Verfassungsgerichtshof gegenüber geäußert werden 1 1 5 . D e m g e g e n ü b e r steht die Kritik an der J u d i k a t u r des Bundesverfassungsgerichts 1 1 6 , die in der Frage kumuliert, ob nicht durch dessen Rechtsprechung die Intention der rechtlichen Kontrolle politischen Geschehens an der Verfassung v e r l a s s e n w i r d und das Verfassungsgericht e v i d e n t e A u f g a b e n des Gesetzgebers usurpiert hat, w i e das e t w a Konrad Zweigert formuliert hat 117 . S o w u r d e auch auf das Bundesverfassungsgericht in der D i s k u s s i o n schon der Satz bezogen: ,,Sie h a b e n den (mit K o m p e t e n z e n bis zum Rand gefüllten) Becher b i s zur N e i g e geleert. Manchmal h a b e n sie sich auch unaufgefordert nachgeschenkt "118. D a paßt, w i l l m a n i m Bild bleiben, zur Charakterisierung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes schon besser 114

Vgl. zum Selbstverständnis des VfGH insb. Wilhelm Rosenzweig, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 101 ff. us vgl. insb. Peter Pernthaler, Raumordnung und Verfassung II, Wien 1978, 254 ff.; ders., Diskussionsbeitrag, in: Vogel, Grundrechtsverständnis, 79 ff.; Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, JBI 1980, 225 ff., insb. 234; Hans Ulrich Evers, DVB1 1980, 782 f. lls Vgl. etwa Jost Delbrück, Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, in: FS-Menzel, Berlin 1976, 103 f.; Martin Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, NJW 1976, 777 ff.; Ernst Wolfgang Böckenförde, NJW 1976, 2089 ff.; Konrad Zweigert, Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS 25 Jahre BVerfG, 63 ff.; Norbert Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebot, DÖV 1977, 649 ff.; Hans Jochen Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DÖV 1978, 665 ff. Vgl. auch verschiedene abweichende Meinungen zu Entscheidungen des BVerfG (zit bei Hans Jochen Vogel, 665). Beachte jedoch dazu die Stellungnahmen etwa von Friedrich August von der Heydte, Judicial self-restraint eines Verfassungsgerichts im freiheitlichen Rechtsstaat, in: FS-Geiger, 909 ff.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 25 ff.; Hans Peter Schneider, NJW 1980, 2103 ff., hic: 2111; Detlef Merten, DVB1 1980, 773 ff., hic: 776 f. 117 Konrad Zweigert, a. a. O., 74. 118 Vgl. Karl Zeidler, Zum Verwaltungsrecht und zur Verwaltung in der Bundesrepublik seit dem Grundgesetz, Der Staat 1962, 326; Ernst Benda, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, DÖV 1979, 465.

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der Satz, den Hofmannsthal im Rosenkavalier den als Mariandl verkleideten Grafen Rofrano zum Ochs von Lerchenau zu dessen großer Überraschung sagen läßt: „Nein, nein — nein, nein, i trink kein Wein"119. Da ist freilich auch ein bisserl Verstellung dabei; er ist sicher kein „Abstinenzler" — der Graf Rofrano. Hans Spanner, wohl einer der besten Kenner der verfassungsgerichtlichen Judikatur in Deutschland und in Österreich hat kürzlich formuliert, daß ihm der richtige Weg gewissermaßen in der Mitte zwischen der allzusehr zurückhaltenden österreichischen Rechtsprechung und der seines Erachtens gelegentlich zu weit gehenden Praxis des Bundesverfassungsgerichtes zu liegen scheint: „Was die Österreicher zu wenig hinsichtlich des Eingehens in materiell-rechtliche Fragen machen, macht vielleicht das deutsche BVerfG manchmal des Guten zuviel120." Nun scheint es durchaus so (als etwas entfernterer Beobachter möchte ich vorsichtig formulieren), als ob in der jüngeren Entwicklung eine Nuancenverschiebung zu einer in inhaltlichen Fragen (wieder?) etwas zurückhaltenderen Rechtsprechung des BVerfG zu konstatieren wäre121. Andererseits lassen sich in der jüngsten Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes Beispiele für eine stärker inhaltlich betonte Verfassungsgerichtsbarkeit durchaus zeigen122. Trotz all dieser Nuancen und Entwicklungstendenzen ist die grundsätzliche Feststellung von Spanner zweifellos auch heute noch richtig. Es stellt sich daher die Frage nach den Hugo von Hofmannsthal, Der Rosenkavalier, 3. Aufzug. Hans Spanner, Diskussionsbeitrag, in: Vogel, Grundrechtsverständnis, 53. 121 Vgl. Ulrich Scheuner, DÖV 1980, 478. Die Nuancenverschiebung wird etwa im Mitbestimmungsurteil (BVerfG 50, 290 ff.) deutlich. Zu diesem: Reiner Schmidt, Das Mitbestimmungsgesetz auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, Der Staat 1980, 235 ff. 122 Vgl. etwa die die Arbeitnehmerselbstverwaltung betreffenden Erkenntnisse vom 31. 1. 1979, G 109, 111, 112/78, vom 24. 3. 1979, G 2/79 (zu beiden zuletzt: Theodor Tomandl, Entscheidungsbesprechung, ZAS 1980, 195 ff.) und vom 11.10.1979, G 83/78 (dazu: Ludwig Fröhler, Entscheidungsbesprechung, DRdA 1980, 307 ff.), das Fragen der Kredit- und Darlehensgebühren betreffende Erk G 1, 2, 16—25/80 ν. 8. 5. 1980 (dazu: Wolfgang Gassner, Besprechungsaufsatz, ÖStZ 1980, 152 ff.) oder das Erk v. 3. 12. 1980, Β 206/75 betreffend die Rückübereignungspflicht bei zweckverfehlender Enteignung (dazu Peter Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, ÖZW H. 1/1981, 27 ff. 119 120

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2. Ursachen für diese

Unterschiede

Neben den aus der Einbettung in eine bestimmte gesellschaftliche Umwelt und der unterschiedlichen Rechtstradition und Rechtskultur123 erklärbaren Unterschiedlichkeiten, sind es auch Unterschiede in den positiv-rechtlichen und rechtsmethodischen Bedingungen, die zu den konstatierten Unterschiedlichkeiten führen. Lassen Sie mich beispielsweise 124 die folgenden nennen: a) Zum ersten sei die starke Einzelfallbezogenheit in der Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofs betont. Sowohl der VfGH als auch das BVerfG können nur auf Antrag tätig werden und haben auf Anträge tätig zu werden125. Sie sind insofern einzelfallgebunden 126 . Der österreichische VfGH nimmt diese Einzelfallbezogenheit aber auch inhaltlich sehr genau. Er steht damit wohl im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht 127 , das — nach Rupp — seine Aufgabe nicht darin sieht, sich in der Einzelfall-Problematik individueller Streitfälle zu verlieren, sondern darin, Grundsatzentscheidungen zu fällen, also Entscheidungen, die für das Rechtsleben allgemeine Leitlinienfunktion besitzen und für die der Ausgangsfall nur willkommener Anlaß ist12*. 123 Vgl. jüngst auch Peter Saladirt, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 1979, 345 ff. und Heinz Schäffer, in: Schambeck, B-VG, 76 ff. 124 Vgl. im übrigen jüngst auch Hans Ulrich Evers, DVB1 1980, 779 ff. 125 Vgl. etwa Willi Geiger, Einige Probleme der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit, DÖV 1952, 481 ff., hic: 483; Klaus Stern, Staatsrecht II, 962 u. 1030 f. Zur Rolle der Passivität als Kennzeichen der Gerichtsbarkeit vgl. insb. Karl August Bettermann, Verwaltungsakt und Richterspruch, in: GedS Walter Jellinek, München 1955, 361 ff., insb. 371 f. 125 Damit ist im Prinzip der Forderung Luhmanns Rechnung getragen, der die Beschränkung auf die fallbezogene Kontrolle und politische Neutralisierung der Justiz als erforderlich ansieht, um Machtausübung erträglich zu machen (Rechtssoziologie II, Hamburg 1972, 234 ff.). Vgl. dazu auch ähnliche Gedanken bei Hans Kelsen, VVDStRL 5, 69 f. 127 Vgl. Otto Bachof, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 287: , ,Das hängt damit zusammen, daß der Verfassungsrichter nicht — jedenfalls nicht in erster Linie — Einzelfallrichter ist". 12 ' Hans Heinrich Rupp, Wandlungen im Rechtsprechungsstil des BVerfG, DÖV 1976, 691 ff., hic: 694; vgl. auch Peter Häberle, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 37 f. und Gerd Roellecke, in: Cappenberger Gespräch, 34.

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Um die Nachteile, die ein solches Verständnis mit sich bringt, hintanzuhalten129, bemüht sich der österreichische Verfassungsgerichtshof, streng am Fall zu bleiben: Wenn er etwa bei der Behandlung einer Bescheidbeschwerde das angewendete Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüft und für unbedenklich erachtet, stellt er bloß fest, daß er „unter dem Blickwinkel des konkreten Beschwerdefalles" keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlagen des Bescheides hat130. Eine ähnliche Beschränkung legt sich der Gerichtshof auch im Normenkontrollverfahren auf, in dem er sich nur für befugt erachtet, über jene Bedenken, die im Verfahren geltend gemacht und daher auch erörtert werden konnten, abzusprechen131. Trotz der Kritik der Lehre an dieser strikten Einzelfallbezogenheit der verfassungsgerichtlichen Judikatur in Österreich132 halte ich diese vorsichtige Vorgangsweise für gerechtfertigt, die darauf Gewicht legt, nur über etwas zu entscheiden, was im Verfahren erörtert werden konnte, und die es scheut, über den Anlaßfall hinausgehende Aussagen zu treffen, weil sie die praktische Unmöglichkeit erkennt, alle möglichen Konsequenzen bedenken zu können133. b) Damit ist schon auf eine weitere Ursache Bezug genommen: auf die strenge verfahrensrechtliche Bindung des

129 v g l . Hans Heinrich Rupp, ebenda (mwH). Beachte aber Hans Meyer, Diskussionsbeitrag, in: Frowein — Meyer — Schneider, BVerfG im dritten Jahrzehnt, Frankfurt/Main 1973, 23. 130 So die ständige Judikatur des VfGH, vgl. etwa VfSlg 8403/78, 8434/78 uva. 131 § 62 Abs. 1 VerfGG normiert für jede Art der Gesetzesprüfung, daß ein Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, begehren muß, daß entweder das Gesetz seinem ganzem Inhalt nach oder daß bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden und bestimmt sodann: „Der Antrag hat die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im einzelnen darzulegen". In ständiger Rechtsprechung erachtet sich der VfGH unter Berufung auf diese Gesetzesbestimmung für nicht befugt, Bedenken, die nicht geltend gemacht wurden, von Amts wegen aufzugreifen (vgl. etwa VfSlg 5636/1967). Zur Problematik insgesamt: Herbert Haller, 150 ff., 186 ff. 132 Vgl. Robert Walter, Bundesverfassungsrecht, 748. 133 In diesem Sinn schon Ernst Friesenhahn, ZSR 1954, 138 f.

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österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Dieser ist nicht „ H e r r des Verfahrens" 1 3 4 , sondern an sein Verfahrensgesetz und subsidiär an die Zivilprozeßordnung gebunden 1 3 5 , unterliegt also 1 3 6 einer umfassenden, prinzipiell als erschöpfend gedachten Verfahrensregelung. Die B e d e u t u n g dieser Bindung an die Zivilprozeßordnung 1 3 7 liegt darin, daß verfassungsgerichtliche Verfahren stets als im Prinzip streitige P a r t e i v e r f a h r e n aufgefaßt werden: Entschieden soll nur werden, w o r ü b e r in einem P a r teienprozeß abgehandelt wurde 1 3 8 . A u c h Normenkontrollverfahren sind — im Gegensatz zum deutschen Recht 1 3 9 — als k o n t r a d i k t o r i s c h e V e r f a h r e n konstruiert 1 4 0 . Dieser prozeßrechtlichen K o n s t r u k t i o n eines grundsätzlich streitigen,

134 So für das BVerfG Willi Geiger, DÖV 1952, 483 ff. Vgl. auch Günther Zembsch, Verfahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts, Köln 1971. Diese Auffassung findet aber auch für die deutsche Rechtslage nicht volle Zustimmung. Vgl. etwa Norbert Achterberg, DÖV 1977, 655 f. sowie insb. Detlef Merten, DVB1 1980, 779; Klaus Stern, Staatsrecht II, 1028 f. 135 Das Verfahrensgesetz ist das mehrfach, zuletzt mit BGBl 683/1978 novellierte Verfassungsgerichtshofgesetz (VerfGG) 1953, B G B l 85/1953. Die subsidiäre Geltung der ZPO ist in § 35 VerfGG angeordnet; (in vereinzelten Fällen wie z. B. der Ministeranklage gilt subsidiär die StPO (§ 81 VerfGG). 136 Im Gegensatz zum BVerfG; dazu BVerfGE 1/109 ff. u. a.; vgl. die Darstellung bei Klaus Stern, Staatsrecht II, 1028 ff. 137 vgl. insb. Erwin Melichar, Die Anwendung der Zivilprozeßordnung im Verfahren vor dem VfGH, FS-Schima, Wien 1969, 287 ff. 138 Das wird in der Literatur häufig übersehen; vgl. etwa Ernst Hellbling, Der VfGH und sein Verfahren, Stb 1980, 71. 139 Vgl. Axel von Campenhausen, Normenkontrollverfahren und öffentliches Interesse, in: F S Maunz, München 1971, 27 ff.; Hartmut Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: F S 25 Jahre BVerfG, 292 ff., insb. 307 ff. Söhn (310 f.) weist aber auch darauf hin, daß in der verfassungsgerichtlichen Praxis Normenkontrollverfahren vielfach „streitähnlich" verlaufen. 140 Zur „Verteidigung" einer Verordnung ist das jeweils verordnungserlassende Organ sowie die sachlich zuständige oberste Verwaltungsbehörde des Bundes oder Landes berufen (§ 58 Abs. 2 VerfGG); zur „Verteidigung" eines Gesetzes ist die jeweilige Regierung (Bundesregierung, Landesregierung) berufen: § 63 VerfGG.

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kontradiktorischen Verfahrens141 entspricht auch das Selbstverständnis des VfGH. Es braucht wohl nicht näher erläutert zu werden, wie sich diese prozeßrechtliche Situation auf die Justizförmigkeit von Verfahren und Ergebnis auswirkt und daß sie auch für die konstatierte Einzelfallorientierung von Bedeutung ist. c) Gestaltung der Wirkung von Erkenntnissen: Ein gewichtiger Unterschied liegt in der Wirkung der Erkenntnisse im Gesetzesprüfungsverfahren. Hierbei erscheint es zunächst so, als ob die österreichische Lösung, die dem Gerichtshof die Disposition über die Folgen weitgehend überträgt142 und ihm dadurch in beachtlichem Ausmaß auch die Kompetenz zur positiven Gesetzgebung gibt143, die Grenzen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung viel weiter zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit verschiebt, als dies etwa durch die bundesdeutsche Lösung erreicht wird144. Der VfGH hat nämlich die Möglichkeit, vom Regelfall der Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes ex nunc145 abzuweichen: Er kann sowohl aussprechen, daß das Gesetz auch auf andere (noch nicht rechtskräftig abgeschlossene) Verfahren

141 Diese Konstruktion steht der Idee diametral gegenüber, die Gerhard Leibholz (DVB1 1974, 397) f ü r das BVerfG formuliert hat: „Denn wenn die verfassungsrechtlichen Normen, die der Verfassungsrichter zur Anwendung zu bringen hat, sich gegenständlich auf das Politische beziehen, so dürfen dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zu enge Schranken auferlegt werden. Deshalb ist der Prozeß vor dem BVerfG kein Parteienstreit wie der Zivilprozeß". H2 vgl. dazu Kurt Ringhofer, Über die Wirkung des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses im Normenprüfungsverfahren nach Art 139 u. 140 B-VG, ÖVA 1978, 109 ff.; Herbert Haller, 251 ff. 143 Vgl. etwa Felix Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, Karlsruhe 1960,17 oder René Marcie, Verfassung und Verfassungsgericht, 205. Zur Reaktion des Gesetzgebers auf aufhebende Erkenntnisse vgl. insb. Erwin Melichar, Die Rechtsprechung des österr. VfGH und die Gesetzgebungsorgane, ZöffR 11 (1961), 423 ff. 144 §§ 78 u. 79 BVerfGG; vgl. dazu die Hinweise bei Klaus Stern, Staatsrecht II, 1041, FN 535. 145 Gem. Art. 140 Art. 7 B-VG hat das die Wirkung, daß das als verfassungswidrig aufgehobene Gesetz auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles weiterhin anzuwenden ist.

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nicht mehr anzuwenden ist146, er kann aber auch für das Außerkrafttreten eine Frist von bis zu einem Jahr setzen, wodurch bewirkt wird, daß das Gesetz auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles anzuwenden ist147. Für diese Lösung, die Spanner als „unorthodox, aber praktisch"qualifiziert hat148, spricht vor allem folgende Überlegung: Es ist nahezu unbestritten, daß der Verfassungsrichter die Folgen seines Spruchs nicht aus dem Blick verlieren darf149. Aber obwohl Bachof formuliert hat, daß das Verfassungsgericht diesen Forderungen nur im Rahmen der ihm durch die Rechtsordnung eröffneten Möglichkeiten Rechnung tragen darf150, hat man den Eindruck, daß diese Grenze nicht immer eingehalten wird. Es ist einem dogmatisch strengen Verständnis zumindest nicht ganz leicht, die positivrechtliche Ermächtigung zur bloßen Feststellung der Verfassungswidrigkeit oder zur Appellentenentscheidung mit einer Fristsetzung an den Gesetzgeber in der bundesdeutschen Rechtsordnung151 zu finden und die darauf bezogenen Rechtfertigungsversuche 152 nachzuvollziehen. Nun ist das ehrenwerte Bemühen um die Rechtfertigung dieser Judikatur etwa im Interesse der Staatsraison oder der Vermeidung von Rechtslücken, durchaus zu achten153; ich meine aber, daß die 146 Art. 140 Abs. 7 2. Satz, 2. Halbsatz B-VG (vgl. dazu Herbert Haller, 261 ff.). Dieses Ergebnis entspricht im wesentlichen der in §§ 78 u. 79 BVerfGG verankerten Lösung. 147 Art. 140 Abs. 7 letzter Satz B-VG; dazu Herbert Haller, 252 ff. 148 Hans Spanner, 1. ÖJT, 36. Die Regelung wird in der Literatur wegen der mangelnden Determinierung des pouvoir des VfGH mitunter kritisiert, etwa von Robert Walter — Heinz Mayer, 296. Herbert Haller (257 ff.) versucht Determinanten für die Ermessensentscheidung des VfGH über die Fristsetzung zu erarbeiten. 149 So für viele: Otto Bachof, in: Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit 287. Vgl. auch die in FN 47 zit. Studie von Hans Hugo Klein. 150 Otto Bachof, ebenda 302. 151 Vgl. z. B. Wiltraut Rupp v. Brünneck, Darf das BVerfG an den Gesetzgeber appellieren?, in: FS-Gebhard Müller, Tübingen 1970, 355 ff.; Christian Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige" und „bloß verfassungswidrige" Rechtslage, in: FS 25 Jahre BVerfG 519 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht II, 960 f., 984 f. (mwH). 152 Vgl. z. B. Ernst Benda, Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Merten — Morsey, 30 Jahre Grundgesetz, Berlin 1979, 112 ff. sowie jüngst Theodor Maunz, Das verfassungswidrige Gesetz, BayVBl 1980, 513 ff., insb. 517 ff. 153 Beachte insb. die Argumentationen von Hans Hugo Klein, 30 ff. und Klaus Stern, 960 f.

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ihnen allen ausreichend bekannten Beispiele aus der Judikatur154 doch zeigen, daß sich im Effekt das Bedachtnehmen auf die Folgen auch auf die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Normen selbst durchschlägt; dies dürfte insbesondere bei Appellentscheidungen der Fall sein. Diese Vermischung der Beurteilung der Frage der Übereinstimmung mit der Verfassung mit der Frage nach den Folgen einer allfälligen Aufhebung vermeidet die österreichische Rechtslage, die kraft positivrechtlicher Anordnung dem Verfassungsgerichtshof die Kompetenz zuweist, die Wirkung seines Ausspruchs aufzuschieben. Der Gerichtshof macht hievon häufig155 Gebrauch, und zwar etwa dann, wenn er eine begünstigende Norm aus Gleichheitsgründen aufhebt, vor allem aber, wenn er meint, daß die durch die Aufhebung eintretende Rechtslücke zu rechtspolitisch unerfreulichen Zuständen führen würde156. Er kann aber, gerade weil ihm diese Dispositionsbefugnis gegeben ist, bei der Beurteilung der inhaltlichen Frage, also der Frage, ob ein Gesetz verfassungsmäßig ist oder nicht, von den Folgen, die eine Aufhebung bewirken würde, weitgehend abstrahieren. Gerade die Kompetenz zur Gestaltung der Folgen einer Aufhebung befreit also im Effekt den VfGH von der Notwendigkeit, bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit rechtspolitische Erwägungen anzustellen. d) Der gewichtigste Unterschied aber dürfte im methodischen Selbstverständnis der beiden Gerichtshöfe liegen. Dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, der in der Tradition der Wiener Schule der Rechtstheorie steht und dessen Judikatur von dieser Tradition auch beeinflußt ist157, ist dabei einerseits eine streng am Text bleibende, weitgehend den Maximen der historischen Interpretation verpflichtete Verfassungsauslegung bescheinigt worden158; andererseits wird ihm eine, inhaltliche Wertungen weitgehend aussparende Interpretation vorgehalten159. Vgl. die Hinweise bei Klaus Stern, ebenda 984, FN 241 und 1040, FN 530. 155 Zu häufig, meint etwa Herbert Haller, 260 f. 156 Das sind also ähnliche Überlegungen, die das BVerfG zur bloßen Feststellung der Verfassungswidrigkeit führen. Vgl. insb. Theodor Maunz, BayVBl 1980, 517 f. 157 Vgl. etwa Hans Ulrich Evers, DVB1 1980, 779 ff. 1S> Vgl. Ulrich Scheuner, DÖV 1980, 474. 159 Vgl. oben FN 115. 154

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Ganz im Gegensatz dazu steht die oben angesprochene Kritik160 am methodischen Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, dem mitunter eine zu geringe Zurückhaltung in der inhaltlichen Wertbetrachtung vorgeworfen wird161 und von dem Delbrück gesagt hat, es mangele ihm am „notwendigen Respekt" vor den Kompetenzen anderer Verfassungsorgane162. Lassen Sie mich daher zum Abschluß versuchen, auf Basis des eingangs dieses Referats skizzierten methodischen Verständnisses etwas für die Beantwortung der Frage nach den 3. Grenzen verfassungsgerichtlicher rechtstheoretischer Sicht

Gesetzesprüfung

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zu gewinnen: a) Prüfungskompetenz als Ausfluß rechtlicher Gebundenheit. Wir sind davon ausgegangen, daß Gesetzgebung auch Rechtsanwendung ist, daß sie als solche und insoweit der übergeordneten Norm zu entsprechen hat und daß diese Entsprechung meßbar ist, soweit die Rechtsanwendung rechtlich gebunden ist. Die Konsequenz dieser Einsicht hat ErnstWolfgang Böckenförde in seiner Untersuchung über die Methoden der Verfassungsinterpretation aufgezeigt163: Die Verfassung ist als Rahmenordnung zu qualifizieren, als verbindliche Grenzfestlegung für die politische Entscheidungsgewalt. Nur was diesem Rahmen widerspricht, wäre nach dem hier zugrunde gelegten methodischen Verständnis als verfassungswidrig aufzuheben. Das ist zunächst durchaus als Reduktion der Kompetenzen des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber zu verstehen: Wenn auch Akte der Gesetzgebung durch eine heteronome Determinante (die Verfassung) bestimmt sind und insoweit auf ihre Entsprechung mit dieser gerichtlich prüfbar sind, so korrespondiert mit dieser Feststellung die Beschränkung der Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichts auf die Einhaltung eben dieser heteronomen Determinante; der (autonome) Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit geht hingegen das Gericht „nichts an". 160

Vgl. oben FN 116. So Hans Jochen Vogel, DÖV 1978, 666 ff. 152 Jost Delbrück, in: FS-Menzel, 87 f. 163 NJW 1976, 2089 ff. Vgl. dazu jüngst: Rainer Wahl — Frank mann, in: Conze-Lepsius, Grundlagen. 161

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Der These, das Verfassungsgericht dürfe sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers, nicht seine Entscheidung an die Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers setzen, ist daher auf Grundlage dieser Einsicht eine differenziertere These entgegenzusetzen1": Es ist sehr wohl Aufgabe des Verfassungsgerichts, seine Entscheidung an die Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers zu setzen, soweit es um den Bereich der rechtlichen Gebundenheit geht, soweit die Einhaltung des normativen Gehalts der Verfassung kontrolliert werden kann. Unzulässig aber wäre es, wollte das Verfassungsgericht seine Entscheidung dort an die Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers setzen, wo diesem Gesetzgeber ein autonomer Rechtsgestaltungsspielraum offengelassen ist. Die Prüfungskompetenz des Gerichtshofs reicht eben so weit, als die rechtliche Gebundenheit reicht — nur so weit, so weit aber in jeder Beziehung165. Der Bereich der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ist hingegen der verfassungsgerichtlichen Prüfung entzogen166. Das Verfassungsgericht hat auch das zweckmäßigste Gesetz aufzuheben, wenn es sich als verfassungswidrig erweist167. b) Konsequenzen dieser Position. Der verfassungsrechtliche Rahmen bindet den Gesetzgeber formal und inhaltlich168. Der materielle Teil des verfassungsgesetzlichen Rahmens,

164 Vgl. Karl Korinek, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 109; so auch Konrad Hesse, 29; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 18 ff., 31 f. und Peter Badura, in: FSFröhler, 325 ff. 165 Dabei ist das „nur so weit" eher an das BVerfG und das „so weit in jeder Beziehung" eher an den VfGH gerichtet. 16t Vgl. aus der Rechtsprechung etwa BVerfG 1, 14 (32); 36, 1 (17) oder VfSlg 8457/1978. Beachte zur Problematik insb. Adolf Arndt, DVB1 1951, 297. 167 Vgl. Erwin Melichar, Verfassungsgerichtshof und Legislative, GedS Marcie, 555 ff., hic: 557. 168 Vgl. z. B. Ernst Friesenhahn, ZSR 1954,132. Für Österreich, vgl. schon Hans Kelsen, Die Entwicklung des Staatsrechts in Österreich seit dem Jahre 1918, in: Handbuch des österreichischen Staatsrechts I, Wien 1929, 154 f. Siehe dazu aus der jüngeren Literatur etwa Karl Korinek, Die verfassungsrechtliche Grundlegung der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in: Mock-Schambeck (Hg), Verantwortung in Staat und Gesellschaft, Wien 1977, 245 ff. (mwH).

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der insbesondere, aber nicht ausschließlich, durch Grundrechtsverbürgungen bestimmt ist, ist in weitem Maße durch die Verwendung offener Rechtsbegriffe geprägt, die nur zu einem Teil justiziabel sind169. Es wäre nun denkbar anzunehmen, daß der Gesetzgebungsakt dem vorgegebenen verfassungsgesetzlichen Rahmen dann entspricht, wenn er in nur irgendeiner denkbaren Weise in diesem Rahmen Platz findet. Geht man von einer solchen Sicht aus und nimmt man überdies noch an, daß inhaltliche Verfassungsrechtssätze nicht justiziabel sind170, so führt eine solche, aus der Interpretationslehre der Reinen Rechtslehre abgeleitete Sicht171 zum Ergebnis, daß die inhaltlichen Entscheidungen des Verfassungsgesetzgebers im Effekt als bloß sanktionslose Programmsätze qualifiziert und der inhaltliche Gehalt der Verfassung in weitem Maße zur Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt würden172. Eine solche Interpretation verbietet sich aber, weil man auf diesem Weg der Verfassung ihren materiellen Gehalt nehmen und so einen Teil der Verfassung jeder Normativität entkleiden würde, ohne daß es dafür einen positivrechtlichen Anhaltspunkt gibt. Der Gesetzgeber überschreitet den inhaltlichen Rahmen, der ihm gezogen ist, eben nicht nur, wenn sein Handeln in keiner der denkbaren Ausgestaltungen des Rahmens Platz hat. Der Rahmen ist vielmehr enger: Ihn zu bestimmen, ist Sache des Verfassungsgerichts. Hierin liegt sozusagen die dem Verfassungsgericht übertragene autonome Determinante der Verfassungsanwendung; das ist das, was Bachof als die schon in der Norminterpretation enthaltene Normgestaltung bezeichnet hat173; hier ist der Platz für die Verfassungskonkretisierung durch das Verfassungsgericht174. 169

Vgl. oben, III/3. Vgl. oben, zu FN 94 und 95. 171 Vgl. insb. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , Wien 1960, 346 ff. 172 Vgl. insb. Günther Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, Wien 1969, insb. 39 ff., 48 f. Beachte auch die grundsätzliche Kritik an der Interpretationslehre Kelsens bei Franz Bydlinski, Gesetzeslücke, § 7 ABGB und die „Reine Rechtslehre", in: GedS-Gschnitzer, Innsbruck 1969, 101 ff. 173 Otto Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959, 8. 174 Vgl. insb. auch Felix Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, 9 ff.; Hans Peter Schneider, Richterrecht, 24 ff.; Konrad Hesse, 25 ff.; René Rhinow, 176 ff., ihm folgend Walter Haller, DÖV 1980, 471. 170

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D i e s e F u n k t i o n n e h m e n die Verfassungsgerichte insbesondere durch f o r m e l h a f t e Konkretisierung v o n a l l g e m e i n form u l i e r t e n Verfassungsgrundsätzen wahr, durch die der verfassungsgesetzliche R a h m e n näher b e s t i m m t wird 175 . Dabei fällt bei einer kritischen A n a l y s e der österreichischen Judik a t u r auf, daß der Gerichtshof dort, w o es u m w e s e n t l i c h e E l e m e n t e der D e m o k r a t i e geht, also insbesondere i m Bereich der Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze 1 7 6 s o w i e dort, w o es u m Fragen der G e w ä h r u n g des Rechtsschutzes 1 7 7 geht, eine sehr w e i t g e h e n d e K o n k r e t i s i e r u n g s f u n k t i o n wahrgen o m m e n hat, w ä h r e n d er bei der Grundrechtskonkretisierung — sieht m a n v o n A u s n a h m e n ab 178 — d e m Gesetzgeber einen äußerst w e i t e n S p i e l r a u m o f f e n läßt 179 . Schon Anto175

Die Notwendigkeit der Entwicklung von aus konkreten Fällen entwickelten „Zwischenformeln" f ü r die Realisierung verfassungsgerichtlicher Kontrolle durch konkrete Maßstabbestimmung betont zu Recht Peter Lerche, in: Vogel (Hg), Grundrechtsverständnis, 104. Zur Entwicklung von Formeln durch den VfGH und deren Bedeutung: Felix Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, 23 ff.; Manfried Welan, in: Pelinka — Welan, Demokratie, 225 ff. 176 So ζ. B. hinsichtlich des Grundsatzes des Verhältniswahlrechts; vgl. dazu etwa die Judikaturhinweise bei Robert Walter, Bundesverfassungsrecht, 238 f. sowie aus jüngster Zeit VfSlg 8321/1978, Erk. v. 6. 12. 1979, WI-2/79; v. 8. 12. 1979, WI-1/79, G 15/79. 177 Vgl. insb. die J u d i k a t u r zum verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (dazu etwa Heinrich Neisser — Gernot Schantl — Manfried Welan, Betrachtungen zur Judikatur des VfGH (Slg 1966), ÖJZ 1969, 113 ff.; Robert Walter — Heinz Mayer, 356 ff.; Karl Korinek — Brigitte Gutknecht, in: Schambeck, B-VG 313 f.), zum Bescheidbegriff als Anfechtungsgegenstand verwaltungsbehördlichen Handelns (vgl. insb. Felix Ermacora, Verfassungsgerichtshof, 322 ff.) oder zur Möglichkeit der Anfechtung genereller Weisungen von Verwaltungsbehörden als „Verwaltungsverordnungen" (vgl. Ludwig Adamovich — Bernd-Christian Funk, 192). 178 In der J u d i k a t u r des VfGH hat insb. der Gleichheitsgrundsatz, aus dem ein allgemeines Sachlichkeitsgebot entwickelt wurde, eine gewisse Surrogatfunktion gegenüber der sehr zurückhaltenden Grundrechtsjudikatur übernommen. Vgl. dazu insb. Heinrich Neisser — Gernot Schantl — Manfried Welan, Betrachtungen zur Judikat u r des VfGH (Slg 1967) ÖJZ 1969, 319 f., 645 ff.; Erwin Melichar, in: GedS Marcie, 565 ff.; Peter Pernthaler, Raumordnung II, 338 ff. sowie die Beiträge von Wilhelm Rosenzweig und Karl Korinek, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 103, 111. 179 Vgl. etwa Walter Antonioiii, Österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit 1945-1969, AöR 1969, 576 ff., insb. 597; Karl Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: FS-Merkl, München 1970, insb. 177 ff.; ders., in: Schäffer, Salzburger Symposion, 110 ff.

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niolli hat hier von einem „Gefalle in der Rechtsprechung" gesprochen180. Heute scheint sich jedoch in Österreich in der Lehre181 und in zögernden Schritten in der Judikatur182 die Auffassung durchzusetzen, daß die offenen Begriffe des den Gesetzgeber bindenden materiellen Rahmens der Verfassung — wie Günther Winkler formuliert hat — keine „Öffnung zum freien Belieben des einfachen Gesetzgebers", sondern Verpflichtung zur Konkretisierung der in ihnen enthaltenen Wertungen bewirken 183 . Auch der so näher bestimmte verfassungsrechtliche Rahmen wird freilich selten so eng sein, daß nur eine Lösung in ihm Platz hat. Das Gericht hätte Zurückhaltung zu üben, wenn es sein Wertverständnis mit der Behauptung, es sei dies das einzige nach der Verfassung zulässige, anstelle des Wertverständnisses des Gesetzgebers setzt, hat Hans Jochen Vogel — wie ich meine zu Recht — formuliert184. Auch ist es dem Verfassungsgericht verwehrt, eine Gesetzesvorschrift aufzuheben, wenn eine „verfassungsgerechtere Lösung" möglich gewesen wäre185. Das Verfassungsgericht sollte sich auch hüten, eine bestimmte vorgegebene Regelung dem Gesetzgeber vorzuschreiben und auszusagen, dies und nichts anderes gebiete die Verfassung186. Die einzig verfassungsmäßi180

Walter Antonioiii, Freiheitliche Ordnung in der Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, in: FS-Geiger, 613 ff., hic: 621. 181 Vgl. etwa Karl Korinek, Die verfassungsrechtliche Garantie einer marktwirtschaftlichen Ordnung durch die österreichische Bundesverfassung, WpolBl 1976, H 5, 87 ff.; Peter Pernthaler, Raumordnung und Verfassung II, 254 ff.; Herbert Schambeck, JBI 1980,230 ff.; Heinz Schäffer, in: Schambeck, B-VG, insb. 74 ff. Überdies gibt es eine Reihe von Untersuchungen zum Gehalt einzelner Grundrechte, in denen diese Entwicklung deutlich wird: vgl. etwa: Karl Wenger — Günther Winkler, Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Lehre — eine verfassungsrechtliche Analyse der Bedeutung des Art. 17 StGG für die Hochschulorganisation, Wien 1974. 182 Vgl. FN 122. 1,3 Günther Winkler, Wertbetrachtung, 46 f. 184 Hans Jochen Vogel, DÖV 1978, 667. 185 Dazu Walter Seuffert, NJW 1969, 1373. 186 Kritisch zu derartigen Aussagen des Verfassungsgerichts, die die Aufgabe haben, den Gesetzgeber zu binden, schon Hans Spanner, Zur Verfassungskontrolle wirtschaftspolitischer Gesetze, DÖV 1972, 217 ff., der sich insb. gegen die Kritik an der zurückhaltenden Rechtsprechung des BVerfG durch Michael Kloepfer, NJW 1971, 1585 ff. und Hans Zacher, Soziale Gleichheit, AöR 1968, 357 ff., wendet. Vgl. dazu auch die in FN 116 zit. Literatur.

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ge Lösung ergibt sich nur selten aus der verfassungsrechtlichen Normierung 187 . Aber andererseits: der Rahmen, den die Verfassung dem Gesetzgeber zieht, ist nicht erst dann verletzt, wenn der Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Position vollständig beseitigt 188 . Wie die Grenzziehung im Konkreten verläuft, ist Sache der Verfassungsinterpretation. Diese ist in unserem Verfassungssystem letztendlich dem Verfassungsgericht übertragen, das selbst und abschließend die Grenze zwischen der bindenden heteronomen und der Gestaltungsfreiheit gewährenden autonomen Determinante zu ziehen berufen ist189. c) Inhaltskontrolle gegenüber einem demokratisch legitimierten Gesetzgeber? Es geht nicht an, diese Funktion der inhaltlichen Konkretisierung des dem Gesetzgeber vorgegebenen Rahmens durch das Verfassungsgericht zu leugnen 190 , etwa unter Berufung auf die demokratische Legitimation des Gesetzgebers 191 . Denn die den Gesetzgeber bindenden und seine Akte prägenden verfassungsrechtlichen Festlegungen sind eben von einem breiteren demokratischen Konsens getragen als die Akte des einfachen Gesetzgebers. Die Bindung des einfachen Gesetzgebers an die verfassungsrechtliche Rahmenentscheidung ist daher gleichzeitig eine Bindung Auch durch den Gebrauch von obiter dicta kann das Verfassungsgericht eine derartige, den Gesetzgeber vorherbestimmende Funktion ausüben. Kritisch dazu etwa Hans Jochen Vogel, DÖV 1978, 668; Martin Kriele, NJW 1976, 777 ff. 187 Vgl. etwa Ernst Wolfgang Böckenförde, NJW 1976, 2097; Walter Haller, DÖV 1980, 467 f. 1,8 In diese Richtung tendiert jedoch das (weitgehend formale) Grundrechtsverständnis des VfGH. Vgl. dazu Walter Antonioiii, AöR 1969, 576 ff. sowie Wilhelm Rosenzweig, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 104 f. Zur Kritik an dieser Rechtsprechung vgl. Heinz Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, Wien 1971, 163; Karl Korinek, in: FS-Merkl, 177 ff. sowie die in FN 115 zitierten Autoren. Beachte aber auch die in FN 122 skizzierte neuere Judikatur. 189 In diesem Sinne ist die Feststellung Rudolf Smends richtig, das Grundgesetz gelte praktisch so, wie das BVerfG es auslege (Festvortrag 26. 1. 1962; neu abgedruckt in: Staatsrechtliche Abhandlungen 2, Berlin 1968, 582). 190 So insb. die ältere österr. Lehre (vgl. etwa Wilhelm Rosenzweig, JB1 1950, 49 ff.; Ludwig Adamovich (sen), Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, JB1 1950, 73 ff., mit Berufung auf ihn noch Wilhelm Rosenzweig, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 105 f.). 191 Vgl. die Hinweise bei Martin Kriele, NJW 1976, 777 ff.

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des demokratisch-legitimierten Gesetzgebers an einen Akt erhöhter demokratischer Legitimation: Die Aufgabe, die Einhaltung der verfassungsgesetzlichen Normierung durch den einfachen Gesetzgeber zu überwachen, ist daher eine demokratische Funktion des Verfassungsgerichts, nämlich die Funktion der Überwachung geringer demokratisch legitimierter Akte auf ihre Entsprechung gegenüber den höher demokratisch legitimierten Akten192. Nach dem Konzept unserer Verfassungsordnungen sind eben gewisse grundlegende Fragen, und zwar auch Fragen rechtsinhaltlicher Art, durch ihre Aufnahme in Verfassungsrang mit einer erhöhten Bestandsgarantie ausgezeichnet. Diese erhöhte Bestandsgarantie bedeutet politisch gesehen — und darauf wurde von vielen Autoren, von Kelsen193 über Friesenhahn194 bis zu Stern195 immer wieder hingewiesen196 — eine Schutzfunktion der qualifizierten Minderheit gegenüber der bloß absoluten Mehrheit. Es darf sich daher der Verfassungsrichter seiner Aufgabe, die Einhaltung der justiziablen Normen der Verfassung zu überwachen, gerade aus demokratischen Gründen nicht entschlagen. Er würde seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Funktion nicht gerecht, würde er sich — im Sinne eines falsch verstandenen judicial self restraint197 — auf die Überwachung unpolitischer Posi192 Wie hier vgl. auch Martin Kriele, NJW 1976, 778. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt auch die Bedachtnahme auf das gewaltentrennende Prinzip. Es ist nämlich mit Hans Kelsen (Wesen und Wert, 53 ff.), Ernst Friesenhahn (ZSR 1954, 154), Paul Feuchte (Das demokratische Prinzip und die Rechtsprechung in Verfassungssachen, DÖV 1964, 433 ff.), Martin Kriele (NJW 1976, 778) u. a. darauf hinzuweisen, daß die verfassungsrechtlich konstituierte Demokratie in einem gewaltenteiligen System der Mehrheitsentscheidung auch Grenzen setzt. 193 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie 2 , Tübingen 1929, 53 ff. 194 Ernst Friesenhahn, ZSR 1954, 157. 195 Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 16. 196 Vgl. etwa auch Ulrich Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 37; Peter Haberle, in: Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, 29 f.; Karl Korinek, in: Mock — Schambeck, Verantwortung, 253 f.; Karl Wenger, Gedanken, 13 ff.; Herbert Schambeck, JB1 1980, 235. 197 Vgl. dazu insb. Walter Haller, Supreme Court und Politik in den USA, Bern 1972, insb. 320 ff.; Rüdiger Zuck, JZ 1974, 361 ff.; Dieter Blumenwitz, Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der Auswärtigen Gewalt, DVB11976, 464 ff.

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tionen zurückziehen und politisch relevante Fragen als political questions aus seiner Kontrolle aussparen198. d) Thesen zur verfassungsgerichtlichen Verfassungsanwendung. Die Rolle des Verfassungsgerichts im Gefüge der Staatsfunktionen ist somit — das ergibt sich als Konsequenz des unter IV/3/b Gesagten — in entscheidender Weise von der Methode der Verfassungsinterpretation abhängig199. Über den Inhalt der Aufgabe, den verfassungsgesetzlichen Rahmen interpretativ zu konkretisieren, zu sprechen, ist hic et nunc nicht möglich. Für diese dem Verfassungsgericht übertragene Aufgabe gibt es jedoch aus Strukturprinzipien der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit ableitbare Richtlinien, auf die zumindest thesenartig hinzuweisen ist: (α) Zum ersten ist zu betonen, daß es für diese Rahmensetzung aus den Strukturprinzipien des Verfassungsrechts her ableitbare methodische Grenzen gibt: Das Verfassungsgericht wird sich — zumindest im Geltungsbereich einer relativ leicht abänderbaren Verfassung wie der österreichischen — bei der aktualisierenden Interpretation große Zurückhaltung aufzuerlegen haben200: Das Verfassungsrecht regelt seine Abänderung und Entwicklung selbst und sieht hierfür bestimmte Wege der Rechtserzeugung vor. Danach hat die Anpassung des Verfassungsrechts an neue Situationen im Wege des demokratisch geordneten Rechtserzeugungsverfahrens zu erfolgen und nicht durch Interpretation zu geschehen. Es In der bundesdeutschen Diskussion wird insbesondere von den in FN 116, 1. Absatz zit. Autoren — in im einzelnen unterschiedlicher Weise — eine Selbstbeschränkung des Verfassungsgerichts postuliert; für Österreich vgl. insb.: Wilhelm Rosenzweig, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 103. Zur Gegenposition siehe vor allem Friedrich August von der Heydte, in: FS-Geiger 909 ff. sowie die übrigen in FN 116, 2. Abs. sowie in FN 115 und FN 198 zit. Autoren. 198 Vgl. insb. Ernst Friesenhahn, Hüter der Verfassung? ZRP 1973, 191 ff.; Gerhard Leibholz, Das Bundesverfassungsgericht im Schnittpunkt von Politik und Recht, DVB1 1974, 396 ff.; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 31 f. und Karl Korinek, in: Schäffer, Salzburger Symposion, 109 f. 199 Vgl. dazu insb. Rainer Wahl — Frank Rottmann, in: ConzeLepsius, Grundlagen. 200 Vgl. für Österreich aus der jüngsten Literatur vor allem Herbert Schambeck, JB1 1980, 225 ff. und Heinz Schäffer, in: Schambeck, B-VG, 57 ff. (beide mwH). Zum folgenden insb. Heinz Peter Rill, Grundfragen des österreichischen Preisrechts I, ÖZW 1974, 99 f.

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widerspräche demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien und es widerspräche der Funktion der Verfassung, wollte man annehmen, daß Verfassungsrecht, das ja einen einmal gefundenen Grundkonsens bewahren möchte201, von Personen, denen dazu die demokratische Legitimation fehlt, in rechtsstaatlich weitgehend unvorhersehbarer, unberechenbarer und unkontrollierbarer Weise gewandelt werden kann202. Geänderte Situationen können und werden oft das Motiv für eine Rechtsveränderung sein — sie können aber — soweit die Verfassung nicht ausdrücklich auf derartige außer-verfassungsrechtliche Entwicklungen verweist 203 — nicht ohne Einschaltung des demokratisch legitimierten Verfassungsgesetzgebers unmittelbar das Verfassungsrecht verändern204. (ß) Aus der Struktur der Verfassungsgerichtsbarkeit und deren Stellung im Verfassungsgefüge folgt andererseits eine prozedurale Gebundenheit: Die konkrete Festlegung des verfassungsrechtlichen Rahmens erfolgt in einem gerichtsförmigen Verfahren, in einer Entscheidung, die auf positiv-verfassungsrechtlichen Anordnungen gründet und die die Ableitung von dieser Verfassungsnorm im Begründungsweg, der

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Vgl. insb. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), neu abgedr. in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1955, 187 ff.; Werner Kägi, 41 ff. 202 Ygi Karl Korinek, Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz und Raumplanung, Linz 1977, 52 ff. 203 Insb. der Gleichheitsgrundsatz kann, wenn man ihn als dynamische Verweisung f ü r außerrechtliche Wertmaßstäbe (Heinz Schäffer, in: Schambeck, B-VG, 76) versteht, ein Einfallstor f ü r außerverfassungsrechtliche Entwicklungen in die Verfassungsinterpretation sein (vgl. FN 102). Aus den genannten demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen ist daher auch hier im Interesse des Funktionsschutzes der Verfassung eine zurückhaltende Interpretation geboten. 204 Dieses in Österreich herrschende Konzept gebundener Verfassungsinterpretation ist dem der offenen Verfassungsinterpretation (vgl. dazu z. B. Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStL 20, 53 ff.; Peter Haberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff.), das sowohl zur Verfassungsfortbildung (vgl. Wilfried Fiedler, Fortbildung der Verfassung durch das BVerfG, JZ 1979, 417 ff.) als auch zu einem „Abbau der Normativität der Verfassung" (Ernst Wolfgang Böckenförde, NJW 1976, 2097) und beim Verfassungsgericht letzten Endes zur rational nur schwer nachprüfbaren Interpretation k r a f t Mehrheitsentscheidung führt, entgegengestellt.

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stets Exegese des geltenden Rechts zu bleiben hat, darzulegen hat205. (γ) Diese Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rahmens ist schließlich durch die Öffentlichkeit von Spruch und Begründung kontrollierbar — die Kontrolle ist damit über den engeren Kreis der rechtlich Betroffenen hinaus der Öffentlichkeit, der Politik und der Rechtswissenschaft ermöglicht206. Ich möchte mir erlauben, auf die notwendige Frage nach dem: et quis custodiet ipsos custodes207? in diesem Sinn mit einem Hinweis auf die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten208 zu antworten. *

*



Es war die Aufgabe dieses Referates, sich ein wenig an die von Spanner als hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung erstrebenswert bezeichnete Mitte zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofes heranzutasten209. Es ging darum, zu zeigen, wie weit methodenehrliche Verfassungsgerichtsbarkeit gehen darf und was nicht mehr ihrer Kompetenz unterliegt. Daß die Grenze nicht schärfer gezogen werden konnte, liegt — vermutlich wird das die Diskussion zeigen — zum Teil am Referenten, zu einem anderen Teil liegt es in der Sache selbst. Nicht zuletzt ist es aber auch Sache des Verfassungsgesetzgebers: Je mehr Justiziabilität er seinen verfassungsrechtlichen Normierungen verleiht, um so besser kann das Verfassungsgericht seinem Auftrag gerecht werden210; je

205

Vgl. Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 19 ff. 206 In diesem Sinn ist Judikaturkritik eine legitime Aufgabe; vgl. ζ. B. Manfried Welan, in: Pelinka-Welan 238; Karl Wenger, Gedanken, 26 ff. 207 D. Junius Juvenal, Satiren VI, 347, der damit allerdings in einem solch ernsten Zusammenhang recht frei zitiert wird. 208 Peter Haberle, JZ 1975, 297; vgl. auch ders., Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, 427 ff., insb. 448 f. 209 Vgl. oben zu FN 120. 210 Vgl. oben III/3 sowie auch Karl August Bettermann, Vom Sinn und den Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit, in: Die Unabhängigkeit des Richters, Cappenberger Gespräch, Köln 1969, insb. 53; Herbert Schambeck, Der Richter und die Politik, ÖRiZ 1979, 213 ff.

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Karl Korinek

mehr er aber dazu tendiert, unscharfe und programmatische Formulierungen in den Verfassungstext aufzunehmen, Formelkompromisse, unter denen jeder etwas anderes versteht, mit normativer Geltung auszustatten211, um so mehr bringt er das Verfassungsgericht in die Position, über etwas zu entscheiden, über das Klarheit nicht besteht, ja oft nicht einmal gewollt ist.

211

Vgl. Gerhart Wielinger, Gesamtreform der Bundesverfassung — Gesamtreform des Verfassungsverständnisses?, in: Reformen des Rechts, FS-Rechtswiss Fak d Universität Graz, Graz 1979, 561 ff. (mwH).

Leitsätze

des Berichterstatters

über:

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen I. 1. Notwendige Voraussetzung für jede Verfassungsgerichtsbarkeit sind die rechtliche Existenz einer Verfassung als normative Grundordnung des Staates und die normative Überordnung dieser Verfassung. 2. Bei der Setzung genereller und individueller Normen werden stets übergeordnete Normen angewendet. Jede Rechtsetzung ist insoweit Rechtsanwendung und daher sowohl heteronom, als auch autonom bestimmt. Soweit Rechtsanwendung gebunden ist, hat sie der Norm, an die sie gebunden ist, zu entsprechen. Diese Entsprechung ist meßbar und damit möglicher Gegenstand gerichtsförmiger Prüfung. II. 3. Die Unabhängigkeit der Organwalter, der Maßstab, an dem das Verfassungsgericht mißt, sowie die Methode und das Verfahren der Entscheidungsfindung qualifizieren Verfassungsgerichtsbarkeit als Gerichtsbarkeit. Jedoch hat diese hinsichtlich der Organisation (Richterbestellung), der Aufgaben und der Wirkung der Entscheidungen eine politische Dimension. 4. Der Verfassungsbezug des Begriffs ,,Verfassungsgerichtsbarkeit" ist nur hinsichtlich der übergeordneten Zwecksetzung einheitlich; Gegenstand und Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrollen sind jedoch hinsichtlich verschiedener verfassungsgerichtlicher Verfahren unterschiedlich. III. 5. Verfassungsgerichtsbarkeit dient der Kontrolle der Ordnungsmäßigkeit der Kreation von Staatsorganen, der Klärung der Zuständigkeit von Staatsorganen und der Kontrolle des Handelns von Staatsorganen.

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Karl Korinek

6. Soweit die Kontrolle des Staatshandelns an die Voraussetzung der Formalisierung von Staatsakten geknüpft ist, kann sie als bloße Verfahrens- und Ergebniskontrolle funktionieren. Nicht formalisierte Staatsakte bedürfen in stärkerem Maß einer Verhaltenskontrolle. Soweit der Zugang zur Kontrolle nicht formalisierter Akte nicht funktioniert, könnte die Schaffung oder der Ausbau des Instituts der Ministeranklage erwogen werden. 7. Die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ist ausschließlich von der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes abhängig; denn der Grad der Bestimmtheit der Norm, die Prüfungsmaßstab für die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist, bestimmt, wie weit die Bindung des zu beurteilenden Aktes reicht und wie groß andererseits die autonome Gestaltung sfreiheit des Rechtsanwenders ist. IV. 8. Die zurückhaltende Judikatur des VfGH gesteht dem Gesetzgeber im Effekt einen wesentlich größeren rechtspolitischen Gestaltungsspielraum zu, als die Judikatur des BVerfG. Wichtige Ursachen für diesen Unterschied liegen in der strikten Fallbezogenheit und der strengen verfahrensrechtlichen Bindung des VfGH. Weiters hat der VfGH eine weitgehende Dispositionsmöglichkeit über die Folgen einer Gesetzesaufhebung; das erlaubt es ihm, bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von der Frage nach den Folgen seines Spruchs weitgehend zu abstrahieren. 9. Die Prüfungskompetenz der Verfassungsgerichte reicht nur soweit, als die Gebundenheit des Gesetzgebers reicht. Der den Gesetzgeber bindende verfassungsgesetzliche Rahmen ist auch materiell bestimmt; er ist enger, als die Kelsensche Interpretationslehre annimmt; andererseits ergibt sich nur selten aus dem Verfassungsrecht eine einzige verfassungsmäßige Lösung. 10. Die Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rahmens ist Sache der Verfassungsgerichte, die damit das demokratisch höher legitimierte Verfassungsgesetz zur lex perfecta gegenüber anderen Staatsakten machen sollen. Den Verfassungsgerichten sind jedoch Grenzen in methodischer (Zurückhaltung bei der aktualisierenden Interpretation) und prozeduraler (gerichtliche Methode) Hinsicht gezogen; überdies ist ihre Tätigkeit öffentlich kontrollierbar.

2. Mitbericht v o n Prof. Dr. Jörg P. Müller,

Bern

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen*) Inhalt Seite I. Allgemeine Charakterisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz II. Von der parlamentarischen zur gerichtlichen Verfassungskonkretisierung 1. Verfassungsrechtsprechung als politische Aufgabe 2. Bundesstaatliche Integration als Hauptanliegen . . 3. Soziale Einbindung der Verfassungsgerichtsbarkeit

55 58 58 60 61

III. Besonderheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz 1. Problematik von Art. 113 Abs. 3 BV 2. Einfluß derEMRK

63 63 65

IV. Verfassungsauftrag und Selbstverständnis des Verfassungsgerichts

67

V. Schutz der Essentialien von Bundesstaat, Demokratie und Rechtsstaat 1. Beschränkung auf die Essentialien 2. Bundesstaatliche Einheitsstiftung 3. Sicherung des rechtsstaatlichen und demokratischen Prozesses 4. Schutz direktdemokratischer Institutionen . . . . 5. Kerngehalte der Gerechtigkeit als Kontrollmaßstab 6. „Structural due process": Wechselwirkung zwischen Funktionalität und Sachgerechtigkeit VI. Verfassungsgericht zwischen Bürger und Staat . . . . 1. Herrschaftsfreier Diskurs? 2. Wissenschaftlichkeit des Urteilens?

70 70 71 72 73 75 79 81 81 84

*) Herr, lie. iur. Stefan Müller, Assistent an der Universität Bern, hat bei der Aufarbeitung und Sichtung des Materials, sodann vor allem als mein Gesprächspartner bei der Ausarbeitung und der — oft schmerzlichen — Kürzung des vorliegenden Referats wertvollste Hilfe geleistet. Ich danke ihm dafür.

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Jörg P. Müller

VII. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber . . . . 1. Verfassungskonforme Auslegung 2. Einwirkungen auf den Bundesgesetzgeber . . . . 3. Minderheitenschutz als Aufgabe des Gerichts . . . VIII. Prüfstein der Verfassungsgerichtsbarkeit

87 88 89 92 95

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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I. Allgemeine Charakterisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz Vor bald 700 Jahren hatten die Repräsentanten der drei Urkantone des schweizerischen Gemeinwesens im Bundesbrief von 1291 in einfachen Worten festgehalten: Entsteht Streit zwischen den Eidgenossen, sollen die Wägsten und Besten unter uns zusammentreten und ihn schlichten1. Solche Konfliktlösung im vereidigten Bund zu seiner Sicherung und zur Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit erscheint als Vorläufer heutiger Verfassungsgerichtsbarkeit 2 . Diese fügt sich in der gegenwärtigen Verfassungsordnung so selbstverständlich in das gesamte Gefüge staatlicher Funktionen ein, wie jenes erste Schlichtungsorgan in den Bund der Eidgenossen. Der Anteil der Verfassungsgerichtsbarkeit an der Verwirklichung des Gemeinwesens ist nicht würdiger, nicht minder würdig als Gesetzgebung, Regierung oder die übrige Gerichtsbarkeit. Für die Schweiz läßt sich Verfassungsgerichtsbarkeit nur adäquat darstellen, wenn man sie funktionell, nicht institutionell, versteht 3 . Sie wird in der Eidgenossenschaft heute in erster Linie von den zwei öffentlich-rechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts ausgeübt, von Abteilungen, die zugleich Verwaltungsgerichtsbeschwerden beurteilen4. Im Ineinan-

1

Original lateinisch. Für eine deutsche Übersetzung siehe R. Durrer, Die Bundesbriefe der alten Eidgenossenschaft, 1291—1513, Zürich 1904. 2 Zur Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit in der alten Eidgenossenschaft vgl. Jakob Dubs, Das öffentliche Recht der schweizerischen Eidgenossenschaft, II, Zürich 1878, S. 72 ff. Auch f ü r die BRD lassen sich gewisse Verbindungslinien von der Staatsgerichtsbarkeit bis zu moderner Verfassungsgerichtsbarkeit ziehen. Dazu ausführlich Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 1 ff.; vgl. ferner Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, Opladen 1980, S. 7 ff. 3 In diesem Sinn auch Max Imboden (Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz, in: Max Imboden, Staat und Recht, Bern und Stuttgart 1971, S. 257), mit besonderer Betonung der Verfassungsrechtsprechung durch die politischen Behörden; s. auch die folgende Anm. 9. * Die Einfügung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die übrige Gerichtsbarkeit wird besonders deutlich dadurch, daß neuerdings sogar ein Teil der Willkürrechtsprechung an die zivilrechtlichen Abtei-

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Jörg P. Müller

dergreifen von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit liegt eine gewisse Parallele zu den USA, dem Land mit der zweifellos größten verfassungsgerichtlichen Tradition: Der Supreme Court ist ja oberstes Bundesgericht schlechthin, nicht nur Verfassungsgericht 5 . Das Bundesgericht ist nicht ausschließliches, sondern nur letztinstanzliches Organ der Verfassungsrechtsprechung. Insbesondere ist die Verfassungswidrigerklärung eines kantonalen Gesetzes nicht ein Privileg des Bundesgerichts 6 . Auch in dieser Mehrstufigkeit des Judicial Review gleicht also das schweizerische System demjenigen der USA, wo jedenfalls die Bundesgerichte jeder Instanz die Gesetzesanwendung verweigern, wo nach ihrem Urteil ein Widerspruch zu den Garantien der Federal Constitution gegeben ist7. Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein Verfahren, den Vorrang der Verfassung sicherzustellen, ihre Imperative zu erfüllen; aber sie ist sicher nicht das einzige. Unsere Verfassung schreibt etwa dem Bundesrat, unserer Bundesregierung, ausdrücklich vor, generell über die Einhaltung der Bundesverfassung zu wachen und sie gibt der Aufsichtsbeschwerde an die Regierung wegen behaupteter Verfassungsverletzungen

lungen bzw. den Kassationshof in Strafsachen übergegangen ist; vgl. dazu Art. 4 Ziffern 4 und 5, Art. 5 Ziffern 6—8 und Art. 7 Ziffer 2 des Reglements f ü r das schweizerische Bundesgericht von 1978: SR 173. 111. 1. 5 Für einen Überblick über den Aufgabenbereich des U.S. Supreme Court z. B. Paul A. Freud, The Supreme Court of the United States, 2. Aufl. 1962, S. 11—27; Walter Haller, Supreme Court und Politik in den USA, Bern 1972, S. 98. In den USA ist ja umstritten, ob die Verfassung überhaupt dem Supreme Court die Kompetenz zur Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zuweisen wollte; dazu eingehend: Helmut Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, Berlin-Heidelberg-New York, 1974, S. 126 ff.; zur noch heute andauernden Kontroverse um den berühmten Entscheid Marbury v. Madison siehe auch Gerald Gunther, Constitutional Law, 9th ed., Mineóla New York 1975, S. 3 ff. sowie Haller, a. a. O., S. 121 ff. 6 BGE 104 Ia 79 ff., mit weiteren Hinweisen. Das Bundesgericht verpflichtet jedenfalls kantonale Gerichte zur Überprüfung, läßt aber offen, ob diese Pflicht auch Verwaltungsbehörden treffe. Siehe nun Ernst Höhn, Verfassungsrechtsprechung durch kantonale Verwaltungsgerichte (erscheint 1981). 7 Siehe dazu im einzelnen Laurence H. Tribe, American Constitutional Law, Mineóla, New York 1978, S. 147 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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besonderes Gewicht'. In g e w i s s e n Bereichen liegt auch form e l l die Verfassungsrechtsprechung bei der Regierung, mit R e k u r s m ö g l i c h k e i t an das Parlament 9 . So e t w a i m F a l l e des Art. 27 BV mit der Garantie genügenden, k o n f e s s i o n e l l neutralen und u n e n t g e l t l i c h e n Primarschulunterrichts. Dazu eine B e m e r k u n g , die zum w e i t e n Bereich der Grundrechtsansprüche auf Leistung führt, den w i r i m f o l g e n d e n nicht w e i t e r v e r f o l g e n können 1 0 : Es scheint m i r höchst aufschlußreich, daß gerade hier, w o der Bereich sozialer Grundrechte tangiert wird, eine politische Behörde m i t dem Schutz der Verfassungsrechte betraut ist. Ihr stehen finanzielle und andere Durchsetzungsmittel zur Verfügung, die d e m Gericht fehlen.

8 Art. 102 Ziff. 2 BV: „Der Bundesrat hat f ü r Beobachtung der Verfassung . . . zu wachen; er t r i f f t zur Handhabung derselben von sich aus oder auf eingegangene Beschwerde, soweit die Beurteilung solcher Rekurse nicht nach Art. 113 dem Bundesgericht übertragen ist, die erforderlichen Verfügungen." 9 Art. 73 und 79 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021) sowie Art. 84 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; SR 173.100); es handelt sich u. a. um Beschwerden, die Leistungsansprüche an den Staat betreffen (unentgeltliche Ausrüstung der Wehrmänner, Anspruch auf schickliches Begräbnis, Anspruch auf genügenden, unentgeltlichen und konfessionell neutralen Primarschulunterricht). Allgemein zu dieser Rechtsprechung: Theodor de Joncheere, Der Rechtsschutz in Verfassungsstreitigkeiten durch die politischen Bundesbehörden, Diss. Zürich 1958 (geschichtlicher Überblick S. 41 ff.). 10 Verfassungsgerichtsbarkeit ist im wesentlichen ein Instrument des liberalen Rechtsstaates und hat sich im Schutz klassischer Grundrechte auch weithin bewährt. Es fragt sich, ob man ihr unbeschadet auch noch die Last der Gerechtigkeitskontrolle im sozialen Leistungsbereich aufladen kann; es erscheint mir als eine ungelöste Aufgabe unserer Zeit, f ü r den Sozialstaat angemessenere Organe mit eigener Legitimität zu institutionalisieren und sie mit spezifischen Mitteln auszustatten, damit sie — wo immer soziales Unrecht zum Verfassungsproblem wird — am Ausbau oder an der Korrektur des Sozialstaates mitwirken können. Ich habe zum Problem bereits mehrfach Stellung genommen: vgl. „Soziale Grundrechte in der Verfassung?"; ZSR 92 (1973) II, S. 697 ff., sowie „Soziale Grundrechte in der schweizerischen Rechtsordnung, in der Europäischen Sozialcharta und den UNO-Menschenrechtspakten" (erscheint demnächst im Jahrbuch der Bitburger Gespräche 1980, Gesellschaft für Rechtspolitik Trier).

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Jörg P. Müller

II. Von der parlamentarischen zur gerichtlichen Verfassungskonkretisierung Betrachtet man den schweizerischen Bundesstaat seit seiner Gründung im Jahre 1848, so fällt auf, welches Gewicht der Verfassungsrechtsprechung als Faktor bundesstaatlicher Integration zukam, und es erstaunt der erhebliche Anteil, den die politischen Behörden, also Regierung und Parlament, an dieser Aufgabe hatten. 1. Verfassungsrechtsprechung

als politische

Aufgabe

Die Verfassung von 1848 hatte vorgesehen, daß grundsätzlich die politischen Behörden Staatsrechtsprechung ausüben sollten, und daß das Bundesgericht nur im Umfang der ihm vom Gesetzgeber zu übertragenden Fälle judizieren soll11. Während der Geltungsdauer unserer ersten Bundesverfassung überwies das Parlament nur gerade einen Fall dem Gericht zur Beurteilung 12 . Das führte schließlich zur Klage, das Parlament müsse mehr als die Hälfte seiner Tagungszeit der Beschwerdebeurteilung widmen13. Der geschichtliche Hintergrund war der: Ein nach dem Majorzverfahren bestelltes, überwiegend aus Vertretern der freisinnigen Partei zusammengesetztes Parlament erachtete Verfassungsrechtsprechung wesentlich als sein Privileg, zu wichtig, als daß man sie einem pandektistisch geschulten, nach „streng juristischer Methode" arbeitenden und insofern politisch unzuver11 Art. 105 der Bundesverfassung von 1848: „Das Bundesgericht urteilt im ferneren über Verletzung der durch die Bundesverfassung garantierten Rechte, wenn hierauf bezügliche Klagen von der Bundesversammlung an dasselbe gewiesen werden." Vgl. dazu Eidgenössische Abschiede 1847, IV, S. 155. 12 Urteil vom 3. 7. 1852 in Sachen Dupré, wiedergegeben in Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 2 (1853), S. 41 ff.; eine Zusammenfassung und Würdigung findet sich bei Otto K. Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit 1875 — 1974 — 19. .? ZSR 93 (1974) I, S. 340, Anm. 1. Die große Zurückhaltung in der Übertragung auf das Gericht hat ζ. T. auch praktische Gründe: „Die Frage, ob im Spezialfall die Überweisung stattzufinden habe, veranlagte in den Räten jedesmal so eingehende Debatten über den Hauptstreitgegenstand selbst, daß man es dann für angezeigt hielt, über denselben gleich mitzuentscheiden"; J. Dubs, a . a . O . (Anm. 2), S. 81 f.; siehe auch Z. Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 36. 13 Dubs, a. a. O. (Anm. 2), S. 81 f.

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lässigen Gericht hätte anvertrauen wollen14. In seinen Erläuterungen von 1870 zur Totalrevision der Bundesverfassung stellt der Bundesrat fest, die verfassungsmäßigen Rechte seien normativ noch zu wenig gefestigt, als daß ein Richter mit ihnen umgehen könne15. Geschichten aus Seldwyla oder ver14 Die Vorstellung einer klaren Trennung von Recht und Politik, die ausschließliche Zuordnung des Richters zur „Rechtssphäre" sowie die Angst vor einer Politisierung der Gerichte bildeten noch lange gewichtige Argumente gegen einen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit. Siehe ζ. B. Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, München 1857, Bd. I. S. 553 ff.; William E. Rappard, Le contrôle de la constitutionalité des lois fédérales par le juge aux Etats-Unis et en Suisse, ZSR 53 (1934), S. 36a ff., S. 141a f. und die Diskussionsvoten von Burckhardt und Kirchhofer daselbst S. 288a, S. 299a; André Panchaud, les garanties de la constitutionalité et de la légalité en droit fédéral, ZSR 69 (1950), S. la ff., S. 42a; Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für die Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Bundesblatt 1937 III, S. 23 f. Klärend zum politischen Hintergrund auch Andreas Auer, Réflexions sur l'art. 113 al. 3 Cst., ZSR 99 (1980) I, S. 110 f. Gerade das erwähnte einzige Urteil des Bundesgerichts (Anm. 12) war nicht dazu angetan, diesbezügliche Bedenken der politischen Behörden zu zerstreuen, bewies doch das Gericht eine erstaunliche Unabhängigkeit gegenüber den Anschauungen der Parlamentsmehrheit; vgl. Kaufmann, a. a. O. (Anm. 12), S. 340, Anm. 1. 15 Bundesblatt 1870 II, S. 700: „Der politische Vorteil der bisherigen Einrichtung lag darin, daß die Bundesversammlung in den Rekursentscheidungen ein Mittel in der Hand hatte, um das Bundesrecht praktisch fortzubilden und in freierem Geiste zu entwickeln. In der Tat sind von der Bundesversammlung in der Form solcher Rekursentscheidungen eine Anzahl von Beschlüssen gefaßt worden, die viel eingreifender wirkten, als Gesetze es zu tun imstande gewesen wären. Allein man darf nicht verkennen, daß diese Beschlüsse ausnahmslos sich auf Gebieten bewegten, welche auch in Zukunft nicht in die Domäne des Bundesgerichts übergehen werden. Es wird wohl jedermann damit einverstanden sein, daß bei der endlichen Ausscheidung der Gebiete keine Materien dem Bundesgerichte übergeben werden, in welchen die Rechtsverhältnisse noch schwankend sind; denn es gehört j a nicht zu den Funktionen des Richters, das Recht zu machen, sondern er hat das gegebene Recht nur anzuwenden. Es liegt somit ganz in der Hand der Bundesversammlung, alle Gebiete, wo eine Weiterbildung des öffentlichen Rechtes wünschbar zu sein scheint, bei eigenen Händen zu behalten und damit den politischen Vorteil der bisherigen Einrichtung zu retten, ohne die Bundesversammlung mit einem Ballaste von Rekursen zu belasten, welche keinerlei allgemeines Interesse bieten."

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Jörg P . Müller

fassungsdogmatisches Lehrstück? Lag der Praxis eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten richterlicher Verfassungsrechtsprechung in einem erst noch voll zu integrierenden Gemeinwesen zugrunde? Das Parlament war unter der Herrschaft der neuen Verfassung von 1874 bereit, einzelne Grundrechte dem Bundesgericht in Obhut zu geben, vorsichtig dosiert, im wesentlichen schrittweise nach Maßgabe ihrer Verdichtung im Prozeß der parlamentarischen Grundrechtskonkretisierung 16 und in der Meinung, daß der Richter auf dem guten P f a d fortschreite, den ihm das politische Organ gewiesen 17 . Dieser Wille findet bis heute seinen rechtlichen Ausdruck in Art. 113 Abs. 3 der BV, der die Bundesgesetze auch für das Bundesgericht in jedem Fall als „maßgebend" erklärt. Bis zum Jahre 1911 war dann der schrittweise Übergang der Verfassungsrechtsprechung an das Bundesgericht praktisch abgeschlossen.

2. Bundesstaatliche

Integration

als

Hauptanliegen

Blicken w i r heute auf die geschilderte Epoche des 19. Jahrhunderts zurück, wird deutlich, welch hervorragende Rolle das Parlament gerade auch mit seiner verfassungsrechtlichen Beschwerdepraxis im Dienste der Integration des jungen Bundesstaates erfüllt hatte. Existenzielle Fragen standen auf dem Spiel: Etwa die Regelung der Freizügigkeit, das Ausmessen der Religionsfreiheit der immer noch im konfes16 1874 verblieb die Rechtsprechung, insbesondere in den Bereichen der Niederlassungsfreiheit, der Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit, der politischen Rechte und der Wirtschaftsfreiheit bei den politischen Behörden. Der Übergang an das Bundesgericht erfolgte im Jahre 1893, mit Ausnahme der Handels- und Gewerbefreiheit, welche erst 1911 nachfolgte; v g l . statt vieler Joncheere, a. a. O. (Anm. 9), S. 41 ff., 61 ff., 73. 17 Aufschlußreich in diesem Zusammenhang die Begründung des Bundesrates in der Botschaft betreffend Übertragung der Rechtsprechungskompetenz im Bereich der Handels- und Gewerbefreiheit an das Bundesgericht: „ E i n e Praxis von 35 Jahren hat den Verfassungsgrundsätzen, die anfangs dem Richter keinen sicheren Boden zu geben schienen, feste Umrisse verliehen, und es liegt im Interesse der Rechtssicherheit, daß die Rechtssprechung sich möglichst konsequent und widerspruchslos fortentwickle. Ein Gericht ist zu dieser A u f g a b e besser geeignet als die politischen Behörden, die sich nur ab und zu mit solchen Rechtsfällen zu befassen haben und deren Hauptinteresse auf einem andern Gebiete l i e g t . " (Bundesblatt 1911 I I I , S. 64 f.).

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

61

sionellen Streit befangenen Christen, die Durchsetzung der Pressefreiheit auch im Interesse der freisinnigen B l ä t t e r im Widerstand gegen konservative Abschließungstendenzen, die Realisierung der Ehefreiheit gegen konfessionelle und armenrechtliche Hindernisse 18 : K a m für die Lösung so schwieriger und für den Bestand des neuen Staates so bedeutsamer F r a g e n überhaupt ein anderes Organ in F r a g e als eben die Bundesversammlung, der nach dem Konzept der Verfassung die „oberste Gewalt des Bundes" 1 9 zukam?

3. Soziale Einbindung

der

Verfassungsgerichtsbarkeit

Eine inhaltliche Analyse der frühen Rechtsprechung durch die eidgenössischen R ä t e zeigt, daß es ebenso falsch wäre, ihre Entscheide zu Verfassungsfragen als rein politisch abzutun, wie diejenigen des Bundesgerichts als unpolitisch zu qualifizieren 20 . Die Normativität der Verfassung hat sich im

18 Die Rechtssprechung von Bundesrat und Bundesversammlung in den genannten Bereichen findet sich bei R. E. Ullmer, Staatsrechtliche Praxis der schweizerischen Bundesbehörden aus den Jahren 1848—1863,1 47 ff., II 45 ff., Zürich 1866; L. R. v. Salis, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Auflage, Bern 1903, II S. 356 ff., W. Burckhardt, Schweizerisches Bundesrecht, Frauenfeld 1930, II S. 3 ff.; allgemeiner dazu auch F. His, Geschichte des neueren Schweizerischen Staatsrechts, Basel 1948, III S. 533 ff. 19 So ausdrücklich Art. 71; vgl. Kurt Eichen berger, Die oberste Gewalt im Bunde, Bern 1949. 20 Besonders prononciert hat der damalige Bundesrichter und spätere Professor Hans Huber den politischen Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben: „Der Verfassungsgerichtshof hat die echten Grundrechte, von Haus aus bloße Rechtsgrundsätze, Programmsätze ohne Rechtssatzcharakter, in Rechtssätze zu verwandeln, bevor er sie anwenden kann, und diese Tätigkeit ist nicht Auslegung und Anwendung, sondern Verfassungsgesetzgebung; sie bewegt sich auf dem Felde der Politik, wenn auch nicht der Tagespolitik." (Die Garantie der individuellen Verfassungsrechte, ZSR 55, 1936, S. 188a). Vgl. aber auch Hubers spätere, differenzierte Stellungnahmen, insbesondere die Aufsätze: Der Formenreichtum der Verfassung und seine Bedeutung für ihre Auslegung, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins (ZBJV) 107 (1971), S. 172 ff. sowie Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: Der Staat als Aufgabe, Gedenkschrift für Max Imboden, Basel und Stuttgart 1972, S. 191 ff. Siehe zu diesem Problemkreis auch Richard Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, Zürich 1961.

62

Jörg P. Müller

Parlament sicher stärker mit politischer Rücksicht- und Parteinahme vermischt als später im Bundesgericht21; aber es fragt sich, ob der Auftrag zur Integration des Gemeinwesens Schweiz unter der „unpolitischen" Lenkung durch ein unabhängiges Verfassungsgericht sich überhaupt hätte verwirklichen lassen. Diese geschichtliche Erfahrung wirft Licht auf das zentrale Problem: Einem Verfassungsgericht kann soziale Steuerungsfunktion nur zugemutet werden unter Rücksichtnahme auf seine notwendige Einbettung in das jeweilige politische System und die es umgebende Wirklichkeit22. Das Verfassungsgericht ist, unter anderem weil ihm kein eigener Zwangsapparat zur Durchsetzung seiner Urteile zur Verfügung steht, auf das „Mitgehen" der übrigen Staatsorgane und auf den Grundkonsens der Rechtsgemeinschaft angewiesen. Hier trifft sich die Erfahrung politischer Geschichte mit Erkenntnissen der neueren Methodendiskussion, die den Bezug jeder Verfassungsauslegung auf den Normbereich mit seinen sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingtheiten stark betont23.

21

Vgl. Bundesblatt 1874 I, S. 1097, wo der Bundesrat zum Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit ausführt: „Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß gegenwärtig in der Schweiz, wie die Verhältnisse nun einmal vorliegen, die konfessionellen Fragen sehr oft politische Fragen sind." 22 Vgl. dazu Peter Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, Königstein 1979, S. 447, mit Fußnote 62. Für die Schweiz noch immer grundlegend: Dietrich Schindler (sen.), Verfassungsrecht und soziale Struktur, 5. Auflage, Zürich 1970. 23 Für einen Überblick über die Methodenlehre, namentlich in der Folge der Schriften von Friedrich Müller und Niklas Luhmann siehe nun Bernhard Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 19 (1980), S. 73 ff. Trotz der Durchdringung von Norm und Wirklichkeit darf das Verfassungsrecht das Primat der Norm nicht zugunsten der Faktizität etwa der heutigen Wirtschafts- und Verkehrsgesellschaft, die es nur noch zu legitimieren gelte, aufgeben; in diesem Sinn auch Helmut Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, Berlin 1975, S. 180 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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III. Besonderheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz 1. Problematik

von Art. 113 Abs. 3 BV

Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts ist noch heute durch den erwähnten Art. 113 Abs. 3 BV beschnitten, nach dem Bundesgestze24 der verfassungsrichterlichen Kontrolle entzogen sind25. Soll in diesem Punkt die Verfassungsgerichtsbarkeit, etwa

24 Gegenüber den Kantonen besteht eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit, und auch Verordnungen des Bundesrates und ihm untergeordneter Bundesstellen können im Anwendungsfall überp r ü f t werden. Übersichten über die geltende Ordnung finden sich bei Jean-François Aubert, Traité de droit constitutionnel Suisse I, Neuchâtel 1967, Nr. 443 ff.; Max Imboden, a. a. O. (Anm. 3), S. 257 ff.; Gerhard Schmid, Zur Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Entwurf einer totalrevidierten Bundesverfassung, in: Totalrevision der Bundesverfassung — Notwendigkeit oder Wunschtraum?, Zürich 1978, S. 139 f. 25

Gegen die Einschränkung von Art. 113 Abs. 3 BV erhob sich bei den Verfassungsberatungen kaum Widerstand. Die dominierenden Freisinnigen wollten die Auslegung der maßgeblich durch ihren Willen geprägten Verfassung auch weiterhin primär in ihren Händen behalten; vgl. zum Ganzen: Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 110 f. Die These von Max Imboden, wonach Art. 113 Abs. 3 BV dann nicht anwendbar sei, wenn ein Bundesgesetz gegen eine Norm der BV verstoße, die unmittelbar den Bürger berechtige oder verpflichte (Verfassungsgerichtsbarkeit — Anm. 3 —, S. 268) hat sich nicht durchzusetzen vermocht. Ansatzweise wird sie immerhin in einer neuen Botschaft des Bundesrates über die Volksinitiative „Gleiche Rechte f ü r Mann und F r a u " (Bundesblatt 1980 I 129 f.) wiederaufgenommen. Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 119 ff. betont, Art. 113, verbiete dem Bundesgericht nicht, ein Bundesgesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, sondern nur, aus einer allfälligen Verfassungswidrigkeit Konsequenzen zu ziehen. Die Praxis gibt Auer insofern recht, als das Bundesgericht den Gesetzgeber bereits mehrmals auf verfassungswidrige und damit revisionsbedürftige Gesetzesbestimmungen aufmerksam gemacht hat. Siehe dazu Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 12), S. 350, mit Hinweisen in Anm. 33. Vgl. auch hinten S. 89 f.

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im Zuge der Totalrevision der BV, ausgebaut werden26· 27? Seit der Einführung des Gesetzesreferendums steht in der Diskussion nicht mehr der Hinweis auf das Primat des Parlaments im Vordergrund, sondern die Problematik der richterlichen Korrektur eines Volksentscheides 28 . 26

Der Verfassungsentwurf von 1977 sieht in Art. 109 die konkrete Normenkontrolle auch gegenüber Bundesgesetzen vor; dazu im einzelnen: Bericht der Expertenkommission f ü r die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, S. 178 ff.; Gerhard Schmid, a. a. O. (Anm. 24), S. 140 ff.; Walter Haller, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit?, ZSR 97 (1978) I, S. 523 ff.; unzutreffend Stern, a. a. O. (Anm. 2), S. 11, der darin ein Vordringen der Verfassungsgerichtsbarkeit nach deutschem Muster erblickt. 27 Neueste Stellungnahmen befürworten größtenteils einen Ausbau: Philippe A bravanel, La protection de l'ordre public dans l'Etat régi par le droit, ZSR 99 (1980) II, S. 25 ff.; Kurt Eichenberger, Entwicklungstendenzen in der schweizerischen Demokratie, in: Menschenrechte-Föderalismus-Demokratie, Festschrift Kägi, Zürich 1979, S. 83 f.; Walter Haller, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DÖV 1980, S. 471. Ein Hauptargument der Befürworter eines Ausbaus der Verfassungsgerichtsbarkeit bildet die Kompetenzverlagerung von den Kantonen auf den Bund in den letzten Jahrzehnten. Dieser erscheint daher gegenüber früher in weit stärkerem Maße als potentieller Bedroher der Freiheitsrechte; vgl. statt vieler Abravanel, a. a. O., S. 26; Bericht der Expertenkommission Totalrevision (Anm. 26), S. 178 ff. Daneben gewinnt auch der Gedanke an Bedeutung, der Bund solle an Kompetenzusurpationen gehindert werden; Bericht der Expertenkommission Totalrevision (Anm. 26), S. 179. Im Jahre 1974 wurden im Parlament zwei Motionen eingebracht, welche einen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Bund forderten (Motionen Aider und Heimann; siehe Amtliches Bulletin Nationalrat 1974, S. 1821 ff. und Ständerat 1974, S. 442 ff.). Sie erreichten die erforderliche Parlamentsmehrheit nicht. 28 So ist z. B. f ü r Imboden (a. a. O. — Anm. 3 — S. 275) das Referendumsrecht der Hauptgrund zur Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen (vgl. aber auch Anm. 25). Diesem Argument wurde mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer präventiven Verfassungsgerichtsbarkeit begegnet; verschiedenste Möglichkeiten solcher vorgängiger Kontrolle von Gesetzen wurden diskutiert, so z. B. an den schweizerischen Juristentagen 1934 und 1950; vgl. dazu die Referate von Fleiner, Rappard, Panchaud und Nef (ZSR 53 - 1934 - S. la ff., 36a ff. und ZSR 69 - 1950 - S. la ff., 133a ff.). Auch in den Vorbereitungsarbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung wurden verschiedene Modelle präventiver Verfassungsgerichtsbarkeit geprüft: siehe Schlußbericht der Arbeitsgruppe f ü r die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung („Kommission Wahlen"), Band VI, Bern 1973, S. 421 ff.

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Mit großem Mehr und von allen Kantonen wurde im Jahre 1939 eine Volksinitiative verworfen, welche die Verfassungsgerichtsbarkeit über Bundesgesetze einführen wollte 29 ; ausgenommen davon sollten nach der Initiative Gesetze sein, über die das Volk im Referendum tatsächlich abgestimmt hatte30. Anlaß zum Revisionsbegehren hatten die zahlreichen dringlichen Bundeserlasse in der Krisensituation der Zwischenkriegszeit gegeben. Beunruhigung bestand über die Kompetenzanmaßung des Bundesgesetzgebers und Beschneidungen der Wirtschaftsfreiheit 31 . Die unerläßliche Wiedereinbindung des Bundesgesetzgebers in die demokratisch legitimierte Verfassungsordnung erfolgte schließlich durch die Verfassungsrevision von 1949. Die von Volk und Ständen gutgeheißene Initiative „Rückkehr zur direkten Demokratie" verlangte, dringliche Bundesbeschlüsse nach ihrem Inkrafttreten dem Referendum zu unterstellen 32 . Ein Ausbau direktdemokratischer Institutionen war also die Antwort auf den geschilderten Verfassungsmißstand und nicht die Ausweitung verfassungsgerichtlicher Kontrolle33. 2. Einfluß der EMRK Nun hat der Ausschluß der Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzen mit dem Beitritt der Schweiz zur EMRK im 29 Vgl. dazu Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 112 f. und Walter Haller, Ausbau (Anm. 26), S. 502, sowie den Bericht des Bundesrates (Bundesblatt 1937 III, S. 5 ff.); zum Ausgang der Abstimmung: Bundesblatt 1939 I, S. 161 f. 30 Im Gegensatz su solchen, die durch Nichtergreifen des Referendums stillschweigend gutgeheißen werden. Die Differenzierung stieß in der Lehre vorwiegend auf Ablehnung; vgl. statt vieler Schmid, a. a. O. (Anm. 24), S. 142. 31 Vgl. ζ. Β. Aubert, a. a. O. (Anm. 24), Nr. 166 f. sowie J. P. Müller, Gebrauch und Mißbrauch des Dringlichkeitsrechts, Bern 1977, S. 10 f. 32 Art. 89 bis BV. Die Änderung wurde von Volk und Ständen — gegen den Willen von Bundesrat und Bundesversammlung — knapp angenommen (vgl. Bundesblatt 1948 I, S. 1071 ff.; 1949 I, S. 581). Zu den Erfahrungen mit dem neuen Instrument vgl. J. P. Müller, Gebrauch und Mißbrauch (Anm. 31), S. 13 ff. 33 Bundesrichter Kaufmann (Verfassungsgerichtsbarkeit — Anm. 12 —, S. 356 f.) äußert Zweifel, ob in der damaligen Krisenzeit eine 'bundesgerichtliche Überprüfungskompetenz grundsätzliche Änderungen des Maßnahmenrechts bewirkt hätte und vermutet, das Bundesgericht hätte sich nicht zum Gegenspieler der politischen Behörden entwickelt.

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Jahre 1974 einiges an B e d e u t u n g verloren: Staatsvertragsv e r l e t z u n g e n k ö n n e n i m gleichen Verfahren w i e Verfass u n g s v e r s t ö ß e v o r Bundesgericht gerügt werden 3 4 ; dies hat, z u s a m m e n m i t d e m Grundsatz der a u t o m a t i s c h e n Übernahm e des Völkerrechts 3 5 und w e g e n des self-executing-Charakters der m e i s t e n Konventionsrechte 3 6 zu einer Verschmelzung v o n Staatsvertrags- und V e r f a s s u n g s b e s c h w e r d e im Bereich der EMRK geführt. D a Staatsverträge in aller Regel B u n d e s g e s e t z e n vorgehen, b e s t e h t h e u t e i m Bereich der Konventionsrechte auch gegenüber B u n d e s g e s e t z e n ein akzessorisches Prüfungsrecht des Bundesgerichts 3 7 . Man k ö n n t e g l e i c h s a m v o n einer — j e d e n f a l l s t e i l w e i s e n — „ k a l t e n Einf ü h r u n g " der Verfassungsgerichtsbarkeit auf B u n d e s e b e n e sprechen 3 8 . 34

Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 BV und Art. 84 Abs. 1 lit. a und c OG. Siehe z. B. J. P. Müller, Völkerrecht und schweizerische Rechtsordnung, in: Handbuch der schweizerischen Außenpolitik (Hrsg.: Riklin, Haug, Binswanger), Bern und Stuttgart 1975, S. 223. 36 Statt vieler: Luzius Wildhaber, Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZSR 98 — 1979 — II, S. 336 ff. mit weiteren Hinweisen. 37 Eindeutig haben sich Lehre und Praxis in der Schweiz nur f ü r den Vorrang von Staatsverträgen gegenüber früher entstandenen Bundesgesetzen ausgesprochen, mehrheitlich wird jedoch ein genereller Vorrang der Staatsverträge bejaht (Wildhaber, a. a. O. — Anm. 36 —, S. 329 ff. mit Hinweisen). Im Falle der EMRK sprechen auch Praktikabilitätserwägungen f ü r das Primat der Konvention, da jedenfalls die Straßburger Organe — deren Zuständigkeit die Schweiz anerkannt hat — konventionswidrige Bundesgesetze ungeachtet ihres Entstehungsdatums nicht anwenden würden; dazu eingehend J. P. Müller, Die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz, ZSR 94 (1975) I, S. 379 ff.; in der gleichen Richtung Dietrich Schindler, Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention f ü r die Schweiz, a. a. O.,S.366 ff.; eher zurückhaltend neuerdings Abravanel, a. a. O. (Anm. 27) S. 27 f. sowie Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 139 f. 38 Während das BVerfG die EMRK nicht unmittelbar anwendet (vgl. statt vieler Konrad Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 428) p r ü f t das Bundesgericht seit 1974 regelmäßig bei Konkurrenz von Grundrechten und Konventionsgarantien beide Rechtspositionen. Vgl. die seit 1978 im Schweizerischen Jahrbuch f ü r Internationales Recht erscheinenden, umfassenden Rechtsprechungsberichte von Georges Malinverni und Luzius Wildhaber, Schweizerische Praxis zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1978, S. 167 ff.; 1979, S. 181 ff.); siehe auch Stefan Trechsel, Erste Erfahrungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZBJV 115 (1979), S. 457 ff. Zur allgemeinen — und noch zu wenig beachteten — Einwirkung 35

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Ein Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene wäre heute im wesentlichen 39 eine Frage der Erweiterung der konkreten um die abstrakte Normenkontrolle und des Einbezugs der von der EMRK nicht erfaßten Grundrechte, wie Willkürverbot und Wirtschaftsfreiheit, in die richterliche Prüfungsbefugnis. IV. Verfassungsauftrag und Selbstverständnis des Verfassungsgerichts Ein Verfassungsgericht habe die Verfassung auszulegen, anzuwenden, und den Vorrang der Grundordnung gegenüber allem nachgeordneten Recht sicherzustellen. Das ist der gängige Gedanke. Die schweizerische Erfahrung lehrt aber, daß sich Verfassungsrechtsprechung keineswegs in Auslegung und Anwendung der Verfassung erschöpfen muß, auch dann nicht, wenn man sich weit vom gesetzespositivistischen Denken entfernt und die kühnsten Auslegungsmethoden mit weitester Relativierung des Verfassungstextes herbeizieht. Der für unsern Zusammenhang interessierende40 Auftrag an das Verfassungsgericht lautet: Das Bundesgericht beurteilt „Beschwerden betreffend die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger". Weder Verfassung noch Gerichtsorganisationsgesetz präzisieren jedoch41, welche Rechtspositionen in den Kreis der verfassungsmäßigen Rechdes heutigen Völkerrechts auf die Verfassungsentwicklung siehe die grundsätzlichen Ausführungen von Wilfried Fiedler, Fortbildung der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht?, JZ 1979, S. 424 f. 39 Als wichtige Lücke im jetzigen System ist auch die nur unvollständige Überprüfbarkeit bundesrätlicher Hoheitsakte zu betrachten; vgl. Haller, Ausbau (Anm. 26), S. 525; siehe auch den Schlußbericht der Arbeitsgruppe Totalrevision (Anm. 28), S. 414 f. 40 Wir beschränken uns hier auf die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger (Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 BV und Art. 84 Abs. 1 lit. a OG); außer Betracht fallen demnach die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Kanton oder zwischen Kantonen (Art. 83 lit. a und b OG) und die durch das Parlament zu entscheidenden sog. Organstreitigkeiten (Art. 85 Ziff. 13 BV). 41 In den Art. 85—87 OG finden sich lediglich Hinweise auf einzelne verfassungsmäßige Rechte mit besonderem prozessualen Status. Zur Qualifikation von Bestimmungen der Kantonsverfassungen als Grundrechte vgl. statt vieler BGE 104 Ia 284 ff.

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te fallen. Das Bundesgericht hat in einer kühnen Rechtsschöpfung, die ohne Vergleich in unserer, wenn nicht gar in irgendeiner europäischen Rechtsordnung steht, in Erfüllung seines Verfassungsauftrags selbst bestimmt, was es als verfassungsmäßiges Recht unter seinen Schutz nehmen will. Von den in der heutigen Staatsrechtsprechung bei weitem im Vordergrund stehenden Grundrechte des Bundes, wie Willkürverbot, Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsentfaltung, Rechtliches Gehör, ist keines im Verfassungstext als Individualrecht ausdrücklich enthalten 42 . Es war das Selbstverständnis des Gerichts über seine Funktion im schweizerischen Bundesstaat, das Motor und Leitstern solcher Entwicklung war, und diese Funktion hat das Gericht in der Sicherung der Essentialien einer demokratischen, rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Ordnung gesehen. Erst in seiner Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Grundrechten der Bundesverfassung hat das Gericht dieses Selbstverständnis auch explizit zum Ausdruck gebracht, indem es erklärte, die Annahme ungeschriebener Grundrechte rechtfertige sich nur f ü r Befugnisse, „die eine Voraussetzung f ü r die Ausübung anderer Freiheitsrechte bilden oder die sonst als unentbehrliche Bestandteile der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes erscheinen" 43 . Wie aber sind solche Essentialien zu erkennen? Der Raum zu rechtsphilosophischer Auslotung des Problems fehlt uns hier. Das Bundesgericht hat in einem Entscheid zur persönlichen Freiheit angedeutet, aus welchen Quellen es bei Erfüllung dieser Aufgabe schöpfe: aus Rechtsvergleichung und den Imperativen internationaler Menschenrechtserklärungen, sodann aber auch in allgemeiner Weise aus den „ethischen Prinzipien", die nach jeweiligen Wertvorstellungen und wechselnden Sozialverhältnissen f ü r menschenwürdiges Dasein in rechtsstaatlicher Freiheit unerläßlich seien 44 . Die ungeschriebenen Grundrechte unserer Verfassungsordnung sind nur eine, allerdings höchst augenfällige Erschei42

Eine Ausnahme machen die Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31) und seit 1969 die Eigentumsgarantie (Art. 22ter). 43 BGE 96 I 107; vgl. auch 96 I 223 f. und 100 Ia 400 f. Neuerdings fordert das Bundesgericht zusätzlich zu den genannten Kriterien, das betreffende Grundrecht müsse einer weitverbreiteten Verfassungswirklichkeit in den Kantonen entsprechen: 104 Ia 96; Kritik an dieser Rechtsprechung in ZBJV 116 (1980) S. 236 ff. Siehe auch Denis Barrelet, Le droit du journaliste à l'information, Schweizerische Juristenzeitung (SJZ) 1979, S. 71. 44 BGE 97 I 50 f.

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nung des allgemeinen Phänomens, daß das Selbstverständnis des Verfassungsgerichts über seine Funktion den Inhalt seiner Rechtsprechung stark prägt. Zahlreiche weitere Beispiele aus der schweizerischen Praxis im materiell-rechtlichen und prozessualen Bereich ließen sich anfügen: So die Ausweitung des Gleichheitssatzes zu einer weit ausgefächerten Rechtsstaatsgarantie 45 oder die Ausscheidung einer prozessual privilegierten Klasse sogenannt unverjährbarer und unverzichtbarer Rechte46. Die Aufgabe, generell Hüter der Essentialien von Rechtsstaat und Demokratie zu sein, tritt auch abgesehen von den ungeschriebenen Grundrechten mitunter so stark in den Vordergrund, daß der „Aufhänger" für eine Verfassungskonkretisierung fast nebensächlich wird: So ordnet die Rechtsprechung den Schutz der Verteidigerrechte bald einmal BV Art. 4, bald einmal der persönlichen Freiheit zu47; in neuesten Fällen verzichtet das Gericht überhaupt auf eine Abstützung im Verfassungstext, so neuerdings in der Rechtsprechung zur Gewaltentrennung 48 und zum Delegationsproblem49. Ich schließe nicht aus, daß ohne den starken Einfluß des Bonner Grundgesetzes und der zugehörigen Lehre und Rechtsprechung das Bundesgericht den Katalog der Einzelgrundrechte nicht ausdrücklich erweitert, sondern BV Art. 4 als „Bastion zum Schutz der Menschenrechte" 50 , ausgebaut hätte 51 . 45 Dazu grundlegend: Peter Saladin, Das Verfassungsprinzip der Fairneß, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts (Festgabe der schweizerischen Rechtsfakultäten zur Hundertjahrfeier des Bundesgerichts), Basel 1975, S. 41 ff. 46 Vgl. dazu Christoph Leuenberger, Die unverzichtbaren und unverjährbaren Grundrechte in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichtes, Diss. Bern 1976; siehe aus der neuesten Praxis BGE 104 Ia 172 ff. 47 So spricht sich BGE 100 Ia 186 ff. für eine Zuordnung zu BV 4, das nicht publizierte Urteil vom 26. März 1980 i. S. Frischknecht (E. 7) für eine Zuordnung zur persönlichen Freiheit aus. 48 Unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts i. S. Frischknecht vom 26. März 1980 E. 7 lit. c unter bb. 49 Dazu unten S. 80. 50 So Bundesrichter Arthur Häfliger in seinem Votum am Schweizerischen Juristentag 1980 (wird in ZSR 99 — 1980 — II publiziert werden). Vgl. auch Fritz Gygi, Grundrechtskonkurrenz?, in: Mélanges Henri Zwahlen, Lausanne 1977, S. 73 f., der BV 4 als Auffanggrundrecht betrachtet. 51 Eine vergleichbare Ausdehnung haben die due process of law — und die equal protection — Klausel des 14. Amendments der amerikanischen Verfassung erhalten. Dazu ζ. B. Heinz Hausheer, Rechts-

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V. Schutz der Essentialien von Bundesstaat, Demokratie und Rechtsstaat Ich möchte nun durch beispielhafte Erörterung meiner These vom Verfassungsgericht als Hüter der Essentialien einer demokratischen, rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Ordnung seine Funktion im Verfassungsgefüge verdeutlichen. 1. Beschränkung

auf die

Essentialien

Behüten meint anderes als bewachen. Der Wächter hat bloß Bestehendes zu sichern, dem Hüter ist aufgetragen, Lebendiges lebendig zu erhalten: Er schützt und pflegt, trifft Vorkehren, damit das Behütete seiner Bestimmung gemäß wachse und im Wandel seines Umfeldes lebendig bleibe, sich entfalte. Es geht um Behütung der Essentialien, nicht um Konstituierung, um Aufbau des Ganzen ab initio. Keine Verfassung weist jene Dichte auf, die notwendig wäre, um eine gerechte Sozialordnung auch inhaltlich zu determinieren"; und das Gerichtsverfahren ist, selbst bei weitestem Ausbau der Anhörungsrechte, Hearings und ähnlicher Verfahren in der Regel gar nicht fähig, jenen weit offenen gesellschaftlichen Interessenausgleich sicherzustellen, den die Gesetzgebung mit ihren Vorphasen und begleitenden Einflußnahmen der öffentlichen Meinung und anderer gesellschaftlicher Kräfte optimal zu gewährleisten sucht53.

gleichheit — Due process und Equal protection, Bern 1966, vgl. auch Tribe, a. a. O. (Anm. 7), S. 447 ff., 991 ff. In der Rechtsprechung des Supreme Courts gibt es aber auch Beispiele ungeschriebener Grundrechte, so z. B. das „right of privacy", vgl. Tribe, S. 886 ff., sowie das Supplement 1979, S. 81 ff. 52 Grundlegend Rudolf Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, S. 386 ff. 53 Für einen Ausbau des Verfassungsgerichtsverfahrens tritt vor allem Peter Haberle ein; siehe z. B. Die Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts, in: Peter Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, Königstein 1979, S. 405 ff.). Bedeutend zurückhaltender für die Schweiz: Thomas Fleiner, Probleme der Anwendung von Verfassungsrecht im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde bei der unmittelbaren Verfassungsverletzung, ZBJV 107 (1971), S. 249 ff.; vgl. v. a. die Vorschläge auf S. 270, wo Fleiner u. a. die Einführung des amicus curiae in Erwägung zieht.

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2. Bundesstaatliche

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Einheitsstiftung

Betrachten wir zunächst die Funktion bundesstaatlicher Einheitsstiftung. Nach dem Übergang der Verfassungsrechtsprechung vom Parlament auf das Gericht54 nahm auch dieses die Sorge für die bundesstaatliche Integration ernst; es ließ jenen Verfassungsnormen, die unmittelbar dem Zusammenhalt im Bundesstaat dienten, sogar ganz besonderen Schutz angedeihen. So erhielt die Niederlassungsfreiheit — zugleich ein vitales Element der schweizerischen Wirtschaft und ihres Marktes — als eines der ersten Grundrechte den Rang eines unverzichtbaren und unverjährbaren Rechts. Diese Qualifizierung hat im wesentlichen zur Folge, daß Verletzungen ohne jede prozessuale Befristung, beispielsweise auch noch im Vollzugsstadium, gerügt werden können55. Als Essentiale eines Bundesstaates betrachtete das Bundesgericht auch den in der Verfassung als bloße Übergangsbestimmung56 festgehaltenen Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts vor allem kantonalen Recht. Es erklärte das Prinzip trotz seiner objektivrechtlichen Struktur zum verfassungsmäßigen Recht, auf das sich jeder Private berufen kann, wenn immer er sich zu Unrecht kantonalem statt eidgenössischem Recht unterstellt glaubt57. Ja, die ganze Willkürrechtsprechung dient in hohem Maße dazu, die für einen Bundesstaat unerläßliche Harmonisierung auch in jenen Rechtsbereichen sicherzustellen, die nicht der Rechtssetzungs- oder Vollzugshoheit des Bundes unterstehen58.

54

Siehe vorne S. 58. Vgl. zum Ganzen Leuenberger, a. a. O. (Anm. 46), insbesondere S. 29 ff. Während einer langen Phase bundesgerichtlicher Rechtsprechung war die Niederlassungsfreiheit das einzige unverjährbare und unverzichtbare Recht (Leuenberger, S. 38 f.). In der späteren Praxis ging der Zusammenhang mit der bundesstaatlichen Integration verloren; entscheidend wurde die Persönlichkeitsnähe eines Grundrechts. 56 Art. 2 der Übergangsbestimmungen. 57 Vgl. Max Imboden, Bundesrecht bricht kantonales Recht, Diss. Zürich 1940; Jean-François Aubert, a. a. O. (Anm. 24), Nr. 635 ff. Aus der Rechtsprechung vgl. BGE 104 Ia 105 mit Hinweisen. 58 Siehe dazu Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 12), S. 351 f. Zu den Funktionen der Willkürrechtsprechung auch hinten S. 77. 55

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3. Sicherung des rechtsstaatlichen Prozesses

und

demokratischen

Was sind nun praktisch Essentialien von Rechtsstaat und Demokratie? Die Rechtsprechung zeigt, daß hier die Sicherung von Verfahren eine zentrale Stellung einnimmt. Für den Rechtsstaat weisen schon in Jahrhunderten erhärtete Maximen wie „Audiatur et altera pars" 59 auf verfahrensrechtliche Kerngehalte hin, die jedes rechtliche Verfahren prägen. Die gesamte differenzierte Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör60 kann unter diesem Aspekt betrachtet werden. Das Verfassungsgericht interveniert, wenn etwa durch Verletzung der Waffengleichheit der Parteien in einem gerichtlichen Prozeß die Chance untergraben wird, überhaupt zu einem gerechten Urteil zu gelangen. Es vollzieht aber nicht den gesamten Prozeß inhaltlich nach. Auch die Demokratie kann von den sie konstituierenden Verfahrensforderungen her verstanden werden61: nämlich als Staatsform geordneter, verfaßter Verfahren politischer Entscheidbildung, nach denen die Rechtsgenossen ihre Rechtsbeziehungen selbstverantwortlich gestalten. Aufgabe des Verfassungsgerichts ist in diesem Sinn zunächst Wachsamkeit über die Offenheit gesellschaftlicher und politischer Kommunikation 62 , vor allem durch Siche59 Vgl. zuletzt Andreas Freivogel, Audi Alteram Partem, Basel und Stuttgart 1979. 60 Eine Übersicht bietet Andreas Freivogel, a. a. O. (Anm. 59), S. 184 ff. Zur neuesten Praxis vgl. BGE 105 Ia 193 ff., wo das Bundesgericht die Anforderungen an das rechtliche Gehör im Verwaltungsverfahren den im Zivil- und Strafprozeß geltenden Kriterien annähert. 61 Daß eben die effektive Beteiligung der Betroffenen sowohl für Rechtsstaat wie auch für Demokratie grundlegend ist, zeigt sich auf eindrückliche Weise in der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Mitwirkungsrechten Betroffener bei Erlaß oder Änderung von Plänen: Unbekümmert um die dogmatisch umstrittene Frage der Rechtsnatur des Plans hat das Gericht die materielle Frage der jeweils angemessenen Partizipationsrechte der Betroffenen ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt; vgl. aus dér Rechtsprechung 104 Ia 65 ff., 98 Ia 27 ff.; eine kurze Zusammenfassung der Rechtsprechung bei Augustin Macheret, A propos de l'arrêt „Rizzi AG", Baurecht (Universitätsverlag Fribourg i. Ue.) 1980, S. 43 f. 62 Diesen Aspekt hebt vor allem Adalbert Podlech (Grundrechte und Staat, Der Staat 6 — 1967) hervor: „Die Gewährung von Grundrechten ist also nichts anderes als eine Garantie von Kommunikationschancen." (S. 344).

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rung der Meinungsfreiheit insbesondere von Minderheiten63. Der von der Redefreiheit geschützte Protest gegen einen gesellschaftlichen Mißstand kann ein erster und notwendiger Schritt zu gerechter Rechtssetzung sein64. Umgekehrt kann die Unterdrückung oder schikanöse Beschneidung des Petitionsrechts Gefangener den Normgeber einer unerläßlichen Information berauben, die ihm Impuls zu menschengerechter Ordnung des Freiheitsentzugs sein könnte und sein müßte.

4. Schutz direktdemokratischer

Institutionen

In der Schweiz mit ihrer Tradition direkter Demokratie hat die Sicherung der Beteiligung des Bürgers an politischen Entscheiden auch in der Verfassungsrechtsprechung ganz besonderes Gewicht65. Das Bundesgericht achtet nicht nur auf strikte Einhaltung der jeweils maßgebenden kantonalen Abstimmungs- und Wahlgesetze, sondern es hat rechtsschöpferisch Mindestanforderungen von Verfassungsrang für Wahlen und Abstimmungen aufgestellt, damit freie Willensbildung und echte Partizipation soweit möglich gesichert sei. Es erklärt kantonale Wahlen oder Abstimmungen für ungültig, bei denen — von Seiten der Behörden oder Privater — unobjektive Information oder andere Manipulation das Abstimmungs- oder Wahlergebnis beeinflußt haben könn-

Vgl. auch hinten S. 81, 92 f. Es wird heute immer wichtiger, daß sich auch der Staat der Aufgabe annimmt, artikulationsschwache Interessen zu stützen und ihnen im Geschrei der Mächtigen Gehör zu verschaffen. Dieser Gedanke wurde im Verfassungsentwurf 1977 an verschiedenen Stellen (vgl. Art. 2 Abs. 2 und 24), ganz besonders in Art. 12 Abs. 2, betont: „Der Staat sorgt dafür, daß die Meinung in ihrer Vielfalt Ausdruck finden können, vor allem in Presse, Radio und Fernsehen." 65 Das Bundesgericht hat den Auftrag, „Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen" (Art. 85 lit. a OG) zu beurteilen. — Auch unter dem Aspekt des verfassungsrichterlichen Schutzes der Demokratie erscheint die antinomische Gegenüberstellung von Richterstaat und Demokratie unhaltbar. Siehe dazu auch Haller, Ausbau (Anm. 26), S. 504 ff.; zum Schutz der Demokratie gerade durch Verfassungsgerichtsbarkeit im allgemeinen auch Peter Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Auflage Bern 1975, S. 330. Überzeugend für die U S A auch Archibald Cox, The Warren Court, Cambridge Mass. 1968, S. 92 ff. 63

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te66; so hat das Gericht Suggestivfragen in Abstimmungen 67 oder die zu kurzfristige Ansetzung einer Volksbefragung 68 nicht toleriert. Eine demokratische Abstimmung ist eben nicht einfach ein Auszählen von Meinungen, sondern ein Verfahren geordneter Meinungs- und Entscheidbildung; das unterscheidet sie vom bloßen Plebiszit. Die Genfer Behörden unterlagen vor Bundesgericht, als sie einer Frau, die auf öffentlichem Grund Unterschriften für eine eidgenössische Volksinitiative sammeln wollte, die Bewilligung verweigerten. Das Verfassungsgericht fand, die verfassungsrechtliche Garantie des Initiativrechts müsse auch die tatsächlichen Voraussetzungen seiner Ausübung miteinschließen, und gehe damit über den Schutzbereich der Meinungsfreiheit hinaus. Das verfassungsmäßige Initiativrecht des Bürgers eröffne auch die Möglichkeit, Bürger dort anzusprechen und auf ein Anliegen aufmerksam zu machen, wo dies am ehesten möglich sei, eben auf der Straße69 70. Das Bundesgericht hat sich auch neuen Formen demokratischer Meinungsäußerung und Einflußnahme nicht verschlossen. Es hat für behördlich angeordnete konsultative Befragung der Stimmbürger etwa im Frühstadium von Planungen, verfassungsrechtliche Kriterien aufgestellt, damit auch 66

Vgl. zusammenfassend BGE 102 Ia 264 ff.; interessant auch 98 Ia 73 ff., der einen Fall behaupteter Irreführung durch eine Fernsehsendung betraf. Gegenüber irreführenden Informationen durch Behörden (namentlich in den dem Bürger zugestellten Abstimmungserläuterungen) ist das Bundesgericht in letzter Zeit eher nachsichtig; vgl. BGE 105 Ia 151 ff. und BGE in: Schweizerisches Zentralblatt f ü r Staatsund Gemeindeverwaltung (ZB1) 80 (1979), S. 527 ff. " BGE in ZB1 81 (1980), S. 292 ff. 68 BGE 104 Ia 236 ff. 69 BGE 97 I 893 ff. 70 Das Bundesgericht erkannte auch in BGE 101 Ia 252 ff., daß der Schutz der politischen Rechte weiter geht als derjenige der klassischen Freiheitsrechte. Vor der Abstimmung zur Frage der verfassungsmäßigen Verankerung der Fristenlösung hielt das Gericht f ü r eine befriedigende Information und Meinungsbildung des Bürgers unerläßlich, daß auch f ü r einen Film über neuere Methoden der Abtreibung öffentlich Propaganda gemacht werden dürfe, und es hielt dieses Anliegen unter den besonderen Umständen f ü r wichtiger als die dagegen gestemmte kantonale Polizeihoheit. Dagegen tolerierte das Bundesgericht in 102 Ia 50 ff. ζ. T. relativ weitgehende Beschränkungen eines Zürcher Reglements über die Benützung des öffentlichen Grundes zu politischen Zwecken; kritisch dazu: ZBJV 114 (1978), S. 78 f.

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diese Form politischer Teilnahme nicht wild wuchere, sondern als verfaßtes Verfahren seine eigene Legitimität finde und die Grenzen zum förmlichen, verbindlichen Abstimmungsverfahren nicht verwische 71 . 5. Kerngehalte

der Gerechtigkeit

als

Kontrollmaßstab

Verfassungsrechtsprechung begnügt sich nicht mit der Sicherung rechtsstaatlicher und demokratischer Verfahren; sie prüft auch das Ergebnis solcher Entscheidbildung: Gerecht müssen die Gesetze, Urteile, Verwaltungsakte sein. Sind sie es? Wir könnten die Frage nur beantworten, wenn wir die Gerechtigkeit kennten, im Detail, mit evident richtiger Lösung für jedes soziale Problem. Nun stehen wir vor dem Dilemma: Wir sind auf die Vielzahl der Mitwirkenden im diskursiven Prozeß demokratischer Entscheidfindung und rechtsstaatlichen Urteilens angewiesen, weil wir keine unmittelbare Einsicht in das jeweils Gerechte haben. Und trotzdem: Die Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit als nachträglicher Kontrolle der Ergebnisse des politischen oder gerichtlichen Prozesses steht und fällt mit der Überzeugung, daß es Essentiale einer gerechten Ordnung gibt, jenseits der ,,Legitimation durch Verfahren"n. Bei der Suche nach Kriterien der von der Verfassung geforderten gerechten Ordnung bieten sich dem Verfassungsgericht zuallererst die Grundrechte an. Sie sind — einmal abgesehen von ihrem naturrechtlichen Substrat — Ausdruck einer Einigung der Rechtsgemeinschaft über das, was als elementar gerecht zu gelten hat. Grundrechte sind aus geschichtlichen Verwundungen gewonnene punktuelle Einsichten in das, was jeder Mensch im Namen der Gerechtigkeit für sich und die Gesellschaft fordern darf. Jenseits der einigermaßen feststehenden Grundrechtspositionen läßt sich Gerechtigkeit nur unscharf erfassen. In diesen Bereichen greift wie ein Auffanggrundrecht unserer Verfassungsordnung das Verbot der Willkür ein. Es besagt: Nicht Unrichtigkeit, nicht der Mangel der besten Lösung eines sozialen Konflikts, nicht das nur schwach begründete Urteil stellt bereits eine Verfas-

71

Darstellung und Würdigung der Rechtsprechung bei J. P. Müller/Peter Saladin, Das Problem der Konsultativabstimmung im schweizerischen Recht, in: Berner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1979, Bern und Stuttgart 1979, S. 405 ff. (insb. 426 ff). 72 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969.

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sungsverletzung d a r und soll d a r u m aufgehoben oder korrigiert werden, sondern das Willkürverbot m u ß grobes Unrecht verhindern, den völlig unsachlichen Entscheid aufheben, das in sich selbst widersprüchliche Gesetz zur Korrekt u r z u r ü c k w e i s e n " . Durch diese schmale P f o r t e fließen kontinuierlich Gerechtigkeitsaspekte als verbindliche Leitlinien staatlichen Entscheidens in die g e s a m t e Rechtsordnung ein 74 . Der Willkürbegriff h a t sich teils aus dem Gleichheitssatz teils direkt aus dem klassischen Recht des Widerstands gegen willkürliche S t a a t s m a c h t entwickelt 7 5 . Die zuletzt gen a n n t e S p u r m a c h t deutlich, daß Willkür nicht i m m e r auch Rechtsungleichheit bedeuten muß, sondern geschichtlich und grundrechtstheoretisch einen eigenen Stellenwert besitzt 7 6 .

Siehe statt vieler B G E 93 I 6 f.: „Willkür liegt dann vor, wenn ein Entscheid nicht nur unrichtig, sondern darüber hinaus schlechthin unhaltbar ist. Das trifft namentlich zu, wenn der Entscheid einen allgemeinen Rechtsgrundsatz oder eine Norm offensichtlich schwer verletzt oder in stoßender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft, so beispielsweise auch, wenn der Entscheid an einem echten Widerspruch krankt oder auf offenkundig aktenwidrigen tatsächlichen Feststellungen beruht." und 102 Ia 12: „Nach der bundesgerichtlichen Praxis verstößt gegen Art. 4 BV ein gesetzgeberischer Erlaß, wenn er sich nicht auf ernsthafte sachliche Gründe stützt, sinn- oder nutzlos ist oder Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist. In diesen Grenzen steht dem kantonalen und kommunalen Gesetzgeber ein weites Feld der Gestaltungsfreiheit offen." 74 Vgl. für die schweizerische Rechtsprechung nun neuestens René A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, Basel und Stuttgart 1979 (zur normberichtigenden Funktion von BV 4: S. 117 ff. mit Hinweisen auf die weitere staatsrechtliche Literatur). 75 Die Herleitung aus dem Gleichheitssatz betont mehr Silvio Arioli (Das Verbot der willkürlichen und der rechtsungleichen Rechtsanwendung im Sinne von Art. 4 der Bundesverfassung, Basel und Stuttgart 1968) während Hans Huber (Garantie — Anm. 20 — S. 169a ff.) und Max Imboden (Der Schutz vor staatlicher Willkür, in: Staat und Recht, Basel und Stuttgart 1971, S. 145) mehr die Herkunft aus dem klassischen Widerstandsrecht hervorheben. 76 Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Die Anordnung des Lichterlöschens für Untersuchungsgefangene um 19 Uhr ist schikanös und darum willkürlich (siehe dazu B G E 99 Ia 274); das Gleich73

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Der Willkürbegriff prägt der gesamten Staatsrechtspflege unseres Bundesgerichts seinen Stempel auf. Er ist Ausdruck der Unschärfe unserer Gerechtigkeitserkenntnis und trägt im Bundesstaat zugleich den beiden Anliegen der Schonung kantonaler Selbstbestimmung und der Zurückhaltung gegenüber dem Entscheid des Gesetzgebers Rechnung77. Die Frage der Gerechtigkeit ist heute kaum in einem Gebiet so offen wie dem der Verteilungsgerechtigkeit. Die Kontroverse Rawls/Nozick, dazu die weite Sekundärliteratur zum Rawl'schen Buch belegen es exemplarisch und weltweit, wobei das Spektrum von der Lösung über ein neues Staatsvertragsdenken (Rawls) über die Kritik der Uferlosigkeit in der Leistungsvergabe des modernen Sozialstaates (Nozick) bis zur prinzipiellen Verneinung von Maßstäben gerechter Verteilung (Kaufmann) reicht78. Ich will die Praxis unseres Bundesgerichts nicht philosophisch überhöhen; aber es hat diese Problematik doch irgendwie richtig erkannt, indem es große Zurückhaltung übt in der Nachprüfung von Gesetzen, die der sozialen Umverteilung dienen. Bei der Prüfung von Steuergesetzen, Subventionsordnungen, Erlassen über den Zugang zu staatlichen

heitsgebot kann keinen zusätzlichen Bewertungsmaßstab bieten und ist auch nicht Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Überlegungen. Umgekehrt verletzt beispielsweise die Verweigerung einer Polizeibewilligung gegenüber A das Rechtsgleichheitsgebot, wenn unter genau gleichen Umständen und ohne Hinweis auf eine Praxisänderung Β die Bewilligung erhält; der Willkürbegriff ist hier nicht zu bemühen. 77 Zur großen Bedeutung in der Rechtsprechung: Otto K. Kaufmann, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Schweiz, EuGRZ 1978, S. 477; ebenso Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 12), S. 343 f. 78 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge/Mass. 1971; Walter Kaufmann, Jenseits von Schuld und Gerechtigkeit, Hamburg 1974, S. 37 ff. ( „ D e r Tod der Vergeltungsgerechtigkeit"); R. Nozick: Anarchy, State and Utopia, Oxford 1974; Nachweise der Sekundärliteratur bei: Otfried Höffe (Hrsg.), Über John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1977; ferner bei Höffe, Ethik und Politik, Frankfurt am Main 1977, S. 193 f., 225 f., 241 f. Vgl. auch: Gerechtigkeit in der komplexen Gesellschaft, Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Basel und Stuttgart 1979, insb. S. 9 ff., 33 f f .

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Einrichtungen, hat es sich meist auf eine Willkürkontrolle beschränkt79. Man hat die Grundrechte — einschließlich des Willkürverbotes — als etwas „Gegenläufiges", als „Gegenrichtung der Legalordnung" bezeichnet80. Sie erscheinen als Ansatzpunkt permanenter Infragestellung, als virtuelle Widersacher jeder gesetzten Ordnung81·82. Verfassungsgerichtsbarkeit bricht etablierte Ordnung auf, gibt ihr damit aber auch die Chance zu Lernfähigkeit, und bewahrt Gesellschaft und Recht vor Erstarrung. So ist und bleibt sie ein stets beunruhigender Faktor im Gefüge der Staatsgewalten. Die anthropologische Grundlage dieses Sachverhalts liegt in der Einsicht, daß vom konkreten menschlichen Gewissen, Denken, Meinen, Kommunizieren der vitale Impuls zur Erhaltung eines lebendigen Gemeinwesens ausgeht. Daraus fließt die Forderung, den in einer Rechtsgemeinschaft unvermeidbaren Konformitätsdruck für den Menschen mit seiner je eigenen Würde doch so erträglich zu halten, daß seine Kreativität — auch für rechtliche und soziale Gestaltung — nicht verlorengeht, was für das Überleben der Gesellschaft entscheidend sein kann.

79 Vgl. z. B. BGE 99 Ia 654 (Reichtumssteuer): „Gerechtigkeit aber ist ein relativer B e g r i f f , der sich mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen wandelt. Das gilt insbesondere mit Bezug auf die Verteilung der Steuerlasten und die Ausgestaltung der Steuern." Zur Zurückhaltung im Bereich des Steuerwesens des Bundesgerichts vgl. auch 105 Ia 139 f f . Betr. den Zugang zu Hochschulen v g l . insb. B G E 103 Ia 369 ff., 103 Ia 394 f f . 80 Hans Huber, Formenreichtum (Anm. 20), S. 193; derselbe: Konkretisierung (Anm. 20), S. 201. 81 Vgl. dazu auch Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV, Tübingen 1977, S. 437 ff., 476 und 608 f f . 82 Eines der eindrücklichsten Beispiele f ü r die genannte Gegenläuf i g k e i t der Grundrechte ist die Rechtsprechung zum Verbot des überspitzten Formalismus, die unter Umständen auch gegen zu weit getriebene Formerfordernisse des Gesetzes einschreitet (BGE 95 I 5; ferner 104 Ia 105); vgl. zur ganzen Rechtsprechung nun — inhaltlich zustimmend — Hans Huber, Überspitzter Formalismus als Rechtsverweigerung, in: Recht und Wirtschaft heute, Festgabe für Max Kummer, Bern 1980, S. 15 f f .

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen 6. ,,Structural due process": Wechselwirkung Funktionalität und Sachgerechtigkeit

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zwischen

Z w i s c h e n reinen Verfahrensanforderungen (procedural due process) 83 und m a t e r i e l l e n Gerechtigkeitskriterien (subs t a n t i v e due process)" als Maßstäben verfassungsrichterlichen Urteils piaziert sich ein Verfassungsgrundsatz, der b i s h e u t e — s o w e i t ich sehe — erst in der neueren amerikanischen Verfassungslehre deutlichere Konturen g e w o n n e n hat und unter d e m S t i c h w o r t „structural due process" wissenschaftlich diskutiert wird 8 5 . Es geht i m w e s e n t l i c h e n darum, d a ß freiheitsbeschränkende Maßnahmen v o r der Verfassung nur standhalten, w e n n sie in Verfahren und durch Organe get r o f f e n w e r d e n , die jene Sachlichkeit, Individualisierung und V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t sicherstellen, die d e m zu treffenden Entscheid a n g e m e s s e n sind 86 . 83

Dazu Tribe, a. a. O. (Anm. 7), S. 501 ff. Dazu Tribe, a. a. O. (Anm. 7), S. 886 ff. 15 Grundlegend Laurence H. Tribe, Structural Due Process, 10 Harvard Civil Rights — Civil Liberties Law Review 1975, S. 269 ff.; derselbe, Perspectives on Bakke: Equal Protection, Procedural Fairness, or Structural Justice?, 92 Harvard Law Review 864 (1979); derselbe, American Constitutional Law (Anm. 7), S. 1137 ff. Helmut Goerlich, Zur „strukturellen Gerechtigkeit" der amerikanischen Verfassung, AÖR 103 (1978), S. 461 ff.; dient als Einführung in das Werk von Tribe, bietet aber keinen vertieften Einblick in die Rechtsfigur des structural due process. Vgl. auch L. G. Sager, Insualar majorities unabated: Warth ν. Seldin and City of Eastlake v. Forest City Enterprises, Inc., 91 Harvard Law Review 1373 ff. (1978), insb. S. 1411 ff. zur Forderung des „Due Process of Lawmaking". 86 Beispielhaft f ü r die amerikanische Rechtsprechung der Entscheid Hampton v. Mow Sun Wong, 96 S.Ct. 1895 (1976): Zu beurteilen w a r ein generelles Verbot der Civil Service Commission, Ausländer im öffentlichen Dienst anzustellen. Der Supreme Court beschränkte sich auf eine Prüfung der von der Commission angeführten Begründung ihres Verbots, ohne sich über dessen Haltbarkeit generell auszusprechen. Die Kommission hatte überwiegende nationale Interessen geltend gemacht; dem Präsidenten würde durch das Bestehen eines allgemeinen Ausschlusses der Ausländer vom öffentlichen Dienst in zwischenstaatlichen Vertragsverhandlungen die Möglichkeit eröffnet, gezielt Arbeitsplätze anzubieten; zudem fördere das Verbot die Einbürgerung zugezogener Ausländer. Das Gericht befand, der Civil Service Commission stünden weder im Bereich der Außen- noch in jenem der Einbürgerungspolitik Kompetenzen und Verantwortungen zu. Außenpolitische und einbürgerungspolitische Erwägungen könnten allenfalls den Präsidenten oder den Kongreß, nicht aber die genannte Kommission zu entsprechenden Maßnahmen legitimieren. M

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Unsere schweizerische Verfassungsrechtsprechung hat bisher dem Gedanken nur fragmentarisch, etwa im Rahmen der Garantie der Gewaltentrennung und der Gesetzmäßigkeit, namentlich bei Fragen der Zulässigkeit von Rechtssetzungsdelegationen, Ausdruck gegeben. Dazu ein eindrückliches Beispiel: Das Bundesgericht fand, das Problem der allfälligen Einführung eines Numerus Clausus für Universitäten oder Lehrerseminarien beinhalte Fragen von derartiger Tragweite für alle Betroffenen — allen voran Studierende und auch Steuerzahler —, daß sich der Gesetzgeber selbst jedenfalls über den Grundsatz, mitunter auch über die allenfalls anzuwendenden Zulassungskriterien auszusprechen habe; dieser Entscheid dürfe nicht an die Regierung delegiert werden87. Das Bundesgericht hat sich damit — jedenfalls zur Zeit — bewußt geweigert, die Frage des Numerus Clausus als materielle Grundrechtsfrage selbst wertend zu entscheiden88·89. Ein anderer Aspekt des genannten Verfassungsprinzips sachgerechter Zuordnung von Entscheidbefugnissen wurde in folgendem Fall deutlich: Das Bundesgericht hob den Entscheid der Berner Universitätsbehörden auf, einen militärisch vorbestraften Bewerber erst nach einer Karenzfrist zum Studium zuzulassen. Dienstvergehen können allenfalls den Ausschluß aus dem Militär rechtfertigen, nicht aber eine Wartefrist für den Eintritt in die Universität 90 . Das Gericht berief sich in etwas unbestimmter Weise auf Verletzung der Verhältnismäßigkeit 91 ; der sachliche Kern der Urteilsbegründung liegt aber darin, daß sich eine Behörde zur Legitimierung einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme nur auf Kriterien stützen darf, die in einem genügenden sachlichen

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So vor allem BGE 103 Ia 369 ff., 103 Ia 394 ff. Den Fall eigentlicher Persönlichkeitsverletzung durch systematischen Ausschluß eines Bewerbers von sämtlichen schweizerischen Universitäten behielt es allerdings ausdrücklich seinem Urteil vor: BGE 103 Ia 389; dazu ZBJV 115 (1979), S. 123 ff. 89 Die Rechtsprechung des BVerfG zum Hochschulzulassungsrecht — insb. die Anerkennung von Teilhaberechten — führte zu einer Reihe weiterer Probleme, die größtenteils zu neuen verfassungsrechtlichen Streitigkeiten führten; dazu Ulrich Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 479 mit Hinweisen in Anm. 53. 90 BGE 102 Ia 321. 91 BGE 102 Ia 330; kritisch dazu ZBJV 114 (1978), S. 69 und ZBJV 116 (1980), S. 274 ff. 88

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Zusammenhang zu ihrer spezifischen Aufgabe und zum konkret zu beurteilenden Sachverhalt stehen92. Stichwortartig kann die Lehre vom structural due process darin gesehen werden, den Verfassungsrichter von eigener autoritativer Wertung freiheitsbeschränkender Maßnahmen zu entlasten; seine Aufgabe ist, darüber zu wachen, daß in Verfahren und durch Organe entschieden wird, die — ζ. B. infolge ihrer besonderen Sachkenntnis oder ihrer spezifischen Funktion im Staatsganzen — gerade zu der in Frage stehenden Grundrechtsbeschränkung am besten geeignet erscheinen. Die Rechtsfigur des structural due process kann uns lehren, in der verfassungsrechtlichen Prüfung funktionelle Zuständigkeit und Sachlichkeit der Entscheidung vermehrt in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu sehen. VI. Verfassungsgericht zwischen Bürger und Staat 1. Herrschaftsfreier

Diskurs?

Wie ist die besondere Situation des Verfassungsgerichts im Staatsgefüge zu charakterisieren, die ihm erlaubt, die beschriebene Funktion einer Sicherung der konstitutiven Elemente von Rechtsstaat und Demokratie wahrzunehmen? Der Amerikaner Tribe konkretisiert das verfassungsrechtliche Gebot eines structural due procress verfahrensrechtlich in der Forderung nach optimalen Voraussetzungen eines Dialogs, in dem Norm und Anwendungsakt nach verfassungsrechtlichen Kriterien individualisierender und zeitgemäßer Gerechtigkeit93 zu prüfen seien. Verfassungsgerichtsbarkeit hätte also die Chance einer fairen Konfrontation zwischen grundrechtsrelevanten Interessen des Bürgers und gegenläufigen Gemeinwohlforderungen sicherzustellen94. 92 Vgl. auch BGE 104 Ia 187 ff. (Wehrdienstverweigerung als ungenügender Grund für den Ausschluß eines Bewerbers von der Grundbuchverwalterprüfung); ferner BGE in ZB1 81 (1980), S. 396 f. (zum Ausschluß eines Wehrdienstverweigerers vom Lehrerberuf). 93 Nach Tribe ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung stets im Lichte zeitgemäßer verfassungsrechtlicher Wertmaßstäbe zu beurteilen; es genügt nicht, daß eine Norm zur Zeit ihrer Entstehung bedenkenlos erschien; Tribe, structural due process (Anm. 85), S. 299 ff.

Das Gelingen solcher Konfrontation setzt nicht nur rechtliches Gehör in einem formellen Sinn voraus, sondern schließt auch rechtlich noch wenig faßbare Kriterien ein, die insgesamt darauf zielen, 94

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Wir besitzen — s o w e i t ich sehe — k e i n e spezifische sozialw i s s e n s c h a f t l i c h e A n a l y s e der Entscheidbildung in Verfassungsgerichten 9 5 , w a s eigentlich gerade für die schweizerischen Verhältnisse erstaunlich ist 86 , w o sich ja nicht nur die Verhandlungen, sondern auch die Beratungen in aller Öff e n t l i c h k e i t vollziehen 9 7 , und zwar nicht nur als Farce, sondern — w i e ich aus eigener Anschauung w e i ß — als echt offener Prozeß der E n t s c h e i d f i n d u n g mit seinen trials and errors. In d i e s e m Forum gelingt eine g e w i s s e A n n ä h e r u n g an die ideale Sprechsituation im S i n n e Habermas 9 8 . Ich k e n n e j e d e n f a l l s k e i n e n andern Ort hoheitlicher Entscheidfindung, w o parteipolitische Opportunität, w i r t s c h a f t l i c h e Interess e n b i n d u n g oder charismatisches Ü b e r g e w i c h t einzelner

daß der einzelne die Chance als real empfindet, in seiner Problemlage ernst genommen zu werden: „One might, indeed, regard such confrontations between decisionmaker and disputants as the only fitting response to any serious human controversy in a community worthy of the name . . . The values in confrontation — understanding, participation, reciprocal acknowledgment of humanity, catharsis, for example — are psychological landmarks difficult to locate on the map of the rule of law." (Tribe, structural due process — Anm. 85 —, S. 311). Tribe (American Constitutional Law — Anm. 7 —, S. 52) weist auch auf die befriedende Wirkung von Verfahren und Urteil in der stets latenten Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft hin. 95 Vgl. aber die aufschlußreiche, wenn auch eher in journalistischem Stil geschriebene und bisher nicht wissenschaftlich verifizierte Untersuchung von Bob Woodward und Scott Armstrong, The Brethren, Inside the Supreme Court, New York 1979. 96 In Zeitungsberichten über bundesgerichtliche Prozesse, ζ. T. aber auch in wissenschaftlichen Abhandlungen (vgl. ζ. B. Wildhaber, a. a. O. — Anm. 36 —, S. 340 über die Verhandlung im Fall Eggs) wird gelegentlich über den Willensbildungsprozeß des Bundesgerichts ziemlich eingehend berichtet, doch fehlt bis heute eine systematische Studie. 97 Siehe Art. 17 OG, wo auch die Ausnahmen vom Prinzip der Öffentlichkeit geregelt sind. Allgemein zum Problem der Öffentlichkeit der Rechtsprechung z. B. Kurt Eichenberger, Von der Justiz im modernen Staat, in: Der Staat der Gegenwart, Basel und F r a n k f u r t am Main 1980, insb. S. 556 ff. 91 Siehe Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, F r a n k f u r t am Main 1971, S. 101 ff.

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Personen soweit zurücktreten, daß die Chance reell erscheint, ,,daß sich ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments" durchsetzt". Auch subjektiv habe ich diese relative Herrschaftsfreiheit erfahren: Die Ambiance des Gerichts ist nicht darauf angelegt, den Impuls zu eigenständigem Deuten, Erklären oder Rechtfertigen zu schwächen. Die zu dieser Situation beitragenden institutionellen Vorkehren sind bekannt und im wesentlichen mit dem Stichwort der richterlichen Unabhängigkeit signalisiert 100 . Noch wenig Beachtung hat die persönliche Seite solcher Independenz gefunden: Unbestechlichkeit auch als eine relative innere Freiheit von Lob101 und Tadel, Beachtung und Mißachtung102. Gerade in solchen objektiven und subjektiven Aspekten wird der Unterschied zwischen verfassungsrichterlichem Argumentieren und parlamentarischer Debatte oder gar dem Wahlkampflärm deutlich103. Der Kritik Luhmanns an der Möglichkeit des idealen Diskurses über normative Fragen104 ist entgegenzuhalten, daß gerade verfassungsrechtliche Argumentation zur Strukturierung gesellschaftlicher Komplexität zwingt. Auch gesellschaftlich mächtige Partikularinteressen ziehen ihr Gewicht 99 Jürgen Habermas, a. a. O. (Anm. 98), S. 137; dazu Martin Kriele, Recht und praktische Vernunft, Göttingen 1978, S. 30 ff. 100 Dazu grundlegend: Kurt Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960. 101 Klaus Stern, a. a. O. (Anm. 2), S. 19: „Der Richter darf nicht nach Beifall schielen." Siehe auch Eichenberger, Unabhängigkeit (Anm. 100), S. 50 ff. 102 Solche Voraussetzungen eines optimalen Dialogs und innere Freiheit des Richters sind in der Verfassungsrechtsprechung besonders wichtig: In keinem anderen Konfliktfall zwischen Bürger und Staat (Beispiele: Steuerrecht, Strafrecht u. a.) ist der Streitgegenstand so offen normiert wie bei den Grundrechten; zudem wird das Machtgefälle kaum durch traditionell erhärtete Verfahrenssicherungen neutralisiert, wie ζ. B. im Strafprozeß durch den Grundsatz der Waffengleichheit. 103 Stern, a. a. O. (Anm. 2), S. 19 zählt pointiert die wichtigsten Unterschiede zwischen Richtern und Parlamentariern auf. 104 Im übrigen ist aufschlußreich, daß auch nach Luhmann Herrschaftsfreiheit der Diskussion praktischer Fragen jedenfalls „okkasionell in kleinen Gruppen realisiert werden k a n n " (nicht aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene); siehe Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (Anm. 98), S. 355. Ob damit auch eine Chance des Verfassungsgerichts angesprochen sei, muß offen bleiben.

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nur aus der Stärke des verfassungsrechtlichen Arguments, das siebt und bremst; dies hebt vergleichsweise die Erfolgschancen jener Menschen, die nur gerade ihre Würde einzubringen haben. 2. Wissenschaftlichkeit

des

Urteils?

Worauf beruht die Autorität eines Verfassungsgerichts? Eine mögliche Antwort ist: Auf der Qualität seiner Rechtsprechung. Woran ist diese zu messen? Ein großer Teil der neueren bundesdeutschen Staatsrechtsliteratur 105 scheint mir zu suggerieren, daß es aufs richtige methodische Vorgehen, letztlich auf die Wissenschaftlichkeit ankomme. Sie steht damit in frontalem Gegensatz zu einer bedeutenden amerikanischen Verfassungslehre, die Legitimität ausschließlich in der Richtigkeit des Ergebnisses begründet sieht106. In der deutschen Methodendiskussion weden normative Aussagen vermehrt eher als Hypothesen denn als Dogmen verstanden; einmal formuliert, müsse es zulässig bleiben, Alternativen in Erwägung zu ziehen und neue Perspektiven zu entwerfen, aus denen sich bessere Lösungen ergeben107. Soweit mit solcher Rezeption108 des kritischen Rationalismus' 109 105

Siehe die Hinweise bei Bernhard Schlink, a. a. O. (Anm. 23). Tribe, American Constitutional Law (Anm. 7), S. 52 bemerkt zu zwei der bedeutendsten Entscheidungen des Supreme Court in unserem Jahrhundert (Brown v. Board of Education und Reynolds v. Sims): „The legitimacy in fact of these decisions, then, cannot be a product of method — or at least of any method which the critics would accept as proper — but of outcome: the values these decisions invoked, notwithstanding the difficulty of their implementation, are values we truly hold." 107 Vgl. etwa Hans Albert, Erkenntnis, Sprache und Wirklichkeit, in: Hans Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977, S. 110. io« Wegweisend dafür Peter Haberle; vgl. statt vieler seinen Aufsatz „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten", in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, Berlin 1978, S. 155 ff. Dazu auch Schlink, a. a. O. (Anm. 23), S. 82 ff., 87 ff. 109 Neben den bekanntesten Vertretern des kritischen Rationalismus': Karl Popper (dazu kritisch: Wilhelm Henke, Kritik des kritischen Rationalismus, Recht und Staat, Heft 434, Tübingen 1974) und Hans Albert (grundlegend für unseren Zusammenhang besonders der Aufsatz „Aufklärung und Steuerung", in: Hans Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977, S. 180 ff.) hat 106

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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Offenheit und Endlichkeit der Rechtsfindung auch im Verfassungsbereich bezeichnet sein sollen, ist solche erkenntnistheoretische Besinnung nur zu begrüßen. Bezogen auf unseren konkreten Beratungsgegenstand, die Verfassungsgerichtsbarkeit, scheint mir aber die Frage der Wissenschaftlichkeit falsch gestellt, auch im Lichte des kritischen Rationalismus'110: während ein Ende des wissenschaftlichen Diskurses unabsehbar bleibt und ein Abschluß auch gar nicht erzwungen werden darf111, muß der konkrete Verfassungsstreit ein Ende finden, mangels Einmütigkeit eben notfalls durch Mehrheitsentscheid. Das Ziel des verfassungsgerichtlichen Diskurses ist ja weder eine ideale Aussage über unfehlbare Dogmatik noch eine reale Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern Lösung des verfassungsrechtlich formulierten sozialen Konflikts. Was vom Wissenschafter nie gefordert sein kann, wird vom Richter verlangt: daß er als Abschluß eines planmäßigen Verfahrens „erkenne", erkenne im „hier und jetzt", trotz des Bewußtseins beschränkter Einsicht in Wahrheit und Gerechtigkeit. Daß er sich dabei soweit wie möglich konsensfähiger Argumente, vernünftigen Denkens und verbindlicher Vorentscheide bediene, ist selbstverständlich112, rechtfertigt aber noch nicht, Wissenschaftlichkeit des Vorgehens zu behaupten. Das Postulat der Wissenschaftlichkeit der Verfassungsauslegung trägt — auf die Rechtsprechung bezogen — die große Gefahr in sich, Endgültigkeit menschlichen Wägens nahe zu der französische Philosoph Gaston Bachelard bei uns bis heute noch kaum Beachtung gefunden; vgl. insbesondere „Die Philosophie des Nein", Frankfurt a. Main 1980. Als kritischer Rationalist wäre auch der im deutschen Sprachraum wenig beachtete Amerikaner Walter Kaufmann (Jenseits von Schuld und Gerechtigkeit, siehe Anm. 78) zu betrachten. no D e r Versuch Schlinks (a. a. O. — Anm. 23 —, insb. S. 87 f.), Normtext, Genese und Folgebeurteilung als falsifizierende Momente im Sinne der Popper'schen Verifikations-/Falsifikationsthese zu deuten, wird m. E. dem Anliegen Poppers kaum gerecht: Der Normtext für sich genommen hat niemals bereits die Qualität einer wissenschaftlichen Hypothese im Sinne Poppers. Methodisch stimme ich Schlink im Sinne eines pragmatisch richtigen Vorgehens zu, halte aber die erkenntnistheoretische Abstützung für allzu prätentiös. Praktisch richtig und immer wieder zu betonen ist besonders die Berücksichtigung der Folgen einer Normalauslegung nach Text und Genese (Schlink, S. 103 f.). 111 So zutreffend Martin Kriele, a. a. O. (Anm. 99), S. 32 f. 112 Darum halte ich die Kritik Schlinks, a . a . O . (Anm. 23), S. 97 an Friedrich Müller für zutreffend.

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legen, wo bloße Nachvollziehbarkeit in einem kulturepochal bedingten Verständigungshorizont in der Frage nach der Gerechtigkeit gemeint sein kann. Vielleicht ist die Verfassungsrechtsprechung der Bundesrepublik noch zu jung, um auch ihre Fehlbarkeit in einer generationenüberschreitenden Geschichtlichkeit voll bewußt zu machen113, so bewußt, daß sie sich auch in der Verfassungstheorie stärker niederschlagen müßte. Wie führt uns doch die amerikanische Praxis des over-ruling114 und der schweizerische Brauch, Praxisänderungen auch in der höchstrichterlichen Rechtsfindung als solche zu kennzeichnen115, die Brüchigkeit auch verfassungsrichterlicher Erkenntnis in der Geschichte vor Augen! Weit über die Verfassungstheorie hinaus machen uns geschichtliche Fehlleistungen des traditionsreichsten Verfassungsgerichts die Bedingtheit menschlichen Bemühens um Gerechtigkeit bewußt: Das Versagen des amerikanischen Supreme Court während Jahrzehnten in der Rassenfrage116 oder sein Zurückweichen im Schutz der Rechte des ersten Amendments zur Zeit des Mc Carthysmus117 118. 113 Vgl. Ulrich Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 479: „Es wäre zu wünschen, daß das Bundesverfassungsgericht nun nach einem Menschenalter auch seiner eigenen Judikatur, deren Ketten gelegentlich etwas mechanisch zitiert werden, mit größerem Abstand begegnete. Nicht nur die Fortbildung in einer Richtung, auch Korrektur kann zu den rechtsgestaltenden Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung gehören. ' ' 114 Vgl. die Zusammenstellung der „Supreme Court Decisions overruled by subsequent decision" in: The Constitution of the United States of America, Analysis and Interpretation, Congressional Research Service, Library of Congress, Washington 1973, S. 1789—1797. 115 Siehe Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 129 mit Hinweisen in Anm. 89 ff. auf die erstaunlich vielen Praxisänderungen der neuesten Zeit. 116 Dazu Helmut Steinberger, a. a. 0 . ( A n m . 5), S. 136 f.; siehe auch Kurt L. Shell, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den USA, in: Der bürgerliche Rechtsstaat (Hrsg. Mehdi Tohidibur), 2. Band, F r a n k f u r t a. M. 1978, S. 390 ff. 117 Dazu eindrücklich Christoph Stalder, „Preferred Freedoms" — das Verhältnis der Meinungsäußerungsfreiheit zu den anderen Grundrechten, Bern 1977, S. 49, 59 ff., 64 ff., 80 („Wo immer sich eine Gelegenheit bot, wich der Supreme Court von seinen wenige Jahre vorher eingenommenen Positionen zurück"); siehe auch Steinberger, a. a. O. (Anm. 5), S. 412 ff.; zusammenfassend auch Shell, a. a. O. (Anm. 116), S. 388 f. 118 Auch dem schweizerischen Bundesgericht ist wohl rückblickend der Vorwurf nicht zu ersparen, im Zusammenhang mit

Verfassungsgerichtsbarkeit i m G e f ü g e der S t a a t s f u n k t i o n e n

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So lehrt uns die Geschichte, daß in einer weiteren zeitlichen Dimension Verfassungsrechtsprechung doch dem Gesetz der Falsifizierbarkeit unterstehen muß, daß die Frage nach der richtigen Ordnung auch nach beendetem Verfassungsprozeß im politischen und wissenschaftlichen Diskurs weiter geht. Damit bekommt der kritische Rationalismus doch wieder recht, der das Prinzip der bestmöglichen Annäherung an Rationalität an die Stelle des Prinzips der zureichenden — und d. h.: der absoluten und sicheren — Begründung119 setzt. Karl Jaspers hat schon vor Jahrzehnten und mit offensichtlicher verfassungsrechtlicher Relevanz geschrieben: Auch wenn mir Menschenwürde als Grundlage eines absoluten Forderns an Staat und Recht sichtbar wird, so weiß ich sie „jedoch nicht nach einem allgemeinen Plan für immer und für alle, sondern auf Grund jeweiligen weltorientierenden Wissens . . . nur für das, was jetzt . . . zu fordern . . . ist" 120 . Daß solches Fordern stets möglich bleibe, ist vornehmste Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit.

VII. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber Wenden w i r den Blick vom philosophischen Horizont wieder auf die praktische Situierung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber bildet heute Gegenstand einer sich

Maßnahmen gegen kommunistische B e a m t e in den 30er Jahren verfassungsrechtlichen A s p e k t e gegenüber damals vorherrschenden politisch r a d i k a l e n S t r ö m u n g e n nicht das gebotene G e w i c h t gegeben zu haben; so j e d e n f a l l s in B G E 57 I 154 f f . , w o es das e i n m a l i g e V e r t e i l e n einer kommunistischen Schrift w ä h r e n d der A r b e i t s z e i t durch einen seit 15 Jahren i m Bundesdienst stehenden Bahnbeamten als genügenden Grund f ü r eine s o f o r t i g e Entlassung — v e r b u n d e n m i t dem Verlust a l l e r Pensionsansprüche — erachtete und die F r a g e der V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t dieser M a ß n a h m e g a r nicht p r ü f t e . V g l . allg e m e i n zu den d a m a l i g e n Maßnahmen g e g e n kommunistische Beamte: Erich Richner, U m f a n g und Grenzen der Freiheitsrechte der Beamten nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1954, S. 138 f f . 119 120

Hans Albert, A u f k l ä r u n g und Steuerung ( A n m . 109), S. 187. Karl Jaspers, P h i l o s o p h i e , 2. A u f l a g e 1948, S. 608 f.

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immer noch ausweitenden Diskussion in der Bundesrepublik. Sie kann hier nicht aufgenommen werden121. 1. Verfassungskonforme

Auslegung

Im Schnittpunkt von Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung liegt das Prinzip der verfassungskonformen Gesetzesauslegung. Die einschlägigen Einsichten über die Doppelbedeutung — erstens als Appell an die rechtsanwendenden Behörden zur Beachtung der Verfassungsprinzipien im Rahmen der Gesetzesauslegung, zweitens als Instrument der Schonung des Gesetzgebers — sind hier nicht zu wiederholen122. Neu ist aus der Schweiz zu berichten, wie eine wissenschaftliche Differenzierung erstaunlich rasch Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat: die sogenannte Vermutung der Verfassungstreue des Gesetzgebers sei in dem Sinn zu modifizieren, daß der Richter im Rahmen abstrakter Normkontrolle auch bei gegebener Möglichkeit verfassungsgemäßer Auslegung zusätzlich das Risiko und die mögliche Schwere künftiger verfassungsverletzender Anwendung zu bedenken habe. Bei dieser Beurteilung sind verschiedene Faktoren in Betracht zu ziehen, wie juristischer Sachverstand des zukünftigen Gesetzesanwenders, Möglichkeit einer

121 Für eine Übersicht siehe H. J. Vogel, Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, Festschrift f ü r Friedrich Schäfer, Opladen 1980, S. 24 ff. mit Hinweisen in Anm. 14; vgl. auch Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit — Funktion und Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts (Hrsg.: Hoffmann-Riem), Band II, München 1977, S. 86 f. mit Anm. 7; aus der neueren Literatur siehe ζ. B. Scheuner, a. a. O. (Anm. 113), H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, S. 2103 ff. sowie Klaus Vogel (Gesamtredaktion), „Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle", Kolloquium Hans Spanner, Wien — New York 1979; Neuerdings hat Gunnar Folke Schuppert (Funktionellrechtliche Grenzen der Vèrfassungsinterpretation, Königstein 1980) den interessanten Versuch unternommen, die Auf gaben Verteilung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber mit der Unterscheidung von ein- und mehrdimensionalen Grundrechtsproblemen dogmatisch besser in den Griff zu bekommen; vgl. die Beispiele S. 47 ff. 122 Vgl. statt vieler: Edouard Georges Campiche, Die verfassungskonforme Auslegung, Diss. Zürich 1978 sowie Detlef Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, Berlin 1969.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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rechtzeitigen Beschwerde f ü r den Bürger, Bestimmtheit des Normtextes u. a.123. Der Verfassungsrichter h a t also eine Prognose ü b e r Wahrscheinlichkeit, Intensität und Heilbarkeit zukünftiger Grundrechtsverletzungen zu stellen und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Schonung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers!) zu entscheiden, ob er korrigierend in die gesetzgeberische Arbeit eingreifen oder es beim Appell zu v e r f a s s u n g s k o n f o r m e r Auslegung bewenden lassen soll.

2. Einwirkungen

auf den

Bundesgesetzgeber

Obwohl bei uns das Bundesgericht n u r indirekt mit dem Bundesgesetzgeber in Verbindung t r i t t — da ja eine Überprüf u n g der Bundesgesetze ausgeschlossen ist — scheinen m i r die gegenseitigen Einwirkungen besonders interessant und aufschlußreich. Wo das Bundesgericht in Auseinandersetzung mit den Kantonen die Verfassung auslegt, ist selbstverständlich, daß diese Auslegung auch von den Bundesorganen als verbindlich behandelt wird; dies gilt insbesondere f ü r die Bundesgesetzgebung 124 . Dennoch können im Anwendungsfall Verfassungsverstöße des Gesetzgebers sichtbar werden, so etwa im b e r ü h m t e n Zollgesetzfall von 1971125: Das Bundesgesetz sah die Möglich123

Nikiaus Müller, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, Diss. Bern 1980, insb. S. 21 ff., 110 ff., 131 f. Seine Hauptthese wurde durch den noch nicht publizierten BGE in Sachen Frischknecht vom 26. März 1980 übernommen. 124 Schon im Vorverfahren, dann auch in den parlamentarischen Kommissionen und bei den Beratungen im Plenum ist ein starkes Bemühen um Verfassungstreue festzustellen; dem dient u. a. auch die Verpflichtung des Bundesrates, in seinen Erläuterungen zu Gesetzesvorlagen an das Parlament zur Frage der Verfassungsmäßigkeit ausdrücklich Stellung zu nehmen (Art. 43 Abs. 1 Geschäftsverkehrsgesetz, SR 171.11); siehe zum Ganzen auch Otto K. Kaufmann, Etoilauto S.A. c. Confédération, in: Mélanges Henri Zwahlen, Lausanne 1977, S. 144 sowie Auer, a. a. O. (Anm. 14), S. 125. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß sich nur schwerlich ein Bundesgesetz aus den letzten Jahren finden ließe, das als offensichtlich verfassungswidrig bezeichnet werden könnte; so auch Haller, Ausbau (Anm. 26), S. 509 f.; im Ergebnis auch Kaufmann, Etoilauto, S. 142; abweichend Auer, S. 126 f. 125 Unveröffentlichter BGE i. S. Etoilauto S.A. c. Confédération v o m 9. Juli 1971, zit. nach Kaufmann, Etoilauto (Anm. 124), S. 139 ff.

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keit der Konfiskation und entschädigungslosen Verwertung von Fahrzeugen vor, die Dritten anvertraut und von diesen zu Schmuggel mißbraucht worden waren. Das Bundesgericht betrachtete die Regelung als willkürlich in einem Fall, wo der Eigentümer vom Schmuggel überhaupt nichts wissen konnte. Es wandte zwar, der Bestimmung von Art. 113 Abs. 3 BV gehorchend, die Zollgesetzgebung an, teilte aber seinen Unwillen über das „résultat choquant" der Bundesversammlung förmlich mit — als Appell zu entsprechender Gesetzesänderung. Das Zusammenspiel der Gewalten funktionierte eindrücklich: innerhalb kurzer Zeit w a r das Gesetz im Sinne der verfassungsrichterlichen Mahnung korrigiert 126 . Die Einwirkung der Verfassungsrechtsprechung auf die Bundesgesetzgebung kann auch ganze Regelungsbereiche umfassen: das neue Bundesverwaltungsverfahrensgesetz 1 2 7 kodifizierte in weiten Teilen Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren, die das Bundesgericht gegenüber den Kantonen formuliert hatte. Das Gericht nahm in der Folge seinerseits Impulse der in gewissen Punkten weiterführenden neuen Bundesgesetzgebung als Maßstab f ü r seine weitere Rechtsprechung gegenüber den Kantonen auf 128 . Der spektakulärste Eingriff der Verfassungsgerichtsbarkeit in Aufgabenbereiche des Gesetzgebers erfolgte im Interesse bundesstaatlicher Einheitsstiftung: Art. 46 Abs. 2 BV enthält einen Auftrag an den Bundesgesetzgeber, Doppelbesteuerungen auszuschließen, d. h. Regeln aufzustellen, damit ein Steuersubjekt nicht aus dem gleichen Grund an mehrere Kantone Steuern zu entrichten habe. Nachdem verschiedene Anläufe zu dieser Gesetzgebung gescheitert waren, trat das Bundesgericht an die Stelle der Legislative. Es interpretierte den Gesetzgebungsauftrag zugleich als verfassungsmäßiges Individualrecht des Bürgers und stellte fallweise jene Regeln auf, die heute praktisch unangefochten den Steuerbezug der Kantone harmonisieren 129 . Diese äußerst kühne Übernahme 126

Dazu Kaufmann, Etoilauto (Anm. 124), S. 140 f.; vgl. ferner Kaufmann, Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 12), S. 350 mit weiteren Hinweisen in Fußnote 33. 127 Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968, SR 172.021; vgl. insbesondere die Artikel 26 ff., 29 ff. 128 Vgl. v. a. BGE 103 Ia 104; ferner 104 Ia 26. 129 Eingehend dazu: Hans Huber, Das interkantonale Doppelbesteuerungsrecht als Richterrecht, in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Ausgewählte Aufsätze 1950—1970, Bern 1971, S. 519 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im G e f ü g e der Staatsfunktionen

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normsetzender Funktion erklärt sich einmal sicher dadurch, daß Doppelbesteuerung in einem Bundesstaat schlechthin untragbar schien; ein weiterer Grund mag in der Struktur der zu ordnenden Materie liegen: Kollisionsrecht betrifft nicht die großen Fragen sozialer Gestaltung, sondern ist weitgehend logisch begründbarer Argumentation zugänglich. Der schöpferische Aspekt dieser Rechtsprechung sei deswegen nicht verkannt, hingegen ein generalisierungsfähiger Hinweis darauf gegeben, in welchen Bereichen ein Verfassungsgericht eine erhöhte Chance konsensfähiger Normbildung anstelle des Gesetzgebers hat. Eigenständigkeit gegenüber dem Bundesgesetzgeber macht das Verfassungsgericht bisweilen auf eher verborgene Weise geltend. So verfolgt es in der Behandlung militärgerichtlich bestrafter Wehrdienstverweigerer, etwa bei Fragen ihrer Zulassung zum öffentlichen Dienst, eine ausgesprochen liberale Praxis130, während es unserem politischen System bisher nicht gelungen ist, eine konsensfähige Lockerung der allgemeinen Wehrpflicht zu finden131. Zeitlimitierung und Aufgabenteilung erlauben mir nicht, auf die spezifischen Probleme der Verfassungsrechtsprechung im Sozialstaat der Gegenwart und Zukunft einzugehen. Ich habe dazu kürzlich andernorts Stellung genommen132. Die Verfassungsrechtsprechung wird immer mehr auf ein Zusammenwirken mit anderen Staatsorganen angewiesen sein; Grundrechtsverwirklichung ist in den komplexen Gesellschaften unserer Zeit, mit den Leistungs-, Förderungsund Gestaltungsansprüchen, die sie an den Staat stellen, immer weniger allein durch Richterspruch zu bewerkstelligen,

Vgl. die in A n m . 90 und 92 angeführten Entscheide. Im Jahre 1977 w a r eine Verfassungsinitiative in der Volksabstimmung gescheitert, welche einen zivilen Ersatzdienst für Dienstv e r w e i g e r e r aus religiösen und ethischen Gründen vorsah. Gegenw ä r t i g ist eine V o l k s i n i t i a t i v e hängig, die „einen echten Zivildienst auf der Grundlage des T a t b e w e i s e s " fordert (siehe Bundesblatt 1980 I S. 441 f f . ) 132 v g l die Hinweise in A n m . 10. Eine Zusammenfassung und Würdigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nun bei Daniel Trachsel, Ü b e r die Möglichkeiten justiziabler Leistungsforderung aus verfassungsmäßigen Rechten der Bundesverfassung, Diss. Zürich 1980, insb. S. 146 f f . 130

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sondern bedarf des willigen Mitwirkens aller Zweige staatlicher Tätigkeit 133 . 3. Minderheitenschutz

als Aufgabe des

Gerichts

Unser Verfassungsgericht hat in den letzten Jahren besonders auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentfaltung und der Meinungsfreiheit eine intensive und liberale Praxis entwickelt, die zum Teil in ihrer Dichte einer Regelung durch Gesetz nahe kommt. Es hat beispielsweise eine Stadtverwaltung verpflichtet, einem Straßen theater für seine oppositionellen Aufführungen einen relativ zentral gelegenen Platz zur Verfügung zu stellen, damit der Zweck der Darbietung — Aufrüttelung der öffentlichen Meinung über ein damals aktuelles Kriegsgeschehen — auch tatsächlich erreicht werden könne134. Zu Detailregelungen wurde das Bundesgericht in den letzten Jahren vor allem auch im Gefängniswesen immer mehr gezwungen, trotz seiner ausdrücklichen Weigerung, an die Stelle des kantonalen Gesetzgebers zu treten135: Als die Frage vor ihm lag, ob ein Gefangener seine Angehörigen insgesamt nur während 20 Minuten pro Woche zu Besuch empfangen dürfe, mußte es festlegen, daß eine Stunde das verfassungsrechtlich vertretbare Minimum sei136. Ähnliche Beispiele zur Frage des täglichen Spazierganges, des Zeitungs- und Bücherbezuges, der ärztlichen und seelsorgerlichen Betreuung usf. ließen sich fast ins uferlose vermehren 137 . 133 Vgl. statt vieler Archibald Cox, The role of the Supreme Court in American Government, London-Oxfort-New York 1976, S. 76 ff., der das Problem am Beispiel der Durchsetzung der Praxis des Supreme Court zur Aufhebung der Rassendiskriminierung plastisch beschreibt. Siehe zum Ganzen auch Grimm, a. a. O. (Anm. 121), S. 105 ff., Scheuner, a. a. O. (Anm. 113), S. 479 mit Anm. 53 sowie Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Auflage, Karlsruhe 1980, S. 201 und 228 ff. 134 BGE 100 Ia 392 ff. 135 Z. B. BGE 99 Ia 271 mit weiteren Hinweisen. Daß sich in den USA ähnliche Probleme stellen, zeigt Peter Walther Hutzli, Die verfassungsmäßigen bundesrechtlichen Schranken im einzelstaatlichen Strafprozeß, Rechtsvergleichend dargestellt am Beispiel der USA und der Schweiz, Diss. Bern 1972. 13t Noch nicht publiziertes Urteil vom 26. März 1980 in Sachen Frischknecht. 137 Vgl. beispielsweise BGE 102 Ia279 ff., 103 Ia 165 ff. sowie das in Anm. 136 erwähnte Urteil.

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Das Bundesgericht leitet seine Zuständigkeit zu solcher Regelung aus ungeschriebenen Grundrechten ab und greift aufgrund der sich so selbst zugewiesenen Kompetenz in bislang eifersüchtig gehütete Zonen kantonaler Autonomie im Vollzugswesen und der Polizeihoheit ein. Dem Bundesgesetzgeber würde die verfassungsmäßige Grundlage zu entsprechender Gesetzgebung fehlen138, und hätte er sie, glaube ich kaum, daß ein Gesetz von vergleichbar freiheitlichem Geist all die Hürden der Gesetzgebung bis zum Volksreferendum nehmen würde. Wir stehen nun aber vor der eigenartigen Situation, daß die geschilderte Praxis des Bundesgerichts im allgemeinen ohne Aufhebens hingenommen wird. Dies deutet offenbar auf einen Konsens in unserer Demokratie, daß in der Verfassungsgerichtsbarkeit gerade auch wirtschaftlich, parteipolitisch oder sonst gesellschaftlich Schwache — wie Strafgefangene oder Splitterparteien — die Beachtung ihrer Grundrechtsinteressen finden sollen, die sie vom demokratischen Diskurs einer Parlamentsdebatte (bei uns ζ. B. wegen der fehlenden Macht einer Referendumsdrohung139) kaum erwarten dürften140. Auch die Demokratie braucht eine 138 Kurt Eichenberger hatte in einem Gutachten f ü r den Schweizerischen Juristenverein (Bundesrechtliche Legiferierung im Bereiche des Zivilprozeßrechts nach geltendem Verfassungsrecht, ZSR 88, 1969, II, S. 467 ff., insb. 498 ff.) vorsichtig und differenziert eine Regelungskompetenz des Bundesgesetzgebers, gestützt auf Grundrechtsgewährleistungen bejaht. Andererseits wird im Bericht der Expertenkommission f ü r die Revision von Art. 55 der Bundesverfassung, Bern 1975, die Meinung vertreten, die Kompetenz des Bundes zu Presseförderungsmaßnahmen lasse sich nicht auf die in Art. 55 BV garantierte Pressefreiheit abstützen, sondern bedürfe einer eigenen Verfassungsgrundlage. 139 Vgl z u r Funktion des Referendums im schweizerischen politischen System: Leonhard Neidhart, Reform des Bundesstaates, Bern 1970; kritisch dazu nun Andreas Auer/Jean-Daniel Delley, Le référendum facultatif — La théorie à l'épreuve de la réalité, ZSR 98 (1979), I, S. 113 ff. 140 Als Beispiel f ü r die Durchsetzung von Anliegen minoritärer politischer Parteien: BGE 104 Ia 415. Die Funktion einer „Führungsrolle" des Verfassungsgerichts im Schutz von Grundrechten artikulationsschwacher Personen und Gruppen verkennt das Bundesgericht, wenn es neuestens Verfassungsrecht nach Maßgabe des Konsenses weiterbilden will, wie er sich rein quantitativ in einer Mehrzahl eidgenössischer und kantonaler Gesetze nachweisen läßt. Siehe dazu BGE 103 Ia 323 ff., 104 Ia 17 ff.; 104 Ia 88 ff. sowie die Kritik an diesem Vorgehen in ZBJV 115 (1979), S. 127 und 116 (1980), S. 236 ff., 267 ff. Vgl. auch Anm. 43.

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Instanz, die — der Verfassung als Grundordnung entsprechend — in zeitlich weiterer Dimension denkt als die in Legislaturperioden arbeitende Gesetzgebung und die dem Tagesproblem verpflichtete Verwaltung. Die spezifische Aufgabe des Verfassungsgerichts mit seiner korrektiven und komplementären Funktion gegenüber dem Gesetzgeber kann nur wahrgenommen werden durch Richter, die zu den gerade herrschenden gesellschaftlichen Kräften oder den sonst in der Rechtssetzung dominierenden Faktoren in relativer Unabhängigkeit stehen141. Es gehört nun aber zu den unauflösbaren Ambivalenzen verfassungsrichterlicher Tätigkeit, daß sie in das gesamte politische-gesellschaftliche System eingebettet ist und — um ihrer Wirksamkeit willen" 2 — bleiben muß, daß andererseits in Zeiten der Verirrung der öffentlichen Meinung der Verfassungsrichter mit allen Mitteln und frontal gegen die herrschenden Trends zu Verfassungs- und Grundrechtstreue stehen soll143. Der in solcher Zeit notwendige persönliche Mut zur Distanznahme vom herrschenden System, die Pflicht zur Unpopularität, ist normativ kaum erfaßbar. Gerade der geschichtliche Rückblick hat gezeigt, daß das schweizerische politische System nur gegen Widerstände in einem Jahrzehnte dauernden Prozeß eine eigenständige Instanz der Grundrechtsverwirklichung zu akzeptieren und nicht nur als Widerpart, sondern auch als Stützung der Demokratie zu verstehen vermochte. 141 Vgl. etwa Eichenberger, Von der Justiz (Anm. 97), S. 556. Eindrücklich auch das Votum von Bundesrichter Häfliger (a. a. O. — Anm. 50 —), der hervorhebt, das Verfassungsgericht müsse eine Konstanz in der Grundrechtsprechung anstreben, unabhängig von Schwankungen des gesamten politischen System in der Einschätzung des Stellenwertes der Grundrechte. 142 Siehe dazu statt vieler: Scheuner, a. a. O. (Anm. 113), S. 476. Von daher erscheint eine pauschale Kritik an der amerikanischen ,,political-question"-Doktrin (beispielsweise bei Stern, a. a. O. — Anm. 2 —, S. 31 f.) als unberechtigt. Differenzierter ζ. B. Rhinow, a. a. O. (Anm. 74), S. 117 ff., 120 und 185 und Walter Haller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DÖV 1980, S. 472. 143 Beispielhaft die mutigen Entscheide des Supreme Court zum Schutz von Minderheiten: Miranda ν. Arizona, 384 U.S. 436 (1969); Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954); zu den berühmten „one man — one vote"-Entscheidungen ausführlich Cox, The Warren Court (Anm. 65), S. 114 ff. sowie Haller, Supreme Court (Anm. 5), S. 265 ff.

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VIII. Prüfstein der Verfassungsgerichtsbarkeit Ich komme zum Schluß: Die schweizerische Verfassungsrechtsprechung hat einen weit weniger spektakulären Charakter als etwa die amerikanische oder bundesdeutsche. Sie hat schlicht Anteil an der alltäglichen Suche nach dem richtigen Recht, sie speist den Motor politischer Bewegung und Erneuerung auf dem Wege zur aufgegebenen demokratischen Ordnung. Sie wirft Licht auf Verirrungen staatlicher Regelungen, korrigiert, wo sie kann und erhellt Ziele und Mittel im Hinblick auf das verfassungsrechtlich Gebotene. Die fundamentale Bedeutung des deutschen Bundesverfassungsgerichts ist, jedenfalls geschichtlich betrachtet, nur zu verstehen als bewußte Antwort auf die Herrschaftsformen des nationalsozialistischen Systems mit seiner Strategie der Vernichtung der Grundrechte und beliebiger staatlicher Verfügung über Meinungen, Gut, Leib und Leben der Bevölkerung144. Vermöchte im Notfall Verfassungsgerichtsbarkeit ein Abgleiten in neue Diktatur, Tyrannei, Unterjochung zu verhindern? Kann eine Institution — wenn auch zur Zeit von höchstem Ansehen — den standfesten Wall bilden? Oder kommt alles schließlich auf das Mitgehen nicht nur der anderen Staatsorgane, sondern der im Grundkonsens einigen Rechtsgemeinschaft an145? Ich glaube, wegweisende Sorge eines Verfassungsgerichts muß letztlich seine erzieherische Wirkung sein, der stets wiederholte Appell an Organe, Beamte, Bürger, mit der Hoffnung, daß sie alle im kritischen Moment bewaffnet seien mit Liebe zur Freiheit, unbeirrbar im Respekt vor der Würde jedes einzelnen, sensibel und schlagkräftig gegenüber der Arroganz nicht legitimierter Macht, gerade dann, wenn das Verfassungsgericht nicht mehr sprechen kann. 144 Joachim Pereis, Vorwort zu: Grundrechte als Fundament der Demokratie, Frankfurt a. Main 1979, S. 7. Deutlich auch bei Dieter Grimm, a. a. O. (Anm. 121), S. 86 f. mit Hinweisen in Anm. 7. Siehe auch Konrad Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 430. Scheuner, a. a. O. (Anm. 113), S. 470 hebt ganz allgemein die je besonderen Gründe eines Staates für die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit hervor. 145 „Nicht nur die Verfassungsgerichtsbarkeit, wir alle sind — politisch — ,Hüter der Verfassung'!" (Peter Haberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: Peter Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, Königstein 1979, S. 479).

Leitsätze des 1. Mitberichterstatters

über:

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen Vorbemerkung Verfassungsgerichtsbarkeit (VGB) wird hier im wesentlichen verstanden als ein Verfahren zur Durchsetzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger gegenüber Gesetzgebung und Verwaltung. In der Schweiz übt das Bundesgericht eine umfassende VGB gegenüber sämtlichen kantonalen Staatsorganen aus mit abstrakter und konkreter Normkontrolle. Bundesgesetze sind der richterlichen Überprüfung entzogen, nicht aber andere Erlasse des Bundes (ζ. B. Verordnung des Bundesrates). Soweit sich die Grundrechte des Bundes mit Garantien der EMRK decken, kann das Bundesgericht den entsprechenden Rechten Vorrang auch vor Bundesgesetzen einräumen (,.kalte Einführung der VGB" gegenüber Bundesgesetzen). Thesen I. Im Prozeß der Integration des Bundesstaates nach 1848 spielte die Konkretisierung bestimmter Grundrechte wie Niederlassungsfreiheit, Glaubensfreiheit u. a. eine zentrale Rolle, die das Parlament zunächst selber in Händen behalten und nur schrittweise an das Bundesgericht übertragen wollte. Hätte ein — namentlich parteipolitisch — unabhängiges Verfassungsgericht (VG) die gleiche Integrationsleistung vollbringen können? (Frage nach den Grenzen gesellschaftlicher Steuerungsfunktion eines VG). Die Skepsis gegenüber dem Richter war auch in der damals vorherrschenden Methodenlehre begründet. II. 1. Das Bundesgericht bestimmt heute weitgehend selber, was es als,,verfassungsmäßige Rechte" in seinen Schutz nehmen will. Wichtigste Grundrechtspositionen wie Persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Rechtliches Gehör oder das Will-

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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kürverbot stehen nicht im Verfassungstext. Das Gericht legt in diesem Bereich nicht die Verfassung aus, sondern bildet diese weiter nach seinem Selbstverständnis als VG: Seine Hauptfunktion sieht es in der Sicherung der Essentialien einer demokratischen, rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Ordnung.

2. Solche Essentialien sind die konstitutiven Elemente, nicht die Ordnung selbst (Abgrenzung zur Gesetzesordnung): a) Für Rechtsstaat und Demokratie sind Verfahrenssicherungen essentiell, für den Rechtsstaat etwa das rechtliche Gehör, für die Demokratie der Schutz zunächst von Grundrechten wie die Meinungsfreiheit, die schon im Vorfeld der Gesetzgebung den demokratischen Prozeß öffnen, sodann Sicherungen der verschiedenen Verfahren der Wahlen und Abstimmungen. Die ,.freie Willensbildung" wird vom Bundesgericht in besondern Schutz genommen: ζ. B. gegen manipulierende Information. b) Das VG begnügt sich nicht mit der Legitimation durch Verfahren; es kontrolliert nachträglich den gesamten output' rechtsstaatlicher oder demokratischer Verfahren. Als Maßstab dienen spezifisch verfassungsrechtliche Gerechtigkeitskriterien: aa) Die Grundrechte bezeichnen geschichtlich gewonnene Einsichten in das, was jeder Mensch im Namen der Gerechtigkeit fordern darf. bb) Wo sie versagen, greift wie ein Auffanggrundrecht das Willkürverbot ein. Es ist Ausdruck der Unschärfe unserer Gerechtigkeitserkenntnis und trägt im Bundesstaat zugleich den beiden Anliegen der Schonung kantonaler Selbstbestimmung und der Achtung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Rechnung. c) Zwischen Verfahrenssicherung (procedural due process) und materieller Kontrolle (substantive due process) hat die amerikanische Verfassungslehre die Rechtsfigur des structural due process entwickelt. Es geht um die sachgerechte Zuordnung von Entscheiden und die Legitimität ihrer Begründung nach Maßstäben zeitgemäßer und individualisierender Gerechtigkeit.

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III. Das Forum des VG garantiert zwar nicht herrschaftsfreien Diskurs (Habermas); immerhin treten parteipolitische Opportunität oder wirtschaftliche Interessenbindung soweit zurück, daß im Schutz der Verfassung die Chance gerade für gesellschaftlich Schwache reell erscheint, daß sich der,,Zwang des bessern Arguments" durchsetzt. Auch die Demokratie braucht eine gegenüber Gesetzgebung und Verwaltung in längeren Zeiträumen denkende Instanz.

3. Mitbericht von Professor Dr. Klaus Schiaich, Bonn

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen Inhalt I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung — Ausgangspunkte 1. Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat . . 2. Verfassungsinterpretation und Kompetenz — Prekäre Beanspruchung des Grundgesetzes 3. Verfassung als Gesetz, Verfassungsgerichtsbarkeit als Gerichtsbarkeit II. Die Verfassungsgerichtsbarkeit Staatsfunktionen

im Gefüge

einzelner

A. Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber . . . . 1. Kontrolle des Gesetzes, nicht des parlamentarischen Prozesses der E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g . . . . 2. Verselbständigung von Maßstäben gerichtlicher Kontrolldichte? 3. Unterschiedliche Verfassungsmäßigkeitsprüfungen im parlamentarischen und im gerichtlichen Verfahren 4. Gefahren einer Kompensation parlamentarischer Entscheidungsdefizite durch Verfassungsgerichte . B. Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit . 1. Grundrechtsschutz als Aufgabe aller Gerichte . . 2. Schutz der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts, Rechtsfragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung vorwärtszubringen 3. Rechtsfortbildung durch die Bundesgerichte . . . III. Verfassungsgerichtsbarkeit als Rechtsprechung — Folgerungen 1. Verfassungsgerichte als „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen"? a) Zwei historische Wurzeln: Gesetzeskraft und authentische Interpretation b) „Gesetzeskraft" im Range der Verfassung? . . .

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Klaus Schiaich c) Verfassungsgerichtsbarkeit als Rechtsprechung — Konsequenzen d) Keine Verfahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts 2. Zur Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG 3. Die Sicherung der Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit

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Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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Eine höchste Instanz zu be-greifen, ist schwer. Den Deutschen erscheint eine Staats- bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit seit den Zeiten des Reichskammergerichts als Krönung ihrer Verfassung. Rang, Macht und Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe folgen dieser Linie, gehen darüber aber auch hinaus: Während der ersten Monate seiner Existenz definierte das Bundesverfassungsgericht sich selbst als ein Gericht, das ein „mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan" ist. Mit dieser Selbst-Einschätzung war das Bundesverfassungsgericht nachgerade handstreichartig in des Gefüge der Staatsfunktionen nach dem Grundgesetz eingebrochen 1 . Die Verfasser des Grundgesetzes hatten sich auf eine solche Konzeption noch nicht einigen können. Im Parlamentarischen Rat war es — der einen Seite um etwas anderes gegangen, nämlich um die Verstärkung einer einheitlichen Dritten Gewalt durch Errichtung eines Obersten Bundesgerichts. Dessen Zugehörigkeit zur „reinen Rechtssphäre", dessen Ansehen sollte nicht gefährdet werden durch politische Streitigkeiten; deshalb sollten einige wenige politische Streitigkeiten an einen zweitrangigen Verfassungsgerichtshof ausgelagert werden 2 . Diese Richtung im Parlamentarischen Rat w a r immerhin so stark, daß sie das im Entwurf von Herrenchiemsee bereits formulierte Vorhaben, der Bundesverfassungsgerichtsbar1 BVerfG, Denkschrift vom 27. Juni 1952 („Status-Denkschrift"), in: JÖR 6 (1957), S. 144; vorher Gerhard Leibholz, Status-Bericht vom 21. März 1952, a. a. O., S. 127 f. — Es ging in der „Denkschrift" nicht nur um Stellung und Rang des Gerichts („ebenbürtiges Verfassungsorgan", a. a. O., S. 145,199). Es ging auch um die „Doppelfunktion" des BVerfG, wonach es „als Gericht in eine ganz andere Ebene als alle anderen Gerichte gerückt (ist). Es dient dadurch, daß es sich am Rechtswert orientiert, zugleich auch dem politischen Integrationswert", es partizipiert „an der Ausübung der .obersten Staatsgewalt'" (a. a. O., S. 199 f.). 2 Kurzprot. des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege des Parlamentarischen Rates, Drucks. 213/11 (2. Sitzung 20. Oktober 1948, Dr. Strauss), Drucks. 280 II (5. Sitzung 10. November 1948, Präs. Dr. Ruschewey, Präs. Dr. Wolff); Parlamentarischer Rat (Bonn 1948/1949), Hauptausschuß Prot. S. 268, 271 (8. Dez. 1948, Dr. Strauss). Richtungsweisend war die Denkschrift von Walter Strauss, Die Oberste Bundesgerichtsbarkeit, 1949. Die Normenkontrolle wurde von dieser Seite der „reinen Rechtssphäre" zugerechnet und als „eine wesentliche Aufgabe des reinen Obersten Bundesgerichts", also gerade nicht des Verfassungsgerichts angesehen (Hauptausschuß a. a. O., S. 274). Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 55 ff., 79 f.

102

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keit — unterschieden von der übrigen Gerichtsbarkeit — einen eigenen Abschnitt im Grundgesetz einzuräumen, von vorneherein zunichte machen konnte 3 . — Die andere Seite im Parlamentarischen Rat zielte mit der Verfassungsgerichtsbarkeit eher auf einen Abstand zur Justiz traditioneller Prägung. Sie wollte an der Spitze der Dritten Gewalt einen Verfassungsgerichtshof mit weiten Kompetenzen, freier Verfahrensgestaltung und mit Laienbeisitzern haben: einen Verfassungsgerichtshof mit einem Sinn für das Politische. Ein solcher Verfassungsgerichtshof sollte die Anwendung des „Rechts der deutschen Republik" und die Bindung der Justiz an den „Geist" der neuen Ordnung gewährleisten 4 . Der gängige und für die Schlußabstimmung auch zutreffende Hinweis, im Parlamentarischen Rat seien alle politisch relevanten Kräfte für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit mit weitgefaßter Zuständigkeit eingetreten 5 , ist also im Hinblick auf die unterschiedlichen Vorstellungen im Parlamentarischen Rat weniger aussagekräftig, als es auf den ersten Blick erscheint. Und es war auch nicht bei allen Mitgliedern des Parlamentarischen Rats das heute viel berufene Vertrauen gerade zur herkömmlichen Justiz, das sie bewog, dem Bundesverfassungsgericht so einzigartig weite Zuständigkeiten zu übertragen.

3

JÖR 1 (1951), S. 664; Laufer, a. a. O., S. 57. Hauptausschuß (FN 2), S. 272 f., 298 f. (Dr. Schmid), S. 274 f. (Zinn), S. 298 f., 300 (Dr. Greve). Vgl. den Hinweis bei Friedhelm Hase/Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, 1980, S. 282. — In dieser Linie § 3 Abs. 2 des Entwurfs eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht seitens der Bundestagsfraktion der SPD (Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode Drucks. Nr. 328): Mitglied des Gerichts soll nur werden, wer auch „Gewähr dafür bietet, daß er gerecht, mit sozialem Verständnis und im Geiste des Grundgesetzes" Recht sprechen werde; § 10 Abs. 2: Ernennung auf die Dauer der Wahlperiode des Bundestages. Vorläufer in Art. 139 Abs. 2 LdVerf. Bremen, Art. 130 LdVerf Hessen (Wahl der nichtrichterlichen Mitglieder nach Grundsätzen der Verhältniswahl). 5 Hans-Jochen Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DÖV 1978, S. 666; Klaus Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980, S. 12 f. 4

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung — Ausgangspunkte — Die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz ist bestimmt durch Herrschaft und Vorrang der Verfassung — und nur so zu „be-greifen": Das Grundgesetz ist nach Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht und bindet als solches alle staatliche Gewalt, einschließlich einerseits der Gesetzgebung und andererseits der Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Entfaltung und Verdeutlichung dieses Leitsatzes gilt mein Referat.

1. Verfassungsgerichtsbarkeit

im

Verfassungsstaat

Mit diesem Leitsatz schneidet das Grundgesetz die Verbindung zu älteren Typen der Staatsgerichtsbarkeit ab. Es ist der Verfassungsstaat, der die frühere Staatsgerichtsbarkeit in eine umfassende Verfassungs-Gerichtsbarkeit integriert und letztere ermöglicht. Es geht im Kern heute nicht mehr um eine gerichtsförmige Aufsicht des Reiches über die Länder und es geht nicht mehr um Schutz und Gewähr der konstitutionellen, also paktierten Verfassung in den Souveränitätskonflikten zwischen den Verfassungsorganen. In der Diskussion unserer Vereinigung zum heutigen Thema im Jahre 1928 wußte man — nach den bedeutenden, aber sehr unterschiedlichen Referaten von Heinrich Triepel und Hans Kelsen —, was notwendig ist, um den Schritt zur vollen Verfassungsgerichtsbarkeit tun zu können. In der Demokratie — so Richard Thoma 6 — ist „der Machtkampf zwischen den selbständigen Trägern politischer Gewalten verfassungsrechtlich geschlichtet und an Stelle des konstitutionellen Dualismus ist ein Monismus der Gewalten getreten"; innerhalb dessen sind die Kompetenzen verfassungsrechtlich zugewiesen. Angesichts des Kampfes der Parteien und Verbände auch in der Demokratie mag man diese Feststellung zunächst f ü r naiv oder auch f ü r positivistisch verengt halten. Es ist aber so, daß das richterliche Prüfungsrecht noch in der Weimarer Zeit nicht recht zum Zuge kam, weil es verstanden wurde als Kampfansage der Richter als einer bestimmten sozialen Schicht gegen eine im Parlament führende andere

6

„Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit", VVDStRL 5 (1929), S. 2 ff., 105.

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Klaus Schiaich

Schicht und Geistesrichtung 7 . Erst die Tatsache — so Walther Schoenborn® —, daß „ m a n grundsätzlich politisch mit der gegebenen Machtverteilung, w i e die Verfassung sie vorgesehen hat, zwischen den einzelnen Verfassungs-Organen einverstanden ist", macht eine perfekte Verfassungsgerichtsbarkeit, eine echte Gerichtsbarkeit auf d e m Felde der Verfassung möglich 9 . Ein solcher vorausliegender Konsens über die Machtverteilung zwischen den Verfassungsorganen b e w i r k t übrigens nicht eine Entpolitisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie ist heute neu politisiert durch die Aufgabe der Durchdringung allen staatlichen Lebens mit der geistig-politischen Grundordnung der neuen Republik, w i e sie das Grundgesetz konzipiert. Im Ganzen: es ist der verfassungsstaatliche Vorrang der Verfassung (des Verfassungsgesetzes) vor dem Gesetzgeber und vor allen anderen politischen Organen, der die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz konstituiert 1 0 . 7 Ernst Rudolf Huber, Die Einheit der Staatsgewalt DJZ 1934 Sp. 954; Ernst Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz (1927), in: ders., Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931—32, 1968, S. 25; Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1929/30), in: ders.. Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1977, S. 450. Die Anerkennung des richterlichen Prüfungsrechtes in der bekannten Entscheidung RGZ 111, 320 erfolgte aus Anlaß der Geldentwertung und Aufwertungsfrage, also einer Existenzfrage des deutschen Mittelstands; J. Goldschmidt, Gesetzesdämmerung, Juristische Wochenschrift 1924, S. 246. 8 VVDStRL 5, S. 115. Eingehender Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 116; kritisch dazu Helmut Quaritsch, Der fortschreitende Verfassungsstaat, Der Staat 17 (1978), S. 428. 9 Heinrich Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 8, 22, spricht dagegen von einem gewissen Widerspruch zwischen dem Wesen der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Er findet noch die Einschätzung vor: je politischer, desto weniger Verfassungsgerichtsbarkeit. 10 Vgl. nur Ernst Friesenhahn, Aufgabe und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament" Β 6/65, S. 15; Ulrich Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, DVB1. 1952, S. 294; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 473; Detlef Merten, Demokratischer Rechtsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1980, S. 773. Rainer Wahl, Die Bedeutung der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, in: W. Conze und R. M. Lepsius (Hrsg.), Geschichtliche Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland (demnächst).

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

2. Verfassungsinterpretation und Kompetenz Beanspruchung des Grundgesetzes

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— Prekäre

Der genannte Leitsatz rückt das Grundgesetz in prekärer Weise in den Mittelpunkt. Die Rolle und die Möglichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit bestimmen sich nun ausschließlich aus der Verfassung, deren Interpretation und den Methoden dieser Interpretation11. Dieser unauflösliche Zusammenhang von Kompetenz und Verfassungsauslegung ist oft festgestellt 12 , auch immer wieder etwas ungläubig — verschafft er dem Verfassungsgericht doch faktisch eine Art von Kompetenz-Kompetenz — bestaunt worden. Aber es liegt dies im Wesen einer höchsten13 Gerichtsinstanz. Die Reaktion darauf kann nur eine dauernde Anstrengung der Verfassungsrechtslehre um eine differenzierende Auslegung der Verfassung sein. Die Anbindung der Verfassungsgerichtsbarkeit an die Verfassung ist um so prekärer, als das Verfassungsrecht ja nicht dieselbe Tradition, nicht denselben geschlossenen Horizont und Begriffsapparat und nicht denselben zünftischen Interessenten- und Interpretenkreis hat, wie dies bei anderen Gesetzeskodifikationen weithin der Fall ist. Auch ist der Text des Grundgesetzes angesichts der Schwäche anderer einheitsstiftender Faktoren zur zentralen, fast einzigen allgemein anerkannten Konkretion der Verfassungsprinzipien dieser Gesellschaft geworden14. Dies belastet die Verfassung 11

Daß eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit bei einer engen Verfassungsauslegung nicht weit führt, zeigt die Praxis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs; zuletzt Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Juristische Blätter 102 (1980), S. 225 ff. 12 Peter Haberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders.. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit 1976, S. 9 f.; HansPeter Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, S. 2104; Rainer Wahl, a. a. O. (FN 10) („Knotenpunkt der Problematik"). Vgl. schon Klaus Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 62/63. 13 In BVerfGE 52, 187, 201, anerkennt das BVerfG seine Bindung an gewisse Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Auf diese europarechtliche Überwölbung des BVerfG kann hier nur hingewiesen werden. 14 Dazu Hans Buchheim, Probleme der Juridifizierung der Verfassung, in: 30 Jahre Grundgesetz, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 78, 1980, S. 23; Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschr. f. Ernst Forsthoff, 1972, S. 326; Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AÖR 99 (1974), S. 438; Rudolf Steinberg, Verfassungspolitik und offene Verfassung, JZ 1980, S. 386.

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Klaus Schiaich

und erweitert den Erwartungshorizont an das Gericht. Das geflügelte Wort von der „Überanstrengung der Verfassung" drängt sich auf15. 3. Verfassung als Gesetz, als Gerichtsbarkeit

Verfassungsgerichtsbarkeit

Dennoch: im Blick auf die Rechtsprechung des Gerichts in über 50 Bänden ist eine Feststellung rein deskriptiv unausweichlich geworden und meines Erachtens heute dogmatisch nachzuvollziehen: Die Verfassung ist zum Gesetz geworden — zum Gesetz, das an den Geltungs-, Interpretations- und Anwendungsbedingungen aller Gesetze teilhat und dessen (die Figur des Gesetzes fast sprengenden) Besonderheiten entschieden, aber doch in diesem Rahmen herauszuarbeiten sind. Die Verfassung ist einbezogen in das System der Mäßigung politischer Macht durch Gesetze und ergreift — so wie ehedem das Gesetz die Verwaltung — heute auch Gesetzgebung und Regierung. Das Bundesverfassungsgericht urteilt; seine Anordnungen sind Rechts-Folgen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist — und auch dies in einer gewissen Parallelität zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit — damit zur Gerichtsbarkeit geworden. Bevor ich diese Ausgangspunkte weiter entfalte, gehe ich auf das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu zwei Staatsfunktionen ein. II. Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge einzelner Staatsfunktionen A. Bundesverfassungsgericht

und

Gesetzgeber

Im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber braucht der Blick auf die Statistik zunächst nicht zu beunruhigen: Von den bislang unter dem Grundgesetz ergangenen etwa 3500 Bundesgesetzen hat das Bundesverfassungsgericht etwa 160 Gesetze beanstandet, das heißt für nichtig

15 Im Anschluß an Wilhelm Hennis vgl. Jörg Paul Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, Zeitschr. für Schweiz. Recht, n. F. 92 (1973) II, S. 720 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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oder für verfassungswidrig erklärt, und zwar 10 Gesetze im ganzen, die übrigen teilweise 16 . Ich gehe von einer anderen Beobachtung bzw. Frage aus: Besteht nicht die Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht durch den permanenten Umgang mit dem Gesetzgeber die nötige Distanz zum Gesetz verliert? Zwei Beispiele vorab: Das Bundesverfassungsgericht 17 läßt die Anwesenheit auch nur einer kleinen Zahl von Abgeordneten im Plenum des Parlaments genügen, um ein Gesetz gültig zu beschließen. Daran, also an der Gültigkeit eines formell an sich ordentlich beschlossenen Gesetzes, läßt es wiederum Zweifel zu für den Fall, daß „grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen den Abgeordneten über das zu verabschiedende Vorhaben . . . in der Schlußphase des Gesetzgebungsverfahrens" bestanden haben. In der Begründung des Urteils zum neuen Scheidungsrecht referiert das Gericht18 alle möglichen Äußerungen zu dem Reformvorhaben, um gleichsam mit Hilfe des vorgefundenen breiten Konsenses die innere Legitimation des neuen Zerrüttungsprinzips und seine Vereinbarkeit mit Art. 6 GG darzutun. An der für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes schwierigsten und wichtigsten Stelle — daß nach fünfjährigem Getrenntleben auch eine Härteklausel die Scheidung der Ehe nicht mehr soll verhindern können (§ 1568 Abs. 2 BGB) — an dieser Stelle aber bleibt dem Gericht nur der Gesetzestext: Der Vermittlungsausschuß hatte zu der FünfJahres-Frist im Wege des politischen Kompromisses gefunden — ohne nachlesbare Begründung. Die Verlegenheit des Gerichts, vor verschlossener Tür gestanden zu haben, ist deutlich: Über diese Stelle des Gesetzes entscheidet das Gericht mit 4:4-Stimmen. Der Blick des Gerichts richtet sich zunehmend auf den Gesetzgeber. Stehen das Gesetz oder der Gesetzgeber vor Gericht? 16

Für nichtig erklärt wurden: 10 Bundesgesetze ganz, 48 Einzelnormen und 48 Einzelnormen teilweise, für mit dem Grundgesetz unvereinbar wurden erklärt: 2 Bundesgesetze teilweise, 12 Einzelnormen und 38 Einzelnormen teilweise. Die Zahlen zu den Landesgesetzen sind erheblich niedriger. So für die Zeit vom 9. Sept. 1951 bis 11. Juni 1980 eine Aufstellung aus dem BVerfG. Vgl. auch Ernst Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, 1979, S. 63 f. 17 BVerfGE 44, 308, 321. " BVerfG, Urt. v. 28. Febr. 1980, Umdruck, S. 11 ff., 32 ff. = JZ 1980, S. 226,228 (ohne die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Gesetzes).

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Klaus Schiaich

1. Kontrolle des Gesetzes, nicht des parlamentarischen Prozesses der Entscheidungsfindung Die Normenkontrolle testet das Gesetz, sie dient nicht dem nachträglichen rechtlichen Gehör 19 f ü r den Gesetzgeber. Der Gesetzgeber kann nicht Gründe nachschieben. Im Mitbestimmungsstreit äußerte sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ein (einsamer) Professor f ü r „den Bundestag", der dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden beigetreten war 20 . Welche Vorstellung vom Parlament liegt diesem Vorgang eigentlich zugrunde 21 ? Kann der Bundestag „den Gesetzgeber" eines bestimmten Gesetzgebungsverfahrens vertreten? Das Gericht wird sich — auf der Suche nach dem Sinn eines Gesetzes — Äußerungen aus dem Gesetzgebungsverfahren zunutze machen und am Gesetzgebungsverfahren Beteiligte hören. Zu kontrollieren aber ist das Gesetz. Der Streit vor dem Bundesverfassungsgericht gilt dem Gesetz, nicht der Fortsetzung des Streits in Bonn. Das Gesetz löst sich — ganz anders als der bekanntgegebene Verwaltungsakt, solange er noch gerichtlicher Kontrolle unterliegt — mit der Verkündung durch den Bundespräsidenten von dem Prozeß seiner Entstehung. Im Gesetzblatt steht nicht der Wille der Mehrheit der Parlamentarier, sondern das Gesetz des Parlaments22.

19 Vgl. die Formulierung von Benda (Grundrechtswidrige Gesetze [FN 16], S. 35) bezüglich der „Nachholung des rechtlichen Gehörs für einzelne Personengruppen". 20 BVerfGE 50, 290, 310, 318. - BVerfGE 6, 389, 398: Das BVerfG gibt „dem Bundestag" Gelegenheit, sich zur Verfassungsmäßigkeit des § 175 StGB von 1871 i. d. F. v. 1935 zu äußern: Wie soll eine solche Äußerung „des Bundestages" im Bundestag formell und in der Sache Zustandekommen? — Präsident Benda (a. a. O. [FN 16], S. 29) bedauert, daß der Bundestag es regelmäßig nicht für erforderlich gehalten hat, von seinem Äußerungsrecht Gebrauch zu machen. 21 Vgl. Friesenhahn, Stenogr. Prot, der 18. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode (17. Juni 1970), S. 16: „Wer ist eigentlich der Gesetzgeber?" 22 Vgl. meine historischen Beobachtungen Schiaich, Maioritas — protestatio . . . Das Verfahren im Reichstag des Hl. Rom. Reichs Deutscher Nation nach der Reformation, ZRG 94 KanAbt. 1977, S.

288.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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Der Gesetzgeber schuldet gar nichts anderes als das Gesetz 23 . D i e g e g e n w ä r t i g u m l a u f e n d e Parole von der „optimalen Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht"24 w i l l es anders. Sie w i l l d e m Gesetzgeber eine nachprüfbare Rationalität des Prozesses seiner E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g auferlegen. Eine solche Pflicht ist d e m Grundgesetz nicht zu entn e h m e n . Es gibt nicht „den Gesetzgeber", v o n d e m sich sagen ließe, er h a b e sich sachkundig gemacht, „die verfügbaren empirischen D a t e n und Erfahrungssätze in ernstzunehm e n d e r Weise v e r w e r t e t " , die erforderlichen A b w ä g u n g e n vorgenommen 2 5 . U n d daran änderte sich nichts, selbst w e n n das Parlament die Begründung zum Gesetz ausdrücklich mitb e s c h l i e ß e n würde. Gesetzgebung ist nicht Verwaltung, der g e w ä h l t e Mandatsträger auf Zeit nicht ein Beamter: w e d e r in s e i n e m A u f t r a g , noch in seiner B i n d u n g an das Gesetz noch in seiner Verantwortung. D i e N o r m e n k o n t r o l l e darf den Gesetzgeber nicht e i n s p a n n e n in ein v o n Literatur und Rechtsprechung ersonnenes Gesetzgebungsverwaltungsverfahrensgesetz 2 6 .

23 Willi Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, hrsg. von Thomas Berberich u. a., 1979, S. 141: „Der Gesetzgeber schuldet den Verfassungsorganen und Organen im Staat, auch den Verfassungsgerichten, nichts als das Gesetz. Er schuldet ihnen weder eine Begründung noch gar die Darlegung aller seiner Motive, Erwägungen und Abwägungen". 24 Gunther Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Festschr. f. Hans Peter Ipsen, 1977, S. 173 ff.; darauf Bezug nehmend, wenn auch zurückhaltender Benda, Grundrechtswidrige Gesetze (FN 16), S. 21; ders., BVerfG und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, DÖV 1979, S. 467. 25 So aber in fast verwaltungsrechtlicher Denkweise — neben Schwerdtfeger (FN 24), S. 178 ff. — Rüdiger Breuer, Legislative und administrative Prognoseentscheidungen, Der Staat 16 (1977), S. 40 ff. Differenziert Fritz Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das BVerfG, in: BVerfG und Grundgesetz, Festgabe f ü r das BVerfG, hrsg. von Chr. Starck, 1976, Bd. 1, S. 484. 26 Im Ergebnis ebenso insbesondere Geiger (FN 23),a. a. O. und Karl Matthias Meessen, Das Mitbestimmungsurteil des BVerfG, NJW 1979, S. 836 (unter Betonung des Unterschieds zwischen Gesetzgebung und Verwaltung.) — Damit ist selbstverständlich nicht Stellung genommen gegen die Notwendigkeit einer Weiterarbeit an der Gesetzgebungslehre, bezweifelt ist nur deren Ableitbarkeit aus der Verfassung. — Vgl. auch Benda (FN 24), DÖV 79, S. 469: „Grobraster

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Es kommt bei der Normenkontrolle auf die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes als Ergebnis des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens an, nicht auf die argumentative Konsistenz oder auf sonstiges Verfahren und Verhalten des Gesetzgebers27. Im Mitbestimmungsurteil attestiert das Gericht2' dem Gesetzgeber, er habe die Anforderungen des Verfahrens erfüllt, „sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert". Zum Beleg wird insbesondere auf die sorgfältigen Erhebungen und den umfassenden Bericht der Mitbestimmungskommission abgestellt; deren Empfehlungen würden mit dem späteren Gesetz in den wesentlichen Zügen übereinstimmen. — Im Urteil zu § 218 StGB29 wird die Äußerung eines Abgeordneten in einem Ausschuß zitiert — offenbar um anzudeuten, „der Gesetzgeber" könnte unehrlich30 formuliert haben, wenn er vorgebe, dem Schutz des Lebens dienen zu wollen. einer Check-Liste f ü r den Gesetzgeber" und zuletzt Waldemar Schreckenberger, Die Gesetzgebung im demokratischen Rechtsstaat, in: Festschr. f. Friedrich Schäfer, 1980, S. 79; Kurt Eichenberger u. a. (Hrsg.), Grundfragen der Rechtsetzung, 1978; Burkhardt Krems, Grundfragen der Gesetzgebungslehre, 1979. 27 Vgl. BVerfGE 51,1, 27: „nur die objektive, d. h. die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll", führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm. Fast gleichlautend mit dem im Text Gesagten übrigens: US v. O'Brien 391 U.S. 367 (1968), 383: „We reject this argument because under settled principles the purpose of Congress . . . is not a basis for declaring this legislation unconstitutional . . . Inquiries into congressional motives or puiposes are a hazardous matter." Die Gegenposition ist jetzt ausgearbeitet bei H.-P. Schneider (FN 12), NJW 1980, S. 2106 f. Er unterscheidet unter dem Stichwort der Kontrolldichte zwischen Verhaltens-, Verfahrens- und Ergebniskontrolle. Vgl. auch Helmut Goerlich, Erfordernisse rationaler Gesetzgebung nach Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts, JR 1977, S. 89 ff. — Zur Konsistenzprüfung Bernhard Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 67 ff.; Goerlich, Optimierungsaufgaben der Verfassungsinterpretation, Rechtstheorie 8 (1977), S. 234. Zur Frage, wie weit die Prüfung der „Verhältnismäßigkeit" zwingt, auf die Sicht des Gesetzgebers abzustellen, vgl. Hans Schneider, Zur Verhältnismäßigkeits-Kontrolle insbesondere bei Gesetzen, in: Festg. BVerfG Bd. II, S. 398. 2 » BVerfGE 50, 290, 333. 29 BVerfGE 39, 1, 61 f. 30 Vgl. Martin Kriele, § 218 StGB nach dem Urteil des BVerfG, ZRP 1975, S. 76.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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Ergibt sich aus diesen beiden Beispielen nicht der Rat an den Gesetzgeber — in Karikatur —, bei komplexen Vorhaben den Abgeordneten Schweigen anzuraten und eine Sachverständigenkommission einzusetzen? Der Gedanke ist gefährlich, denn hält man sich die Beschwerlichkeiten des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens und den dort ohnedies schon weithin bestimmenden Einfluß der Regierung vor Augen, so könnte man ja nur allzu sehr geneigt sein, den direkteren und effizienteren Weg der Gesetzgebung durch Sachverständigenkommissionen aufatmend zu akzeptieren. Nur: das freie Parlament, dessen offene und widersprüchliche Diskussion, dessen oft enthüllende Transparenz, dessen Rück- und Anbindung an die Öffentlichkeit wären abgeschafft, das beschwerliche Wagnis der parlamentarischen Demokratie wäre für gescheitert erklärt. 2. Verselbständigung Kontrolldichte?

von Maßstäben

gerichtlicher

Im Mitbestimmungsurteil31'32 hat es das Bundesverfassungsgericht auf Grund literarischer Vorlagen33 unternommen, die verfassungsgerichtliche Intensität der Prüfung der Prognosen des Gesetzgebers zu systematisieren. Das Gericht könne sich — entweder mit einer bloßen Evidenzkontrolle begnügen — oder eine Vertretbarkeitskontrolle durchführen — oder zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle gezwungen sein. Ich verkenne nicht die Schwierigkeiten mit der Tatsachenund Prognosenkontrolle. Aber ich habe die Frage, ob eine solche Verselbständigung von Maßstäben gerichtlicher Kontrolldichte erfolgversprechend ist und ob sie zusätzliche Ra31,32

BVerfG 50, 290, 333. In unterschiedlicher Weise kritisch dazu u. a. Hans-Jürgen Papier, Mitbestimmungsurteil und Verfassungsrecht, ZGR 1979, S. 449 ff.; Peter Badura, Richterliches Prüfungsrecht und Wirtschaftspolitik, Festschr. f. Ludwig Fröhler, 1980, S. 343 ff.; Reiner Schmidt, Das Mitbestimmungsgesetz auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: Der Staat 19 (1980), S. 242 ff. 33 Ossenbühl (FN 25), in: Festg. BVerfG I, S. 498 ff. Vgl. schon das Sondervotum der Richter Rupp-von Brünneck und Simon in BVerfGE 39, 1, 72 und Uwe Seetzen, Der Prognosespielraum des Gesetzgebers, NJW 1975, S. 429 ff. Auch Wiltraut Rupp-von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt, AÖR 102 (1977), S. 25.

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tionalität und Vorhersehbarkeit verspricht 34 . Dieser neuen 3-Stufen-Lehre liegt die Vorstellung von einer Verhältnismäßigkeit 35 des Eingriffs des Gerichts in die Gesetzgebung zugrunde. Das Grundgesetz kennt diese funktionelle Sicht nicht. Als Beispiel für eine bloße Evidenzkontrolle wird vom Bundesverfassungsgericht die Entscheidung zum Stabilisierungsfonds36 angeführt. Dort hieß es: „Der Gesetzgeber hat bei der Entscheidung, ob er eine bestimmte Aufgabe in Angriff nehmen will und wie sie verwirklicht werden soll, einen weiten Spielraum." Das aber heißt doch nicht: er hat gegenüber dem Bundesverfassungsgericht eine weite Prärogative 37 , sondern: der Gesetzgeber hat Freiheit, weil es insoweit an rechtlichen Maßstäben in der Verfassung mangelt 38 . Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab ist entweder zurückhaltend oder deutlich greifend. Dazu noch ein Beispiel: Im Urteil zur Öffentlichkeitswerbung der Bundesregierung in Wahlkampfzeiten bedurfte es zur Feststellung eines Verfassungsverstoßes in der Tat — wie das Gericht39 sagt — einer gewissen „Massivität offenkundiger Grenzüberschreitungen", aber nicht — wie man meinte 40 —, weil das Gericht die Verhaltenskontrolle gerade gegenüber der Regierung großzügig handhabe — warum eigentlich? —, sondern weil die Verfassung hier keine klaren, exakten Maßstäbe setzt41, das Gericht also eine feste, sichere Größe nicht zu greifen vermochte 42 .

34 H.-P. Schneider (FN 12), NJW 1980, S. 2104 f. verlangt zutreffend, ein funktionell-rechtlicher Interpretationsansatz müsse „handlungsanleitend" für die Rechtsprechung sein. 35 Benda, Grundrechtswidrige Gesetze (FN 16), S. 19. 36 BVerfGE 37, 1, 20. 37 BVerfGE 50, 332: „Einschätzungsprärogative". 38 Vgl. BVerfGE 49, 89, 131. 39 BVerfGE 46, 125, 156. 40 H.-P. Schneider (FN 12), NJW 1980, S. 2106. 41 BVerfGE 44, 125, 153: „Ein genauer Stichtag . . . läßt sich nicht eindeutig bestimmen". 42 Man ist versucht, an Erich Kaufmanns „rationale Einfachheit, die für die Evidenz gerichtlicher Entscheidungen notwendig ist", zu erinnern; ders., Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 9.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen 3. Unterschiedliche parlamentarischen

113

Verfassungsmäßigkeitsprüfungen im und im gerichtlichen Verfahren

Einer funktionell-rechtlichen Sicht 43 erscheinen Gesetzesrecht und Richterrecht zunehmend als sich wechselseitig ergänzende, arbeitsteilige Modalitäten im Rechtsfindungsprozeß 44 . Ein substantieller Unterschied zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung wird geleugnet 4 5 . Unter Mithilfe der Kriterien der Organadäquanz und Funktionsgerechtigkeit 4 6

43 Von „funktionell-rechtlichen Interpretationsprinzipien" spricht zuerst Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 73. Dazu Ralf Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 43 f. Eingehender auch Rudolf Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des BVerfG, 1972, S. 68 ff. — Bei Ehmke handelte es sich noch (zutreffend) um ein Interpretationsprinzip, inzwischen hat sich das funktionell-rechtliche Argument institutionell-organisatorisch zu einem Zuständigkeitsprinzip verselbständigt. 44 Aus der überflutenden Literatur nur H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 28, 33 („Arbeitsteilung"); ders., Gesetzgebung und Rechtsprechung, DÖV, 1975, S. 449. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, S. 327. Georg Müller, Inhalt und Formen der Rechtsetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, 1979, S. 101, 104; René A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 191 ff.; Walter Haller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, DÖV, 1980, S. 466 f. Vgl. auch Gerhard Zimmer, Funktion — Kompetenz — Legitimation, 1979, S. 119, 123, 130. Badura (FN 32), Festschr. Fröhler, S. 326. — Gegen die Vorstellung einer Arbeitsteilung zwischen Justiz und Gesetzgebung schon Rudolf Smend, Festvortrag zur Feier des 10jährigen Bestehens des BVerfG (1962), in: Das BVerfG 1951—1971, 1971, S. 17; abwehrend auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 93 f. — Generell Gerd Roellecke/Christian Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff., 43 ff. Detlef Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Rechtsstaat, 1977, S. 51 („Rollentausch von Gesetzgebung und Rechtsprechung"). 45 Hans Herbert von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteresse, 1977, S. 228. 46 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl., 1980, S. 199; Siegfried Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 88; Rhinow, a. a. O., S. 193; zuletzt Friiz Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, DÖV, 1980, S. 548 f.; Wahl, Die Bedeutung der Verfassung (FN 10). Auf dieser Linie auch die Überlegung, ob nicht die spezifische Entscheidungsqualität des

114

Klaus Schiaich

wird vergleichend gefragt, was das Gericht besser47, zutreffender, rationaler, empirischer48, neben oder an Stelle des Gesetzgebers kann oder auch nicht kann. Gegenüber einer solchen vergleichenden Betrachtungsweise ist festzuhalten: verfassungsgerichtliche Normenkontrolle49 und Gesetzgebung sind fundamental verschieden: Verschieden ist das Verfahren. Der Richter ist stärker gebunden als der Gesetzgeber — prozessual und materiell —, der Verfassungsrichter aber hat — unabhängig und anonym, wie er ist — eine unvergleichliche Entscheidungsfähigkeit. Er kann den Gegenstand seiner Entscheidungen nicht entpolitisieren, aber er kann das Informations- und Argumentationsspektrum doch kanalisieren. So erfüllen auch die „Anhörungen" in Bonn und Karlsruhe keineswegs dieselbe Funktion. Der Gesetzgeber kann sich Druck beugen; der Verfassungsrichter darf und braucht das nicht. Der Richter steht unter Entscheidungszwang, aber nicht in der Weise wie der Politiker unter Zeitdruck; schon der Faktor Zeit (Zeitpunkt) unterscheidet die beiden Verfahren sehr wesentlich. Verschieden ist auch der Gegenstand. Erst das Bundesverfassungsgericht hat einen Gesetzestext vor sich, der endgültig, zusammenhängend auslegbar und meist auch schon praktiziert worden ist50. Man kann nicht den Gesetzgeber in die Schlacht um allseitige Konkordanz schicken — Regierung, Minderheit, Verbände, Bundesrat — und mit der Installierung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG) ihn anhalten, auch noch den Kompromiß der letzten Minute zu suchen, um dann von ihm Richterspruchs (der „rechtsstaatliche Mehrwert") in das administrative Entscheidungsverfahren (vor-)verlagert werden kann, bei Ossenbühl, Die gerichtliche Überprüfung . . ., DVB1., 1978, S. 9; zu Recht skeptisch Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 267. 47 Vgl. Jörn Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 138 ff.; dazu Folke Schuppert, in: Der Staat 15 (1976), S. 116. Jost Delbrück, Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, in: Festschr. für E. Menzel, 1975 S. 91. Zimmer, Funktion (FN 44), S. 241 f., 322. 48 Klaus Jürgen Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971, S. 163, 167,182 f. Vgl. auch Ossenbühl ( F N 25), Festg. BVerfG I, S. 518. 49 Die Unterschiedlichkeit der Verfahrensarten — Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG — ist für das Folgende nicht wesentlich. 50 Vgl. Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen, 1979, S. 28.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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die Ruhe und Souveränität des Karlsruher Gerichtssaales zu erwarten51. Daraus folgt: die Verfassungsmäßigkeitsprüfungen in den beiden Verfahren haben nicht denselben Stellenwert. Verfassungswidrigkeit — als politisches Argument eingebracht gegen ein in der Entstehung befindliches Gesetz — und Verfassungswidrigkeit — kunstgerecht als Argument gegen ein verkündetes Gesetz eingebracht in den Verfassungsgerichtsprozeß — sind nicht voll identisch52. Auch wenn beim Bundesverfassungsgericht die besseren Kräfte walten und nach rationalisierteren Methoden verfahren wird: Materialprüfung ist nicht Produktion.

4. Gefahren einer Kompensation Entscheidungsdefizite durch

parlamentarischer Verfassungsgerichte

Das Verhältnis des Richters zum Gesetzgeber gerät immer mehr unter den Gedanken der Kompensation. Der Tatbestand und die Notwendigkeit einiger seiner Konsequenzen sind nicht zu bestreiten: Der Wandel des Gesetzes zum Mittel auch zweckhaft sozialer Gestaltung53, die große Nachfrage nach Recht54, die Defizite, die das parlamentarische Verfahren läßt —, dies und anderes machen Richterrecht, machen Kompensation, Substitution, Korrektur, Entlastung, Gegen-

51 Zur unterschiedlichen Entscheidungssituation auch Helmut Quaritsch, Disk.-Beitrag in: Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, Ein Cappenberger Gespräch, Bd. 15, 1980, S. 66; ders., Rezension, in: HZ 229 (1979), S. 752. 52 Vgl. auch Merten (FN 10), DVB1. 80, S. 775. Anders ausdrücklich Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ, 1976, S. 699. Zur (alleinigen) Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Bundesgesetze durch die Bundesversammlung in der Schweiz vgl. nur Walter Haller, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit?, Zeitschr. f. Schweiz. Recht n. F. 97 (1978) I, S. 509. 53 Vgl. BVerfGE 39,1, 59. Vgl. Fritz Werner, Das Problem des Richterstaates (1960), in: ders., Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 187. Friedrich Kübler, Privatrecht und Demokratie, in: Festschr. f. Ludwig Raiser, 1974, S. 713 ff., 717; Otto Bachof, Grundgesetz und Richtermacht (1959), in: ders.: Wege zum Rechtsstaat, 1979, S. 184 f. Scheuner, Gesetzgebung und Politik, in: Gedächtnisschrift f ü r René Marcie, 1974, S. 897 f.; Starck, Das BVerfG im politischen Prozeß der Bundesrepublik, 1976, S. 22 f. 54 Hans Zacher, Disk.-Beitrag, in: VVDStRL 34 (1976), S. 103.

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gewicht durch Richterrecht notwendig 5 5 . A u c h das Bundesverfassungsgericht gerät in diesen Sog. S e i n e heutige, m a n c h m a l schon führende „ s t a a t s l e i t e n d e " S t e l l u n g ist sicher auch ein Stück K o m p e n s a t i o n für den t i e f e r g e h e n d e n Mangel an demokratischer Tradition und an Einübung der D e m o k r a t i e in Deutschland. Aber: u m der v e r f a s s u n g s m ä ß i gen Ordnung der Z u s t ä n d i g k e i t e n willen 5 6 darf m a n sich bei d e m G e d a n k e n der K o m p e n s a t i o n nicht einrichten. Kompensation schafft nicht Kompetenz, sie schafft Notkompetenz57,

55 Vgl. nur Fritz Werner, Recht und Gericht (FN 53), S. 170 ff., 187 ff.; Bachof, a. a. O. (FN 53), S. 187 („Gegengewicht"); von Arnim, Gemeinwohl (FN 45), S. 242 („Substitution"); Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JuS-Didaktik Heft 4, Bd. II, 1977, S. 97; Häberle, Rezension, DVB1., 1973, S. 388 („Entlastung"). Roellecke (FN 44), W D S t R L 34, S. 14 ff. (kritische Darstellung der „kompensatorischen Position"); Starck, a. a. O. (FN 44), S. 46 (historische Hintergründe); Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, 1979, S. 22 ff. Vgl. auch Erhard Denninger, Staatsrecht, Bd. 2, 1979, S. 201. — Kritische bzw. zurückhaltende Position bei Badura, Grenzen und Möglichkeiten des Richterrechts, in: Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, 1973, S. 44; Jörn Ipsen, Richterrecht (FN 47), S. 241. 56 Von daher habe ich bezüglich des noch weiter gehenden Stichworts von der ,,gemischten Verfassung" (Hesse, Grundzüge [FN 46], S. 202; vgl. jetzt auch Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: Festschr. f. Friedrich Schäfer, 1980, S. 188, 190) Fragen. Historisch ist der Sinn dieses Wortes deutlich (vgl. nur Max Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, 1959, S. 15): Es ging um die jeweilige rechte Mischung der drei Grundformen eines jeden staatlichen Gefüges „Monokratie, Aristokratie, Demokratie". Heute aber ist die Formulierung als solche zunächst nichtssagend. So kann das Stichwort im Rahmen der geltenden Verfassung kompetenzauflösend, systemzerstörend wirken. Bedenken bestehen auch gegenüber der Formulierung, das BVerfG habe „einen — begrenzten — Anteil an der Staatsleitung" (Hesse, Grundzüge [FN 46], S. 228, 263; vgl. auch schon BVerfG [FN 1], JÖR 6 [1957], S. 198, sowie Geiger, Vom Selbstverständnis des BVerfG, 1979, S. 6; vgl. auch Magiera, Parlament und Staatsleitung [FN 46], S. 95 f.). Darin ist die Wirklichkeit zutreffend beschrieben, wobei dies übrigens auch f ü r andere Gerichte, gegenwärtig insbesondere f ü r das Bundesarbeitsgericht, gilt. Aber die Deskription darf nicht in eine dogmatische, normative Aussage übergeleitet werden. 57 Das Stichwort „Notkompetenz" im Verhältnis BVerfG — Fachgerichtsbarkeit bei Ossenbühl (FN 24). Festschr. f. Ipsen, S. 141.

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deren erste und dauernde Pflicht es ist, sich entbehrlich zu machen58. Ein entscheidungsfreudiges Verfassungsgericht vermag die „Flucht des Gesetzgebers aus der Verantwortung" 59 zusätzlich zu beschleunigen. Die Kompensation parlamentarischer Funktionen durch nicht-parlamentarische Organe kann die Ausbildung der erforderlichen parlamentarischen Fähigkeiten behindern. Es60 nimmt die Maßgeblichkeit des Ausgangs der Wahlen ab, wenn durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gerade die großen, „plebiszitär" erfaßbaren Gesetzgebungsprojekte praktisch der politischen Debatte um ihre Abänderung entzogen werden. Die Opposition kann hoffen — und sie richtet ihr Verhalten während des Gesetzgebungsverfahrens oft schon darauf aus —, ein Gesetz mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts rückgängig zu machen; dadurch kann sie zwar ihre Ohnmacht als Minderheit im Bundestag kompensieren — wie sie dies auch mit Hilfe des Bundesrates kann — nur: dies gelingt ihr, ohne den Wähler veranlaßt zu haben, sie zur Mehrheit zu machen. Die Mehrheit sieht sich unter Umständen von Folgen „ihrer" Gesetze befreit, ohne sich durch diese Gesetze beim Wähler als unerträglich erwiesen zu haben. Daraus folgt: Das Bundesverfassungsgericht sollte sich häufiger auf die Kassation von Gesetzen, auf die Zurückverweisung an den Gesetzgeber beschränken61. Der Gesetzgeber wäre so wieder deutlicher in

M Kritisch zum Kompensationsgedanken (unter unterschiedlichen Aspekten) insbes. Wolfgang Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation — Zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, Der Staat 13 (1974), S. 359 f., Wilfried Fiedler, Fortbildung der Verfassung durch das BVerfG?, JZ, 1979, S. 425. Kritisch dazu, daß gerade das BVerfG legislatorische Funktionen gewissermaßen ersetzt, insbes. Hans Heinrich Rupp, Zweikammersystem und BVerfG, Ordo 30 (1979), S. 102. 59 Uwe Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974. 60 Ähnliche Überlegungen wie im folgenden bei Böckenförde (FN 56), Festschr. f. F. Schäfer, S. 192 ff., bezüglich des unitarischkooperativen Bundesstaates und des Systems des Beteiligungsföderalismus (Bundesrat). Vgl. auch Abgeordneter Moersch, in: Bundestagsprotokoll 6/1917 (13. 3. 1970). Vgl. auch Grimm (FN 52), JZ, 1976, S. 701, 703. 61 Die vielfältigen Zwischenformen der Rechtsfolgeanordnungen — bloß verfassungswidrig, verfassungskonform, Appellentscheidungen, Erlaß von Übergangsregelungen — haben sich als problematisch erwiesen, obwohl sie aus der Sicht des BVerfG den Gesetz-

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der v o l l e n Verantwortung 6 2 für sein Projekt. Das Gericht w ü r d e damit d e m politischen Prozeß möglichst w e n i g an Stoff entziehen. Wie das Bundesverfassungsgericht 6 3 jüngst den politischen Parteien nicht, w i e v o n diesen erhofft, die N ö t e u m ihre Finanzierung a b g e n o m m e n hat, o b w o h l Gelegenheit dazu war, so sollte es d e m Gesetzgeber b e i s p i e l s w e i se auch nicht die Neuordnung der Rundfunk- und Medienlandschaft abnehmen, o b w o h l Gelegenheit dazu sein dürfte. Es ist erschreckend, m i t w e l c h e r S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t noch nach 30 Jahren Grundgesetz in der Literatur v o m Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber und kompensierend vom Vertrauen in die Justiz geredet wird 6 4 . D i e Verfassungsgeber gerade schonen sollen. In größerem Zusammenhang dogmatisch eingehend jetzt Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 213 ff., 218. Grundlegend schon Hartmut Maurer, Zur Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, in: Festschr. f. Werner Weber, 1974, S. 355 ff.; auch Michael Sachs, Teilnichtigerklärung, DVB1. 1979, S. 393; Gunnar Folke Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 53. — Vgl. auch Fritz Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaates, 1970, S. 37 f. Anders zu BVerfGE 39, 1, 68 (§ 218 StGB), aber m. E. nicht richtig Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, NJW 1976, S. 779. 62 Friesenhahn. Disk.-Beitrag, in: Cappenberger Gespräch, Bd. 15 (FN 51), S. 75: „ganz verschiedene Verantwortlichkeiten" von Parlament und Verfassungsgericht. Vgl. auch Rainer Eckertz, Die Kompetenz des BVerfG und die Eigenheit des Politischen, Der Staat 17 (1978), S. 187. In andere Richtung Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Cappenberger Gespräch, Bd. 15 (FN 51), S. 38. 63 BVerfGE 52, 63, 94; dazu Jürgen Jekewitz, BVerfG und Gesetzgeber, in: Der Staat (demnächst). — Ein jüngstes Beispiel f ü r eine verfassungsrechtlich nicht veranlaßte Kompensation gesetzgeberischer Untätigkeit ist wohl BVerfG, Urt. v. 1. 7. 1980, JZ 80, S. 520 (Unentgeltlichkeit der Amtsvormundschaft). 64 Als Indikator stehe ein Satz von Haberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 449: „Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG kann auch unpolitisches Mißtrauen gegen die Demokratie und unverhältnismäßig großes Vertrauen in die Rechtsprechung indizieren. Der deutsche Glaube an die Verfassungsgerichtsbarkeit darf nicht zum Unglauben an die Demokratie umschlagen". Auch Roellecke, VVDStRL 34, S. 126, und schon Willibalt Apelt, Disk.-Beitrag in VVDStRL 9 (1952), S. 120. Herbert Krüger, Verfassungswandlung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschr. f. Rudolf Smend, 1962, S. 160, sieht das Mißtrauen gegenüber dem Parlament und das Vertrauen zur Rechtspflege in enger Verbindung mit der Errichtung rigide geschriebener Verfassungen. Badura, Verfas-

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rechtslehre ging bislang eher mit Gleichgültigkeit am Parlament als der wichtigsten Institution des Grundgesetzes vorbei65. Man kann die Bewunderung, die das Bundesverfassung und Verfassungsgesetz, in: Festschr. f. U. Scheuner, 1973, S. 22. Vgl. auch die Nachweise und Alternativen bei von Arnim (Gemeinwohl [FN 45], S. 242 f.). — Darstellung der Zusammenhänge bei Otto Bachof (FN 53), Wege zum Rechtsstaat, S. 183 f. — Vgl. zuletzt auch Walter Leisner, Demokratie, 1979, S. 250 ff.: „Mehr Vertrauen". Gleichlautend das Resümee bei Hans Heinrich Rupp, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts und die Gegenwartsaufgabe der Verwaltung, DVB1. 1971, S. 673: „Wenn es heute eine Schicksalsfrage der parlamentarischen Demokratie ist, deren Elemente zu stärken, zu mobilisieren und zu aktivieren . . ., dann ist es der Beruf der heutigen Staats- und Verwaltungsrechtslehre. . ." Das Denken vom „Mißtrauen" her ist den liberalen Grundrechten immanent. Die Diskussionen in der F r a n k f u r t e r Paulskirche 1848/49 sind dazu ein Lehrstück; dort warnt Beseler vor der deutschen Tradition, die Politik in Jurisprudenz umzuwandeln (Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der F r a n k f u r t e r Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, hrsg. v. Rudolf Hübner, 1924, S. 118). Daß das Mißtrauen gegenüber dem Parlament seit dem 19. Jahrhundert eher wächst und daraus eine Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit folgt, ist verständlich: In der ersten Hälfte des 19. Jh. wurde das Parlament zunehmend als ein Ausdruck der Gesellschaft zur Kontrolle der monarchischen Regierungsgewalt verstanden. Vgl. nur Robert von Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, 2. Aufl., 1840, S. 533: die Volksvertreter seien „nur zur Verhinderung von verfassungswidrigen Mißbräuchen und zu Vorstellungen befähigt"; vgl. Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979, S. 105 ff.; Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz, Teil 1, 1979, S. 267 ff.Inzwischen ist das Parlament aus dieser konstitutionellen Rolle der Bewahrung der Freiheit und des Rechts des Volkes eher in die Rolle desjenigen Staatsorgans geraten, das — vom Volk zwar gewählt — in dessen Rechte eingreift (Vorbehalt des demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzes). Es steht also insoweit der Verwaltung nicht mehr zuerst „gegenüber", sondern an der Seite. Dem entspricht es, daß die Verfassung — parallel zur Stellung des einfachen Gesetzes gegenüber der Verwaltung — zum Schutz auch gegenüber dem Gesetzgeber fortentwickelt wurde und daß der „Verwaltungsgerichtsbarkeit" in der Form der Verfassungsgerichte eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit" folgte. 65 Diese Feststellung ist wohl richtig unbeschadet der zahlreichen Arbeiten aus konkreterem Anlaß — ζ. B. der Planung — und der in den letzten Jahren erschienenen gewichtigen Monographien: Literatur bei H.-P. Schneider, Entscheidungsdefizite der Parlamente, AÖR 105 (1980), S. 4 ff. Zuletzt Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979; Magiera, Paria-

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sungsgericht ob seiner integrierenden und Maßstäbe setzenden Leistungen erfährt und verdient hat, nicht auf das Parlament überleiten. Der Verfassungsrechtler unter dem Grundgesetz muß aber — wenn er es schon nicht liebt — das parlamentarische Verfahren zumindest wollen, es verteidigen und stärken, um so dazu beizutragen, daß Kompensation parlamentarischer Funktionen durch das Bundesverfassungsgericht tendenziell entbehrlich wird. B. Bundesverfassungsgericht

und

Fachgerichtsbarkeit

Die größte Mühe macht man sich um die Grenzen der Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht66. Lohnt sich dieser Aufwand? Was ist in dem Verhältnis Bundesverfassungsgericht — Fachgerichtsbarkeit eigentlich schützenswert? 1. Grundrechtsschutz

als Aufgabe aller Gerichte

Die Integrität der Fachgerichtsbarkeit als solcher? Wohl kaum. Zur Entscheidung durch den Senat angenommene Urteilsverfassungsbeschwerden richten sich nur in 37 % der Fälle gegen Entscheidungen von Bundesgerichten. Normenkontrollvorlagen nach Art. 100 GG kommen übrigens zu 70 % von Richtern der unteren Instanz, nur zu 4 % von Bundesgerichten67. Auch sind Rivalitäten der Fachgerichte gegen ment und Staatsleitung (FN 46). Vgl. auch die eben eröffnete Schriftenreihe „Beiträge zum Parlamentsrecht", hrsg. von Norbert Achterberg. — In den Verhandlungen unserer Vereinigung Thomas Oppermann/Hans Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33 (1975), S. 7 ff., 69 ff.; Ernst Friesenhahn/Karl Josef Partsch, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), S. 9 ff., S. 74 ff. - Jüngst Hans Trossmann, Der Bundestag: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JÖR 28 (1979), S. 1 - 3 0 4 . 66 Leitentscheidung BVerfGE 18, 85. BVerfGE 42, 143 mit Sondervotum Rupp-υοη Brünneck, a. a. O., S. 154, 156. Papier, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht" als Argumentationsformel des BVerfG, Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 432 ff.; Ulrich Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", 1976. 67 So für BVerfGE Bde. 42—51. Die obersten Fachgerichte können in ganzen Entscheidungskomplexen „weitgehend ausgeschaltet" sein (BVerfGE 51, 130, 140 — Ausbildungskapazitäten an Hochschulen).

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das Bundesverfassungsgericht kaum mehr auszumachen, selbst nicht von dem durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rolle als Nachfolger des Reichsgerichts ja nun wahrhaft entthronten Bundesgerichtshof. Die Verfassungsgerichte und die Fachgerichte sind — und das zählt zu den großen Leistungen der Rechtsprechung unter dem Grundgesetz — aufeinander zugegangen: Die Grundrechte sind heute auch im „Fachprozeß" allgegenwärtig68, die Fachgerichte sind zum Durchgriff auf die Verfassung berechtigt und verpflichtet 69 . Smends Leistung war es gewesen, die Grundrechte aus ihrer Reduzierung auf das verwaltungsrechtliche Gesetzmäßigkeitsprinzip (ζ. B. bei Anschütz) herausgeführt zu haben auf die Ebene des Verfassungsrechts70. Die Rechtsprechung unter dem Grundgesetz hat diese so im Sinne der Verfassung „politisierte" Funktion der Grundrechte in alle Fachbereiche des Rechts und in alle Fachgerichtsbarkeiten hinein wieder „zurückgegeben", ohne dabei — und das ist entscheidend für das Nebeneinander von Verfassungs- und Fachgerichten — den Verfassungsrang der Grundrechte zu mindern. Deshalb gilt bei der Anwendung der Verfassung auf den einzelnen Fall generell, was das Bundesverfassungsgericht speziell zu den Verfahrensgrundrechten formuliert hat, daß das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde nichts bewirkt, was nicht auch die Fachgerichte leisten können71, daß die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts insoweit also mit der der Fachgerichte „identisch" ist72. Selbst bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen besteht ein „substantieller Unterschied" 72 nicht; auch die Fachgerichte haben die Pflicht und das Recht zu einer voll verantworteten gerichtsförmigen Verwerfung eines Gesetzes, wenn auch eben nur

Ossenbühl (FN 57), Festschr. Ipsen, S. 138. Vgl. nur BVerfGE 49, 252, 258. Dazu H.-P. Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Joachim Pereis (Hrsg.), Grundrechte als Fundamente der Demokratie, 1979, S. 37. 70 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 262 ff. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, S. 511, 516; vgl. Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18 (1979), S. 329. 71 BVerfGE 42, 243, 249. 72 BVerfGE 49, 252, 259. ei

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vorläufig 73 . Es ist also dogmatisch nicht richtig zu sagen, das Bundesverfassungsgericht sei der Treuhänder der Verfassung, die Fachgerichte seien die Treuhänder der Gesetze74. Die Verfassung ist nicht Eigengut der Verfassungsgerichtsbarkeit. Im Gegenteil: die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte muß so angelegt sein, daß der Umweg über das Verfassungsgericht tendenziell entbehrlich wird. Und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist so angelegt75. — Nebenbei: es ist mir nach der anderen Seite hin nicht verständlich, wie man sagen kann, das Bundesverfassungsgericht sei nicht in der gleichen Weise wie die anderen Gerichte an das einfache Gesetz gebunden76.

2. Schutz der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts, Rechtsfragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung vorwärtszubringen Schützenswert sind nicht die Fachgerichte, sondern die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei der Erfüllung seiner spezifischen Aufgabe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, — anhand eines Falls und darauf beschränkt! — Rechtsfragen „von grundsätzlicher verfas-

73 Art. 100 Abs. 1 GG setzt dies voraus. Karl-August Bettermann, Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, in: Festg. BVerfG (FN 25), I, S. 326 f.; ausführlich Stern, in: B K Art. 100 RdNr. 6 fi. (1967). Ausdrücklich anders noch Anschütz, Verhandlungen des 34. Dt. Juristentages, 2. Bd., 1927, S. 194, sowie § 2 des Regierungsentwurfs von 1926: Richtervorlage (über die Reichsregierung an den StGH) nur durch das Gericht des letzten oder einzigen Rechtszugs (abgedruckt bei Külz, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts, DJZ 1926, S. 842). Vgl. auch Peter Lerche, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle in Deutschland, in: Klaus Vogel (Hrsg.), Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle (Kolloquium für Hans Spanner), 1979, S. 32 f. 74 Benda, Richter im Rechtsstaat, DRiZ 1979, S. 359. 75 BVerfGE 49, 259: „vermeidbarer Umweg". Die Fachgerichte haben dies früh zutreffend erkannt; vgl. nur BGHSt 22, 26, 29. 76 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2099 ( , , . . . die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht, wie alle Rechtsprechung, an die Gesetze, sondern nur an die Verfassung gebunden. . ."); Scheuner (FN 10), DÖV 1980, S. 473/474. Grundsätzlich schon Martin Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 96.

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sungsrechtlicher B e d e u t u n g " " zu b e h a n d e l n und vorwärtszubringen. Wenn m a n die A u f g a b e des Gerichts so — übrig e n s anhand einer F o r m u l i e r u n g des Gerichtes selbst — bes t i m m t , so stellt m a n es damit in die neuere E n t w i c k l u n g , die die Revision g e n o m m e n hat. Nach § 554b ZPO i. d. F. v o n 1975 k a n n das Revisionsgericht die A n n a h m e der R e v i s i o n ablehnen, „ w e n n die Rechtssache k e i n e grundsätzliche Bedeutung hat". Ich b i n — anders als der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts; die Sache liegt aber g e g e n w ä r t i g b e i m P l e n u m — entschieden der Meinung, § 554b sollte so gelesen werden, w i e er geschrieben ist 78 . D i e A n n a h m e einer Revision zur Entscheidung k a n n danach abgelehnt werden, auch w e n n sie begründet ist; so geschieht es auch b i s l a n g schon b e i V e r f a s s u n g s b e s c h w e r d e n m i t H i l f e v o n § 93a Abs. 3 und 4 BVerfGG 7 9 . D a m i t steht m a n übrigens w i e d e r a m Ausgangsp u n k t der R e v i s i o n in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts: Sie sollte nicht der B e s e i t i g u n g v o n Unrecht i m Einzelfall, sondern der Rechtseinheit dienen; sie w a r zulässig, w e n n ein ordentliches Rechtsmittel nicht m e h r gegeben war 80 . Genau77

BVerfGE 51, 130, 143; dort S. 139 zur „Funktionsfähigkeit des Gerichts" angesichts seiner begrenzten, gesetzlich festgelegten personellen Kapazität. — Der obige, auch der folgende Text in Übereinstimmung mit der gründlichen Abhandlung von Rolf Wank, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte, J u S 1980, S. 545 ff., 549 ff. 78 Vorlagebeschluß des 1. Senats des BVerfG, NJW 1979, S. 568, zu der verfassungskonformen Auslegung des § 554 b ZPO durch den 2. Senat (BVerfGE 49, 148). Ich folge damit dem (umstrittenen) Festvortrag von Robert Fischer, Höchstrichterliche Rechtsprechung, 52. Dt. Juristentag 1978, Bd. II, S. H 5 ff., 26, 28 ff. Literatur bei Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 38. Aufl. 1980, § 554b 1; auch Wolfgang Grunsky, Ablehnung der Annahme der Revision und Arbeitsbelastung des Revisionsgerichts, JZ 1979, S. 129 ff. 79 BVerfGE 9, 120, 121; 36, 89, 91; 46, 313, 314; 47, 102, 104. Zurückhaltend aber jetzt Benda, Aktuelle Probleme der Praxis des BVerfG, NJW 1980, S. 2100. — Die Rechtsprechung zum Numerus clausus an den Hochschulen verstrickte das Gericht in eine Vielzahl von Folgeverfahren und führte zu einem „numerus clausus" f ü r diesbezügliche Verfassungsbeschwerden; vgl. die Zurückweisung von „Trittbrettverfahren" zugunsten der „Leitverfahren" in BVerfGE 51, 130, 135 f f „ 144 f. 80 § 4 der richtungweisenden Verordnung über das Rechtsmittel der Revision und der Nichtigkeitsbeschwerde vom 14. 12. 1833 (GesSlg. f ü r die Königl. Preußischen Staaten 1833, S. 302 f.). Erich Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960, S. 12; vgl.

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so spricht auch das Bundesverfassungsgericht heute von der Verfassungsbeschwerde als einem „außerordentlichen Rechtsbehelf" 81 . Das Bundesverfassungsgericht kann die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ablehnen, wenn die Sache nach seiner Ansicht keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sollte dieses Kriterium der Selektion bei Verfassungsbeschwerden deutlich benennen. Beim Bundesverfassungsgericht gehen gegenwärtig jährlich 3000 Verfassungsbeschwerden ein. 97 % davon werden durch die Dreierausschüsse (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) erledigt, werden also nicht durch die Senate entschieden; 1,13 % sind erfolgreich 82 . So sehr dennoch die Hoffnung auf Erfolg der Ansporn sein mag, sich mit einer Verfassungsbeschwerde zu „beteiligen" 83 : Im Grunde werden die Beschwerdeführerund ihre Anwälte (freiwillig) in Pflicht genommen, zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe der Rechtsfortbildung beizutragen. Noch zwei Bemerkungen: Das Bundesverfassungsgericht hat den Satz aufgestellt, je intensiver die Grundrechtsbeeinträchtigung im Einzelfall sei, desto eingehender könne die verfassungsgerichtliche Prüfung der fachgerichtlichen Entscheidung sein 84 . Also auch hier ein verselbständigter Maßstab der gerichtlichen Kontrolldichte: Der verfassungsgerichtliche „Eingriff" in das Fachgerichtsurteil — das Bundesverfassungsgericht spricht von den „Grenzen seiner Eingriffsmöglichkeiten" — soll wiederum verhältnismäßig zu der Schwere des „Eingriffs", auch Roellecke (Hrsg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, Wege der Forschung, Einleitung (demnächst). 81 BVerfGE 49, 258. 82 Zahlen zuletzt bei Benda (FN 79), NJW 80, S. 2098, 2102. 83 Wank (FN 77), JuS 1980, S. 549, spricht von der fast einem Lotteriespiel vergleichbar geringen Chance, daß vom BVerfG die Verfassungsbeschwerde in der Sache entschieden werde; Carl Friedrich Häberlin (Handbuch des Teutschen Staatsrechts, 2. Bd. 1797, S. 369) meint zwei Jahrhunderte zuvor, ein Endurteil beim Reichskammergericht zu erlangen, sei ein Glück, „als wenn man eine Terne im Lotto gewinnt". — Sehr kritisch Rüdiger Zuck, Das BVerfG als Dritte Kammer, ZRP 1978, S. 195, und Christian Sailer, Verfassungsbeschwerde im Zwielicht, ZRP 1977, S. 303. Beurteilung der Lage durch Benda (FN 79), NJW 80, S. 2097 ff. 84 BVerfGE 42, 143, 148; 42, 163, 168; zuletzt BVerfG-Urteile vom 13. 5. 1980 und 3. 6. 80 — Kunstkritik, Eppler, Boll —, NJW 1980, S. 2069, 2070, 2072. Vgl. auch Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 432 f.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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zur Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung sein. Eine Beleidigung im Fernsehen gilt als gewichtiger, veranlaßt das Bundesverfassungsgericht also zu mehr, als eine solche im Hörfunk85. (Man ist gespannt, wie die Dritten Fernsehprogramme eingeschätzt werden.) Ich habe bezüglich des Begriffs der „Intensität", seiner Anwendung und Trennschärfe Bedenken 86 . Zum Ansatz als solchem aber habe ich die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Maßstab der gerichtlichen Kontrolldichte unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs des Verfassungsgerichts in die Fachgerichtsbarkeit zu verselbständigen und sich damit vom Grundgesetz-Text zu entfernen. Als schützenswert erweist sich auch das einfachgesetzliche Recht. Die dogmatische Geschlossenheit der Rechtsgebiete und die Praktikabilität der Rechtsanwendung dürfen durch die Ausstrahlungswirkung des Verfassungsrechts nicht allzu sehr leiden. Das ist vielleicht der heikelste Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang, hier aber nicht das Thema. 3. Rechtsfortbildung

durch die

Bundesgerichte

Im Ganzen: Im Verhältnis Bundesverfassungsgericht — Fachgerichtsbarkeit geht es um Arbeitsteilung 87 innerhalb der einen Gerichtsbarkeit 88 . Es geht um eine produktive Konkurrenz im Grundrechtsschutz durch verschiedenartige Gerichtsverfahren. Innerhalb der Gerichtsbarkeit stehen

85

NJW 80, S. 2072; BVerfGE 35, 202, 226 f. Kritisch zur Intensität auch Lerche (FN 73), in: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, S. 40 ff. „In dieser Formel liegt der Triumph einer gewissen Unbekümmertheit des Gerichts. Das Gericht will wirken, wo es wirklich notwendig ist und auch nur dort." — Das Kriterium der „Rechtsfragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung" (oben bei FN 77) ist nicht schärfer, beeinflußt aber nur die Entscheidung, ob das Gericht einen Fall aufgreift, nicht den Umfang der Prüfung. Durch das Kriterium der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung zur Bestimmung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte wird der Umfang der Prüfung bestimmt, dies aber schlägt auf das Prüfungsergebnis (verfassungsmäßig/verfassungswidrig; erlaubt/nicht erlaubt) in verwirrender Weise durch: Ein Fachgerichtsurteil bleibt bestehen, weil das BVerfG eine „weitergehende Prüfung" nicht vorgenommen hat. Die oben in FN 84 angeführten Urteile zeigen dies. 87 Bachof, Wege zum Rechtsstaat (FN 53), S. 188; Wank (FN 77), JuS 80, S. 548. 88 Ossenbühl (FN 57), Festschr. f. Ipsen, S. 129. 86

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sich heute — nach ihren Aufgabenbereichen geordnet — die der Rechtsfortbildung dienenden Bundesgerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts 89 einerseits und die der Justizgewährungspflicht in jedem Einzelfall ausgesetzten Tatsacheninstanzen andererseits gegenüber.

III. Verfassungsgerichtsbarkeit als Rechtsprechung — Folgerungen — 1. Verfassungsgerichte Verfassungsfragen"?

als ,,verbindliche

Instanz in

Worüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht eigentlich? Über einen Streit bzw. einen Fall oder über die Verfassung? — Geht es im Rahmen der Normenkontrolle um die Nichtigerklärung der Norm oder um die Bewahrung der Verfassung?90 Geht es im Rahmen des Organstreits um den Streit 91 — so dazu § 67 S. 1 BVerfGG: Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt — oder um die Auslegung des Grundgesetzes 92 — so dazu Art. 93 Abs. 1 Z i f f . 1 GG: Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Auslegung des Grundgesetzes und dies aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines Verfassungsorgans.

89 Das B V e r f G ist zu einem Teil auch in die Rolle der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung gerückt, die nach Art. 95 Abs. 1 G G a. F. dem obersten Bundesgericht zugedacht war und von dem nach Art. 95 Abs. 3 n. F. dafür vorgesehenen Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe praktisch kaum wahrgenommen wird. 90 Letzteres nach Hartmut Söhn, Die Normenkontrolle, in: Festg. B V e r f G ( F N 25) I, S. 294. 91 So Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hermann Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, 1962, S. 125. Dieter Lorenz, Der Organstreit v o r dem BVerfG, in: Festg. ( F N 25) I, S. 233 f. und schon B V e r f G E 2, 143, 151, 157. 92 So Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, in: Festschr. Richard Thoma 1950, S. 55 f.; Andreas Sattler, Die Rechtstellung des B V e r f G als Verfassungsorgan und Gericht, jur. Diss. Göttingen 1955, S. 43.

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Die Fragestellung ist nicht neu, ein Teil der Antwort wird auch noch übereinstimmend gegeben: Verfassungsgerichte sind Gerichte, die über Fälle (einschließlich der Gültigkeit von Normen) verbindlich entscheiden. Nur: es bleibt nicht bei dieser Antwort. Das Bundesverfassungsgericht hält sich für den „maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung", für die „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen"93; Fachgerichte, die die Tragweite der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verkennen, tun dies nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „in verfassungswidriger Weise" 94 . In der Literatur wird eine solche „Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts als dem zur verbindlichen Verfassungsinterpretation berufenen Verfassungsorgan"95 akzeptiert und dem Gericht schließlich die Teilhabe an der Verfassungsgesetzgebung zugesprochen96. a) Zwei historische Wurzeln: Gesetzeskraft authentische Interpretation

und

Diese Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichts hat zwei verschiedene Wurzeln: in der „Gesetzeskraft" verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und in deren Kraft zur „authentischen Interpretation". Damit sind auch die beiden historischen Wurzeln der Verfassungs- bzw. Staatsgerichtsbarkeit angedeutet: BVerfGE 40, 88, 93 f. BVerfGE, a. a. O., S. 93; dazu Walter Seuffert, Über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Bindungswirkungen, AÖR 104 (1979), S. 197, Anm. 41: „unhaltbar". BVerfGE 42, 258, 260 reklamiert für diesen Fall nur einen Gesetzesverstoß (§'31 Abs. 1 BVerfGG). 95Kriele (FN 30), ZRP 1975, S. 74. Auch Hans H. Klein, Probleme der Bindung des „einfachen Richters" an Entscheidungen des BVerfG, NJW 1977, S. 700. 96 Draht (FN 76), VVDStRL 9 (1952), S. 96; Ernst Forsthoff, Über Maßnahmegesetz (1955), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1976, S. 116 Anm. 29; Böckenförde (FN 76), NJW 76, S. 2099, Anm. 113; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 709 („in der Sache als Verfassungsgebung anzusprechen"). Vgl. Benda, Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit, in: 30 Jahre Grundgesetz (FN 14), S. 114: „Das BVerfG ist legitimiert, im Rahmen der Verfassungsauslegung am pouvoir constituant teilzuhaben"; ebenso ders. (FN 24), DÖV 1979, S. 469. Vom Supreme Court spricht man als „permanentem Verfassungskonvent". — Anders zuletzt Scheuner (FN 10), DÖV 1980, S. 477; Merten (FN 10), DVB1. 1980, S. 776. — Differenziert zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit Lerche, Stil, Methode, Ansicht, DVB1. 1961, S. 700. 93

94

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Die eine Wurzel ist die föderative. Staatsgerichtsbarkeit entwickelte sich aus der Hierarchie zwischen dem Reich und den Ländern, sie ist Teil der Herrschaftsausübung des Reiches über die Glieder des Reiches97. Das Reichskammergericht ist ein Beispiel für die Eingebundenheit eines solchen Gerichts in die Funktionsbedingungen des Reiches überhaupt; Goethe bedauert, daß es die in ihm angelegte Stellung einer „Zwischenmacht" nicht erreicht98. Die umfassenden Zuständigkeiten des Reichsgerichts nach der Paulskirchenverfassung von 1849 sind möglich geworden in Folge des stark unitarischen Zugs dieser Verfassung, so daß „sie tiefe Eingriffe der Reichsgerichtsbarkeit in die Verfassungssphäre der Länder guthieß"99. Noch die Einrichtung des Staatsgerichtshofs der Weimarer Republik war nicht ein Sieg rechtsstaatlicher Bestrebungen, sondern die Umwandlung der Kompetenzen des Bundesrates nach der Verfassung von 1871 in solche des Gerichts; der Staatsgerichtshof nimmt ein Stück Reichsaufsicht wahr100. Nach Art. 13 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 entscheidet über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem Reichsrecht das Reichsgericht und dies nach dem Ausführungsgesetz „mit Gesetzeskraft" 101 . Über die Rechtsnatur dieser Entscheidung des Reichsgerichts mit Gesetzeskraft wurde in der Weimarer Literatur heftig gestritten. Wir hören: „in keiner der bekannten Staatsfunktionskategorien restlos aufgehend" (Hen-

97 Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 60; Kelsen (FN 6), VVDStRL 5 (1929), S. 81 f. Friesenhahn (FN 91), in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, S. 92. Zur heutigen Erledigung dieses .Urbilds' der Verfassungsstreitigkeiten vgl. Walter Leisner, Der Bund-Länder-Streit vor dem BVerfG, in: Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 262, 287. 98 J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, III. Teil 12. Buch (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 9,1964, S. 528). Theodor Schieder, Vom Reichskammergericht zum BVerfG, in: 25 Jahre BVerfG 1951—1976, 1976, S. 24 f. 99 Scheuner, a. a. O., S. 29. 100 Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, 1923, S. 116; Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, jur. Diss. Bonn 1979, S. 13, 49 f.; Scheuner (FN 97), Festg. BVerfG I, S. 45. 101 § 3 Abs. 3 Reichsgesetz zur Ausführung des Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung vom 8. April 1920 (bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1966, S. 193).

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sei)102, „der Richter als Gesetzgeber" (Triepel)103, „gesetzgebender Akt besonderer Art" (Reichsfinanzhof)104, „authentische Interpretation" (Kahl, Anschütz)105. Klar war — und nur darauf kommt es mir hier an: Diese „Gesetzeskraft" war eine Gesetzeskraft im Rang des Prüfungsmaßstabs, nicht im Rang der geprüften Norm: Das Reichsgericht entschied mit der Gesetzeskraft eines Reichsgesetzes über Landesgesetze106, so wie vorher nach Art. 76 der Reichsverfassung von 1871 der Bundesrat „im Wege der Reichsgesetzgebung" Streitigkeiten in und zwischen Bundesstaaten entscheiden konnte107.

102 Albert Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen, HdbDStR II, S. 329. 103 Triepel, Streitigkeiten (FN 100), S. 69; vgl. aber auch a. a. O., S. 112; Lassar, Ein Beschluß des Reichsgerichts auf Grund des Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung, AÖR n. F. 1 (1921), S. 108. 104 RFH 4, S. 11. Vgl. Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit, in: HdbDStR II, S. 526. 105 Wilhelm Kahl, Das Reichsgericht und der Braunschweigische Kirchenverfassungsstreit, AÖR n. F. 4 (1922), S. 118. Anschütz, Verfassung des Deutschen Reichs (FN 70), Art. 13 Nr. 5, S. 107. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 167. 106 RG, in: Lammers/Simons, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs, Bd. 1,1929, S. 460, 461. Walter Jellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925), S. 43. Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 461: (mit „unentrinnbarer innerster Logik"). — Einen Vorläufer hat diese „Gesetzeskraft" (einschließlich der Bekanntmachung der Entscheidung des Reichsgerichts im Gesetzblatt) in dem Entwurf eines „Gesetzes über die Einrichtung des Reichsgerichts" von 1850, entworfen als Ausführungsgesetz zum Entwurf der Erfurter Unionsverfassung von 1849, die insoweit wiederum fast mit der F r a n k f u r t e r Reichsverfassung von 1849 übereinstimmt (vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, 2. Aufl. 1968, S. 888): „Kraft eines Reichsgesetzes" (§ 217), „Eigenschaft eines Landesverfassungsgesetzes" (§ 223); abgedruckt bei Triepel, Die Reichsaufsicht, 1917, S. 67, Anm. 2; vgl. auch Wolfgang Fiad, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reichsexekution, 1929, S. 48 f. 107 Die Entscheidung des Bundesrates nach Art. 76 Abs. 2 RV trage — als Erledigung einer Verfassungsstreitigkeit — „die Natur einer authentischen Interpretation, der gesetzkräftigen Anerkennung einer Verfassungsnonn an sich" (Albert Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1. Bd. 1892, S. 571). Die Entscheidung konnte nach Laband aber auch das Landesverfassungsrecht f ü r den einzelnen Fall verändern (Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911, S. 272).

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Die zweite historische Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit ist diffuser. Sie entspringt dem konstitutionellen System108. Ich hatte das schon angedeutet. Nach der sächsischen Verfassung von 1831 kommt dem Staatsgerichtshof die „authentische Interpretation" zu, wenn sich Regierung und Stände über die Verfassungsauslegung nicht einigen; diese authentische Interpretation durch den Staatsgerichtshof steht in der Verfassung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Regelung der Verfassungsänderung: Staatsgerichtsbarkeit und Verfassungsänderung dienen beide der „Gewähr der Verfassung"109. Nach der Paulskirchenverfassung von 1849 entscheidet das Reichsgericht, „wenn die streitenden Theile sich vereinigen, die Entscheidung des Reichsgerichts einzuholen"110. Deutlich ist — und nur darauf kommt es mir hier an: „Authentische Interpretation" — hier durch einen Staatsgerichtshof — geschieht auf der Ebene des Prüfungsmaßstabes, der Verfassung also, geschieht mit der Kraft eines Verfassungsgesetzes (wie auch immer der Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz verstanden wurde). Im konstitutionellen System hatte der Organstreit die Entscheidung der (offenen) Verfassungsfrage zum Gegenstand, nicht den Streit selbst. Der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG schleppt diese Auffassung noch fort. b) „Gesetzeskraft"

im Rang der Verfassung?

Diese Wurzeln der „Gesetzeskraft" verfassungsgerichtlicher Entscheidungen werden heute weithin übergangen. Carl Schmitt hat sie gekannt, für ihn hat die Normenkontrollentscheidung über Reichsgesetze denn auch Gesetzeskraft im Rang des Verfassungsgesetzes111. Und deshalb spricht Carl 108 Scheuner (FN 97), Festg. BVerfG I, S. 8, 31 ff. Die für die Bildung von Staatsgerichtshöfen in den Ländern wichtigen Fälle der Ministerverantwortlichkeit werden hier übergangen. 1M §§ 152,153 (bei E. R. Huber, Dokumente [FN 101], Bd. 1,1961, S. 247). Das konstitutionelle Staatsrecht faßte den Verfassungseid, die (erschwerte) Verfassungsänderung und die Staats- bzw. Schiedsgerichtsbarkeit als Formen der Gewährleistung der Verfassung zusammen; Heinrich Zoepfl, Grundsaetze des allgemeinen und constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 3. Aufl. 1846, S. 306 ff. 1,0 § 126b (bei E. R. Huber, a. a. O., S. 317); Hans Joachim Faller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März, 1849, in: Festschr. f. Willi Geiger, 1974, S. 842. 111 Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze 1958, S. 81.

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Schmitt konsequent davon, Normenkontrollentscheidung sei Verfassungsgesetzgebung durch ein Gericht112. Das Ergebnis der Überlegungen Carl Schmitts — verfassungsgerichtliche Normenkontrolle sei authentische Verfassungsinterpretation und damit Verfassungsgesetzgebung — wird bekanntlich auch noch unter dem Grundgesetz aufrechterhalten113. Nur: Carl Schmitt hatte die These dazu gedient, eine verfassungsgerichtliche Normenkontrolle als system- und politikwidrig abzulehnen. Und dies nun wiederum hängt mit seinem Verfassungsverständnis zusammen: Er unterschied — und auch diese Unterscheidung lebt weiter, insbesondere über Forsthoffs Arbeiten114 — zwischen einem Bereich sekundärer, bloß formalistischer Verfassungssätze mit rechtssatzmäßigem Charakter — hier sei richterliche Anwendung und Normenkontrolle möglich — und dem Bereich der echten Verfassung — ihres Geistes, der Prinzipien, der Grundrechte, der Gewaltenteilung: Hier sei nicht richterliches Argumentieren, sondern nur,,autoritäre Beseitigung des Zweifels" über den Inhalt der Verfassung, nicht Rechtsprechung also, sondern nur authentische Interpretation möglich115. Authentische Interpretation aber ist Verfassungsgesetzgebung.

112

Ders., Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 45. Forsthoff, a. a. O. (FN [96]); Böckenförde, a. a. O. (FN [96]); dagegen Scheuner (FN 10), DÖV 1980, S. 477. 114 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (1959) und ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung (1961), in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl., S. 130 ff., 153 ff. Vgl. zusammenfassend zuletzt Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AÖR 97 (1972), S. 496 f. 115 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (FN 112), S. 18 f., 44, 45 f.; ders., Das Reichsgericht (FN 111), a. a. O., S. 81 ff. Ζ. Β. auch Walter JelUnek, Disk.-Beitrag in: VVDStRL 5 (1929), S. 97. Kritisch dazu schon Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, Der Ring 4 (1931), S. 660. — Im ständischen und konstitutionellen Staatsrecht wußte man um die kompetenzbegründende bzw. kompetenzenabwehrende Funktion der authentischen Interpretation, wie es ja auch Carl Schmitt (noch) darum ging, den Reichspräsidenten statt des Reichsgerichts als „Hüter der Verfassung" auszuweisen. Vgl. nur die klaren, differenzierten Ausführungen bei Häberlin, Handbuch (FN 83), S. 473 ff.: den Gerichten kommt die Doctrinal-Erklärung zu, wenn die Auslegung eines Gesetzes zwischen den Parteien streitig ist und „der Sinn leicht nach den Regeln der juristischen Hermeneutic herauszubringen ist"; ist aber ein Gesetz „dunkel oder zweifelhaft" oder — und das ist hier entscheidend — entsteht „zwischen denen, 113

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c) Verfassungsgerichtsbarkeit — Konsequenzen

als

Rechtsprechung

Fügt m a n so einige Momente der Geschichte und der Dogm a t i k zusammen, so hat dies Konsequenzen: (1) U n t e r d e m Grundgesetz ist es nicht m e h r möglich, dav o n auszugehen, die V e r f a s s u n g k ö n n e in ihren zentralen Teilen v o r lauter Z w e i f e l n über ihren Inhalt nicht „gelten", nicht als Gesetz Wirksamkeit entfalten, nicht gesetzlicher Maßstab einer Rechtsprechung sein, sondern nur politischdezisionistisch, autoritär oder plebiszitär gehandhabt werden. D a s Grundgesetz bindet als unmittelbar geltendes Recht — in allen seinen Teilen, auch s e i n e m „ G e i s t " nach. D a s Grundgesetz hat das so entschieden, das Bundesverfassungsgericht handhabt das so. Verfassungsrechtsprechung ist nicht Verfassungsgesetzgebung. N o r m e n k o n t r o l l e durch Verfassungsgerichte ist auch nicht ( „ f u n k t i o n e l l " ) Gesetzgebung 1 1 6 und nicht „ Z w i s c h e n g e w a l t " z w i s c h e n L e g i s l a t i v e welchen die gesetzgebende Gewalt zusteht(l), selbst über den Sinn eines Gesetzes Streit", so haben die Reichsgerichte keine Kognition, da sie sich „die authentische Erklärung" nicht anmaßen dürfen. — Der Unterschied zum heutigen Verständnis des Gesetzes, der Normenkontrolle und der Organstreitigkeit wird deutlich. Es ist kein Zufall, daß die „Recht und Politik"-Diskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt erlebte, denn das Stichwort „Recht und Politik" signalisiert einen Souveränitätsbzw. Kompetenzkonflikt zwischen Verfassungsorganen. Vgl. nur Karl Friedrich Eichhorn, Betrachtungen über eine Verfassung des deutschen Bundes in Beziehung auf Streitigkeiten der Mitglieder desselben. . ., 1833, S. 14 ff., S. 43: keine richterliche Entscheidung, wenn ihre Folgen die politische Existenz des Staates bedrohen kann, und S. 52 — ganz dezisionistisch: jede Frage kann zur „Vitalfrage des deutschen Bundes" werden; S. 62: in politischen Fragen nicht eine richterliche, sondern nur eine schiedsrichterliche Entscheidung; auch die Kampfschrift von Johann Ludwig Klüber, Die Selbständigkeit des Richteramtes und die Unabhängigkeit seines Urtheils im Rechtsprechen. . .,1832.—Zur heutigen Diskussion zwei sehr unterschiedliche Positionen zuletzt bei Haberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung (FN 64), S. 443, und bei Wilhelm Henke, Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt, Der Staat 19 (1980), S. 184 ff. 116

So insbes. Starck (FN 44), VVDStRL 34 (1976), S. 67, 74; Karl Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1980, S. 133. Friedrich Klein, BVerfG und richterliche Beurteilung politischer Fragen, 1966, S. 15. Vgl. dagegen Grimm (FN 55), in: JuSDidaktik Heft 4, Bd. II, S. 94: „faktisch gesehen Teilhabe an der Gesetzgebung".

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und Jurisdiktion 1 1 7 . Es ist deshalb auch entbehrlich, d e m Bundesverfassungsgericht die F u n k t i o n und den Titel eines ,,Verfassungsorgans" zuzusprechen, u m damit seine — angeblich gewaltenteilungsdurchbrechende — Tätigkeit i m Bereich der Gesetzgebung abdecken und l e g i t i m i e r e n zu können 118 . (2) D i e Vorstellung einer Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen auf der Verfassungsebene ist damit h i n f ä l l i g . Verfassungsrechtsprechung entscheidet ,autoritär" nicht über den Inhalt der Verfassung, sondern über den Fall (die Norm). (3) Nach § 31 Abs. 2 B V e r f G G i. V. mit Art. 94 Abs. 2 GG hab e n N o r m e n k o n t r o l l e n t s c h e i d u n g e n des Bundesverfassungsgerichts , , G e s e t z e s k r a f t " . Hierbei ist aber an eine Gesetzes-

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So aber in einer bekannten Formulierung Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, 1912, S. 334. 118 Die Bedeutung des Titels ,,Verfassungsorgan" — als Titel nicht nur des einfachen Rechts (§ 1 BVerfGG), sondern als Ausdruck einer verfassungsunmittelbaren Stellung — erschöpft sich f ü r seine Befürworter nicht in den (befürwortenswerten) Rangfragen, der Titel soll vielmehr die Funktion des Gerichtes mitbestimmen bzw. erweitern. BVerfGE 7, 377, 413: Das BVerfG sei „ k r a f t seiner allgemeinen Stellung als Verfassungsorgan und Gericht f ü r verfassungsrechtliche Fragen dem Vorwurf unberechtigten Eingriffs in die Gesetzgebungssphäre weit weniger ausgesetzt als die anderen Gerichte"; auch BVerfGE 49, 1, 7 f. und oben FN 1. Kriele (FN 30), ZRP 1975, S. 74; Scheuner (FN 10), DÖV 1980, S. 473/474, 476, 479. Geiger, Die Grenzen der Bindung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (§31 Abs. 1 BVerfGG), NJW 1954, S. 1058 (dazu kritisch Eckertz [FN 62], Der Staat 17 [1978], S. 196 f.). Zuletzt auch SaarlVerfGH, Beschl. v. 21. 2. 1980, NJW 1980, S. 1380. Differenziert zuletzt Badura (FN 32), Festschr. f. Fröhler, S. 325, 335. — Der Titel „Verfassungsorgan" in dieser (!) Funktion wird entbehrlich, wenn man anzuerkennen vermag, daß die Gesetzeskontrolle durch Gerichte ebensowenig eine Durchbrechung der Gewaltenteilung ist wie die Verwaltungskontrolle durch Verwaltungsgerichte. Zur Zeit der Entstehung einer aus der Verwaltung ausgegliederten, verselbständigten Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde auch diese als mit der klassischen Gewaltenteilungslehre nur schwer f ü r vereinbar angesehen; Fritz Stier-Somlo, Die Lehre von der Gewaltenteilung und die neuen deutschen Verfassungen, ZgesStW 27 (1922/23), S. 46. Das im Text und hier Gesagte berücksichtigt nur die wesentlichsten Verfahrensarten des BVerfG, nicht ζ. B. die Verfahren nach Art. 18, 21, 61, 98 Abs. 2 und 5 GG.

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k r a f t auf der Ebene der geprüften N o r m gedacht 1 1 9 (sogen, „ n e g a t i v e Gesetzgebung"). Historisch gesehen ist dies — w i e gezeigt — ein Mißverständnis und deshalb k a n n m a n nach diesen Ü b e r l e g u n g e n auch mit e i n e m g e w i s s e n Vergnügen f e s t s t e l l e n , daß sich in der P r a x i s die „ G e s e t z e s k r a f t " des § 31 Abs. 2 BVerfGG als „leeres Wort" e r w i e s e n hat 120 . D i e Gesetzeskraft nach § 31 A b s . 2 e n t f a l t e t — a b g e s e h e n v o n der p e r s o n e l l e n Erstreckung — materiell k e i n e größere Wirkung als die in § 31 Abs. 1 BVerfGG v o r g e s e h e n e a l l g e m e i n e Verbindlichkeit 1 2 1 . (4) Es hat e t w a s Widersprüchliches an sich, daß w i r nicht m ü d e werden 1 2 2 , v o n der Offenheit gerade des Verfassungsrechts, v o n dessen Überanstrengung zu sprechen, v o n dynam i s c h e m V e r f a s s u n g s v e r s t ä n d n i s zu schwärmen, daß w i r beteuern, die Verfassung sei k e i n e Oberrechtsordnung, k e i n Grundbuch, bloßer Rahmen, a l l e n f a l l s Grundordnung, jed e n f a l l s K o m p r o m i ß —, es aber nicht entschiedener abweisen, Verfassungsrechtsprechung als verbindliche(!) Rechtsetzung auf der Ebene der Verfassung, als „ k o n s t i t u t i v e n Ver-

119 Vgl. nur Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft der Entscheidungen des BVerfG, in: Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 610 ff. Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Komm. Art. 94 RdNr. 24. Friesenhahn (Zum Inhalt und zur Wirkung der Entscheidungen des deutschen BVerfG, in: Scritti in Onore di Gaspare Ambrosini, vol. I, 1970, S. 703) hat den Wandel der Ebenen, auf die sich die Gesetzeskraft bezieht, beobachtet. 120 Friesenhahn, Stenogr. Prot. (FN [21]), S. 14; ders., Zum Inhalt (FN 119), a. a. O., S. 702 f. 121 Dies ist heute wohl allgemeine Meinung; vgl. nur Bettermann (FN 73), in: Festg. BVerfG I, S. 366; Vogel, a. a. O., S. 613; Norbert Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1979, S. 81. Schon früher Scheuner, Das BVerfG und die Bindungskraft seiner Entscheidungen, DÖV 1954, S. 646. — In der Sache schon Ed. Bötticher, Das Reichsgesetz vor dem Richterstuhl, Leipziger Zeitschrift 1926, S. 888 f. Rechtsprechung und Literatur zur Normenkontrolle nach § 47 VwGO kommen ohne eine der „Gesetzeskraft" entsprechende Figur aus und dies, obwohl sie von einigen Autoren der Verfassungsgerichtsbarkeit zugerechnet wird, zuletzt dazu Ludwig Renck, Probleme der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle, NJW 1980, S. 1022 ff. 122 Nachweise zum Folgenden zuletzt bei Magiera, Parlament und Staatsleitung (FN 46), S. 24 ff. und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 51 ff.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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fassungsakt" 1 2 3 zu verstehen. Verfassungsgerichte s c h a f f e n — unbeschadet der i m m e n s e n T r a g w e i t e ihrer Entscheidungen und ihrer B e g r ü n d u n g e n — Richterrecht w i e andere Gerichte, dieses aber bindet praktisch, nicht gesetzlich. D a s Bundesverfassungsgericht entscheidet letztinstanzlich und letztverbindlich den Streitgegenstand, nicht das dahinter stehende a l l g e m e i n e verfassungsrechtliche Problem 1 2 4 . Verfassungsrechtsprechung ist damit in die Rechtsprechung inkorporiert. D a s Bundesverfassungsgericht als ein auf Antrag t ä t i g e s und an A n t r ä g e gebundenes Gericht ist nicht — i m S i n n e einer E r w e i t e r u n g seiner K o m p e t e n z — ,,Hüter der Verfassung"1*5 und auch nicht eine v i e r t e Gewalt 1 2 6 . 123 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 198. Dagegen auch Hans-Joachim Mertens, Über politische Argumente in der verfassungsrechtlichen Diskussion der paritätischen Mitbestimmung, RdA 1975, S. 92. 124 Zutreffend Magiera, a. a. O., S. 40. Vgl. schon StGH, Entsch. vom 21. Nov. 1925 (in Lammers/Simons [FN 106], Bd. I, S. 125, 128) und Entsch. vom 25. Okt. 1932 (a. a. O., Bd. V, S. 30, 52). 125 Zutreffend schon Friesenhahn (FN 10), in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 6/65, S. 17, und Richard Thoma, Rechtsgutachten betr. Stellung des BVerfG, JÖR 6 (1957), S. 168. Anders insbes. Leihholz (FN 1), JÖR 6 (1957), S. 110 ff., 127 ff.; Denkschrift des BVerfG (FN 1), a. a. O., S. 144; BVerfGE 40, 88, 93. Auf die große Kontroverse in der Weimarer Zeit einzugehen, ist hier nicht der Raum; vgl. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz, VI (1930/31), S. 576 ff. Die 13 französischen Parlamente aus der Zeit vor der französischen Revolution übten eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit aus: Der König hatte bei ihnen seine Gesetze registrieren zu lassen, sie prüften die Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung. Die Parlamente aber waren mit Richtern aus einer aristokratischen Schicht besetzt; der Kampf des Königs um Registrierung wurde so zum Machtkampf. Die gerichtsähnlichen Parlamente betrachteten sich als „gardien des lois fondamentales du royaume" (Maurice Duverger. Institutions politiques et Droit Constitutionnel, 14. Aufl., 1976, Bd. II, S. 12), und f ü r sie war in der zeitgenössischen Literatur die (ständisch begründete!) Rede von der „noblesse de robe" geläufig. Hier zeigt sich die f ü r ein heutiges unabhängiges und an Gesetze gebundenes Gericht nicht mehr passende (ständische) Wurzel der Bezeichnung als „Hüter der Verfassung". Bis in die Zeit der Weimarer Verfassung hinein hatte der Titel des „Hüters der Verfassung" diesen vormärzlichen und konstitutionellen Klang des Mächtekampfs. Vgl. auch Julius Hatschek, Allgemeines Staatsrecht auf rechtsvergleichender Grundlage, II. Teil, 1909, S. 119. Vgl. Schiaich, Neutralit ä t (FN 12), S. 64 Anm. 78, S. 78 f. 126 Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit (FN 5), S. 22, FN 59, gegen Doehring, Staatsrecht (FN 116), S. 131 ff., 237 („in der Art einer vier-

136

Klaus Schiaich

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner „Denkschrift" v o n 1952 für die Vorstellung, unter d e m Grundgesetz vollziehe sich der Prozeß der staatlichen Integration erstm a l s auch mit Hilfe eines Verfassungsgerichts, auf Smend gestützt. Smend hatte dieser Gedanke ferne gelegen 127 . In seiner Rede zum 10jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1961 sagte er feinsinnig-kritisch, das Grundgesetz gelte heute „praktisch" so, w i e es das Bundesverfassungsgericht auslege 128 .

d) Keine richts

Verfahrensautonomie

des

Bundesverfassungsge-

Damit erweist sich auch die Lückenhaftigkeit des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes als ein Mangel. Ein Gericht kann nicht eine A u t o n o m i e hinsichtlich seines Verfahrens

ten Gewalt") und Roellecke (FN 62), in: Cappenberger Gespräch, Bd. 15, S. 42. 127 BVerfG (FN 1), JÖR 6, S. 198 ff. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) nennt die Staatsgerichte nicht im Zusammenhang mit der Integration der Organe Parlament, Präsident, Kabinett (in: Staatsrechtliche Abhandlungen [FN 70], S. 199 f.); er erwägt den Gedanken einer Integration durch Staatsgerichte nur für „rechtsstaatliches Denken" („höchstrichterliche Entpolitisierung und Neutralisierung letzter Entscheidungen"), verweist dazu auf Amerika und sieht dies „im Gegensatz zu der Bevorzugung der Legislative in Europa für diese Rolle" (a. a. O., S. 202 f.). In der Sorge um das bundesstaatliche Integrationssystem sieht er bereits durch die ja sehr beschränkte Zuständigkeit des StGH nach Art. 19 WRV das Problem des „Formenmißbrauchs" entstehen (a. a. O., S. 273); die Justiz diene „nicht dem Integrations wert, sondern dem Rechtswert"; „praktisch(!) mag sie zugleich der staatlichen Integration dienen" (a. a. O., S. 208); „Integration vor Recht" (a. a. O., S. 273). 121 Smend, Festvortrag (FN 44), in: Das BVerfG 1951—1971, S. 16. Smend erteilt damit der amerikanischen Version — „The constitution is what the Supreme Court says it is" — für Deutschland zu Recht eine klare Absage. Dazu auch Merten (FN 10), DVB1. 80, S. 778 mit Anm. 63 und Wolf gang Zöllner, Recht und Politik, in: Tradition und Fortschritt 1977, S. 153 („zynisches Wort"). Unkritisch Ralf Dreier, Verfassungsinterpretation (FN 43), S. 15.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

137

haben, k a n n nicht „Herr des Verfahrens" sein 129 . Nicht das m e h r oder w e n i g e r frei g e w ä h l t e , sondern allenfalls das vorh e r gesetzlich genau f e s t g e l e g t e Verfahren k a n n Legitimat i o n und Überzeugungskraft schaffen. Je offener, unbestimmter, w e i t e r die a n z u w e n d e n d e N o r m ist, desto eher bedarf das Gericht einer geschlossenen Prozeßordnung 1 3 0 . So hat der Gesetzgeber auch zu entscheiden, w e l c h e Rechtsf o l g e a n o r d n u n g e n das Gericht t r e f f e n kann. D i e gesetzesgleichen Ü b e r g a n g s r e g e l u n g e n des Bundesverfassungsgerichts 1 3 1 zum B e i s p i e l sind w e d e r v o n § 35 BVerfGG, der die Vollstreckung der Entscheidungen in die H a n d des Gerichts legt, noch v o n einer e x t e n s i v interpretierten Verfahrensautonom i e des Gerichts gedeckt; sie ergehen also w i e auch andere Rechtsfolgeanordnungen des Gerichts w e i t h i n ohne gesetzliche Ermächtigung 1 3 2 . 129 So aber BVerfGE 13, 54, 94; auch E 2, 79, 84; E 36, 342, 357; Günther Zembsch, Verfahrensautonomie des BVerfG, 1971; dagegen schon Schiaich, Rezension, ZZP 86 (1973), S. 227 ff. — Wie hier: Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder, Textsammlung 1978, Einl., S. XLIX; Zuck, Die Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, DVB1. 1979, S. 388; Jörn Ipsen, Funktionsspezifische Aspekte richterlicher Verfassungsgebundenheit, NJW 1977, S. 2291. Auch Scheuner (FN 10), DÖV 80, S. 477, spricht von „geordneten Verfahren". Nach einer 30jährigen Erfahrung mag auch BVerfGE 2, 79, 84, überholt sein. 190 Umgekehrt, aber grundlegend Haberle (FN 12), in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit (FN 12), S. 23 f.: „Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht", „Verfassungsprozeßrecht als Partizipationsrecht". Vgl. auch insbes. ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. — Diese Vorstellung von der Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts müßte konsequenterweise f ü r alle Gerichte gelten, weil und sofern sie Verfassungsrecht anwenden (vgl. auch a. a. O., Anm. 93). 131 BVerfGE 39, 1, 2 f., 68: „Im Interesse der Rechtsklarheit bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung erschien es geboten, gem. § 35 BVerfGG eine Anordnung des aus dem Urteilstenor ersichtlichen Inhalts zu erlassen"; E 48, 127, 130, 184; vgl. auch E 32, 1, 38: „Damit einer weiteren Tätigkeit dieser Vorexaminierten nicht der Boden entzogen wird, sind sie bis zu der notwendigen Neuregelung durch den Gesetzgeber entsprechend den früheren Vorschriften zu behandeln." 132 Eingehend und richtig jetzt Jörn Ipsen, Rechtsfolgen (FN 61), S. 218 ff., 238 ff. und passim. Ipsen macht die richterliche Gesetzesgebundenheit f ü r den Bereich der Rechtsfolgeanordnungen entschieden geltend. Insbesondere scheinen ihm die Verfassungswidrigerklärungen von Gesetzen — seit 1969 mit der Nichtigerklärung statistisch gleichziehend — dogmatisch weithin unbegründet und ent-

138 2. Zur Auslegung

Klaus Schiaich des § 31 Abs. 1

BVerfGG

Damit sind auch die Würfel zur Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG gefallen. Danach binden „die Entscheidungen" des Bundesverfassungsgerichts alle Verfassungsorgane, alle Behörden und alle Gerichte. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts binden auch die „tragenden Gründe" der Entscheidung, soweit sie Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten133. Diese Kanonisierung von Sätzen

des Bundesverfassungsgerichts

ist zu be-

enden134: — Diese Kanonisierung der Entscheidungsgründe und deren verfassungsgleiche Wirkung haben das Gericht in bedenklichem Maße dazu verleitet, sich vom Text des Grundgesetzes, insbesondere von der Bedeutung der einzelnen Grundrechte zu entfernen und sich an „übergreifende Rechtsvorstellungen" zu halten135. Die Wissenschaft mit ih-

behrlich (a. a. O., S. 217 ff.). Extrem in die andere Richtung BVerfGE 6, 300, 304 und Hans H. Klein, BVerfG und Staatsraison, 1968, S. 36, 42. Differenziert Christoph Moenck, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977 S. 176 f. — Zur schwer erträglichen Unsicherheit bezüglich der interimistischen Rechtslage nach der Feststellung der bloßen Verfassungswidrigkeit einer Norm vgl. Christian Pestalozza, „Noch verfassungsmäßige" und „bloß verfassungswidrige" Rechtslagen, in: Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 561 ff. Auch Bacho}, Der Richter als Gesetzgeber?, in: Wege zum Rechtsstaat (FN 53), S. 348 ff.; Albrecht Peter Pohle, Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen, 1979. 133 BVerfGE 1, 14, 36 f.; 19, 377, 392; 40, 88, 93. 134 Gegen eine extensive Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG gründlich und richtig Wischermann, Rechtskraft (FN 121), und Seuffert (FN 94), AÖR 104 (1979), S. 192 ff.; sehr scharf Ulrich Matz, Über politische Untugenden als Hemmnisse des Regierens im demokratischen Verfassungsstaat, in: Wilhelm Hennis u. a. (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 2, 1979, S. 226. 135 Lerche (FN 73), in: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, S. 33. Vgl. auch Geiger, abw. Votum in BVerfGE 42, 64, 79 f. Das zeigt sich auch daran, daß im Tenor der Entscheidungen immer häufiger ein verletztes Grundrecht nicht alleine, sondern „in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip" (oder: „Sozialstaatsprinzip") genannt wird; z. B. BVerfGE 50, 1; und E 52, 1, 2 (der Tenor nennt sogar nur noch die Unvereinbarkeit „mit dem Grundgesetz"); E 52, 203, 204 („in Verbindung mit . . ."); ebenso 52, 214. Benda (Grundrechtswidrige Gesetze [FN 16], S. 17), spricht von „abgeleiteten Verfassungssätzen". — Gegensteuernd Rudolf Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte. Zur maßstabsetzenden Kraft der

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

139

rer K o m m e n t i e r u n g der Verfassungsrechtsprechung — statt der Verfassung 1 3 6 — trägt das Ihre dazu bei. Rechtsprechungsberichte 1 3 7 übersteigern o f t die Rechtsprechung des Gerichts zum S y s t e m . — D a s Parlament k a n n sich k a u m m e h r auf seine verfassungsändernde Kraft auch gegenüber Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen besinnen 1 3 8 . Gegen Sätze und Argum e n t e v o n der Gerechtigkeit, V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t , Willkür, N o t w e n d i g k e i t oder Rationalität k a n n und soll ein Gesetzgeber in der Tat nicht angehen. BundesverfassungsgerichtsEntscheidungen m ü s s e n so nahe a m Text des Grundgesetzes g e h a l t e n sein, daß der Gesetzgeber präzise erfährt, w e l c h e n A r t i k e l des Grundgesetzes er ändern müßte, w e n n er es anders h a b e n w i l l . D a m i t w ü r d e n auch die Folgeverantwortungen w i e d e r klargestellt: Es w ü r d e deutlich, w e l c h e Urteile d e m v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e n Gesetzgeber zugänglich und w e l che den u n v e r f ü g b a r e n Grundlagen der Verfassung (Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG) zuzurechnen sind.

Grundrechte, AÖR 104 (1979), S. 414 ff. — u. a. gegen Schlinks These von der „Entdifferenzierung der Grundrechte zu einem allgemeinen Freiheitsrecht" (ders., Abwägung im Verfassungsrecht [FN 27], S. 47). — Vgl. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Festg. BVerfG (FN 25) II, S. 36 ff., 49; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, und zuletzt Gerhard Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des BVerfG, 1980. 136 Aufschlußreich zu der Gewichtsverlagerung ist der die herkömmliche Literaturgattung „Kommentar" verfremdende Buchtitel von Haberle, „Kommentierte Verfassungsrechtsprechung", 1979. — Der Appell, über der Supreme-Court-interpretation nicht die „substance of constitutional issues" zu vernachlässigen, findet sich nun bei Laurence H. Tribe, American Constitutional Law, 1978, p. 13 s; Tribe dürfte damit in der amerikanischen Literatur allerdings ein Außenseiter sein. In der deutschen Literatur wie hier besonders betont Friesenhahn, zuletzt ders., Art. Verfassungsgerichtsbarkeit, HdWW, 17./18. Lieferung 1979, S. 223. Zur abnehmenden Bedeutung des Juristenrechts Badura, Disk.-Beitrag, in: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle (FN 73), S. 58. 137 Vornehmlich im AÖR. 138 Die politische Balance zwischen verfassungsänderndem Gesetzgeber und BVerfG ist unter dem Grundgesetz nicht gefunden worden; vgl. — extrem — Roellecke (FN 62), in: Cappenberger Gespräch, Bd. 15, S. 33 (dem ich darin nicht folgen kann); auch Friedrich Schäfer, Disk.-Beitrag, a. a. O., S. 78. — Fälle des constitutional amendment to override Supreme Court decisions bei Tribe, a. a. O., p. 50 mit η. 8.

140

Klaus Schiaich

— Die Kanonisierung der Gründe entzieht d e m Bundesverfassungsgericht auch ein Lebenselixier einer obersten Gerichtsbarkeit: remonstrierende, Front machende Untergerichte, also das Gespräch mit ihnen, w i e es die Revisionsgerichte führen 139 . Seit dem hannoverschen Präjudiziengesetz von 1838 U0 über Zeilers Vorschlag eines „Gerichtshofes für bindende Gesetzesauslegung" bis zu weiteren Vorschlägen in der Weimarer Zeit, das Reichsgericht solle eine Entscheidung über eine Rechtsfrage als bindende Auslegungsvorschrift im Reichsgesetzblatt — ,,mit Gesetzeskraft" — veröffentlichen lassen können 141 : Es fehlt in Deutschland nicht an Versuchen einer gesetzlichen Präjudizienbindung. Sie sind zum Glück immer gescheitert. Warum soll das für eine Verfassungsrechtsprechung anders sein? — Schließlich läßt sich das einfachste Argument nicht länger verdrängen: Wenn nach fast 30 Jahren w e d e r abstrakt noch für einzelne Entscheidungen auch nur der Ansatz einer Klarheit entstanden ist, w a s eigentlich „tragender Grund"

139 Unter genau diesem Aspekt war die Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des BVerfG im Parlamentarischen Rat zwischen von Mangoldt (Keine Bindung der Gerichte, um eine Entwicklung nicht durch eine Entscheidung des BVerfG an der Wurzel abzuschneiden) und Carlo Schmid (Aufgabe eines Verfassungsgerichtshofes, bestimmte Fragen für alle Gerichte verbindlich, endgültig und einmalig zu klären) streitig. Die Regelung wurde deshalb schließlich dem Gesetzgeber überlassen; vgl. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 23. Sitzung (8. 12. 1948), S. 276 f. und Art. 94, Abs. 2 GG; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit (FN 2), S. 90 f. Gegen eine Bindung der Untergerichte an die Präjudizien höchstrichtlicher Entscheidungen vgl. nur Robert Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 26 ff. — Zum Ganzen Kriele, Rechtsgewinnung (FN 44), S. 243 ff., 326 ff. 140 „Gesetz, die verbindliche Kraft der durch die GesetzSammlung bekannt zu machenden Präjudicien des Ober-Appellations-Gerichts und die Beseitigung einander entgegenstehender Entscheidungen in den Senaten betreffend" vom 7. Sept. 1838 (GesSlg. Königreich Hannover 1838, S. 213). 141 A. Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, 1911; ders., Um Einheit und Sicherheit des Rechts, DRiZ 1925, Sp. 62 (Rechtssprüche des Reichsrechtshofs werden im Reichsgesetzblatt veröffentlicht und sind „gleich einem Gesetz verbindlich"). Eugen Schiffer, Die Deutsche Justiz, 1928, S. 253 ff., 257. Weiteres bei Max Grünhut, Allgemeinverbindliche Richtersprüche, in: Judicium II. Jhg. (1929/30), S. 138 — gegen das „Gewaltmittel allgemeinverbindlicher Richtersprüche" (S. 154).

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

141

einer Entscheidung sei142, dann kann die These nicht richtig sein — abgesehen davon, daß von einer Bindung der tragenden Gründe in § 31 Abs. 1 auch gar nichts steht. Übrigens: daß sogar der kanonistische Gedanke aufkam, der Spruch des Bundesverfassungsgerichts könne auch die wissenschaftliche Erkenntnis binden143, berechtigte den Vorstand in der Tat, mit dem heutigen Thema auch einen Kirchenrechtler zu beauftragen.

142 Die Schwierigkeiten macht deutlich die komplizierte, Widersprüche in der Urteilsbegründung aufdeckende, im Ergebnis überraschende, aber zutreffende Interpretation des Urteils zu § 218 StGB durch Kriele (FN 30), ZRP 1975, S. 76; auch ders., JZ 1975, S. 223: Einer anders ausgestalteten Fristen- und Beratungsregelung stehe das Urteil des BVerfG (E 39, 1) nicht entgegen. — Darstellung der verschiedenen Auffassungen, was „tragende Gründe" sind, zuletzt bei Wischermann, Rechtskraft (FN 121), S. 40 ff. Die Unsicherheiten seien demonstriert an den maßgeblichen Äußerungen von Geiger; einerseits ders., Gesetz über das BVerfG v. 12. März 1951 (Kommentar) 1952, § 31 Anm. 6 (S. 114): „Gewisse Sätze der Begründung stehen mit dem Tenor in einem derart engen, inneren, denknotwendigen Zusammenhang, daß der Tenor nicht aufrechterhalten werden kann, wenn einer dieser Sätze aufgegeben wird"; und andererseits ders., Vom Selbstverständnis des BVerfG, 1979, S. 15: Es komme nicht darauf an, was logisch nötig ist, es handle sich um ein Wertungsproblem; „abzustellen ist darauf, was das Gericht für nötig hält, um seinen Spruch zu rechtfertigen, und was es deshalb reiflich erwogen und überlegt formuliert und damit zu den tragenden Elementen seiner Begründung — und das sind die .tragenden Gründe' seiner Entscheidung! — gemacht h a t " . Die beiden Aussagen stimmen nicht überein. Und wenn man die gesetzliche (!) Anordnung einer Bindung (!) i. S. von § 31 Abs. 1 BVerfGG aus der Sicht des Adressaten — ζ. B. des Parlamentariers — wirklich ernst nehmen will, dann kann und darf das von Geiger zuletzt Angeführte nicht richtig sein, denn der Adressat kann danach — schon angesichts der Breite und Vielfalt der Begründungen mancher Urteile des BVerfG — kaum mit einiger Sicherheit beurteilen, woran er gebunden sein soll. Drastisch dazu die Schilderung bei Heinz Wagner, Umsetzung von Entscheidungen des BVerfG in die politische und gesetzgeberische Praxis, in: W. Däubler/G. Kusel (Hrsg.), Verfassungsgericht und Politik, 1979, S. 177. — Im Ganzen wie hier schon Hoffmann-Riem (FN 58), Der Staat 13 (1974), S. 349 ff. 143

Empört dagegen Eberhard Schmidhäuser, S. 396.

Schlußwort, JZ 1980,

142

Klaus Schiaich

3. Die Sicherung der Wirksamkeit gerichtsbarkeit im Ernstfall

der

Verfassungs-

Es bliebe der unvermeidliche Hinweis auf die Richterwahlen1**. Nur dies: Warum werden diese wichtigen Wahlen so stark dem Prinzip der Ausgewogenheit und dem Zufall bzw. der Tüchtigkeit einiger anonymer Finder in den Bundestagsfraktionen überlassen, wobei die Fraktionen getrennt und nach dem Prinzip der Nichteinmischung handeln? Die 2/3Mehrheitswahl (§ 6 Abs. 5 BVerfGG) kann dadurch leicht zur Absicherung zweier Bonner Machtpositionen degenerieren145. Blickt man auf die bisherige Rechtsprechung unter der Frage, wie es weitergehen soll, so bereitet nicht in erster Linie die viel berufene Kompetenzüberschreitung des Gerichts Unbehagen. Man wird sich auch nicht wundern, daß in einer so stark auf Konsens angelegten Gesellschaft wie der unseren die Linien der Rechtsprechung den Linien der gesellschaftlichen Entwicklung im Grunde folgen14®. Auch wird sich eine Verfassungsgerichtsbarkeit Ernst Rudolf Hubers147 sarkastischer Bemerkung von 1932 zum Preußen-SchlagUrteil des Staatsgerichtshofs nie ganz entziehen können: „Überall, wo das Reich sich unsicher zeigte oder zögerte, hat der Staatsgerichtshof dem Reiche unrecht gegeben. . . Wer in der kritischen Lage schwankt, verdient nicht den vollen Sieg". Einstimmig ergangene Gesetze finden besondere Beachtung148, bis zur Schlußabstimmung strittige Gesetze aber trifft eher eine besondere Sorgfalt des Bundesverfassungsge-

144 Vgl. zuletzt nur Klaus Kröger, Richterwahl, in: Festg. BVerfG (FN 25) I, S. 76 ff.; Frowein/Meyer/Schneider (Hrsg.), BVerfG im dritten Jahrzehnt (Ernst Friesenhahn zum 70. Geburtstag), 1973 S. 68—80; Zimmer, Funktion (FN 44), S. 303 f. 145 Böckenförde, Richterwahl (FN 44), S. 106. 146 Dazu Benda, Rechtsstaat im sozialen Wandel, AÖR 101 (1976), S. 513 f. Wolfgang Zeidler, Disk.-Beitrag in: Zur Regierbarkeit der parlamentarischen Demokratie, Ein Cappenberger Gespräch, Bd. 14, 1979, S. 75 f., Haberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung (FN 64), S. 437; auch Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen (FN 61), S. 20. Kritische Analyse bei Bernd Eisenblätter, Die Überparteilichkeit des BVerfG, 1976, und Reinhold Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1979, S. 78 ff. 147 E. R. Huber, Reichsgewalt und Staatsgerichtsbarkeit, 1932, S. 7. 148 So Scheuner (FN 10), DÖV 80, S. 476.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

143

richts. Im Hinblick auf eine dauerhafte Sicherung der Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit sind das nicht die entscheidenden Gesichtspunkte. Hierfür ist entscheidend, daß die Rechtsprechung des Gerichts von den politischen Mächten auch in einem Ernstfall der Verfassung noch akzeptiert werden wird. Dafür aber besteht nur dann eine Chance, wenn das Gericht zuvor nicht allzu sehr zum funktionierenden Teil des funktionierenden politischen Systems geworden ist, sondern Mitverantwortung aus der Distanz zur Staatsleitung heraus wahrgenommen hat149, und wenn es zuvor, also heute, einige eindeutige, dauerhafte, eherne Sätze der demokratischen Ordnung buchstäblich festgeschrieben hat. Ein Verfassungsgericht darf, da es ein Gericht ist, ihm angesonnene Rollen nicht annehmen: sich zurückzuhalten oder vorzuwagen, Instrument der Opposition zu sein, für nichtorganisierte Interessen einzutreten usw. Verfassungsgerichtliche Urteile werden sich politisch so auswirken. Als Gericht kann und wird es Autorität auf Dauer (nur) haben, wenn es das proprium der Verfassung kontinuierlich deutlich zu machen und als deren Sprachrohr zu fungieren vermag 150 .

14S So sehr uns der Montesquieu'sche Gedanke der distribution wieder nahegekommen ist — also der Gedanke der Beteiligung mehrerer politisch-sozialer Kräfte an der Ausübung der Funktionen der Legislative und Exekutive —, so ernst sollte es uns — bei allem Wandel — mit Montesquieus Hinweis sein, die richterliche Gewalt sei von den übrigen Gewalten zu trennen; hier gebraucht Montesquieu das schneidende Wort der séparation. Vgl. zuletzt Ulrich Lange, Teilung und Trennung der Gewalten bei Montesquieu, Der Staat 19 (1980), S. 219 ff. 150 Zahlreiche der zitierten Aufsätze finden sich neuerdings, gelegentlich mehrfach, auch in Sammelbänden, die hier aus Raumgründen nicht jeweils zusätzlich nachgewiesen werden konnten: Häberle (Hrsg.), Die Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976; auch — als Autor — ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978; ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979; ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980; Ralf Dreier und Friedrich Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, 1976; Manfred Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978.

Leitsätze

des 2. Mitberichterstatters

über:

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen I. Verfassungsgerichtsbarkeit Ausgangspun kte

und Verfassung —

1. Die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz ist bestimmt durch die Herrschaft der Verfassung: Das Grundgesetz ist nach Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht und bindet als solches alle staatliche Gewalt (einschließlich Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit). — Die Verfassung ist zum Gesetz geworden. 2. Eine volle Wirksamkeit der setzt voraus, daß,,der Machtkampf gen Trägern politischer Gewalten schlichtet ist".

Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen den selbständiverfassungsrechtlich ge-

3. Die Interpretation der Verfassung, nicht so sehr der Zuständigkeitenkatalog bestimmen die Reichweite der Verfassungsgerichtsbarkeit. II. Die Verfassungsgerichtsbarkeit Staats fun ktionen

im Gefüge

A. Bundesverfassungsgericht

Gesetzgeber

und

einzelner

4. ,,Der Gesetzgeber" schuldet nicht eine ,.optimale thodik der Gesetzgebung" und nicht eine nachprüfbare tionalität des Prozesses der Entscheidungsfindung.

MeRa-

5. Gegenstand der Normenkontrolle ist die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes als Ergebnis des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens, nicht die argumentative Konsistenz oder sonstiges Verfahren und Verhalten des Gesetzgebers. 6. Gegenüber einer Verselbständigung von Maßstäben der gerichtlichen Kontrolldichte bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers (Evidenz-, Vertretbarkeits-, intensivierte inhaltliche Kontrolle) ist festzuhalten: Nicht das Ge-

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

rieht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab weder zurückhaltend oder deutlich greifend.

145

ist ent-

7. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle und Gesetzgebung sind zu verschieden, als daß vergleichend gefragt werden könnte, was das Gericht „ besser", „zutreffender", „rationaler" kann. Auch die Prüfungen der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im parlamentarischen und im gerichtlichen Verfahren sind nicht in jeder Hinsicht identisch. 8. Der um sich greifende Gedanke einer Kompensation von Defiziten des parlamentarischen Verfahrens durch Verfassungsgerichtsurteile kann die Wirkung haben, daß die Defizite voreilig als unvermeidlich hingenommen werden und sie sich damit eher verfestigen („Mißtrauen gegenüber Gesetzgeber, Vertrauen in die Justiz"). B. Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit 9. Das Bundesverfassungsgericht bewirkt in Entscheidungen über Urteilsverfassungsbeschwerden substantiell nichts, was nicht auch die Fachgerichte leisten können. 10. Schützenswert im Verhältnis Bundesverfassungsgericht-Fachgerichte sind nicht die Fachgerichte, sondern die Funktionsfähigkeit des BVerfG in der Erfüllung seiner Aufgabe, Rechtsfragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung zu behandeln und vorwärtszubringen. Die Verfassungsbeschwerde rückt damit in die Nähe einer entsprechenden, sich zunehmend durchsetzenden Bestimmung des Zwecks der Revision (§ 554 b ZPO). 11. Innerhalb der Gerichtsbarkeit stehen sich heute — nach ihren Aufgabenbereichen geordnet — die der Rechtsfortbildung dienenden Bundesgerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts einerseits und die der Justizgewährung sp flicht in jedem Einzelfall ausgesetzten Tatsacheninstanzen andererseits gegenüber. III. Verfassungsgerichtsbarkeit Folgerungen

als Rechtsprechung —

12. Mit der Inkorporation in die Rechtsprechung löst sich die Verfassungsgerichtsbarkeit von zwei entscheidenden historischen Wurzeln einer Staatsgerichtsbarkeit ab: von der Entscheidung mit der Kraft eines Reichsgesetzes über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht und von der Entscheidung mit der Kraft der authentischen Interpretation über Zweifel am Inhalt der Verfassung.

146

Klaus Schiaich

13. Verfassungsrechtsprechung ist nicht Verfassungsgesetzgebung. Ein Verfassungsgericht entscheidet nicht als ,,verbindliche Instanz in Verfassungsfragen" (BVerfG) über den (zweifelhaften) Inhalt der Verfassung, sondern über den Fall (die Norm). Verfassungsgerichte schaffen Richterrecht wie andere Gerichte auch. 14. Die vom dungswirkung scheidungen (§ Kanonisierung Folge.

Bundesverfassungsgericht vertretene Binauch der ,,tragenden Gründe" seiner Ent31 Abs. 1 BVerfGG) hat eine ungut wirkende der Sätze des Bundesverfassungsgerichts zur

15. Verfassungsgerichte werden sich in ihrer Rechtsprechung den Linien der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung nicht entziehen (können). Um der gestaltenden Kraft der Verfassung willen ist es wichtig, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Mitverantwortung aus der Distanz zur Staatsleitung heraus wahrnimmt; nur so kann die Bereitschaft der politischen Kräfte, die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu akzeptieren, auf Dauer gesichert werden.

4. Aussprache

und

Schlußworte

Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen Vorsitzender (Bullinger): Meine sehr geehrten Herren Kollegen! Zu Beginn der Diskussion erlaube ich mir, Sie auf den Ablauf der Diskussion hinzuweisen, wie der Vorstand ihn sich vorstellt. Die ersten drei Reihen sind bestimmt für diejenigen, die an der Diskussion mitwirken wollen. Wer sich beteiligen möchte, wird gebeten, sich durch Handaufheben zu Wort zu melden. Die Zeitdauer des einzelnen Beitrags sollte fünf Minuten nicht überschreiten. Vor allem aber wäre es zu begrüßen, wenn die angesprochenen Fragen in Rede und unmittelbarer Gegenrede unter Beteiligung der Referenten erörtert werden könnten. Dadurch könnte es vielleicht auch gelingen, lange Schlußworte der Referenten zu vermeiden. Im übrigen schlage ich vor, die Diskussion in zwei Abschnitte zu etwa eineinhalb Stunden zu gliedern. Der erste Abschnitt wäre der Stellung und den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit gewidmet, wobei der Schwerpunkt auf dem Verhältnis zur Gesetzgebung und zur Fachgerichtsbarkeit liegen sollte. In einem zweiten Abschnitt könnten dann die Methoden und Maßstäbe verfassungsgerichtlicher Kontrolle erörtert werden. Nun ein Letztes. Der Vorstand hat versucht, statt zwei Referaten mit zwei zusätzlichen Länderberichten über das österreichische und das schweizerische Recht je ein Referat aus einem der beteiligten Länder erstatten zu lassen, doch nicht aus der Sicht des einzelnen Landes, sondern aus einer übergreifenden Sicht. Die Referenten haben sich in intensiver Zusammenarbeit bemüht, dieser Vorstellung gerecht zu werden. Deshalb wäre zu hoffen, daß auch die Diskussion nicht in Sondergespräche über innerösterreichische, innerschweizerische oder innerdeutsche Probleme zerfällt. H.-P. Schneider: Herr Vorsitzender, meine Herren! Ich bin von allen drei Referaten sehr beeindruckt und habe heute morgen viel Nachdenkenswertes gehört. Die Wiederholung all dessen, was meine uneingeschränkte Zustimmung findet,

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Aussprache

erspare ich Ihnen. Wo ich mit den Referenten nicht übereinstimme, liegen vermutlich Mißverständnisse vor, die mich zu einigen Fragen veranlassen. Zunächst, Herr Korinek, besteht nicht in Ihrem imposanten Gebäude, das auf den Fund a m e n t e n der Merkl-Kelsen'schen Rechtstheorie ruht, die G e f a h r eines Zirkelschlusses? Denn Sie sagen — ich hoffe, ich habe Sie richtig verstanden —, die Verbindlichkeit der Verfassung reiche so weit, wie sie justiziabel sei. D a r ü b e r aber, wie weit die Verfassung justiziabel ist, entscheidet autoritat i v und letztverbindlich allein das Verfassungsgericht. Daraus ergibt sich f ü r mich zwingend, daß es o f f e n b a r im Rahm e n der — mit Ihren Worten — „autonomen Gestaltungsk o m p e t e n z " des Gerichts liegt, seine Grenzen selbst zu bestimmen. Müßten wir also nicht, Ihrem Gedankengang folgend, vor dem Problem, Grenzen der Verfassungsgerichtsb a r k e i t zu ziehen, letztlich kapitulieren? Eine zweite Frage an Herrn Schiaich: Sie behaupten, die Verfassung binde die Verfassungsgerichtsbarkeit in anderer Weise als die Gesetzgebung. Bei der Rechtsprechung haben Sie eine identische Bindung angenommen. Sie h a b e n dies begründet mit dem Hinweis auf das unterschiedliche Verfahren, die unterschiedliche Organisation sowie im Hinblick auf das Zeitproblem. Ich f r a g e mich erstens: sind das nicht f u n k tionale Argumente? Und zweitens: woraus leiten Sie eigentlich die unterschiedliche Verbindlichkeit der Verfassung im Verhältnis Verfassungsgerichtsbarkeit — Gesetzgebung ab? Nach meinem Eindruck steht d a r ü b e r im Grundgesetz ausdrücklich nichts; indirekt läßt sich aus Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG sogar eher das Gegenteil herauslesen: Die Verfassung ist f ü r den Gesetzgeber wie f ü r den Verfassungsrichter in gleicher Weise verbindlich. Ein weiterer P u n k t : Ich bezweifle, ob m a n mit den methodischen Ansätzen der Referenten allein aus der Sicht der Verfassungsinterpretation den schwierigen funktionellrechtlichen Problemen, u m die es uns heute geht, ü b e r h a u p t b e i k o m m e n kann. Mit Blick auf die jüngsten Auseinandersetzungen über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im demokratischen Gemeinwesen scheinen sie m i r weit vielschichtiger, auch verfassungspolitisch komplexer zu sein. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Durch die Rentenreform im J a h r e 1957 w u r d e eine Entwicklung eingeleitet, die inzwischen zu erheblichen Disparitäten bei der Besteuerung von A l t e r s e i n k ü n f t e n f ü h r t . Wenn Sie, H e r r Schiaich, sagen, Gegenstand einer Normenkontrolle sei einzig „die formelle und

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materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes als Ergebnis des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens", so frage ich mich: Ist hier nun die Bestimmung über die Rentenbesteuerung im Einkommensteuergesetz verfassungswidrig oder die Vorschrift über die Pensionsbesteuerung oder gar die ganz anders gearteten Regelungen über die Besteuerung von Alterseinkünften aus sonstigen Quellen? Wie ließe sich eigentlich nach Ihrem Vorschlag in Fällen zunehmend ungleicher Wirkung von Gesetzen infolge einer Veränderung der sozialen Realität das Problem des gesetzgeberischen Unterlassens lösen? Wenn Sie sagen, das Gericht müsse zumindest hypothetisch genau angeben können, welcher Artikel der Verfassung zu ändern sei, wenn ein ansonsten verfassungswidriges Gesetz Bestand haben solle, so wäre in diesem Falle eigentlich nur eine Änderung von Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht zu ziehen, eine geradezu absurde Konsequenz. Gestatten Sie mir noch ein letztes Wort zu Herrn Korinek: Mich hat sehr beeindruckt, welch große Erwartungen Sie in das Selbstbeschränkungsvermögen der Verfassungsgerichtsbarkeit setzen, wenn Sie im Ergebnis feststellen, praktisch entscheide der Richter über die Grenzen seiner Tätigkeit selbst. Mich erinnert dieses Vertrauen auf die weise Zurückhaltung der Justiz schon fast ein wenig an jenen resignierenden Satz, der nun wirklich von einem Wiener Kabarettisten (namens Kreisler) stammt: „Der Richter sagt, das rieht' er, so wie es sich gehört". Vielen Dank. Dagtoglou: Zum Verhältnis zur Gesetzgebung: Als Oskar Bülow schrieb, daß auch die gerichtliche Rechtsfindung Ermessenselemente aufweise, konnte er wohl kaum ahnen, daß man heute die Auffassung vertreten werde, zwischen parlamentarischer Rechtssetzung und richterlicher Rechtsfindung gäbe es keinen grundsätzlichen, keinen qualitativen Unterschied. Dazu führt, so glaube ich, einmal die unbedachte Prägung des terminus gesetzgeberisches Ermessen und seine Parallelisierung zum verwaltungs- und richterlichen Ermessen; zum anderen führt dazu eine gewisse Apotheose der Verfassungsgerichtsbarkeit, die zwar in der Absicht, diese gegenüber den politischen Instanzen zu stärken, vertreten wird, sie jedoch der politischen Auseinandersetzung aussetzt, wozu die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ausgerüstet ist. Die Bewegungsfreiheit des Gesetzgebers und seine Beziehung zur Verfassung ist grundverschieden vom Ermessen des Richters und seiner Beziehung zur Verfassung. In aller Regel

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ist die Verfassung für den Gesetzgeber die Grenze, die äußerste Schranke für den Richter; auch für den Verfassungsrichter ist sie wohl die Basis seiner Erkenntnis. Die grundsätzliche Gleichsetzung von Rechtssetzung und Rechtsfindung, die gelegentlich auch heute morgen zur Sprache gekommen ist, geht auch von einer geradezu beunruhigenden Selbstisolierung vom politischen Geschehen aus. Der Verfassungsgerichtsbarkeit tut diese Auffassung jedenfalls nichts Gutes. Walter: Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Herrn Kollegen! Ich möchte zu dem Grundproblem des Verhältnisses von Verfassungsgericht einerseits und Gesetzgeber andererseits Stellung nehmen, denn mir scheint das seit jeher das Hauptproblem jeglicher Verfassungsgerichtsbarkeit zu sein. Und damit wir vielleicht sehen, wie weit wir auf diesem Gebiete gekommen sind, möchte ich versuchen, ganz kurz zur Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien zurückzublenden. Ich brauche nur in Erinnerung zu rufen, daß damals die österreichische Staatsrechtslehre unter Führung Kelsens sehr vehement für eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingetreten ist und daß die deutsche Staatsrechtslehre unter der Führung Triepels ihre tiefe Skepsis gegen diese Institution zum Ausdruck gebracht hat. Dieser Beschreibung muß man hinzufügen: Das Bedenken der deutschen Staatsrechtslehre lag darin, daß sie meinte, bei der Unbestimmtheit der Verfassungsbegriffe, um deren Auslegung es gehe, müsse eine Institution wie ein Verfassungsgericht überfordert sein. Auf der anderen Seite war Kelsens Bestreben zwar auf ein Verfassungsgericht gerichtet, das aber doch womöglich über ganz strikte Rechtssätze entscheiden solle und das nicht überfordert werden soll, indem man ihm eine Entscheidung nach Billigkeit, in Gemäßheit der Menschenwürde oder Ähnliches auftrage. Das heißt: Die Standpunkte waren — zurückblickend betrachtet — eigentlich gar nicht so weit auseinander. Und wenn wir heute die Diskussionssituation betrachten, dann sehen wir, daß man zwar — wie es scheint — allerorts einig ist über das Erfordernis einer Verfassungsgerichtsbarkeit; es bleibt aber, wie mir scheint, das Problem des Jahres 1928 noch immer ungelöst: Es ist nämlich das Problem, ob jene Institutionen, die wir uns als Verfassungsgerichte geschaffen haben, wirklich Wahrer der Verfassung und wirklich Gerichte sind. Erlauben Sie mir, daß ich diese Zweifel so deutlich formuliere. Noch immer stehen wir im wesentlichen beim Problem der unbestimmten Begriffe der Verfassung. Und der Herr Kolle-

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ge Korinek hat einerseits gesagt, es gäbe natürlich so etwas wie eine autonome Gestaltungsfreiheit des Rechtsanwenders, und er hat andererseits gesagt, Kontrolle kann nur geübt werden, soweit ein Kontrollmaßstab besteht und nur in Gemäßheit dieses Kontrollmaßstabes. Und nun bitte, ist das aber nur eine ganz geschickte Umschreibung des verbleibenden Problems, nämlich des Phänomens, wo beginnt der autonome Entscheidungsbereich des Rechtsanwenders und wo ist die Verfassung strikt. Und daher glaube ich, daß unsere heutigen in viele Richtungen gehenden Bemühungen noch nicht dazu geführt haben, daß wir sagen könnten, hier haben wir eine Verfassungsanordnung, die den Gesetzgeber bindet, die aber nicht justiziabel ist — Stichwort Programmsatz oder so etwas ähnliches — und hier ist eine Verfassungsanordnung, die bindet den Gesetzgeber und ist auch vom Verfassungsgericht nachkontrollierbar; dieses Problem scheint m i r nach wie vor der Lösung zu bedürfen. Burmeister: Zieht man das Resümee aus den in der jüngeren Vergangenheit prononciert artikulierten Vorbehalten, dem Unmut gegen vermeintliche Übergriffe des Bundesverfassungsgerichts in die politischen Entscheidungskompetenzen des Gesetzgebers, dann drängt sich mir der Eindruck auf, als sei dieses eben nicht nur — wie dies generell gesagt wird — eine Frage der Interpretation und des Selbstverständnisses der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenzen im Verhältnis zum Gesetzgeber, sondern als lägen da andere bzw. weitere Ursachen dahinter, die bislang kaum beachtet wurden: nämlich die fundamentale Veränderung des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung selbst. Nach der traditionellen rechtsstaatlichen Vorstellung w a r das Parlament der eigentliche politische Kontrolleur, der Gegenspieler der Regierung, und auch f ü r das parlamentarische System des Grundgesetzes w a r an sich die Grundvorstellung prägend, als werde die politische Kontrolle der Regierung durch das Parlament ausgeübt, was sich namentlich im verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten — freies Mandat, Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit als Repräsentant des ganzen Staatsvolkes usw. — niederschlägt. Demgegenüber ist die Verfassungswirklichkeit einen ganz anderen Weg gegangen; sie ist gekennzeichnet durch Parteienstaatlichkeit, Abhängigkeiten des einzelnen Abgeordneten von Verbandsinteressen, Fraktionsdisziplin etc. Jedenfalls kann f ü r den Normalfall (vom Ausnahmefall der Minderheitsregierung einmal abgesehen) das Parlament im

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G r u n d e die verfassungsrechtlich vorausgesetzte K o n t r o l l e der Regierung nicht ausüben. In dieses V a k u u m , in dieses D e f i z i t an politischer K o n t r o l l e m u ß t e z w a n g s w e i s e das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t hineinrücken. Insofern m u ß bei B e a n t w o r t u n g der F r a g e , w o die Grenzen der verfassungsgerichtlichen K o n t r o l l k o m p e t e n z e n gegenüber dem Gesetzgeb e r gezogen sind, das v e r ä n d e r t e V e r h ä l t n i s P a r l a m e n t Regierung, das j a auch A n s a t z p u n k t der modernen Parlam e n t a r i s m u s k r i t i k ist, m i t in Betracht gezogen w e r d e n . H i e r liegt m. E. eine der w e s e n t l i c h e n Ursachen der K r ä f t e v e r schiebung zwischen dem B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t und dem Gesetzgeber, und m a n m u ß , w e n n m a n s t ä r k e r e n verfassungsgerichtlichen K o n t r o l l r e s t r i k t i o n e n das Wort redet, a m v e r ä n d e r t e n V e r h ä l t n i s zwischen P a r l a m e n t und Regierung ansetzen; hier liegt w o h l eine der tieferen, k a u m belichteten Ursachen des a r t i k u l i e r t e n Mißbehagens. Vorsitzender: V i e l e n D a n k , Herr Burmeister. Meine sehr v e r e h r t e n Herren K o l l e g e n , w e n n j e m a n d v o n Ihnen unmitt e l b a r zu dem, w a s gesagt ist, eine k u r z e B e m e r k u n g machen möchte, w ä r e ich d a n k b a r , w e n n S i e b e i d e A r m e heben könnten. Zu einem solchen E i n w u r f also zunächst Herr Friesenhahn, dann Herr Wenger. Friesenhahn: A l s k l e i n e R a n d b e m e r k u n g eine Erinnerung an eine verfassungspolitische K o n t r o v e r s e in der Weimarer Epoche. Die V e r e i n i g u n g sozialdemokratischer Juristen lehnte d a m a l s e i n m ü t i g den G e s e t z e s e n t w u r f ü b e r die Prüf u n g der V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t v o n Gesetzen ab. Man argumentierte, der Zustand, daß jeder Richter die Verfassungsm ä ß i g k e i t eines Gesetzes p r ü f e n könne, sei erträglicher. Würde das P r ü f u n g s r e c h t bei einem obersten Gerichtshof konzentriert, so bestünde die G e f a h r , daß dieser w e g e n seines höheren A n s e h e n s m e h r w a g e und eher geneigt sei, die V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t eines Gesetzes zu verneinen. D a h i n t e r stand die Besorgnis, daß die bürgerlichen hohen Richter die Grundrechte der R e i c h s v e r f a s s u n g nicht sozial genug auslegen w ü r d e n . Man d e n k e e t w a an die unter d e m A s p e k t der E n t s c h ä d i g u n g s f o l g e e x p a n d i e r e n d e Enteignungsrechtsprechung des Reichsgerichts. D a m a l s k a m also die B e f ü r c h t u n g v o r dem Ü b e r m u t eines reinen Verfassungsgerichts k l a r zum Ausdruck. Wenger: Ich möchte u n m i t t e l b a r an Herrn Burmeister ank n ü p f e n . Meiner Meinung nach m u ß das V e r h ä l t n i s Verfas-

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sungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung auch im Hinblick auf die Veränderung der tatsächlichen Gewaltenteilung durch den Parteienstaat im Zusammenhang mit der Bestellung der Verfassungsrichter gesehen werden. Das österreichische Beispiel zeigt das besonders deutlich. Wir hatten ursprünglich in der Bundesverfassung 1920 eine rein parlamentarische Bestellung der Verfassungsrichter durch den Nationalrat und den Bundesrat. Alle Verfassungsrichter wurden gewählt. Im Jahre 1929 hat man unter dem Stichwort „Entpolitisierung" die Bestellung schwergewichtig der Regierung anvertraut. Seither werden der Präsident, der Vizepräsident und sechs Mitglieder, also acht von insgesamt 14 Verfassungsrichtern, auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt. Aber auch bei den drei auf Vorschlag des Nationalrates ernannten Mitgliedern ist zu bedenken, daß im Parlament unter normalen Umständen die Regierungsfraktion bzw. die Regierungsfraktionen eine Mehrheit haben und ihre Hauptaufgabe weniger in der Kontrolle als in der Unterstützung der Regierung erblicken. Obwohl angesichts der Tatsache, daß ernannte Verfassungsrichter bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres im Amt bleiben, Regierungen und parlamentarische Mehrheitsverhältnisse sich üblicherweise aber rascher ändern, die Dinge in Wirklichkeit etwas komplexer sind, kann man doch bei einem solchen Bestellungsmodus von einer starken Bevorzugung der Regierungsmehrheiten und von einer Benachteiligung der oppositionellen Minderheiten sprechen. Gerade das aber erscheint unter dem Aspekt der Kontrolle überaus problematisch. Jedenfalls zeigt sich, daß bei der Frage nach dem Verhältnis Gesetzgebung und Verfassungsgericht auch die organisatorische Seite mitbedacht werden muß. In Wahrheit hängt die Regelung der Bestellung der Verfassungsrichter mit der Funktion und mit der Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts aufs engste zusammen. H. P. Ipsen: Meine Frage an die drei Referenten geht dahin, ob ich sie — ganz global formuliert — in Folgendem richtig verstehe: einmal Herrn Korinek dahin, daß er eine Mittellösung des Problems, das uns jetzt beschäftigt, für empfehlenswert hält oder sie der österreichischen Judikatur schon als gegeben glaubt entnehmen zu können; daß Herr Schiaich in einer deutlich restriktiven Haltung versucht, gewisse Überschwänge der Rechtsprechung unseres Verfassungsgerichts zu reduzieren (mit einer Wendung gegen gewisse StatusThesen von Herrn Leibholz — Stichwort: Verfassungsorgan?)

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und daß ich Herrn Müller aus der Schweiz richtig so verstehe, die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts sei die absoluteste, die ich mir denken kann. Dies deshalb, weil diesem Gericht die Befugnis zugemessen wird, Grundrechte zu erfinden, die die Verfassung nicht deklamiert, und mit dem Willkürartikel, dem Gleichheitssatz alle Prüfungslücken zu schließen. Ich frage mich, ob ich die schweizerische Theorie, gestützt auf die so begriffene Judikatur, richtig verstanden habe, zumal Herr Müller uns Bundesrepublikanern doch glaubte empfehlen zu sollen, angesichts unserer zeitlich geringen eigenen Erfahrung mit dieser Materie lieber nach Amerika oder eben auch auf die Schweiz zu sehen. J. P. Müller: Ich möchte zur ersten der an mich gerichteten Fragen von Herrn Ipsen Stellung nehmen. Wenn man vom Inhalt der Rechtsprechung ausgeht, so erscheint unter den verglichenen Ländern die schweizerische Verfassungsrechtsprechung tatsächlich als diejenige, die sich im Anspruch am weitesten vorwagt, Verfassungsrecht nicht nur auszulegen sondern selber zu schöpfen, und zwar in verschiedener Hinsicht: Einmal in der weiten Ausschöpfung des Gleichheitssatzes mit dem Willkürverbot, dem zum Teil ähnliche Funktionen zugewiesen werden wie der in der Bundesrepublik aus Art. 2 GG abgeleiteten Handlungsfreiheit; ja unser Bundesgericht nimmt in der Handhabung des Willkürbegriffs sogar noch in weiterem Umfang sämtliche Regelungen des Staates, die den Bürger irgendwie in Beschlag nehmen, unter verfassungsrechtliche Kontrolle. Dann die Praxis der ungeschriebenen Grundrechte: Wichtigste Verfassungsrechte wie die Meinungsfreiheit, die persönliche Freiheit, die Sprachenfreiheit, die Versammlungsfreiheit hat das Bundesgericht rechtschöpferisch als unentbehrliche Bestandteile einer rechtsstaatlichen Demokratie bezeichnet und als ungeschriebene Grundrechte anerkannt. Es hat sich dabei besonders in den letzten Jahren zunehmend auch auf die kantonalen Verfassungen abgestützt im Sinne der Erforschung eines eidgenössischen „common laws". Oder ein letzter Punkt: Den klaren Auftrag unserer Bundesverfassung in Art. 46 Abs. 2 zum Erlaß eines Bundesgesetzes gegen Doppelbesteuerung hat das Bundesgericht verfassungsschöpferisch als Individualrecht interpretiert und unter seinen Schutz genommen. Es hat gesagt, im Gesetzgebungsauftrag liege auch ein so wesentlicher individualrechtlicher Aspekt, daß dem Bürger nicht zuzumuten sei, wegen Säumnis des Gesetzgebers von zwei Kantonen gleichzeitig besteuert zu werden; das sei unvereinbar mit der

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bundesstaatlichen Ordnung der Verfassung. Ein weiteres Beispiel dafür, wie das Bundesgericht aus objektivrechtlichen Prinzipien verfassungsmäßige Individualrechte ableitet, bietet die Ausgestaltung des Grundsatzes „Bundesrecht bricht kantonales Recht" zum einklagbaren Individualrecht. Ich glaube, vergleichbar ist diese weite rechtschöpferische Praxis unseres Bundesgerichts als Staatsgerichtshof am ehesten mit der des amerikanischen Supreme Court, der etwa mit der Inkorporation der Rechte des ersten amendments in das vierzehnte amendment im Grunde eine ähnlich kühne Praxis involviert hat. Der erste Artikel ist ja nur f ü r den Bund verbindlich und der Supreme Court hat die Wirkung der dort genannten Grundrechte f ü r die Gliedstaaten rechtschöpferisch ausgeweitet. Zur letzten Bemerkung von Herrn Ipsen möchte ich lediglich beifügen, daß mir völlig fern lag, irgendeine Wertung oder gar Abwertung der Karlsruher Verfassungsrechtsprechung etwa im Lichte des Supreme Courts der USA vorzunehmen. Mein Bedenken zielte doch in ganz andere Richtung und richtete sich generell gegen zu hohe Erwartungen an die Institution Verfassungsgericht. Schiaich: Die Frage von Herrn Ipsen gibt dankenswerterweise Gelegenheit, den Grundgedanken des Referats zu verdeutlichen. Das Stichwort vom Bundesverfassungsgericht als einem „Verfassungsorgan" scheint mir zur Bestimmung der Funktionen des Gerichts entbehrlich. In der ApothekenEntscheidung im 7. Band sagte das Bundesverfassungsgericht, in seiner Stellung u. a. als Verfassungsorgan sei es dem Vorwurf des unberechtigten Eingriffs in die Sphäre der Gesetzgebung weniger ausgesetzt als andere Gerichte. In diesem Sinne einer Erweiterung oder jedenfalls deutlichen Bekräftigung der Funktionen des Gerichts ist der Titel „Verfassungsorgan" entbehrlich, wenn man die Verfassung als geltendes Gesetz und demgemäß die Verfassungsgerichtsbarkeit als Gerichtsbarkeit versteht. Generell aber will ich dem Gericht nicht mit einer restriktiven Haltung begegnen. Ich betone ja die Geltung der Verfassung! Mir ging es zunächst darum, die Urteilsbegründungen des Gerichts wieder näher an die Verfassung, an den Verfassungstext heranzuführen und zu binden; und das versuche ich insbesondere auch gegenüber den sogenannten funktionellrechtlichen Überlegungen über die Aufgaben und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie sich zum Beispiel in der besprochenen Drei-

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stufigkeit der Kontrolldichte gegenüber dem Gesetzgeber im Mitbestimmungsurteil oder auch in der Behauptung des Gebots einer „ Z u r ü c k h a l t u n g " des Gerichts gerade gegenüber der Regierung finden. Ich meine, daß das Argument aus der Verfassung trotz aller Nöte mit dem zum Teil, aber ja auch n u r zum Teil offenen, b r u c h s t ü c k h a f t e n , n u r andeutenden Verfassungstext noch i m m e r am plausibelsten, am ehesten konsensfähig ist und die Autorität des Gerichts stärkt. Die Argumente, die sich eng an die Verfassung halten, f ü h r e n am weitesten. Ob dies dann zu einer weiten oder zurückhaltenden Rechtsprechung f ü h r t , w a r nicht mein Thema. Quaritsch: Aber Herr Schiaich, Sie haben die „kompensatorische" F u n k t i o n des Bundesverfassungsgerichts, die des „Ersatz-Gesetzgebers" unmißverständlich gerügt und deutlich erklärt, dadurch w ü r d e n die Bundestagswahlen entwertet. Diese Wahlen werden — das ist mitzudenken — in der Bundesrepublik mit Koalitions-Mehrheiten von 300.000 Stimmen gewonnen. Wenn das Bundesverfassungsgericht im S t r e i t f a l l und aus Rechtsgründen der parlamentarischen Opposition Recht gibt, dann k o n t e r k a r i e r t es damit nicht die politische Entscheidung einer überzeugenden Mehrheit der Stimmbürger. Auf eine Restriktion der vom Gericht gepflegten P r ü f u n g s i n t e n s i t ä t l ä u f t auch Ihre Ansicht hinaus, dem P a r l a m e n t müsse die „Flucht aus der V e r a n t w o r t u n g " versperrt werden. Diese A r g u m e n t a t i o n ist in der rückschauenden Bewertung der Weimarer Verfassung gegen die Legalitäts-Reserve des Reichspräsidenten vorgebracht worden, sie wird in der A n w e n d u n g auf das Bundesverfassungsgericht nicht richtiger. Schiaich: Ich habe aus meinen von Ihnen, H e r r Quaritsch, angesprochenen Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung und parlamentarischem Verfahren die Folgerung gezogen, das Bundesverfassungsgericht sollte sich eher zur Kassation von Gesetzen, zur Zurückverweisung an den Gesetzgeber entschließen statt f ü r bloß verfassungswidrig zu erklären, nachzubessern, Übergangsregelungen zu erlassen usw. H ä t t e das Gericht in seiner Entscheidung zu § 218 S t G B nicht die Neufassung des Strafgesetzes einfach f ü r nichtig erklären sollen und dies mit der Folge — w o r ü b e r allerdings wohl nicht Einigkeit besteht —, daß die alte Fassung des § 218 StGB fortgegolten hätte? So w ä r e das P a r l a m e n t f ü r das alte, fortbestehende Recht und damit auch f ü r seine neuerliche Reform wieder voll in der

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Verantwortung gewesen. Das meinte ich. Eine Zurückhaltung des Gerichts in der Nichtigerklärung von Gesetzen, in der Herausarbeitung und Geltendmachung der Entscheidungen der Verfassung habe ich nicht empfohlen. — Meine Auffassung findet sich so nun auch in der schönen Habilitationsschrift von Jörn Ipsen zu den Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit, die demnächst gedruckt vorliegen wird; Ipsen behandelt den Komplex der Rechtsfolgeanordnungen des Bundesverfassungsgerichts einschließlich der Übergangsregelungen. Herr Schneider, mir ging es gleicherweise um die Freiheit des Parlaments wie des Verfassungsgerichts, ihre jeweiligen Aufgaben eigenständig im jeweiligen Bereich zu erfüllen. Vorbehalte gegen funktionelle Argumentationen habe ich dort, wo sie aus vergleichender Betrachtungsweise zu einer Vermischung der Aufgabenbereiche bzw. Gewalten, zur Ermächtigung von Kompensation, zur Substitution der Rollen führen. Vielen Dank, Herr Schneider, daß Sie sogleich auf meinen Leitsatz 7 hinwiesen: Ich sagte, das Argument der Verfassungswidrigkeit, das im parlamentarischen Prozeß gegen ein dort in der Entstehung befindliches Gesetz vorgebracht wird, und das Argument der Verfassungswidrigkeit, kunstgerecht vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ein abschließend beratenes und beschlossenes Gesetz vorgebracht, seien nicht voll identisch. Diese Überlegung hat mir am meisten Spaß und Kopfzerbrechen gemacht, dieser Satz war mir mein „schönster" und schwierigster. Wie kann man das formulieren? In welcher Weise sind diese Verfassungsmäßigkeitsprüfungen anders? Korinek: Zunächst zur Frage von Herrn Ipsen, ob ich quasi eine Mittellösung zwischen der zurückhaltenden J u d i k a t u r des VfGH und der Rechtsprechung des BVerfG anstreben würde. Dazu ein klares ja; die würde ich anstreben. Um in dem vormittags gebrauchten Bild zu bleiben: Ich möchte mich gegen übermäßigen Konsum genauso aussprechen, wie gegen völlige Abstinenz. „Mäßig, aber regelmäßig", sagt man bei uns; das wäre die Mittellösung, die mir vorschwebt. Ernst gesagt würde ich genau das antworten, was Schiaich jetzt zum Schluß etwa auch Herrn Quaritsch geantwortet hat. Die Antwort an Hans Peter Schneider gibt mir auch Gelegenheit, zu einer These von Herrn Schiaich etwas zu sagen:

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Die Frage ist die: Hat das Verfassungsgericht die Kompetenz, sich den Maßstab selbst zu setzen? Ihre These, Herr Kollege Schiaich, war, das Verfassungsgericht habe die „Kompetenz-Kompetenz". Ich glaube, da muß man doch differenzieren: Hätte das Gericht die Möglichkeit, sich selbst den Maßstab zu setzen, hätte es die „Kompetenz-Kompetenz", dann wäre seine Entscheidung nicht weiter nachprüfbare Dezision. Ich glaube, das ist es nicht. Das Gericht hat nicht den Rahmen zu schaffen, an dem zu messen ist, es hat diesen — ihm vorgegebenen — Rahmen zu konkretisieren; und da gibt es eben prozedurale Regeln und hierfür gilt, daß diese Ableitung nachprüfbare Exegese der Norm ist, nachprüfbar durch die Rechtswissenschaft, auch — wie ich meine — durch Äußerungen politisch Verantwortlicher, durch die Öffentlichkeit. Nicht Schaffung eines Rahmens, an dem zu messen ist, sondern Exegese aus einem verfassungsgesetzlichen Rahmen ist die Funktion des Verfassungsgerichts; das hervorzukehren ist mein Anliegen. Das wird oft ein „Näher zur Norm hin" bedeuten. Herr Ipsen fragt mich, ob ich aus der österreichischen Judikatur Beispiele für so eine Mittellösung finden könnte. Viel leichter finde ich aus der österreichischen Judikatur Beispiele, wo das Materielle gar keine Rolle spielt; das gebe ich schon zu. Aber es lassen sich auch Beispiele für diese Mittellösung finden: Der österreichische Verfassungsgerichtshof hatte sich vor ungefähr eineinhalb Jahren mit der Frage der Zugehörigkeit zur beruflichen gesetzlichen Interessenvertretung von mittätigen Familienangehörigen von Landwirten zu befassen gehabt; also etwa mit der Frage, zu welcher gesetzlichen Interessenvertretung die Bäuerin, die im Betrieb mitarbeitet, gehört. In einem österreichischen Bundesland waren zwei gesetzliche Regelungen vorhanden: nach der einen war sie bei der Landarbeiterkammer als Arbeitnehmerin, nach dem anderen Gesetz im selben Land als Bäuerin bei den selbständigen Landwirten (in der Landwirtschaftskammer) vertreten. Und dazu hat der Gerichtshof gesagt, also bitte das ist mit dem verfassungsrechtlichen Rahmen — Gleichheitsgrundsatz — nicht vereinbar, daß sie in beiden gegenbeteiligten Selbstverwaltungskörpern, die womöglich miteinander Tarifverträge abschließen, gleichzeitig vertreten ist. Er hat aber dann bewußt gesagt: wohin der Gesetzgeber sie zuordnet, das lasse ich offen, darüber habe ich nicht zu entscheiden; da spricht das eine für die Zugehörigkeit zur Landwirtschaftskammer, das andere für die Zugehörigkeit

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zur Landarbeiterkammer; nur beides zusammen geht nicht. Das ist in etwa das, was ich mir als Mittellösung vorstelle. Häberle: Verehrter Herr Vorsitzender, meine Kollegen. Auf dem Hintergrund der drei Referate möchte ich zu drei Punkten sprechen: 1. zum Zusammenhang von Verfassungsverständnis und Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. dem Gebot des richterlichen Durchgriffs auf Gerechtigkeitswertungen i. S. von Herrn Müller; 2. zur Notwendigkeit, in Deutschland von vornherein bei der Frage nach Aufgabe und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit Theorie und Praxis der Sondervoten als Alternativjudikatur einzubeziehen; 3. zur Auslegung von § 31 BVerfGG, Stichwort: Kritik an der exzessiven Bindungsideologie des BVerfG; der These 14 von Herrn Schiaich stimme ich voll zu, während ich sonst manches zu kritisieren hätte, ich will mich aber nicht in einen „schwäbischen Hausstreit" verwickeln. Zum ersten Punkt: Verfassungsverständnis und Verfassungsgerichtsbarkeit gehören zusammen: Herr Korinek hat mit Recht sein Staats- und Verfassungsverständnis offengelegt. Ein echter Gewinn ist die These II 1 von Herrn Müller, insofern er an Hand der Schweizer Praxis belegt, daß und wie die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit durchaus politisch und schöpferisch in der „Sicherung der Essentialien einer demokratischen, rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Ordnung" nach mehr oder weniger selbstgeschaffenen Maßstäben liegt. Das ist spezifisch verfassungsrechtlich und -gerichtlich und vermittelt Kompetenz. Damit sind wir f ü r die Verfassungsinterpretation über die Ideologie von der bloßen Auslegung eines vorgegebenen Textes oder gar einer „Kodifikation" hinausgekommen, wie dies über die Gründerjahre hinaus unser BVerfG noch heute bestätigt. Nicht minder bedeutsam finde ich, daß Sie die Gerechtigkeitsfrage an Hand der Entwicklung der Rechtsprechung Ihres Bundesgerichts zu den Grundrechten angeschnitten haben, ebenso entschlossen wie behutsam (These 2.2.1). Das t r i f f t sich mit der jüngst untersuchten Rolle der Gerechtigkeit als Topos in der J u d i k a t u r des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Darum eine kritische Frage an Herrn Schiaich: Kann man wirklich wie Sie davon ausgehen, die Verfassungsgerichtsbarkeit sei so wenig von ihrem spezifischen, auch politischen Gegenstand her geprägt? — Zum zweiten Punkt: Wenn wir über bundesdeutsche Verfassungsgerichtsbarkeit sprechen, müssen wir von vornherein die teils gute, teils kritisch zu würdigende Tradition von Sondervoten einbeziehen, obwohl

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ihre Möglichkeit nicht im GG, sondern im BVerfGG eingerichtet ist. Zu fragen ist nach ihrem Input und Output, nach ihren — jungen — Traditionen und Techniken, ihrer Bedeutung f ü r die Politik und Rechtskultur im ganzen, auch danach, wie sie im Laufe der Zeit auf den Rechtsfindungs- und -fortbildungsprozeß innerhalb des Gerichtes einwirken: Sondervoten, etwa von Frau Rupp-von Brünneck, beginnen ja bereits den Gesamtsenat bzw. die Mehrheit zu beeinflussen. Es gibt Beispiele f ü r „Rechtsgespräche" zwischen Senatsmehrheiten und älteren Sondervoten. In der Zeitdimension kommt es hier zu Wachstums- und Reifeprozessen der Verfassungsgerichtsbarkeit im ganzen dank innerer Funktionsteilung zwischen Senatsmehrheit und -minderheit. Drittens: ich teile Herrn Schiaichs Ablehnung der Auslegung des § 31 BVerfGG durch das Gericht und kritisiere dessen dahinter stehendes Selbstverständnis. Wenn wir von der Offenheit der Verfassung ausgehen, muß dies auch hier Konsequenzen haben: im Sinne einer Beschränkung der Bindungskraft der Entscheidungen des Gerichts. Die schwer interpretierbaren „tragenden Gründe" binden nicht! Das Gericht sollte nicht über eine extensive Bindungsideologie den Innovationsprozessen von Untergerichten, aber auch der Wissenschaft und dem politischen Prozeß vorschnell „das Maul stopfen" wollen, es sollte mehr auf seine Überzeugungskraft und Erziehungsleistung vertrauen als gebieten und verbieten. Badura: Herr Vorsitzender, meine Herren! Es ist interessant, daß wir drei Verfassungsgerichtsbarkeiten vergleichen können, die ja zumindest auf zwei unterschiedlichen Prämissen und Konstruktionen beruhen. Denn in der Schweiz haben wir nicht ein selbständiges richterliches Prüfungsrecht, sondern das Prüfungsrecht ist eingebettet in die allgemeine Gerichtsbarkeit. Diese Möglichkeit des Rechts- und Verfassungsvergleichs möchte ich zu der Frage an die Referenten benutzen, ob sie nicht meinen würden, daß es f ü r den Stil und vielleicht auch f ü r die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Bedeutung haben könnte, ob man wie bei uns und in Österreich über ein selbständiges Verfassungsgericht verfügt oder nicht. Herr Schiaich hat in vielem, die — wie ich meine — geltende Rechtsvorstellung und Rechtspraxis angegriffen. Er hat sie zu meinem Bedauern in einem Punkt nicht angegriffen, nämlich in der Terminologie der „Fachgerichte", die er vom

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Bundesverfassungsgericht übernimmt. Ich finde diese Ausdrucksweise eigenartig, weil sie eine Deklassierung der eigentlichen Gerichte bedeutet. Gerade wenn man davon ausgeht, daß das Bundesverfassungsgericht ein Teil der Gerichtsbarkeit ist, was Sie ja ganz prononciert und wie ich glaube, zum Teil über das geltende Recht hinweg angenommen haben, ist es umso weniger begreiflich, sich dieser Ausdrucksweise ebenfalls zu bedienen. Ich stimme jedenfalls in der Grundtendenz völlig dem zu, die Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der rechtsprechenden Gewalt anzusehen und nicht als irgendeine Form der Gesetzgebung. Beides muß klar getrennt werden, — nur der Satz, der offenbar Ihr Lieblingssatz ist, die These sieben: Auch die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im parlamentarischen und im gerichtlichen Verfahren ist nicht in jeder Hinsicht identisch, ist ziemlich unklar. Er ähnelt so manchen Sätzen in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Wahrscheinlich liegt aber dem doch nur einfach die Ansicht zugrunde, daß eben die funktionellen und strukturellen Voraussetzungen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung verschieden sind. Nur haben Sie gesagt: „nicht in jeder Hinsicht identisch". Ich glaube sogar, daß sie vollkommen verschieden sind, weil der Gesetzgeber aufgrund eines politischen Mandates handelt und gewissermaßen die politische Souveränität in der Verfassung verkörpert, was man für das Verfassungsgericht niemals sagen kann. Die Unterschiedlichkeit der beiden Funktionen — das Thema war ja so gestellt — würde ich in diesem Hauptpunkte zu sehen glauben: Daß die Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der Gerichtsbarkeit niemals das politische Mandat in Anspruch nehmen kann, das der Gesetzgeber in einer Republik, wo es ja keine Krone gibt, in Anspruch nehmen muß. Aus diesem Punkte würde ich auch die Unterschiedlichkeit in den Kontrollmöglichkeiten usw. erklären, vor allem eben, daß die Gerichtsbarkeit immer nur Kontrolle sein kann. Kontrolle heißt immer: Kontrolle nach Maßstäben, seien es geschriebene, seien es ungeschriebene, selbst erfundene, selbst konstruierte — aber immer ist es Kontrolle nach Maßstäben. Herr Korinek ist vielleicht in dem Punkt weiter gegangen. Ich möchte die These, die Herr Korinek ganz am Schluß verwendet hat, unter Nummer 10, angreifen. Sie haben etwas normlogisch argumentierend gesagt, ja wenn das Verfassungsgericht die Verfassung anwendet, dann muß es doch eigentlich auch höher stehen als der Gesetzgeber. Gewisserma-

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ßen ist das Verfassungsgericht die sprechende Verfassung und — wie man immer so abschätzig und auch, wie ich glaube, unrichtig sagt — der „einfache" Gesetzgeber, also eben der Gesetzgeber, das Parlament, die Volksvertretung, die politische Gewalt ist es offenbar nicht. Warum soll eigentlich aus einem solch' normlogischen Argument irgendetwas abgeleitet werden können, die Verfassung bindet ohnehin alle. Und warum soll das Verfassungsgericht aus seiner Position als ein die Verfassung artikulierendes Organ allein etwas mehr gewinnen. Ich würde allerdings, wie ich ja schon sagte, nicht die völlige Einschmelzung in die Gerichtsbarkeit — soweit wie Herr Schiaich — annehmen, sondern mir auch der politischen Wirkung und Konsequenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bewußt sein. Wenn wir — und im Gesetz steht es ja übrigens auch, Herr Schiaich — von „Verfassungsorgan" reden, dann ist damit doch wohl nur gemeint, daß das Bundesverfassungsgericht eine bestimmte, von der normalen Gerichtsbarkeit abweichende politische Position einnimmt, durch seine Stellung und durch die Reichweite seiner Entscheidung. Schiaich: Herr Badura, ich habe lange nach einer anderen Bezeichnung für die vom Bundesverfassungsgericht so genannte „Fachgerichtsbarkeit" gesucht. Ich habe aber kein anderes zugkräftiges Pendant zur „Verfassungsgerichtsbarkeit" gefunden und deshalb auf die Mißlichkeit der Terminologie gar nicht hingewiesen. Ich stimme Ihnen darin zu. Ich habe mich gegen die Vorstellung gewendet, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe werde fortgesetzt, was in Parlament und Regierung in Bonn begonnen wurde. Bezüglich der Unterschiedlichkeit auch der Verfassungsmäßigkeitsprüfungen habe ich vorsichtig formuliert, um mich nicht dem Vorwurf, das Parlament zur Rechtsbeugung zu ermächtigen, auszusetzen. Ich habe auf die Verschiedenheit des Gegenstands hingewiesen: das werdende Gesetz und das beschlossene Gesetz. Ich habe noch offengelassen, ob sich aus der Verschiedenheit dieser Situationen vielleicht auch etwas im Bereich des Prüfungsmaßstabs verändert. Der Gesetzgeber trägt mit seinem Gesetz in Grenzen ja auch zur Fortentwicklung der Verfassung bei. Zum Stich wort „Verfassungsorgan" nochmals ein Wort, auch weil ich hoffe, daß es noch in der Diskussion bleibt. Mich interessiert nicht § 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes als eines einfachen Gesetzes, mich interessiert nicht

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der aus der Verfassungsorganqualität abgeleitete Rang des Bundesverfassungsgerichts und seine Stellung im Verkehr mit den anderen Verfassungsorganen — ich habe keinerlei Einwendungen und Bedenken gegen die erreichte Stellung des Gerichts, im Gegenteil, dieser besondere Rang stärkt das Ansehen und die Autorität des Gerichts bzw. seiner Rechtsprechung —, mich interessiert das Argument einer unmittelbar aus der Verfassung abzuleitenden Verfassungsorganqualität des Gerichts, das das Gericht im Bereich der „Staatsleit u n g " dem Bundespräsidenten, Bundestag, der Bundesregierung und dem Bundesrat „koordiniert", zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und übriger Gerichtsbarkeit einen tiefen Graben aufreißt und aus dem Titel „Verfassungsorgan" Konsequenzen f ü r die Funktionen des Gerichts ableitet. Lerche: Ich hätte zunächst eine Frage an Herrn Schiaich und zugleich eine in der Prolongierung an meinen verehrten Kollegen Badura. Vielleicht darf ich die letztere vorwegnehmen. Er sagt, eines steht jedenfalls fest, Maßstäbe brauche das Gericht immer. Das k n ü p f t wohl ein wenig auch an die Problematik der Teilung der Diskussion an. Ich erinnere an das, was Herr Korinek — ich glaube in der These 7 — gesagt hat, ausschließlich sei die Regelungsdichte Maßstab. Das Wort „ausschließlich" klingt ja fast ein bißchen unösterreichisch, und es kann daher auch nicht stimmen (Heiterkeit). Ich könnte mir vorstellen, daß eine nähere Sachverhaltstypologie jener Situationen, in die das Gericht hineingeraten k a n n und schon hineingeraten ist, wo es sozusagen bewußt ohne Maßstäbe operiert hat, doch den tatsächlichen Hintergrund aufhellen könnte. Ich würde nicht meinen, daß jetzt schon ein Urteil abzugeben ist, ob das falsch oder richtig ist, daß es aber vielleicht eine verdienstvolle Aufgabe wäre, dies einmal vom Tatsächlichen her zu sehen. Etwa die Fälle, in denen sozusagen Not am Mann ist; wo das Gericht etwas sagen muß, weil niemand anderer im Staat es sagen kann oder nicht sagt. Oder dort, wo das Gericht versuchen muß, Konsensformen, die sich dann in der weiteren Politik ergeben, vorzubereiten. Das würde wahrscheinlich auf den Vorwurf von Herrn Schiaich treffen, das Gericht lasse sich da nicht in ein arbeitsteiliges Gesamtsystem einbetten. Ich stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie unter arbeitsteilig schöne parallele Vorgänge verstehen. Wenn man aber darin die Konkurrenz sieht, das Gegeneinander und das Einspringen-müssen im Interesse des Allgemeinwohls, weil niemand anderer da ist, der etwas sagt, so würde ich das doch vielleicht mit eher posi-

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tivem Beigeschmack sehen. Auch gibt es wohl eine große Zahl anderer Möglichkeiten, bei denen ζ. B. die Verfassung bewußt unklar ist; man denke etwa an die Entwicklung der Wesentlichkeitstheorie, bei der es gar nicht anders geht als durch fallbezogene, einzelfallbezogene Rechtsprechung, um hier zu einer gewissen Klärung ohne dezidierte Maßstäbe zu kommen. Aber meine Zeit ist abgeschlossen, sonst hätte ich gern noch zu dieser Einzelfallbezogenheit, die bei Herrn Schiaich etwas anspruchsvoller berührt wird, etwas gesagt, aber das hat später auch noch Zeit. Stern: Nur ein Wort zur Verfassungsorgandiskussion, weil sie jetzt in den Mittelpunkt gerückt ist. Herr Schiaich, Sie haben natürlich recht, der § 1 BVerfGG allein würde uns nicht dazu zwingen, dem Gericht die Qualität, eines Verfassungsorgans zuzumessen. Aber die Qualität, Verfassungsorgan zu sein, ergibt sich ja bereits aus der Verfassung selbst. Denn alle Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts sind im Grundgesetz, in der Verfassung, festgelegt, und das Gericht nimmt k r a f t dieser Kompetenzen an der Staatswillensbildung in entscheidender Art und Weise teil. Der Begriff ist, um ihn entstehungsgeschichtlich zu charakterisieren, auch in der italienischen Verfassung, die vor dem Grundgesetz erlassen wurde, mit einem eigenen Abschnitt über das Verfassungsorgan Verfassungsgerichtshof angelegt. Die Verselbständigung der Stellung und der Kompetenzen in einem Abschnitt spielte dann auch in der deutschen Diskussion eine Rolle. Es ist nur Umständen der Entstehungsgeschichte zu verdanken, die wir nicht mehr ganz aufklären können, wenn das Bundesverfassungsgericht keinen eigenen Abschnitt neben den anderen Verfassungsorganen im Grundgesetz bekommen hat. Insofern meine ich, ist die Verfassungsorganqualität schon eine ganz wesentliche aus der Verfassung gewonnene Aussage f ü r den Status des Gerichts. Schiaich: Die ersten Sätze meines Referats sollten zeigen, daß es kein Zufall ist, daß dem Bundesverfassungsgericht ein eigener Abschnitt im Grundgesetz nicht zugewiesen ist. Aus dieser Beobachtung folgt f ü r heute nicht viel, aber historisch gesehen ist es kein Zufall. Die Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts von 1952 und seine Rechtsprechung haben den prinzipiellen Unterschied zwischen Bundesverfassungsgericht und übriger Gerichtsbarkeit herausgearbeitet; er wurde im Parlamentarischen Rat diskutiert, aber so in das Grundgesetz ausdrücklich nicht hineingeschrieben. Im übri-

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gen scheinen mir aber auch die geläufigen dogmatischen Argumente nicht sehr aufschlußreich, ζ. B. daß die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz ausdrücklich genannt seien: Warum ist denn dann die Bundesregierung ein Verfassungsorgan, deren Kompetenzen stehen ja nicht im Grundgesetz? Und die Kompetenzen der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind — anders als beim Bundesverfassungsgericht — im Grundgesetz im Einzelnen nicht aufgeführt, weil sie damals selbstverständlich waren. Vorsitzender: Zu unmittelbaren kurzen Einwürfen nunmehr in dieser Reihenfolge, die Herren Friesenhahn, Sattler, Brohm und Meyer. Friesenhahn: Ich stimme Herrn Stern unbedingt zu. Die Frage nach der Redaktion des Verfassungstextes ist völlig überflüssig; wir haben auch Landesverfassungen, in denen der Verfassungsgerichtsbarkeit ein eigener Abschnitt eingeräumt ist. Vor allem aber möchte ich betonen, daß es nicht angeht, immer nur die Normenkontrolle ins Visier zu nehmen. Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht noch eine Fülle anderer Kompetenzen: Organstreitigkeiten, Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, zwischen Ländern usw. Nimmt man alles das zusammen, so kann es nicht darauf ankommen, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit in einen besonderen Abschnitt des Grundgesetzes verwiesen ist, sondern ob diese Funktionen, wie sie in Art. 93 GG zusammengefaßt sind, von solcher Qualität und Wichtigkeit sind, daß der Schluß gerechtfertigt ist: das Organ, das endgültig entscheidet, ob ein Gesetz verfassungsmäßig ist oder nicht, das, — wie Sie gesagt haben —, die Kontrolle des gesamten Verfassungslebens in der Hand hat, ist eben ein „Verfassungsorgan". Daran besteht f ü r mich kein Zweifel, eben aus der Funktion heraus; ob das nun im Wortlaut der Verfassung zum Ausdruck kommt oder ob ein besonderer Abschnitt gebildet worden ist, ist demgegenüber gleichgültig. Sattler: Bei der Diskussion der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan qualifiziert werden kann, muß einerseits davon ausgegangen werden, daß das Bundesverfassungsgericht nach dem Willen des Verfassunggebers ein Gericht ist. Diese Gerichtsqualität hat Herr Schiaich in seinem Bericht sehr stark hervorgehoben. Dafür ist ihm zu danken; denn die Autorität des Bundesverfassungsgerichts beruht darauf, daß es Recht spricht und nichts

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als Recht spricht. A u f der anderen Seite muß auch berücksichtigt werden, daß das Bundesverfassungsgericht als Gericht die besondere A u f g a b e hat, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen. A u f Grund der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung der Verfassung zu gewährleisten hat, die der Tätigkeit der Träger politischer G e w a l t Grenzen zieht, w i r k e n seine Entscheidungen notwendigerweise in den Bereich der politischen Willensbildung hinein. Wegen dieses Hineinwirkens seiner Entscheidungen in den politischen Bereich kann das Bundesverfassungsgericht auch als Verfassungsorgan oder oberstes Bundesorgan — das sind, glaube ich, zwei synonyme B e g r i f f e — bezeichnet werden. Brohm: Ich glaube, bei der Frage des Verfassungsorgans w i e bei vielen anderen nach dem Status des Bundesverfassungsgerichts, muß man ergänzend zu den bisherigen Ausführungen eine Funktion des Bundesverfassungsgerichts besonders hervorheben, nämlich die der A r t i k u l a t i o n und A k tualisierung der Staatsziele. Die Organisationswissenschaften haben heute wieder erneut ins Bewußtsein gerückt, daß eine Organisation — genauso w i e der einzelne Mensch — auf Dauer nicht existieren kann, wenn sie nicht einem grundlegenden Ziel, oder besser grundlegenden Zielen, verpflichtet ist. Diese Ziele sind Voraussetzung der Identitätsfindung; sie geben Ansporn und Integrationskraft. Das gilt erst recht für ein pluralistisches Gemeinwesen, auch wenn die gemeinsame Zielbasis hier reduziert ist. Die Grundwertediskussion macht dieses Bedürfnis augenscheinlich. Die grundlegenden Staatsziele werden heute wesentlich durch die Verfassung bestimmt und für die jeweilige Situation — neben anderen Verfassungsorganen — weitgehend durch das Bundesverfassungsgericht konkretisiert. Das v o r allem dadurch, daß das Gericht die Grundrechte eben nicht nur als Individualrechte, sondern auch als institutionelle Garantien versteht und sie so als Wertbasis ausschöpft. Daher ist unsere Verfassung nicht nur Rahmenordnung. Sie ist als Rahmenordnung vielleicht präziser, zumindest in Fällen extremer Grundrechtsverletzungen; sie ist aber, vielleicht in einer etwas unbestimmteren Form, gleichzeitig auch Grundordnung im Sinne einer Staatszielbestimmung. Jedenfalls wird sie so von der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, aber, wenn ich Herrn Müller richtig verstanden habe, auch in der Schweiz wahrgenommen; anders w o h l in Österreich, w o man sich mehr auf die Einzelfallentscheidung beschränkt. Wenn

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man diese Funktion des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt, dann kann dies legitimerweise mit dem Begriff des Verfassungsorgans zum Ausdruck gebracht werden. Wir haben durch diese Funktion des Gerichts eine ganz andere Legitimationsbasis f ü r den Output unseres politischen Systems. Dieser ist eben nicht nur — wie es in der Diskussion schon anklang — demokratisch, d. h. durch die demokratische Mehrheit, legitimiert, sondern auch durch diesen werthaften Grundkonsens, den das Bundesverfassungsgericht artikuliert, präzisiert und aktualisiert. Ich würde an sich gerne noch etwas zu den Wirkungen dieser Artikulationsfunktion des Bundesverfassungsgerichts sagen. Aber ich bin schon froh, überhaupt zu Wort gekommen zu sein. Vielleicht geben Sie mir später noch dazu Gelegenheit. Meyer: Ich halte die Frage nach der Qualität des Gerichts als Verfassungsorgan f ü r irrelevant (Beifall). Keiner der Teilnehmer, die darüber gesprochen haben, hat uns klar gemacht, welche Konsequenzen die Annahme hat. Das Gericht gewinnt kein Jota mehr an Kompetenz, ob man es als Verfassungsorgan bezeichnet oder nicht. Dies ist eine Frage der Einschätzung der Dignität des Gerichts, aber keine, die uns hier länger beschäftigen sollte. Zwischenruf H. P. Ipsen: Freifahrkarte der Bundesbahn! Richtig, die Freifahrkarte der Bundesbahn, die Einladung zu Staatsempfängen etc. hängen davon ab. Aber ich glaube, damit sollten wir uns nicht befassen. J. P. Müller: Noch ein Stichwort zu Herrn Brohm. Er hat festgestellt, daß in der Rechtsetzung der output eben nicht nur verfahrensmäßig (demokratisch), sondern eben auch werthaft (durch die verfassungsgerichtliche Kontrolle) legitimiert sei. Für das schweizerische System macht es im Hinblick auf den Ausschluß der Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzen nach Art. 113 Abs. 3 BV zunächst den Anschein, daß die genannte „Wertkontrolle" in der Bundesgesetzgebung fehle. Bei näherem Zusehen würde ich aber meinen, sie fehle doch nicht, weil faktisch eine präventive Verfassungskontrolle im Verfahren der Gesetzgebung stattfindet, wenn sie auch wenig institutionalisiert ist. Ich kann nicht auf Details unseres Gesetzgebungsverfahrens eingehen; der Hinweis muß genügen, daß unsere Bundesregierung bei der Vorlage eines Gesetzesentwurfs verpflichtet ist, auch zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs Stellung

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zu nehmen. Da kommen die vom Bundesgericht entwickelten Verfassungsprinzipien auch zum Tragen. Auch wir Staatsrechtler sind ja oft von vorberatenden Kommissionen des Parlaments aufgerufen, zur Verfassungskonformität gesetzgeberischer Arbeiten Stellung zu nehmen. Korinek: Zu Herrn Badura: Ich glaube, daß es nur eine terminologische Differenz und nicht mehr ist, was uns trennt. Auch Sie anerkennen, daß der Maßstab, an dem das einfache Gesetz — einfach, weil es mit einfacher Mehrheit erlassen werden kann — gemessen werden soll und gemessen werden kann, die Verfassung ist, und daß das Gesetz an nichts anderem, als an diesem Maßstab gemessen werden kann. Meine These 7 sollte vorwiegend Antwortcharakter haben, um im Verfassungsslang zu bleiben. Antwortcharakter auf folgenden Einwurf: Wie kommt es dem Verfassungsrichter zu, zu entscheiden, was verfassungsmäßig ist, wenn der demokratische Gesetzgeber, der demokratisch legitimierte, aus Wahlen hervorgegangene Gesetzgeber entschieden hat. Und da meine ich: der aus demokratischen Wahlen hervorgegangene demokratisch legitimierte Gesetzgeber hat nur insofern eine Möglichkeit, den verfassungsrechtlichen Rahmen selbst zu gestalten und zu verändern, als er über Verfassungsmehrheit verfügt; sonst ist er an die Verfassung als Maßstab gebunden. Und zu Herrn Lerche: Ich muß natürlich schon zugestehen, daß ich lange gerungen habe, um — in meiner These 7 — ein Wort wie „ausschließlich" hineinzuschreiben. Es ist auch nahezu das einzige apodiktische in den ganzen Thesen (Heiterkeit). Aber zur Sache. Ich glaube, wenn man Rechtstatsachenforschung betreiben würde, hätten Sie sicher recht, daß man auch beim österreichischen Verfassungsgerichtshof — dort nehme ich an etwas weniger als in Karlsruhe — nicht verifizieren könnte. Ich habe meine Aussage theoretisch verstanden und gemeint, es sollte ausschließlicher Maßstab sein. Und auch das habe ich nur für Österreich gesagt, und zwar deshalb, weil in Österreich das Verfassungsgericht diese enorm wichtige Kompetenz zum Aufschieben der Rechtsfolge hat. Wenn das Verfassungsgericht im Verhältnis zum Gesetzgeber die unmittelbare Rechtswirkung eines aufhebenden Erkenntnisses auf ein Jahr hinausschieben kann, dann kann es viel leichter sagen: jetzt beschäftige ich mich ausschließlich mit dem Kontrollmaßstab. Denn wenn durch diese Aufhebung etwas passiert, passiert es ja nicht gleich; ein Jahr lang hat dann eben der Gesetzgeber die Möglichkeit, es zu reparieren. So war das „ausschließlich" gemeint.

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Zacher: Trotz der glänzenden Referate von heute vormittag und trotz auch der glänzenden Regie des Vorstandes ist bei mir eine gewisse Enttäuschung darüber zurückgeblieben, daß die rechtsvergleichende Methodik, die hinter den Referaten hätte stehen können, nicht transparenter geworden ist. Nach dem Vormittag — um ein heute schon mehrfach zitiertes Wort noch einmal zu variieren — konnte man das Gefühl haben, Deutschland, Österreich und die Schweiz hätten eines gemeinsam: einen Typ von Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Jedenfalls im Verhältnis zur Schweiz sind die Unterschiede doch sehr groß. Nun: Rechtsvergleichung heißt zunächst einmal, das gemeinsame vorrechtliche Problem, das überhaupt das tertium comparationis darstellt, auffinden, formulieren, sichtbar machen und dann die Lösungen vergleichen, die f ü r dieses gemeinsame Problem in verschiedenen Ländern gefunden worden sind. Ich möchte in diesem Sinne f ü r die Verfassungsgerichtsbarkeit anregen, die von Herrn Korinek mit verdientem Dank zitierte Stern'sche „Hexanomie" der Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts noch einmal zu vereinfachen und auf zwei Elemente zurückzuführen. Diese beiden Elemente wären: Verfassungsgerichtsbarkeit als „Zwischengewalt" und Verfassungsgerichtsbarkeit als „Übergew a l t " . Erstens also: Verfassungsgerichtsbarkeit als „Zwischengewalt" ist die Instanz, die notwendig ist, um Streitigkeiten zwischen höchsten Subjekten der Staatsgewalt, die sonst niemand mehr über sich haben — wie Bund und Länder oder Verfassungsorgane — zu klären, zu schlichten und in dieser Ebene Rechtsfrieden zu schaffen. In diesem Bereich ist die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit primär und ist das Verfassungsrecht erst eine Nachfrage, die sich aus der Existenz der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit ergibt. Diese Verfassungsgerichtsbarkeit als „Zwischengew a l t " finden wir in erster Linie in der Bundesrepublik Deutschland. (Herr Friesenhahn hat, glaube ich, vorhin gerade darauf hingewiesen.) Wir finden sie, wenn ich recht sehe, schwächer in Österreich, und wir finden sie noch wesentlich schwächer in der Schweiz. Zweitens dann: Verfassungsgerichtsbarkeit als „Übergewalt". Sie dient der Kontrolle: der Kontrolle von Rechtsprechung, Gesetzgebung usw. Und hier, glaube ich, gibt es zwei verschiedene Zugänge zum Verständnis dieser „Übergewalt". Der eine Zugang ist der, daß das politische System, das demokratische politische System, zu einfach erscheint, so daß es nach einer Komplikation verlangt, nach einem differenzierten, abgestuften Entschei-

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dungsprozeß — hinter den „Gewalten" also nach einer „Übergewalt". Für diesen Zweck von „Übergewalt" sind die Verfassung und die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit gleichermaßen wichtig. Auch insofern sind die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Österreich groß, während die Schweiz diese „Übergewalt" nur sehr fragmentarisch — vor allem nicht gegenüber der Bundesgesetzgebung — akzeptiert. Der zweite Zugang zu dieser „Übergewalt" scheint mir zu sein, daß eine Verfassung da ist und diese Verfassung durchgesetzt werden will. Wie es — glaube ich — Herr Müller formuliert hat, ist in der Tat das die Gemeinsamkeit, die alle drei Länder verbindet. Hier geht es vor allem um die Grundrechtsverwirklichung. Wenn die Schweizerische Verfassung zu diesem Zweck vom Verfassungsgericht erst komplementiert werden muß, so ist das wohl vor allem eine Frage des Alters dieser Verfassung. Aber das Prinzip, daß Grundrechte da sind und durchgesetzt sein wollen, gibt es auch in der Schweiz. Hier also ist die Verfassung primär, die Institution sekundär. Dies zusammen könnte m. E. ein minimaler Raster sein, um die Verfassungsgerichtsbarkeit der drei Länder methodisch rechtsvergleichend zu untersuchen. Darf ich noch ganz kurz zu einem anderen Punkt Stellung nehmen? Ich habe bedauert, daß die Staatsfunktionen rein im Sinne der Gewaltenteilung verstanden wurden und daß man sich ganz auf die „blanken" Funktionen von Gesetzgebung und Verwaltung konzentriert hat. Ich glaube, daß die Grenzfelder ein mindestens so bedeutsames problemträchtiges und entscheidungsträchtiges Thema sind. Ich darf nur erinnern an die Grenze zur auswärtigen Gewalt und — für die Bundesrepublik — zur Delegation auf die Europäischen Gemeinschaften hin. Ein anderes Grenzfeld liegt zwischen der Gesetzgebung und der Verwaltung: Wie ist es mit der Gesetzgebung, die formverfremdet hineinwandert in Verwaltungsvorschriften und zu der dann das Bundesverfassungsgericht — wenn ich recht sehe — keinen kontrollierenden Zugriff findet? Überschneidungsfelder sehen wir auch im Bereich der Planung und im Bereich der Verteilung standortgebundener Lebensqualität. Wir wissen nicht: ist hier die Gesetzgebung noch richtig, ist die Einzelfallentscheidung noch richtig? Dieses Nichtwissen führt zu einer Unsicherheit, ja zu einem „Zittern" des Systems, das bis in das Verfassungsgericht hinein spürbar ist.

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Grenzprobleme sehe ich auch im Verfahren selbst. Herr Korinek, da greife ich Sie zwar an, aber, weil Sie ein Österreicher sind und ich ein Bayer bin, doch nur ein bißchen von der Seite. Sie sagen, es sei eine tröstliche Sache, daß das Verfassungsgericht auch die Normenkontrolle als Einzelfall entscheidet. Ich behaupte demgegenüber, eine Einzelfallentscheidung gibt es bei der Normenkontrolle in der Sache überhaupt nicht; und das Verfahren ist daher völlig inadäquat. Nun noch ein letztes Wort. Natürlich hätte ich es viel lieber gesehen, wenn man Staatsfunktionen a priori nicht im Sinne der Gewaltenteilung verstanden hätte, sondern materiell — wie das Herr Schneider schon angesprochen hat. Ich meine etwa die Verteilungsfunktion, welche die Verfassungsgerichte zunehmend beschäftigt. Ich meine auch, was uns vielleicht bevorsteht: die Verteilung des Mangels. Vorsitzender: Vielen Dank Herr Zacher. Wir hören von Ihnen immer, was die Referenten noch hätten bringen sollen. Ich würde trotz der Überzeugungskraft Ihrer Ausführungen vorschlagen, daß die weitere Diskussion sich vielleicht doch mehr mit dem beschäftigen sollte, was die Referenten behandelt haben, denn sie mußten sich notwendig beschränken. J. P. Müller: Darf ich anschließend an Herrn Zacher gleich auch zum Votum von Herrn Badura Stellung nehmen. Herr Badura, Sie haben die Frage gestellt: Ist es sinnvoll, ein Verfassungsgericht aus der übrigen Gerichtsbarkeit auszugliedern? Ich glaube, das hängt mit der von Herrn Zacher aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zu den materiellen Staatsfunktionen zusammen. Die erste Kammer unseres Bundesgerichts ist ja in zwei öffentlich-rechtliche Abteilungen gegliedert, die beide zugleich Verfassungsrechtsprechung und Verwaltungsrechtspflege wahrnehmen. Ich glaube, es ist eine Befruchtung gerade für die Verwaltungsrechtsprechung und die von ihr behandelten Bereiche, daß durch die institutionelle und personelle Verknüpfung eine besondere Chance besteht, daß die Verfassung mit ihren Gehalten über die Gerichtsbarkeit in die Staatsfunktionen im materiellen Sinn unmittelbar hineinwirkt. Auch im Rahmen der Vorarbeiten für eine Totalrevision unserer Bundesverfassung haben die Untersuchungen und Diskussionen eindeutig zum Ergebnis geführt, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene zwar auszubauen,

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aber nicht einem besondern, von der übrigen Gerichtsbarkeit ausgegliederten Verfassungsgericht zu übertragen, sondern entsprechend dem heutigen schweizerischen (und amerikanischen) System dem Bundesgericht zugeteilt bleiben soll. Kisker: H e r r Schiaich hat Thesen geliefert. Ich glaube, wir sollten darauf s t ä r k e r eingehen. — Hier möchte ich mich zu IIa 1 seiner These äußern: Der Gesetzgeber, sagt H e r r Schiaich, schulde nicht eine optimale Methodik der Gesetzgebung und nicht eine n a c h p r ü f b a r e Rationalität des Prozesses der Entscheidungsfindung. — Sehr hart und k l a r formuliert. Aber geht das nicht doch vielleicht ein wenig zu weit. Die Tendenz, auch nach dem Verhalten des Gesetzgebers im Prozeß der Entscheidungsfindung zu fragen, erklärt sich doch u n t e r a n d e r e m aus dem Wunsch, d a f ü r bei der Ü b e r p r ü f u n g seiner Entscheidung an H a n d vager materieller Kriterien (Verhältnismäßigkeit, Willkürverbot etc.) zurückstecken zu können: Ich meine, es ist berechtigt, in jenen Fällen, wo beträchtliche Gestaltungsspielräume auszufüllen sind, darauf zu bestehen, daß die Diskussion im Vorfeld der Gesetzgeb u n g und im Gesetzgebungsverfahren möglichst umfassend geführt wird, daß alle Möglichkeiten rationaler Entscheidungsfindung ausgeschöpft werden. — F ü h r t diese Forderung dann im Ergebnis wirklich zur Zurückhaltung des Gerichts bei der Verwendung der eben e r w ä h n t e n f r a g w ü r d i g e n materiellen P r ü f u n g s m a ß s t ä b e , so k a n n m a n das n u r begrüßen. Es scheint m i r auch letztlich der Absicht von Herrn Schiaich zu entsprechen, Grenzüberschreitungen des Gerichts in den Bereich der Politik möglichst zu unterbinden. Böckenförde: H e r r Schiaich. Sie haben mich in der These 13 besonders angesprochen, und ich möchte hier die Auffassung, daß das, was das Verfassungsgericht tut, authentische Verfassungsinterpretation ist, gegenüber Ihren E i n w ä n d e n verteidigen. Wir werden schnell d a r ü b e r einig sein, daß das Verfassungsgericht die Verfassung auslegt, w e n n es die i h m vorgelegten Fälle entscheidet. Und da auch nach Ihrer Auffassung das Verfassungsgericht oberste Instanz ist, h a t es imm e r wieder die Aufgabe und auch die Kompetenz, über die I n t e r p r e t a t i o n der Verfassung als diejenige Instanz zu entscheiden, die im politischen System d a r ü b e r das letzte Wort h a t . U n d w e n n der Gesetzgeber sich als verfassungsändernder Gesetzgeber betätigt, dann entscheidet das Verfassungsgericht auch darüber, ob die Grenzen der Verfassungsänderung, die w i r nach dem Grundgesetz kennen, eingehalten

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sind oder nicht, und auch darüber entscheidet es letztinstanzlich. Ich stimme Ihnen zu, daß man die Regelungen des Grundgesetzes so interpretieren kann, wie Sie es im Leitsatz 1 gesagt haben: die Verfassung ist Gesetz geworden. Aber da liegt dann doch unser Problem. Denn das Gesetz, das durch den Richter auf streitige Fälle angewandt werden kann, wobei es auch am Rande fortgebildet wird — das ist ja inzwischen unbestritten, dieses Gesetz setzt ein bestimmtes Maß an Inhaltsgewißheit, an normativer Festgelegtheit voraus, das diese Anwendung mit sekundärer Fortbildung erst ermöglicht. In der Verfassung finden sich aber viele Normen, die nur Prinzipiencharakter haben, die bruchstückhaft sind, bei denen eine Interpretation in dem landläufigen Sinn auf große Schwierigkeiten stößt. Deshalb wird die Art von Interpretation, die das Bundesverfassungsgericht betreibt, immer wieder als Konkretisierung beschrieben. Konkretisierung ist aber ein Vorgang, bei dem nicht nur abgeleitet, sondern dem ursprünglich Gegebenen etwas — volitiv — hinzugefügt wird. Und das Ergebnis der Konkretisierung muß als bereits vorhandener Inhalt der Verfassung ausgegeben werden, der am Verfassungsrang teilhat, denn das Verfassungsgericht darf ein Gesetz ja nur am Maßstab der Verfassung überprüfen. Hätte die Konkretisierung nur gleichen Rang wie das Gesetz, wie könnte dann das Gesetz etwa aufgehoben, für nichtig erklärt werden? Insofern ist es in der Tat authentische Verfassungsinterpretation, die das BVerfG betreibt. Nun zur zweiten Frage: Wenn das Verfassungsgericht authentische Verfassungsinterpretation betreibt, ist dies dann Rechtsprechung wie Rechtsprechung sonst, oder nimmt das BVerfG teil an der Verfassungsgesetzgebung? Auch Herr Scheuner hat ja meine Formulierung, die, wie ich glaube, sehr vorsichtig war, daß das BVerfG authentische Verfassungsinterpretation betreibe und damit Verfassungsgesetzgebung, kritisiert und zurückgewiesen. Aber die Frage ist doch, ob dieses Moment der authentischen Interpretation, das ja bis ins 19. Jahrhundert immer als Teil der gesetzgebenden Gewalt begriffen worden ist, nun einfach eliminiert werden kann. Es ist damit ja nicht gemeint, daß das Verfassungsgericht, wenn es durch authentische Interpretation Verfassungsgesetzgebung, Verfassungsfortbildung betreibt, etwa die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hätte. Nein! Diese Funktion, die es der Sache nach wahrnimmt, ist für es gerade an Richterlichkeit, an Gerichtsförmigkeit ge-

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bunden und dadurch nicht als politisches Vetorecht ausgestaltet. Schiaich: Carl Schmitt — ich wiederhole das nur aus meinem Referat — hat seine Argumentation — Normenkontrollentscheidung sei authentische Interpretation, diese sei Verfassungsgesetzgebung — aufgezogen, um die Möglichkeit einer zentralisierten Normenkontrolle durch Verfassungsgerichte — im Gegensatz zur diffusen, inzidenten Normkontrolle durch die einfachen Gerichte — prinzipiell abzulehnen. Zweitens. . . Böckenförde: Ich wollte das auch sagen, habe es aber vergessen. Das war ja in Weimar eine verfassungspolitische Diskussion. Ob man eine Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Sinne einführen solle oder nicht, jenseits der Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofes. Diese Frage hat der Parlamentarische Rat nun für das Grundgesetz entschieden, daß so etwas sein soll. Aber dadurch verändert die Sache doch nicht ihren Charakter. Deshalb fühle ich mich auch gar nicht getroffen. In der Tat, Carl Schmitt hat deswegen eine zentralisierte Normenkontrolle durch ein Verfassungsgericht abgelehnt, er hat gesagt, so etwas muß eine politische Instanz machen, für ihn der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. Der Parlamentarische Rat hat gesagt, nein, für diese Aufgabe schaffen wir ein Gericht, das Bundesverfassungsgericht. Damit hat es jetzt diese Aufgabe. Schiaich: In der sächsischen Verfassung von 1831 steht die authentische Interpretation der Verfassung durch einen Staatsgerichtshof in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfassungsänderung. Sie sagen, seinen Konkretisierungen im Bereich der Verfassung müsse das Verfassungsgericht doch Verfassungsrang zuschreiben. Muß man hier nicht unterscheiden?: Richterrecht des Bundesverfassungsgerichts geschieht auf der Ebene der Verfassung, aber es hat nicht wie die Verfassung Verfassungsrang. Böckenförde: Entschuldigung, aber das geht doch gar nicht anders! Ich kann doch nur unter Berufung auf die Verfassung und deren Inhalt etwas für ungültig, weil verfassungswidrig,

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erklären. Da müssen doch gerade die Konkretisierungen in die Rangebene der Verfassung gehoben werden. Bachof: Herr Böckenförde, einverstanden. Nur, was Sie ausgeführt haben, gilt nicht nur f ü r die Verfassungsgerichtsbarkeit; es gilt f ü r die gesamte Gerichtsbarkeit. Überall haben wir es heute mit vagen und unbestimmten Begriffen zu tun, die wir konkretisieren müssen. Jede Konkretisierung tut aber etwas hinzu. Ein bisher vager Begriff, der konkretisiert wird, ist nicht mehr derselbe. Das ist Rechtschöpfung und meinetwegen Gesetzgebung. Aber was tun denn die Verwaltungsgerichte, wenn sie ζ. B. mit dem Mittel verfassungskonformer Norminterpretation argumentieren? Sie tun genau dasselbe; der Unterschied ist nur der, daß die Verfassungsrichter, weil sie häufiger mit der Verfassung zu tun haben und weil die Verfassung nun einmal das Regelungswerk mit der geringsten Regelungsdichte ist, auch häufiger vor die Aufgabe der Konkretisierung gestellt werden. Methodisch ist es völlig dasselbe, was die Verfassungsgerichte, was die Verwaltungsgerichte, was die ordentlichen Gerichte und überhaupt alle Gerichte tun. Quaritsch: Das ist methodisch richtig, Herr Bachof, in der Sache aber falsch. Die Erkenntnisse des Bundesverfassungsgerichts binden gemäß § 31 alle anderen Gerichte, den Verfassungsinterpretationen dieser anderen Gerichte geht solche Verbindlichkeit ab. Bachof: Unmittelbar dazu: Die meisten derjenigen Entscheidungen, in denen ein anderes Gericht mit einer verfassungskonformen Interpretation argumentiert, gelangen überhaupt nicht vor ein Verfassungsgericht; in der Praxis geschieht das jedenfalls sehr selten. Geschieht es nicht, so hat jenes Gericht genauso das „letzte Wort" gesprochen, als wenn ein Verfassungsgericht gesprochen hätte. Ich bin seit 22 Jahren (Landes-)Verfassungsrichter und seit 35 Jahren in der Verwaltungsgerichtsbarkeit tätig. Ich konnte beim Vergleich feststellen, daß der Unterschied bezüglich der Konkretisierung nur sehr gering ist. Grimm: Es ist gewiß richtig, daß auf allen Stufen der Gerichtsbarkeit Konkretisierungen stattfinden, dem Gesetz also etwas hinzugefügt wird. Der fundamentale Unterschied scheint mir aber darin zu bestehen, daß die Konkretisierungsleistungen der einfachen Gerichte durch den demokratisch gewählten Gesetzgeber korrigierbar sind, die Konkreti-

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sierungsleistungen der Verfassungsgerichte dagegen nur durch den Verfassungsgesetzgeber, der an erheblich höhere Schwellen gebunden ist. — Das war aber nicht mein eigentlicher Beitrag. Böckenförde: Diese Antwort, die ich auch geben wollte, brauche ich nicht zu wiederholen. Aber jetzt noch ein Zusatzargument dazu, daß eben deswegen das Verfassungsgericht auch dem Gesetzgeber auf gleicher Ebene gegenübersteht, während die normalen Gerichte — womit ich nicht Fachgerichte sage — dem Gesetzgeber untergeordnet sind; wenn sie bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu einem negativen Urteil kommen, müssen sie die Frage an das Bundesverfassungsgericht vorlegen, können nicht selbst entscheiden. Insofern möchte ich auch daran festhalten — vielleicht ist es ein Mißverständnis, Herr Schiaich —, daß das Bundesverfassungsgericht, wenn es Gesetze oder andere Akte auf die Verfassungsmäßigkeit prüft, dabei nicht an die Gesetze gebunden ist, sondern eben nur an die Verfassung (und an sein eigenes Verfassungsgerichtsgesetz). Schiaich: Nach Art. 100 GG hat jedes Gericht in substantiell mit dem Bundesverfassungsgericht gleichwertiger Weise über die Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zu entscheiden. Es hat nicht lediglich Zweifel zu äußern. Herr Lerche hat in dem Kolloquium zum 70. Geburtstag von Hans Spanner darauf hingewiesen, jedes Gericht habe anläßlich der Normenkontrolle die Aufgabe beispielsweise der Tatsachenerhellung in demselben Maße wie das Bundesverfassungsgericht! Entscheidet sich das einfache Gericht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, so verweigert es dem Gesetz die Anwendung und legt dem Bundesverfassungsgericht vor. Diesem ist die zentrale, allseitig verbindliche Entscheidung vorbehalten. Ich verweise dazu auf den Artikel von Herrn Bettermann in der Festgabe für das Bundesverfassungsgericht. Art. 100 Abs. 1 GG wird oft falsch gelesen. Er überfordert allerdings die einfachen Gerichte. — Die Unterschiedlichkeit der übrigen Gerichte ist mit all dem nicht geleugnet, aber der Unterschied zwischen der Entscheidung eines Gerichts unterster Instanz und derjenigen eines Bundesgerichts ist insofern nicht weniger groß. Zacher: Ich möchte gar nichts zur Sache sagen, sondern allen Beteiligten der vorausgehenden Diskussion meine Be-

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wunderung zurufen, wie man in so wenigen Minuten eine Sache so gründlich durcheinander bringen kann, wie das jetzt eben geschah. Frowein: Der letzte Teil der Diskussion hat nach meinem Eindruck ein Problem behandelt, das in den Referaten nur in geringem Umfang thematisiert worden ist, nämlich das Problem „Verfassung in der Zeit". In meinen Augen ist nur bei Herrn Müller relativ deutlich zum Ausdruck gekommen. Er ist zwar von Herrn Ipsen ein wenig und nach dem, was wir gestern gehört haben, ja wohl mit ,,Ex-Kathedra-Wirkung" gerügt worden, dafür, daß er der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsrechtslehre Zurückhaltung in der Diskussion angeraten hat mit den längeren Erfahrungen der Schweiz, aber ich frage mich, ob nicht hier doch Bedenkenswertes verborgen ist. Interessanterweise haben sowohl Herr Schiaich als auch Herr Korinek ja den Rekurs auf die Verfassung und, wenn ich es ergänze, doch sehr weitgehend auf den Verfassungstext sehr stark herausgestellt. Aus der Schweizer Sicht besteht hier sehr viel größere Zurückhaltung, wenn man Herrn Müller folgt, und auch aus der amerikanischen ist ähnliches bekannt. Müßten wir uns nicht stärker der Fragestellung widmen: wo gewinnt eigentlich das Gericht die Maßstäbe? Damit kommen wir dann in das zweite Thema, zu der Fortentwicklung von Begriffen, also etwa Gleichheit, Meinungsfreiheit u. ä. Hier scheint mir ein Problem zu liegen, das über die manchmal ein wenig fruchtlose Frage, was denn Rekurs auf den Verfassungstext eigentlich bedeutet, hinaus vielleicht Möglichkeiten bieten könnte. Ich möchte da noch an zwei Begriffe bei Herrn Müller anknüpfen: Integrations- und Erziehungsfunktion von Verfassungsgerichtsbarkeit, Präsentmachen der Verfassungsbindung f ü r die Staatsorgane einerseits, aber wohl doch auch Sichfinden des latent vorhandenen pouvoir constituant in der Verfassung und der Gerichtsbarkeit. Vergleichbare Probleme stellen sich heute auf europäischer Ebene. Wenn der Europäische Gerichtshof in Luxemburg Grundrechtsstandards präsent machen muß, die sich aus den allgemeinen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben, oder wenn die Menschenrechtsorgane in Straßburg den Versuch machen müssen, dieselben weiten Begriffe nun in dem schwierigen Konsensfindungsprozeß zu konkretisieren, der auf einer gesamteuropäischen Basis vorhanden ist. Für Großbritannien oder Belgien wird eine Ersatzfunktion des europäischen Grundrechtsschutzes für die fehlende nationale Verfassungsgerichtsbarkeit immer deutlicher.

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Meessen: Herr Böckenförde sagte zwar mit Recht, das Verfassungsgericht hat nicht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, es nimmt sich aber doch gelegentlich eine vergleichbare Gestaltungsfreiheit, wenn w i r etwa an die Entscheidung zur Abtreibung oder an die Diätenentscheidung denken. Soweit es also darum geht, daß künftige Gesetze durch die Verfassungsgerichte vorgezeichnet werden, kann die Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung weder verfassungsrechtlich noch verfassungstheoretisch exakt vorgenommen werden. Man kann immer mehr differenzieren und kompliziertere und auch sehr interessante und aussagekräftige Gesichtspunkte nennen, um zu beschreiben, wie weit das Gericht in diesem oder jenem Fall vorgestoßen ist. Man wird aber kaum eine klare verfassungsrechtliche und auch nicht eine verfassungstheoretische Grenze ziehen können. Herr Ipsen hat zwar von einer Konvergenz der beiden Redner aus Deutschland und Österreich gesprochen und gesagt, daß man sich auf eine Mittellinie zubewege. Auch das ist keine ein für allemal festgelegte Indeallinie. Mir scheint, daß es hier eine offene Zone gibt, und ich würde gleich hinzufügen, es ist auch gut so, daß es eine offene Zone gibt, in der politische Klugheit des Richters agieren kann, in der sie auch reagieren kann auf Umstände der Zeit. Ich meine, daß w i r nicht versuchen sollten, durch übermäßiges Definieren von Grenzen auf alle Zeiten hinaus unseren Verfassungsgerichten Zügel anzulegen. Wir können das Gericht durchaus im einen und anderen Fall kritisieren, im übrigen müssen w i r uns aber über die Veränderlichkeit der Verteilung der politischen Gewichte unter den Verfassungsorganen im klaren sein. Zur Zeit plädiere auch ich dafür, daß sich das Verfassungsgericht mehr zurückhalten sollte. Die „ausgleichende Rolle" des Verfassungsgerichts, von der Scheuner gesprochen hat, kann aber nicht im voraus definiert werden. Korinek: Nur ein Satz zu Herrn Meessen, zu dieser „offenen Zone", von der Sie gesprochen haben. Mein Anliegen w a r es, diese offene Zone deutlich zu machen, sie aber einzugrenzen. Ich glaube das Problem ist, daß diese Zone oft zu offen gesehen wird und daß die Grenzziehung nicht gesehen wird. Die „offene Zone" ja, aber die Eingrenzung ist genauso wichtig. Donner: Ich komme aus einem Land, wo man eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht kennt, in dem Sinne, daß die Ge-

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setze von den Gerichten nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden können. Es ist ungefähr so wie in der Schweiz, wo die Bundesgesetze von den Gerichten nicht überprüft werden dürfen. Meine Frage: Ich stelle jetzt fest, daß in der Schweiz, wo also die Bundesgesetze nicht überp r ü f t werden, wo Verfassungsgesetzmäßigkeit also unvollkommen ist, daß erstaunlicherweise gerade dort der Richter sich — sagen wir frei bewegt; das ist in den Niederlanden ungefähr dasselbe. Ich nenne nur das Stichwort der allgemeinen Grundsätze der anständigen Verwaltung, ich weise nur darauf hin, wie weit der Richter die Pressefreiheit interpretiert. Meine Frage ist jetzt: ist dieser Unterschied zwischen der Schweiz auf der einen Seite und der Bundesrepublik und Österreich auf der anderen Seite, ist das paradox oder logisch? Ist es nicht so, daß gerade — wenn ich nach meinem Lande sehe — daß gerade weil Gesetzgeber und Öffentlichkeit (Publikum) das Empfinden hat, wenn der Richter zu weit gehe, dann könne ja immer noch der Gesetzgeber dazwischentreten und die Sache anders regeln, daß das zusammenhängt mit der großen Freiheit, die man ruhig der Rechtsprechung läßt. Wenn das so ist, könnten Sie vielleicht verstehen, daß ich zwar als Staatsrechtslehrer neidisch zugehört habe, wieviel Material Sie zu Ihren Vorlesungen und vielleicht zu Konsultationen haben, aber daß ich als demokratischer Staatsbürger mir gesagt habe, seien wir glücklich, daß das bei uns noch nicht alles als notwendig empfunden wird. Vorsitzender: Vielen Dank Herr Donner. Wir haben das große Glück, in Ihnen den ehemaligen Präsidenten des europäischen Gerichtshofs, in Herrn Müller einen Richter am schweizerischen Bundesgericht und mit Herrn Korinek ein Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichts bei uns zu haben, so daß ich glaube, daß nicht nur Lehrbuch- oder Vorlesungswissen in die Erörterungen einfließt, sondern auch richterliche Erfahrung. Meyer: Herr Korinek hat zu These 2 ausgeführt, daß Verfassungsgerichtsbarkeit nur denkbar sei, weil alles staatliche Handeln Verfassungsanwendung sei. Dies scheint mir — wenn es nicht nur eine terminologische Frage ist — mißverständlich, wenn nicht sogar gefährlich zu sein. Mir scheint auszureichen, daß staatliches Handeln mit der Verfassung kollidieren kann. Dies ist eine hinreichende Grundlage f ü r die Möglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Ich weigere mich anzuerkennen, daß alles Staatshandeln Verfassungsanwendung sei.

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Herr Schiaich, ich sympathisiere voll mit fast allen Ihren Thesen, muß aber gestehen, daß ich im Zwiespalt bin. Sie haben, wenn ich das so sagen darf, die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Status der Unschuld zurückführen wollen; die Unschuld ist aber verloren und deren Verlust ist bekanntlich irreparabel. Ich will dies an zwei Beispielen klarmachen. In den Thesen 4 und 5 haben Sie gesagt, was mir sehr sympathisch ist, daß das Gesetz Gegenstand der Verfassungskontrolle ist und nicht etwa der Gesetzgeber oder das gesetzgeberische Verfahren. Dies klingt sehr schön, ich frage mich aber, ob es sich tatsächlich durchhalten läßt und ob es nicht auch gewisse Schattenseiten hat, die zu bedenken sind. Wenn das Gesetz allein und nicht der Gesetzgeber und das gesetzgeberische Verfahren Gegenstand der Kontrolle ist, bedeutet das, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur natürlicherweise Herr über die Interpretation des Prüfungsmaßstabes, sondern zusätzlich noch Herr über die Interpretation des Gesetzes ist, also des Prüfungsobjektes. Ob diese Freiheit, sowohl mit dem Prüfungsobjekt wie mit dem Prüfungsmaßstab relativ souverän umzugehen, etwas Erstrebenswertes ist, bezweifle ich. Damit zusammenhängt ein zweiter Punkt. In dem Augenblick, wo Sie den Gesetzgeber und das gesetzgeberische Verfahren völlig ausschalten, schalten Sie das politische Parlament aus der Debatte aus und Sie nehmen das Gesetz sozusagen als Spielobjekt des juristischen Standes. Ob dies vernünftig ist, bezweifele ich ebenfalls. Wenn Sie sich schließlich die Praxis ansehen, und ich verweise auf die vielfältige und reichhaltige Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichtshöfe zu Neugliederungsfragen, dann können Sie gut sehen, was die Gerichte mit dem Gesetz gemacht haben, nämlich überhaupt nichts. Die Gesetze waren alle unangreifbar. Was angreifbar war oder was den Verfassungsrichtern angreifbar erschien, war das Verfahren, die Motivation etc. Ich glaube, der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof ist sogar so weit gegangen, in einem Fall Abgeordnete zu zitieren und zu fragen, was habt ihr euch eigentlich bei dem Gesetz gedacht. Es ist also offensichtlich nicht bei allen Gesetzen möglich, den Prozeß des Werdens des Gesetzes auszuschalten. Ein zweiter Punkt, in dem die Unschuld nun endgültig, glaube ich, verloren gegangen ist und wo Sie Ihre Position, die so sympathisch ist, nicht durchhalten können. In These 5 sagen Sie, daß Prüfungsmaßstab die Verfassung sei, die entweder zurückhaltend oder deutlich zugreifend sei mit entsprechend unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten des Ge-

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richts. Wenn das so ist, dann hätte das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel die Öffentlichkeitsarbeit in ihrer Funktion als Wahlwerbung der Regierung nie f ü r unzulässig halten können. Denn es gibt keine deutlich greifenden Maßstäbe der Verfassung, die das je verbieten sollten. Ich halte das Urteil in seiner theoretischen Fundierung, was den Parlamentarismus angeht, f ü r fast unverdaulich, das Ergebnis aber f ü r korrekt und richtig. Die Frage ist aber, warum, und das f ü h r t zur Frage, welche Kriterien das Gericht eigentlich anwendet. Doch nicht die Verfassung in Ihrem Sinne, sondern Kriterien, die es aus der Verfassung indirekt ableitet oder selbst konstituiert. In diesem Falle w a r es allein das, wie ich meine, überzeugende Kriterium des Minderheitenschutzes im politischen Prozeß. In der Verfassung finden Sie darüber fast nichts. Soell: Ja, in der Verfassungsrechtsprechung finden Sie einiges darüber. Meyer: Herr Soell, das ist doch in diesem Zusammenhang kein Argument, und die Grundrechte sind Rechte einzelner Individuen; ich möchte aber bezweifeln, ob sie Minderheitsrechte der Opposition abgeben. Dies alles f ü h r t zu dem eigentlich kritischen Punkt: Nicht interessant ist in meinen Augen die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsgewalten, deren Behandlung einige der Gutachter gottlob ausgewichen sind, sondern interessant ist, nach welchen Kriterien, nach welchen Methoden vom Verfassungsgericht judiziert wird. Bettermann: Herr Schiaich: Im Zusammenhang mit der Kompensationsfunktion des Verfassungsgerichts bei Defiziten (oder vielleicht deutlicher: Defekten) des Gesetzgebers haben Sie d a f ü r plädiert, der Kassation den Vorrang zu geben. Vorrang wovor? Ich sehe zwei Alternativen: Kassation statt Reformation und Kassation statt bloßer Deklaration. Beide Alternativen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Phase nicht praktiziert, sondern sich bei der Normkontrolle auf die Nichtig-Erklärung beschränkt. Es hat nicht die Front einerseits zurückgenommen auf eine bloße Erklärung der Verfassungswidrigkeit und sie andererseits nicht überschritten in Richtung auf eine Reformation des Gesetzes. Die neuere Entwicklung ist in beiden Richtungen anders gegangen. Wir haben zahlreiche Entscheidungen, in denen das Gesetz zwar f ü r verfassungswidrig, aber nicht f ü r nichtig erklärt wird. Wie die Praxis damit zurechtkommen

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soll, wie ein Verwaltungsbeamter oder ein Richter ein verfassungswidriges Gesetz gleichwohl noch anwenden und f ü r gültig erachten soll, ist f ü r mein rechtstaatliches Verständnis unbegreiflich. Es ist dies ein Mittel, den Gesetzgeber vor raschem Handeln zu bewahren. Insbesondere bei der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes ist dieser Trick angewandt worden mit der Begründung, wenn wir das leistungsgewährende Gesetz f ü r nichtig erklären, bekommt niemand mehr eine Leistung. Es muß der Gesetzgeber nun entscheiden, wer die Leistung bekommen soll und wer nicht. Aber er würde sehr viel rascher handeln, wenn man f ü r nichtig erklären würde. Auf der anderen Seite geht das Bundesverfassungsgericht über die Kassation hinaus zur Reformation. Sie haben das Urteil zu § 218 StGB zitiert. Viel wichtiger ist die alltägliche Praxis des Bundesverfassungsgerichts, das einfache Gesetz verfassungskonform auszulegen. Dies ist meines Erachtens eine verdeckte Form der Reformation von Gesetzen. Damit komme ich zugleich zu dem Thema: Verhältnis zu den Fachgerichten. Ich bin der Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht in einem normkontrollierenden Verfassungsbeschwerdeverfahren nur diejenige Auslegung anband der Verfassung zu überprüfen hat, die in dem angefochtenen Urteil vorgenommen worden ist. Es hat nicht zu fragen, ob andere Auslegungen verfassungsmäßig seien; diese Frage bleibt offen. Auf diese Weise wird verhütet, daß das Bundesverfassungsgericht als meistens fachfernes Gericht Gesetze, die außerhalb seines Erfahrungsbereiches liegen, auslegt entgegen der gefestigten Rechtsprechung der Obergerichte, die sich auf die Erfahrungen einer langjährigen Praxis auch der Vorinstanzen stützen können. Rauschning: Herr Schiaich, bis Sie noch einmal auf Ihre These 7 eingingen, hielt ich es nicht f ü r notwendig, dazu eine Bemerkung zu machen. Als Sie dann sagten, Sie verstünden sie so, daß man im Parlament vielleicht nicht so genau, in gleicher Weise, auf die Verfassungsmäßigkeit achten müsse wie das Bundesverfassungsgericht, da fühlte ich mich doch zu einer Äußerung gedrängt; es mag ja sein, daß in historischer Auslegung auch der Worte dieser Tagung es wichtig sein kann, ob einer These widersprochen wurde. Ich meine, daß alle an der Gesetzgebung beteiligten Amtswalter und Organe zur Verfassungsbeachtung und zum Hinwirken auf die Verfassungsmäßigkeit verpflichtet sind. Das fängt an bei dem Referenten, der in einem Ministerium einen Entwurf

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ausarbeitet. Der kann sich nicht damit herausreden, daß er sagt, na ja, ob das Parlament das wirklich so stehen läßt, darauf kann ich es ankommen lassen, selbst wenn es jetzt nicht so recht verfassungsmäßig ist. Jeder Beteiligte ist verpflichtet, und zwar gleichermaßen, auf die Verfassungsmäßigkeit hinzuwirken; darauf geht bei den Beamten der Amtseid, die Minister sind gleichermaßen durch Amtseid verpflichtet, das gleiche gilt für das Parlament auch ohne den Eid. Für meinen zweiten Punkt möchte ich anknüpfen an den Satz: Die Referate waren so hervorragend, und so dürfen wir auch soviel kritisieren. Wir kritisieren das Bundesverfassungsgericht oder sogar die Verfassungsgerichtsbarkeit, weil wir es im Prinzip — und das brauchen wir hier nicht auszuführen — alle sehr bejahen. Ich möchte ein kritisches Beispiel aus der Praxis beisteuern zur Wirkung und Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG. Mit Bindungswirkung formeller Art sind weniger Sätze aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausgestattet, als wir denken, aber die Wirkungen, die von den Sätzen der Entscheidungen ganz außerhalb und unabhängig von der Bindungswirkung ausgehen, sind viel bedeutender, sozusagen greifender — und manchmal muß man sagen: schlimmer. Ich möchte ein Beispiel bringen eines offensichtlichen obiter dictums. Es heißt in der Entscheidung vom 20. Dezember 1979 in Sachen Mülheim-Kärlich nach längeren Ausführungen: „Auch wenn dies alles zugunsten der Beschwerdeführerin unterstellt wird, führt dies jedoch nicht zur Aufhebung des im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen angegriffenen Beschlusses." Die längeren Erwägungen davor werden mit der Bemerkung eingeleitet, „eine grundsätzlich richtige Auffassung könnte in erster Linie" in folgendem zu erblicken sein. Nach diesem „Könnte-Satz" wird, so als hypothetisch gekennzeichnet, unbestimmt vieles Neue und Grundsätzliche ausgeführt, und dann wird bemerkt, auf das alles komme es für die Entscheidung nicht an. Die Ergebnisse der dazwischen liegenden Ausführungen von vier Seiten Umfang, die sich gerade nicht dadurch bewähren mußten, daß sie die Entscheidung tragen, sind binnen eines halben Jahres vom Bundesverfassungsgericht ohne nähere Erwägungen übernommen worden und prägen die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, ohne daß wir nur Gelegenheit hätten, auch nur in Form einer Entscheidungsanmerkung dazu Stellung zu nehmen.

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Wir sollten die Anregungen der Kollegen aus der Rechtsvergleichung aufnehmen, daß wir unsere Studenten darin trainieren müssen — es liegt ja an uns —, die begrenzte Bindung zu erkennen und auch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu durchdenken. Selmer: Herr Korinek. Sie haben die Kontrolldichte der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ausschließlich von der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes abhängig gemacht und diese These auch gegenüber den erhobenen Angriffen — etwa des Kollegen Badura — verteidigt. Nun will auch ich mir den Einwurf von Herrn Friesenhahn, Sie seien Österreicher, gern zurechnen lassen. Gleichwohl meine ich, daß Ihre These auch sozusagen systemimmanent auf Kritik stoßen muß, und zwar deshalb, weil Sie nach meiner Überzeugung diese Ihre These selbst nicht durchhalten. Wohl heißt es zunächst noch in Leitsatz 9, die Prüfungskompetenz der Verfassungsgerichte reiche nur so weit — also immerhin doch so weit —, wie die Gebundenheit des Gesetzgebers reiche. Schließlich heißt es denn aber weiter, andererseits ergebe sich nur selten aus dem Verfassungsrecht eine einzige verfassungsmäßige Lösung: Hier liegt eigentlich der Ansatz meiner Kritik, denn Sie müßten doch wohl fortfahren und argumentieren: Die Verfassung bietet häufig, ja in der Regel, mehrere verfassungsmäßige Lösungen an; das Verfassungsgericht ist verpflichtet, eine der ihm angebotenen Lösungen des Gesetzgebers zu akzeptieren. Und warum? Die Antwort kann doch wohl nur lauten — auch im Sinne Herrn Baduras —: eben deshalb, weil der Gesetzgeber die gegenüber dem Verfassungsgericht primär demokratisch legitimierte Instanz ist. Deshalb ist meine These, daß Sie die funktionellrechtliche Betrachtungsweise zwar im Rahmen der Behandlung der Kontrolldichte zunächst ausschließen, sie über die Frage der Interpretation der Verfassung dann aber letztlich doch wieder einführen. Korinek: Ich glaube nicht, daß Sie mir einen Widerspruch nachgewiesen haben. Ich glaube, das Verfassungsgericht hat dann die präsentierte Lösung nicht deshalb zu akzeptieren, weil der Gesetzgeber demokratisch legitimiert ist, sondern deshalb, weil die vom Gesetzgeber getroffene Lösung im verfassungsgesetzlichen Rahmen Platz hat. Das ist also überhaupt kein Widerspruch zu der These, daß die Kontrolldichte ausschließlich von der Regelungsdichte abhängig ist. Aber darf ich vielleicht — wenn diese These kritisiert wird — eine Gegenfrage stellen: bitte, wovon sonst?

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Grimm: Ich beziehe mich auf die These 7 von Herrn Schiaich. Es handelt sich um die These, daß Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung fundamental verschiedene Dinge seien und daß deswegen zur Grenzziehung zwischen den beiden Funktionsträgern nicht die Frage gestellt werden könne, was das Gericht besser, zutreffender, rationaler mache als der Gesetzgeber. Die These scheint mir problematisch zu sein, ich bin auch nicht sicher, ob Herr Schiaich sich durchwegs an seine eigene These gehalten hat. Einig sind wir uns, glaube ich, alle darüber: für das Bundesverfassungsgericht und den Gesetzgeber gilt dieselbe Verfassung. Der Sinn ihrer Aussagen wechselt nicht von Organ zu Organ. Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß die Aussagen in bezug auf ein bestimmtes Problem selten eindeutig sind. Der Sinn der Verfassung muß also für den konkreten Fall erst ermittelt werden. Nun sehe ich bei der Bewältigung dieser Aufgabe keinen strukturellen Unterschied zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber. Die Methode der Verfassungsinterpretation ist für beide die gleiche. Soweit Unterschiede bestehen, scheinen sie mir auf der situativen Ebene zu liegen. Wenn das so ist, würde ich aber annehmen, daß zur Funktionsabgrenzung im Gegensatz zu Ihrer These, Herr Schiaich, diese situativen Unterschiede doch herangezogen werden müssen. Es wäre dann zum Beispiel festzustellen, daß der Gesetzgeber sich nicht primär als verfassungsdeterminiert ansieht, sondern in erster Linie nach Gesichtspunkten der Parteiziele, der Zweckmäßigkeit, der Akzeptanz, der Finanzierbarkeit urteilt, um schließlich noch zu fragen, ob die Verfassung nicht entgegensteht. Es fällt dann begreiflicherweise schwer, diese Frage unbeeinflußt von den politischen Absichten zu beantworten. Für ein Verfassungsgericht ist die Verfassung dagegen nicht Korrektiv, sondern Primärdatum. Keinem Aktionsprogramm verpflichtet und Wahlen nicht unterworfen, kann es ihren Sinn sozusagen unabgelenkt ermitteln. Die Chancen für eine rationale Verfassungsinterpretation sind daher beim Verfassungsgericht höher als bei den gesetzgebenden Instanzen. Auch diese werden aber — das wäre zugleich eine Antwort an Herrn Donner — durch die Existenz der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle gezwungen, die Verfassung im Gesetzgebungsprozeß relativ frühzeitig und relativ unparteilich zu thematisieren. Verfassungsgerichte verhindern auf diese Weise, daß maßgeblich jeweils das Verfassungsverständnis der Mehrheit ist und der Grundkonsens der rivalisierenden politischen Kräfte damit langfristig aufgezehrt wird. Auf der anderen Seite ließe sich etwa

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feststellen, daß das verfassungsgerichtliche Verfahren weder denselben Transparenzgrad aufweist noch dieselben Partizipationschancen eröffnet wie das parlamentarische. Nicht nur schließt die Spezialisierung des Verfassungsgerichts auf Rechtmäßigkeitskontrolle die Diskussion der politischen Kontroversen, die hinter dem Verfassungsstreit stehen, aus. Es bietet auch keinen Ansatzpunkt für öffentliche Einflußnahmen durch Äußerung von Kritik, Anmeldung von Interessen, Aufweis von Alternativen. Ebensowenig ist sein Ergebnis demokratisch zu verantworten oder demokratisch revidierbar. Daraus scheint mir eine Überlegenheit des Gesetzgebers bei allen Entscheidungen zu folgen, die nicht allein kontrollierender Natur sind. Diese Überlegenheit halte ich durchaus für verfassungsrechtlich relevant, weil verfassungsgerichtliche Entscheidungen, die dem Gesetzgeber vorgreifen, ihn positiv determinieren oder über den Anlaßfall hinaus binden sollen, das Demokratieprinzip beeinträchtigen. Gerade die situativen Unterschiede führen deswegen dazu, das Bundesverfassungsgericht auf kassatorische Funktionen zu beschränken, womit wir einander im Ergebnis freilich wieder annähern. Schiaich: Es fallen nun gegen meine Leitsätze 4 und 5 immer wieder die Formulierungen — insbesondere durch Herrn Kisker —, das Bundesverfassungsgericht könne „zurückstehen", es sei doch gut, wenn das Gericht das gesetzgeberische Verfahren kontrolliere, wenn es sich, wie im Mitbestimmungsurteil, auf Grund der Feststellung, der Gesetzgeber habe die nötigen Sachverhalte zur Kenntnis genommen, in der materiellen Prüfung dann zurückhalten könne. Genau diese Aussagen halte ich für problematisch. Ich wiederhole: Das Gericht argumentiert meines Erachtens am plausibelsten, auf Dauer am überzeugendsten, wenn es von der Verfassung her argumentiert. Und das hat Konsequenzen auch für die Lehre: Die Diskussion zur Grundrechtsinterpretation — nicht zuletzt seit unserer Regensburger Tagung mit den Referaten der Herren Martens und Haberle und im Anschluß an die numerus clausus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts — hat doch materiell etwas erbracht und damit — und ich meine: gerade damit! — die Möglichkeiten und Grenzen auch der Verfassungsgerichtsbarkeit mitbestimmt. Und: die heute allseits gängige Bereitschaft, sich auf die Formel vom Gebot der „Zurückhaltung" des Gerichts einzulassen, ist nicht ungefährlich. Bei allem Schlachtenlärm um einzelne Entscheidungen und bei allen naturgemäßen Unter-

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schieden insofern zwischen dem Regierungslager und der jeweiligen Opposition sind sich ja gegenwärtig beide Lager in Bonn einig, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im ganzen für ihre Position in Bonn nicht schädlich ist. Man hat ja auch die Auswahl der Richter — sorgfältig paritätisch — in den eigenen Händen. Sollten sich aber einmal relevante politische Kräfte entschlossen gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wenden, so wäre für diese Kräfte ein im voraus allseits akzeptiertes Gebot von der Zurückhaltung des Gerichts der Hebel, um dem Gericht im Blick auf mißliebige Entscheidungen die Überschreitung dieses Gebots vorzuhalten und das Gericht so ins „Unrecht" zu setzen. Denn das Gebot der Zurückhaltung ist ja ohne Konturen und ohne Inhalt, es ist bislang auch nicht gelungen zu zeigen, was es heißen soll, daß das Gericht — mit dessen Formulierungen — darauf verzichtet, Politik zu treiben, in den Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Auch mit der Formulierung, ein Verfassungsgericht habe die politischen Folgen seiner Urteile mitzubedenken, sollte man nicht allzu großzügig umgehen, wenngleich auch diese Formel natürlich nicht falsch ist. Was ist, wenn die Verfassung existentiellen politischen Entscheidungen entgegensteht? In wessen Verantwortung fällt die Lösung dieses Konflikts? All dies sind umwegige Formulierungen zur relevanten Aussage, ob ein Beschluß oder Verfahren verfassungsmäßig ist oder nicht. Die Schwierigkeit, in die mein Referat führt, ist, daß ich ständig auf die Relevanz der Verfassung und deren Interpretation verweise, dazu aber kein Wort sage. Das ist so. Die Methoden und die Reichweite der Verfassungsinterpretation konnte ich nicht auch verhandeln, auf sie aber kommt es dann entscheidend an. Mir ging es darum, darauf aufmerksam zu machen, daß gegenwärtig in Literatur und Rechtsprechung ein immer dichter werdender Kranz von Verhaltensgeboten für den Gesetzgeber geflochten wird, und dies recht freihändig ohne Nachweis entsprechender Sätze der Verfassung. Es sind auch die Kriterien dieser gesetzgeberischen Verhaltenspflichten noch nicht deutlich. Im Mitbestimmungsurteil wird zum Nachweis, „der Gesetzgeber" habe sich am erreichbaren Material orientiert, stark auf die Sachverständigenkommission abgehoben; man erfährt in diesem Urteil aber nicht, wer diese Kommission eingesetzt hat, wer ihre Mitglieder waren, was sie getan und beschlossen hat.

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Auch die Rechtsfolgen der Verletzung der Verhaltenspflichten des Gesetzgebers sind noch nicht geklärt. Sicherlich, ich habe meine Vorbehalte kraß formuliert. Ich verkenne nicht, daß manche der Verhaltensgebote formuliert sind, um den Gesetzgeber hinsichtlich des Ergebnisses seines Verhaltens und der diesbezüglichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dann kompensierend zu entlasten. A b e r man muß hier Literatur und Rechtsprechung mal im ganzen auf sich wirken lassen — die einzelnen Äußerungen und die einzelnen Entscheidungen des Gerichts entbehren meist nicht der Plausibilität — und die Langzeitwirkung einer Verfassungspflicht zur optimalen Methodik im Gesetzgebungsverfahren bedenken, um zu sehen, daß das Parlament als eigenständiges politisches Wesen mit seinem ganz spezifischen Verfahren doch in Gefahr ist, allzusehr eingebunden zu werden. J. P. Müller: Ein Vorwurf von Herrn Zacher ist eigentlich im Raum stehengeblieben: Wir hätten uns die Theorie der Rechtsvergleichung zu wenig vergegenwärtigt und bewußt gemacht. Ich möchte Ihnen, Herr Zacher, nur recht geben, daß uns weitgehend die Grundlagen der Methodik einer Rechtsvergleichung fehlen, die das politische System mit voll in Anschlag bringt, das einer Rechtsordnung zugrunde liegt. Darum ist es viel einfacher, die Ergebnisse der Verfassungsrechtsprechung zu vergleichen, als ihren Stellenwert im Gefüge der Staatsfunktionen. Allein die Tatsache, daß die schweizerischen Bundesgesetze sämtlich dem fakultativen Referendum unterstehen, w i r f t ja enorme Schwierigkeiten für eine tieferschürfende Rechtsvergleichung im Rahmen unseres Beratungsgegenstandes auf. Nun kurz zu einer Frage, die Herr Frowein aufgeworfen hat und die mir tatsächlich ganz besonders bei einer so weit rechtschöpferischen Rechtsprechung w i e derjenigen unseres Bundesgerichts zentral erscheint: Wo gewinnt das Verfassungsgericht die Maßstäbe seiner Beurteilung? Ich darf kurz auf ein neueres Urteil hinweisen, in dem das Bundesgericht äußerte, es stütze sich bei der Konkretisierung ungeschriebener Grundrechte auch auf Rechtsvergleichung, auf die Imperative internationaler Konventionen und die Rechtsprechung ihrer Organe, nicht zuletzt aber auch — und das erstaunt doch in einem Text des Bundesgerichts — auf rechtsphilosophische Erwägungen, die allerdings einem geschichtlichen Wandel unterliegen und auf wechselnde soziale Verhältnisse Rücksicht nehmen müßten. Ich glaube, der Hinweis zeigt, wie stark es letztlich auf die mitwirkenden Richter-

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persönlichkeiten ankommt und auf ihr Verständnis dessen, was als jeweiliges kulturepochales Naturrecht die Verfassung mit gestalten soll. Vorsitzender: Vielen Dank. Wir können uns jetzt offen — wir haben es ja bisher schon immer wieder getan — dem zweiten Punkt zuwenden, den Methoden und Maßstäben der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Herr Ossenbühl. Ossenbühl: Ich möchte einige Bemerkungen machen zu dem neuen Begriff Kontrolldichte, der ja im Verwaltungsprozeßrecht ein bekannter Terminus ist und jetzt in die Verfassungsgerichtsbarkeit importiert wurde. Zum Begriff der Kontrolle zwei Bemerkungen. Die erste Bemerkung betrifft den Leitsatz 6 von Herrn Korinek, in dem er — und zwar in Übereinstimmung mit Herrn Schiaich — sich dafür ausspricht, die Normenkontrolle im wesentlichen auf eine Ergebniskontrolle zu reduzieren. Das haben Sie, Herr Schiaich, in einem weiteren Diskussionsbeitrag etwas abgeschwächt, aber doch im Grundsatz beibehalten. Ich möchte dazu nur sagen, daß ich diese Trennung zwischen Entscheidungsverhalten und Entscheidungsresultat in bezug auf ein Gesetz, in bezug auf den Gesetzgeber f ü r undurchführbar halte. Für undurchführbar deswegen, weil sie an den Maßstäben, die zur Verfügung stehen, scheitert. Wir haben nämlich einen Obermaßstab, der alle anderen Verfassungsmaßstäbe gleichsam nivelliert und absorbiert, das ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er ist der große Gleich- und Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe. Wenn Sie diesen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seinen Prüfungselementen Eignung, Erforderlichkeit, Zweck-Mittel-Prüfung auf den Konfliktfall projizieren, kommen Sie gleichsam prüfungslogisch in die Verfahrenssituation, in das Verfahrensstadium hinein und können es gar nicht aussparen. Also mit anderen Worten: Verfahrensprüfung wird durch den Maßstab „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" gleichsam präjudiziell. Der zweite Punkt betrifft die Frage, wie dicht die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ist, und ich bedaure es sehr, daß diese Frage in der Diskussion so weit hinausgeschoben worden ist. Herr Korinek hat in einem weiteren Beitrag nochmal mit Vehemenz den Diskussionsrednern zugerufen, f ü r mich ist Kontrollmaßstab, ist die Kontrolldichte zu orientieren ausschließlich an der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes. Dann frage ich mich, wie dicht sind denn solche Kontrollmaßstäbe? Wenn wir uns einmal überlegen, wie-

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viel das Bundesverfassungsgericht in Verfassungsnormen „hineingedichtet" hat, dann taucht natürlich die Frage auf, wer hat denn hier die Verdichtungskompetenz? Wer gibt denn eigentlich den Maßstäben Fleisch und Blut? Wer macht aus sehr pauschal gefaßten Formeln und weitgefaßten Begriffen durch vermittelnde Zwischenfiguren, durch vermittelnde Leitsätze eine anwendungsreife Norm? Wie weit kann das, was wir eben als Konkretisierung bezeichnet haben, hier durch das Bundesverfassungsgericht geschehen? Das ist die Frage, die sich auch wahrscheinlich generell nicht klären läßt. Deshalb würde ich Ihre These nicht unterschreiben, daß es auf die Art des vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten und eigentlich kompetenten Organs nicht ankommen könne. Ich würde meinen, die Art des vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten Organs müßte hier doch eine Rolle spielen. Schiaich: Herr Ossenbühl, Sie haben zusammen mit Herrn Rudolphi in Ihrer Begründung des Normenkontrollantrags bezüglich der Neufassung des § 218 StGB die Motivation einzelner Abgeordneter bei deren Stimmabgabe im Parlament — es war da eine sehr komplizierte Abstimmungslage — durchleuchtet. Kann das für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes relevant sein? Welche Argumente sollen noch zulässig sein und vorgetragen werden können? Ossenbühl: Das ist eine sehr präzise Frage. Ob man sie mit Ja oder Nein beantworten soll, darauf will ich mich jetzt nicht einlassen. Es kommt mir nur darauf an zu sagen, eine Beschränkung auf die Ergebniskontrolle oder eine Ausdehnung der Verfahrenskontrolle ist nicht vereinbar mit den zur Verfügung stehenden Prüfungsmaßstäben. Ich wollte hinweisen auf den Zusammenhang zwischen Prüfungsmaßstab und Verfahrensprüfung. Und wenn Sie die Verfahrensprüfung ausdünnen wollen, dann müssen Sie zunächst den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit reduzieren. Darüber könnte man in der Tat reden und Herr Lerche hat ja in der Spanner-Festschrift auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus die Maßstabstrukturen in einer Erosion begriffen sind. Öhlinger: Ich möchte in das gleiche Horn wie Herr Ossenbühl stoßen. Ich halte die Unterscheidung zwischen Ergebniskontrolle und Verfahrenskontrolle einfach nicht für durchhaltbar. Herr Schiaich hat, vielleicht von einem anderen Standpunkt aus als wir in Österreich haben, sein Plä-

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doyer f ü r eine Beschränkung auf eine Ergebniskontrolle gef ü h r t . Ich würde dem zustimmen, daß man nicht jeden Verfahrensschritt, nicht jede Äußerung eines Abgeordneten einem justiziablen Maßstab der Verfassungsprüfung unterwerfen kann. Aber ich wäre dagegen, deshalb das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aus österreichischer Sicht ist dabei auf das — aus dem Gleichheitssatz abgeleitete — Sachlichkeitsgebot zu verweisen. Sachlichkeit heißt im Kern Begründbarkeit. Begründung ist aber wiederum im Kern eine verfassungsrechtliche Frage. (Ich verweise auf die Parallele der Begründung von Verwaltungsakten.) Ich zweifle daher auch, Herr Kollege Korinek, ob es richtig ist zu sagen, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof nur eine Ergebniskontrolle und überhaupt keine Verfahrenskontrolle macht. Ich erinnere beispielsweise an das Erkenntnis zur Frage der Mitgliedschaft in den Arbeiterkammern. Meiner Ansicht nach ergab sich die Verfassungswidrigkeit der aufgehobenen Regelung auch aus der Art, wie dieses Gesetz im Parlament ohne ausreichende sachliche Begründung und ohne Eingehen auf die vorgebrachten Gegenargumente durchgezogen wurde. Ich vermute, daß dieser Gesichtspunkt auch im VfGH eine Rolle spielte. Der VfGH hat allerdings zugegebenermaßen diesen Aspekt nicht in die Begründung seiner Entscheidung aufgenommen. Er hat in Wahrheit seine Wertung an die Stelle der Wertung des Gesetzgebers gesetzt. Ich hielte es f ü r richtiger, auch explizit auf die mangelhafte Begründung seitens des Gesetzgebers abzustellen und plädiere in diesem Sinn f ü r eine offene Verfahrenskontrolle der Gesetzgebung. H.-P. Schneider: Eine ganz kurze Bemerkung zu Herrn Ossenbühl. Ich bin Ihnen dankbar f ü r Ihre Mahnung, den Blick doch einmal auf das Gericht selbst zu lenken, auf seine Arbeitsweise. Herr Schiaich, wenn Sie die Maßstäbe f ü r die Intensität und den Umfang einer Normenkontrolle ausschließlich mit Hilfe der Verfassungsinterpretation gewinnen wollen, wie werden Sie dann der Tatsache gerecht, daß in Karlsruhe jeweils acht Richter entscheiden, die, wenn sie nicht gerade in Österreich studiert haben und Anhänger der Kelsen'schen Rechtslehre sind, ja durchaus sehr verschiedene Methoden der Verfassungsinterpretation vertreten können, von Wertungsfragen ganz abgesehen. Nun stellt sich dieses Problem zwar in gleicher Weise bei allen Kollegialgerichten, aber es wird dadurch verschärft, daß wir — in Anknüpfung an den Beitrag von Herrn Haberle — das dissenting vote ha-

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ben. Insofern muß sich jeder Richter überlegen, ab wann er dissentiert, wenn er mit seiner Ansicht nicht durchdringt, und wieweit er das Urteil noch mittragen kann, wenn Elemente seiner Argumentation in die Begründung eingehen. Das heißt, es findet bei der Beratung notwendigerweise offen oder verdeckt ein aus meiner Sicht völlig legitimes „Aushandeln" der Urteilsgründe statt, ein Vorgehen, das eher an die Abfassung eines diplomatischen Kommuniqués erinnert als an die logisch konsistente Subsumption von Gesetzesvorschriften unter bestimmte Verfassungsnormen. Dieses so zustandegekommene Verfassungsgerichtsurteil und seine Begründung an methodischen Kategorien zu messen, scheint mir — überspitzt formuliert — einfach inadäquat und sachfremd zu sein, und zwar sowohl von der Organisation als auch von der Arbeitsweise des Gerichts her gesehen. Lerche: Nur zwei Sätze. Erstens: Herr Ossenbühl hat wie stets auch dort recht, wenn er weder mit Ja noch mit Nein antwortet. Zweitens würde ich sagen, die Durchleuchtung des gesetzgeberischen Verfahrens muß ja keineswegs nur den Sinn haben, dem Gesetzgeber einen Vorwurf zu machen, sondern sich den tatsächlichen Hintergrund zu verschaffen, um die Konsequenzen des Gesetzes beurteilen zu können. So sehe ich diese Tendenz des Gerichts. Bachof: Eine Frage an Herrn Korinek zum Problem „Regelungsdichte und Kontrolldichte". Welche Regelungsdichte meinen Sie? Die der ursprünglichen blanken Norm, oder aber die Regelungsdichte der durch Interpretation bereits weiter konkretisierten Norm? Ferner: Der Ausdruck „Kontrolldichte" zeichnet ein zu einseitiges Bild von der Verfassungsgerichtsbarkeit. Er paßt nur dort, wo das Handeln eines staatlichen Organes — Gesetzgebung, Regierung oder was auch immer — am Maßstab der Verfassung zu messen ist. Wir kennen aber auch andere Streitigkeiten, z. B. Organstreitigkeiten, Bund-Länder-Streitigkeiten usw., in denen sich zwei Parteien gegenüberstehen, deren jede sich auf ihre Auslegung der Verfassung beruft. Wie soll man da mit einer mangelnden Regelungsdichte argumentieren können? Soll der Richter sagen: Die nötige Regelungsdichte fehlt, ich kann nicht entscheiden? H. P. Ipsen: Herr Korinek in These 6 und Herr Schiaich in These 3 gehen beide offenbar von der Unterschiedlichkeit einer Verhaltenskontrolle und einer Ergebniskontrolle aus. Ob

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das durchführbar ist, will ich ganz offen lassen. Bisher ist hier erörtert worden, ob diese Unterscheidung tragbar ist angesichts der Anwendung von Maßstäben wie der Verhältnismäßigkeit. Ich frage mich aber, ob damit nicht auch eine erhebliche methodische Frage der Interpretation aufgeworfen ist: wie steht es mit dem sog. historischen Gesetzgeber? Wie steht es mit dem Willen des Gesetzgebers und seiner möglichen Ermittlung? Schuppert: Nur ein ganz kurzer Einwurf anknüpfend an die Wortschöpfung von Herrn Ossenbühl betreffend die Verdichtungskompetenz und an die Anregung von Herrn Ipsen, die methodischen Fragen doch auch mit einzubeziehen. Ich habe mich etwas darüber gewundert, daß wir über die Übereinstimmung von Herrn Schiaich und auch von Herrn Korinek, nämlich darin, daß Maßstab der verfassungsrechtlichen Kontrolle die Verfassung sein soll, nicht hinausgekommen sind. Man kann doch als staatsrechtliche Vereinigung den Verfassungsrichtern schlecht als Antwort geben, daß sie ihre Maßstäbe aus der Verfassung gewinnen sollen, das haben sie wahrscheinlich ohnehin vor. Sondern es geht auch darum, dies etwas zu konkretisieren und diese Umsetzung und Operationalisierung zu ermöglichen. Und was die Kontrolldichte und die Verdichtungskompetenz angeht, so muß man doch fragen, wie sieht es da aus mit dem methodischen Rüstzeug, mit dem die Verfassungsrichter diese Aufgabe der Konkretisierung wahrnehmen. Das ist ja sehr unterschiedlich. Wenn ich operiere mit einem Verständnis von Grundrechten als Abwehrrechten, so komme ich relativ mühelos zu dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Anwendung als Übermaßverbot. Wenn ich aber operiere mit einem Grundrechtsverständnis, das aus Grundrechten Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber zur Gestaltung der sozialen Wirklichkeit gewinnt, wie etwa bei der Abtreibungsentscheidung, dann bin ich flugs bei einem Untermaßverbot und dieses Untermaßverbot hat ja eine ganz andere Implikation f ü r die funktionale Grenzziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Es ist etwas anderes, ob ich den Gesetzgeber darauf überprüfe, ob er gegen das Übermaßverbot verstoßen hat oder gegen das Untermaß verbot. Deswegen meine Anregung, doch die funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpretation mit in den Blick zu nehmen. Korinek: Zunächst eine Bemerkung zu Herrn Ossenbühl, zu seiner Frage, ob sich die Unterscheidung zwischen Verhaltenskontrolle und Ergebniskontrolle und der Verzicht auf

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die Verhaltenskontrolle überhaupt durchhalten läßt. Ich kaiin das von meinem Erfahrungshorizont aus bejahen; allerdings habe ich die Probleme der Konfrontation mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip natürlich in nur verschwindend geringem Maß, weil ja der Verfassungsgerichtshof das — das habe ich einmal zwischendurch angedeutet — kaum akzeptiert. Ich habe in meinem Referat gesagt, daß eine Verhaltenskontrolle gegenüber dem Gesetzgeber in Österreich nicht praktiziert wird. Ich habe in diesem Punkt berichtet. Ich kann Ihnen sagen, daß der österreichische Verfassungsgerichtshof ein Gesetz auch für verfassungmäßig ansieht, wenn dieses verfassungsmäßige Ergebnis nur durch Zufall zustande gekommen ist, und ich bin überzeugt Herr Öhlinger, wenn wir ernst machen würden damit, eine Begründungspflicht zu verlangen und die Begründung auf ihre Rationalität zu überprüfen, daß der allergrößte Teil der österreichischen Bundesgesetze zumindest in den Teilen, die im Ausschuß verändert worden sind, aufzuheben wäre. Hier gibt es zum Großteil überhaupt keine Begründungen, zumindest keine evidenten. Ich könnte Ihnen da jetzt lang Beispiele erzählen, das würde aber zu sehr aufhalten. Nur etwas möchte ich zu Herrn Öhlinger sagen. Bitte, ich halte es für unrichtig, wenn Sie meinen sollten, daß die Judikatur derzeit auf eine Verhaltenskontrolle abstellt. Das ist einfach nicht wahr. Auch in dem von Ihnen herangezogenen Arbeiterkammer- und Arbeiterverfassungserkenntnis wird dort ausschließlich gesagt, der undifferenzierte Ausschluß sämtlicher familienangehöriger Arbeitnehmer vom Arbeitnehmerbegriff ist so sachinadäquat, daß das aufgehoben wird: Der Gerichtshof gibt dabei auch gar keine Handlungsanweisung an den Gesetzgeber; dem Gesetzgeber ist durchaus gesagt: wenn du differenzierst, dann werden wir prüfen, ob das jetzt sachadäquat ist. Aber die undifferenzierte Form der getroffenen Regelung ist sachinadäquat. Zu Herrn Bachof eine Bemerkung: Er hat eine sehr peinliche Frage gestellt, was wir denn eigentlich als Maßstab heranziehen, den Text oder das, was wir formelhaft schon daraus konkretisiert haben. Darf ich sagen: Beides; in der Praxis natürlich zunächst die selbst entwickelte Formel, die aber fallbezogen aus dem Normtext heraus präzisiert, verändert oder ergänzt werden kann. Darf ich es mir bei der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis zum Normtext und formelhafter Konkretisierung ein bißchen leicht machen und so antworten, daß ich sage, daß das ja nach unserer methodischen Position — ich sag das ein bisserl selbstironisch — gar

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kein Unterschied sein kann: denn das was wir als Formeln entwickelt haben, das haben wir ja aus dem Text heraus als Formeln entwickelt — und daher ist es dasselbe. Schiaich: Ich würde auch sagen, Herr Bachof, Normen gibt es nur als interpretierte, nicht als bloßen Text. — Verhältnismäßigkeit, Gleichheitssatz usw., das sind nun in der Tat die eigentlichen Problemfeld. Über einen Satz von der „Verhältnismäßigkeit", der alle anderen Verfassungsmaßstäbe gleichsam nivelliert und absorbiert, wie Herr Ossenbühl sagte, kann man ja wohl nicht glücklich sein. Das Bundesverfassungsgericht sagt selbst in der ersten Entscheidung im 51. Band, es gehe nicht um die subjektive Seite der Willkür des Gesetzgebers, sondern um die objektive, die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Norm. Es geht — mit den Begriffen von Herrn Öhlinger — nicht darum, ob die Entscheidung vom Gesetzgeber begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist. Es geht nicht darum, ob der Gesetzgeber konsistent argumentiert hat, sondern ob das Ergebnis hinnehmbar ist. Daß man bei dieser Prüfung auch auf das, was im Gesetzgebungsverfahren gesagt wurde, zurückgreifen kann, habe ich gesagt; das Verfassungsgericht kann auch mal — wie Herr Meyer sagte — Abgeordnete zitieren und befragen, auch Abgeordnete der Mehrheit und Minderheit zugleich, diese sind dann aber nicht „der Gesetzgeber"; der Ansatz bleibt trotzdem prinzipiell verschieden. Übrigens sagte ich natürlich nicht, daß Parlamente nicht so ganz auf die Verfassungsmäßigkeit ihrer Gesetze achten „müßten"; ich habe überlegt, was sie während des Gesetzgebungsverfahrens können. Herr Schneider, Sie haben das offenbarend-peinliche Wort gesagt, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts als Urteile von 8 Richterpersönlichkeiten mit methodischen Maßstäben zu fassen, sei unmöglich. Darf man sich dabei beruhigen? In der Tat kennzeichnet dies ja nach der anderen Seite hin auch unsere Kommentierungen der Verfassungsrechtsprechung: der eine sagt zu einem Urteil: schlechte Methode; der andere sagt: bester Erfolg, genau so mußte entschieden werden; der Dritte stellt fest, von welchem Richter das Urteil stammt, um es von daher zu verstehen; und der Vierte freut sich über die Zurückhaltung des Gerichts . . . Ich bin der Meinung, daß wir die Methode zur Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht noch nicht so recht gefunden haben. Muß man nicht einen gewissen Konsens darüber suchen, welche richterlichen, rechtswissenschaftlichen Methoden man von

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den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erwartet, um von daher dann auch eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Gericht führen zu können? Wahl: Ich möchte von These 3 von Herrn Schiaich ausgehen, daß die Interpretation und nicht so sehr der Zuständigkeitskatalog die Reichweite der Verfassungsgerichtsbarkeit bestimmt, und ihr nachdrücklich zustimmen. Von der Verfassungsinterpretation hängt der Kontrollmaßstab des Verfassungsgerichts ab, zunächst in einer rein quantitativen Weise: je mehr der Verfassung materieller Rechtsgehalt abgewonnen wird, desto mehr ist die Reichweite der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgeweitet. Und je vager durch Interpretation der materielle Gehalt der Verfassung bestimmt wird, desto weniger ist ein klarer Kontrollmaßstab vorhanden, desto mehr entstehen Unsicherheiten im Verhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Gesetzgeber. Mit stellt sich angesichts dieses Zusammenhangs zwischen Ausmaß und Unbestimmtheit des materiellen Gehalts einerseits und Ungesichertheit der funktionellen Abgrenzung andererseits die Frage, ob dies nicht Rückwirkungen auf das Verständnis der Verfassung haben muß. Sind in dieser Situation emphatische Verfassungstheorien noch möglich, die potentiell immer mehr und häufig unsicheren Gehalt in die Verfassung hineintragen? Um aus der Diskussion einen Punkt aufzugreifen: Herr Brohm hat dargelegt, daß aus der Verfassung Zielfunktionen abzuleiten sind; er hat damit die positive Seite einer gängigen Grundrechtsinterpretation angesprochen. Die Frage ist nur, ob dieses Grundrechtsverständnis das erforderliche Mindestmaß an Sicherheit und Bestimmtheit gewährleistet. Ist bei der bildhaften Vorstellung von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte eine relative Sicherheit darüber vorhanden, was „ausstrahlt", was also zum Rang und zur Ebene der Verfassung gehört, und was nur „angestrahlt" wird, was auf der Ebene des einfachen Gesetzes ist und bleiben muß. Ist nicht die Gefahr gegeben, daß bei diesem Verständnis der Grundrechte als Elemente objektiver Ordnung etwas Wichtiges ins Verschwimmen gerät, nämlich die Unterscheidung zwischen der vorrangigen Verfassung und dem einfachen Recht. Ich würde umgekehrt die Folgerung ziehen, daß bei einer so stark ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit wie nach dem Grundgesetz dem Konzept des Vorrangs der Verfassung sehr großer Nachdruck zugewiesen werden muß und daß die dogmatische Kleinarbeit zur Konkretisierung dieses Kon-

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zepts der Unterscheidung der beiden Ebenen geleistet werden muß. Dazu ein Beispiel: In der Literatur ist es üblich geworden, für viele gesellschaftliche Teilbereiche Teilverfassungen zu entwickeln, also von einer Wirtschaftsverfassung, einer Sozialverfassung, einer Arbeitsverfassung oder einer Kommunikations Verfassung des Grundgesetzes zu reden. Die Pointe dieser Teilverfassungen ist zumeist die, daß mit diesem Konzept beträchtlich mehr Gehalt gewonnen wird, als die Aufzählung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben würde. Zudem geschieht auch häufig ein fast unmerkliches Wechseln von der Aussage, ein Arbeitsoder Sozialrecht sei verfassungsgemäß, zur Aussage, es gäbe eine grundgesetzliche Sozial- oder Arbeitsverfassung. In dieser inhaltlichen, aber häufig auch unbestimmten Auffüllung der Verfassung sehe ich ein Grundproblem, das mich zur Frage des Verfassungsverständnisses zurückführt. Muß man nicht angesichts einer ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit bei jedem Verfassungsverständnis verlangen, daß es eine relative Gesichertheit und relative Vorhersehbarkeit seiner Maßstäbe ermöglicht? Muß man sich umgekehrt wundern, daß das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber so schwierig ist, wenn man im Staatsrecht materielle Gehalte entwickelt, die solche Unsicherheiten des Maßstabs und damit der Kompetenzabgrenzung notwendigerweise mit sich bringen? Grabitz: Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung, aber ich kam vorhin zu dem großen Streitgespräch erst später dazu und konnte Herrn Böckenförde nur in allerletzten Worten hören; ich wiederhole also möglicherweise etwas. Ich glaube aber, es ist nötig, daß man in diese Kerbe noch einmal haut. Ich kann einfach mit dem Satz von Herrn Schiaich nicht fertig werden — und das ist mein Ausgangspunkt und auch mein einziger Punkt, über den ich ein paar Paraphrasen hier machen möchte —: „Verfassungsrechtsprechung ist nicht Verfassungsgesetzgebung". Entweder ist dieser Satz eine Banalität, wenn er nämlich meint, daß Verfassungsrechtsprechung in dem Sinne nicht Verfassungsgesetzgebung ist, als sie keine Ausarbeitung von Gesetzestexten ist. Das ist ja wohl nicht gemeint, so kann ich Sie nicht verstehen. Oder aber der Satz ist wirklich falsch; wenn er nämlich mit „Verfassungsgesetzgebung" Gesetzgebung im materiellen Sinne meint. Darunter ist zu verstehen, was Art. 20 Abs. 3 GG ja auch dem Bundesverfassungsgericht positiv vorschreibt: die Anwendung von Recht neben dem Gesetz. Und Recht ist in aller Regel im Gegensatz zum Gesetz nicht geschrieben.

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Wenn dem aber so ist, so vermag ich die Schlußfolgerung nicht nachzuvollziehen, daß dieses etwa durch Konkretisierung von Verfassungsprinzipien gefundene, geschöpfte oder fortgebildete Recht (oder wie immer man die methodischen Verfahren zur Findung dieses Rechts bezeichnen soll), nicht Verfassungsrang haben soll. Mit „Verfassungsrang" kann doch nur der Rang der materiellen Verbindlichkeit gemeint sein; und ich sehe nicht, wo der Unterschied im Rang herkommen soll zwischen dem ungeschriebenen und dem in der Verfassung geschriebenen Recht. Danke. Vogel: Ein Satz als Vorschlag einer Antwort auf Herrn Grabitz: Der Unterschied könnte darin bestehen, daß das verfassungsgerichtliche Erkenntnis falsifizierbar ist — zumindest durch das Verfassungsgericht selber in dem Sinne, daß es seinerseits nicht an seine Entscheidung gebunden ist, vielmehr zu besseren Einsichten kommen kann. So ist das Gericht an seine Entscheidungen weniger streng gebunden als an Verfassungsgesetzgebung. Bachof: Zwei Sätze als Hinweis zu Herrn Grabitz: Die Verfassungsgerichte sind inzwischen schon dazu übergegangen, auch Gesetzestexte selbst zu formulieren; so bei einstweiligen Anordnungen und Vollstreckungsanordnungen. Schiaich: Ich beschränke mich jetzt auf den Satz meines Referates, Verfassungsgerichte schafften Richterrecht wie andere Gerichte auch; auf die Frage des Rangs des Richterrechts bin ich nicht eingegangen. Richterrecht aber ist jedenfalls etwas anderes als die Teilhabe an der Verfassungsgesetzgebung. Ich zitiere nochmals das Bundesverfassungsgericht mit der Aussage, ein Gericht, das gegen eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstoße, tue das „in verfassungswidriger Weise". Und ich erinnere an den bekannten amerikanischen Spruch, die Verfassung sei das, was der Supreme Court sage, daß sie es sei. Ich überlasse es Ihnen, ob es sich um eine praktische Frage oder um eine akademische Frage der Formulierung handelt. Aber die Begriffe müssen doch auch im Staatsrecht stimmen. Dogmatisch ist ein prinzipieller Unterschied zwischen Verfassungsgesetzgebung und Richterrecht im Bereich der Verfassung. Bei Smend heißt es denn auch richtig, Verfassungsrecht sei „praktisch" das, was das Bundesverfassungsgericht sage.

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Wenger: Was ich sagen möchte, k n ü p f t leider auch an P u n k t eins des Themenkatalogs an. Da jede Trennung im Problembereich notwendig nur relativen Charakter haben kann, ist das wohl unvermeidlich. Wenn Herr Korinek in seiner These 10 feststellt, den Verfassungsgerichten seien in methodischer und in prozeduraler Hinsicht Grenzen gezogen und überdies sei ihre Tätigkeit öffentlich kontrollierbar, so ist damit eine Frage angesprochen, die im Grunde genommen bei allen Diskussionsbeiträgen unausgesprochen im Raum stand: Wer kontrolliert eigentlich die Kontrolleure des Verfassungsgerichts und wie steht es mit der demokratischen Legitimation derer, die verbindlich feststellen, was in der Demokratie rechtens sein soll? Es ist zwar schon darauf hingewiesen worden, daß das gerichtliche Verfahren als solches dem Verfassungsgericht eine weitgehende Zurückhaltung gegenüber den Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers auferlegt. Das aber ist mehr eine Frage der Begrenzung des Entscheidungsspielraumes als eine Kontrolle des Entscheidungsprozesses. Meines Erachtens ist zuwenig darüber gesagt worden, daß, warum und wie die Tätigkeit der Verfassungsgerichte öffentlich kontrollierbar ist. Öffentliche Kontrollierbarkeit der Verfassungsgerichte kann fürs erste heißen, daß sie in öffentlicher Verhandlung entscheiden. Diese Öffentlichkeit der Verhandlung mag ein vordergründiges Verständnis des Öffentlichkeitsprinzips sein. Sie ist aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Das Öffentlichkeitsprinzip wird nämlich bereits relativiert, wenn bestimmte Vorentscheidungen ζ. B. über die Zulässigkeit einer Beschwerde oder eines Gesetzesprüfungsantrages in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden. Sind solche Vorentscheidungen wirklich immer nur Formalentscheidungen? Des weiteren: Wie ist es mit der Öffentlichkeit, wenn zwar eine öffentliche Verhandlung stattfindet, das Gericht sich aber darauf beschränkt, den Antragsteller und die belangte Stelle anzuhören, sich zu den beiderseitigen Vorbringen nicht äußert, sondern sich zur nichtöffentlichen Beratung zurückzieht und dann bekanntgibt, daß die Entscheidung — irgendwann — schriftlich ergeht. Die Entscheidung, das Urteil des Verfassungsgerichts ist der eigentliche Kernbereich der verfassungsgerichtlichen Tätigkeit, die sich der öffentlichen Kritik stellen muß. Das ist aber sinnvoll nur möglich, wenn man das Urteil im Zusammenhang mit seiner Begründung sieht. Ich verkenne zwar nicht, daß ein möglichst rasches Urteil der Rechtssicherungsfunktion dient, selbst wenn die Begründung eher spärlich ist. Die aber eben-

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falls unverzichtbare erzieherische Funktion gegenüber dem Gesetzgeber und gegenüber der V e r w a l t u n g kann die Verfassungsgerichtsbarkeit nur erfüllen, wenn sie — worauf bereits Herr Müller hingewiesen hat — ihre Entscheidungen einigermaßen rational, das heißt kritisch nachvollziehbar präsentiert. Ob und in welchem A u s m a ß das der F a l l ist, ergibt sich allein aus der Entscheidungsbegründung. Hier aber stellt sich die Frage, ob man der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit mehr dadurch dient, daß man, w i e es bei der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit der Fall ist, der Öffentlichkeit gegenüber den Eindruck erweckt, Entscheidung und Begründung stützten sich auf die einhellige Meinung aller beteiligten Mitglieder des Verfassungsgerichts, oder ob man, w i e das in den U S A und in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist, abweichende Minderheitsmeinungen der Öffentlichkeit gegenüber bekanntgibt und damit der rationalen K r i t i k Ansatzpunkte f ü r eine sachliche, weiterführende Diskussion zur Verfügung stellt. Die Furcht vor einer damit verbundenen Autoritätseinbuße eines Höchstgerichts scheint mir weniger ins Gewicht zu fallen als die mit dem dissenting vote eröffneten zusätzlichen Möglichkeiten einer Stärkung der öffentlichen Kontrolle und der erzieherischen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht zuletzt angesichts der damit zu erwartenden Verbesserung des Entscheidungsstils, der f ü r die S t ä r k u n g der funktionellen Autorität w o h l nicht unmaßgebend ist. Böckenförde: Ich möchte die These von Herrn Schiaich eben in der A n t w o r t auf Herrn Schneider aufgreifen und ihm da nachdrücklich beitreten. Wenn w i r die A u f f a s s u n g vertreten, verfassungsgerichtliche Entscheidungen seien im Grunde methodisch nicht kritisierbar, dann wird über kurz oder lang das Staatsrecht, das w i r darbieten und lehren, eine Systematisierung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, und w i r tun damit dem Verfassungsgericht selbst den schlechtesten Dienst. Die Frage nach dem Kontrollmaßstab hat Herr Korine)c ja sehr eindeutig formuliert. Es kommt auf die Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes an, und nur soweit diese reicht, kann eine Bindung e t w a des Gesetzgebers durch die Verfassung vorhanden sein. Und hier erhebt sich als zentrale Frage die nach den Methoden der Verfassungsinterpretation. Was kann noch als Verfassungsinterpretation auftreten, mit dem Anspruch, die Verfassung zu interpretieren und nicht einfach schöpferisch fortzuentwickeln und zu verändern? Wir wissen alle, daß es keine Überein-

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Stimmung darüber gibt, welche Methode der Verfassungsinterpretation gültig sein soll. Es fehlt uns ein methodischer Kanon, die Diskussion darüber ist in einer Weise offen, daß sich ein argumentativer Konsens darüber auch in der Ferne nicht abzeichnet. Damit ist natürlich auch das Gericht alleingelassen. Denn welche Verfassungsvorstellungen auch immer die einzelnen an der Entscheidungsfindung beteiligten Richter haben, es kommt doch darauf an, daß das Urteil sich nach einer anerkannten Methode und ihren Standards als Verfassungsinterpretation ausweist. Die Frage greift noch weiter: Die Methode muß dem Gegenstand angemessen sein, also kommt die Vorstellung, besser: der Begriff von Verfassung notwendig mit ins Spiel. Herr Korinek hat die These von der Verfassung als Rahmenordnung, die ich mal vorgeschlagen habe, aufgegriffen. Es ist natürlich nicht ohne Bedeutung für die angemessene Methode ihrer Interpretation, ob ich die Verfassung als rechtliche Grundordnung des politischen Gemeinwesens auffasse oder als Rahmenordnung oder als Wertordnung. Zur Frage der zulässigen Konkretisierungen: Wir sprechen oft davon, die Verfassung habe einen nicht geringen Bestandteil sog. offener Normen. Dann müssen diese Normen aber auch offen bleiben. Es ist dann nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, sie zu schließen. Andernfalls kommt es zu einer Verdichtung, wie wir sie beim alten § 14 des Preußischen Polizei-Verwaltungsgesetzes erlebt haben, wo die offene Norm allmählich zu einer bestimmten gemacht wurde. Das bedeutet auf der Ebene der Verfassung eine entsprechende Einengung des Gesetzgebers und damit der Entscheidungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsorgans. Ich möchte mich hier nicht wiederholen und Dinge noch einmal vortragen, über die ich mich schon geäußert habe. Zum Schluß noch eine Frage, die keine rhetorische, sondern eine echte Frage ist: Führt nicht die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als eines universalen, in der Verfassung selbst (über das Rechtsstaatsprinzip) enthaltenen Prüfungsmaßstabs durch das Verfassungsgericht dazu, daß das Gesetz immer mehr die Geltung aus sich selbst verliert? Was Otto Mayer die Unverbrüchlichkeit des Gesetzes genannt hat, geht verloren, das Gesetz wird herabgestuft auf die Ebene der Verordnung. Es ist nurmehr ein normatives Mittel und muß sich als verhältnismäßig ausweisen gegenüber Zielen, die in der Verfassung oder sonstwie vorgegeben sind. Früher war die Verhältnismäßigkeit bei der Anwen-

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dung des Gesetzes, das ihr vorgelagert war, das entscheidende. Wenn jetzt Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Verfassung und auf Staatszielbestimmungen eine Anforderung an das Gesetz wird und nach den bekannten Stufen durchgeprüft wird, dann ist das Gesetz strukturell nicht mehr als eine Verordnung. Meine Frage ist, wie man an diesem Punkt weiterkommen kann. Häberle: Ganz kurz zwei Überlegungen. Erstens: Es ist uns meines Erachtens bisher noch nicht voll geglückt, die Art und Weise, wie Verfassungsfortbildung durch Verfassungsrichterspruch methodisch und sachlich geschieht, in den Griff zu bekommen. Daher einige Stichworte: Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ist Beschränkung, Rationalisierung und Kontrolle staatlicher und gesellschaftlicher Macht, sie ist inhaltliche Arbeit am Konsens, sie liegt im je neuen Schutz der Minderheiten und der Schwachen, im flexiblen zeitgerechten Reagieren auf neue Gefahren für die Würde des Menschen, in ihrem nicht unpolitischen Steuerungsund Antwortcharakter. In der Methodenfrage sollte man pragmatischer vorgehen. Wir haben überdies ausgerechnet uns selbst vergessen: Die Verfassungsrechtsîehre macht doch ständig Theorieangebote, eine Fülle von Theorieangeboten! Im Interesse einer Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit zerbrechen wir uns doch Tag und Nacht den Kopf über die verschiedenen möglichen Theorien. Die Wissenschaft hat Vor-Arbeit zu leisten: die Aufgabe des Verfassungsgerichts zwischen Rechtswissenschaft und Politik ist es dann, eine pragmatische, kompromißhafte Integration von Theorieelementen zu suchen. Nie sollte eine Theorie absolut „rein" und komplett übernommen werden. Das Gericht hat ζ. B. zu sagen, daß nicht nur die „liberale" Grundrechtstheorie recht hat, daß nicht nur der TeilhabeGrundrechtstheorie das Feld gehört, sondern flexibel verschiedene Theorien allgemein und speziell zu kombinieren sind, daß nicht nur dem großen Bundesverfassungsrichter Leibholz in seiner Parteienstaatsdoktrin zu folgen ist, etc. Es hat zu fordern, daß jetzt auch hier andere Theorieelemente hinzukommen. Warum? Weil nämlich die zweimal acht Verfassungsrichter mit ihrem je unterschiedlichen politischen und menschlichen Vorverständnis an ihre praktischen Fälle gehen, sie der Idee nach das ganze Spektrum des politischen Gemeinwesens, seine Menschen und Gruppen in ihrer Unterschiedlichkeit spiegelhaft repräsentieren sollen. Darum das Gebot „pragmatischer Integration von Theorieelementen",

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darum die Forderung nach nicht pauschaler Übernahme einer einzigen Theorie. Keiner von uns hat die absolut richtige Theorie! Diese Relativierung gilt natürlich auch f ü r mich selbst. Zweitens, auch zur rechtsvergleichenden Bemerkung von Herrn Zacher: Herr Müller hat uns eindringlich geschildert, wie das Prinzip Öffentlichkeit im Schweizer Bundesgericht sogar bei den Beratungen praktiziert wird und wie das menschlich-ethisch geschehen soll. Ich finde diese Praxis faszinierend. Rechts- und kulturvergleichend wäre zu fragen, ob öffentliche Beratungen derzeit auch am deutschen Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe möglich und sachlich ergiebig wären. Ich habe Zweifel. Die sehr andere politische und Rechtskultur der Schweiz ist offenbar durch lange bundesgerichtliche Verfassungsgerichtstätigkeit so gereift, daß sie sich die öffentliche Beratung ihrer Richter leisten kann. Wir und auch Karlsruhe müßten wohl noch viel Erziehungsarbeit leisten, um dieses Ziel ebenfalls zu erreichen: ein Beleg f ü r die Unterschiedlichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeiten je nach Verfassungsstaat und politischer Kultur. Meyer: Herr Schiaich hat in These 8 davor gewarnt, den kompensatorischen Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit zu stark zu betonen. Dieser Warnung schließe ich mich an, aber die Frage ist, ob nicht in einem gewissen anderen Sinne vielleicht doch kompensatorisch gearbeitet werden muß. Ich möchte dies an einem Beispiel klarmachen. Bei der Reform der landwirtschaftlichen Besteuerung ist man offenb a r in den Ministerien von der Verfassungswidrigkeit der neu gefundenen Regelung überzeugt, war aber andererseits sicher, im Parlament nichts anderes durchsetzen zu können, und hofft im Hintergrund, die Verfassungsgerichtsbarkeit werde hier das rechte Wort schon sagen. Ohne dem Thema von morgen vorzugreifen, scheint mir auch im Hinblick auf die Besteuerung dem Gesetzgeber wie auch sonst die gesetzgeberische Freiheit zuzustehen und das Gericht sollte gerade bei Fragen des Art. 3 nicht allzu engherzig sein. Aber was hat es mit der gesetzgeberischen Freiheit auf sich, wenn wir alle wissen, daß diese gesetzgeberische Freiheit wegen der Stärke einer sozialen Minderheit nicht bestanden hat und sie sich deshalb nicht hat auswirken können. Die Frage ist, ob nicht doch die Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem P u n k t e kompensatorisch wirken müßte — das ist sicher ein gefährliches Feld —, und ich meine, sie würde hier nicht anders kompen-

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satorisch wirken, als sie es im Öffentlichkeitsurteil bei der Wahlwerbung getan hat. Welche Konsequenzen ziehen wir aus unserer Unsicherheit und unserer Ratlosigkeit in der Methodenfrage? Ich glaube, die Ratlosigkeit läßt sich nicht beseitigen, wir können sie lediglich ein wenig verringern. Die Konsequenzen scheinen mir aber auf der Hand zu liegen. Diese können nur sein, im Sinne von Herrn Schiaich den § 31 BVerfGG restriktiv und nicht extensiv zu interpretieren, die Verfassungsgerichtsbarkeit als Staatsfunktion nicht hochzustilisieren, sondern sie ganz nüchtern zu nehmen, die Gnade des Vergessens zu üben und das Verfassungsgericht dort zu rügen, wo es fast besinnungslos Verweisungsketten auf frühere Rechtsprechung übernimmt, die nicht stimmen. Herr Bettermann hat in einem schönen Aufsatz über die Wahlprüfung eine von diesen Ketten nachgewiesen. Man staunt nur, wenn man sie nachliest. Es gibt eine ganze Menge anderer solcher Ketten, so z. B. zur 5%-Klausel im Kommunalwahlrecht. Das Grundurteil rechtfertigt die Sperrklausel lediglich wegen der Städteagglomeration im Ruhrgebiet. Für eine Übertragung auf kleine Gemeinden ζ. B. in Baden-Württemberg gibt das Urteil nicht den geringsten Anhaltspunkt. Heute haben wir eine Verweisungskette, in der kein Glied irgend etwas Materielles zu dem Problem beiträgt und der Ursprung längst vergessen ist. Diese Art von Rechtsprechung, die sich selbst verfestigt, ohne sich bewußt zu sein, mit welchen Skrupeln und Einschränkungen die erste Entscheidung getroffen worden ist, wird um so gefährlicher, als — und hier stimme ich Herrn Schiaich auch zu — die Rechtsprechungskommentare sie übernehmen und den Eindruck erwecken, alles sei schon entschieden, was unsere Studenten wiederum dazu verleitet, mit einem Zitat von Leibholz-Rinck die Sache als erledigt anzusehen. Sie ist meist nicht erledigt und dies nachzuweisen ist, glaube ich, eine unserer Aufgaben. Im Hinblick auf das Gericht resultiert aus dieser schwierigen Methodenfrage m. E. die notwendige Folge, daß es alles Redundante wegläßt und redundant sind nicht nur die obiter dicta, redundant sind alle Ausgriffe auf die Möglichkeit des Gesetzgebers. Sie sind nur dann zulässig, wenn der Vorwurf der möglichen Alternative erst die Verfassungswidrigkeit begründet; dann muß das Verfassungsgericht die andere Lösungsmöglichkeit aufzeigen. Aber das Gericht geht in sehr vielen Fällen dazu über, Hinweise, Fingerzeige zu geben, eine erzieherische Funktion zu übernehmen, und diese Funktion kann es wegen der methodischen Schwierigkeiten in meinen Augen nicht haben.

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Stern: Ich bin Herrn Haberle besonders dankbar, daß er die Aufmerksamkeit wieder auf einige Grundpositionen zurückgelenkt hat, die leider angesichts der vielen wichtigen Fragen, die wir in der letzten halben Stunde zum Teil sehr leidenschaftlich diskutiert haben, verloren gegangen sind. Es ist schon am Anfang angeklungen, und nicht umsonst haben Herr Korinek, Herr Winkler, Herr Ipsen und Herr Zacher darauf hingewiesen, daß wir uns hier in einer vergleichenden Diskussion befinden. Leider ist bei dieser vergleichenden Diskussion etwas untergegangen, daß wir eine Reihe europäischer Staaten haben, die keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen — Herr Donner hat darauf besonders im Hinblick auf seinen Heimatstaat hingewiesen, neben dem andere Staaten zu nennen wären. Meine Herren, ich meine, daß wir, zurückgeblendet auf die Beratung, die 1928 geführt worden ist, hier in dieser Vereinigung, wo es um die Frage gegangen ist, ob überhaupt Verfassungsgerichtsbarkeit, heute vor allen Dingen nur noch diskutieren, wieweit und zu welchem Zweck. Darin liegt eine ganz entscheidende Weichenstellung gegenüber den knapp 60 Jahren, die seither vergangen sind. Und in dieser Wandlung besteht trotz gewisser Differenzierungen in den drei Referaten eine große Übereinstimmung: Alle drei Referenten haben klar gesagt, die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein notwendiger Bestandteil in einem Verfassungsstaat. Freilich nimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit je nach historischen Traditionen und politischer Kultur einen unterschiedlichen Stellenwert in allen drei Staaten, die hier behandelt worden sind, ein. F ü r Deutschland hätte man sehr wohl sagen können — Herr Schiaich, vielleicht gehen Sie in Ihrem Schlußwort, da Sie Carl Schmitt wiederholt zitiert haben, noch darauf ein —, die Weimarer Verfassungsgerichtsbarkeit war etwas anderes f ü r den Staat der Weimarer Republik als die Verfassungsgerichtsbarkeit es nunmehr f ü r die Bundesrepublik Deutschland ist. Insofern ist Existenz und Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit von wesentlicher Aussage f ü r den Gehalt, f ü r den Wert, f ü r die Bedeutung des Verfassungsrechts überhaupt; dieses hat eine andere Dimension gewonnen, was f ü r den Staat insgesamt von Belang ist. Burmeister: Im Anschluß an Herrn Böckenförde kann ich mich kurz fassen: In der Tat, die Methodenlehre ist f ü r die Problematik der verfassungsgerichtlichen Kompetenzbegrenzung die Schlüsselfrage. Hier stellt sich f ü r mich immer deutlicher die zentrale Überlegung, ob nicht mit der zutref-

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Aussprache

fenden Qualifizierung der Verfassung als Gesetz die verhängnisvolle Folgerung verbunden war, die Verfassung sei auch wie ein Gesetz, d. h. mit den Mitteln und Methoden der einfachen Gesetzesauslegung, zu interpretieren. Ist nicht die Verfassung eine völlig andere Art, eine andere Kategorie von Gesetz, das bei weitem nicht in jenem Maße den geisteswissenschaftlichen Methoden der Gesetzesauslegung, der stillschweigenden Fortentwicklung zugänglich ist, wie dies für die methodische Position des Bundesverfassungsgerichts kennzeichnend und für die — jederzeit korrigierbare — Auslegung des einfachen Gesetzes sinnvoll sein mag? Stellt nicht die Verfassung eine Art von Gesetz dar, bei deren Interpretation wir uns wirklich — ich will hier nicht die Forsthoff sehe Position vertreten — die Grundfrage stellen müssen, ob wir nicht zu einem gewissen Methodenkanon, zu einem Grundkonsens über die anzuwendenden Methoden zurückfinden müssen? Quaritsch: Die von Herrn Meyer gebrauchte Metapher, das Bundesverfassungsgericht habe seine Unschuld verloren, erscheint mir zu konservativ, gleichsam viktorianisch. Im wohl eher progessiven Speyer jedenfalls ist der Verlust der Unschuld kein öffentlich zu beklagender Tatbestand. Auf Ursache und Rechtfertigung des „Unschuldverlustes" hat Herr Meyer selbst mit dem Stichwort „Komplementärfunktion" hingewiesen. Diese Aufgabe ist dem Bundesverfassungsgericht nur zugefallen, weil der Gesetzgeber die Gebote und Aufträge des Verfassunggebers nicht oder unzureichend ausgeführt hat — aus welchen Gründen auch immer. Wenn — dieser Hinweis für Herrn Burmeister — die Verfassung unmittelbar gelten soll (Art.l Abs. 3 GG) und wenn Berufsjuristen eingesetzt werden, die unmittelbare Verfassungsgeltung zu überwachen und zu erzwingen (Art. 93 GG), dann wird eine Automatik in Gang gesetzt, die zu den Erkenntnissen führt, die jetzt 50 Bände der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts füllen. Normzwang und Berufsverständnis professioneller Juristen hätten gegenteilige Absichten scheitern lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwanzig Jahre lang immer wieder auf die Ausführung der Verfassungsaufträge hinweisen müssen. Das Parteiengesetz und andere heikle Vorhaben wären ohne das Bundesverfassungsgericht fromme Wünsche geblieben. Der rechtliche Zwang der Verfassung einerseits, die Uneinigkeit, Unschlüssigkeit oder auch Unlust des Parlaments andererseits haben das Bundesverfassungsgericht zum „Ersatzgesetzgeber" ge-

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macht, zu einem Notstromaggregat f ü r das ordnungsgemäße Funktionieren des staatlichen Betriebes. Der Beitrag von Herrn Donner führt mich auf einen zweiten Punkt. Weshalb genügt in Deutschland nicht die Berufung auf die demokratische Dignität und Legitimation der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung? Weil den Deutschen Mehrheit allein nicht zureicht, das Gesetz der Mehrheit soll sich als Realisierung von Recht darstellen. Der Nachweis der Rechtsverwirklichung wird durch die Übereinstimmung mit der Verfassung geführt. Der Gesetzgeber reagiert auf dieses Bedürfnis oft ungefragt, indem er von jedem seiner Produkte behauptet, es erfülle dieses oder jenes Verfassungspostulat — und sei es das Sozialstaatsgebot. Ein Grund für jenes Bedürfnis ist wohl die politische Erfahrung, die mit der Mehrheitsentscheidung des Parlaments für das Ermächtigungsgesetz von 1933 gemacht worden ist. Einen zweiten Grund sehe ich in den knappen Mehrheiten. Wenn über Regierung und Opposition durch eine Stimmendifferenz von ein oder zwei Prozent oder Prozentbruchteilen entschieden wird, dann ist f ü r die „Minderheit" der Mehrheitswille allein keine überzeugende Begründung. Zur demokratischen, aber formalen Legitimation muß die rechtliche aus einer materiellen Verfassungsnorm hinzutreten. Ein letzter Punkt: Herr Müller hat mit Recht empfohlen, auf die Ergebnisse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu blicken, nicht darauf, wie sie zustande gekommen sind. Von 3500 Gesetzen sind 160 als in Einzelheiten verfassungswidrig beanstandet worden. Die Kritiker der „Methoden" des Bundesverfassungsgerichts müßten angeben, in wievielen und in welchen Fällen und warum die Resultate falsch gewesen sind. Ob ein Ergebnis richtig gewesen ist, sollte nicht durch juristische Subsumtions- und Abwägetechniken ermittelt werden; darüber ließe sich endlos streiten. Gefragt werden müßte vielmehr, ob die Beteiligten das Urteil politisch und sozial resorbiert haben, ob also das Urteil wirklich Rechtsfrieden schaffen konnte. Das aber ist dem Bundesverfassungsgericht in fast allen Fällen gelungen. In fast allen Fällen, für den Rest möchte ich auf die Metapher von Herrn Meyer rekurrieren: Fehltritte kommen in den besten Familien vor. Hesse: Ich hatte eigentlich vor, mich nicht zu Wort zu melden, und habe das auch bis zum Schluß durchgehalten, möchte mir nun aber doch zu einem Punkt eine ganz kurze Anmer-

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Aussprache

k u n g erlauben. Sie b e t r i f f t die m e h r f a c h als grundsätzlich bezeichnete Methodenfrage, die Frage: w i e h ä l t es das Bundesverfassungsgericht mit der Methode? Dazu m u ß ich vielleicht doch ein w e n i g aus der Schule plaudern und sagen: w i r k ö n n e n nicht — es ist schon gesagt w o r d e n — a b s t r a k t e Methodendiskussionen führen. Das ist auch g a r nicht so schlimm, w i e es vielleicht m a n c h e m hier erscheinen m a g , und m a n braucht sich diese S i t u a t i o n auch nicht — j e d e n f a l l s w i r e m p f i n d e n es nicht so — als ein besonderes D i l e m m a vorzustellen. A l s w e s e n t l i c h w i r d es bei uns v i e l m e h r angesehen, und das scheint m i r richtig, daß m a n baldmöglichst zur Sache k o m m t . Wird diese Sache dann in ihrer Eigengesetzlichkeit, m i t ihren P r o b l e m e n , v o n guten Juristen juristisch gut behandelt, dann k ö n n e n diese Juristen durchaus verschiedene Methoden haben. Es k o m m e n dabei, w i e ich meine, t r a g b a r e Entscheidungen heraus. — Das ist allerdings w i e d e r eine F r a g e der K r i t i k , die diesem K r e i s überlassen w e r d e n m u ß , dem ich mich zugehörig fühle. A b e r ich meine, auch die D e b a t t e n hier hängen w e s e n t l i c h d a v o n ab, d a ß sie v o n guten Juristen g e f ü h r t werden, und nicht v o n der Methode, die diese v e r f o l g e n .

Vorsitzender: V i e l e n D a n k . D a m i t schließe ich die D e b a t t e und gebe den R e f e r e n t e n Gelegenheit zu einem kurzen S c h l u ß w o r t . Herr Schiaich bitte:

Schiaich: 1. Ich b i n ü b e r die letzte Runde der D i s k u s s i o n g l ü c k l i c h . S i e hat mein T h e m a „ Z u r ü c k zur V e r f a s s u n g " nun auch inhaltlich a u f g e n o m m e n . Ich habe nicht die H o f f n u n g , d a ß m a n zu einem einzigen, einheitlichen K a n o n der Verfassungsinterpretation k o m m e n w i r d , w o b e i ich hier, Herr Haberle, o f f e n l a s s e n k a n n , ob m a n sich die V i e l f a l t zu wünschen oder lediglich hinzunehmen hat. Ich w o l l t e zeigen, d a ß in diesem D i l e m m a die A n s t r e n g u n g u m die Interpretation der V e r f a s s u n g i m m e r noch besser zum Ziel f ü h r t als so mancher U m w e g , der aus R a t l o s i g k e i t in der M e t h o d e n f r a g e gegangen w i r d . Das Gespräch ü b e r den Regelungsgehalt der V e r f a s s u n g scheint m i r i m m e r noch präziser als dasjenige über die S t e l l u n g des Gerichts innerhalb der S t a a t s f u n k t i o nen. A b e r ich möchte das nicht w i e d e r h o l e n , ich möchte es so schön sagen k ö n n e n w i e eben Herr Meyer! Nur, Herr Quaritsch, ich h a l t e ganz g e n a u nicht f ü r ausreichend, n u r auf das Ergebnis der Entscheidungen des Bundesverfassungsge-

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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richts zu schauen. Einverstanden, daß auch ich keine 10 Entscheidungen unter den 160 erfolgreichen Normenköntrollentscheidungen aufbringe, die ich im Ergebnis für falsch halten würde. Aber es ist gerade nicht das Geschäft der Staatsrechtslehre, nur auf das Ergebnis zu schauen — nach welchen Kriterien eigentlich? —, sondern nach der dogmatischen, für Juristen konsensfähigen Begründung der Entscheidung zu fragen. Es geht doch auch ums Handwerkszeug. 2. Ich habe nicht leugnen wollen, daß Verfassungsgerichte und alle Gerichte gesetzgeberische Defizite immer wieder kompensieren müssen. Es gibt Richterrecht. Problematisieren wollte ich den Zirkel, ja die zirkuläre Beschleunigung zwischen verfassungsgerichtlicher Kompensation durch weitausgreifende Entscheidungen und der Nichtbehebung parlamentarischer Mängel. In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik an der extensiven Inanspruchnahme der Figur der verfassungskonformen Auslegung der Gesetze zu stellen; durch sie soll der Gesetzgeber von einer Nichtigerklärung der Norm verschont werden, die Verschonung des Gesetzgebers kann aber letztlich in eine faktisch noch stärkere Festlegung umschlagen. Nicht bewältigt habe ich eine gewichtige Frage, die insbesondere Herr Lerche gleich zu Beginn der Diskussion aufgeworfen hat: Muß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht einspringen können, wo „Not am Mann" ist, wo niemand anderer da ist, und dies auch, wo die Verfassung dazu nichts sagt? Zwei in diesem Zusammenhang allerdings harmlose Fälle: ein dem Gericht letztinstanzlich vorliegendes Gesetz ist nicht verfassungswidrig, aber schlichter Unsinn; oder der vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Fall der Entfernung eines Reporters aus dem Gerichtssaal durch ein Amtsgericht, dessen Entscheidung ganz schlicht und einfach „offensichtlich" vom Gesetz nicht gedeckt ist. Soll das Bundesverfassungsgericht, wenn der Fall ihm nun einmal vorliegt, hier nicht helfen, nicht gleichsam Feuerwehr spielen können? Soll man einen generellen, Art. 3 GG überschreitenden verfassungsrechtlichen Bereich der Willkür und einer entsprechenden Notkompetenz des Bundesverfassungsgerichts eigens herausarbeiten? 3. Ich habe das Bundesverfassungsgericht nicht gelobt, nicht verteidigt; in unserem Kreise ist dies selbstverständlich. Ich bin aber froh, Herr Stern, daß Sie es sagten. Wir müssen das Bundesverfassungsgericht verteidigen und wir alle tun es — auch durch unsere Kritik. Wir müssen dies auch

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Aussprache

im Vorrat auf schwierigere Zeiten tun. Im Interesse gerade einer Sicherung der Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Dauer hielt ich es für richtig, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Gericht — seine Bindung an Anträge, Verfahrensvorschriften, an den Streitgegenstand und den Einzelfall — deutlich herauszuheben. Denn nur in dieser Rolle, nicht in einer partiellen jeweiligen Teilhabe an der Staatsleitung, nicht in der ausgreifenden Gestaltung ganzer Bereiche anstelle des Gesetzgebers, sofern es nicht der An+rnpr prlaubt. wird es seine ganz spezifische Legitimität bewahren; seine Wirksamkeit im Kontext der politischen Mächte ist ausschließlich auf diese Legitimität gegründet. Dasselbe im Bild: ich hielt es im Jahre 1980 für meine Aufgabe, das Lieblingsstück der deutschen Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz nun nach 30 Jahren aus dem Festivalprogramm des Staatstheaters heraus- und ins Repertoire des Hauses zu nehmen: nicht um dem Stück etwas von seinem Glanz, seinem Ansehen und seiner Kraft zu nehmen, sondern weil sich der demokratische Rechtsstaat ebenso wie ein gutes Theater durch die Qualität in der Normalität, im Repertoire und nicht in gelegentlichen Festivalaufführungen auszeichnet. Ihnen Allen vielen Dank! (Beifall) J. P. Müller: Herr Haberle hat zu Recht nochmals auf die Wichtigkeit der Öffentlichkeit der Verfassungsrechtsprechung hingewiesen; gemeint ist jetzt nicht nur die Öffentlichkeit der Beratung in einem formellen Sinn. Das Bundesgericht hat in einem kürzlichen Entscheid eine wachsame öffentliche Meinung als seinen Partner im Grundrechtschutz bezeichnet; es hat gesagt, der gerichtliche Grundrechtschutz könne mitunter zu spät kommen und dann hänge alles davon ab, daß etwa die Presse oder andere Organe der Öffentlichkeit rechtzeitig reagieren. Zur Öffentlichkeit der Verfassungsrechtsprechung gehört auch der Dialog mit der Staatsrechtslehre; wichtig scheint mir aber gerade auch, daß die andern Geisteswissenschaften mit einbezogen werden. Der Dialog, in dem sich Verfassungsrechtsprechung fortentwickelt, hat aber auch grenzüberschreitenden Charakter, und hier öffnet sich nochmals die Rechtsvergleichung als Erkenntnisquelle. Ein kleines Land wie die Schweiz ist darauf ganz besonders angewiesen, und an diesem Punkt möchte ich Ihnen meinen ganz besonderen Dank aussprechen, weil das schweizerische Bundesgericht gerade in seiner Verfassungsrechtsprechung in den letzten Jahrzehnten ganz erheblichen Gewinn von der Arbeit Ihres Bundesverfassungsgerichts gezo-

Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen

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gen hat, denke ich nur an die Ausgestaltung des Gesetzmäßigkeitsprinzips etwa in den besondern Rechtsverhältnissen, in der LeistungsVerwaltung, in der Suche nach Schranken zulässiger Delegation oder in zahlreichen andern Fragen. Ich danke Ihnen für das Wohlwollen, mit dem Sie auf meine Berichte und Argumente eingegangen sind. (Applaus) Korinek: Auch ich, meine sehr verehrten Herrn Kollegen, möchte mich sehr herzlich bedanken für die Diskussion, für das Aufnehmen einer Ihnen manchmal vielleicht ein bisserl exotisch anmutenden Rechtsauffassung. Ich möchte mich jetzt beim Schlußwort kurz halten und nur mehr auf einige offene Fragen eingehen: Herrn Meyer habe ich noch nicht gesagt, daß sein Verständnis meiner These 2 (die Unsicherheit ist sicher auf die Ihnen ungewohnte Terminologie zurückzuführen) parallel liegen dürfte. Ich möchte noch eine zweite These von Herrn Meyer aufgreifen: Mich hat sehr beeindruckt, was er gesagt hat über die Gefahr, die darin liegt, daß man aus einem einzelfallbezogenen Urteil allzuviel generelle Aussagen herausliest. Das trifft nicht so sehr das Gericht, sondern vor allem die Wissenschaft oder auch die Praxis, die aus einem Erkenntnis Aussagen oft und oft herausnimmt, aus dem Zusammenhang löst und versucht, die ganz spezifisch gemeinte Aussage auch für weiß Gott nicht den gleichen Sachverhalt anzuwenden. In dem Zusammenhang auch ein Wort zu Herrn Zacher. Herr Zacher, ich möchte mich auch sehr bedanken bei Ihnen, Sie haben mich sogar geschont (ich wurde allgemein geschont in der Diskussion), Sie haben mich soweit geschont, daß Sie mir gesagt haben, Sie wollen mich nicht frontal sondern seitlich angreifen, was aber bei mir auch schon ziemlich egal ist. Aber Sie haben dazu gesagt, daß die Einzelfallorientierung des Verfahrens einfach inadäquat ist. Ich würde mir natürlich leichter tun jetzt in der Entgegnung, wenn Sie die These belegt hätten. Ich möchte — ergänzend zu dem, was ich im Referat gesagt habe und was ich unterstreichen möchte — nur eines noch dazu sagen: Ich glaube, ich hätte vielleicht eine ganz ähnliche Position vor einigen Jahren eingenommen, habe aber durch die Erfahrung im Verfassungsgerichtshof viel stärker die Problematik erkannt, die darin besteht, daß man gewisse Konsequenzen — auch wenn man sich noch so bemüht — einfach nicht abschätzen kann, ohne den Bezug zum Fall herzustellen. Das ist sogar eine gewisse grundsätzli-

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Aussprache

che Distanz zum abstrakten Normenkontrollverfahren; Herr Friesenhahn hat auf diese Problematik vor vielen Jahren schon literarisch hingewiesen. Ich darf dann noch sagen, daß mir das, w a s Herr Kollege Stern gesagt hat, so völlig richtig erscheint, daß ich es gerne sozusagen zu meinem Schlußwort machen möchte. V o r allem halte ich es mit Stern f ü r unerhört wichtig, in die rechtsvergleichende Betrachtung auch die rechtliche Umwelt, die Rechtskultur in den einzelnen Staaten mit einzubeziehen; das gilt auch f ü r die jetzt am Schluß sehr stark hervorgehobene Methodenfrage: auch das, w a s ich in meinem Referat in den letzten paar Minuten nur thesenhaft zur Methode sagen wollte, ist natürlich spezifisch auf die österreichische Verfassungsumwelt bezogen, wobei v o r allem die leichte Abänderbarkeit der österreichischen Verfassung von Bedeutung ist. Bedenken möchte ich noch gegen die sehr offene Interpretationsweise von Herrn Häberle äußern. Daß man ein bißchen von der Theorie und ein bißchen von jener Theorie nehmen kann, ohne daß man darüber einen Konsens zumindest im Verfassungsgericht selbst für absehbare Zeit findet, halte ich deshalb f ü r gefährlich, w e i l es zu zwei Konsequenzen führen kann. Erstens dazu, daß die Möglichkeit der rationalen Nachprüfbarkeit weitgehend verloren geht, und zweitens, w e i l diese Offenheit im E f f e k t doch die G e f a h r mit sich bringt, daß die verfassungsgerichtliche Entscheidung eine Mehrheitsentscheidung w i r d und die methodische Begründung dem nachgereicht wird. Ein bisserl erinnert mich das — und damit darf ich schließen — an einen Satz, den ein Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs in der Beratung sehr oft sagt, den ich jetzt auch auf mich beziehen will, f ü r diese heutige Veranstaltung: „ M a n kann das — nach der Verfassung — so machen, und man kann das so machen, nur so w i e es der Referent gemacht hat, so kann mans sicher nicht machen." (Heiterkeit und Beifall) Vorsitzender: Meine sehr verehrten Herren, w i r sind damit am Ende der heutigen Beratung angekommen. Ich glaube, daß w i r zwar kein Problem haben voll lösen können, so wenig w i e die Referenten, aber doch vielleicht in einem recht lockeren und lebendigen Gesprächsstil Anregungen zum weiteren Nachdenken gefunden haben. Die Referenten haben durch ihre gemeinsame, gründliche Vorbereitung dazu genauso beigetragen wie Sie durch Ihre Bereitschaft zur Geduld und zu raschem, lebendigem Eingreifen in die Diskussion. Ich danke Ihnen allen sehr. (Beifall)

Zweiter Beratungsgegenstand:

Besteuerung und Eigentum 1. Bericht von Professor Dr. Paul Kirchhof, Münster Inhalt A.

I. Die eigentumsschonendste Art der Finanzausstattung . 1. Alternativität von Steuerstaat und Eigentümerstaat 2. Die Konturenarmut des Steuerrechtsverhältnisses . II. Die finanzverfassungsrechtlich vorausgesetzte Besteuerungsgewalt III. Der Parlamentsvorbehalt 1. Die Ausgabenwilligkeit des Steuergesetzgebers . . 2. Entstehen von Steuerrecht außerhalb des Gesetzes . B.

Seite

Die Aufgaben eines Grundrechtsschutzes im Steuerstaat

215 . . .

215 215 216

. .

218 219 220 221

Die Belastung des privatnützigen Eigentümerhandelns

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I. Besteuerung der Zahlungsfähigkeit II. Steuerbetrag und Steuergegenstand 1. Die Fragestellung in der Rechtsprechung 2. Die Eigentümerfreiheit im Steuerstaat 3. Die steuerliche Teilnahme am Nutzen von Eigentümerhandeln III. Der Steuerzugriff auf Vermögen 1. Die Belastung des konkreten Vermögens a) Der unmittelbare Zugriff auf konkretes Vermögen b) Der mittelbare Zugriff auf konkretes Vermögen. . 2. Der Zugriff durch eine Gesamtsteuerlast 3. Das Verbot enteignender Steuern

233 234 234 237 238 238 240

C.

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Die Steuerpflichtigkeit des Eigentumsgebrauchs . . . .

I. Der Eigentumsgebrauch als steuerlicher Regeltatbestand II. Die Typologie der Steuerphasen 1. Die Eigentumsverwendung 2. Der Eigentumsbestand 3. Das Einkommen III. Die Verteilungswirkung der Eigentümersteuern . . . . IV. Steuerzugriff und Steuerbedarf

226 227 227 231

242 243 243 244 244 247 250

214 D.

Paul Kirchhof Die gesetzliche Ausgestaltung der besteuerbaren Eigentümerrechte

254

I. Die Eigenständigkeit steuerlicher Tatbestandsbildung 1. Die steuerliche Beobachtungsperspektive 2. Die steuerliche Rezeption von Rechtsbegriffen . . . 3. Der Zähl-und Meßwert der Währung II. Die steuerplanende Sachverhaltsgestaltung III. Die Typisierung 1. Die Besteuerung nach sozialtypischen Erwartungen . 2. Respekt vor der Privatsphäre 3. Die Vereinfachung im Massenverfahren

254 254 256 258 259 264 264 265 267

E.

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Privateigentum als steuerrechtsleitendes Prinzip

. . .

I. Die Intensität der Besteuerung 1. Der Zuwachs an persönlicher Eigentümerfreiheit 2. Der ertragsfähige Bestand 3. Die Eigentumsverwendung II. Das Gleichmaß der Besteuerung

. .

270 270 273 276 277

Besteuerung und Eigentum

215

A. Die Aufgaben eines Grundrechtsschutzes im Steuerstaat I. Die eigentumsschonendste Art der Finanzausstattung 1. Alternativität

von Steuerstaat und

Eigentümerstaat

Die Steuer bestätigt und bedroht das private Eigentum. Ein Staat, der seinen Finanzbedarf durch Forderungen gegen Privateigentümer deckt und nicht selbst Eigentum bewirtschaftet, anerkennt in der Art seiner Finanzausstattung das Privateigentum. Die Besteuerungsbefugnis erlaubt, am Ertrags- und Tauschwert von Privateigentum teilzuhaben, setzt aber voraus, daß die Steuerquelle ,,Eigentum" auf Dauer in privater Hand bleibt1. Das Steuerrecht verweist staatliches Finanzbegehren auf das liquide Geldvermögen2 und schirmt den Bestand an Sachvermögen gegen staatlichen Zugriff ab. Die Grundsatzentscheidung des Finanzstaates für die Steuer ist zugleich eine Entscheidung gegen die Verstaatlichung des ertragsfähigen und verbrauchbaren Eigentums. Die Eigentumsgarantie verbietet den Eigentümerstaat und muß deshalb den Steuerstaat fordern5. Die Steuerpflichtig1 A. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers — Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit — Gleichheit vor dem Gesetz, Vierteljahresschrift für Steuern und Finanzen, Bd. 4 (1930) S. 441; Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, S. 348 f.; ders. Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht, NJW 1950 S. 401; Schmölders, Allgemeine Steuerlehre, 4. Aufl. 1965, S. 94; Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409/416 f.; Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, DÖV 1980 S. 480 f. 2 Traditionell gilt der monetäre Zugriff als die Eigenart, die das Besteuern vom Enteignen unterscheide, Layer, Principien des Enteignungsrechts, 1902, S. 63; M. Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, Festgabe f ü r Wilhelm Kahl, 1923, S. 3/23; zur begrifflichen Unterscheidung Roth, Die öffentl. Abgaben und die Eigentumsgarantie im Bonner Grundgesetz, 1958, S. 53 ff. 3 Zum grundsätzlichen Zusammenhang von freiheitlicher Staatsverfassung und Eigentum: Doehring, Sozialstaat, Rechtsstaat und freiheitlich demokratische Grundordnung, in: Die politische Meinung, Sonderheft, 1978, S. 7/21 f.; die Frage, ob die Verfassung den „Steuerstaat" konstituiert oder zumindest stillschweigend rezipiert hat, so Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 897, wird in der Antithese zum „Unternehmerstaat" und einem daraus folgenden Verbot erwerbswirtschaftlicher Betätigung der öffentlichen Hand erörtert, Hans H. Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 143; Püttner, Die öffentlichen

Paul Kirchhof

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keit gehört n o t w e n d i g zum Inhalt einer privatnützigen Eigentumsordnung. Jeder Besteuerungsakt überträgt andererseits Vermögensherrschaft v o n der privaten auf die öffentliche Hand und mindert damit das einzelne Privatvermögen und die S u m m e des privat verfügbaren Volksvermögens. In den Steuererträgen übernimmt der Staat ein Handlungspotential, mit dem er Sachgüter erwerben, eigene Tauschkraft horten, Vermögen zuwenden, Dienstleistungen bezahlen, Verhalten honorieren und Unternehmen anregen kann. Diese Finanzmacht ist dem Privateigentum entlehnt und damit an die Eigentumsgarantie und an die auf Eigentum gestützten Freiheitsrechte 4 gebunden.

2. Die Konturenarmut

des

Steuerrechtsverhältnisses

Allerdings wird nicht jede steuerliche Eigentumsminderung im Alarmsignal des hoheitlichen „Eingriffs" 5 deutlich

Unternehmen, 1969, S. 269 f., ohne daß damit eine Grundsatzaussage zur steuerabhängigen Eigentumsverfassung gemeint wäre, vgl. Köttgen, Verwaltungsrecht der öffentlichen Anstalt, W D S t R L 6 (1929) S. 121; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 10. Aufl. 1973, S. 500; Isensee, Steuerstaat als Staatsform, a. a. O. (FN 1), S. 409; zum thematischen Zusammenhang von Wohlfahrtsstaat und Steuerstaat: Badura, Das Verwaltungsmonopol, 1963, S. 187, 304 f.; Kirchhof, Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, 1973, S. 3 f.; Isensee a. a. O. (FN 1), S. 410. 4 Zu „Vergegenständlichungen der Freiheit" in Art. 5 (Presseerzeugnis, Kunstwerk), Art. 10 (Briefinhalt), Art. 13 (Wohnung) vgl. Dürig, Der Staat und die Vermögenswerten öffentlich-rechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, Festschrift Willibalt Apelt, 1958, S. 13/32 f.; zu staatlicher vergegenständlichter Hilfe bei der Freiheitsausübung vgl. BVerwG E 23 S. 347 und BVerwG E 27 S. 360 (Privatschulsubvention); BVerfG E 33 S. 303 (numerus clausus); BVerfG E 35 S. 79 (Hochschul-Vorschaltgesetz); BVerwG E 1 S. 159/161 (Fürsorgeanspruch); VG Berlin, DÖV 1974 S. 100 (Pressesubvention); ferner Starck, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zur Grundrechtsverwirklichung? in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, hrsg. von Christian Starck, Bd. 2, 1976, S. 480 f.; Kloepfer, Grundrecht als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970. 5 Zum ,,Eingriffs"-Denken vgl. die kritischen Analysen bei Lerche, Rechtsprobleme der wirtschaftslenkenden Verwaltung, DÖV 1961 S. 486/490; Haberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. 1972, S. 176 ff.; Badura, Das Verwaltungsrecht im libe-

Besteuerung und Eigentum

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sichtbar. Der Steuerstaat übt seine Gewalt möglichst unauffällig, mitwirkungsoffen, unmerklich aus. Er gewöhnt den Steuerpflichtigen an regelmäßige Vorauszahlungen und Quellenabzüge und läßt so den Leistungsbefehl als Bestätigungsschreiben erscheinen6. Behördliche Ermittlungen werden durch private Erklärung, Regelungen des Beamten durch Empfehlung des Beraters ersetzt. Die direkte Steuer mindert den jährlichen Vermögenszuwachs, scheint also eher einem Erwerb zuvorzukommen und weniger Erworbenes wegzunehmen. Die indirekte Steuer erreicht den Nachfrager im vereinbarten Preis und wird dort meist unbewußt bezahlt7. Jede Steuer fordert Geld, entzieht also ein auf Rechtsverkehr und Eigentümerwechsel angelegtes Vermögen, das die Eigentümerfreiheit nicht in der Herrschaft über ein konkretes Gut sichtbar werden läßt, dafür aber die freie Wahl unter käuflichen Gütern und Leistungen eröffnet. Die Zahlungsschuld trifft das Eigentum in einer Phase, in der es liquide gemacht, aber noch nicht wieder in konkrete Wirtschaftsgüter eingetauscht worden ist.

ralen Rechtsstaat — Methodische Überlegungen zur Entstehung des wissenschaftlichen Verwaltungsrechts, 1967, S. 5, 12; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 165 f.; Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 19 f.; Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 77 f.; Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, 1977, S. 190 mit FN 7. 6 Bellstedt, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung durch Steuern, S. 123 f. qualifiziert die zur Deckung des Staatsbedarfs erhobenen Steuern nicht als belastende Eingriffe, weil sie nicht als „Nehmen" durch den Staat, sondern als ein „Geben" des Bürgers an den Staat zu betrachten seien; kritisch dazu bereits Friauf, Steuergesetzgebung und Eigentumsgarantie, JurA 1970 S. 299/311. 7 Die finanzwissenschaftliche Kritik an unmerklichen Steuern sieht das allgemeine Bewußtsein f ü r den Zusammenhang von Staatsleistung und Steuern und den Steuerwiderstand der Betroffenen gefährdet; Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomischrationaler Steuerpolitik, 1970, S. 37 ff.; Noll v. d. Nahmer, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II, 1966, S. 156,158; f ü r ein Nebeneinander von merklichen und unmerklichen Steuern: G. Schmölders, „Unmerkliche" Steuern, FinArch. N. F. Bd. 20 (1959/60) S. 23 ff.; ders. Finanzpolitik, 3. Aufl. 1970, S. 346 f.; Keller, Merkliche oder unmerkliche Steuern?, FinArch. N. F. Bd. 27 (1968) S. 110 ff.

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Paul Kirchhof

Selbst dem steuerlich geminderten Vermögen fehlt die Anschaulichkeit herkömmlichen Sacheigentums. Besteuerbares Einkommen, bewertungsrechtliches Gesamtvermögen oder ein steuerpflichtiger Umsatz sind in der Realität nicht deutlich sichtbar, sondern lassen sich erst nach gesetzlicher Anleitung im Sachverhalt erkennen und müssen meist in Buchführungs- und Bewertungsverfahren definiert werden'. II. Die finanzverfassungsrechtlich vorausgesetzte Besteuerungsgewalt Deshalb hofft der Steuerpflichtige auf einen Verfassungstext, der die Steuerlast als Freiheitsgrenze bewußt machen und in klare Schranken weisen möge. Das Grundgesetz verschweigt die Besteuerungsgewalt jedoch im Text der Grundrechte9 und anerkennt sie nur im Finanzverfassungs-

• Die Verfassungsrechtsprechung fordert vom Steuergesetzgeber eher Systemgerechtigkeit und logische Folgerichtigkeit, weniger Bestandsschutz und realitätsnahe Gleichheit, BVerfG E 13 S. 331/340 f. (gewerbesteuerl. Behandlung der personenbezogenen Kapitalgesellschaft); E 15 S. 313/318 (Art. 2 Abs. 7 SteueränderungsG 1960); kritisch zur Rechtsfigur der „Systemgerechtigkeit" Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, a. a. O. (FN 5), S.294 ff. 9 Das Fehlen eines ausdrücklich formulierten Lastenverteilungssatzes ist in einem Grundrechtskatalog, der das Schutzgut und nicht seine staatliche Bedrohung formuliert, keine Besonderheit. Art. 134 WRV hat die Steuerpflicht noch ausdrücklich geregelt; bei den Beratungen zur Formulierung des Grundgesetzes w a r vorgeschlagen worden, die Gewährleistung der Privatvermögensrechte mit der Formel „Unbeschadet der staatlichen Besteuerungs- und Sozialisierungsgewalt" einzuleiten, vgl. Thoma, Gutachten vom 25. Oktober 1948, Pari.Rat. Drucks. Nr. 244, zu Art. 17 Abs. 1 Satz 1. Diese Entstehungsgeschichte verbietet es bereits, einen allgemeinen ungeschriebenen Steuervorbehalt zu unterstellen, so aber Friedrich Klein, Eigentumsgarantie und Besteuerung, StuW 1966 Sp. 433/481; anders jedoch später ders., Bodenwertzuwachssteuer und Art. 14 GG, DÖV 1973 S. 433; Roth, a. a. O. (FN 2), S. 82; zur weiteren Kritik an dieser Rechtsfigur vgl. Friauf, Eigentumsgarantie, Geldentwertung und Steuerrecht, Jahrbuch der Fachanwälte f ü r Steuerrecht 1971/72, S. 425/434 (insbesondere unter Hinweis auf Art. 1 Abs. 3 GG); einen ausdrücklichen Steuervorbehalt kennt Art. ί des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 20. 3.1952, BGBl. 1956 II S. 1880, dazu unten FN 58.

Besteuerung und Eigentum

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recht. Art. 106 GG verteilt die Steuerertragsmasse bundesstaatlich nach traditionellen Einzelsteuern und deutet damit an, daß die Erhebung der im Verfassungstext genannten Steuerarten verfassungsrechtlich vorausgesetzt und gebilligt wird10. Auch diese ausdrückliche Benennung der Einzelsteuern hat allerdings bei Steuerreformen — insbesondere der Umsatzsteuer11 und der Körperschaftsteuer12 — die Identität der jeweiligen Steuer nicht sichern können. III. Der Parlamentsvorbehalt Die einzige Konstante in der Entwicklung des Steuerrechts scheint danach die Entscheidungskompetenz des Gesetzge10

Von einer verfassungsrechtlichen Festlegung oder Skizzierung des Steuersystems gehen aus BVerfG NJW 1976 S. 101 (Vermögensteuer einer Holding-Gesellschaft), Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950, S. 62 f.; ders., Die Finanzverfassung, DÖV 1955 S. 577/579; Strickrodt, Die Finanzverfassung des Bundes als politisches Problem, Schriftenreihe der Hochschule Speyer,, Bd. 6, 1951, S. 10; Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976) S. 238, 339/429 f.; kritisch dazu Friedrich Klein, Grundgesetz und Steuerreform, FinArch. N.F. Bd. 20 (1959/60) S. 115; Sasse, Die verfassungsrechtliche Problematik von Steuerreformen, Ein Beitrag zur Interpretation der Art. 105 und 106 GG und zur Frage verfassungsrechtlicher Bestandsgarantie, AöR 85 (1960/61) S. 423 f.; Tipke, Steuerrecht — Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971 S. 3 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Kommentar 1968/1978, Art. 106 Randnr. 20; differenzierend: Vogel/Walter, Bonner Kommentar, Art. 106 (Zweitbearbeitung), 1950/1972, Randnr. 162 f.; K.; Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, 1972, S. 9 ff. 11 Entwicklung der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer zur Allphasen-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug, vgl. dazu UStG vom 29. 5. 1967, BGBl. 1967 I S. 545; dazu Regierungsentwurf eines Umsatzsteuergesetzes, BT-Drucks. IV/1590 S. 25; jetzt UStG 1980 v. 26. 11. 1979. Die 1967/68 insgesamt dem Bund zustehenden Umsatzsteuererträge (vgl. Art. 106 Abs. 1 GG 1949, Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG in der Fassung des Finanzverfassungsgesetzes v. 23. 12. 1955, BGBl. 1955 I S. 817) sanken von 22013 Mio. auf 18600 Mio. DM (Finanzbericht 1980, S. 228). 12 Die doppelbelastende Definitiv-Körperschaftsteuer wurde zur anrechnungsfähigen Körperschaftsteuer, vgl. das KStG 1977 vom 31. 8. 1976, BGBl. 1976 I S. 2597, dazu Regierungsentwurf eines Dritten Steuerreformgesetzes vom 26. 10. 1973, BT-Drucks. 7/1470 S. 326 ff.; die Erträge aus der Gemeinschaftsteuer Körperschaftsteuer (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG) steigen von 11840 Mio. auf 16830 Mio. DM an, mithin um 42% (Finanzbericht 1980, S. 233).

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bers. Das Steuerrecht selbst verdeutlicht diese verfassungsrechtliche Vorgabe, wenn es den Vorbehalt des Gesetzes zum Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung steigert 13 und dadurch eine enge Tatbestandsbindung und eine besondere Gesetzesbestimmtheit zusichert. 1. Die Ausgabenwilligkeit

des

Steuergesetzgebers

In einem Leistungsstaat mit einer thematisch kaum beschränkten Finanzmacht kann sich der Eigentumsschutz jedoch nicht mit einem Parlamentsvorbehalt begnügen14, sondern muß das Steuerrecht materiell anleiten. Demokratische Mitbetroffenheit15 und öffentliches Gesetzgebungsverfahren16 gewährleisten nicht immer eine eigentumsgerechte Besteuerung, seitdem der Gesetzgeber weniger einen ausgabewilligen Herrscher kontrolliert, sondern selbst durch Planungen und Versprechungen auf immer größere Ausgaben drängt 17 . Das Parlament scheint den Begünstigten eines Leistungsvorhabens konkret vor Augen zu haben18; der Finan-

13 Tipke, Steuerrecht, 7. Aufl. 1979, S. 29 f.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip 1973, S. 153 ff.; Vogel/Walter, a. a. O. (FN 10), Art. 105 Randnr. 130 ff Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 101 f. 14 Scheuner, Grundlagen und Art der Enteignungsentschädigung, in: Reinhardt/Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 63—91 (dort FN 60); ders., in: Scheuner/E. Küng, Der Schutz des Eigentums, 1966, S. 14; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 45. 15 Auch das Diätenurteil (BVerfG E 40 S. 296) ändert kaum die Struktur eines leistungsstaatlichen Parlamentarismus. 16 Kritisch: A. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen, a. a. O. (FN 1) S. 444; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 73 mit FN 8; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 41 ff., 45. 17 Friauf, Steuergesetzgebung, a. a. O. (FN 6) S. 312 f.; Böckenförde, Gesetzgebende Gewalt, a. a. O. (FN 16), S. 73; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 14 f.; ders. Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch Finanzbehörden, StuW 1975 S. 357/358 f., 366; Saladin, Grundrechte im Wandel, 1970, S. 144 f.; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 43 mit FN 68. 18 Zur Benachteiligung der anonymen Interessen großer Gruppen vgl. Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, a. a. O. (FN 1), S. 480 f.; Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 119 ff.; bei der Steuergesetzgebung ist gegenwärtig insbesondere an die Hausfrauen, Sparer, Unterhaltspflichtigen zu denken.

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Besteuerung und Eigentum

cier bleibt in der A n o n y m i t ä t der allgemeinen Steuerpflicht. Sozialhilferechtliches Geben befriedigt ζ. B. einen existenzn o t w e n d i g e n Bedarf v o n jährlich 8568 DM19. Einkommensteuerliches N e h m e n verschont lediglich einen existentiellen Bedarf von 4212 DM20. Dieser generellen Steuergrenze steht für den individuellen Vollstreckungszugriff w i e d e r u m eine Pfändungsgrenze von 6720 DM gegenüber 21 . Diese Widersprüchlichkeiten veranschaulichen, daß der Eigentumsschutz nicht allein auf parlamentarische Umsicht rechnen darf, sondern dem Gesetzgeber inhaltlich Schranken w e i s e n muß. 2. Entstehen

von Steuerrecht

außerhalb

des

Gesetzes

Eine materielle Bindung des Steuerrechts ist außerdem geboten, w e i l Steuerrecht gegenwärtig auch außerhalb des Parlaments hervorgebracht wird. Viele Steuergesetze 2 2 treffen nur fragmentarische Regeln, die auf eine Vervollständigung und Ergänzung durch Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften angelegt sind 23 . Der Gesetzgeber überläßt 19

Vgl. die von den zuständigen Landesbehörden (§ 22 Abs. 3 BSHG) aufgrund einer Bundesregelsatzverordnung (§ 22 Abs. 3 BSHG) festgesetzten Regelsätze; für das Berechnungsbeispiel: Franz Klein, Eigentumsgarantie und Besteuerung, BayVerwBl 1980 S. 527; zum Grundsatzproblem: Andel, Existenzminimum, Ehegattenbesteuerung, Kinderlastenausgleich, in Neumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl. 1980, Bd. 2, S. 378 ff.; vgl. im übrigen f ü r den zivilrechtlich anerkannten Mindestbedarf des unterhaltsberechtigten, nicht erwerbstätigen Ehegatten die sog. Düsseldorfer Tabelle, NJW 1980 S. 107 (Stand 1. 1. 1980): ca. DM 9000 pro Jahr; ähnlich OLG Hamm, NJW 1980 S. 108. 20 Vgl. § 32a EStG (1981). 21 § 850c ZPO i. V. m. § 319 AO. 22 Gesetzesänderungen gehen überwiegend auf eine Initiative der Finanzverwaltung, teilweise auch auf Urteile des BFH zurück, vgl. die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Offergeid auf Fragen des Abgeordneten Dr. Kreile vom 12. 8. 1976, BT-Drucks. 7/5701 S. 13 ff., sowie die Übersicht in DStR 1977 S. 197/198; ferner: Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch Finanzbehörden, a. a. O. (FN 17), S. 357—367. 23 Vgl. die ausdrückliche „Ermächtigung" zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften in § 48 Abs. 2 und 4 EStDV für den Fall des § 10 b EStG, dazu Abschn. 111 EStR; § 3 Abs. 2 LStDV: Festlegung bestimmter Sachbezüge (Deputate) durch VerwaltungsVorschriften; Anordnung des „Stuttgarter Verfahrens" durch Abschn. 77 VStR, wenn sich der gemeine Wert von Wertpapieren und Anteilen gem. §

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II Abs. 2 BewG nicht ermitteln läßt, dazu BFH BStBl. 1977 II S. 698; Richtlinien f ü r „besondere Umstände" der Bewertung einer Kapitalforderung in Abschn. 55 Abs. 2 VStR zu § 12 Abs. 1 BewG nach den BFH-Urteilen BStBl. 1972 II S. 516 und BStBl. 1974 II S. 330; vgl. Abschn. 186 Abs. 1 Nr. 3 und Abschn. 189 a EStR zur Frage der Notwendigkeit und Angemessenheit der Beträge, die eine „außergewöhnliche Belastung" gem. § 33 Abs. 2 EStG rechtfertigen; vgl. Erläuterungen des Begriffs „geringes Vermögen" in §§ 33a Abs. 1 EStG durch Abschn. 190 Abs. 2 EStR; Konkretisierung des Begriffs des „unmittelbaren und mittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhangs" einer Kreditaufnahme mit einer prämienbegünstigten Aufwendung durch Abschn. 8 Abs. 2 WoPR zu § 2 Abs. 2 Wohnungsbauprämiengesetz, gestützt auf BFH BStBl. 1959 III S. 58 und BStBl. 1959 III S. 63, siehe auch Abschn. 9 Abs. 1 SpaPR i. V. m. § 14 Nr. 1 Sparprämiengesetz; vgl. zum Begriff der „verdeckten Gewinnausschütt u n g " des § 8 Abs. 3 KStG die Ausführungen des Abschn. 31 Abs. 1 und 2 KStR mit den dort angeführten Beispielen; zur Darstellung des Begriffs des Betriebsvermögens in § 95 BewG siehe Abschn. 5, 6 und 7 VStR; zur Bindungswirkung herkömmlicher Verwaltungsvorschriften vgl. K. Vogel, Gesetzgeber und Verwaltung, W D S t R L 24 (1965), S. 125/156 ff.; Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 459 ff.; Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Festschrift Bundesverfassungsgericht, Bd. II 1976, S. 50/88 ff. Speziell f ü r das Steuerrecht: Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch Finanzbehörden, a. a. O. (FN 17); Jaehnike, Bindung der Finanzgerichte an Verwaltungsvorschriften, StuW 1979, S. 293/294; BFH BStBl. 1979 II S. 54 (Hochschullehrerpauschsatz/Reisekostenaufwendungen); List, Steuerliche Verwaltungsvorschriften im Grenzbereich zur Rechtsnorm, in: NWB Nr. 35 Fach 2 S. 3717 ff.; neuerdings mehren sich die außerhalb des Verfahrens gem. Art. 108 Abs. 7 GG zustandegekommenen Verwaltungsvorschriften; vgl. Erlaß betr. Besteuerung der Mitunternehmer von Personengesellschaften (Mitunternehmererlaß) v. 20. 12. 1977, BStBl. 1978 I S. 8 und andererseits § 15 EStG, zur Kritik vgl. Knobbe-Keuk, Die Personengesellschaft im Recht der Steuervergünstigungen, in: Kruse (Hrsg.), Die Grundprobleme der Personengesellschaft im Steuerrecht, 1979, S. 109, 128 f.; gleichlautender Ländererlaß betr. die steuerliche Behandlung des Arbeitslohns, die an Arbeitnehmer f ü r eine im Ausland ausgeübte Tätigkeit gezahlt wird (Montageerlaß), Juli 1958, BStBl. 1958 II S. 109,112,113, 114; gleichlautender Ländererlaß betr. Verlagerung von Einkünften und Vermögen in sog. Steueroasenländer (Oasenerlaß), Juni 1965, BStBl. 1965 II S. 74, trotz Erlaß des Gesetzes über die Besteuerung von Auslandsbeziehungen (Außensteuergesetz) v. 8. 9. 1972 (BGBl. 1972 I S. 1713) zum Teil weiterhin von Bedeutung (vgl. Schreiben des BdF betr. Grundsätze zur Anwendung des Außensteuergesetzes v. 11. 7. 1974, BStBl. 1974 I S. 442, TZ O).

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223

die Fortbildung des Rechts teilweise auch ausdrücklich der Rechtsprechung24. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet die Finanzverwaltung zu gesetzeskorrigierenden Billigkeitserlassen im Einzelfall25. Die Finanzverwaltung nutzt ihr Weisungsrecht (Art. 108 Abs. 7 GG)26, um Gesetzesinhalte über den Tatbestandstext hinaus zu verallgemeinern27, einen gesetzlichen Grundgedanken zu erweitern28, Gesetzesaussagen durch Sachverhaltsun-

24

Z.B. die Frage der Zusage und der Steuerklausel in der AO 1977 (Begründung zum Regierungsentwurf einer Abgabenordnung, BTDrucks. VI/1982 S. 95 f., auf den der Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf der AO 1977 ausdrücklich verweist, BT-Drucks. 7/4292 S. 9). Zu „Reaktionen" des Gesetzgebers auf Entscheidungen der Rechtsprechung vgl. ζ. B. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Steueränderungsgesetz 1978 (BT-Drucks. 8/2116 S. 9) zu BVerfG E 45 S. 104 (steuerliche Behandlung geschiedener und getrennt lebender Eltern nichtehelicher Kinder) und Begründung zum Gesetzentwurf eines Steueränderungsgesetzes 1979 (BT-Drucks. 8/2100 S. 61) zu BFH BStBl. 1978 II S. 338, 340 und 342 (Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen an im Ausland lebende Personen). 25 Isensee, Das Billigkeitskorrektiv des Steuergesetzes, Festschrift f ü r Werner Flume, 1978, S. 129 f.; aus der Rechtsprechung insbesondere BVerfG E 16 S. 147/177 (Werkfernverkehr); E 27 S. 375/385 (Nachsteuer); E 32 S. 78/86 (Mindestbesteuerung von Aktiengesellschaften nach dem Vermögensteuergesetz); E 35 S. 363/365 (Umsatzsteuerbefreiung f ü r Blinde); E 38 S. 61/95, 102 („Leberpfennig"); E 48 S. 102/114 (Vermögensteuer 1967/68 f ü r forstwirtschaftliche Betriebe); E 50 S. 57/86 (Zinsbesteuerung bei Inflation). 26 Eine verwaltungstechnische Zuweisungsvorschrift, keine Ermächtigungsvorschrift, Vogel/Wachenhausen, Bonner Kommentar Art. 108 (Zweitbearbeitung) 1950/72, Randnr. 172. 27 Z. B. OFD Köln v. 14. 5. 1971, StEK EStG § 16 Nr. 28 (Anwendung der §§ 16, 34 EStG auch bei Veräußerung von Teilen eines Mitunternehmeranteils), dazu kritisch L. Schmidt, Ertragssteuerrecht liche Probleme des Gesellschaftswechsels bei Personengesellschaften, FR 1978 S. 353/357. 21 Z. B. Erstreckung der umwandlungsteuerrechtlichen Buchwertverknüpfung (§ 14 Abs. 2 UmwStG) von der Gesamtrechtsnachfolge auf die Nachfolge in das gesamte Vermögen im Wege der Einzelrechtsnachfolge bei der Verschmelzung zweier GmbH, Schreiben des BdF vom 12. 4. 1978, BStBl. 1978 I S. 184 betr. Gesetz über steuerliche Maßnahmen bei Änderung der Unternehmensform (UmwStG 1977) zu §§ 14, 16 Nr. 2.

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terstellungen zu widerlegen29, die Geltungsdauer von Gesetzen zu ändern30 oder um trotz Gesetzesänderung auf bisheriger Verwaltungspraxis zu beharren31. Die Finanzrechtsprechung veröffentlicht Leitsatzentscheidungen32, die von den Rechtsbeteiligten bei der Suche nach friedenstiftenden Regeln und Mustern für steuerliche Massenverfahren als verbindlich behandelt33 werden. Die Finanzverwaltung beansprucht allerdings eine Kontrolle über diese richterliche Rechtsfortbildung, wenn sie einerseits Rechtsprechungsergebnisse in Verwaltungsvorschriften übernimmt34, ihnen andererseits in sog. „Nicht-Anwendungserlassen" rechtsgestaltende Autorität abspricht35.

29

„Aus Vereinfachungsgründen" entsprechende Anwendungen von § 6 Abs. 2 EStG im Geltungsbereich des § 9 EStG (Abschn. 84 a EStR); „aus Vereinfachungsgründen" voller Abzug der Aufwendungen f ü r die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung bei Arbeitnehmern (Abschn. 88 Abs. 6 Satz 2 EStR) sowie insbes. unter FN 186,187. 30 Vgl. zur vorzeitigen Anwendung des Kinderlastenausgleichs nach § 32 a EStG Schreiben des BdF vom 12. 6. 1978, BStBl. 1978 I S. 227; dazu Haberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974) S. 131 und FN 120; kritisch zum Begriff der „Vorwirkung" insbesondere Diirig, Zeit und Rechtsgleichheit, in: Aktion und Fortschritt im Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät 1977, S. 21/42 f.; ein verspäteter Vollzug hat seine Ursache insbesondere im „Warten" auf Verwaltungsvorschriften, die das Gesetz offenbar erstmals handhabbar machen. 31 Schick, Das Rechtsinstitut Außenprüfung — Grundstruktur und tragende Prinzipien, DStR 1980 S. 275/276 (zur BpO-Steuer, GNOFÄ [FN 38] und zum Begriff „Betriebsprüfung"). 32 Dazu Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 23 f.; zur richterlichen Aufgabe, „allgemeine Rechtsgrundsätze" aufzustellen vgl. BVerfG E 18 S. 224/237 (Rückstellung f ü r Pensionszusagen); E 25 S. 28/40 (Betriebsaufspaltung/ Gewerbesteuer); E 26 S. 327/337 (Grundstücksüberlassung/Betriebsvermögen); ferner §§ 137 GVG, 11 Abs. 4 FGO. 33 Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 35; Fritz Ossenbühl, Die Bindung der Verwaltung an die höchstrichterliche Rechtsprechung, AöR 92 (1967), S. 478; Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, a. a. O. (FN 23), S. 98 f. 34 Vgl. (zur Anerkennung von Familiengesellschaften) Abschn. 138 EStR oder den Mitunternehmererlaß a. a. O. (FN 23). 35 Insbesondere zu BFH BStBl. 1976 II S. 134 (steuerliche Behandlung der freien Unterkunft und Verpflegung bei ehrenamtlichen Helfern von Wohlfahrtsverbänden); BFH BStBl. 1974 II S. 229 (Wohnungsbauprämien eines Erben im Jahre des Erbfalls); BFH BStBl. 1975 II S. 636 (Nichtanerkennung eines Pflegekindschaftsverhältnis-

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Schließlich hat sich in der Steuerpraxis eingebürgert, streitige Steuerfragen durch vertragsähnliche Verständigung36 zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigem zu klären. Im gegenseitigen Arrangement37 vereinbaren Steuerberater und Finanzverwaltung eine steuerliche Rechtsfolge, formulieren diese Verständigung aber als einvernehmliche Feststellung eines Sachverhalts. Diese Absprachen wirken faktisch verbindlich38, weil die Beteiligten in einem Dauerrechtsverhältnis langfristig auf gegenseitiges Wohlverhalten angewiesen sind3'.

ses zwischen Geschwistern bei nur geringem Altersunterschied). Nachweise in DStR 1977 S. 197 f.; vgl. ferner DStR 1978 S. 89 f.; in den vom BdF an die Finanzverwaltung gerichteten Schreiben mit der Bitte, Entscheidungen des BFH außer Betracht zu lassen, findet sich auch der gegen den BFH gerichtete Vorwurf des Rechtsirrtums, vgl. das BdF-Schreiben vom 4. 11. 1977, BStBl. 1977 I S . 550; List, Zur Veröffentlichung von Entscheidungen des BFH und zur Nichtanwendung von BFH-Entscheidungen durch die Verwaltung, DStR 1976 S. 651; kritisch insbesondere Felix, Zur Zulässigkeit von Verwaltungsanweisungen über die Nichtanwendung von Urteilen des BFH, StuW 1979 S. 65; § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO geht von einer generellen Beachtung der Rspr. aus. Den Nichtanwendungserlassen ist eine Begründung nicht beigefügt. 3t Vgl. dazu Schick, Vergleiche und sonstige Vereinbarungen zwischen Staat und Bürgern im Steuerrecht, 1967; Zacher, Verwaltung durch Subventionen, W D S t R L 25 (1966) S. 308/386 f. 37 Streck, Erfahrungen mit der Rechtsanwendungspraxis der Finanzämter (einschließlich Außenprüfungsstellen) bei der Abgrenzung der Betriebsausgaben/Werbungskosten von den Privatausgaben, in: Söhn (Hrsg.), Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufsphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, 1980, S. 373. 38 Ein Bedürfnis nach abschließender Entscheidung ergibt sich insbesondere aus der Steuerfestsetzung unter Vorbehalt (§ 164 AO), vgl. dazu derzeit Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens (GNOFÄ) vom 16. 2. 1976 (BStBl. 1976 I S. 88); BVerfG Vorprüfungsbeschluß, BStBl. 1978 II S. 616 und die Entscheidung des Rechnungshofes NordrheinWestfalen zu den GNOFÄ, StuW 1977 S. 281; Stellungnahme des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 31. 3. 1977, StuW 1977 S. 375; sowie Metzmaier, Vorbehalt der Nachprüfung in der Praxis der Finanzämter, DStR 1978 S. 461 ff./462; damit übernimmt das Rechtsinstitut der Verjährung die dem Verwaltungsakt zugedachte Befriedungsfunktion. 39 Aber: Isensee, Die typisierende Verwaltung, a. a. O. (FN 13), S. 86 a. E.

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Dieser Rechtsquellenbefund weist den Grundrechten gegenüber der Besteuerungsgewalt eine dreifache Aufgabe zu: ein Grundrecht des Steuerpflichtigen hat den Gesetzesvorbehalt wieder zur Geltung zu bringen; das materielle Steuerrecht anzuleiten und seine offenen Tatbestände zu vervollständigen; schließlich dem einzelnen Steuerschuldner eine individuelle, ihn aus der Anonymität des generell Mitbetroffenen heraushebende Rechtsposition einzuräumen. B. Die Belastung des privatnützigen Eigentümerhandelns I. Besteuerung der Zahlungsfähigkeit Thema eines Grundrechtsschutzes für den Steuerpflichtigen ist die Eigentümersteuer. Das Steuerrecht zieht nur den Eigentümer, nicht jeden erwerbsfähigen Bürger zur Finanzierung der Staatsaufgaben heran. Die staatliche Gemeinschaft duldet es, daß ein Bürger sein Talent brach liegen läßt und seinen Beitrag zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs verweigert 40 . Ein Leistungsstaat, der seine finanzielle Leistungsfähigkeit nur auf Privateigentum stützt41, erspart es sich, andere Freiheitsrechte, insbesondere die Freiheit der Berufswahl und -ausübung, für Zwecke der Besteuerung zu binden. Eine Steuer, die ausschließlich auf das Erworbene, nicht auf die Erwerbsfähigkeit zugreift42, weist der Eigen-

40 Das finanzwissenschaftliche Schrifttum des 18. Jahrh. anerkannte noch die Pflicht eines jeden Bürgers auch zum Einsatz seiner persönlichen Fähigkeiten und seiner Arbeitskraft (so von Justi, Staatswirtschaft oder Systematische Abhandlung aller Ökonomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden, Bd. 1,1758, S. 406; vgl. auch F N 203); sowie aus der jüngeren Verfassungsgeschichte Art. 163 WRV (RGBl. 1919 S. 1383), wonach jeder Deutsche unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht hatte, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. 41 Die Frage, ob die Unterscheidung zwischen „fiskalischen" und „nicht fiskalischen" Zwecken im verfassungsrechtlichen Steuerbegriff angelegt sei, vgl. Bodenheim, Der Zweck der Steuer, 1979, müßte bei dieser Prämisse ansetzen. 42 Das Stichwort der Besteuerung nach „Leistungsfähigkeit" (vgl. Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch-rationaler Steuerpolitik, a. a. O. (FN 7), S. 121 f.; Haller, Die Steuern, 2. Aufl. 1971, S. 13 f.; Κ. H. Ossenbühl, Die gerechte Steuerlast, 1972, S. 63 f.; Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 25 f. wird hier vermieden, weil der

Besteuerung und Eigentum

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tumsgarantie die Aufgabe eines Vorpostens im Schutz gegen die Besteuerungsgewalt zu, der alle übrigen Grundrechte entlasten kann.

II. Steuerbetrag und Steuergegenstand 1. Die Fragestellung

in der

Rechtsprechung

Die Rechtsprechung scheint heute bereit, durch die Eigentumsgarantie ein extremes steuerliches Übermaß abzuwehren, zögert jedoch, den Eigentumsschutz als steuerrechtsleitendes Prinzip zur Geltung zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht beginnt seine Steuerrechtsprechung in der Entscheidung über die Gebäudeentschuldungssteuer43 mit der Frage nach der enteignenden Wirkung einer Steuer44, prüft also die Vereinbarkeit von Steuer und Eigentum. Die spätere, seit dem Investitionshilfeurteil45 wiederkehrende Formel, eine Geldleistungspflicht berühre46 oder verletze47 die

Begriff nicht erkennen läßt, ob sich die Fähigkeit auf das Erwerben oder das Erworbene bezieht. Das BVerfG berücksichtigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit insbesondere bei den Steuern vom Einkommen, BVerfG E 6 S. 55/56, 67, 69 (Haushaltsbesteuerung für Ehegatten); E 9 S. 237/243 (Getrennte Veranlagung von Ehegatten nach EStG 1957); E 29 S. 402/412 (Konjunkturzuschlag); E 32 S. 333/339 (Ergänzungsabgabe); E 36 S. 66/72 (Stabilitätszuschlag); E 43 S. 108/120 (Wegfall der Kinderfreibeträge); E 47 S. 1/29 (Freibetrag f ü r Hausgehilfin); relativierend E 50 S. 57/60 (Nominalwertprinzip, dazu K. Vogel, NJW 1979 S. 1158/59 [Urteilsanmerkung]). « BVerfG E 2 S. 237/261; vgl. auch E 18 S. 441/452 (Hypothekengewinnabgabe). ** Ähnlich BVerfG E 10 S. 141/177 (Feuerversicherungsabgabe); E 16 S. 147/187 (Werkfernverkehr); E 14 S. 76/104 und E 17 S. 135/137 (Vergnügungssteuer auf Gewinnspielautomaten); E 18 S. 315/339 (Milch- und Fettgesetz); E 30 S. 250/272 (Absicherungsgesetz). « BVerfG E 4 S. 7/17. 46 BVerfG E 4 S. 7/17 (Investitionshilfe); E 6 S. 290/298 (Ersatzvermögensabgabe); E 10 S. 89/116 (Erftverband); E 11 S. 105/126 (Familieriausgleichskassen). 47 BVerfG E 8 S. 274/330 (Preisgesetz); E 10 S. 354/371 (Bay. Ärzteversorgung); E 12 S. 319/323 (Pflichtaltersversorgung für Ärzte); E 23 S. 12/30 (Unfallversicherungsbeiträge der gewerblichen Berufsgenossenschaften).

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Eigentumsgarantie grundsätzlich48 nicht49, enthält keine ausdrückliche Abkehr von diesem Maßstab50, sondern betont eher die prinzipielle Vereinbarkeit von Eigentumsschutz und Steuerrecht51. Die Grenze einer möglichen Grundrechtsver-

48 Diese Einschränkung deutet an, daß eine Steuer gegen Art. 14 verstoßen kann, BVerfG E 10 S. 89/116 (Erftverband); E 14 S. 221/241 (Fremdrentengesetz); E 19 S. 119/128 f. (Kuponsteuer); E 19 S. 253/267 f. (kirchliches Besteuerungsrecht); E 23 S. 288/314 f. (Vermögensabgabe); E 26 S. 327/328 (Bilanzbündeltheorie); E 27 S. 111/131 (Besteuerung von Gewinnen aus Veräußerung wesentlicher Kapitalbeteiligungen); E 27 S. 326/343 (Vermögensschäden durch Freiheitsentziehung); E 28 S. 119/142 (Troncaufkommen der Spielbanken); E 29 S. 402/413 (Konjunkturzuschlag); E 30 S. 250/271 f. (Absicherungsgesetz); E 38 S. 61/102 (Straßengüterverkehrssteuer); s. a. die Vorprüfungsbeschlüsse, HFR 1970 S. 178 (kein Splitting bei beschränkter Steuerpflicht); HFR 1970 S. 607/608 (Nutzungswert der Wohnung im eigenen Haus). 49 Das BVerfG scheint grundsätzlich auf die Eigenart eines abgabenrechtlichen Zugriffs abzuheben, vgl. insbes. BVerfG E 10 S. 89/116 (Erftverband); E 11 S. 105/126 (Familienausgleichskassen); unklar: E 4 S. 7/17 (Investitionshilfe); in einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung wird jedoch gesagt, Schutzobjekt des Art. 14 GG sei nicht das Vermögen als solches, E 27 S. 326/343 (Vermögensschäden durch Freiheitsentziehung). 50 Vgl. insbes. BVerfG E 30 S. 250/271 (Absicherungsgesetz); E 38 S. 61/102 (Straßengüterverkehrssteuer). 51 Anders die Inteipretation der Rspr. bei Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 301 f.; ders. VVDStRL 30 (1972) S. 184 f. (Diskussionsbeitrag); ders. Finanzordnung, a. a. O. (FN 10), S. 339/427 ff. (Anerkennung der determinierenden Kraft einer objektiven Einrichtungsgarantie); wie hier ausdrücklich Benda/Kreuzer, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, DStZ 1973 S. 49/57; Haager, Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuer- und Wirtschaftsrecht, Teil II, WM 1980, S. 634/640 f.; Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 47; Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, a. a. O. (FN 1), S. 484 f.; Vogel, Lenkungssteuern und Eigentumsgarantie, BayVerwBl. 1980 S. 523; Franz Klein, a. a. O. (FN 19); Die Formel wird im übrigen in neueren Entscheidungen nicht wiederholt, BVerfG E 36 S. 66/72 (Stabilitätszuschlag); E 36 S. 383/400; (Lastenausgleich/gesetzl. Unfallversicherung); E 37 S. 111/131 (Veräußerungsgewinn bei wesentlicher Kapitalbeteiligung), oder durch eine gegenläufige Fragestellung behutsam als Problem definiert, BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1976 S. 101 (vermögensteuerliche Belastung einer Holding-Gesellschaft ohne werbende Tätigkeit); E 50 S. 57/104 (Besteuerung von inflationsbedingten Scheinerträgen); BVerfG E 38 S. 61/102 („Leberpfennig"); E 34 S. 139/146 (Erschließungsaufwand).

Besteuerung und Eigentum

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letzung deutet das Gericht im Übermaßverbot52, im Verbot einer grundlegenden Beeinträchtigung der Vermögensverhältnisse53, in der Unzulässigkeit einer wirtschaftlichen Gefährdung des Betroffenen54 und durch Hinweis auf die Überwälzbarkeit einer Belastung55 an. Damit ist die Aufgabe " BVerfG E 14 S. 221/241 (Fremdrentengesetz); E 19 S. 119/128 f. (Kuponsteuer); E 19 S. 253/267 f. (kirchliche Besteuerungsgewalt); E 14 S. 76/104 und E 17 S. 135/137 (Vergnügungsteuer auf Gewinnspielautomaten); E 23 S. 288/314 (Vermögensabgabe); E 23 S. 12/30 (Unfallversicherungsbeiträge der gewerblichen Berufsgenossenschaft); E 26 S. 327/338 (Bilanzbündeltheorie); E 27 S. 111/131 (Besteuerung von Gewinnen aus Veräußerungen wesentlicher Kapitalbeteiligungen); E 27 S. 326/343 (Spielbanken); E 29 S. 402/413 (Konjunkturzuschlag); E 30 S. 250/271 f. (Absicherungsgesetz); E 36 S. 66/72 (Stabilitätszuschlag); E 36 S. 383/400 (Lastenausgleich unter den gewerblichen Berufsgenossenschaften); E 37 S. 121/131 (Zuschlag des Differenzbetrages zwischen Mutterschaftsgeld und Nettolohn durch Arbeitgeber); E 38 S. 61/102 (Straßengüterverkehrssteuer); s. a. Vorprüfungsbeschluß vom 12. 1. 1978, HFR 1978 S. 116 (Branntweinnachsteuer); vgl. ferner aus der übrigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, BFH E 92 S. 495/506 (Baulandsteuer); E 112 S. 546/567 (Nominalwertprinzip) sowie BVerwG E 6 S. 134 (Ausgleichsabgabe nach dem Milch- und Fettgesetz); E 6 S. 247/266 (Spielautomatensteuer); E 10 S. 3 (Mehrwertausgleich nach dem nordrhein-westf. Aufbaugesetz) und E 12 S. 140/162 (Zweigstellensteuer). Das BVerfG verneint in einzelnen Entscheidungen eine Verletzung des Art. 14 GG allein wegen der geringen Höhe der in Streit stehenden Geldleistungspflichten, E 10 S. 141/177 (Wiederaufbauförderung von Gebäudebrandschadensfällen); E 36 S. 66/72 (Stabilitätszuschlag); E 36 S. 383/400 (Lastenausgleich/Berufsgenossenschaften); E 37 S. 121/131 (Zuschlag des Differenzbetrages zwischen Mutterschaftsgeld und Nettolohn durch Arbeitgeber). 53

BVerfG E 14 S. 221/241 (Fremdrentengesetz); E 19 S. 119/128 f. (Kuponsteuer); E 19 S. 253/267 (kirchliches Besteuerungsrecht); E 23 S. 288/314 f. (Vermögensabgabe); E 26 S. 327/338 (Einkommensteuer); E 27 S. 111/131 (Besteuerung von Gewinnen aus Veräußerung wesentlicher Kapitalbeteiligungen); E 29 S. 402/413 (Konjunkturzuschlag); E 30 S. 250/271 f. (Absicherungsgesetz); E 38 S. 61/102 (Straßengüterverkehrssteuer); s. a. Vorprüfungsbeschluß, HFR 1979 S. 204/205 (Umsatzsteuer f ü r labordiagnostische Leistungen). 54 BVerfG Vorprüfungsbeschluß, DB 1978 S. 403 (Betriebsrentengesetz). 55 BVerfG E 37 S. 38/47 f. (Umsatzbesteuerung der Dienstleistungsunternehmen); vgl. ferner E 27 S. 375/386 (Nachsteuer auf Schaum-und Branntwein); E 36 S. 321/394 (Umsatzsteuer auf Schallplatten und Kulturerzeugnisse); E 19 S. 64/69 f. (Umsatzsteuerbelastung f ü r Röstkaffee und Nescafé) — dort allerdings jeweils zu Art. 3 Abs. 1 GG.

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formuliert, E i g e n t u m s g a r a n t i e und verfassungsrechtliche S t e u e r g e w a l t inhaltlich b e h u t s a m a u f e i n a n d e r abzustimmen 5 6 . Das S c h w e i z e r Bundesgericht e n t w i c k e l t eine ähnliche verfassungsrechtliche Ausgangsfrage, w e n n es o f f e n läßt, ob die E i g e n t u m s g a r a n t i e (Art. 22 terBV) die Besteuerung in Schranken w e i s e und einer k o n f i s k a t o r i s c h e n Steuerbelastung entgegenstehe 5 7 . D a s österreichische Verfassungsrecht kennt i m Ersten Zusatzprotokoll zur K o n v e n t i o n zum Schutz der Menschenrecht e und Grundfreiheiten 5 ' einen ausdrücklichen Steuervorbehalt innerhalb der E i g e n t u m s g a r a n t i e und stellt damit die Einschlägigkeit des Eigentumsschutzes für das Steuerrecht

5S Ob Art. 14 GG generell als Maßstab bei der Auferlegung von Geldleistungspflichten in Betracht kommt, wird offengelassen in BVerfG E 45 S. 63/77 (Verpflichtung zur Zahlung einer Enteignungsentschädigung); E 50 S. 57/104 (Besteuerung von Zinsen aus Kapitaleinlagen; anders dazu noch Vorprüfungsbeschluß vom 21. 1. 1969, HFR 1969 S. 347, wo die Unantastbarkeit der Substanz erörtert wird); s. a. die Vorprüfungsbeschlüsse, HFR 1976 S. 31 (Gesamtsteuerbelastung einer Holdinggesellschaft) und HFR 1979 S. 204 (Umsatzsteuer bei Verwertung von Sicherungsgut im Konkurs). In E 34 S. 138/145 f. werden die Vorschriften des Erschließungsbeitragsrechts ausdrücklich als inhaltsbestimmende Normen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG angesprochen. 57 BGE 99 I a S. 638 ff. (Reichtumsteuer des Kantons Baselland) unter Bezug auf BGE 94 I S. 116; an diese Urteile knüpfen Rechtsprechungsanalysen die „Hoffnung", die Bestandsgarantie des Art. 22 ter BV werde (zumindest) als Schranke „gegen exzessive Belastungen in besonders gelagerten Fällen anerkannt", Höhn, Verfassungsmäßige Schranken der Steuerbelastung, Schweizerisches Zentralblatt f ü r Staats- und Gemeindeverwaltung Bd. 80 (1979), S. 241/246 mit FN 12; Cagianut, Grundsätzliche Erwägungen über die Schranken der steuerlichen Belastung des Eigentums nach schweizerischem Recht, ASA 47 (1978/79), S. 67/68; Johannes Hensel, Die Verfassung als Schranke des Steuerrechts, 1973, S. 137 ff.; vgl. ferner Imboden, Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Privateigentums als Schranke der Besteuerung, ASA 29 (1960), S. 2 ff.; Saladin, a. a. O. (FN 17), S. 140 ff. 58 Die Konvention (FN 9) erhielt Verfassungsrang durch BGBl. 59/1964; dazu Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl. 1971, S. 560; Pernthaler, Der Grundrechtsschutz des Eigentums vor allem im Hinblick auf die Beschränkungen durch die öffentliche Bodenordnung, in: Spanner/Pernthaler/Ridder, Grundrechtsschutz des Eigentums, 1977, S. 25 mit FN 2.

Besteuerung und Eigentum

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außer Frage59. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat ausdrücklich bestätigt, daß eine Steuer das Eigentumsrecht (Art. 5 StGG) berühre und daß eine Steuerlast bei fehlender oder nicht ausreichender Gesetzesgrundlage das Eigentumsrecht verletzen könne60. 2. Die Eigentümerfreiheit

im

Steuerstaat

Diese im Ansatz übereinstimmende Rechtsprechung anerkennt, daß die Steuer sich als Belastung des Eigentums auswirkt61; sie zögert jedoch, grundsätzlich jede Steuer an 59

Art. 1 Abs. 2; diese Bestimmung wird primär zur Begründung der Besteuerungshoheit des souveränen Staates herangezogen, Klecatsky, Das österreichische Bundesverfassurigsrecht, 1973, S. 795 und (zu Art. 5 StGG) S. 624 Randnr. 13. 60 VerfGH ÖStZ 1969 S. 163 (Gewerbesteuer, Tatbestand der „unbilligen Besteuerung"), ÖStZ 1970 S. 242 (Umsatzsteuergesetz/Unternehmereinheit), ÖStZ 1970 S. 179 (Verweigerung einer „steuerlichen Begründung" nach § 33 Abs. 6 ÖEStG 1953); vgl. auch ÖStZ 1970 S. 121 (Auferlegung einer Geldzahlung — dort einer Gebühr — als Eigentumseingriff). 61 In der Literatur ist heute anerkannt, daß die Belastungswirkung der Steuer auf die Eigentumsgarantie hinweist, Friauf, Steuergesetzgebung, a. a. O. (FN 6), S. 299 f.; Zacher, in: Nawiasky/ Leusser/Schweiger/Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar 1948/1970, Art. 159 Randnr. 4 ff.; Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Erbschaftsbesteuerung, 1970, S. 76 f.; Rüfner, Die Eigentumsgarantie als Grenze der Besteuerung, DVBL. 1970 S. 881 f.; Vogel/Walter, a. a. O. (FN 10), Art. 105, Randnr. 139-144; Sendler, Gedanken zu einer Neukonzeption der Eigentumsverfassung, 1972, S. 21 f.; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 295 f.; Vogel, Finanzverfassung, a. a. O. (FN 10), S. 36 f.; Badura, Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, Verh. des 49. DJT, 1972 Bd. II, Τ 5/T 29; Weber, Das Eigentum und seine Garantie in der Krise, Festschrift f ü r Karl Michaelis, 1972, S. 316/336; Scheuner, Die überbetriebliche Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer und die Verfassungsordnung, 1972, S. 23 ff.; Papier, Die Beeinträchtigungen der Eigentums- und Berufsfreiheit durch Steuern vom Einkommen und Vermögen, Der Staat 11 (1972), S. 483 f.; Kloepfer, Die lenkende Gebühr, AöR 97 (1972) S. 232/270 ff.; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972) S. 7/15 f.; Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 67 f.; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 20 f.; Meessen, Vermögensbildungspläne und Eigentumsgarantie, DÖV 1973 S. 812/814 f.; Benda/Kreuzer, Verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung, a. a. O. (FN 51); von der Heydte, Grundgesetz und konfiskatorische Steuer,

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der Eigentumsgarantie zu messen. Die Ursache dieses Zögerns dürfte in dem vermeintlichen Dilemma liegen, einerseits eine steuerliche Wegnahme von Geldeigentum billigen, andererseits den Bestand von Eigentum auch gegenüber der Steuergewalt garantieren zu müssen62. Die Steuer ist jedoch nicht Gegensatz, sondern (finanzstaatliche) Voraussetzung für privates Eigentum. Die Garan-

Festschrift f ü r Heinz Paulick, 1973, S. 267; Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975, S. 91 f.; Spanner, Steuerrecht und Geldentwertung, DStR 1975 S. 471/480 ff.; Weber-Fas, Finanzgerichtsbarkeit im freiheitlichen Rechtsstaat, NJW 1975 S. 1945/1948; Kirchhof, Das Hervorbringen von Normen und sonstigem Recht durch die Finanzbehörden, a. a. O. (FN 17), S. 358 f.; Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 14 (Drittbearbeitung 1976), Randnr. 57—67; Schenke, Besteuerung und Eigentumsgarantie, in: Mainzer Festschrift f ü r H. Armbruster, 1976, S. 177 f.; Selmer, Finanzordnung, a. a. O. (FN 10), S. 399/428; Flämig, StRK-Anm. EStG § 20 Abs. 1 Ziff. 4 R 10, S. 11—12 (1976); Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, S. 106 f.; Isensee, Steuerstaat als Staatsform, a. a. O. (FN 1), S. 434 f.; Holzer, Die unterstaatliche Umverteilung — Umverteilung unter Umgehung der Verfassung?, Diss. Freiburg 1977, S. 173 f.; Denninger, Rückwirkungsverbot und Eigentumsgarantie bei der erbersatzsteuerlichen Behandlung von Familienstiftungen, AG 1978, S. 70 f.; Kimminich, Das Grundrecht auf Eigentum, J u S 1978 S. 217/218 f.; von Arnim, Die Besteuerung von Zinsen bei Geldentwertung, 1978, S. 115 f.; Bodenheim, a. a. O. (FN 41), S. 279 f., 284 f.; Kirchhof, Rechtsmaßstäbe finanzstaatlichen Handelns, JZ 1979 S. 153/155 f.; Picot, Gewinnverteilung und Verfassungsrecht, 1978, S. 104 f.; Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 46 f.; Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980, S. 133 f.; Schmidt-Bleibtreu, BVerfG und Steuerrecht, BB 1980 S. 53/55 f.; Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, a. a. O. (FN 1), S. 480 f.; Schmidt-Bleibtreu/Schäfer, Besteuerung und Eigentum, DÖV 1980 S. 489; Vogel, Lenkungsteuern und Eigentumsgarantie, a. a. O. (FN 51); Franz Klein, a. a. O. (FN 19); Papier, Besteuerung und Eigentum, DVB1. 1980 S. 787 ff.; vgl. ferner FN 57; zur älteren Literatur vgl. Friedrich Klein, Eigentumsgarantie und Besteuerung, a. a. O. (FN 9) m. Ν. sowie hier FN 62. 62

Auch die frühere Literatur hatte meist die Enteignungsproblematik vor Augen und suchte dazu Distanz zu gewinnen. Bellstedt, a. a. O. (FN 6); Diester, Enteignung und Entschädigung nach altem und neuem Recht, 1953, S. 40, 139; Grimm, Besteuerung und Grundgesetz, 1959, S. 22 f.; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, 2. Aufl. 1954, S. 21; Kaiser, Verfassungsrechtliche Eigentumsgewähr, Enteignung und Eigentumsbindung in der Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 21.

Besteuerung und Eigentum

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tie des Privateigentums verbietet das Staatseigentum und fordert statt dessen die Steuer. Das Grundrecht des Eigentümers schirmt deshalb nicht Eigentum gegen jeden Steuerzugriff ab, sondern sichert die Freiheit des Eigentümers im Steuerstaat. Der Wesensgehalt des Eigentümerrechts wird nicht schon durch Wegnahme eines Steuerbetrages, sondern immer dann verletzt, wenn ein Steuergesetz die Eigentümerfreiheit, also das Recht zu privatnützigem Erwerben 63 , Haben, Nutzen, Verbrauchen, Verwalten und Veräußern unangemessen beschränkt. 3. Die steuerliche handeln

Teilnahme

am Nutzen von

Eigentümer-

Das Steuerrecht nimmt diese verfassungsrechtliche Vorgabe 64 auf, wenn es grundsätzlich nicht die Liquidation vorhandener Bestände fordert, sondern am wirtschaftlichen Erfolg freiwilligen Eigentümerhandelns teilnimmt. Die Steuer belastet in der Regel das Einkommen und die Einkommensverwendung, schöpft Ergebnisse des im Markt ver-

63 Zur Steuererheblichkeit der in Art. 14 GG gesicherten Eigentumserträge: Vogel, Finanzverfassung, a. a. O. (FN 10), S. 40 f.; Papier, Die Beeinträchtigungen, a. a. O. (FN 61), S. 501; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 32 ff.; Friauf, Substanzeingriff durch Steuer-Kumulation und Eigentumsgarantie, StuW 1977 S. 59/62 f., sowie unten FN 102, 104, 199; zum Inhalt der Eigentümerfreiheit vgl. Zacher, Zur Rechtsdogmatik sozialer Umverteilung, DÖV 1970 S. 1/8; W. Geiger, Zur Abgrenzung der Eigentumsbeschränkung vom Enteignungstatbestand, in: Grundeigentum — Inhalt und Schranken, 1971, S. 39. M Zum personalen Charakter der Eigentumsfreiheit; Böhmer, Diskussionsbemerkung, in: Spanner/Pernthaler/Ridder, a. a. O. (FN 58), S. 63/66 f.; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 5; Dürig, Das Eigentum als Menschenrecht, ZfgesSt Bd. 109 (1953), S. 326/334 f.; ders. Der Staat, a. a. O. (FN 4), S. 24 f.; BVerfG E 24 S. 367/400 (Hamburger Deichordnung); E 31 S. 229/239 (Urheberrechtsgesetz); E 50 S. 290/339 (Mitbestimmung); NJW 1980 S. 692 (Versorgungsausgleich); vgl. auch zur klassischen Formel von Freiheit und Eigentum Dürig, a. a. O., S. 334 mit Nachweisen in FN 4; Scheuner, in: Scheuner/E. Küng, a. a. O. (FN 14), S. 12 ff.; Leisner, Wertzuwachsbesteuerung, a. a. O. (FN 61), S. 117 f. spricht von einem „Wegezoll" des Eigentümers für die Grundrechtsausübung. Die handlungsbezogene Ausgangsperspektive betont bereits Popitz, Der wirtschaftende Mensch als Steuerzahler, Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht, Bd. 4 (1930), S. 1 f.

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kehr tätigen Eigentümers ab. Das geltende Steuerrecht handelt v o m Eigentümer, der sein Eigentum erstmals erworben oder Eigentum am Markt freiwillig einer Neu- und Umbewertung unterworfen hat und dabei Wertsteigerungen und -minderungen, Erträge und Verluste erfährt. Diesem Eigentümer, der Güter erwerben, tauschen, nutzen und konsumieren will, ist weniger am Bestand seines bisherigen konkreten Eigentums und mehr an der Freiheit zur Veränderung seines Vermögens gelegen. Maßstab für eine Steuerbelastung ist die Eigentümerfreiheit, weniger das Eigentum. Die Gewährleistung des Eigentums ist als klassisches Freiheitsrecht 6 5 , weniger als Sachgarantie zur Bewährungsprobe gefordert 66 .

III. Der Steuerzugriff auf Vermögen 1. Die Belastung

des konkreten

Vermögens

Die steuerrechtliche Frage nach den verfassungsgesicherten Folgen privatnützigen Eigentümerhandelns gibt dem

65 Zur Herkunft der Eigentumsgewährleistung als Unverletzlichkeitsgarantie, Dürig, a. a. O. (FN 64), S. 332 mit Hinweis auf Art. 129 Abs. 4 Weimarer Verfassung in FN 3; Böhmer, a. a. O. (FN 64) sowie unten FN 101; der Parlamentarische Rat, JöR 1 (1951), S. 146 wollte die Eigentumsgarantie auf das „der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum" beschränken; zur Entwicklung der Interpretation des Art. 14 GG: Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Art. 14 Randnr. 10,12, 15; Art. 5 Österr. StGG spricht ausdrücklich von einer Unverletzlichkeitsgarantie, wird dennoch gegenwärtig eher als Institutsgarantie gedeutet, Pernthaler, a. a. O. (FN 58), S. 25/26; zum Schweizer Recht vgl. FN 93. " In der Rechtsprechung klingt diese Überlegung an, wenn sie der Besteuerungsgewalt nur zögernd einen Bestandsschutz und nachhaltig einen Vertrauensschutz entgegenstellt, vgl. BVerfG E 13 S. 261/271 (Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes); E 30 S. 392/401 (Umsatzsteuerbefreiung nach Berlinförderungsgesetz); E 11 S. 139/145 (Kostenrecht); E 18 S. 135/144 (Steuervergünstigung des § 7 b Abs. 1 Satz 5 EStG 1958); BFH E 85 S. 270/274 (Kalamitätsnutzung, § 34 b EStG 1955). Als Grundlage dieses Geltungsvertrauens wird das Rechtsstaatsprinzip, nur gelegentlich Art. 14 GG genannt, BVerfG E 31 S. 275/293 (Urheberrechtsgesetz); E 36 S. 281/293 (Patenterteilungsverfahren); E 42 S. 263/300 f. (Contergan); E 45 S. 142/167 (Interventionsbeschränkung bei Getreide); zur Zeitdauer des Geltungsvertrauens Kirchhof, Die Rückwirkung steuerkonkurrenzlösender Rechtssätze, DStR 1979 S. 275.

Besteuerung und Eigentum

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Grundsatzstreit, ob Art. 14 GG neben den einzelnen Vermögensgegenständen auch das „Vermögen als solches" schütze67, eine veränderte Bedeutung. Wenn es gilt, den pri-

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Zum aktuellen Streitstand vgl. Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, a. a. 0 . (FN 1), S. 487; Sendler, a. a. O. (FN 61), S. 21. Hinter dem Grundsatzstreit verbergen sich die fünf Fragen, ob a) die Gesamtheit aller Vermögensrechte als Rechtsinstitut überhaupt zu fassen sei, C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantie der Reichsverfassung, in: Rechtswissenschaftliche Beiträge zum 25jährigen Bestehen der Handelshochschule in Berlin, 1931, S. 23; Lecheler, „Funktion" als Rechtsbegriff?, NJW 1979 S. 2273/2275; vgl. auch Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973) S. 528/532 ff., 556 ff.; b) die Eigentümerfreiheit ein vergegenständlichtes Schutzgut voraussetze, so daß nur das Sachvermögen, nicht das Geldvermögen geschützt werde, vgl. die Nachweise bei Faehling, Die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 des Grundgesetzes als Schranke der Besteuerung, Diss. 1965, S. 34 f.; Roth, a. a. O. (FN 2), S. 79; c) das Gesamtvermögen angesichts aller Vermögenswerten Wertschwankungen als gleichbleibende Wertgarantie faßbar sei, Scheuner, Die überbetriebliche Ertragsbeteiligung, a. a. O. (FN 61), S. 45 mit FN 110; Papier, Die Beeinträchtigung, a. a. O. (FN 61), S. 491; d) der Gesamtbestand, dessen einzelne Objekte vom Willen des Eigentümers abhängen, als Rechtsfolge oder Rechtsvoraussetzung zu bewerten sei, vgl. dazu Ramsauer, a. a. O. (FN 61), S. 138; e) die Steuer ihrer Eingriffsart nach von vornherein keinen Eingriff in individuelles Eigentum darstelle und deshalb die Eigentumsgarantie nur institutionellen Schutz gegen die Besteuerung gewähren könne, Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 303 f. Das Eigentum wurde im Anschluß an den Wiener Kongreß erstmals als umfassende Zuordnung der Vermögenswerte an einen Rechtsträger definiert. Wenn das BGB (1900) den Eigentumsbegriff später auf „Sachen" beschränkt hat, so unterscheidet sich diese Limitierung auf körperliche Gegenstände grundsätzlich von den vorangehenden naturrechtlichen Kodifikationen, Scheuner, Die Abgrenzung der Enteignung, DÖV 1954 S. 587; Böhmer, Diskussionsbemerkung, in: Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 4 1977, S. 63/69; das Bundesverfassungsgericht zählt zum Eigentum z. B. auch Urheberrechte, Patentrechte, (teilweise) erworbene schuldrechtliche Ansprüche, E 31 S. 229/240 f. (Urheberrecht); E 36 S. 281/290 (Patentänderungsgesetz); E 42 S. 263 f. (Contergan); DB 1980 S. 1573 (Renten); der „erweiterte Eigentumsbegriff", den M. Wolff, a. a. O. (FN 2) angeregt hatte, wurde später vom Reichsgericht, seit RGZ 109 S. 319 ständig, sowie vom BGH, seit BGHZ 6 S. 270, übernommen; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 55 f.

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vaten Nutzen des Eigentümerhandelns auch nach Steuern zu wahren, definiert „Eigentum" nicht das Rechtsgut, das gegen Auferlegung von Geldleistungspflichten abzuschirmen wäre, sondern „Eigentum" umgrenzt den Handlungsspielraum, der dem Eigentümer bei seinem ökonomischen Verhalten zur Verfügung steht. Grundlage dieser Handlungsfreiheit ist das jeweilige Gesamtvermögen 68 . Ob der Eigentümer Eigentum anlegt oder liquide macht, ob er einzelne Gegenstände behält oder eintauscht, ob er sich Leistungen in Geld oder in Sachwerten entgelten läßt, ist Folge einer Eigentümerentscheidung, nicht Voraussetzung seines Freiheitsrechtes. Ein Arbeitnehmer einer Automobilfabrik, der sich durch ein Kraftfahrzeug oder durch Geldzahlung entlohnen lassen kann, beansprucht für das Erworbene in beiden Alternativen gleichen Schutz gegen staatlichen Zugriff. Ebenso macht es für einen Kraftfahrzeughändler kaum einen Unterschied, ob der Staat ihm nach der Veräußerung von 100 Fahrzeugen 13 wegnimmt oder ob er seinen Umsatz mit 13 % Steuern belastet. Würde Art. 14 GG nur den steuerlichen Zugriff auf Sachbezüge und Naturalien mäßigen, den Zugriff auf bares oder bargeldloses Leistungsentgelt hingegen nicht beschränken, so würde das Eigentum seine freiheitsfördernde Funktion verfehlen. Wer sich im Bar- und Buchgeld mehr ökonomische Entscheidungsfreiheit vorbehält, müßte allein wegen dieser freiheitlichen Vernunft auf den Grundrechtsschutz verzichten. Die Verfassung schützt deshalb jedes zu Eigentümerhandeln befähigende Wirtschaftsgut, d. h. das Gesamtvermögen im wechselnden, je nach Steuerstichtag faßbaren Bestand69.

68 So im Ergebnis Friauf, Steuergesetzgebung, a. a. O. (FN 6), S. 305 f.; Vogel/Walter, a. a. O. (FN 10), Art. 105, Randnr. 129; Vogel, Finanzverfassung, a. a. O. (FN 10), S. 37 f.; Sendler, a. a. O. (FN 61); Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 20; Martens, a. a. O. (FN 61), S. 16; Meessen, Vermögensbildungspläne, a. a. O. (FN 61); Denninger, a. a. O. (FN 61), S. 73. 69 Zu dem steuerrechtlichen, auf die bewertungsabhängigen Steuern zugeschnittenen Begriff des Gesamtvermögens vgl. § 114 Abs. 1 BewG und dazu Rössler/Troll/Langner, Bewertungsgesetz und Vermögenssteuergesetz, Kommentar, 11. Aufl. 1977, § 114 Randnr. 1 f.; die periodische Wertfeststellung und -fortschreibung nach Stichtagen widerlegt für das Steuerrecht die These, das Vermögen sei als Rechtsbegriff in seiner Veränderbarkeit nicht faßbar; zu dem strafrechtlichen Rechtsbegriff des „Vermögens" vgl. Peter Cramer, Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968.

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a) Der unmittelbare Zugriff auf konkretes Vermögen. Allerdings wird nur die Vermögensteuer nach einem Gesamtvermögen 70 bemessen. Alle übrigen Steuergesetze wählen aus der Vermögensgesamtheit 71 einen Steuergegenstand aus, um dieses spezielle Eigentum gesondert zu besteuern. Der Steuerschuldner wird belastet, weil er Einkommen bezieht, weil er Grundbesitz hat, weil er ein Kraftfahrzeug hält oder weil er eine entgeltliche Lieferung ausführt. Zwar läßt das Steuerrecht dem Eigentümer die Freiheit, die Steuerschuld aus beliebigem eigenen oder fremden Vermögen zu erfüllen. Dadurch wird dieses eigene oder fremde Vermögen aber nicht zum Zugriffsobjekt der Steuern. Die Einzelsteuer belastet den Steuerschuldner nicht, weil er über Wertsummen oder über Kreditfähigkeit verfügt, sondern weil ihm das im Steuertatbestand benannte Eigentum gehört 72 . Das Recht, die Steuerschuld mit beliebigen individuell verfügbaren Zahlungsmitteln zu begleichen, bietet lediglich eine freiheitsschonende Alternative zum Objektzugriff 7 '. Jede Steuer muß deshalb als gesonderte Belastung ih-

70

Vgl. soeben FN 69. Eine Ausnahme mag f ü r die — heute anachronistische — Kopfsteuer gelten, Schenke, a. a. O. (FN 61), S. 195. 72 Die Rechtsfolge, daß die steuerliche Wertsummenschuld stets auf die Minderung eines konkreten Eigentumsbestandes angelegt ist, bestätigen die einfachen Steuergesetze, die die Zahlungspflicht des Steuerschuldners als Belastung des Steuerobjekts definieren und von dem „zu versteuernden Einkommen" (§ 2 Abs. 5 EStG), dem „steuerpflichtigen Vermögen" (§ 9 VStG), den „steuerbaren Umsätzen" (§ 1 UStG), den „verbrauchsteuer- und zollpflichtigen Waren" (§ 76 AO) sprechen. Das Zugriffsobjekt wird noch deutlicher, wenn das Gesetz den Steuergegenstand dinglich f ü r die Steuerschuld haften läßt, so ζ. B. das Grundstück für die Grundsteuer (§ 12 Grundsteuergesetz, § 76 AO, ferner §§ 74, 75 AO), die zoll- und verbrauchsteuerpflichtige Ware für Zölle und Verbrauchsteuern (§ 76 AO, ferner §§ 74, 75 AO) oder den Gegenstand — wie beim Gewerbebetrieb — zum Steuerschuldner verselbständigt (§ 5 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 2 Abs. 2 GewStG); vgl. Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3) (§§ 38, 43, 50 a EStG). Ähnlich gegenständlich läßt sich der konkrete Eigentumszugriff veranschaulichen, wenn die Umsatzsteuer offen als Bestandteil des Preises ausgewiesen und von den das Entgelt empfangenden Unternehmern an das Finanzamt abgeführt wird (§ 13 Abs. 2 i. V. m. § 1 Nr. 1 und 2, § 10 Abs. 1 UStG). 71

73

Damit wird der im Verwaltungszwangsverfahren geläufige Gedanke eines Austauschmittels im Steuerrecht zum Regeltatbestand.

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res Gegenstandes gerechtfertigt werden74; dieser Gegenstand muß die durch ihn vermittelte Eigentümerfreiheit gesondert zur Geltung bringen. b) Der mittelbare Zugriff auf konkretes Vermögen Selbst wenn man aber die Steuerlast nicht als gesetzlichen Zugriff auf konkretes Vermögen, sondern nur als eine durch Zahlung des Schuldners vermittelte, deshalb „mittelbare" Belastung des Gegenstandes verstehen wollte75, so würde Art. 14 GG auch derartige, erst durch Mitwirkungshandlung des Betroffenen vermittelte Einwirkungen auf das konkrete Vermögen mäßigen76. Wie eine gesetzlich erzwungene Zusammenveranlagung von Ehegatten den Willen zur Ehe durch ehefremde Motive bestimmen und damit die Freiheit der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) betreffen kann77, wie die Schankerlaubnissteuer „motivationsbestimmend" auf die Berufswahl einwirken78 oder eine Belastung des Werkfernverkehrs auf die Berufswahl zurückwirken kann79, so begründet auch die nach einem Steuergegenstand bemessene Wertsummenschuld die Alternative, entweder die Schuld aus Geldvermögen zu begleichen oder den Steuerzugriff auf den konkreten Gegenstand zu dulden. Beide Belastungsalternativen müssen mit Art. 14 GG übereinstimmen. 2. Der Zugriff durch eine

Gesamtsteuerlast

In der Belastung des konkreten Steuergegenstandes wird allerdings nur die grundrechtserhebliche Wirkung einer Einzelsteuer sichtbar. Das Maß und eventuelle Übermaß der individuellen Gesamtlast aus allen Steuern läßt sich ausschließlich im Gesamt vermögen erkennen. Außerdem macht die Belastung des Gesamtvermögens die Häufung unter-

74 Vogel, Die Besonderheit des Steuerrechts, DStZ (A) 1977 S. 5 ff.; auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet erst im konkreten Steuergegenstand einen deutlichen Anknüpfungspunkt. 75 Faehling, a. a. O. (FN 67), S. 49 f. 76 Im Ergebnis ebenso Faehling, a. a. O. (FN 67), S. 69 f. 77 BVerfG E 6 S. 55/77 (Ehegattenbesteuerung). 78 BVerfG E 13 S. 181/184 (Schankerlaubnissteuer); im Anschluß an Wacke, Schankerlaubnissteuer und Grundgesetz (Rechtsgutachten), 1968, S. 13 f. 79 BVerfG E 16 S. 147/167 (Werkfernverkehr); E 38 S. 61/102 („Leberpfennig").

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schiedlicher Steuertypen bewußt80. Wenn ζ. B. ein zum Spitzensteuersatz belasteter Gewerbetreibender gewerblichen Gewinn zur Deckung seines privaten Bedarfs verwendet, so bleibt ihm nach Ertragssteuern noch ca. 36 % seines Gewinns81; wenn er dieses verbliebene Einkommen sodann zum Erwerb verwendet, muß er nochmals ca. 15 % bis 20 % indirekte Steuern zahlen82 und erworbenes Vermögen schließlich der Vermögensteuer unterwerfen. Das unkoordinierte Nebeneinander von Einkommen- und Vermögensteuer83 hat zur Folge, daß der Steuerpflichtige ca. 2,74 DM verdienen muß, um 1 DM Vermögensteuer zahlen zu können84. Durch die Häufung von Einkommen- und Umsatzsteuer muß ein zum Unterhalt und damit zum Konsum verpflichteter Vater oft insgesamt mehr Steuern zahlen als der gleichverdienende Junggeselle85. Früher wurde diese Mehrfachbelastung durch

80 Zur Unterscheidung zwischen Steuerkollision (Belastung mehrerer Subjekte in demselben Steuergegenstand) und Steuerkonkurrenzen (Belastung desselben Steuerpflichtigen mit mehreren Steuern) vgl. Kirchhof, Die Rückwirkung, a. a. O. (FN 66). 81 Angenommen ist der Höchststeuersatz von 56% Einkommensteuer, 9% Kirchensteuer und eine Gewebeertragssteuer zum Hebesatz von 300%; vom Rohgewinn verbleiben nur 36, 425; vgl. die Teilsteuersätze nach Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 428. 82 Zur Umsatzsteuerbelastung von derzeit regelmäßig 13% treten besondere Verkehrsteuern (Kraftfahrzeugsteuer, Versicherungssteuer) und eine Vielzahl von kleineren Verbrauchsteuern. 1974 wurde eine Gesamtbelastung des privaten Haushalts durch Umsatzsteuern und Verbrauchsteuern bei hohem Einkommen bis zu 17% angenommen, vgl. Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaften, Bd. 2 1980, S. 778; der Prozentsatz ist in der Zwischenzeit insbesondere wegen Änderungen im Umsatz-, Tabak- und Mineralölsteuergesetz angestiegen. 83 Bis zum 1. 1. 1975 konnte die Vermögensteuer noch als Sonderausgabe abgezogen werden (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG 1971). 84 Veraussetzung wie zu FN 81; fällt keine Gewerbesteuer an, so benötigt der Steuerpflichtige zur Begleichung einer Vermögensteuerschuld von 1 DM ca 250% eines Gewinnes oder Überschusses vor Steuern in gleicher Höhe; vgl. die Teilsteuersätze bei Tipke,Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 428. 85 Die stärkere indirekte Steuerbelastung der Unterhaltsverpflichteten wird vom Bundesverfassungsgericht, E 44 S. 249/279 (Wegfall der Kinderfreibeträge in seinen beamtenrechtlichen Auswirkungen) festgestellt, jedoch in seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung offen gelassen.

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Konkurrenzregeln anfangs im Umsatz-86, später im Einkommensteuerrecht·7 aufgefangen. Heute fehlen vielfach systematische Konkurrenz- und Kollisionsregeln. Umsomehr muß das Problem der Steuerhäufung in einer zweistufigen Verfassungsprüfung sichtbar gemacht werden: zunächst muß die gesonderte Belastung des speziellen Steuergegenstandes als angemessen dargetan werden; sodann ist die steuerliche Gesamtbelastung des gesamten Individualvermögens zu rechtfertigen. 3. Das Verbot enteignender

Steuern

Das Schutzgut der Eigentümerfreiheit gibt auch der Enteignungsgrenze ihren steuerrechtlichen Sinn: eine Enteignung ist unzulässig, wenn sie nicht mehr erreicht als den bloßen Vermögensübergang von der privaten auf die öffentliche 86 Vgl. § 14 des UStG vom 24. 12. 1919 [RGBl. 1919 II S. 2157 (2162)], wonach Steuerpflichtige mit minderem Einkommen und mehr als einem Versorgungspflichtigen Kind unter 16 Jahren eine „Rückvergütung" der Umsatzsteuer gewährt wurde (so der Bericht des 12. Ausschusses über den Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, RT-Drucks., Bd. 34 ASt Nr. 1753 S. 1811 f.). Die zu zahlende Vergütung war vom Umsatzsteueraufkommen abhängig. Die Regelung wurde durch § 57 des Einkommensteuergesetzes vom 29. 3. 1920 (RGBl. 1920 I S. 359/377) wieder aufgehoben (Antrag Nr. 2217 zum Entwurf eines Reichseinkommensteuergesetzes, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Anlagen zu den Stenographischen Berichten, RT-Drucks. Bd. 341 S. 2412), da sie durch die Einführung eines haushaltsbezogenen steuerfreien Einkommensteils an Bedeutung verloren habe, verwaltungstechnisch zu großen Schwierigkeiten führe und die Einkommensgrenze (3000 bis 5000 Mark) allgemein überschritten werde (Verhandlung der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte, Bd. 332 der Reichstagsdrucksachen, 145. Sitzung v. 1. 3. 1920, S. 4591 A, 4592 D, 4594 C); dazu auch Neumark, Grundsätze a. a. O. (FN 7), S. 83; Frey, Finanzpolitik und Verteilungsgerechtigkeit, F A 31 (1972/73), S. 1/16 mit FN 1. 87 Vgl. den (bis zum E S t G 1975 geltenden) § 32 Abs. 2 EStG 1968 i.d.F. der StÄndG 1968 v. 20. 2. 1969, B S t B l . I S. 116; zum Wegfall der Kinderfreibeträge kritisch Vogel, Berücksichtigung von Unterhaltspflichten im Einkommensteuerrecht, DStR 1977 S. 31; zur Rspr.: BVerfG E 43 S. 108 (Berücksichtigung der Unterhaltsaufwendungen für Kinder im Einkommensteuerrecht) und BVerfG E 44 S. 249 (Beamtenrechtliche Auswirkungen des Wegfalls).

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Hand". Der E i g e n t ü m e r w e c h s e l ist Rechtsfolge, nicht rechtfertigender Tatbestand des Art. 14 Abs. 3 GG. E n t e i g n u n g e n zum Z w e c k e bloßer Einnahmenerzielung w ä r e n deshalb nicht mit Art. 14 vereinbar. Darüber hinaus n ä h m e die Entschädigungsfolge einer e n t e i g n e n d e n Besteuerung die Wirk u n g der Ertragsschöpfung 8 9 . D i e Enteignungserschwerung des Art. 14 Abs. 3 GG w i r k t somit in Tatbestand („Allgemeinwohl") 9 0 und Rechtsfolge („Entschädigung") 9 1 als Besteuerungsverbot. D i e s e s Verbot gilt aber nicht für die Steuern schlechthin, sondern b e t r i f f t nur die gegenständliche Grundlage der Eigentümerfreiheit. D i e Steuer darf dem Eig e n t ü m e r nicht die w i r t s c h a f t l i c h e n Voraussetzungen seines " Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, a. a. O. (FN 1), S. 382; Schulte, Eigentum und öffentliches Interesse, 1970, S. 85 f; Badischer Staatsgerichtshof, VerwRspr. Bd. 2 S. 411/416 ff.; BVerfG E 38 S. 175/180 (Rückenteignungsanspruch); Maunz, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, a. a. O. (FN 10), Art. 14 Randnr. 110; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 272/274. 89 Layer, a. a. O. (FN 2), S. 63; Forsthoff, Der Entwurf eines Zweiten Vermögensbildungsgesetzes, BB 1965 S. 381/388; ders. Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVDStRL 12 (1954) S. 32; die Zerstörung eines Steuergegenstandes durch übermäßige Besteuerung könnte nicht als Enteignung gerechtfertigt (Friauf, Eigentumsgarantie und Steuerrecht, a. a. O. (FN 1) S. 487), müßte aber nach Enteignungsgrundsätzen entschädigt werden (Leisner, Wertzuwachsbesteuerung, a. a. O. (FN 61), S. 120 ff). 90 Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG; weniger deutlich Art. 22 Abs. 2 der Schweizer BV, der die Voraussetzung des „öffentlichen Interesses" auf die Enteignung und die Eigentumsbeschränkung bezieht; zu Art. 5 Österr. StGG vgl. FN 91; zum Verhältnis von Bestands- und Wertgarantie: Wolff, a. a. O. (FN 2), S. 3/13; Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, a. a. O. (FN 1); Böhmer, a. a. O. (FN 64), S. 67 f.; BVerfG E 24 S. 267/400 (Hamburger Deichordnung). 91 Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 22 ter Abs. 3 Schweiz. BV; Art. 5 Österr. StGG kennt seinem Text nach keine Wertgarantie; nach der Rspr. darf der Gesetzgeber „die A r t " der Enteignung festlegen, damit auch eine Enteignung ohne Entschädigung vorsehen, VfGH ErkSlg 1123/1928; 2572/1954; die Lehre lehnt diese Rechtsprechung nahezu einhellig ab, vgl. Pernthaler, in: Spanner/Pernthaler/Ridder, a. a. O. (FN 58), S. 27, 30 f.; die Gesetzespraxis gewährt ebenfalls in der Regel volle Entschädigung, Pernthaler, a. a. O.. Unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung wurde ein Junktim zwischen Enteignung und Entschädigung nicht als notwendig anerkannt, sondern in die Entscheidungsbefugnis des positiven Gesetzgebers gestellt; Scheicher, Gesetzliche Eigentumsbeschränkung und Enteignung, AöR 57 (1930) S. 321/328 m. N. in FN 4; Wolff, a. a. O. (FN 2), S. 8.

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Handelns entziehen, sondern nur staatliche Teilnahme am Erfolg des Eigentümerhandelns vermitteln. Der Staat darf sich um einen Steuerbetrag, nicht um den Steuergegenstand bereichern. C. Die Steuerpflichtigkeit des Eigentumsgebrauchs I. Der Eigentumsgebrauch als steuerlicher Regeltatbestand Die Intensität steuerlicher Erfolgsteilhabe steht nicht bis zur Enteignungsgrenze im Belieben des Gesetzgebers, sondern ist jeweils gesondert nach der Sozialpflichtigkeit des betroffenen Steuergegenstandes zu rechtfertigen. Die Eigentumsgarantie antwortet auf die steuerrechtliche Frage nach der Privatnützigkeit des Eigentümerhandelns mit der Sozialpflichtigkeit gerade des in Gebrauch stehenden Eigentums. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen" (Art. 14 Abs. 2 GG). Die Verpflichtung des Eigentums gilt für die bloße Innehabung von Eigentum, f ü r den Tatbestand, Eigentümer zu sein. Das „Zugleich" von Allgemein- und Privatdienlichkeit hingegen knüpft an den Tatbestand des Eigentumsgebrauchs, also an eine vom Eigentümerwillen abhängige Verwendung des Eigentums. Die sprachliche Unterscheidung 92 zwischen einem verpflichtenden Eigentum und einem deutlicher sozialgebundenen Eigentumsgebrauch 93 meint ihrer Entstehungsgeschichte nach 94 nicht eine prinzipielle Sozialbindung und ihre 92 Der in Anlehnung an Art. 153 Abs. 3 Satz 2 WRV formulierte Art. 14 Abs. 2 GG (Art. 17 Abs. 1 HChE, vgl. JöR Bd. 1 S. 145) meinte ursprünglich vor allem die Bodenordnung, Pari. Rat, 8. Sitzung des Grundsatzausschusses, Stenoprot. S. 62 ff., und enthält im „Gebot sozialgerechter Nutzung" „eine Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft hat", BVerfG E 21 S. 73/83 (Grundstücksverkehrsgesetz). 93 Die Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der (Schweizer) Bundesverfassung, Bericht 1977, S. 45, hatte erwogen, das persönliche Eigentum erhöhtem Schutz zu unterwerfen; ebenso der Vorschlag des Grundsatzausschusses zum Entwurf des GG, JöR Bd. 1 S. 145. 94 Vgl. die Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses in Art. 17 Abs. 2, JöR Bd. 1 S. 147; Grundsatzausschuß, 26. Sitzung vom 30. 11. 1948, JöR Bd. 1,S. 147; Allgemeiner Redaktionsausschuß, JöR Bd. 1 S. 148; auch Art. 17 Abs. 1 HChE, JöR Bd. 1 S. 145 f.

Besteuerung und Eigentum

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Steigerung bei der Ausübung der Eigentümerfreiheit 95 , sondern erläutert den Grundsatz der Sozialpflichtigkeit als eine Bindung in der Phase des Eigentumsgebrauchs96. Die Sozialpflichtigkeit gestattet dem Staat eine Teilnahme am Erfolg des Eigentumsgebrauchs, grundsätzlich nicht eine Teilhabe am Eigentumsbestand.

II. Die Typologie der Steuerphasen 1. Die

Eigentumsverwendung

Die Verkehrsteuern, die Verbrauchsteuern, die Umsatzsteuer und die Zölle bestätigen diesen Belastungsgrundsatz, wenn sie einen Erfolg der Eigentumsverwendung abschöpfen. Sie treffen auf das Eigentümerrecht der Verfügungsfreiheit97, finden aber eine ausdrückliche — wenn auch nicht für das Steuerrecht formulierte98 — Rechtfertigung in der Sozialbindung des Eigentumsgebrauchs. Die indirekten Steuern sind deshalb verfassungsrechtlich ein Regelfall.

95 Die Entstehungsgeschichte ist allerdings von der (unter Hinweis auf Art. 18 im Ergebnis abgelehnten) Diskussion um einen Eigentumsmißbrauchtatbestand geprägt; vgl. die Vorschläge der Abg. Dr. Bergsträßer und Dr. von Mangold, JöR Bd. 1, S. 47 f.; Allgemeiner Redaktionsausschuß, JöR Bd. 1 S. 148; sowie der Hauptausschuß in seiner dritten Lesung, daselbst S. 47 f. 56 Die Expertenkommission, FN 93, S. 45 hatte eine Orientierung an Art. 14 Abs. 2 GG erwogen, jedoch mehrheitlich wegen Unbestimmtheit diese Verfassungsaussage verworfen. 57 Vgl. Laufke, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, in: Festschrift f ü r Heinrich Lehmann, Bd. 1, 1956, S. 145/156; H. Huber, Gewerbefreiheit und Eigentumsgarantie, Festgabe Max Gutzwiller, 1959, S. 535/536; Kloepfer, Grundrechte, a. a. O. (FN 4), S. 46 spricht von „ergänzungsbedürftigen Entsprechungsrechten"; vgl. ferner Friauf, Steuergesetzgebung , a. a. O. (FN 6), S. 307; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 42; Denninger, a. a. O. (FN 61), S. 29, 70/73; Pernthaler, Der Grundrechtsschutz, a. a. O. (FN 58), S. 25/26; das BVerfG versteht die Verfügungsbefugnis grundsätzlich als Tatbestandsmerkmal des Eigentümers, NJW 1980 S. 692/693 (Versorgungsausgleich). 98 Vgl. FN 92; umgekehrt kann eine Besteuerung durch Ausdehnung der Sozialbindung vermieden werden, Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 226.

P a u l Kirchhof

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2. Der

Eigentumsbestand

Die Besteuerung des ruhenden Eigentums durch die Vermögensteuer, die Grundsteuer und die Gewerbesteuer vom Gewerbekapital wartet nicht den Erfolg eines Eigentumsgebrauchs ab, sondern belastet den Bestand eines konkreten Eigentums". Der Eigentümer beansprucht für dieses Eigentum lediglich das Recht, es in seinem derzeitigen Bestand behalten zu dürfen. Die Bestandssteuern 100 sind deshalb der verfassungsrechtliche Problemfall. 3. Das

Einkommen

Den verfassungsrechtlichen Präzedenzfall schaffen die Steuern auf das Einkommen, also die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer vom Gewerbeertrag und die Kirchensteuer. Die Einschlägigkeit der Eigentumsgarantie steht für Kapitaleinkommen außer Zweifel, weil dieses Einkommen die Privatnützigkeit 101 vorhandenen (er99 Der E i n h e i t s w e r t eines Betriebsvermögens w i r d durch die Vermögensteuer, die G e w e r b e k a p i t a l s t e u e r und die G r u n d s t e u e r bei v e r g r ö b e r n d e r Durchschnittsberechnung m i t 2,4% bei einem Person e n u n t e r n e h m e n und 4,2% bei einer Kapitalgesellschaft belastet. Dabei ist zu berücksichtigen, d a ß die Vermögensteuer aus versteuert e m E i n k o m m e n zu zahlen ist, vgl. oben F N 83 (vgl. Rose, Zur U n t e r n e h m u n g s - S u b s t a n z s t e u e r b e l a s t u n g a b 1978, F R 1977 S. 537 f.; ders., Ärgernis Substanzbesteuerung, F R 1975 S. 77 f.). 100 Der Begriff „ S u b s t a n z s t e u e r n " w i r d vermieden, weil die Wegn a h m e der Substanz eines einzelnen Vermögensgegenstandes nicht n o t w e n d i g die „ S u b s t a n z g a r a n t i e " des A r t . 19 Abs. 2 GG zu verletzen b r a u c h t , Schick, U r t e i l s a n m e r k u n g , JZ 1974 S. 330/331; Friauf, S u b s t a n z e i n g r i f f , a. a. O. (FN 63), S. 62 f. 101 Wolff, a. a. O. (FN 2), S. 5; Reinhardt, Wo liegen f ü r den Gesetzgeber die Grenzen, gem. A r t . 14 des Bonner GG ü b e r Inhalt und S c h r a n k e n des Eigentums zu bestimmen?, in: R e i n h a r d t / S c h e u n e r , Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 1/14 f.; Scheuner, Grundlagen u n d Art der Enteignungsentschädigung, a. a. O. (FN 14), S. 68 f.; Badura, E i g e n t u m , a. a. O. (FN 61), S. Τ 5/14, 24; Pernthaler, a. a. O. (FN 58), S. 26; Böhmer, in: Rechtsstaat in der B e w ä h r u n g , a. a. O. (FN 67), S. 67. Das BVerfG ordnet die P r i v a t n ü t z i g k e i t einem Rechtsträger zu, E 42 S. 263/294 (Contergan) u n d gibt dem E i g e n t ü m e r das Recht, das E i g e n t u m in der H a n d des Rechtsträgers als G r u n d l a g e p r i v a t e r Ini t i a t i v e u n d im e i g e n v e r a n t w o r t l i c h e n p r i v a t e n Interesse von Nutzen sein zu lassen, E 31 S. 229/240 (Urheberrecht); E 37 S. 132/140 (Wohnraumkündigungsschutzgesetz); E 42 S. 263/294 (ConterganStiftung); E 50 S. 290/339 (Mitbestimmung); vgl. auch oben F N 65.

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tragsfähigen) Eigentums realisiert102. Arbeitseinkommen hingegen stützt sich nicht auf die Ertragsfähigkeit von Kapital, sondern auf berufliche Leistung. Würde man deshalb aber Arbeitseinkommen als „werdendes Eigentum" verstehen, das erst nach Besteuerung am Schutz des Art. 14 GG teilhätte 103 , so wäre eine solche Wertung in der steuerrechtlichen Analyse und in der verfassungsrechtlichen Würdigung verfehlt. Die Steuer erfaßt im Einkommen erworbenes Vermögen, das bei der Besteuerung der Überschußeinkünfte bereits zugeflossen ist (§11 EStG), bei den Gewinneinkünften im Bestandsvergleich (§§ 4, 5 EStG) als rechtlich verfestigter Anspruch belastet wird. Der verfassungsrechtliche Schutz des erworbenen Vermögensbestandes wirkt für das leistungsabhängige Entgelt, bevor die personenabhängige Steuerforderung entsteht und — sei es auch in Form des Quellenabzuges — erfüllt wird. Von der verfassungsrechtlichen Würdigung fordert der Maßstab der Eigentümerfreiheit eine Gleichstellung aller „wohlerworbenen Rechte"104. Hat der Steuerpflichtige Ein-

102 Zur eigentumsrechtlich gewährleisteten Freiheit zum Erwerb vgl. grundsätzlich F. Klein, Vermögenspolitik und Grundrechte, 1974, S.' 31; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 19; Kloepfer, Grundrechte, a. a. O. (FN 4), S. 35 f.; Böckenförde, Eigentum, Sozialbindung des Eigentums, Enteignung, in: Gerechtigkeit in der Industriegesellschaft, 1972, S. 215/216 (Recht des Eigentums und Recht auf Eigentum); zu den historischen Ursprüngen Scheuner, in: Scheuner/E. Küng, a. a. O. (FN 14), S. 14; zur Steuerrechtsfolge: Friauf, Steuergesetzgebung, a. a. O. (FN 6), S. 299; Vogel, Finanzverfassung, a. a. O. (FN 10), S. 40 f.; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. 0 . ( F N 3 ) , S.34 f.; zur Verdeutlichung des Ergebnisses durch eine bestimmte Zweckbindung des Eigentums vgl. Friauf, a. a. O., S. 316 (Erträge zur Instandhaltung des Eigentums) und Vogel, a. a. O., S. 43 Anm. 86 (Beschaffung von Ersatz für ein nicht mehr verfügbares Wirtschaftsgut); vgl. auch oben FN 63 und unten FN 104. 103 So im Ergebnis (für Lohn und Kaufpreis) Schenke, Besteuerung, a. a. O. (FN 61), S. 198, weil der Preis einer Sache bzw. Arbeitsleistung nicht absolut feststehe; noch weitergehend Faehling, a. a. O. (FN 67), S. 39 f. (bloße Ertragschance). 104 Die Einkunftsquellen des § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 stützen sich insgesamt auf den Einsatz von Kapital oder Arbeit (Einkunftsquelle) und gehören deshalb zu den ,, Objektivationen des Leistungseinsatzes", Dürig, Der Staat, a. a. O. (FN 4), S. 13/47; zu den „wohlerworbenen Rechten"; ferner: Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz,

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kommen erworben, so hat seine Eigentümerfreiheit bereits einen ökonomischen Gegenstand: der Eigentümer darf sein Einkommen gegen konkrete Sachwerte eintauschen, es sparen, verschenken, anlegen, verzinsen und verpfänden. Das erworbene Forderungsvermögen vermittelt einen gleichartigen ökonomischen Freiheitsspielraum wie das Sachvermögen. Das Einkommen gehört deshalb insgesamt zum verfassungsrechtlich geschützten Eigentum und weist lediglich die Besonderheit auf, daß es hinzuerworbenes Eigentum ist, also als Zuwachs an Eigentümerfreiheit105 besteuert werden kann. Im Ergebnis fordert die Eigentumsgarantie eine Unterscheidung zwischen zuerworbenem, ruhendem und verwendetem Eigentum. Ergänzt man den Eigentümerschutz durch die zum Eigentumsrecht gehörige, nur tatbestandlich verselbständigte Erbrechtsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. GG)106, so findet man die Grundtypen aller geltenden Steuerarten in der Eigentumsgarantie angelegt.

a. a. O. (FN 10), Art. 14, Randnr. 33; Böhmer, in: Rechtsstaat in der Bewährung, a. a. O. (FN 64), S. 66 f., 69 f.; zum Schutz des Erarbeiteten (neben dem Schutz der Erwerbsfreiheit); E. Stein, Vermögenspolitik und Grundrechte, 1974, S. 19 ff.; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 19 sowie BVerfGE 1 S. 264/277 (Schornsteinfeger); E 14 S. 288/294 (Rentenversicherung); E 24 S. 220/225 (Weiterversicherung); E 30 S. 292/334 f. (Erdölbevorratung); E 38 S. 61/102 („Leberpfennig"); aber E 40 S. 65/83 f (Krankenversicherungsschutz); Leisner, „Eigentümer" als Beruf JZ 1972 S. 33/37 interpretiert Art. 14 GG „im Lichte des Art. 12 GG"; Wittig, Der Erwerb von Eigentum und das Grundgesetz, NJW 1967 S. 2185 ordnet „das Erworbene" dem Art. 14 GG, „den E r w e r b " dem Art. 12 GG zu, ebenso BVerfG E 30 S. 292, a. a. Ο.; E 38 S. 61 a. a. O.; vgl. auch unten FN 199. 105 Erst im Zusammenwirken mit diesem Zuwachs an Freiheit kommt der Unterscheidung zwischen konsolidierten Vermögenswerten Rechten und gerade entstandenen subjektiven Rechten (Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 319; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 38; Schenke, a. a. O. (FN 61), S. 198), verfassungserhebliche Bedeutung zu. 106 Dazu: Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen der Erbschaftsbesteuerung, a. a. O. (FN 61); zur ideengeschichtlichen und verfassungssystematischen Zugehörigkeit des Erbrechts zur Eigentumsgarantie: Dürig, Der Staat, a. a. O. (FN 4), S. 32.

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III. Die Verteilungswirkung der Eigentümersteuern Die Bemessungsgrundlage „Eigentum" bietet darüberhinaus nur einen Anknüpfungspunkt für die Verteilung staatlicher Lasten107, jedoch nicht für eine Umverteilung108 individueller Freiheiten10*. Eigentum wird als vorgefundenes Recht gewährleistet, nicht in den Gründen für sein Entstehen und seinen Fortbestand analysiert. Auch Art. 14 GG fragt nicht danach, ob Eigentum durch Anstrengung und Freiheitsverzicht erworben oder gegen andere Rechtsgüter eingetauscht worden ist. Deshalb findet auch eine umvertei-

Vgl. FN 42. Die finanzwissenschaftliche Steuerdiskussion wird von zwei Auffassungen bestimmt, die entweder Gleichheit im vorhandenen Bestand wahren wollen (Neumark, Grundsätze, a. a. O. (FN 7); Pohmer, Leistungsfähigkeitsprinzip und Einkommensverteilung, Festschrift Fritz Neumark, 1970, S. 139; H. Haller, Zur Diskussion über das Leistungsfähigkeitsprinzip, FinArch. 31 (1972/73) S. 461/471 f.), oder eine Angleichung in zukünftigen Eigentumsbeständen steuerlich herstellen wollen, (Littmann, Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip, Festschrift für Fritz Neumark, 1970, S. 112; Pahlke, Steuerpolitische Grundsatzfragen, FinArch. 28 (1969) S. 42/51 f.; Frey, a. a. O. (FN 86), S. 6). In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird eine Entziehung oder Belastung vermögenswerter Rechte zum bloßen Zweck der Umverteilung für unzulässig gehalten, W. Weber, Die Grundrechte (FN 1), S. 361; Fr. Klein, Vermögensbildung und Eigentumsgarantie, 1974, S. 66; W. Geiger, Grundrechte und Rechtsprechung, 1959, S. 47; E. Stein, Vermögenspolitik, a. a. O. (FN 104), S. 30; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, a. a. O. (FN 103), S. 338; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 121, 270; dieses Verbot der Eigentumsneuzuordnung gilt auch für das Instrument des Steuerrechts, Faehling, Die Eigentumsgewährleistung, a. a. O. (FN 67), S. 114; Riifner, Die Eigentumsgarantie, a. a. O. (FN 61), S. 887; a. A. Papier, Die Beeinträchtigungen, a. a. O. (FN 61), S. 504 f.; Die Unterscheidung zwischen unzulässiger Umschichtung und zulässiger Umverteilung, Forsthoff, Der Entwurf eines 2. Vermögensbildungsgesetzes, a. a. O. (FN 89), S. 387, meint dort die Verschiedenheit von Sachzuwendungen und steuerlicher Zuwendung; hier wird unterschieden zwischen einer bestandsverpflichteten steuerlichen Lastenzuteilung und einer vermögensbildenden Staatsleistung, vgl. unten in und zu FN 115. 107

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109 Zu Gegensatz und Durchsetzungskraft der „austeilenden Gerechtigkeit" gegenüber der „gestaltenden Gerechtigkeit" vgl. K. Vogel, Steuergerechtigkeit und soziale Gestaltung, DStZ 1975 S. 409/410 f.

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lende Steuer im Eigentum keinen ausreichenden Belastungsgrund, solange sie die Ursachen für Vermögensunterschiede nicht zur Kenntnis nimmt und ihr insbesondere der Freiheitswert einer unökonomischen Betätigung, etwa der Muße oder des Vermögensverbrauchs, entgeht. Die Umverteilungsfrage lautet nicht beobachtend: Wem gehört was?, sondern sucht die individuellen Gründe für ein Eigentumsgefälle und prüft: Wem fehlt die Gesundheit, die berufliche Ausbildung, der Arbeitsplatz oder die Existenzgrundlage, um am privaten Verteilungsverfahren teilnehmen zu können? Das auf Dauer zugeordnete Vermögen ist als Bemessungsgrundlage für eine Umverteilungssteuer außerdem fragwürdig, wenn es die Kontrollstellen der progressiven Einkommensteuern 110 und der progressiven Erbschaft- und Schenkungsteuern mit ihrer derzeitigen Belastungsintensität passiert hat und dort nach Zahlung in die Privatheit entlassen worden ist111. Eigentum nach Steuern trägt das steuerstaatliche Prüfsiegel; Erwerbsbereitschaft vor Steuern trifft auf steuerstaatliches Desinteresse. Zudem taugt ein Eigentümersteuerrecht auch nicht als Instrumentarium für Umverteilungen. Das Steuerrechtsverhältnis stellt keine Rechtsbeziehungen zwischen dem Steuerpflichtigen und dem zukünftigen Empfänger einer Staatsleistung her, sondern fordert Steuerleistungen für anonyme Finanzierungsaufgaben. Der Steuerpflichtige ist von der individuellen Kontrolle der Ertragsverwendung ausgeschlossen; andererseits bleibt seine individuelle Rechtsposition unabhängig von einem einzelnen staatlichen Finanzierungsvorhaben. Die Steuer verteilt Lasten unter Steuerpflichtigen, nicht Eigentum unter Bürgern. Im übrigen erreicht eine steuerliche Gunst nicht den Vermögenslosen. Überwälzbare Steuern können die Weitergabe der Gunst nicht rechtsver-

110 Lücken im Einkommensteuerrecht, insbesondere beim Einkommen aus der Veräußerung privaten Vermögens, vgl. dazu Höhn, Die Besteuerung der privaten Gewinne, 1955, müßten nicht durch eine „nachholende" Vermögensteuer, vgl. dazu unten FN 132, 204, sondern durch eine Korrektur des Einkommensteuerrechts geschlossen werden. 111 Zur Funktion des Eigentums als Bestandteil einer die Freiheit schützenden und fördernden Sozialordnung Doehring, a. a. O (FN 3), S. 7; die Steuer ist im übrigen Voraussetzung für eine maßvolle Sozialbindung des Eigentums und für eine Enteignungsentschädigung, Leisner, Sozialbindung, a. a. O. (FN 98), S. 230 ff.

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bindlich sicherstellen 1 1 2 . Progressive Steuern bringen Verschonungstatbestände 1 1 3 m i t w a c h s e n d e m E i n k o m m e n und V e r m ö g e n überproportional zur Wirkung 114 . Deshalb ist staatliche H i l f e für p r i v a t e V e r m ö g e n s b i l d u n g nicht T h e m a der Steuerbemessung, sondern A u f g a b e staatlicher Ertragsv e r w e n d u n g . Weil der E i g e n t u m s v e r l u s t b e i m E i g e n t ü m e r nicht durch eine E i g e n t u m s z u w e n d u n g an den Nachfrager 1 1 5 k o m p e n s i e r t w i r d und w e i l staatliche H i l f e bei privater Verm ö g e n s b i l d u n g nicht staatliche Pflicht, sondern staatliche Wohltat ist, handelt das Grundrecht allein v o n der Eigent u m s m i n d e r u n g zur Erzielung staatlicher E i n k ü n f t e , nicht v o n einer E i g e n t u m s m i n d e r u n g für ein i n d i v i d u a l n ü t z i g e s staatliches Finanzierungsvorhaben. D i e o b j e k t i v e Gewährleistung des P r i v a t e i g e n t u m s wird den Leistungsstaat veranlassen, E i g e n t u m v o n der ö f f e n t l i c h e n auf die p r i v a t e Hand zu überführen. Das i n d i v i d u e l l e A b w e h r r e c h t verhindert je-

112

Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, a. a. O. (FN 5), S. 18 f. 113 Zur Verschonungssubvention: Zacher, Verwaltung durch Subventionen, a. a. O. (FN 36), S. 317 f., insbesondere Anm. 36; zur Unterscheidung zwischen systemkonformen Freistellungen und Subventionen vgl. Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, StuW 1977 S. 97/107. 114 Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares" Einwirken, a. a. O. (FN 5), S. 380 ff.; Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 248. 115 Individualeigentum i. S. d. Art. 14 GG ist nicht nur staatlich vorgefundenes, sondern auch staatlich gebildetes Privatvermögen. Die staatliche Vermittler- und Verteilerrolle wird offenkundig, wenn Privateigentum im Öffentlichen Dienst verdient, aus staatlichen Vermögensrechtsverhältnissen empfangen, durch gesetzliche Umverteilung gebildet (vgl. Zacher, Zur Rechtsdogmatik, a. a. O. (FN 63), S. 3 ff.), mit staatlichen Anbietern getauscht (vgl. H. H. Klein, a. a. O. (FN 3); Püttner, a. a. O. (FN 3)), durch staatliche Planung und Erschließung nutzbar gemacht (vgl. Böckenförde, Eigentum, a. a. O. (FN 102), S. 222, 224 ff.), durch staatliche Aufsichts-, Prüfungs- und Beratungsrechte oder durch Zwangskooperationen angeleitet (vgl. Krüger, Öffentliche Elemente der Unternehmensverfassung, in: Planung V, (Hrsg. H. Coing, J. H. Kaiser), 1971, S. 15/21 ff.; Rittner, Öffentlichrechtliche Elemente der Unternehmensverfassung, das. S. 59/63 ff., 78 ff.); durch Leistungs- und Verschonungssubventionen angereichert (vgl. Zacher, Verwaltung durch Subventionen, a. a. O. (FN 36), S. 308/317 f.; insbesondere FN 36) oder im Wettbewerb mit Betrieben der öffentlichen Hand (Zur steuerlichen Belastungsgleichheit vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 6, § 4 KStG, § 2 Abs. 3 UStG) erworben wird.

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doch, daß die Einrichtungsgarantie116 dazu verwendet wird, mit einem Instrument zur staatlichen Finanzausstattung einen Privateigentümer gegen den anderen auszutauschen. Art. 14 GG mäßigt Eigentumseinbußen, mögen diese im Ergebnis der Vermögensbildung Dritter oder sonstigen legitimen Staatsaufgaben dienen.

IV. Steuerzugriff und Steuerbedarf Ein aus dem Eigentum abgeleitetes Individualrecht kann andererseits nicht die finanzstaatlichen Aufgaben und damit den Steuerbedarf in Grenzen weisen. Eigentum vermittelt keinen individuellen Einfluß auf staatliches Finanzgebaren. Der Steuerstaat schafft vielmehr bewußt Distanz zwischen Steuerzahler und steuerabhängigem Leistungspotential117, um seine Unbefangenheit gegenüber jedem Bürger unabhängig von dessen Steuerleistung zu wahren118. Ein Grundrecht

116 Zur (dort: nur) institutionelle Bindung der Steuergewalt vgl. Badura, Eigentum, a. a. O. (FN 61), S. 31 (mit FN 108); Scheuner, Die überbetriebliche Ertragsbeteiligung, a. a. O. (FN 61), S. 45 f.; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 309/313 f.; ders. Finanzordnung, a. a. O. (FN 10), S. 399/429; zur Wirkkraft einer institutionellen Garantie vgl. im übrigen BVerfG E 50 S. 290 (Mitbestimmung), unter Bezug auf E 7 S. 197/205 (Lüth) und E 24 S. 367/389 (Hamburgisches Deichordnungsgesetz); vgl. dazu Reiner Schmidt, Das Mitbestimmungsgesetz auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, Der Staat 1980 S. 235/244 f. 117 Das Preußische Dreiklassenwahlrecht vom 30. 5. 1849 beruhte noch auf dem Gedanken, daß „auch innerhalb des Kreises der 2. Kammer den einzelnen Volksschichten derjenige Einfluß (zu) gestatten (sei), welcher zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Staatsleben im richtigen Verhältnis stehe" (Immediatbericht des Staatsministers an den König, zitiert nach H. von Gerlach, Die Geschichte des Preußischen Wahlrechts, Berlin 1908, S. 11). Daneben war auch die Überlegung maßgebend, daß eine vermehrte Risikobeteiligung des Bürgers auch eine vermehrte Beteiligung bei der Bestimmung der jeweiligen Regierung im Gefolge haben müsse. Die Denkschrift des Preußischen Innenministeriums vom 12. 8. 1849 (Gerlach, a. a. O., S. 12 ff.) spricht von „gleichen Pflichten und gleichen Rechten". 111 Isensee, Steuerstaat als Staatsform, a. a. O. (FN 1), S. 423.

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gibt dem Steuerpflichtigen nicht die Befugnis, dem Staat119 bestimmte Finanzierungsvorhaben zu verwehren, die Art der Haushaltswirtschaft vorzuschreiben120 oder der Haus119 Anderes kann gelten, wenn die Geldleistungen nicht dem Staatshaushalt zugeführt werden; zur Gefahr, daß durch Sonderabgaben eine „apokryphe Finanzverfassung" entsteht, vgl. Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 183 f.; Kirchhof/Walter, Die verfassungsrechtliche Problematik des rückzahlbaren Konjunkturzuschlags, NJW 1970 S. 1575 f.; Meessen, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Sonderabgaben, BB 1971 S. 928 f.; Mußgnug, Die zweckgebundene öffentliche Abgabe, in: Festschrift f ü r Ernst Forsthoff, 1972, S. 259/278; Brodersen, Nicht fiskalische Abgaben und Finanzverfassung, Festschrift f ü r Gerhard Wacke, 1972, S. 103 f.; Friauf, Öffentliche Sonderlasten und Gleichmaß der Steuerbürger, Festschrift f ü r Hermann Jahrreiß, 1974, S. 45 f.; Richter, Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderausgaben, 1977. 120 Zur grundsätzlichen Zweckfreiheit vgl. das Prinzip der Nonaffektation, § 29 Abs. 1 RHO v. 31.12. 1922, RGBl. II 1923 S. 17; zur Geschichte der Vorschrift: Schulze/Wagner, Reichshaushaltsordnung, 3. Aufl. 1934, S. 433 ff.; § 7 HGrG vom 19. 8. 1969, BGBl. I S. 1273; § 8 BHO vom 19. 8. 1969, BGBl. I S. 1248; eine Zweckbindung würde die parlamentarische Zurückhaltung bei der Steuerbewilligung gefährden; Heinig, Das Budget, Bd. 1 1949, S. 461 f.; einzelne Aufgaben von vornherein bevorzugen, Piduch, Bundeshaushaltsrecht, Bd. I 1980/70, Art. 110 GG Randnr. 21; ders. Bundeshaushaltsrecht, Bd. II 1980/70, § 8 BHO S. 1 ff. und gruppengebundene Umverteilungskreisläufe bilden, Mußgnug, a. a. O. (FN 119), S. 259; von Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 3. Aufl. 1893, S. 514, setzt noch die Steuerzahlungspflicht mit der Pflicht gleich, zu jedem Posten des Staatsbudgets anteilig beizutragen; Neumann, Das öffentliche Interesse, Annalen des Deutschen Rechts f ü r Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft (Hirths-Annalen) 1886, S. 357/397 f., betonte aber bereits, daß die Steuerzahlung nicht individuell spürbar entgolten werde, der Steuertatbestand vielmehr eine Leistung entgegen dem aktuellen konkreten Eigeninteresse (interessenlose Hilfe) fordere; heute dient die Steuer lediglich der Globaldeckung von Ausgaben, vgl. Vogel/Walter, a. a. O. (FN 10) Art. 105, Randnr. 41; zum Vorbehalt einer Zweckbindung f ü r einzelne Steuern vgl. die in § 7 Haushaltsgrundsätzegesetz, § 8 Bundeshaushaltsordnung vorgesehenen gesetzlichen Ausnahmen sowie BVerfG E 7 S. 244/254 (Badisches Landesgesetz über die Aufbringung von Mitteln zur Reblausbekämpfung); E 9 S. 292/300 (Feuerwehrbeitrag Baden-Württemberg); BFH E 58 S. 556/559 (Verwendung des Spielbankaufkommens f ü r gemeinnützige Zwecke); im übrigen werden Besteuerungsgewalt und Ausgabenkompetenz auch verfahrensrechtlich, vgl. Art. 105 Abs. 1 und 3, Art. 110 Abs. 1—4 GG, und bundesstaatlich unterschiedlich aufgeteilt, Art. 104 a (Konnexität), Art. 106 (Ertragshoheit); vgl. Kirchhof, AöR 1973, S. 458, zu R. Hoffmann, Haushaltsvollzug und Parlament, 1972.

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h a l t s p l a n u n g Höchstsummen 1 2 1 oder Anteilsquoten 1 2 2 vorzugeben. D i e G e s a m t s u m m e der S t a a t s a u s g a b e n k ö n n t e nur festgeschrieben werden, w e n n zugleich die f i n a n z w i r k s a m e n S t a a t s a u f g a b e n abschließend begrenzt würden. D e r Versuch, das Steuererhebungsrecht i m Text der F i n a n z v e r f a s s u n g an d e n Maßstab einer r e l a t i v e n Bedarfsdringlichkeit zu binden, ist jedoch bisher gescheitert 1 2 3 . D i e Pflicht, bei D e f i n i t i o n des staatlichen Finanzbedarfs „eine Ü b e r b e l a s t u n g der Steuerp f l i c h t i g e n zu v e r m e i d e n " (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG), k e n n t das Grundgesetz nur als finanzverfassungsrechtliche Vorkehrung g e g e n einen A u s g a b e n w e t t l a u f zwischen B u n d und Ländern, nicht als Maßstab für die Bundessteuergesetzgebung. D i e K o n n e x i t ä t v o n S t a a t s a u s g a b e n und Staatsaufg a b e n ist ein Prinzip der Ertragsverteilung, nicht der Ertragsbemessung 1 2 4 . D i e „Wirtschaftlichkeit und S p a r s a m k e i t

121 Zu Kontingentierungen im Preußischen Recht vgl. Strutz, Kommentar zum Einkommensteuergesetz v. 10. 8. 1915, Bd. 1, Berlin 1927, S. 70. 122 Das Steueraufkommen wird insbesondere nicht auf einen bestimmten Anteil des Volksvermögens oder des Bruttosozialprodukts beschränkt, zu dieser Unterscheidung Forsthoff, Begriff und Wesen, a. a. O. (FN 89), S. 31 ff., später ders. VVDStRL 14 (1956) S. 84 f. a. E. 123 Vgl. Regierungsentwurf zum Finanzverfassungsgesetz 1955 in den Formulierungen des Bundestags- und Gesamtausschusses, BTDrucks. 11/960 S. 3; die Neufassung scheiterte an der Ablehnung des Bundesrates, 132. Sitzung vom 3. 12. 1954, Stenographisches Protokoll S. 336 f. Die Ertragsverteilungsregel des Art. 106 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2, 2. Alternative GG, dazu sogleich im Text, wird später wegen der angespannten Steuerbelastung so ausgelegt, daß jede Steuererhöhung zu einer Überbelastung führen würde, ein Ertragsverbundbeteiligter also niemals auf die Erschließung zusätzlicher Steuerquellen verwiesen werden dürfe, Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, a. a. O. (FN 10), Art. 106 GG Randnr. 48; Viaion, Haushaltsrecht, 1953, S. 167; Fischer-Menshausen, Das Finanzverfassungsgesetz, DÖV 1956 S. 161/168. 124 Vgl. Art. 104 a Abs. 1, 106 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2; zu den Ansätzen dieses Gedankens vgl. A. Hensel, Der Lastenausgleich, Vierteljahresschrift f ü r Steuer- und Finanzrecht, Bd. 3 (1929) S. 1/5, 35 ff.; Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932, S. 112 ff., 327; für einen individualrechtlichen Zusammenhang insbes. von Justi, Ausführliche Abhandlung von den Steuern und Abgaben, 1762, S. 23 ff.

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der Haushaltsführung" sind Maßstäbe der Rechnungsprüfung (Art. 114 Abs. 2 GG)125, nicht der Steuerbelastung. Eine Subsidiarität der Steuer gegenüber dem Leistungsentgelt mag Thema des Kommunalrechts sein126, darf aber nicht staatsrechtlich verallgemeinert werden, weil es den Empfang staatlicher Leistungen von der Fähigkeit und Bereitschaft zum Entgelt abhängig macht. Organisatorische Vorkehrungen wie die Gewaltenverschränkung bei Haushaltsplanung, Haushaltsvollzug und Haushaltskontrolle (Art. 110—115) mäßigen die Ausgabebereitschaft des Staates und stützen damit die Eigentumsrechte des Steuerzahlers, gehören aber nicht selbst zum Inhalt der Eigentumsgarantie. Im übrigen kann das Eigentum staatliches Ausgabegebaren jedenfalls insoweit nicht in zahlenmäßig faßbare Grenzen weisen, als die Staatsausgaben von der Währungs- und Kreditpolitik abhängig sind. Währungspolitik und Staatskredit sind Angelegenheiten derzeitiger und zukünftiger Bürger, nicht nur des gegenwärtigen Steuerzahlers. Staatliche Einnahmen und Ausgaben werden deshalb durch das Verfahren periodischer Haushaltsplanung, nicht durch eine gleichbleibende Aufgabenbegrenzung aufeinander abgestimmt. Die grundrechtskonform bereitgestellten Steuererträge sind der Haushaltsplanung vorgegeben127, definieren die finanzstaatlichen Handlungsvollmachten aber nicht abschließend. Selbst das Gesamtvolumen des Steueraufkommens ist im Rahmen eines verfassungsrechtlichen Vertretbarkeitsspielraums entwicklungsoffen und kann ins-

125 Vgl. dazu Vogel/Kirchhof, Bonner Kommentar, Art. 114 (Zweitbearbeitung) 1950/73, Randnr. 87 f., 101 f. 126 Vgl. z. B. § 3 Abs. 3 KAG Nordrhein-Westfalen; § 63 Abs. 2 Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen; kritisch dazu Isensee, Steuerstaat als Staatsform, a. a. O. (FN 1), S. 428 mit FN 61. 127 Insgesamt grenzt die Verfassung für den Finanzstaat nicht finanzwirtschaftliche Teilhabereservate ab, sondern erschließt ihm bedarfsabhängige Teilnahmevollmachten. Die These Papiers, beim Steuereingriff setzten „die rechtsstaatlichen Eingriffsschranken naturbedingt (erst) bei der Lasten Verteilung, nicht aber (schon) bei der Lastenverursachung an", Besteuerung und Eigentum, a. a.O. (FN 61), S. 787, bestreitet die eigenständige Begrenzung des staatlich verfügbaren Ertrags- und Leistungsvolumens durch Art. 14 GG. Steuerrecht würde zum Folgerecht finanzstaatlichen Leistungsrechts.

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besondere in Notzeiten erheblich ausgedehnt werden128. Der Eigentumsinhalt ist nur in einem Kernbestand verfassungsfest, wird im übrigen aber durch den Gesetzgeber bestimmt. Privateigentum bestimmt die Entwicklung des Finanzstaates, ist andererseits selbst den Auswirkungen finanzstaatlicher Entwicklungen unterworfen. D. Die gesetzliche Ausgestaltung der besteuerbaren Eigentümerrechte Mit dem Rechtsmaßstab der Eigentümerfreiheit und den verfassungsrechtlichen Vorgaben für einzelne Steuerschuldverhältnisse gewinnt die Rechtsbeziehung zwischen Steuergläubiger und Steuerschuldner jedoch noch nicht die Konturenschärfe eines hoheitlichen Eingriffs in ein vorgefundenes Eigentumsobjekt. Vielmehr wird die Analyse des steuerverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnisses dadurch erschwert, daß I. Das Steuerrecht zusammen mit außersteuerrechtlichen Rechtsregeln erstmals die konkrete Eigentümerposition definiert, also im Zugriffsobjekt zugleich die Grundlage für eine grundrechtliche Gegenwehr bestimmt. II. Der Eigentümer seine Handlungsfreiheit nutzen kann, um den Steuerlasten auszuweichen. III. Eine typisierende Gesetzgebung nicht das individuelle Eigentum, sondern die sozialtypisch erwartete Eigentumslage belastet. I. Die Eigenständigkeit steuerlicher Tatbestandsbildung 1. Die steuerliche

Beobachtungsperspektive

Das Steuerrecht definiert die Belastbarkeit des Eigentümers und bildet unter diesem Blickwinkel eigene Begriffe

128 Zur Steuererhebung in Notzeiten vgl. Popitz, Der künftige Finanzausgleich, a. a. O. (FN 124), S. 112 f. (Grundsatz der Hinlänglichkeit der Besteuerungsmöglichkeiten); Höffner, Eigentumsbegriff und heutige Besteuerungsgrundsätze vom Standpunkt der Moral, StuW 1952 Sp. 375/380 f.; Rüfner, a. a. O. (FN 61), S. 881; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 331; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 39; BFH E 77 S. 267/269 f. (Vermögensabgabe).

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von Eigentum129. Es entscheidet, ob und wie oft es das Sammeln, Horten und Verwenden von Vermögen besteuern will. Das produzierende Vermögen erlaubt einen kontinuierlichen Zugriff auf den Ertrag; das Konsumvermögen gestattet al-

129

Das Steuerrecht bestimmt den Inhalt des beim Gebrauch sozialpflichtigen Eigentums; zur Unterscheidung von „Inhalt und Schranken": Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, a. a. O. (FN 2), S. 7; Jellinek, Eigentumsbegrenzung und Enteignung, Verhandlungen des 36. Deutschen Juristentages 1. Bd. 1932, S. 292/296 (positive Aufzählung der aus dem Eigentum fließenden Befugnis oder negative Begrenzung einer grundsätzlich allumfassenden Sachherrschaft); A. Hensel, Enteignung mit und ohne Entschädigung, daselbst Bd. 2, S. 413/416 (Beschränkung des Eigentums ist Eigentumsbestimmung, nicht Eigentumsentziehung; ist Regel, nicht Ausnahme); Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat, 1957, S. 45 (Beschreibung desselben Sachverhalts aus der Warte des begrenzten Inhalts oder von der Warte der Grenze des Inhalts); Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht 1961, S. 98/144, mit FN 140 (mit jeder Inhaltsbestimmung werden notwendig Schranken gezogen und umgekehrt kann gerade die Schrankenziehung — wie die mittelbar grundrechtsprägenden Normen lehren — zur Substantiierung beitragen), speziell zum Steuerrecht, S. 179 FN 72; Haberle, Wesensgehaltsgarantie, a. a. O. (FN 5), S. 192 f.,220 (im Anschluß an die von Gierke formulierte germanische Auffassung, nach der jedes Recht „in sich selbst" die Schranke trägt); vgl. auch W. Weber, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, a. a. O. (FN 1), S. 331/351, und f ü r das Steuerrecht Friauf, Steuergesetzgebung, a. a. O. (FN 6), S. 318 mit FN 79; Leisner, Verfassungsrechtliche Grenzen, a. a. O. (FN 61), S. 78 f. Das Erfordernis einer deutlichen Unterscheidung zwischen Inhaltsbestimmung und Grenzziehung betont insbes. Krüger, Die Bestimmung des Eigentumsinhalts (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), in: Festschrift f ü r Friedrich Schack, 1966, S. 71 f.; Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10 (1952) S. 84 f., 94; Leisner, Sozialbindung, a. a. O. (FN 98), S. 189 ff.; Stein, Staatsrecht, 5. Aufl. 1976, S. 176 (Regeln im privaten Interesse oder in Erschwerung der Verwertung im öffentlichen Interesse); Schwerdtfeger, Unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Grundgesetz, 1972, S. 225 ff. (Ausgestaltung der Rechtsposition und Einschränkung typusbestimmender Merkmale); Limpens, Funktion und Grenzen der Inhaltsbestimmung des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, Diss. Köln 1973, S. 66 ff., 119 ff. (Gestaltung des Leitbildes und Regelung der Interessenkollision unter Privaten); Ramsauer, a. a. O. (FN 61), S. 73 ff. (Regelungen in Grenzen der Institutsgarantie und in Grenzen der Individualrechtsgarantie) und f ü r das Steuerrecht: Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 310 f.; die Inhalts- wird zur Schrankenbestimmung bei Steuerinterventionen.

256

Paul Kirchhof

lenfalls eine einmalige Belastung des Nachfragers im Tatbestand seiner Kaufkraft. Betriebsvermögen bringt Gewinn und Verlust zum Ausdruck 130 ; Privatvermögen ist versteuertes Einkommen. In dem durch Arbeit und Kapitaleinsatz erworbenen Forderungsvermögen erfaßt die Steuer ein Leistungsäquivalent 131 ; beim geschenkten oder ererbten Vermögen hingegen eine Bereicherung ohne vorherigen Aufwand. Angelegtes Eigentum wird in seiner Ertrags- und Tauschfähigkeit, nicht in seiner Substanz belastet 132 . Das Steuerrecht bildet eigenständig Rechtspositionen, die dem Staat begrenzten Zugriff, dem Eigentümer objektbezogene Gegenwehr erlauben.

2. Die steuerliche

Rezeption

von

Rechtsbegriffen

Das Steuerrecht stützt sich allerdings bei seiner eigenständigen Bestimmung des Eigentumsinhalts auf außersteuerrechtliche Vorgaben. Dabei nimmt das Steuerrecht insbesondere die privatrechtlichen Regeln über die Zuordnung eines Eigentums zu einem Eigentümer auf. Der Steuergesetzgeber darf jedoch nicht erwarten, das Privatrecht werde das Eigentum je nach steuerlicher Belastbarkeit formen. Die rechtli130 Aufwandtatbestände des EStG dienen weniger dem Erhalt der Eigentümerfreiheit und mehr dem Erhalt der Steuerertragsquelle, wenn die Einkommensteuer Betriebsausgaben als Regelabzugstatbestände berücksichtigt, Aufwendungen für die private Lebensführung jedoch prinzipiell nicht zum Abzug zuläßt, vgl. Kirchhof, Gesetzlich nicht abzugsfähige Betriebsausgaben und Werbungskosten — Begriff, Rechtfertigung, Grenzen — in: Söhn (Hrsg.), Die Abgrenzung der Betriebs- oder Berufssphäre von der Privatsphäre im Einkommensteuerrecht, 1980, S. 201 f. 131 Vgl. FN 104. 132 Das Vermögen wird entweder a) als „fundiertes Einkommen" besteuert, — so schon die Rechtfertigung des preußischen Ergänzungssteuergesetzes (eines Vermögensteuergesetzes) in der amtlichen Begründung nach Fuisting, Die preußischen direkten Steuern, Bd. 2, Kommentar zum Ergänzungssteuergesetz, 2. Aufl. 1905, § 1 Anm. 1; zum geltenden Vermögensteuergesetz Tiepelmann, Die Problematik der Vermögensteuer 1963, S. 32 ff.; Vogel, Verkehrswert, Ertragswert und andere Werte, DStZ (A) 1979 S. 28, 33 — oder b) als Kostenveranlasser durch Grund- und Gewerbesteuern belastet; zum Äquivalenzabgabencharakter dieser Steuern vgl. das Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Schriftenreihe des BdF Heft 17,1971 S. 714 und 731; das BewG bedarf entsprechender Interpretation, Vogel, a. a.' O.

Besteuerung und Eigentum

257

chen Aussagen für den Rechtsverkehr unter Privaten bestimmen nicht den für die Besteuerung maßgebenden Eigentumsinhalt. Besteuertes Eigentum ist insbesondere nicht mit dem dinglichen Sachenrecht identisch. Steuerrecht beobachtet den Markterfolg des Eigentümers; Privatrecht sichert Sachherrschaft. Steuerrecht fragt nach Ertragsberechtigtem und Verbraucher; Privatrecht nach Verfügungsbefugnis und Besitz. Soweit der Gesetzgeber außersteuerrechtliche Vorgaben übernimmt, bleibt er in der Verantwortlichkeit, den Belastungsgrund für eine Steuer kontinuierlich je nach Entwicklung des rezipierten Rechts zu überprüfen. Ein Gegensatz zwischen gesetzlich gemeintem Steuergegenstand und seiner verweisungstechnischen Beschreibung ist jüngst insbesondere bei der Besteuerung der Alterseinkünfte bewußt geworden133. Wenn § 22 EStG Einnahmen aus Rentenrechten teilweise als Rückzahlung von versteuertem Einkommen behandelt, obwohl die Renten allenfalls aus unversteuertem Einkommen finanziert werden, so ist das EStG durch Beibehaltung des Gesetzestextes geändert worden134. Die Unterstellung, die Rente würde zurückgeben und nicht Einkünfte begründen, hat bisher zur Folge, daß beim verheirateten Rentner Jahreseinnahmen in Höhe von 104.186 DM steuerfrei bleiben können135, während ein gleiches Jahreseinkommen bei den übrigen Einkunftsarten mit mindestens 24.786 DM zu versteuern ist136. Der einheitliche Auftrag des Art. 14 Abs. 1 Vgl. BVerfG BB 1980 S. 1083. Kirchhof, Die steuerliche Behandlung der verschiedenen Leistungen zur Altersversorgung, in: Über- und Unterversorgung bei der Altersversorgung, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. X , 1979, S. 127. 135 Von dem die Einkünfte nach § 22 EStG darstellenden Ertragsanteil der Rente in Höhe von 21 879 DM (21 % von 104 186 DM) sind (jeweils für den 65jährigen, zusammenveranlagten Steuerpflichtigen) abzuziehen: der Werbungskostenpauschbetrag (§ 9 a Nr. 3 EStG) in Höhe von 200 DM, der Sonderausgabenpauschbetrag (§ 10 c Abs. 1 EStG) in Höhe von 480 DM, der Höchstbetrag für Versorgungsaufwendungen in Höhe von 11 300 DM (§ 10 Abs. 3 EStG), der Altersfreibetrag (§ 32 Abs. 2 EStG) in Höhe von 1440 DM und bisher auch der Tariffreibetrag (§ 32 Abs. 8 EStG) in Höhe von 1020 DM. Es verbleibt ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von DM 7439, das dem (derzeitigen) Tabellengrundfreibetrag entspricht. 136 Der Wert gilt für den Pensionär; der Arbeitnehmer hätte DM 27 964, der Freiberufler DM 25 736, der Steuerpflichtige mit Kapitaleinkünften DM 25 904, der Gewerbetreibende DM 26 296 bei Ausnutzung aller Freibeträge zu bezahlen. 133

134

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Satz 2 GG zur Bestimmung des Eigentumsinhalts fordert eine Koordination zwischen Einkommensteuer- und Rentenrecht, die eine Verfremdung ursprünglich sachgerechter Steuerrechtsaussagen vermeidet. 3. Der Zähl- und Meßwert der Währung. Das Steuerrecht gerät in eine grundsätzliche Abhängigkeit von wirtschaftsrechtlichen Vorgaben, wenn steuerrechtliche Tatbestände und Rechtsfolgen sich auf die Währung als Zählund Meßwert stützen. Der Nominalwert einer DM gilt im Steuerrecht prinzipiell auf Dauer; in den übrigen Teilrechtsordnungen aber hängt der Wert einer DM von den vereinbarten Preisen, Löhnen, Sozialleistungen, Gebühren und Beiträgen ab, ist also nur befristet verbindlich137. Gegenüber einem Eigentum, das zu Realwerten gehandelt, aber zu Nominalwerten belastet wird138, erwartet die Bestandsgarantie des Art. 14 GG grundsätzlich eine staatliche Wertstabilisierung. Das Eigentum verpflichtet deshalb zunächst das Währungsrecht139, weniger das Steuerrecht. Bleibt jedoch die Geldentwertung wirtschaftliche Realität, so trägt sie steuerrechtsfremde Differenzierungen in das Steuerrecht hinein. Die Gleichstellung von Geld- und Sachvermögen wird fragwürdig 140 ; die Unterscheidung zwischen Einkunftsquelle und Einkünften verfehlt die ökonomische Realität 141 ; der buchtechnische Ausweis von Scheingewinnen und Scheinverlusten karikiert den Steuergegenstand und 137 Dazu Friauf, Zur rechtlichen Problematik der Besteuerung von Zinsen bei laufender Geldentwertung, in: Kaufkraftschwund und Besteuerung, (Hrsg. Arbeitsgemeinschaft „Klimatagung"), 1977, S. 123; K. Vogel, Anm. zu BVerfG, a. a. O. (FN 42); Kröger, Die ungerechte Besteuerung der Kapitalzinsen nach ihrem Nennwert in der Inflation, JZ 1979 S. 631; sowie Zacher, Geldwert und Recht, Verhandlungen des 50. DJT 1974, Bd. II, S. 36, 38. 131 D. i. der Gegensatz von Nominalismus und Wertbestandsgarantie, Ζ acher, a. a. O. (FN 137). 135 Insoweit verdient der Grundgedanke des BVerfG E 50 S. 57, Zustimmung. 140 Hier setzt die Kritik an BVerfG E 50 S. 57 an. 141 Eine realitätsnahe Rechtsanwendung wäre oft schon durch Auslegung zu erreichen; so läßt der Tatbestand der „Zinsen" (§ 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG) die Auslegung Nominal- oder Realzinsen zu; Friauf, a. a. O. (FN 137); a. Α. BVerfG E 50 S. 57/77 unter Berufung auf die Rspr. des BFH.

Besteuerung und Eigentum

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Steuerschuldner142; Abschreibungsvolumina drücken nicht mehr den tatsächlichen Wertverzehr aus143; Verzugs- und Erstattungstatbestände bereichern den Pflichtigen; Freibeträge und Freigrenzen werden vermindert; progressive Tarife heimlich erhöht. Die Inflation ändert die Aussage eines gleichbleibenden Gesetzestextes. Der Auftrag zur gesetzlichen Bestimmung des Inhalts (besteuerbaren) Eigentums rechtfertigt grundsätzlich die Geldwertakzessorietät steuerlicher Tatbestandsbildung, nicht aber die außerparlamentarische Gesetzesänderung144. Wenn eine Inflation Steuerrecht ändert, muß der Steuergesetzgeber entweder die Änderungen unterbinden oder aber in planmäßiger, verfassungsbewußter Entscheidung Steuerschuldner und Steuergegenstände interventionsrechtlich als Stabilisatoren gegen inflationäre Entwicklungen in Pflicht nehmen.

II. Die steuerplanende Sachverhaltsgestaltung Auch die eigenständig gebildeten Steuertatbestände erreichen jedoch das Eigentum jeweils in der Lage, in die es der Eigentümer willentlich gebracht hat. Ein Steuerpflichtiger kann die Freiheit über sein Eigentum mit dem Willen gegen die Steuer ausüben145. Er sucht in Kenntnis des geltenden

142 Vgl. Wagner, Einkommensbesteuerung und Inflation — ein betriebswirtschaftlicher Beitrag zum steuerlichen Einkommensbegriff, StuW 1976 S. 238; zum schweizerischen Steuerrecht: Höhn, Verfassungsmäßige Schranken, a. a. O. (FN 57), S. 243. 143 Eine Orientierungshilfe gäbe hier die „Preissteigerungsrücklage", § 74 EStDV, § 51 Abs. 1 Nr. 2 b EStG; vgl. Gesetz zur Neuordnung von Steuern v. 16. 12. 1954 (BGBl. 1954 I S. 373; BStBl. I S. 575), erstmals zugelassen durch RFH RStBl. 1930 S. 313, damals unter Hinweis auf einen „das Einkommensteuergesetz beherrschenden Grundsatz der Nichtbesteuerung unrealisierter Gewinne". 144 Dazu jetzt insbesondere Papier, Besteuerung und Eigentum, DVB1. 1980 S. 787 ff. 145 Zur Frage der sog. „Maßgeblichkeit" des Zivilrechts für das Steuerrecht vgl. BVerfG E 13 S. 331/340 (Gewerbesteuer); E 29 S. 104/117 (Pensionsrückstellungen); BFH BStBl. III 1967 S. 781/782 (Genußschein). Zivilrecht und Steuerrecht stehen nicht in einem gestuften Rangverhältnis zueinander, sondern sind in der Anwendung zeitlich koordiniert; deshalb sollte man nicht von einem Vorrang, sondern allenfalls von einer Vorherigkeit des Zivilrechts sprechen.

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Steuerrechts den Grenzfall größtmöglicher Steuerersparnis und trifft dabei auf die Schranke steuerplanender Gestaltungsfreiheit146, die § 42 AO mit der Formel eines „Mißbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts" andeutet147. Der Unternehmer wählt den Sitz seines Unternehmens nach dem Belastungsgefälle in verschiedenen Steuerhoheitsgebieten148. Er teilt durch Betriebsaufspaltung einen Betrieb in eine Besitzpersonengesellschaft und eine Betriebskapitalgesellschaft, damit ein Teil des Unternehmens dem anderen Kosten in Rechnung stellen kann, ohne daß das Gesamtunternehmen Kosten zu zahlen hat149. Die Körperschaft schüt-

146

Zum grundsätzlichen Recht auf Steuerplanung vgl. BFH BStBl. 1958 III S. 97 (GmbH-Mantelkauf f ü r Verlustvortrag); s. auch BFH BStBl. 1960 III S. 111 (Rückstellung f ü r Handelsvertreterausgleichsanspruch); Begründung zu § 45 EAO 1974, BT-Drucks. 8/1982 S. 114. n7 Wenn § 42 AO der Finanzbehörde erlaubt, ihren Argwohn f ü r rechtsverbindlich zu erklären, so liegt darin eine verdeckte Delegation von Rechtssetzungsbefugnis; zu Parallelen im Verwaltungsrecht: F. Ossenbühl, Die Quellen des Verwaltungsrechts, in: Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1978, S. 568 f.; Erichsen, VerwArch. 67 (1976) S. 93/97 f.; grundsätzlich zur Aussagek r a f t jeder Mißbrauchsformel: Pestalozza, Formenmißbrauch des Staates, 1973, insbesondere S. 61 f.; zum „Eigentumsmißbrauch" als Verfassungstatbestand vgl. im übrigen oben FN 95. 148

So ζ. B. bei der Standortwahl gegenüber kommunalrechtlich unterschiedlichen Gewerbesteuerhebesätzen (§ 16 GewStG); vor allem aber im Verhältnis zu niedrig besteuerndem Ausland (Steueroasen). Vgl. dazu den Bericht der Bundesregierung vom 12. 4. 1962 über Wettbewerbsverfälschungen, die sich aus Sitzverlagerungen in das Ausland und dem zwischenstaatlichen Steuergefälle ergeben (Oasenbericht) BT-Drucks. IV/2412. Darauf folgend koordinierter Ländererlaß betr. Verlagerung von Einkünften und Vermögen in sog. Steueroasenländern — Oasenerlaß — a. a. O. (FN 23); da die Anwendung des Oasenerlasses offenbar nicht zu befriedigenden Ergebnissen führte, wurde das Außensteuergesetz vom 8. 9. 1972 erlassen; vgl. dazu Jagdfeld, Steuerflucht und Steuerfluchtbekämpfung von Brüning bis Brandt, StuW 1972 S. 258; Salditt, Steuerlast und Wanderlust, StuW 1972 S. 12. 149 Zur Betriebsspaltung vgl. BVerfG E 25 S. 28/36 f. (Betriebsaufspaltung); K. Vogel, Argumente im Steuerrechtsstreit, JbFfSt 1978/79 S. 34/41 f. mit Kritik der Rechtsprechung; Brandmüller, Die Betriebsaufspaltung nach Handels- und Steuerrecht, 4. Aufl. 1980. Die Grundsatzproblematik beginnt bereits mit der handelsrechtlichen Zulassung der GmbH & Co KG durch Beschluß des Reichsge-

Besteuerung und Eigentum

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tet Gewinne aus, holt sie aber sofort wieder zurück, um Kapital zum Einkommensteuersatz der Anteilseigner und nicht zum Körperschaftsteuersatz der Gesellschaft zu bilden150. Der Bauherr kauft nach dem sog. „Bauherrenmodell" vom Baubetreuer lediglich ein unbebautes Grundstück, bevollmächtigt ihn aber zugleich, alle zur Bauausführung erforderlichen Verträge im Namen des Bauherrn abzuschließen, um sofort abziehbare Betreuungs- und Beratungskosten vom Gesamtkaufpreis abzusondern und zugleich die zur Grunderwerbsteuerersparnis vorausgesetzten Höchstbeträge zu unterschreiten151. Der Eigentümer bringt Privatvermögen in eine Abschreibungsgesellschaft ein, um durch Betriebsverluste seine positiven Einkünfte zu mindern152. Der Vater entdeckt das Rechtsinstitut des Nießbrauchs neu, um Gewinne innerhalb seiner Familie progressionsmindernd aufzuteilen, ohne sein Eigentum an den Einkunftsquellen übertragen zu müssen153. Derartige Sachverhaltsgestaltungen sind steuerrechtserheblich, soweit sie lediglich den gesetzlich anerkann-

richts vom 4. 7. 1922, RGZ 105 S. 101; zur steuerlichen Anerkennung BFH BStBl. 1966 III S. 171; BStBl. 1972 II S. 799; anders § 5 Abs. 2 Nr. 3 Kapitalverkehrssteuergesetz. Zur rechtsformunabhängigen Besteuerung vgl. die diesjährigen Verhandlungen des Deutschen Juristentages. iso Vgl. Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze, BT-Drucks. 8/3648 S. 26 (Begründung zu § 8 Abs. 3 KStG). 151 Vgl. BMWF-Schreibenvom31. 8.1972, BStBl. 19721 S. 486; OFD Hannover vom 2. 10. 1978, DB 1978 S. 2047, sowie § 7 b Abs. 5 EStG 1979. 152 Vgl. BMF-Schreiben vom 10. 4. 1975, BStBl. 1975 I S. 515 (zur Anpassung der ESt-Vorauszahlungen aufgrund von Verlustbescheinigungen); BMF-Schreiben vom 30. 3.1976, BStBl. 19761S. 283 (steuerliche Behandlungen von Provisionen, Aufgeldern und Konzeptionskosten) und der (umstrittene) Darlehnserlaß, Schreiben des BdF vom 8. 5. 1978, BStBl. 1978 I S. 203. Zum ganzen: Rädler/Raupach, Handbuch der steuerbegünstigten Kapitalanlagen, 1973, S. 43-349. 153 Ruppe, Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einkunftsquellen als Problem der Zurechnung von Einkünften, in Tipke (Hrsg.), Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, 1978, S. 7; L. Schmidt, Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung von Einkunftsquellen von Eltern auf Kinder, in Tipke (Hrsg.), a. a. O., S. 41. Zum unentgeltlich bestellten Nießbrauch BFH BStBl. 1977 II S. 115.

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ten Gestaltungsspielraum der Eigentümerfreiheit nutzen. Die Regeln für ein rechtsverbindliches Veräußern, Tauschen, V e r w a l t e n , Nutzen und Verbrauchen von E i g e n t u m findet der E i g e n t ü m e r im P r i v a t r e c h t und im Recht des mitwirkungsbedürftigen Verwaltens 1 5 4 . Die dort genannten Rechtsvollmachten zur willentlichen Änderung von Sachverhalten 1 5 5 beschränken die Eigentümerfreiheit auch m i t Wirkung für das Steuerrecht. Der Steuergesetzgeber benennt die besteuerbaren Sachverhalte. Das P r i v a t r e c h t begrenzt die Eigentümerfreiheit und damit die Ausweichmöglichkeit des Steuerpflichtigen 1 5 6 . Auch das P r i v a t r e c h t ist insoweit eine das S t e u e r r e c h t ergänzende 1 5 7 Regelung im Vorbehaltsbereich des A r t . 14 GG. 154 Der Zeitpunkt eines Bauantrages ist ζ. B. erheblich für Steuervergünstigungen, § 1 Abs. 3 der dritten KonjunkturVO und dazu Herrmann/Heuer, Komm, zum EStG und KStG, 18. Aufl. 1977, § 7 b Anm. 51; oder für interventionistische Sonderlasten wie die Eigenverbrauchsteuer des § 30 UStG 1967, dazu 9. UStDVvom20.12.1973, Schreiben des BdF vom 5. 5. 1974, B S t B l . 1974 I S. 2160 f. zu Randnr. 6, 8 und 9. 155 Zur privatrechtlichen Grenze bewußter Vermeidung von Steuertatbeständen vgl. Kruse, Die steuerrechtliche Behandlung unwirksamer Verträge zwischen familien- und gesellschaftsrechtlich verbundenen Personen, J b F f S t 1977/78 S. 82/83 f.; Meincke, Zivilrechtliche Vorfragen bei der einkommensteuerrechtlichen Übertragung von Einkunftsquellen aus der Sicht des Zivilrechtlers, in: Tipke (Hrsg.), Übertragung von Einkunftsquellen im Steuerrecht, 1978, S. 69. 156 Gelegentlich begrenzt auch das Steuerrecht selbst die Gestaltungsfreiheit des Eigentümers in steuergesetzlichen Wahlrechten, vgl. das vom B F H , B S t B l . 1964 II S. 124, anerkannte Wahlrecht zwischen Betriebsfortsetzung und Betriebsaufgabe bei der Betriebsverpachtung; § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 E S t G (Teilwertabschreibungen); Abschn. 35 E S t R (Rücklage für Ersatzbeschaffung), § 74 Abs. 3 EStDV (Preissteigerungsrücklage); Abschn. 75 E S t R (Rücklage für Ersatzbeschaffung); die Wahl der Gewinnermittlungsmethode (§ 4 Abs. 3 oder Abs. 1 EStG), des Wirtschaftsjahres (§ 4 a EStG) oder des Tarifs (§ 34 EStG, § 19 UStG), sowie die zur Wahl gestellte Geltendmachung außergewöhnlicher Belastungen (§ 33 Abs. 1 EStG), des Realsplitting (§ 10 Abs. 1 Nr. 1, § 22 Nr. 1 a EStG), der getrennten oder der Zusammenveranlagung (§ 26 Abs. 1 EStG). 157 Der häufig mißverstandene Begriff der „Einheit der Rechtsordnung" fordert nur eine Unterbindung von Wertungswidersprüchen zwischen verschiedenen Teilrechtsbereichen, führt aber nicht zu einer Gleichheit in der Beurteilung eines Sachverhalts, Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 89, 173 ff.; ders., Normstruktur und Normativität, 1966, S. 104 f.; Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978, S. 10 f., 25 f.

Besteuerung und Eigentum

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Mit der Bindung des Steuerpflichtigen an die privatrechtlichen Handlungsvollmachten hat der Gesetzgeber seinen Auftrag zur steuerwirksamen Definition der Eigentümerfreiheit zwar schlüssig erfüllt; jedoch noch nicht die Gefahr gebannt, daß ein Steuerpflichtiger privatrechtliche Erklärungszeichen verwendet, um steuergünstige Sachverhaltsgestaltungen zu simulieren, ohne seine tatsächliche Eigentumslage zu verändern. Die Rechtsprechung versucht in diesen Fällen, den steuererheblichen Sachverhalt ohne Rücksicht auf die vertraglichen Erklärungen aufzufinden. Sie versteuert nicht die im Vertragstext behauptete Eigentumslage, sondern legt der Besteuerung das zivilgesetzlich vorgeschlagene, aber abdingbare vertragliche Normalstatut 158 oder die unter Fremden übliche Vereinbarung159 zugrunde160. Diese Sachverhaltsaufklärung nach Gewohnheit und Übung wendet den Blick wieder zum materiellen Grund für Steuerlasten. Steuererheblich ist nicht das individuell 161 gewählte Erklärungszeichen, sondern allein die tatsächlich bewirkte Veränderung individueller Eigentumslagen. Die in §

159 BFH BStBl. 1977 II S. 836 (Zugehörigkeit eines Gewerbebetriebs zum ehelichen Gesamtgut); BFH BStBl. 1976 II S. 332 (Schenkung einer Beteiligung an einer Personengesellschaft). 159 BFH BStBl. 1977 II S. 444 (verdeckte Gewinnausschüttung bei Pensionszusage an geschiedene Ehefrau); BFH BStBl. 1975 II S. 569 (Gesellschaftsvertrag unter Familienangehörigen); BFH BStBl. 1975 II S. 692 (Änderung einer Gewinnverteilungsabrede). 160 In der Regel handelt es sich um Sachverhalte, bei der nicht eine Einigung vertraglich hergestellt werden soll, sondern schon vorgefunden wird, insbesondere bei Gesellschaftsverträgen unter Familienangehörigen (BFH BStBl. 1975 II S. 569; BFH BStBl. 1976 II S. 332), bei der Änderung einer Gewinnverteilungsabrede einer Familienpersonengesellschaft (BFH BStBl. 1975 II S. 692), bei der Angemessenheitsprüfung der Gewinnverteilung einer Familienmituntemehmerschaft (BFH in ständ. Rspr., vgl. BFH GrS BStBl. 1973 II S. 5) und bei der verdeckten Gewinnausschüttung an den Hauptgesellschafter, Abschn. 31 Abs. 2 KStR 1977. 161 Anderes mag wegen rechtsstaatlicher Abstimmungspflichten f ü r Behördenentscheidungen gelten; zu deren (beschränkter) Bindungswirkung f ü r die Finanzbehörden: Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl. 1965/76, § 88 AO TZ 11 b; Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Komm, zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl. 1976/77, § 88 AO Anm. 22 ff.; Paulick, Bindungsprobleme im Steuerrecht, StbJb 1964/65 S. 351; Herrmann/Heuer, a . a . O . (FN 154), § 1 Anm. 29 a und § 3 Anm. 262.

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Paul Kirchhof

42 AO als Problem des Rechtsmißbrauchs dargestellte Ermittlungsschwierigkeit beruht nicht auf zu großzügigen Gestaltungsvollmachten für den Eigentümer, sondern ist durch eine Steuerrechtspraxis veranlaßt, die den Beweiswert privatrechtlicher Erklärungszeichen für die steuerrechtliche SachVerhaltserkundung überschätzt. III. Die Typisierung 1. Die Besteuerung nach sozialtypischen

Erwartungen

Während Erklärungen des Eigentümers somit den unmittelbaren steuerlichen Zugriff auf die tatsächliche Eigentumslage nicht verhindern dürfen, kann eine typisierende Gesetzgebung eine Distanz zwischen Steuerrecht und Eigentumsrealität 162 schaffen163. Das Eigentümerrecht auf eigenwillige und a-normale Vermögensdispositionen ist durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums überlagert, die an das Objekt Eigentum sozialtypische Erwartungen knüpft und deshalb Lasten für die übliche Eigentumslage begründet. Die Vermögensteuer und die Realsteuern unterstellen Eigentumserträge, weil Eigentum in der Regel ertragsfähig ist164. Die Verbrauchs- und Verkehrssteuern belasten eine Nachfrage als markttypischen Vorgang, ohne die persönliche Leistungsfähigkeit des individuellen Nachfragers zur Kenntnis zu nehmen. Selbst Personensteuern ersetzen gelegentlich das Individuelle durch den Typus, anerkennen ζ. B. bestimmte Be-

162 Typisierungsgegenstand ist grundsätzlich die Handlungsweise des Eigentümers, Leisner, Sozialbindung, a. a. O. (FN 98), S. 138. 163 Von der typisierenden Unterstellung von Verhaltenserwartungen ist die Frage zu unterscheiden, ob eine Steuer grundsätzlich nach ihren typischen Folgen, Benda/Kreuzer, a. a. O. (FN 51), S. 53; Vogel/Walter, a. a. O. (FN 10), Art. 105 Randnr. 144; Papier, Die Beeinträchtigungen, a. a.O. (FN 61), S. 503; Rüfner, a. a. O. (FN 61), S. 883; Selmer, Steuerinterventionismus, a. a. O. (FN 14), S. 247; zu beurteilen ist, oder ob die konkreten Auswirkungen im Einzelfall den Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung bilden: Faehling, a. a. O. (FN 71); Friauf, Sondersteuern als verfassungsgerechtes Mittel zur Eindämmung des Straßen-Güterverkehrs, B B 1967 S. 1345/1347; Schenke, a. a. O. (FN 61), S. 202 f. 164 Vgl. dazu unten zu FN 202.

Besteuerung und Eigentum

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triebsausgaben nur bei „Angemessenheit"165, berücksichtigen Eigenarten des persönlichen Bedarfs nur im Tatbestand der „außergewöhnlichen Belastung"166 oder vermuten in einem progressiven Tarif eine mit dem Einkommen wachsende Belastbarkeit167. Die typisierenden Steuertatbestände zwingen den Eigentümer zwar nicht, seine Freiheit nach sozialen Standards auszuüben, unterstellen aber für Zwecke der Besteuerung, der Eigentümer habe sich sozialtypisch verhalten. 2. Respekt

vor der

Privatsphäre

Außerdem stützen sich die Tatbestände des deutschen Steuerrechts zumindest traditionell auf die allgemein sichtbaren Eigentumslagen und wahren so auch bei der Steuerermittlung die Privatheit des Eigentümers. Das französischsüddeutsche Ertragsteuerrecht belastete prinzipiell nur die marktoffenbaren Vorgänge166; das englisch-preußische Ein-

165 § 4 Abs. 5 Nr. 7 EStG (Betriebsausgaben [dazu unten FN 191], die die Lebensführung berühren); § 4 Abs. 5 Nr. 5 (Mehraufwendungen für Verpflegung in Anlehnung an das Bundesreisekostenrecht); § 4 Abs. 5 Nr. 6 (Pauschalierungen für Fahrtaufwendungen); § 22 Nr. 4 EStG (Mandats- und Wahlkampfkosten) durchbricht das Prinzip der personenbezogenen Lastengleichheit zugunsten einer Parlaments- und wahlrechtlichen Chancengleichheit. "« § 33 EStG. 167 Die Analyse der Progressionsgründe ist noch keineswegs gesichert, vgl. Kurt Schmidt, Die Steuerprogression, 1960; Haller, Probleme der progressiven Besteuerung, 1970; Dittmann, Die theoretischen Grundlagen der Steuerprogression, Diss. 1950; sowie aus dem älteren Schrifttum Wiek, Die indirekte Progression, 1932; Bräuer, Umrisse und Untersuchungen zu einer Lehre vom Steuertarif, 1927; vgl. auch oben FN 42. 1H Zur Entwicklung des Steuerwesens in Bayern vgl. Schanz, Das bayrische Ertragsteuersystem und seine Entwicklung, in: FinArch. 17 (1900), S. 551—772; Eheberg, Die Revision der direkten Steuern und das Projekt der allgemeinen Einkommensteuern in Bayern, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich N. F. VI (1882), S. 57—111; Vocke, Beiträge zur Geschichte der Einkommensteuer in Bayern, Teil I, in: ZStW 1864 S. 221—275; ders., Beiträge zur Geschichte der Einkommensteuer in Bayern, Teil II, in: ZStW 1865 S. 309—338; f ü r die Entwicklung in Baden vgl. Lewald, Die direkten Steuern im Großherzogtum Baden, FinArch. 3 (1886), S. 763—814, und Badisches Einkommensteuergesetz vom 20. Juni 1884, FinArch. 3 (1886), S. 815 ff.

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kommensteuerrecht war bewußt auf das Einschätzen bestimmter Steuerstufen angelegt169, um ein „inquisitorisches Verfahren" zu vermeiden170. Heute allerdings ersparen Typisierungen dem Steuerpflichtigen nur gelegentlich, sich allein wegen seines besteuerbaren Eigentums als Person offenbaren zu müssen171. Der fiskalische Respekt vor der Privatsphä-

169 Vgl. zur Entwicklung des Steuerwesens in Preußen, Witschke, Einkommen und Vermögen in Preußen, Jena 1902; Mamroth, Geschichte der Preußischen Staatsbesteuerung, 1806—1816, Leipzig 1890; Teschemacher, Die Einkommensteuer und die Revolution in Preußen, Tübingen 1912; Fuisting, Die gesetzliche Entwicklung des Preußischen Steuersystems und die schematische Darstellung der Einkommensteuer, Berlin 1894. 170 Motive zum Entwurf eines Klassen- und klassifizierten EStG v. 2. Januar 1851, Stenografische Berichte über die Verhandlungen der 2. Kammer, III Bd., Anlagen zu den Verhandlungen der 2. Kammer, 1. Abteilung, ASt Nr. 10 S. 59 rechte Spalte; vgl. ferner § 23 des Klassen-und klassifizierten EStG v. 1. 5.1851, Gesetz-Sammlung f ü r die königl. Preußischen Staaten v. 1851, S. 193 Nr. 3381, wonach bei der Einschätzung „jedes lästige Eindringen in die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der einzelnen Steuerpflichtigen zu vermeiden" war; die Formulierung „gehässige inquisitorische Maßregel" findet sich in einer Denkschrift v. Prittwitz an Hardenberg, in der die Einführung einer ESt. in Preußen zu Beginn des 19. Jahrh. abgelehnt wird, zitiert nach Strutz, Einkommensteuergesetz, a. a. O. (FN 121), S. 63/64; zum Gegensatz zwischen dem Ertragsteuersystem in den Süddeutschen Staaten und dem Personensteuersystem in Preußen, Schäffle, Die Steuern, Besonderer Teil, 1897, S. 489—513; zur Geschichte der Steuerrechtswissenschaft: Merzbacher, Das Wesen der Steuer und die historischen Ansätze des deutschen Steuerrechts, in: Festschrift Paulick, 1973, S. 255—266; Wilke, Die Entwicklung der Theorie des staatlichen Steuersystems in der deutschen Finanzwissenschaft des 19. Jahrh., in FinArch. 38 (1921), S. 1—108; Wachenhausen, Staatsausgaben und öffentliches Interesse in den Steuerrechtfertigungslehren des naturrechtlichen Rationalismus, 1972. 171 Die Ehegattenbesteuerung folgt dem Formalakt der Eheschließung, vgl. § 26 EStG, BVerfG E 6 S. 55; BFH BStBl. 1957 III S. 300. Die formalisierte Abgrenzung von Betriebs- und Privatausgaben sollte eine Erkundung persönlicher Verhältnisse ersparen, RFH RStBl. 1944 S. 44; Blümich/Falk, Einkommensteuergesetz, 11. Aufl. 1977/80, § 12 Anm. III 1; der BFH berücksichtigt zwar zunehmend individuelle Verhältnisse, neigt dabei aber zu typisierender Betrachtungsweise, BStBl. 1967 III S. 364 (Trauerkleidung); BFH BStBl. 1959 III S. 263/265 (Mitarbeit der Ehefrau im Gewerbebetrieb des Ehemannes); BFH BStBl. 1963 III S. 437 (Unterhaltsgewährung in „Onkelehe"); BFH BStBl. 1959 III S. 47 und BStBl. 1966 III S. 219

Besteuerung und Eigentum

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re des Steuerpflichtigen scheint verloren, w e n n das EStG nach Kindschaftsverhältnissen 1 7 2 , Details einer Krankheit 1 7 3 oder nach der Gestaltung individueller Gastlichkeit 1 7 4 fragt. Die Zudringlichkeit dieses Fragens wird durch die Freiwilligkeit des A n t w o r t e n s k a u m gemindert 175 . Der Steuergesetzgeber sollte die Privatheit des Eigentums wahren, indem er vermehrt auf offenkundige, mithin auf vereinfachte Eigentumslagen zurückgreift 176 . 3. Die Vereinfachung

im

Massenverfahren

Schließlich begegnet das Steuerrecht dem Eigentümer oft weniger in seiner Individualität und mehr in anonymen Massentatbeständen. Die Gemeinwohlbindung des Eigentums fordert die kostenökonomische Steuer 177 . Sie legt dem Gesetzgeber standardisierte Tatbestandstypen, Vermutungen und Pauschalierungen nahe 178 . Die Finanzverwaltung ver(häusliches Arbeitszimmer); BFH BStBl. 1959 III S. 382 (Aufwendungen für die Berufsausbildung des Sohnes); BFH BStBl. 1968 II S. 239/241 (Unterhalt an geschiedene Ehefrau). 172 § 32 Abs. 4—7 EStG; zur Bedeutung des Tatbestandes „Kind" vgl. Charlier, Familienbesteuerung — wachsende Probleme, in: StbJb 1979/80 S. 479, Anlage 4 S. 509. 173 BFH BStBl. 1954 III S. 174 (Hörapparat eines Beamten); kritisch dazu Isensee, Die typisierende Verwaltung, a. a. O. (FN 13), S. 145; BFH BStBl. 1965 III S. 91 (Frischzellenbehandlung); FG Rheinland-Pfalz EFG 1967 S. 616 (Änderungskosten der Bekleidung nach Abmagerungskur); vgl. ferner FG Hannover EFG 1964 S. 453 (Zwangsläufigkeit von Aufwendungen bei enger Beziehung zum Patenkind); BFH BStBl. 1975 II S. 111 (Detektivkosten keine zwangsläufigen Ehescheidungskosten). 171 Abschn. 20 Abs. 12—17 EStR 1978 und BdF-Schreiben vom 14. 7. 1975, BStBl. 1975 I S. 922; § 4 Abs. 5 Nr. 2 EStG. 175 Aber Isensee, Die typisierende Verwaltung, a. a. O. (FN 13), S. 145. 176 Zum demokratietheoretischen Aspekt: Leisner, Demokratie, 1979, insbesondere S. 47 („Eigentumsängstlichkeit"), S. 229 f. (Gedanken sind zollfrei — Gedanken sind steuerfrei). 177 Zum Grundsatz der Praktikabilität der Besteuerung vgl. Neumark, Grundsätze der Besteuerung in Vergangenheit und Gegenwart, Wissenschaftliche Gesellschaften der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt, Bd. 3 (1964), S. 33/59. 178 Zur Typisierung bei Neuregelung eines komplexen, noch nicht hinreichend erprobten Sachverhalts vgl. BVerfG BB 1980 S. 1083 (unter Hinweis auf BVerfG E 33 S. 171/189; E 37 S. 104/118; E 43 S. 291/321); zur vergröbernden Sachverhaltsermittlung vgl. im übrigen die Steuerschätzung (§ 162 AO), die die annähernde, nicht die volle Wahrheit sucht.

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engt darüber hinaus — in eigenwilliger Handhabung des Legalitätsprinzips17* — die Perspektive der Sachverhaltsbeobachtung vom Gesetzeserheblichen zum verwaltungstechnisch leicht Faßbaren180. Verwaltungsvorschriften automatisieren vertretbare Verwaltungsvorgänge nach zählbaren und meßbaren Rechtsmaßstäben1'1. Richtsätze182 und Stichproben183 stützen Ermittlungen auf Vermutungen statt auf Erkenntnisse und ersetzen den Beweis durch allgemeine oder behördeninterne Erfahrung184. Dienstliche Weisungen

179 Isensee, Die typisierende Verwaltung, a. a. O. (FN 13), S. 19; Ζ eidler. Über die Technisierung der Verwaltung, 1959, S. 27. 1.0 Vgl. GNOFÄ, a. a. O. (FN 38). 1.1 Abschn. 138 Abs. 2 EStR (angemessene Gewinnverteilung bei Familiengesellschaften), im wesentlichen gestützt auf BFH BStBl. 1973 II S. 650 und BFH GrS BStBl. 1973 II S. 5; Abschn. 14 Abs. 2 EStR 1960 (Wertgrenze, nach der Grundstücksteile zum notwendigen Betriebsvermögen gehören), bestätigt durch BFH BStBl. 1967 III S. 752; Abschn. 134 Abs. 4 EStR (Abgrenzung Gewerbebetrieb gegenüber Land- und Forstwirtschaft wegen Zukauf fremder Erzeugnisse), entspr. BFH BStBl. 1960 III S. 460, BStBl. 1965 III S. 90, hierauf basierend wiederum Abschn. 134 Abs. 7 EStR und zu BFH BStBl. 1965 III S. 147 Abschn. 134 Abs. 8 EStR; Abschn. 19 Abs. I LStR (Lohnsteuerfreiheit von Zuschüssen des Arbeitgebers zum Erwerb von Essensmarken usw.), bestätigt durch BFH BStBl. 1975 II S. 486, BStBl. 1976 II S. 50; Abschn. 20 Abs. 1 LStR (Wertgrenze von Sachzuwendungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer bei Betriebsveranstaltungen), dazu BFH BStBl. 1976 II S. 392; Abschn. 21 Abs. 2 LStR (Mengenbegrenzung f ü r die Abgabe von Freizigaretten und Haustrunk); Abschn. 23 Abs. 1 LStR (Werbungskostenpauschbeträge f ü r bestimmte Berufsgruppen); Abschn. 16 Abs. 5 KStR (Nichtmitgliedergeschäft einer Genossenschaft); Abschn. 69 Abs. 2 KStR (Beteiligung einer Kreditgenossenschaft an einer Kapitalgesellschaft mit bankfremdem Geschäft); Leasing-Erlaß vom 19. 4. 1971, BStBl. I S. 264/265 (Zurechnung des Leasinggegenstandes); unter Bezugnahme auf BFH BStBl. 1970 II S. 264; zum Problem der Quantifizierung Haueisen, Zahlenmäßige Konkretisierung („Quantifizierung") unbestimmter Rechtsbegriffe, NJW 1973 S. 641; Kirchhof, Allgemeines Verwaltungsrecht, in: Festschrift Bundessozialgericht, 1979, S. 537/553. 1.2 Ullmann, Richtsatzermittlung, Richtsatzanwendung, 1963. 1,3 Tip fee. Steuerliche Betriebsprüfung im Rechtsstaat, 1968, S. 10, 12, 76. 1M Vgl. auch GNOFÄ, a. a. O. (FN 38), Anlage 1 TZ 3, 4 b, 5 a - c , 6 b; Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, a. a. O. (FN 23), S. 346 f., 349; Isensee, Die typisierende Verwaltung, a. a. O. (FN 13), 5. 107 f.

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fordern nur noch eine „überschlägige Prüfung"185. Die Finanzverwaltung führt durch Einschränkung der Darlegungsund Beweispflichten materiell Freibeträge und Freigrenzen ein1'6 oder bietet durch eine sog. „Nicht-Beanstandungsgrenze" eine Besteuerung nach behauptetem statt nach tatsächlichem Sachverhalt an1'7. Diese typisierenden Vergröberungen und Flüchtigkeiten hindern den Eigentümer, seine Freiheit gegenüber dem Steuergesetz voll zur Wirkung zu bringen und bedürfen deshalb besonderer Rechtfertigung. Art. 14 GG erlaubt begrenzte Typisierungen im Tatbestand der Sozialpflichtigkeit und im Tatbestand der Privatheit des Eigentums. E. Privateigentum als steuerrechtsleitendes Prinzip Wenn der eigentumserhebliche Sachverhalt in seiner Veränderbarkeit und als Typus erst im Gesetz sichtbar wird und auch das Grundrecht gegen die Steuergewalt erst durch das Steuergesetz einen bestimmten Gegenstand erhält, so mögen diese Eigenheiten des Steuerverfassungsrechts die Prägnanz eigentumsrechtlicher Besteuerungsgrenzen gelegentlich mindern. Die Garantie der Eigentümerfreiheit wirkt andererseits als steuerrechtsleitendes Prinzip, das die Intensität

185 GNOFÄ, a. a. O. (FN 38), TZ 1.3.2.1. für die vorläufige Veranlagung durch die Übernahmestelle. 186 Vgl. GNOFÄ, a. a. O. (FN 38), insbes. Anlage 1 (Werbungskosten im Rahmen örtlicher Erfahrungssätze; Spenden bis zu 200 DM; Bausparkassenbeiträgen bis zu 2000 DM; Krankheitskosten bis zu 2000 DM); ähnlich die Lohnsteuerrichtlinien 1978 in Abschn. 22 Abs. 2 (Verpflegungsmehraufwand des Arbeitnehmers) und 23 (Werbungskostenpauschsätze für bestimmte Berufsgruppen) und 20 (steuerfreie Sachzuwendungen von geringem Wert). Zur Abgrenzung zwischen Verwaltungsverfahren und materiellem Verwaltungsrecht vgl. Bettermann, Das Verwaltungsverfahren, VVDStRL 17 (1959) S. 124 f.; zur inhaltlichen Verschränkung beider Rechtgebiete Fiedler, Die materiell-rechtlichen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die Systematik der verwaltungsrechtlichen Handlungsformen, AöR Bd. 105 (1980) S. 79/84 f. 187 So beim Abzug von Kinderbetreuungskosten (§ 33 a Abs. 3 EStG) nach BdF-Schreiben v. 10. 7. 1978, Abschn. I Abs. 3, BStBl. 1980 I S. 436.

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des Steuereingriffs schon vor der Übermaßgrenze bestimmt und eine Lastengleichheit unter den Eigentümern sichert188. I. Die Intensität der Besteuerung 1. Der Zuwachs an persönlicher

Eigentümerfreiheit

Die Steuern auf das Einkommen belasten das individuell hinzuerworbene Eigentum 189 . Wenn Fremdes erstmals zu Eigenem wird, bleibt dem Erwerber auch nach steuerlicher Minderung des Erworbenen ein Zuwachs an ökonomischer Handlungsfreiheit. Allerdings sind das existenznotwendige Einkommen 190 , die Ausgaben zur Erhaltung der Erwerbsquelle 191 und zwangsläufige persönlichkeitsbedingte Auf-

188 Zur Typologie des Steuerzugriffs Kirchhof, HdWW, 9./10. Lief e r u n g (1976), Stichwort S t e u e r n III, Grundzüge des Steuerrechts, S. 324/329 f.; ders., R e c h t s m a ß s t ä b e finanzstaatlichen Handelns, a. a. O. (FN 61); ähnlich jüngst Wendt, Besteuerung u n d Eigentum, NJW 1980 S. 2111/2116 f. 189 Vgl. oben zu F N 102, 103, 104 u n d u n t e n F N 199 190 Zum Verhältnis von bürgerlichem E x i s t e n z m i n i m u m u n d „Gem e i n s c h a f t s e x i s t e n z m i n i m u m " vgl. a b e r A. Hensel, Lastenausgleich, a. a. O. (FN 124), S. 5 f. 191 So die t r a d i t i o n e l l e Rechtfertigung der Abzugsfähigkeit von E r w e r b s a u f w e n d u n g e n m i t Blick auf die Steuerquelle, weniger auf die individuelle Lebensgrundlage in der B e g r ü n d u n g der Merkantilisten und F r ü h k a m e r a l i s t e n , vgl. dazu Jenetzky, S y s t e m u n d Entw i c k l u n g des m a t e r i e l l e n Steuerrechts in der wissenschaftlichen Lit e r a t u r des K a m e r a l i s m u s v o n 1680 bis 1840, 1978, S. 180 ff.; vgl. ferner § 40 der Verordnung zum preußischen E S t G v. 24. 5. 1812, GesetzS a m m l u n g f ü r die königl. Preußischen S t a a t e n v. 1812, Nr. 99 S. 54; Mamroth, a. a. O. (FN 169), S. 628; § 29 des E n t w u r f s eines Preußischen Klassen- u n d klassifizierten E S t G v. 2. 1. 1851, dazu Stenografische Berichte über die V e r h a n d l u n g e n der 2. K a m m e r , 3. Bd., Anlagen zu den V e r h a n d l u n g e n der 2. K a m m e r , 1. Abteilung, Nr. 10 S. 56, Berlin 1851; § 9 Abs. 1 Nr. 1 Preußisches E S t G von 1891, Preußische Gesetz-Sammlung 1891, S. 175 ff.; Strutz, H a n d a u s g a b e des E i n k o m mensteuergesetzes v. 29. 3. 1920, 2. Aufl. 1920, § 33 A n m . 5; § 13 E S t G 1925, RGBl. 1925 S. 469, und dazu Becker, G r u n d f r a g e n aus den neuen Steuergesetzen, StuW 1926 S. 667/671; f e r n e r die Definition der Betriebsausgaben — § 4 Abs. 4 E S t G — in der Schweiz als „zur Erzielung des s t e u e r b a r e n E i n k o m m e n s erforderliche Gewinnungsk o s t e n " (Art. 22 Abs. 1 WStG) und im A m e r i k a n i s c h e n Recht als „Ausgaben zur S c h a f f u n g von E i n k o m m e n " (Section 212 Internal Revenue Code); vgl. auch oben F N 165; der P a r l a m e n t a r i s c h e Rat

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Wendungen für die Entfaltungsfreiheit des Steuerpflichtigen unverzichtbar. Deshalb ist ein freiheitsbegründendes Mindesteinkommen für einen Steuerzugriff nicht zugänglich (Enteignungsgrenze im Tatbestand der Arbeitskraft); das übrige, freiheitsmehrende Einkommen darf nur durch eine Personensteuer, also je nach individuellen Verhältnissen belastet werden (Belastungsgrenze im Binnenbereich der Sozialpflichtigkeit). Das geltende Steuerrecht unterscheidet den Eigentumszuwachs nach persönlichkeitsnahem und anonymerem Einkommen. Es besteuert die Einkünfte natürlicher Personen progressiv; das bei Körperschaften verbleibende Einkommen zum Spitzensteuersatz192. Die Marktabhängigkeit von Erträgen sieht das Steuerrecht als vermehrte Sozialgebundenheit und belastet sie deshalb zusätzlich mit einer Gewerbeertragsteuer193; umgekehrt mindert die persönliche Nähe zwischen Gebendem und Empfangendem den Steuersatz der Erbschafts- und Schenkungsteuer194. Die Obergrenze für eine progressive Besteuerung des Einkommens läßt sich am deutlichsten für die Einnahmen aus Eigentumsgebrauch (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG), also insbesondere aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung, darstellen. Das „Zugleich" von Allgemein- und Privatnützigkeit195 bringt (oben F N 65) wollte die Eigentumsgarantie auf das der persönlichen Lebenshaltung oder „der eigenen Arbeit dienende Eigentum" beschränken. 192 Die Tarifgestaltung der Körperschaftsteuer ist von Anfang an vom Problem der Doppelbesteuerung der Ausschüttung bei der Kapitalgesellschaft und beim Anteilseigner bestimmt. Das KStG 1920 hatte neben dem Proportionalsteuersatz von 10 % einen progressiven Zuschlag von 2—10 % auf die Ausschüttungen je nach dem Verhältnis zum Nennkapital erhoben. Der Zuschlag wurde 1925 aufgehoben. Später wurde der Proportionaltarif durch einen Staffeltarif ersetzt. Erst 1953 wurde der gespaltene Steuersatz eingeführt: Ausschüttungen wurden proportional mit 30 %, thesaurierte Gewinne mit 45 % besteuert. Ab 1958 lag der Proportionalsteuersatz bei 51 %, die Ausschüttungsbelastung betrug 15 % (vgl. zum ganzen Herrmann/Heuer, a. a. O. (FN 154), § 19 KStG Anm. 1—16). 193 § 7 GewStG. 194 Die Erbschafts- und Schenkungsteuer gehört allerdings nicht zu den Steuern auf das Einkommen, weil dort lediglich ein Subjektwechsel für ruhendes Vermögen, nicht ein Zuerwerb von Vermögen Tatbestand ist. 195 Vgl. BVerfG E 21 S. 73/83 (für das Bodenverkehrsrecht); Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Art. 14 Randnr. 106; von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz Bd. I, 2. Aufl. 1966, S.

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staatliches und privates Ertragsbegehren nebeneinander zur Geltung. Wie die Eigentumsgarantie nicht gegen eine Besteuerung der Erträge schützt, so darf die Steuer nicht die privatdienliche Eigentumsnutzung, also den bleibenden Kapitalertrag verhindern196. Das Einkommensteuerrecht beobachtet den jährlichen Zuwachs an freiheitsdienlichem Einkommen beim Eigentümer, vergleicht den Ertrag nicht mit dem eingesetzten Kapital. Da das Einkommen dem Eigentümer grundsätzlich zum Lebensunterhalt dient, wird eine hälftige Ertragsteilhabe des Staates in der Regel nicht mehr vertretbar sein. Mit wachsenden Erträgen verbleibt dem Eigentümer jedoch auch nach hälftiger Besteuerung ein substantieller Wert seiner Eigentumsnutzung197. Es ist deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn sich die Einkommensteuer im Spitzensteuersatz einer Belastung von 56 % des zu versteuernden Einkommens nähert198. Die gegenwärtige Progression erscheint nur als Gegensatz zur Eigentumsgarantie, wenn sie als Umverteilung unter Privaten gerechtfertigt wird. Der Staat wäre nur noch auf eine objektive Gewährleistung des Rechtsinstituts „Eigentum" verpflichtet, die ihn berechtig-

433 f.; E. R. Huber, a. a. O. (FN 62), S. 13 ff.; Leisner, Sozialbindung, a. a. O. (FN 98), S. 224 f. 156 Rüfner, a. a. O. (FN 61); Bettermann, Die Geldentwertung als Rechtsproblem, ZRP 1974 S. 13/14; Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 36 ff., 43 ff.; Denninger, a. a. O. (FN 61), S. 29, 70/76 ff.; grundsätzlich zu Art. 14 GG: Stein, Vermögenspolitik, a. a. O. (FN 104), S. 31; Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 19; Kloepfer, Grundrechte, a. a. O. (FN 4), S. 35 ff.; E. W. Böckenförde, Eigentum, a. a. O. (FN 102). 157 Zur verfassungsrechtlichen Konkretisierbarkeit der „vertikalen Steuergerechtigkeit" vgl. Vogel, Steuergerechtigkeit, a. a. O. (FN 109), S. 411 f.; Kirchhof, Rechtsmaßstäbe finanzstaatlichen Handelns, a. a. O. (FN 61), S. 156; die finanzwissenschaftliche Literatur handelt entweder nur vom Ziel einer „optimalen" Einkommensverteilung, übergeht also durch eine Umverteilungssteuer die Garantie der Eigentümerfreiheit, Littmann, a. a. O. (FN 108), S. 119 ff.; Pahlke, a. a. O. (FN 108); Frey, a. a. O. (FN 86), S. 6 f., oder sie bemißt nach der Grenznutzentheorie die Steuer nach dem mit wachsendem Einkommen generell eintretenden Prozeß zunehmender Bedarfssättigung, Haller, Leistungsfähigkeitsprinzip, a. a. O. (FN 108), S. 463; Pohmer, a. a. O. (FN 108), S. 145; zur Progression nicht nur der Einkommensteuer, sondern des Gesamtsystems vgl. Neumark, Probleme der Steuerprogression, in: Neumark, Wirtschafts- und Finanzprobleme des Interventionsstaates, 1961, S. 369 f. 158 § 32 a Abs. 1 Nr. 5 EStG.

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te, den individuell erworbenen Bestand nur unter dem Vorbehalt ähnlichen Eigentumszuwachses bei jedermann zu gewährleisten. Ein Abwehrrecht des Eigentümers hingegen mäßigt die individuelle Vermögenseinbuße durch Steuern unabhängig von der späteren — prinzipiell als verfassungsmäßig unterstellten — Verwendung der Steuererträge. Im übrigen kommt die Belastungswirkung eines Steuersatzes stets erst im Zusammenhang mit der Bemessungsgrundlage und dort insbesondere mit den Abzugstatbeständen zum Ausdruck. Die Gleichheit erworbener Rechte 199 erstreckt dieses für das Kapitaleinkommen entwickelte Ergebnis auch auf das Arbeitseinkommen. Damit liegt die verfassungsrechtliche Problematik gegenwärtiger Ertragsteuerbelastungen weniger in der Steuerprogression, sondern eher in der Mehrfachbelastung der Erträge durch Einkommen- und durch Bestandsteuern. 2. Der ertragsfähige

Bestand

Die Vermögensteuer, die Gewerbekapitalsteuer, die Grundsteuer und die Aufwandsteuern belasten den Eigentumsbestand. Die Besteuerung eines ertraglosen und eines mit Verlust arbeitenden Eigentums ist nicht schlechthin verfassungswidrig 200 . Auch die bloße Innehabung von Eigentum „verpflichtet" (Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG)201. Wenn die Ei-

199 BVerfG E 1 S. 264/277 f. (Schornsteinfeger); E 14 S. 288/294 (Rentenversicherung); E 22 S. 241/253 (Änderung der Altersgrenze); E 24 S. 220/226 (Rentenversicherung/Weiterversicherung); E 31 S. 229/243 (Urheberrecht); BVerfG NJW 1980 S. 692 (Versorgungsausgleich); BVerfG DB 1980 S. 1573 (Besteuerung der Altersbezüge); Kimminich, Bonner Kommentar, a. a. O. (FN 61), Randnr. 84/19; Kloepfer, Grundrechte, a. a. O. (FN 4), S. 45/47; Wittig, a. a. O. (FN 104) (dort jedoch nicht aus Art. 14, sondern Art. 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG abgeleitet); vgl. auch oben FN 104. 200 BVerfG NJW 1976 S. 101 (Vermögensteuer einer Holding-AG); Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 32; Schick, a. a. O. (FN 100); Selmer, Finanzordnung, a. a. O. (FN 10), S. 238, 399/431 f.; Friauf, Substanzeingriff, a. a. O. (FN 63). 201 Die Verpflichtung des Eigentums meint mehr als einen bloßen Appell an die Honorigkeit, so aber Ridder, Der Grundrechtsschutz des Eigentums, in: Grundrechtsschutz des Eigentums, Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 4, 1977, S. 39/46; ähnlich auch noch Wolff, a. a. O. (FN 2), S. 12.

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g e n t u m s g a r a n t i e den steuerlichen Zugriff grundsätzlich auf das P r i v a t e i g e n t u m l e n k t und den Bürger g e g e n einen Zugriff auf seine A r b e i t s k r a f t abschirmt, so k a n n der Staat nicht darüber h i n a u s auch die steuerliche Nutzbarkeit des P r i v a t e i g e n t u m s in das B e l i e b e n des Berechtigten stellen. A u s der Verpflichtung des E i g e n t u m s leitet das Steuerrecht die Erwartung ab, der Bürger w e r d e sein E i g e n t u m produkt i v nutzen und dem Staat dadurch e i n e steuerliche Ertragst e i l h a b e ermöglichen 2 0 2 . D a s Steuerrecht v e r p f l i c h t e t den E i g e n t ü m e r z w a r nicht zu e i n e m b e s t i m m t e n Eigentumsgebrauch, sondern w ä h l t die schonendere Lösung, lediglich bes t i m m t e Erträge als steuerliche B e m e s s u n g s g r u n d l a g e zu unterstellen. D a m i t rechtfertigt die Verfassung die Vermögenund die Realsteuern in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit ihrer Entstehungsgeschichte 2 0 3 und ihrer finanzpolitischen Zielsetzung 2 0 4 nur als Soll-Ertragsteuern. 202 Wenn teilweise betont wird, die Sozialbindung meine Begrenzungen und Bindungen in der Ausnutzung des Eigentums, nicht die Ausnutzung als solche (in ihrem „Ob"), Leisner, Sozialbindung, a. a. O. (FN 98), S. 201 f.; E. W. Böckenförde, Elternrecht — Recht des Kindes — Recht des Staates, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 14, 1980, S. 54/68; BVerfG EuGRZ 1979 S. 121/133; BVerfG E 50 S. 290/339 (Mitbestimmung), so muß diese Aussage zumindest f ü r die Steuer modifiziert werden, Kirchhof, Besteuerungsgewalt, a. a. O. (FN 3), S. 36 ff.; grundsätzlich f ü r eine Eigentümerpflicht zum produktiven Nutzen M. Wolff, a. a. O. (FN 2), S. 10 ff. mit dem Hinweis auf die polizeiliche Zustandspflichtigkeit; ebenso Holstein, Die Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung, 1921, S. 94 f.; ausdrücklich ablehnend Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, S. 721. 203 Die der Sollertragsbesteuerung zugrundeliegende Idee, den Bürger zum ertragbringenden Einsatz seines Privatvermögens anzuhalten, findet sich bereits im finanzwissenschaftlichen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. „Allein diejenigen sündigen nicht wenig wider die Pflicht (zur Wohlfahrt des Staates thätig beizutragen), die ihr Vermögen vergraben, oder im Kasten müßig liegen lassen, oder dasselbe außer Landes in auswärtige Banken legen. Das Vermögen eines jeden Untertanen macht zugleich einen Teil von dem gesamten Vermögen der Republik aus. Sie hat also ein gegründetes Recht zu fordern, daß es der Eigentümer also gebrauche, damit auch ihr Nutzen daraus zuwachse; und derjenige, der es ganz müßig liegen läßt . . . ist ein unwürdiges Mitglied von ihr, er ist ein Undankbarer, der von allen Wohltaten, die ihm die Republik in ihrem Schooße erzeuget, weiter nichts tut, als daß er die ihr schuldige Pflicht außer Augen setzt", von Justi, Staatswirtschaft, a. a. O. (FN 40), S. 403; zur Entstehungsgeschichte vgl. FN 204. 204 Fuisting, Die preußischen direkten Steuern, a. a. O. (FN 132); Κ. Vogel, Zur Konkurrenz zwischen Bundes- und Landessteuerrecht

Besteuerung und Eigentum

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Die Soll-Ertragsteuern haben im wesentlichen die Aufgabe, die Pflichtigkeit des Eigentums steuerlich auch dann zu realisieren, wenn in individuellen oder gesamtwirtschaftlichen Krisenlagen aus dem Eigentumsgebrauch nicht hinreichende Erträge zu erwarten sind, der Finanzstaat aber gerade dann ein finanzwirtschaftliches Handlungsvermögen benötigt. Deshalb wäre die rechtssystematisch treffendste Lösung, die Soll-Ertragsteuern auf die Einkommensteuer anzurechnen205. Das derzeitige Nebeneinander von Steuern auf die Erträge und auf die Ertragsfähigkeit des Eigentums ist jedoch verfassungsrechtlich vertretbar, sofern die Gesamtsteuerlast im Regelfall aus den Erträgen gezahlt werden kann und dem Eigentümer nach Steuern noch angemessene Erträge verbleiben206. Ertragsunfähiges Vermögen207 ist von der Soll-Ertragsteuer auszunehmen. Bemessungsgrundlage ist grundsätzlich208 der Ertrags wert.

nach dem Grundgesetz, StuW 1971 S. 308/310 mit FN 17; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Entschließungen, Stellungnahmen und Gutachten 1949—1973, 1974, S. 326/375; vgl. aber Gutachten der Steuerreformkommission, a. a. O. (FN 132), S. 623 f. sowie oben FN 132. 205 Der Vorschlag Flumes, Zur Reform der Vermögensteuer, StuW 1980 S. 185 f., die Vermögensteuer zu einer Unternehmens- oder Betriebsvermögensteuer zu ändern, hat vom Steuergegenstand und vom rechtspolitischen Anliegen her eine andersartige, auf die Vermögensteuer beschränkte Thematik, vgl. auch Jacobs, Empfiehlt sich eine rechtsformunabhängige Besteuerung der Unternehmung? ZGR 1980 S. 289 f. 206 So im Ergebnis K. Vogel, Finanzverfassung, a. a. O. (FN 10), S. 38 ff.; Tipke, Steuerrecht, a. a. O. (FN 13), S. 316 f., 56 f. 207 Insbesondere das Kunstvermögen, dazu K. Vogel, Kunsthemmnisse und Kunstförderung im Steuerrecht, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1977/78, S. 197 ff.; ders., Verkehrswert, a. a. O. (FN 132), S. 28 ff., und „Kleineres Eigentum" als Freiheit der Person, Leisner, „Kleineres Eigentum — Grundlage unserer Staatsordnung", in: Issing/Leisner, „Kleineres Eigentum" 1976, S. 51/62; eine Ausnahme mag gelten f ü r einen begrenzten Kreis von Tatbeständen der Luxus- und Aufwandsteuern. 208 Aber: Vogel, Verkehrswert, a. a. O. (FN 132) (dort insbesondere S. 33 These vom Nebeneinander des Gebrauchs- und Tauschwertes, ergänzt durch den Hinweis, daß der Teilwert in Wahrheit ein Ertragswert sei, der Ertragswert des Unternehmens beim gewerblichen Unternehmen mit dem Verkehrswert identisch sei).

276

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Die Pflichtigkeit des Eigentums rechtfertigt somit ein Steuergesetz, das einen Gebrauch des Eigentum unterstellt; gestattet dem Gesetzgeber jedoch nicht, einen Eigentümerwechsel zu fingieren. Art. 14 Abs. 2 GG verpflichtet den Eigentümer, fordert von ihm aber nicht die Aufgabe seiner Rechtsstellung. Deshalb bestehen grundsätzliche Einwände209 gegen eine Erbersatzsteuer (§§ 1 Abs. 1 Nr. 4, 9 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG) 210 , die für bestimmte Familienstiftungen entgegen dem Typus der nicht sterblichen juristischen Person periodisch einen Erbfall unterstellt und daran eine Belastung bis zu 35 % des Stiftungsvermögens knüpft211. 3. Die

Eigentumsverwendung

Die Verkehr- und Verbrauchsteuern, die Umsatzsteuer und die Zölle belasten den Eigentumsgebrauch durch Verfügungsgeschäfte. Die Steuer auf die Eigentums Verwendung wirkt bestandsschonend, weil sie voraussetzt, daß der Eigentümer die Herrschaft über sein Eigentum willentlich lockert, sein Eigentum einer Neubewertung durch die Marktbeteiligten unterwirft und so einen Spielraum auch für eine wertbildende Steuer eröffnet. Die Nachfrage nach lebensnotwendigen Gütern allerdings ist nicht freiwillig. Deshalb muß der unverzichtbare Konsum steuerfrei bleiben, soweit nicht sozialstaatliche Leistungen das individuelle Existenzminimum auch nach Steuern sichern. Die Steuern auf die Eigentumsverwendung erscheinen als Teil der Produkt- oder Leistungskosten, als Zuschlag auf den geschuldeten Preis. Sie werden in der Regel nach dem Preis des Gutes berechnet. Bemessungsgrundlage für eine an den freiwilligen Eigentümerwechsel anknüpfende Steuer ist jedoch nicht eine Substanzgleichheit von Leistung und Gegen-

209 Denninger, a. a. O. (FN 61), S. 29, 70/76 f.; Friauf, Substanzeingriff, a. a. O. (FN 63), S. 59/63 mit FN 38. 210 Die Verfassungsmäßigkeit der Ersatz-Erbschaftsteuer war schon im Gesetzgebungsverfahren umstritten, vgl. Rechtsausschuß des Bundestages, BT-Drucks. 7/1333; Bundesrat, 403. Sitzung des Bundesrats vom 22. 3. 1974, S. 69 Β ff.; Anrufung des Vermittlungsausschusses BT-Drucks. 7/1799; vgl. auch Kapp, Erbschaftsteuerund Schenkungsteuergesetz, Kommentar, 7. Aufl. 1977, § 1 Randnr. 68; Franz Klein, a. a. O. (FN 19). 211 Zu Möglichkeiten der Verrentung und Stundung der Erbersatzsteuer, vgl. §§ 24, 28 Abs. 2 ErbStG.

Besteuerung und Eigentum

277

leistung, sondern die in der Nachfrage sichtbar w e r d e n d e Selbsteinschätzung i n d i v i d u e l l e r K o n s u m k r a f t . Der Steuersatz ist deshalb als a n g e m e s s e n e Teilhabe am Marktwert des j e w e i l i g e n Wirtschaftsgutes zu rechtfertigen. D i e indirekte Steuer läßt den Nachfrager in der A n o n y m i t ä t und k a n n deshalb nicht z w i s c h e n „ a r m " und „reich", sondern allenfalls zwischen Ge- und Verbrauchs-, alltäglichen und Luxusgütern unterscheiden. D i e A n g e m e s s e n h e i t der Last b e s t i m m t sich nach t y p i s c h e m Nachfrageverhalten, nicht — w i e bei den Steuern auf das K a p i t a l e i n k o m m e n — nach i n d i v i d u e l l e m Erfolg eines Eigentumsgebrauchs. II. D a s G l e i c h m a ß der B e s t e u e r u n g Eine Unterscheidung der i n d i v i d u e l l e n B e l a s t b a r k e i t je nach E i g e n t u m und E i g e n t ü m e r v e r h a l t e n schützt nicht nur gegen ein Steuerübermaß, sondern b e s t i m m t ebenso das Gleichmaß 2 1 2 b e i der Lastenverteilung 2 1 3 . D i e a l l g e m e i n e Fra212

Das BVerfG ordnet das Verhältnis von Art. 3 Abs. 1 GG zu anderen Grundrechten nicht nach einem abstrakten Spezialitätsgrundsatz, sondern nach der stärkeren sachlichen Beziehung des Grundrechts zu dem zu prüfenden Sachverhalt, so zu Art. 6 Abs. 1 GG vgl. E 13 S. 290/296 f. (Ehegatten-Arbeitsverhältnisse); E 28 S. 324/346 f. (Heiratsklausel bei Waisenrenten); zu Art. 6 Abs. 5 GG vgl. E 17 S. 280/286 (Erstreckung des Unterhaltsanspruchs des unehelichen Kindes auf das 17. und 18. Lebensjahr); E 25 S. 167/173 (Verfassungsauftrag zur Gleichstellung der unehelichen Kinder); zu den in Art. 9 Abs. 2 und 21 Abs. 2 GG aufgezeichneten Grenzen politischer Toleranz: E 13 S. 46/49 (Anwendung des § 6 Abs. 2 BEG auf Parteifunktionäre vor Parteiverbot); zu Art. 12 Abs. 1 GG vgl. E 37 S. 342/353 f. (Juristenausbildung); zu Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vgl. E 14 S. 263/278 (Feldmühle-Urteil); zur Wahlrechtsgleichheit (Art. 28 Abs. 1 Satz 2, 38 Abs. 1 Satz 1 GG) E 4 S. 375/382 (Unterschriftenquorum); zu Art. 137 Abs. 1 GG vgl. E 12 S. 63/78 (Vereinbarkeit von Amt und Mandat); zum Sozialstaatsprinzip E 12 S. 354/367 (Volkswagenwerk, Privatisierung); zum Rechtsstaatsprinzip E 15 S. 167/204 f. (Gesetzgebungsauftrag nach Art. 131 GG). 213 Dazu bereits: Blumenstein, Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz im schweizerischen Steuerrecht, Vierteljahresschrift f ü r Steuer- und Finanzrecht, Bd. 4 (1930), S. 328 f.; Guggenheim, Die Gleichheit vor dem Steuerrechtssatz in der romanischen und der von ihr beeinflußten slavischen Staatswelt, daselbst S. 400 f.; Wittschieben, Der Gleichheitsgrundsatz im österreichischen Finanz- und Steuerrecht, daselbst S. 422 f.; A. Hensel, Verfassungsrechtliche Bindungen, a. a. O. (FN 1) (dort mit Nachweis der zeitgenössischen staatsrechtlichen Literatur); zum Gleichheitsproblem auch: Markull, Gleichartige Steuern, daselbst S. 535 f.

278

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ge nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit belastbaren Vermögens gewinnt in der Eigentumsgarantie einen speziellen Maßstab für die Lastenverteilung: Vergleichsziel ist die finanzielle Belastbarkeit der Bürger in ihrem Eigentum; Vergleichsgruppen sind die Eigentümer je nach ihrer willentlich veränderbaren Eigentumslage; Vergleichsmaßstab ist die Freiheit des Eigentümers bei Erwerb, Innehabung und Verwendung von Eigentum. In diesem eigentumsrechtlichen Gleichheitssatz ist die Struktur jedes Steuertatbestandes angelegt: Steuergegenstand ist das besteuerbare Eigentum je nach seiner Lage als Eigentumszuwachs, als ertragsfähiger Bestand oder als zum Tausch angebotenes Eigentum. Steuerschuldner ist grundsätzlich214, wem das Grundrecht die wirtschaftliche Herrschaft über diesen Gegenstand und damit die Entscheidung über den besteuerbaren Erfolg eines Eigentumshandelns zuweist215. Bemessungsgrundlage ist der zählbare und meßbare Sachverhaltsteil, der lediglich die Belastungsfähigkeit des Eigentums in Zahlen ausdrücken und deshalb die einfach-gesetzlichen Vorgaben aus Steuersubjekt und Steuergegenstand folgerichtig („steuersystemge-

214

Eine technische Ausnahme gilt bei den überwälzbaren Steuern: dort ist primär betroffen der nachfragende Eigentümer (Steuerträger); f ü r den Unternehmer ist eher die Frage der Überwälzbarkeit entscheidend; wenn das BVerfG in allen Umsatzsteuerurteilen das besteuerbare Objekt in seiner Funktion f ü r die Wettbewerbsgleichheit analysiert, nicht so sehr in seiner wirtschaftlichen Bedeutung f ü r den Nachfrager, so erklärt sich dieses aus der durch beschwerdeführende Unternehmer bestimmten Prozeßsituation, ist jedoch nicht als prinzipielle Charakterisierung der Verbrauchsteuern gemeint, vgl. BVerfG E 21 S. 12/27 f. (Wettbewerbsneutralität der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer); E 19 S. 64/69 f. (Nescafé/Rôstkaffee); E 27 S. 38/48 (Dienstleistungen und Warenlieferung); E 36 S. 321/334 (Schallplatten und sonstige kulturerhebliche Güter); ebenso bei der Nachsteuer auf Schaum-und Branntwein (E 27 S. 375/386). 215 Probleme ergeben sich insbesondere, wenn Eigentum gleichzeitig — vgl. die Mitunternehmerschaft und dazu § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG und § 5 Abs. 1 Satz 3 GewStG — oder nacheinander alternativ mehreren zugeordnet wird, dazu das Korrespondenzprinzip, wie es punktuell beim Unterhalt geschiedener oder dauernd getrennt lebender Ehegatten anklingt, § 10 Abs. 1 Nr. 1, § 22 Nr. 1 a EStG, und wie es bei der Rentenbesteuerung erwogen werden muß, vgl. oben FN 134; ferner: die Betriebsspaltung, oben FN 149; den Durchgriff im Steuerrecht, dazu von Beckerath, Der Durchgriff im deutschen Außensteuerrecht, 1978.

Besteuerung und Eigentum

279

recht")216 fortführen soll. Der Steuersatz217 bzw. -tarif21* ist Ergebnis einer nur in weiten Vertretbarkeitsgrenzen gebundenen gesetzgeberischen Entscheidung über die angemessene Teilhabe des Staates am jeweiligen besteuerbaren Eigentum219. Im Ergebnis skizziert der eigentumsrechtliche Gleichheitssatz die vom Steuergesetzgeber zu treffende Auswahl der Steuergegenstände in groben Konturen220, bindet das Steuersubjekt an den Tatbestand der dem Eigentümer zustehenden Freiheit zum Eigentumsgebrauch, fordert für die Bemessungsgrundlage gesetzgeberische Folgerichtigkeit gegenüber den steuergesetzlich definierten Grundlagentatbeständen und beläßt dem Gesetzgeber bei der Entscheidung über den Steuersatz erhebliche Entschließungsfreiheiten.

216 D. i. eine im Binnenbereich des Steuerrechts bleibende „Systemgerechtigkeit", dazu oben FN 8. 217 Das BVerfG unterscheidet bei den indirekten Steuern eine verschiedene Belastbarkeit des Produkts je nach Marktabsatzchance, vgl. BVerfG E 36 S. 321/339 (Schallplatte als „das vergleichsweise belastungsfähigere Medium" im Vergleich zu anderen Lieferungen des kulturellen Bedarfs); E 19 S. 64/69 f. (umsatzsteuerliche Belastung von Nescafé und Röstkaffee); E 37 S. 38/48 f. (umsatzsteuerliche Belastung von Dienstleistungen und Warenlieferungen); vgl. im übrigen oben FN 214. 218 Das BVerfG begründet die progressive Steuer f ü r AnnexEinkommensteuern stets in Anlehnung an die als evident sachgerecht geltende Einkommensteuerbemessung, vgl. BVerfG E 36 S. 66/72 (Stabilitätszuschlag); E 32 S. 333/343 f. („Progressionsknick" bei der Ergänzungsabgabe); E 29 S. 402/412 (Konjunkturzuschlag). 219 Die Aussagen über die „vertikale Steuergerechtigkeit" (Steuersatzverlauf) und über die „horizontale Steuergerechtigkeit" (Theorie der Steuerarten) wird vielfach im Stich wort der „Theorie der Leistungsfähigkeit" zusammengefaßt, kritisch dazu Schneider, Zur Rechtfertigung von Erbschaft- und Vermögensteuer, StuW 1979 S. 38, sowie oben FN 42. 220 Das BVerfG kommt aufgrund seiner aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten These des Willkürverbotes zu ähnlichen Ergebnissen: BVerfG E 13 S. 181/202 f. (Schankerlaubnissteuer); E 21 S. 54/63 (Lohnsummensteuer); E 26 S. 302/310 (Spekulationsgeschäft); E 27 S. 111/127 (Veräußerungen wesentlicher Beteiligungen an Kapitalgesellschaften); E 27 S. 375/386 f. (Nachsteuer auf Schaum- und Branntwein); E 29 S. 327/335 (Verdoppelung der Schankerlaubnissteuer f ü r Zweitbetriebe); E 31 S. 8/25 (Pauschbesteuerung von Gewinnspielgeräten); E 31 S. 119/130 (Pauschbesteuerung von Musikautomaten).

280

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Damit bestätigt der eigentumsrechtliche Gleichheitssatz wiederum die wechselseitige Bedingtheit von Eigentum und Besteuerung: die Eigentumsgarantie verliert nicht ihre Verbindlichkeit, wenn der Rechtsstaat seine Gewalt mit finanzstaatlichen Mitteln ausübt. Privateigentum ist vielmehr das verfassungsrechtliche Leitprinzip, das grundsätzlich eine Deckung des staatlichen Finanzbedarfs durch Steuern fordert, den Steuerzugriff auf eine Teilnahme am Nutzen des Eigentumsgebrauchs verweist und damit der Zahlungsfähigkeit des Leistungsstaates eine Grenze setzt. Wie die Steuer den Rechtsstaat in die Lage versetzt, Privateigentum zu respektieren, dessen Sozialpflichtigkeit zu mäßigen und Enteignungen zu entschädigen, so ist umgekehrt Eigentum grundsätzlich versteuertes Einkommen, steuerlich anerkannte individuelle Leistung, vergegenständlichtes Handlungsvermögen für zukünftige individuelle Entfaltungsfreiheit. Der Verfassungsstaat muß diese rechtsstaatliche Struktur des Steuerwesens wahren, damit der Steuerstaat auch langfristig privatnütziges Eigentum besteuert, nicht aber den Eigentümer aus seinen Freiheitsrechten vertreibt.

Leitsätze des Berichterstatters

über:

Besteuerung und Eigentum I. Die Aufgaben eines Grundrechtsschutzes

im

Steuerstaat

1. Eine verfassungsrechtliche Garantie des Privateigentums setzt einen finanziell handlungsfähigen Rechtsstaat voraus. Ein Grundrecht des Eigentümers hindert nicht eine Finanzausstattung des Staates zu Lasten des Privateigentums, sondern fordert eine eigentumsschonende Deckung des staatlichen Finanzbedarfs. 2. Der Staat kann Einnahmen langfristig nur erzielen, wenn er entweder Eigentum selbst bewirtschaftet oder privatnütziges Eigentum besteuert. Die Steuer ist Kennzeichen einer privatnützigen Eigentumsordnung. 3. Das Grundgesetz verschweigt die Besteuerungsgewalt als Grenze grundrechtlicher Freiheiten, anerkennt sie jedoch im Finanzverfassungsrecht. 4. In einem Leistungsstaat mit einer thematisch kaum beschränkten Finanzmacht gewährleistet der Parlamentsvorbehalt allein noch keine eigentumsgerechte Besteuerung, seitdem der Gesetzgeber selbst auf immer größere Ausgaben drängt und Steuerrecht zu wesentlichen Teilen außerhalb des Parlaments hervorgebracht wird. II. Die Besteuerung delns

des privatnützigen

Eigentümerhan-

5. Die steuerrechtliche Frage an das Verfassungsrecht hält zwei grundsätzliche Vorgaben:

ent-

a) Steuern belasten den Eigentümer, nicht den erwerbsfähigen Bürger. b) Steuern fordern nicht Teilhabe am Eigentumsbestand, sondern Teilnahme am wirtschaftlichen Nutzen des Eigentümerhandelns. 6. Privateigentum gibt dem Eigentümer die Freiheit zum Erwerben, Besitzen, Nutzen, Verwalten, Verbrauchen und Veräußern. Eine Steuer darf diese Eigentümerfreiheit nicht

282

Paul Kirchhof

in ihrer jeweiligen ökonomischen Grundlage (Steuergegenstand) gefährden und ihr nicht den privatnützigen Erfolg nehmen. 7. Der Schutz des privatnützigen Eigentümerhandelns findet seinen Maßstab in der Eigentümerfreiheit, weniger im Eigentum: a) „Eigentum" definiert nicht ein Wirtschaftsgut, das gegen steuerlichen Zugriff abzuschirmen wäre, sondern umgrenzt den Handlungsspielraum des Eigentümers. Grundlage der Eigentümerfreiheit ist das Gesamtvermögen. b) Die Enteignungserschwerung des Art. 14 Abs. 3 GG wirkt als Verbot, den Steuergegenstand zu entziehen, nicht als Verbot, einen Steuerbetrag wegzunehmen. III. Die Steuerpflichtigkeit

des

Eigentumsgebrauchs

8. Die Freiheit zu privatnützigem Eigentümerhandeln ist „zugleich" durch eine Allgemeindienlichkeit (Steuerbarkeit) des Eigentumsgebrauchs gebunden. 9. a) Der Eigentümer gebraucht sein Eigentum bei der Einkommensverwendung und bei der Erzielung von Kapitaleinkommen. b) Die Gleichheit erworbener Eigentümerrechte erstreckt den für das Kapitaleinkommen geltenden Eigentumsschutz auf das Arbeitseinkommen. c) Steuern auf den Eigentumsbestand belasten das Eigentum unabhängig von einem Eigentumsgebrauch und sind verfassungsrechtlich deshalb die Ausnahme. 10. Eine Eigentümersteuer ist kein geeignetes Instrument für eine staatlich vermittelte Eigentumsumverteilung, solange das Steuerrecht die Ursachen für Eigentumsunterschiede nicht zur Kenntnis nimmt und Steuerverschonungen den Nicht-Eigentümer nicht erreichen. Die objektive Gewährleistung des Eigentums rechtfertigt nicht einen Eigentumsentzug zugunsten Dritter. 11. Ein Grundrecht des Eigentümers mäßigt den individuell spürbaren Steuerzugriff und begrenzt damit das Gesamtvolumen der Steuererträge. Bei der Bestimmung der Finanzaufgaben (des Steuerbedarfs) wahrt der Finanzstaat seine Unbefangenheit gegenüber jedem Bürger unabhängig von dessen Steuerleistung und schafft deshalb bewußt Distanz

Besteuerung und Eigentum

zwischen Steuerzahler Leistungsvermögen.

und steuerabhängigem

IV. Die gesetzliche Ausgestaltung tümerrechte

283

staatlichen

der besteuerbaren Eigen-

12. Das Steuerrecht bildet in den Steuergegenständen eigenständig konkrete Eigentumsrechtspositionen, die dem Staat begrenzten Zugriff, dem Eigentümer objektbezogene Gegenwehr erlauben. Soweit Steuerrecht fremde Begriffe (z. B. des Währungsrechts) übernimmt, muß es eine Entwicklung des rezipierten Rechts inhaltlich nachvollziehen. 13. Die Eigentümerfreiheit berechtigt zu steuerplanenden Sachverhaltsgestaltungen aufgrund der Handlungsvollmachten des Privatrechts und des Rechts mitwirkungsbedürftigen Verwaltens. Auch das Privatrecht ist insoweit eine das Steuerrecht ergänzende Regelung im Vorbehaltsbereich des Art. 14 GG. Das Problem des sog. ,,Rechtsmißbrauchs" beruht nicht auf fehlerhafter Ausübung zu großzügiger Gestaltungsfreiheiten, sondern auf einer Steuerrechtspraxis, die den Beweiswert privatrechtlicher Erklärungszeichen überschätzt. 14. Das Eigentümerrecht auf individuelle Eigentumsgestaltung ist durch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums überlagert, die an das Objekt „Eigentum" sozialtypische Erwartungen knüpft. Der Steuergesetzgeber darf weitere typisierende Regelungen treffen, wenn er in Respekt vor der Privatheit des Eigentums nur offenkundige, mithin vereinfachte Eigentumslagen belastet oder wenn er für die Massenbesteuerung verwaltungsökonomische Tatbestände wählt. V. Das Privateigentum

als Leitprinzip des

15. Die Eigentumsgarantie fordert eine am zen teilnehmende Eigentümersteuer.

Steuerrechts Eigentumsnut-

a) Art und Intensität der Steuerlast sind auf die vom Eigentümer bestimmte Eigentumslage — den Eigentumszuwachs, den ertragsfähigen Eigentumsbestand und die Eigentumsverwendung — abzustimmen (vgl. Anlage 1). b) Der eigentumsrechtliche Gleichheitssatz skizziert die vom Steuergesetzgeber zu treffende Auswahl der Steuergegenstände in groben Konturen, bindet das Steuersubjekt an den Tatbestand der Eigentümerfreiheit, fordert eine folgerichtige („steuersystemgerechte") Definition der Bernes-

284

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sungsgrundlagen und beläßt dem Gesetzgeber bei der Entscheidung über den Steuersatz einen erheblichen Entscheidung s Spielraum (vgl. Anlage 2).

Anlage 1 Die Grundsatzaussagen der Eigentumsgarantie zu den Steuerarten a) Besteuerung des Einkommens (durch die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer, die Gewerbeertragsteuer, die Kirchensteuer): Belastung des periodischen Zuwachses an Eigentum; Angemessenheit je nach Privatnützigkeit des Eigentumszuwachses; Gleichheit nach persönlichen (periodischen) Verhältnissen; mitwirkungsbedürftige Steuerermittlung. b) Besteuerung des Eigentumsbestandes (durch die Vermögensteuer, die Grundsteuer, die Gewerbekapitalsteuer, die Aufwandsteuern): Belastbarkeit der erwarteten (Soll)Erträge eines Eigentums; Angemessenheit je nach unterstelltem Mindestgebrauch (These von der Anrechenbarkeit bei den Einkommensteuern); Gleichheit nach Ertragsfähigkeit; Ermittlung eines objektiven Bestandes. c) Besteuerung der Eigentumsverwendung (durch die Umsatzsteuer, die Verkehrsteuern, die Verbrauchsteuern und die Zölle): Belastung eines in den Marktverkehr gebrachten, freiwillig einer Neubewertung unterworfenen Gutes; Angemessenheit nach Überwälzbarkeit auf den (anonymen) Durchschnittsnachfrager; Gleichheit nach Produkten; Ermittlung marktoffenbarer Vorgänge. d) Die Erbschaftsteuer (gebunden im Sondertatbestand des Art. 14 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. GG).

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