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German Pages [387] Year 2021
Christiane Reinecke
Die Ungleichheit der Städte Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Christina Morina, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Kiran Klaus Patel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)
Band 242
Christiane Reinecke
Die Ungleichheit der Städte Urbane Problemzonen im postkolonialen Frankreich und der Bundesrepublik
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Sprengung von Hochhaustürmen in der französischen Großsiedlung Les Minguettes in Vénissieux, Oktober 1994. Foto von Anne-Sophie Clémençon, Fonds Anne-Sophie Clémençon, Photothèque de la Bibliothèque Diderot de Lyon. Ich danke Anne-Sophie Clémençon für die Erlaubnis, ihr Foto für das Cover verwenden zu dürfen. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-31730-9
Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Badlands: Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung und Neujustierung . . . . . . . . . . . . b) Für eine Raum- und Wissensgeschichte sozialer Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das »soziale Projekt« der städtebaulichen Moderne, transnational . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die neue Normalität des modernen Wohnens und ihre Ein- und Ausschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1 Das Projekt der Modernisierung der Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Barackenlager Noisy-le-Grand und die Neuentdeckung urbaner Armut in der humanitären Hilfe und den Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Noisy-le-Grand, ATD Quart Monde und die Wohnungskrisen der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auflösung der Barackenlager und die Klassifikation ihrer Bewohnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 »Modern zu leben, das muss man lernen«. Die postkoloniale Politik der »Adaptation« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Orte der Rückständigkeit: Die bidonvilles zwischen Kolonie und Metropole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchmischen oder separieren: Unterschiedliche Modelle der Erziehung zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ces gens-là – Diese Leute da. Zu den Effekten der Separierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Räume der Disziplinierung, Räume der Aktivierung: Obdachlosensiedlungen in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . a) Zwischen Ent- und Remoralisierung: Obdachlosigkeit und Wohnpolitik in den 1950er bis 1970er Jahren . . . . . . . . . . b) Grenzen der Eingliederungsfähigkeit: Das 3-Stufen-System zur »sozialen Hebung« wohnungsloser Familien . . . . . . . . c) »Lernziel Solidarität«: Die Obdachlosensiedlungen am Schnittpunkt von Forschung und Aktivismus . . . . . . . . .
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46 46 63 71 71 80 88 92 92 101 112 5
2.5 Der Abschied von der Disziplinierung und die neue Kategorie der Marginalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normalisierung durch Separierung: Ein Modell in der Kritik b) Eine neue Ungleichheitssemantik und die Soziologisierung der Stadtpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der Disziplinierung zur Aktivierung? . . . . . . . . . . .
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3. Isoliert am Stadtrand. Großsiedlungen und der wehmütige Abschied von der Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3.1 Topographien der Kälte oder die Genese der Großsiedlung als urbane Problemzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Von warmen Arbeiterquartieren und kalten Großsiedlungen: Die Soziologie und ihr langsamer Abschied von der Proletarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kälte und Wärme, Vereinzelung und Solidarität . . . . . . . . b) Beschwörungen eines verschwindenden Milieus: Das »traditionelle Arbeiterquartier« . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Genealogie eines Abstiegs I: Sarcelles und die Einsamkeit der grands ensembles um 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sarcelles und die Aufmerksamkeitsökonomie der Mediengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frauen am Rande der Stadt. Vom »Wahnsinn der grands ensembles« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der Vereinsamung zur Segregation . . . . . . . . . . . . . 3.4 Genealogie eines Abstiegs II: Das Westberliner Märkische Viertel, die Neue Linke und der O-Ton des Arbeiters um 1970 . . a) Ein Erprobungsraum eingreifender Gesellschaftskritik . . . . b) Making up People: Der O-Ton des Arbeiters und die Sprache der Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Hochhaussiedlung als Hort von »Problemfamilien« . . . 3.5 Multiple Entortungen. Neue Grenzziehungen in der modernisierten Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die inneren Trennlinien der fordistischen Gesellschaft und andere Pfadabhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nicht-Orte? Großsiedlungen und die Erfahrung einsamer Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Scripting (Dis)integration. Der Aufstieg des Ghettos und die Ethnisierung urbaner Problemlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.1 Global zirkulierende Narrative, lokale Übersetzungen . . . . . . 227 a) »Ghettoisierung«, »Segregation« und ihre vielen Karrieren im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6
b) Scripting (Dis)integration: Zum Entwurf eines Phasenmodells der Segregation und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Von den Gefahren räumlicher Nähe: Die Erfindung des »Ausländerghettos« in der westdeutschen Stadtpolitik und Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Topographien des migrantischen Wohnens . . . . . . . . . . . b) Die Erfindung des »Ausländerghettos«. Karriere einer Problembeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konzentration = Desintegration: Der »Ausländeranteil« als Problemfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Eine Frage des richtigen Verhältnisses. Schwellen, Quoten und wohnpolitische Ordnungsbemühungen . . . . . . . . . . . . a) »Seuil de tolérance«: Karriere einer pseudowissenschaftlichen Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Politik der Integration durch Verteilung in westdeutschen Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Postkoloniale Grenzziehungen? Vergleichende Überlegungen 4.4 banlieues à problèmes: Die Hyperlokalisierung der sozialen Frage in Frankreich zwischen question sociale und question raciale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Locating Race. Das Ghetto als (sub)kulturelle Ressource und gefährlicher Raum in den 1990er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Reaktivierung von »Race« als Identitäts- und Beschreibungskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die urbanen Unruhen der Bevölkerung und die Unruhen der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Gesetz des Ghettos und die Verräumlichung der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Draußen sein. Der Raum der Gesellschaft und das Gespenst der Exklusion im ausgehenden 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 323 a) Drinnen oder draußen: Eine neue Masterdifferenz . . . . . . 323 b) Von der »sozialen Frage« zur »question raciale«? . . . . . . . . 331 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 7
1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgewertete Filme und Fernsehsendungen . . . . . . . . . . . . . 4. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
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1. Einleitung
a) Badlands: Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung und Neujustierung »Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muss immer die Zeit wissen (und wer kann sie noch nach dem Stand der Sonne errechnen?), doch man fragt sich nie, wo man ist. […] Dabei müsste man sich von Zeit zu Zeit fragen, wo man ist: eine Zwischenbilanz ziehen: nicht nur über seine Seelenzustände, über seine Gesundheit, seine Ambitionen, seinen Glauben und seine Seinsberechtigung, sondern vor allem über den topographischen Stand […].« G. Perec, Träume von Räumen, Zürich 2013 [1974], S. 142 f.1
Es ist die Frage, ob der französische Schriftsteller Georges Perec Recht hatte, als er 1974 erklärte, seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen befassten sich nie damit, wo sie seien. Ebenso fraglich ist, ob eine solche Beobachtung heute noch so zuträfe wie damals. Angesichts der Häufigkeit, mit der Telefonierende ihre Handygespräche darüber einleiten, wo sie sich gerade befinden und angesichts der Vielfalt an Blogs, in denen die Autorinnen und Autoren sich selbst und ihr Leben anhand ihrer Lofts, Häuser, Quartiere oder Hoods präsentieren, ist eher zu vermuten, dass die Frage nach dem Wo als Technik individueller Selbstvergewisserung massiv an Bedeutung gewonnen hat. Perec selbst stellte allerdings bereits in den 1970er Jahren alles Mögliche an, um sich seines »topographischen Stands« zu versichern. Er setzte sich drei Tage lang an einen öffentlichen Platz in Paris und notierte alles, was er sah.2 Er nahm ein Pariser Mietshaus, öffnete es wie eine Sardinendose und beschrieb Wohnung für Wohnung, Raum für Raum, wer darin lebte und was darin passierte.3 Er inventarisierte sein Schlafzimmer,
1 Der Titel der 1974 erschienen französischen Originalausgabe des Buchs von Georges Perec war »espèces d’espaces«, also eigentlich: »Raumarten«. 2 Ders., Versuch. 3 Ders., La vie. Siehe auch dessen Skizze eines Romanentwurfs in ders., Träume, S. 69–74.
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philosophierte über den Nutzen von Türen und Treppen und plante, Paris zu durchqueren, ohne dabei durch Straßen zu kommen, die mit dem Buchstaben C anfingen.4 Darüber hinaus gab er seinen Leserinnen und Lesern praktische Übungen an die Hand, die es ihnen ermöglichen sollten, topographisch versierter aufzutreten. Er empfahl, die eigenen Nachbarn zu besuchen und in einer beliebigen Straße Leute, Läden, Kneipen und Verkehrsmittel zu beobachten. Er schlug vor, mit den Längenmaßen zu spielen und sich wieder an »Fuß« oder »Meile« zu gewöhnen, und er legte seinen Lesern nahe, eine Reise vorzubereiten, die es ihnen erlaubte, alle Orte zu besichtigen, die sich 314,60 Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt befänden.5 Das leidenschaftliche Interesse, das Perec für (urbane) Räume und deren fundamentale Veränderlichkeit hegte, teilte er in den 1960er und 1970er Jahren mit einer auffallend großen Zahl an französischen Intellektuellen. Die Unveränderlichkeit von »Raum« stand in dieser Zeit zunehmend in Frage, und die zeitgenössischen Beobachterinnen und Beobachter des Sozialen entwickelten eine Vielzahl von Techniken, um räumliche Verhältnisse zu fixieren oder um sie im Gegenteil zu verändern.6 Verschiedene Erfahrungen leiteten diese Hinwendung zum porösen Räumlichen an: Die politischen Geographien hatten sich im Kontext des Kalten Kriegs verschoben. Hinzu kam die Erfahrung der De kolonisation, die einen umfassenden Wandel in den Bezugsräumen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung mit sich brachte. Außerdem veränderten sich die alltäglichen Lebenswelten grundlegend, vorangetrieben durch die Urbanisierung und die Modernisierung des Wohnens seit den 1950er Jahren. Im westeuropäischen Fall eng mit Großprojekten des Sozialen Wohnungsbaus verknüpft, transformierte die Modernisierung der Städte die gesellschaftliche Landschaft nachhaltig. Wie historische Akteure über die räumliche Dimension ihres näheren oder ferneren sozialen Umfelds dachten, war eben spezifisch für den zeitlichen und kulturellen Kontext, in dem sie sich bewegten. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind Perecs Raumspiele daher doppelt relevant: als Zeichen ihrer Zeit und als Vorbild für die eigene Analyse. Denn gerade die deutsche Zeitgeschichte hat dem Wo gesellschaftlicher Transformationen bis dato wenig Beachtung geschenkt.7 Dabei lebte im 20. Jahrhundert infolge der fortschreitenden Urbanisierung erstmals der Großteil der europäischen Bevölkerung in
4 Ebd., S. 197. 5 Ebd., S. 145. 6 Perec selbst stellte explizit eine Verbindung her zwischen seinen Versuchen der schreibenden Fixierung von Räumen und der Erfahrung von deren Verlust. Ebd., S. 155. 7 Zu der Aufforderung, sich in der Geschichtswissenschaft stärker dem Wo historischer Erfahrungen zuzuwenden, siehe auch Gunn; Jerram, S. 4; Schott; Schildt, Sozialgeschichte. Zum, ungeachtet des viel zitierten spatial turn, Mangel an historischen Raum-Untersuchungen vgl. zudem Dipper u. Raphael. Für die Soziologie gilt das weniger. Vgl. etwa die Beiträge in Löw, Differenzierungen; dies., Soziologie der Städte; Kessl; Schroer; Fischer.
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Städten.8 Überhaupt waren Wohnen, Konsumieren und Arbeiten, waren Singledasein, Familien- und Sozialleben verortet und in sich wandelnde Räumlichkeiten eingelassen. Sie waren in ihren Transformationen eng mit den Städten und Dörfern, Straßen und Quartieren verflochten, in denen sie stattfanden. Dass die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen immer wieder konkrete Orte besuchten, um sich ein Bild von der Gesellschaft, von ihren inneren Grenzziehungen und sozialen Problemen zu machen, ist da nur konsequent. Ob in den Sozialwissenschaften, den Medien oder der Politik: Oft genug zogen die historischen Akteure konkrete räumliche Situationen heran, um auf drängende Problemlagen und gesellschaftliche Konfliktlinien aufmerksam zu machen. Um das abstrakte Gebilde »Gesellschaft« in den Griff zu bekommen, braucht es eben immer wieder der Anschaulichkeit, der Bilder und Beschreibungen von konkreten Lebenswelten. Urbane Räume waren daher nicht nur Schauplätze des Aufeinandertreffens sozialer (kultureller, ethnischer, religiöser) Unterschiede. Sie waren auch zentrale Arenen der Produktion von Wissen über Differenz und Gesellschaft. Umso ergiebiger ist es, sich auch in der Geschichtswissenschaft zu fragen, wo wer gerade ist, wofür welcher Raum steht, und wie es dazu kam. Ob direkt nach den Attentaten auf die Redaktion der Zeitschrift »Charlie Hebdo« oder ob nach den Pariser Terroranschlägen vom November 2015: Es ist auffallend, wie unmittelbar aus- und inländische Journalistinnen und Journalisten sich bei ihrer Suche nach Ursachen den französischen Vorstädten zuwandten. Um sich ein Bild vom Zustand der französischen Gesellschaft zu machen, fuhren die einen wie die anderen in die Großsiedlungen, in denen einzelne Terroristen gewohnt hatten. Oft sehr unterschiedliche Lokalitäten und Lebenssituationen verschwammen dabei zu einem scheinbar einheitlichen Raum: der banlieue. Dass »die banlieue« so nicht existiert, sondern die Peripherie französischer Großstädte sich aus äußerst unterschiedlichen Orten zusammensetzt, trat in den Hintergrund. Tatsächlich haben die französischen Vorstadtsiedlungen sich seit ihrer Entstehung zu einer Art multiplem Krisenraum entwickelt. Sie sind zu beliebten Anschauungssorten für ganz unterschiedliche Problemszenarien geworden, zu denen ein scheiternder Sozialer Wohnungsbau ebenso gehört wie eine wachsende Ungleichheit oder eine an ihrer eigenen Diversität leidende, globalisierte Gesellschaft. In jedem Fall ist der soziale Ruf der peripheren Großsiedlungen derart gefestigt, dass sich viele Akteure dort hinbegeben, wenn sie sich ein Bild von den Problemen ihrer Gegenwart machen wollen. Sie üben auf die zeitgenössischen Beobachterinnen und Beobachter damit eine ganz ähnliche Faszination aus, wie es die als »Slums« titulierten Armutsviertel von London oder New York
8 Innerhalb Europas variierte, wann dieser Punkt erreicht war: In Großbritannien und Deutschland verschob sich das Verhältnis von ländlicher zu urbaner Bevölkerung beispielsweise deutlich früher als in Frankreich, wo der Urbanisierungsgrad zu Ende des Zweiten Weltkriegs bei gut fünfzig Prozent lag. Burgel, S. 33 ff.
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um 1890 taten. Auch sie zogen Akteure an, die die sozialen Probleme ihrer Zeit beobachten, sie scheinbar authentisch erleben oder Strategien zu deren Ein hegung entwickeln wollten.9 Liest man Geschichten über Formen des Slumming im ausgehenden 19. Jahrhundert, gewähren sie einem Einblick in eine ganze Epoche: Schließlich interessierten sich die damaligen Besucher urbaner Badlands nicht nur für das industriegesellschaftliche Proletariat und die Herausbildung einer neuen sozialen Frage, sondern sie waren in ihrem Umgang mit den städtischen Slums auch von imperialen Formationen geprägt, von zeitgenössischen Hygienediskursen und einem bürgerlichen Verständnis von Sozialreform.10 Umso mehr stellt sich die Frage, welche Räume den westeuropäischen Gesellschaften im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert als Gegen- und Anschauungsräume dienten. In welche Räume zog es die Beobachterinnen und Beobachter der urbanisierten Gesellschaften der post-1950er Jahre? Welche Probleme und Bevölkerungen suchten und fanden sie dort – und was sagt das aus über den Wandel der sozialen Ordnung im Zeichen von Dekolonisation, urbaner Modernisierung und Deindustrialisierung? Um diese Fragen geht es in der folgenden Studie. Denn sie erlauben es, sich den umfassenden gesellschaftlichen Transformationen des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts – dem Abschied von der Klassengesellschaft, der Pluralisierung sozialer Milieus, der ethnischen Diversifizierung der westeuropäischen Gesellschaften – auf eine neue Weise zu nähern; und zwar ausgehend von den Wissensbeständen und Räumen, auf die die Zeitgenossen zu deren Einordnung zurückgriffen. Die folgende Studie ist so als eine Kultur- und Raumgeschichte des Sozialen angelegt.11 Die »Metamorphosen der sozialen Frage« werden darin in einer sich wandelnden Landschaft lokalisiert und sie werden als Teil der urbanisierten Erfahrungswelt analysiert, in denen die historischen Akteure sich und andere sozial verorteten.12 Derart im Nahraum Stadt verhaftet, entsteht eine andere, eine neue Erzählung sozialer Ungleichheit. Es entsteht eine Erzählung, die davon handelt, wie sich permanent ändert, was überhaupt unter Ungleichheit und urbanen Problemen verstanden wird. Und es entsteht eine Erzählung, die situativ und praxeologisch nachzuvollziehen versucht, wie »Gesellschaft«
9 Siehe als Beispiele für diese Faszination u. a. Mearns; Booth; Riis. Zu den eng mit Urbanisierungsdynamiken verknüpften schlechten Wohnbedingungen in den Großstädten dieser Zeit vgl. Hall, Cities, S. 13–47; Lenger, S. 108–148. Zur Geschichte des »Slumming« (der Ausflüge höherer Schichten in als faszinierend anders wahrgenommene migrantische, arme oder queere urbane Räume) vgl. u. a. Koven. 10 Zur Auseinandersetzung mit der entstehenden Stadtsoziologie siehe in diesem Zusammenhang zudem Lindner; Topalov, Histoires. Zur Geschichte der bürgerlichen Sozialreform siehe Gräser. 11 Für eine »Kulturgeschichte des Sozialen«, die die »Repräsentationen« in den Vordergrund stellt, die »Gesellschaften von sich selbst und für sich selbst entwerfen« wirbt auch Landwehr, S. 73. Siehe für einen solchen Ansatz auch Nolte, Ordnung. 12 Castel.
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als abgrenzbare Größe hervorgebracht, und wie Unterschiede darin stabil und relevant gemacht wurden. Genau genommen entsteht eine Erzählung, in deren Zentrum der Übergang von stärker klassenbasierten zu ethnisierten und Racebasierten Grenzziehungen in den postkolonialen europäischen Stadtgesellschaften des späten 20. Jahrhunderts steht. Um zu verstehen, wie sich der Umgang mit Ungleichheiten im urbanen Wohnen wandelte, wendet sich die vorliegende Untersuchung dem Wissen über soziale Brennpunkte, Hotspots, sensible Quartiere oder Ghettos zu.13 Anhand der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Großsiedlungen, peripheren Barackensiedlungen und sogenannten Ausländervierteln diskutiert sie, wie und warum bestimmte Wohn- und Lebensverhältnisse zu einem Problem wurden, das Aufmerksamkeit erregte, Diskussionen hervorrief und in neuen Verhaltensweisen, Politiken und Praktiken mündete.14 Dass die Ungleichheit der Städte hier ausgehend von ihrer Problematisierung und Skandalisierung analysiert wird, heißt nicht, dass urbanen Ungleichheiten ihre soziale Realität abgesprochen werden soll. Im Gegenteil, die Problemlagen, um die es im Folgenden geht, sind in der Regel sehr real. Doch reflektiert die bisherige (historische wie soziologische) Ungleichheitsforschung zu wenig, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit immer wieder Realitätseffekte zeitigte. Wie zwischen den 1950er und späten 1990er Jahren über urbane Problemlagen gesprochen, wie sie eingeordnet und dargestellt wurden, beeinflusste aber die in Reaktion darauf ergriffenen Wohn- und Sozialpolitiken. Es beeinflusste, wie sich Menschen zu sich und ihrer Wohnumgebung verhielten, und es beeinflusste die weitere Entwicklung städtischer Immobilienmärkte und Wohnweisen. Anders ausgedrückt ist der Wandel der urbanen Realitäten nicht zu verstehen ohne einzubeziehen, wie diese Realitäten gerahmt und gedeutet wurden und wie diese Rahmungen und Deutungen wiederum selbst Realitäten schufen. Das gilt umso mehr, als die Herstellung sozialer Probleme – die Designation schlechter Viertel, die Warnung vor urbaner Armut, Segregation und Marginalisierung – selbst einen höchst realen, an konkrete Räume, Situationen und Erfahrungen gebundenen Prozess darstellte. Die folgende Geschichte der Skandalisierung urbaner Räume und Wohnverhältnisse ist daher auch eine Geschichte konkreter Schauplätze und Akteure. Ob humanitäre Organisationen oder revolutionsbereite Aktivisten, ob Kommunalpolitiker, Journalisten, Soziologen oder die Bewohnerinnen und Bewohner selbst: Die Bandbreite derer, die urbane Problemzonen zu Experimentierfeldern für ihre Projekte der Beobachtung, der Disziplinierung oder Aktivierung machten, ist groß. Dasselbe gilt für die verschiedenen schlechten Viertel, um die es im Folgenden geht.
13 Zur Historisierung der Herstellung von »sozialem Wissen« siehe Camic u. a.; Joyce; Savage. 14 Zu diesem Verständnis von »Problematisierung« siehe auch Foucault, Diskurs und Wahrheit, S. 78, 178.
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Während das Ereignis gerne als zeitliche Mikroeinheit der historischen Analyse gehandelt wird, gehören Nachbarschaften, Viertel oder Quartiere zu den räumlichen Kleineinheiten des historischen Geschehens.15 Sie bestimmten den Alltag mal mehr, mal weniger. Allerdings erlangten bestimmte Lokalitäten zu bestimmten Zeiten eine herausgehobene Bedeutung, indem die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sie aus der übrigen Landschaft herauslösten, sie als Bruch mit dem Üblichen, als besonders andere oder besonders beispielhafte Räume betrachteten. Von solchen Quartieren geht die vorliegende Studie aus. Sie vollzieht nach, wie hoch medialisierte und durchforschte Quartiere wie das Westberliner Märkische Viertel um 1970 oder die Lyoner Großsiedlung Les Minguettes um 1980 zu wichtigen Raumereignissen wurden, zu vordringlichen Schauplätzen der Beobachtung von und Arbeit an urbanen Konfliktlagen. Das Barackenlager Noisy-le-Grand bei Paris, die sogenannten Waldhof-Baracken in Mannheim, die drei Großsiedlungen Sarcelles, Les Minguettes und das Märkische Viertel sowie schließlich Münchens innerstädtische Sanierungsviertel: Sie dienen als Ausgangspunkte, um sich mit dem Wandel urbaner Problemlagen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu befassen. Urbane Problemzonen oder Badlands, das sind also Räume, die in der französischen und westdeutschen Gesellschaft jeweils als Gegenräume gekennzeichnet wurden; als Räume, in denen Verhältnisse herrschten, die von der gedachten Norm abwichen. Der Geograph Kevin Hetherington definiert Badlands in seinen an Foucault orientierten Betrachtungen »anderer Räume« als »places of an alternate ordering«.16 Es sind Orte, die als abweichende Orte gelten, was sie aber auch, wie Hetherington gleichfalls hervorhebt, zu Orten macht, von denen eine besondere Anziehungskraft ausgeht.17 Die Anders- oder Abseitigkeit dieser Orte ist immer auch hergestellt. Denn tatsächlich waren urbane Problemzonen im 20. Jahrhundert stets auch das Ergebnis wechselnder Deutungen und Politiken. Welche Wohnverhältnisse als normal und welche als problematisch galten, hing davon ab, wo wer wohnte und wie sich urbane Immobilien- und Arbeitsmärkte änderten, aber auch davon, was jeweils als gut und normal, ungerecht oder gefährlich galt und wer die Deutungshoheit über das Normale, Gerechte und Ungerechte besaß. Mit etwas Glück führt die Suche nach den Badlands des späten 20. Jahrhunderts damit in den Kern gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse. Sie führt zu den Wissensbeständen, Praktiken und Akteuren,
15 Zum Ereignisbegriff siehe Sewell, v. a. S. 225 ff. Die »Nachbarschaft« war in der modernen Stadtplanung selbst eine zentrale Planungseinheit; die Grenzen zwischen Vierteln, Quartieren oder Nachbarschaften sind in stadthistorischen Analysen aber eher fließend. Zu dem Versuch, Nachbarschaft anthropologisch als Ergebnis sozialräumlicher Praktiken zu bestimmen, siehe indes de Certeau u. a., The Practice, S. 7–14. 16 Hetherington, S. viii. Auch Mustafa Dikeç spricht im Titel seiner Studie zu den französischen Vorstadtsiedlungen von »badlands«, definiert den Begriff aber nicht weiter. Dikeç. 17 Das erinnert an Michel Foucaults Definition heterotoper Orte, die »anders sind als die übrigen Orte«. Foucault, Die Heterotopien, S. 10.
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moralischen Paniken und Appellen, die jeweils beeinflussten, was im urbanen Zusammenleben problematisch war und was nicht.18 Derzeit binden sich gerade an Großstädte nicht nur umfassende Hoffnungen auf ein Zusammenleben in der Diversität, sondern auch umfassende Ängste vor einer Fragmentierung der Gesellschaft.19 Während die einen darin kosmopolitische Räume sehen, in denen Pluralität erfahren wird, warnen die anderen vor Polarisierung und Desintegration. Neu sind die aktuellen Evokationen einer Krise des Urbanen, die zugleich als Krise der Gesellschaft verstanden wird, allerdings nicht. Sie stehen in einer langen Tradition der Beschwörung einer auseinanderbrechenden »Integrationsmaschine Stadt«.20 Schließlich warnten Beobachterinnen und Beobachter des Sozialen im 20. Jahrhundert immer wieder vor einem Auseinanderdriften der Gesellschaft. Die Spannung zwischen der Vorstellung von der einen Gesellschaft auf der einen und der Diversität individueller Bedürfnisse und Lebensstile auf der anderen Seite gehört zu den grundlegenden Erfahrungen des langen 20. Jahrhunderts. Sie ist Teil jener Differenzierungsund Individualisierungsprozesse, die gemeinhin mit dem Begriff der Moderne umschrieben werden. Wie zusammenleben, diese Frage stellte sich für viele Zeitgenossinnen und -genossen schließlich vermehrt, nachdem traditionelle Wertsetzungsinstanzen wie die Kirchen an Autorität verloren, während Urbanisierung, Globalisierung und die Ausweitung des Massenkonsums neue Bezüge für die individuelle Verortung in gesellschaftlichen Zusammenhängen schufen. Städten als einer spezifischen Form, Raum gesellschaftlich zu organisieren, kam für diese Prozesse eine vordringliche Bedeutung zu. Zwar ist es mittlerweile infolge der fortgeschrittenen Urbanisierung schwerer geworden, Städtisches von Nicht-Städtischem abzugrenzen. Dennoch gelten Städte, und zumal Großstädte, auch im frühen 21. Jahrhundert noch als vornehmliche Austragungsorte sozialer Konflikte, in denen sich das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Lebensweisen verdichtet beobachten lässt.21 In der aktuellen Stadtfaszination drückt sich
18 Zu dem Versuch, die normativen Ansprüche, die an wohlfahrtsstaatliche Arrangements gestellt werden, mit Hilfe des Konzepts der »moral economy« zu fassen, vgl. Mau, sowie überhaupt zur produktiven Neuwendung des Konzepts Fassin, Les économies. Für eine anregende Diskussion der Bedeutung von moralischen Leidenschaften für die Formierung der westdeutschen Demokratie siehe zudem van Rahden; zur Bedeutung von Moralität als »politischer Ressource« vgl. Eckel. 19 Die in der deutschen Stadtsoziologie in den 1990er Jahren intensiv diskutierte Frage, ob die »Integrationsmaschine Stadt« scheitere oder die »multikulturelle Stadt« zu einem »Erfolgsmodell« werde, ist für dieses Schwanken zwischen Zerfallsdenken und Hoffnung ein gutes Beispiel. Siehe etwa Bukow bzw. zur zweifelnden Sicht Heitmeyer. Als Beispiel einer aktuell eher hoffnungsvollen Sicht siehe Yıldız, Die weltoffene Stadt. 20 Die Rede von der »Integrationsmaschine Stadt« geht maßgeblich auf den Stadtsoziologen Hartmut Häußermann zurück. Häußermann, Die Stadt, S. 96. 21 Zierenberg. Für eine Historisierung des urbanen Imaginären siehe zudem Lees. Zur Bedeutung urbaner Räume für aktuelle Ungleichheits- und Armutsdebatten vgl. etwa die Beiträge in Häußermann u. a., An den Rändern.
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zudem die »globalitätsbewusste Kultur unserer Gegenwart« aus,22 die in erster Linie auf metropolitane Räume schaut, um zu verstehen, wie Lokales und Globales sich zueinander verhalten und welche Effekte globalisierte Austauschprozesse und Strukturen zeitigen.23 Vor diesem Hintergrund ist wenig überraschend, dass über die Probleme einer auseinanderstrebenden, zu ungleichen oder zu ungerechten Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert immer wieder anhand großstädtischer Räume diskutiert wurde. Zugleich waren Städte im langen 20. Jahrhundert stets auch Schauplätze der Arbeit an Gesellschaft. Im Namen der Moderne wurde immer wieder ordnend in den urbanen Raum eingegriffen, um auf diese Weise andere gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen.24 Architekten und Stadtplaner trieben nach dem Ersten Weltkrieg den Glauben an die fundamentale Gestaltbarkeit von Gesellschaft besonders konsequent voran. Beeinflusst von einer internationalen Planungsbewegung, die im Namen der Moderne Stadt und Gesellschaft tiefgreifend veränderte, waren sie wichtige Protagonisten sozialtechnologischer Modernisierungsprojekte.25 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trug zu diesem Einfluss bei, dass die Schaffung besserer Wohnverhältnisse für alle ein zentrales politisches Versprechen darstellte. Auf den Wohnungsmangel nach Ende des Kriegs reagierten viele Regierungen in Europa mit einer umfassenden Politik des Sozialen Wohnungsbaus und der Neustrukturierung urbaner Räume.26 Diese Neuordnung des urbanen Raums war mit umfassenden Erwartungen an eine homogenere, im Komfort geeinte Gesellschaft verbunden.27 Nicht alle erfüllten sich. Schließlich brachte die Modernisierung der Städte neue Formen der Segregation, Privilegierung und Benachteiligung hervor. Und das Projekt einer umfassenden Modernisierung des Wohnens geriet (wenngleich in sozialistischen Staaten wie der DDR deutlich langsamer) vielerorts in Verruf. Die Entwicklung urbaner Problemzonen ist im fortgeschrittenen 20. und 21. Jahrhundert jedenfalls nicht zu verstehen, ohne die modernistische Neuordnung der Städte und die transnationale Geschichte ihres Auf- und Abstiegs 22 Zierenberg. 23 Zur gegenseitigen Herstellung von Lokalem und Globalem siehe in diesem Zusammenhang die globalisierungs- und raumtheoretischen Überlegungen bei Berking, Raumtheoretische Paradoxien. 24 Siehe etwa Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft; Urban; oder mit Blick auf das »Projekt der Segregation« aus einer globalhistorischen Sicht Nightingale, Divided. 25 Ebd. Zum Dispositiv des social engineering siehe Etzemüller, S. 30. Zur internationalen Geschichte von Stadtpolitiken allgemein siehe Rodgers; Saunier u. Ewen. Für eine ideen- und organisationshistorische Analyse speziell des internationalen Projekts der funktionalistischen Moderne vgl. Mumford; Hall, Cities; Wakeman, Practicing Utopia; sowie zur transnationalen Geschichte des Abschieds von der modernistischen »urban renewal order« Klemek. 26 Zur Geschichte des modernistischen Massenwohnens in Mittel- und Osteuropa siehe die Beiträge in Moravánszky, siehe zudem vergleichend Sammartino; sowie aus einer globalhistorischen Perspektive Urban; Dufaux u. Fourcaut. 27 Zu diesen Erwartungen siehe u. a., hier mit Blick auf Frankreich Cupers, The Social; Rudolph.
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einzubeziehen. Um zu analysieren, auf welche Weise das internationale Projekt der urbanen Moderne sich auf die lokale Entwicklung urbaner Problemlagen auswirkte, geht die folgende Analyse dabei von französischen und westdeutschen Fallbeispielen aus. Sie konzentriert sich also auf zwei Gesellschaften, die sich selbst nach dem Zweiten Weltkrieg als moderne westliche Wohlstands gesellschaften beschrieben. Und zwar auch, um zu zeigen, wie das historisch weit zurückreichende Projekt der westlichen Moderne, »Modell und Maßstab für ›den Rest‹ zu sein«, deren Umgang mit Differenzen im urbanen Wohnen nachhaltig beeinflusste.28 Es gehört zu den zentralen Annahmen der postkolonialen Theorie, dass koloniale Machtverhältnisse über das formale Ende kolonialer Herrschaft und den eigentlichen Raum der Kolonien hinaus wirksam blieben. Mit dem »post« in »postkolonial« meinen deren Verfechterinnen oder Verfechter nicht ein zeitliches »danach«, sie meinen ein »noch immer«.29 Sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik wurden im Zeitalter der Dekolonisation Teil einer formal nachkolonialen, de facto aber weiterhin stark von kolonialen Bezügen geprägten Weltordnung.30 Allerdings entstand in Frankreich ein Großteil der für die urbane Nachkriegsordnung relevanten Modernisierungsprojekte zu einer Zeit, in der das französische Empire noch intakt war. Die Topographie und Verwaltung der französischen Städte war dadurch enger mit dem Prozess der Dekolonisation verknüpft, während die bundesdeutsche Stadtpolitik in Teilen in der nationalsozialistischen Zeit wurzelte und darüber hinaus mehr von Logiken der Systemkonkurrenz bestimmt war. Auch war die französische Gesellschaft stärker von kolonialer Migration geprägt. Dennoch greife ich im Folgenden in beiden Fällen im weiteren Sinne postkoloniale Perspektiven auf, zumal mit Blick auf den jeweiligen Umgang mit ethnisierten oder rassifizierten Differenzen. Ich arbeite vor allem für den französischen Fall heraus, wie stark koloniale Verwaltungspraktiken und Kategorien dort urbane Wohn- und Sozialpolitiken anleiteten.31 Doch geht es mir darüber hinaus darum, orientiert an Debatten der 28 Hall, The West. 29 Zu den Problemen mit diesem Begriff siehe v. a. die Überlegungen bei Stoler, die eher von »imperial durabilities« spricht, um auf die Nachhaltigkeit imperialer Formationen zu verweisen. Die postkoloniale kritische Theorie gewann dabei sowohl in Frankreich als auch in der Bundesrepublik vergleichsweise spät an Einfluss. Zur aktuellen Debatte in Deutschland siehe Bechhaus-Gerst u. Zeller Zu der französischen Debatte siehe Mbembe; zu den Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit auf aktuelle Konstellationen Blanchard u. a., Colonial Culture; Blanchard u. a. La fracture coloniale. 30 Zur historische Erforschung der Dekolonisierung allgemein siehe einführend Eckert; Conrad; Kalter u. Rempe; Leonhardt. 31 Diese Gewichtung spiegelt allerdings auch die für den deutschen Fall noch immer schlechtere Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit, zumal in ihren Auswirkungen auf die jüngere Zeitgeschichte und Gegenwart wider. Etwaige Einflüsse kolonialer Experten, Kategorien und Wissensbestände auf die Stadt-, Sozial- und Migrationspolitik der Nachkriegszeit müssten im deutschen Fall eigentlich noch intensiver aufgearbeitet werden als mir das im Rahmen dieser Studie möglich ist.
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Postcolonial Studies die globalen Kontexte, Pfadabhängigkeiten und machtvollen Effekte sozialer Differenzkonstruktionen (wie die zwischen Modernen und Rückständigen, Integrierbaren und Nichtintegrierbaren, Europäern und Nichteuropäern) herauszuarbeiten und ihren Einfluss auf Wohnpolitiken und urbane Realitäten in beiden Ländern nachzuzeichnen. In Frankreich und der Bundesrepublik investierten die Regierungen nach dem Krieg massiv in den Neubau von Wohnungen. Zudem machten beide wirtschaftlich vergleichbare Boom-Erfahrungen, und sowohl in Frankreich als auch in Westdeutschland machte sich der Zuzug einer rasch wachsenden migrantischen Bevölkerung besonders früh in den Städten bemerkbar. Allerdings ist gerade mit Blick auf die französischen Vorstädte wiederholt von einer »Hyper lokalisierung der sozialen Frage« im ausgehenden 20. Jahrhundert die Rede, und tatsächlich gibt es zu der (spätestens seit 1990) hoch medialisierten Problematisierung der banlieues im deutschen Kontext kein wirkliches Pendant.32 Dennoch konturiert die folgende Studie eher Konvergenzen als Unterschiede der westdeutschen und französischen Entwicklung. Sie argumentiert, dass französische und deutsche Akteure den Wandel und die innere Differenzierung beider Gesellschaften auf ähnliche Weise, unter Rückgriff auf die gleichen Semantiken und Narrative zu beschreiben begannen – und sie auf diese Weise ähnlicher machten. Und das, obwohl die französische und westdeutsche Gesellschaft sich auf sehr unterschiedliche Weise als Klassengesellschaften beschrieben und obwohl sie sich in ihrem Nations- und Integrationsverständnis stark voneinander unterschieden. Zwar bezog sich die Wissensproduktion zu urbanen Konflikten meist weiterhin auf national gerahmte Gesellschaften – auf die französische oder die westdeutsche Gesellschaft – sie war aber massiv durch global zirkulierende Praktiken, Semantiken und Daten geprägt, und das hatte Effekte. Dass die westeuropäischen Gesellschaften sich im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert einander annäherten, ist in der Forschung bis dato vor allem als eine Folge von Migration und als Folge wirtschaftlicher und politischer Verflechtungen beschrieben worden: Ihre Annäherung erscheint dann als Folge einer schrittweisen Europäisierung der Wirtschafts-, Sozial- und Migrationspolitik, oder sie erscheint als das Resultat einer Ausweitung globalisierter Standortkonkurrenzen, die die westeuropäischen Sozialstaaten vor ähnliche Herausforderungen stellten.33 Ohne die Relevanz dieser Verflechtungen bestreiten zu wollen, konturiert diese Studie andere Entwicklungen. Im Zusammenhang mit urbanen 32 Fourcaut, Pour en finir, S. 103. 33 Zur zunehmenden gesellschaftlichen Konvergenz zwischen den europäischen Gesellschaften siehe Kaelble, Eine europäische Gesellschaft, u. a. S. 167 f. Zu der These, dass das »gemeinsame Europa sich aus wachsender Angleichung und steigenden Ähnlichkeiten, immer engeren Verflechtungen und gemeinsamen Erfahrungsschätzen« speise, siehe auch Wirsching, Demokratie, S. 8 sowie speziell mit Blick auf die Effekte von Migration SturmMartin, Annäherung. Zu der Frage von Ähnlichkeit und Verschiedenheit innerhalb der europäischen Geschichte vgl. außerdem Mergel, Sehnsucht.
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Problemlagen geht sie den Auswirkungen von urbaner Modernisierung, Dekolonisation und Deindustrialisierung nach und verweist auf die Bedeutung, die dem langsamen Abschied von der Klassengesellschaft und einem veränderten Migrationsgeschehen im urbanen Kontext zukam. Vor allem aber rückt sie den Einfluss in den Blick, den Sozialwissenschaftler, kommunalpolitische Akteure und urbane Aktivisten im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert auf die Deutung urbaner Ungleichheit und deren versuchte Einhegung nahmen. Ihnen und ihren Wissensbeständen und Praktiken folgt die Analyse.34 Sie heftet sich ihnen in verschiedenen notorischen Quartieren an die Fersen und rückt die aktive, interpretative Arbeit in den Mittelpunkt, die die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen verrichteten, um sich und andere in einer sich fundamental wandelnden urbanen Landschaft sozial zu verorten. Auf diese Weise entsteht eine andere, eine urbane Geschichte sozialer Grenzziehungen und Ungleichheitsverhältnisse im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert. b) Für eine Raum- und Wissensgeschichte sozialer Ungleichheit Zu Beginn seiner Analyse der Trente Glorieuses, die Frankreich zwischen 1946 und 1975 erlebte, führte der französische Ökonom Jean Fourastié 1979 zwei Dörfer an: Bei dem einen handele es sich um ein »unterentwickeltes« Dorf jenes Typs, wie es ihn häufig in Südeuropa, Algerien oder Lateinamerika gebe.35 Das andere weise alle Merkmale einer fortgeschrittenen ökonomischen Entwicklung auf. Das »prä-industrielle« Dorf Madère, das Fourastié im Anschluss zeichnete, war stark agrarisch geprägt. 75 % der Berufstätigen waren in der Landwirtschaft tätig, und am Lebensstil der Bevölkerung hatte sich gegenüber dem 19. Jahrhundert wenig geändert.36 Ganz anders das »post-industrielle« Cessac: Im Gegensatz zu Madère mussten die Bewohnerinnen und Bewohner dort nicht mehr den Großteil ihres Geldes für Essen ausgeben. Sie verfügten über modern ausgestattete Haushalte mit Kühlschrank, Waschmaschine und Fernseher.37 Die Mehrheit arbeitete im Dienstleitungssektor. Viele wohnten in neu erbauten Häusern, und die Straßen seien fast ebenso belebt wie die einer großen Stadt. Nur dass, fuhr Fourastié fort, es sich bei Madère und Cessac nicht um zwei Dörfer handele, sondern um ein und dasselbe: das im südwestlichen Frankreich gelegene Douelle im Jahr 1946 und 1975. Den Großteil der »unsichtbaren Revolution«, auf die Fourastié im Untertitel seines Buchs verwies, sah er in diesen »beiden Frankreich«, zwischen denen 34 Zur Methodik, dem Material »zu folgen« siehe die instruktiven Überlegungen bei Dommann, v. a. S. 519–521. 35 Fourastié, S. 11. Siehe hierzu ausführlicher: Reinecke, Die dunkle Seite, v. a. S. 298–303. Von der Verfasserin aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte Passagen sind im Folgenden durchgehend durch den Zusatz (Übers. C. R.) gekennzeichnet. 36 Fourastié, S. 12–15. 37 Ebd., S. 15–20.
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dreißig Jahre lagen, repräsentiert. Fourastié zählte zu einer Generation technokratischer Experten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die für die Nachkriegszeit prägenden Planungspolitiken mit entwarfen.38 Indem sie ihre Arbeit durch eine ausgiebige Veröffentlichungsarbeit begleiteten, wurden diese Experten zu einflussreichen Interpreten der von ihnen selbst angestoßenen Entwicklungen. Fourastié etwa beschwor in seinem populären Essay zu den Trente Glorieuses die Zeit vom Ende des Vichy-Regimes bis zur wirtschaftlichen Krise Mitte der 1970er Jahre als eine Art goldenes Zeitalter: als eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums, der Vollbeschäftigung, Produktivität und Modernisierung, die in der Etablierung einer französischen Massenkonsumgesellschaft mündete und einen bis dahin ungeahnten Wohlstand mit sich brachte. Das stark agrarische Frankreich machte einer wohlhabenderen, gesünderen und sozial weniger ungleichen Industrienation Platz, während, wie Fourastié schrieb, jahrhundertealte Probleme wie das der Armut in den Hintergrund traten.39 Dabei folgte seine Erzählung einem nostalgischen Duktus: Schließlich hob der Ökonom immer wieder hervor, dass die beschriebenen »leichten Jahre« mit der ökonomischen Krise der Mitt-1970er Jahre unwiderruflich ihr Ende gefunden hatten. Dieses nostalgische Narrativ lohnt schon deswegen eine genauere Analyse, weil die weitere Entwicklung der französischen Gesellschaft bis heute über den Bezug auf die Boomjahre analysiert und davon abgegrenzt wird. Mit seiner Beschreibung einer glorreichen Nachkriegszeit, die Mitte der 1970er Jahre endete, prägte Fourastié nachhaltig das Verständnis der jüngeren französischen Geschichte. Anknüpfend an seine Studie bildet die Rede von den Trente Glorieuses ein zentrales Narrativ der französischen Zeitgeschichtsschreibung. Ähnliches gilt für die deutsche Zeitgeschichte. Auch dort werden die 1950er bis 1970er Jahre gerne als sozio-ökonomische Wunderepoche der westdeutschen Geschichte gehandelt, die durch einen Ausbau sozialer Sicherung ebenso gekennzeichnet war wie durch Aufstiegsprozesse und den Zugang wachsender Teile der Bevölkerung zu Komfort und Massenkonsum.40 Obwohl die 1970er Jahre in Frankreich weniger stark als Jahrzehnt des Umbruchs konturiert werden als in der deutschen Forschung, gelten die Jahre um 1973/74 sozio-ökonomisch in beiden Ländern gemeinhin als das Ende einer glücklichen Zeit.41 Die erste Ölkrise wird als Katalysator einer ökonomischen Krise aufgefasst, die ein gebremstes Wachstum, eine wachsende Arbeitslosigkeit und erhöhte Inflation 38 Siehe dazu Gaïti sowie allgemein Chapman, Long Reconstruction. 39 Fourastié, S. 27 f. 40 Zu den wirtschaftlichen Hintergründen des Wirtschaftsbooms in dieser Zeit siehe auch Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 619–628. 41 Speziell zu den 1970er Jahren als Umbruchsphase vgl. allerdings Frank u. a. Zu einer transnationalen, letztlich aber stark an den USA orientierten Deutung der 1970er Jahre als Beginn »unserer Moderne« siehe zudem Chassaigne; für eine stärker auf Globalisierungsprozesse fokussierten Sicht siehe Ferguson.
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nach sich zog und die am Beginn eines tiefgreifenden Wandels von Arbeitswelt und Gesellschaft stand.42 Für die Historisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse im 20. Jahrhundert ist diese Boom-Erzählung insofern zentral, als die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte als die Periode der Einhegung sozialer Unsicherheit schlechthin gelten: Westdeutschland und Frankreich jedenfalls, so wie überhaupt alle westeuropäischen Gesellschaften, wurden sozial gleicher in dieser Zeit. Die soziale und ökonomische Entwicklung seit den 1970er Jahren beschreibt die jüngere Forschung dann wiederum im Modus der Krise: Sie hebt für das letzte Drittel des 20. Jahrhundert auf eine Krise der Industrie- und Lohnarbeitsgesellschaft ab, die im Schatten eines globalisierten Finanzkapitalismus mit einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung einherging.43 Dabei ist die Geschichte sozialer Ungleichheitsverhältnisse bisher, zumal in der deutschen Zeitgeschichte, vornehmlich als eine Geschichte wohlfahrtsstaatlicher Politiken erzählt worden.44 Obwohl Forscherinnen und Forscher sich aktuell verstärkt für die globale Entwicklung von Einkommens- und Vermögensungleichheiten interessieren, wurde über Ungleichheit im Europa des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts bisher meist im nationalen Rahmen nachgedacht.45 Dafür gibt es gute Gründe, denn im Laufe des 20. Jahrhunderts waren es mit der Ausdifferenzierung moderner Wohlfahrtsstaaten maßgeblich nationalstaatliche Sicherungssysteme, die zur Einhegung sozialer Ungleichheit beitrugen. Auch orientieren sich Historikerinnen und Historiker bei ihrer Analyse wohlfahrtsstaatlicher Regime meist an globalen ökonomischen Zäsuren: Die Auflösung des fordistischen Kapitalismus etwa gilt den meisten als eine transnationale Entwicklung. Gleiches kann für die schwindende Bedeutung der klassischen Industrieproduktion gegenüber dem Dienstleistungssektor und eine zunehmend globalisierte Standortkonkurrenz gelten. Dass den betreffen-
42 Zu den Parallelen und Unterschieden im Umgang mit dem Ölpreisschock in verschiedenen westlichen Ländern siehe Miard-Delacroix, S. 55–74; Graf. 43 Jarausch; Doering-Manteuffel u. Raphael; Raithel; sowie auch Wirsching, Deutsche, S. 112 ff. Für einen vergleichenden Blick auf die »Gesellschaftsgeschichte« Westeuropas nach dem Boom siehe v. a. Raphael, Jenseits. 44 Siehe etwa Hockerts, Süß, Armut. Für stärker theoriegeleitete Überlegungen hinsichtlich der Analyse sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit vgl. Mergel, Gleichheit; Torp. Für eine vergleichende – und weniger wohlfahrtsstaatlich ausgerichtete – Analyse der »Images« von Armut in den beiden Deutschland vgl. zudem Lorke, Armut. Vor allem (aber nicht nur) zu Frankreich siehe zudem die ideengeschichtliche Studie des politischen Einflusses wechselnder Gleichheitsvorstellungen bei Rosanvallon. 45 Noch verstärkt durch die große Aufmerksamkeit, die den Thesen des französischen Ökonomen Thomas Piketty in den Medien zu Teil werden, interessieren sich neuerdings wieder mehr Historikerinnen und Historiker auch in Deutschland für Fragen sozialer Ungleichheit. Siehe dazu Lenger u. Süß; Piketty. Zu dem Buch von Piketty vgl. zudem das Review-Symposium unter: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22841?title=reviewsymposium-piketty-das-kapital-im-21-jahrhundert [20.08.2020].
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den Gesellschaften damit jene »normalen Lohnarbeitsverhältnisse« verloren gingen, um die sich der sorgende Wohlfahrtsstaat zuvor gruppiert hatte, war in den westeuropäischen Gesellschaften ein wichtiger sozialpolitischer Umbruchs moment.46 Dem entsprechend beschreibt die Forschung die dortige Entwicklung sozialer Ungleichheit maßgeblich als Geschichte einer vorübergehenden Einhegung sozialer Unsicherheit Mitte des 20. Jahrhunderts, die seit den 1970er Jahren überging in eine Phase der Prekarisierung und steigenden Arbeitslosigkeit, die ihrerseits begleitet war von einem stärker auf Aktivierung als auf Sicherung der oder des Einzelnen ausgerichteten staatlichen Handeln.47 Doch so überzeugend dieses Narrativ in seinen Grundzügen ist, so viele Lücken weist es auf. Die Geschichte von Benachteiligung, Privilegierung und Ausschluss geht nicht auf in der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Politiken und makroökonomischer Zäsuren. Vielmehr ist diese Geschichte in verschiedene Praxiszusammenhänge und Kontexte eingelassen. So spricht viel dafür, dass beispielsweise Vermögensungleichheiten durch andere Praktiken und Entwicklungen stabilisiert wurden als Privilegien im urbanen Wohnen.48 Hinzu kommt, dass der sozio-ökonomische Wandel der Nachkriegszeit auch mit der Dekolonisation und mit Verschiebungen in den westeuropäischen Migrationsregimen verknüpft war.49 Zudem übersieht eine Analyse, die Ungleichheitsverhältnisse allein auf nationalstaatlicher Ebene fasst, wie bedeutsam nahräumliche Verhältnisse für Formen der Benachteiligung und den Umgang damit waren. Überhaupt verdienen die lebensweltliche Dimension und der wahrgenommene Wandel jenseits makroökonomischer Verschiebungen mehr Aufmerksamkeit. Für einige Gruppen deckte sich die erfahrene Veränderung der eigenen Lebenswelt schließlich nicht mit den übergreifenden politischen oder ökonomischen Zäsuren.50 Und das meritokratische Versprechen auf Aufstieg durch Leistung erfüllte sich kaum für alle in gleicher Weise. Bestimmte Disparitäten blieben auch in den 1950er bis 1970er Jahren ungeachtet des beachtlichen wirtschaftlichen Wachstums bestehen und bestimmte Probleme, wie etwa die bis weit in die 1960er Jahre bestehende Wohnungsnot, prägten die Erfahrungsgeschichte 46 Castel. 47 Zur Ablösung des »sorgenden« durch den »aktivierenden« Staat vgl. auch Lessenich. 48 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Überlegungen zur Rolle des Erbens und Vererbens bei van Laak, Was bleibt. Zur Forderung einer stärkeren Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen der Ungleichheit siehe auch Kaelble, Mehr Reichtum. 49 Siehe dazu ausführlicher Kap. 2. 1. 50 So hielt der Wirtschaftshistoriker Jacques Marseille der gängigen Wahrnehmung, dass Mitte der 1970er Jahre in Frankreich eine ökonomische Krise begann, entgegen, dass der Massenkonsum und der durchschnittliche Lebensstandard im Laufe der 1970er und 1980er Jahre weiter gestiegen seien. Marseille. In ähnlicher Weise hat Thomas Piketty mit Blick auf das gerade im französischen Fall beeindruckend hohe Wachstum der Nachkriegsjahre argumentiert, dass die Trente Glorieuses eine Ausnahme und das in den 1970er Jahre wieder einsetzende gebremste Wachstum die Rückkehr zur Normalität darstellten. Zudem sei ein Wachstum von 1 % oder 2 % weiterhin beachtlich. Piketty.
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vieler nachhaltig.51 Vor allem aber wandelte sich im 20. Jahrhundert permanent, was zeitgenössische Akteure unter sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Konfliktlinien verstanden oder was sie als »soziale Probleme« rahmten.52 Was »das Soziale« ist und was »sozial« als Adjektiv bezeichnet, gilt aktuell vermehrt als offene Frage. Denn die Kritik, dass die Geschichtswissenschaft es lange unterlassen hat zu problematisieren, was Begriffe wie »das Soziale«, »die Klasse«, »Rasse« oder »Gesellschaft« jeweils meinten oder meinen, ist durchaus berechtigt.53 Schließlich variierte je nach historischem Kontext, auf welche Weise Gesellschaften geordnet, gedacht und beschrieben wurden, und es hing von dem Repertoire an Bildern und Kategorien ab, das den historischen Akteuren zu dieser Beschreibung zur Verfügung stand.54 Auch macht es einen Unterschied, welche Trennlinien im Nachdenken über Gesellschaft hervorgehoben wurden und ob Ethnie oder Klasse, ob Gender, Sex oder Alter als die maßgebenden Ordnungskategorien galten. Das verdeutlicht gerade die Auseinandersetzung mit urbanen Problemlagen und Grenzziehungen. Um speziell sozial-räumliche Ungleichheitsverhältnisse zu beschreiben, greifen Soziologen wie Historiker meist auf den Begriff der Segregation zurück. »Residentielle Segregation« – das meint die erhöhte Konzentration bestimmter Milieus in bestimmten Wohngebieten und die daraus resultierenden Spaltungen des Raums. Der Begriff bezieht sich auf eine räumliche Trennung unterschiedlicher sozialer, ethnischer oder generativer Gruppen, wobei davon ausgegangen wird, dass diese räumliche Trennung mit Unterschieden in der Verfügung über Ressourcen und Teilhabe einherging.55 Wegen dieser doppelten Verknüpfung zwischen Milieu und Raum beschreibt die historische Forschung die Entstehung weitläufiger Arbeiterquartiere und Villenviertel in Städten des späten 19. Jahr-
51 Zu der These, dass die gängige Annahme einer Abmilderung sozialer Ungleichheit im Westeuropa der Nachkriegszeit einer kritischen Prüfung bedarf, siehe auch Kaelble, Abmilderung. Insbesondere zur Geschichte der Wohnungsnot als zentraler Erfahrung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vgl. auch Zancarini-Fournel u. Delacroix. Siehe zudem die Überlegungen zu einer europäisch-vergleichenden Analyse von Wohnungskrisen bei Fourcaut u. Voldman. 52 Dem Ungleichheitsbegriff ist die Kritik an einem Zuviel an Unterschieden implizit. Er ist, stärker als der Begriff der Differenz, im Laufe des 20. Jahrhundert zu einer Problemkategorie geworden, die Akteure benutzten, um auf die eine oder andere Weise Handlungsbedarf zu markieren. Solga u. a. 53 Joyce. 54 Selbst Hans-Ulrich Wehler gestand zu, dass die Ungleichheitsforschung »aus einem sprachanalytisch, begriffs- und ideengeschichtlichen Kategoriensystem nur Gewinn ziehen könne.« Wehler, Die neue Umverteilung, S. 41. 55 Harlander u. Kuhn, S. 12. Von Saldern beschreibt Segregation als Ergebnis einer »räumliche(n) Häufung von Menschen, die sich in einer ähnlichen sozialen Lage befanden, wodurch der Raum selbst einen bestimmten Sozialcharakter erhielt. Nicht der Raum an sich, sondern der Sozialcharakter des Raums vermochte Deutungsmuster und Handeln der Menschen zu beeinflussen.« von Saldern, Häuserleben, S. 17.
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hunderts gemeinhin als Vehikel sich verstärkender Klassenunterschiede. Und während es für das Westeuropa der 1950er und 1960er Jahre gern heißt, dass die stärkere Durchmischung städtischer Quartiere in dieser Zeit Ausdruck einer insgesamt gleicheren Gesellschaft war, gilt die Polarisierung der Städte seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert vielen als das Äquivalent einer global wachsenden Schere zwischen »arm« und »reich«.56 Dabei ist es klar zutreffend, dass die Spaltung der Städte in separate Wohngebiete mit Unterschieden in der Verfügung über Ressourcen einherging. Unterschiede im urbanen Wohnen spiegelten eben nicht nur die gesellschaftliche Stellung der Bewohnerinnen und Bewohner wider. Vielmehr konnte der Wohnort selbst einen Moment der Benachteiligung darstellen: indem daran ein bestimmtes Stigma geknüpft war oder indem die Distanz zu Schulen oder zum Arbeitsplatz den Betroffenen Nachteile verschaffte.57 Auch konnte der Zugang zu politischen Instanzen vom Wohnort abhängen. Nicht alle konnten überall auf gleiche Weise Entscheidungen beeinflussen, die die Gestaltung der urbanen Umgebung und die Verfügung über städtische Ressourcen betrafen. Wie sich das Leben in Städten gestaltete, hing darüber hinaus von Unterschieden im Zugang zu urbanen Infrastrukturen ab. Schließlich ist die Geschichte urbaner Ungleichheiten auch eine Geschichte stählerner Infrastrukturen, steinerner Bauten und der ihnen eigenen Trägheitsmomente.58 Umso einleuchtender ist es, von einer räumlichen Dimension der unterschiedlichen Verfügung über Ressourcen, Chancen, Fähigkeiten auszugehen. Dennoch wirft die gängige Gleichsetzung von Segregation und Benachteiligung Fragen auf. Das beginnt damit, dass Forschungen zu »ethnischer« oder »rassialisierter« Segregation tendenziell einem anderen Frageinteresse folgen als es Analysen »sozialer« klassen- oder schichtbasierter Segregation tun. Zwar fragen die einen wie die anderen vermehrt nach der Intersektionalität oder Verknüpftheit Race- und Class-basierter Benachteiligungen. Doch beschäftigen sich soziologische Studien zu ethnischer Segregation – zumindest im europäischen Kontext – meist mit der »Integration« von Migrantinnen und Migranten in die deutsche, französische oder britische Aufnahmegesellschaft. Analysen sozialer Segregation umkreisen dagegen eher das Verhältnis von arm und reich und befassen sich mit Problemen der Verteilungsgerechtigkeit. Zwischen beiden gibt es Überlappungen, doch zeichnen die einen tendenziell das Krisenszenario einer durch kulturelle Spannungen auseinander getriebenen Nation, während die anderen tendenziell deren sozial oder ökonomisch grundierte Spaltung kri56 Harlander u. Kuhn. Siehe dazu auch die Beiträge in Häußermann u. a., An den Rändern; Kronauer u. Siebel. 57 Für einen noch immer überzeugenden Versuch, das Verhältnis von urbanem Raum und Verteilungsgerechtigkeit aufzuschlüsseln, siehe Harvey, dort v. a. S. 52–95. 58 Zur Historisierung von Infrastrukturen allgemein siehe van Laak, Infra-Strukturgeschichte; sowie speziell mit Blick auf urbane Infrastrukturen die Beiträge von Short, Gandy, Molotoch und Jacobs in Bridge u. Watson, S. 1–153.
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tisieren.59 In beiden Fällen tendieren die Forschenden dazu, Entmischungen im urbanen Wohnen zwar festzustellen, aber zu wenig aufzuschlüsseln, auf welche Weise die beschriebenen Teilungen eigentlich genau hierarchisierend, ein- oder ausschließend wirken und warum sie Vor- oder Nachteile mit sich bringen.60 Das ist ein Problem. Der Begriff der »Segregation« ist mittlerweile derart als ein wissenschaftlicher und politischer Problembegriff etabliert, dass die Frage, was sich eigentlich genau hinter der Konzentration bestimmter Gruppen in bestimmten Räumen verbirgt, zu wenig im analytischen Horizont auftaucht. Das gilt zumal für quantitative Forschungen. Und dass die Antwort auf die Frage, wer überhaupt als »Gruppe« gelten kann, deren »Konzentration« in einem bestimmten Raum untersucht wird, selbst ein Produkt wissenschaftlicher Kategorienbildungen und Grenzziehungen ist, wird selten reflektiert. Bei der Segregation urbaner Räume handelte es sich aber um einen historisch veränderlichen Prozess – und um eine stets auf Neue hergestellte »soziale Tatsache«. Denn historisch betrachtet stellte Segregation aus Sicht der zeitgenössischen Akteure lange kein Problem dar, sondern im Gegenteil ein politisches Ziel. So beschreibt der Historiker Carl H. Nightingale in seiner globalgeschichtlichen Segregationsanalyse von 2012 die Teilung von Städten als das Ergebnis einer gezielten Spaltung städtischer Räume entlang rassialisierter Grenzen. Er umkreist die von kolonialen Bürokraten, Public-Health-Experten und urbanen Reformern forcierte Aufteilung der Städte in separate Quartiere als weltweit zirkulierende Bewegung. Nightingale zeigt, wie Segregation als eine Bezeichnung für Techniken der »racial isolation« zuerst in Hongkong und Bombay in den 1890er Jahren aufkam.61 Die dort entwickelten Praktiken der forcierten Segregation im Namen von öffentlicher Gesundheit, Seuchenprävention und kolonialer Modernisierung bildeten den Ausgangspunkt für eine »Segregationsmanie«, die in den folgenden Jahrzehnten Asien, Afrika und die atlantische Welt erfasste. Aus Nightingales Sicht wirken diese Prozesse bis in die heutige Zeit und bis in US-amerikanische und europäische Städte hinein, auch wenn sich »residentielle Segregation« aktuell stärker als immobilienmarktbasierter Prozess erweise.62 Er hebt so die Be59 Der Soziologe Jens Dangschat konstatiert trocken, es sei »verwunderlich, dass bislang weder die Ungleichheitsforschung noch die Stadtsoziologie zur gesellschaftlichen Bedeutung der Segregation konsistente empirische Ergebnisse« vorlegen könne. Auch setze sich die Ungleichheitsforschung in der Regel nicht mit dem (städtischen) Raum auseinander, während sich umgekehrt Segregations- und Konzentrationsanalysen kaum an aktuellen Debatten über Ungleichheit orientierten. Dangschat, S. 118. 60 Am ehesten gehen sie von negativen Nachbarschaftseffekten aus: Davon also, dass das Leben in wenig anerkannten Quartieren die Betroffenen benachteiligt und stigmatisiert, sie weniger politischen Einfluss erlangen und auf eine Weise sozialisiert werden, die ihren sozialen Aufstieg behindert. Häußermann, Stadt – Land, S. 267 f. Auch beschreibt die aktuelle Segregations- und Armutsforschung die soziale Isolation prekarisierter Jugendlicher und Erwachsener als ein Problem. El-Mafaalani u. Strohmeier, v. a. S. 32–40. 61 Nightingale, Divided, S. 159 ff. 62 Ebd., v. a. Kap. 12.
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deutung einer Politik der Race-basierten intendierten Spaltung urbaner Räume für die Stabilisierung von Ungleichheitsverhältnissen hervor. Andere, wie Yfaat Weiss in ihrer historischen Analyse eines innerstädtischen Armutsviertels von Haifa, fügen dem die Bedeutung ethnisch-religiös motivierter Verdrängungen hinzu.63 In jedem Fall leiteten im 20. Jahrhundert wechselnde Leitvorstellungen und Wissensbestände die Spaltung der Städte – und die Auseinandersetzung damit – an.64 Zwar sind Verteilung und Durchmischung mittlerweile zu Leitzielen westeuropäischer Wohn- und Stadtplanungspolitiken geworden, doch ist das eine vergleichsweise junge Entwicklung. Unter Bezug auf sozialwissenschaftliche Expertisen setzten sich politische Akteure in Frankreich und Westdeutschland schließlich noch in den 1960er Jahren für die räumliche Separierung von Personen ein, die als nicht genug angepasst an das moderne Leben in französischen und westdeutschen Städten galten. Die Konzentration bestimmter Gruppen in bestimmten Räumen stellte auch im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert eben nicht nur einen Markteffekt, sondern in Teilen auch eine wissenschaftliche Empfehlung und ein politisches Ziel dar. Überhaupt tendieren Stadtsoziologinnen und -soziologen dazu, gegenüber Markt und Politik auf der einen und urbanen sozialen Bewegungen auf der anderen Seite den Einfluss der eigenen Wissensproduktion auf die Entwicklung urbaner Räume zu vernachlässigen. Urbane Marginalisierung und Segregation werden in den Sozialwissenschaften zwar durchaus historisierend betrachtet, aber maßgeblich als Effekte von Wohnungspolitik und Wohnungsmarkt beschrieben: Sie gelten als das Ergebnis des Mit- und Gegeneinanders von staatlicher Wohnungspolitik, Immobilienmarkt und kapitalistischen Produktionslogiken. Als Gegenkräfte werden dem in der Regel die Proteste von urbanen Bürgerinitiativen entgegengesetzt. Damit sind sicher auch zentrale Faktoren benannt, die die Entwicklung urbaner Ungleichheit im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert beeinflussten. Dennoch übersieht eine Analyse, die sich maßgeblich zwischen den Polen Markt und Staat bewegt, welchen Einfluss (sozial)wissenschaftliche Expertinnen und Experten selbst auf sozialräumliche Verhältnisse und den Umgang damit nahmen. Dabei waren urbane Forschungen und gesellschaftskritische Initiativen im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert nicht nur Gegenkräfte. Sie wurden immer wieder auch Mainstream, sie beeinflussten Politiken und Praktiken, zumal seit den 1960er Jahren. Das ist eine der Leitthesen dieser Arbeit. Dass eine Politik der räumlichen Separierung und Disziplinierung urbaner Problembevölkerungen einer der Durchmischung und Aktivierung wich, war beispielsweise ein Produkt der enger werdenden Verknüpfung zwischen (kommunal)politischer 63 Weiss. 64 Für den Versuch, das unterschiedliche framing ethnischer Segregation (im britischen, niederländischen und deutschen Fall) stärker in die eigene Analyse zu integrieren und zu den jeweiligen Wohnungspolitiken in Bezug zu setzen, siehe allerdings Münch.
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Auftragsforschung, urbanen Initiativen und der Soziologie der 1960er Jahre. Ähnliches gilt für die bemerkenswerte Karriere einer Sprache der Marginalisierung, Desintegration und Exklusion in den Auseinandersetzungen mit urbaner Ungleichheit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.65 Gerade im Zusammenhang mit dem Wissen über das Soziale sind die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltäglichem Reden oft fließend. Dennoch spricht viel dafür, dass seit den 1960er Jahren der Einfluss wuchs, den soziologische Akteure, Begriffe und Daten auf die Deutung urbaner Phänomene nahmen.66 In den hochmobilen europäischen Nachkriegsgesellschaften, die, zumal in den 1960er und 1970er Jahren, neuen Gruppen Aufstiegschancen boten, war die Nachfrage nach Reflexionswissen, das diese Veränderungen einzuordnen half, groß. Das galt auch für stadtpolitische Kreise und urbane Initiativen, die immer häufiger sozialwissenschaftliche Studien in Auftrag gaben und auf soziologisches Expertenwissen rekurrierten, um urbane Transformationen zu verstehen und stadtpolitische Entscheidungen vorzubereiten. Verstärkt (bzw. in Teilen auch vorangetrieben) durch die Berichterstattung in den Medien, trug diese Entwicklung zu einer veränderten Auseinandersetzung mit urbanen Problemlagen bei.67 Sie trug zu einer umfassenden Soziologisierung des Urbanen bei.68 Anders formuliert müssen historische Analysen sozialer Ungleichheitsverhältnisse stärker differenzieren. Sie sollten nicht nur zwischen unterschiedlichen Bereichen, in denen und durch die Ungleichheitsverhältnisse stabilisiert oder destabilisiert wurden – wie Bildung, Wohnen, Einkommen, Gesundheit – unterscheiden, sondern auch auf die wechselnden Deutungen und räumlichen Rahmungen eingehen, die beeinflussten, wie jeweils mit Ungleichheitsverhältnissen umgegangen wurde. Für die Analyse von Ungleichheiten im urbanen Wohnen seit den 1950er Jahren heißt das konkret, dass eine Reihe von Akteuren – wie Stadtverwaltungen, lokale Initiativen und Stadtsoziologen – stärker in den Mittelpunkt der Analyse rücken, sowie die konkreten Stadträume, in denen sie sich bewegten und auf die sie sich bezogen. In seiner »Kunst des Handelns« beginnt der Historiker und Theologe Michel de Certeau seine Ausführungen über das Gehen in der Stadt mit einem Rundblick 65 Vgl. dazu auch Reinecke, Disziplinierte Wohnungsnot. Siehe zudem (wenngleich mit einer anderen, aus meiner Sicht falschen Periodisierung) Fassin, Exclusion, underclass. 66 Siehe zu einem ähnlich weiten Verständnis von Soziologie auch Cupers, The Social, S. xxii. 67 Der wachsende Einfluss der Massenmedien zumal im 20. Jahrhundert und der von ihnen ausgehende Veränderungsdruck wird in der historischen Debatte häufig als »Medialisierung« gefasst. Siehe dazu u. a. Bösch, Ambivalenzen; von Hodenberg, Expeditionen, S. 38 ff. 68 Zum (von der historischen Forschung vergleichsweise wenig beachteten) engen Wechselverhältnis von Medien und Sozialwissenschaften siehe Felt. Zum Versuch einer kommunikationswissenschaftlichen Systematisierung des Verhältnisses von vor allem Naturwissenschaft und Medien siehe Schäfer. Zu einer stärker wissenssoziologischen und -historischen Perspektive auf dieses Verhältnis vgl. die Beiträge in Rödder u. a.
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über Manhattan von der 110. Etage des World Trade Centers.69 Eine solche erhöhte Stellung, erklärt er, mache den Beobachter zu einem Voyeur. Er verschaffe ihm Distanz und verwandle die Welt »in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat«. Doch leben, wendet de Certeau selbst ein, die »gewöhnlichen Benutzer« der Stadt unten. Sie erfahren das urbane Leben aus der Perspektive von Fußgängern, deren Körper den städtischen Text zwar selbst permanent schreiben, die ihn aber nicht lesen können: »Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierten Praktiken der bewohnten Stadt charakterisierte.«70 Gegenüber der trügerischen Sicht auf die Stadt von oben plädiert de Certeau für eine Analyse der blinden urbanen Praktiken, der praktischen Vorgänge und Bewegungen in den Städten. Raum ist für ihn ein praktizierter Ort (lieu pratiqué), ein Ort »mit dem man etwas macht«.71 Mehr als das panoptische Sehen ist es das raumschaffende Gehen, das es für ihn möglich macht, den urbanen Raum angemessen zu erfassen. Tatsächlich gilt die Gesamtschau auf die Stadt aus der »Flughöhe der Adler«72 als die Perspektive der modernistischen Stadtplanung schlechthin, und die Architekten der urbanen Moderne bedienten sich bei ihrer umfassenden Neuordnung des städtischen Raums wiederholt des noch neuen Instruments der Luftaufnahme vom Flugzeug aus.73 Ihre Vision einer nach funktionalen Maßstäben geordneten, in die Höhe strebenden Stadt entsprang einer Überflug perspektive, der die Stadt als ein Ganzes erschien, das auch in seiner Gesamtheit planbar war. Bei den Kritikerinnen und Kritikern der modernistischen Stadtplanung wiederum handelte es sich nicht von ungefähr um emphatische Fußgänger. Ihre Kritik der umgestalteten Städte entwickelten sie von der Bordsteinkante aus, entlang einer genauen Beobachtung des alltäglichen Zusammenlebens. Die Spaziergänge, Anekdoten und Beobachtungen der Aktivistin Jane Jacobs, die in den 1960er Jahren international zu einer einflussreichen Kritikerin der funktionalistischen Moderne aufstieg, sind dafür hervorragende Beispiele.74 Jacobs war, wie bald viele ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, weniger an einer Gesamtschau auf die Stadt als an der Vielfalt des städtischen Zusammenlebens interessiert. Gemessen an diesem Tableau ist die vorliegende Analyse eine Studie des Treppensteigens. Sie folgt den unterschiedlichen Beobachterinnen und Beobachtern des Sozialen bei ihren höchst praktischen Versuchen, einen angemessenen Blickwinkel auf das urbane Zusammenleben zu finden. Sie begleitet sie 69 Certeau, S. 179 ff. 70 Ebd., S. 182. 71 Ebd., S. 218. Ein Ort ist für de Certeau »eine momentane Konstellation von festen Punkten«, während er Raum als ein »Geflecht von beweglichen Elementen« auffasst. Ebd. 72 Osterhammel. 73 Zur Bedeutung der Luftaufnahme für die modernistische Stadtplanung und deren Beschreibung durch die zeitgenössischen Sozialwissenschaften vgl. Haffner. 74 Siehe deren einflussreiches Hauptwerk: Jacobs.
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beim Fahrstuhlfahren und sieht ihnen dabei zu, wie sie in Barackenlagern mit Fragebögen von Tür zu Tür gingen, Gruppendiskussionen anleiteten oder sich in Großsiedlungen für einige Monate einquartierten, um auf diese Weise einen Sehepunkt zu erlangen, der mal über dem der Bewohnerschaft, mal auf deren Augenhöhe lag und der häufig überging in den Versuch, in den urbanen Alltag einzugreifen und das Beobachtete zu verändern. Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichtswissenschaft ist die Kritik nicht unberechtigt, dass Raum dort lange vor allem als Kulisse firmierte, vor der sich das Eigentliche abspielte: Als mehr oder weniger stabil gedachte Behälter bildeten Stadt, Nation oder Kolonie das Gefäß oder die Arena für Politik und Kultur, Ökonomie und Soziales. Doch ist spätestens, seit in den Sozial- und Kultur wissenschaften des späten 20. Jahrhunderts der spatial turn ausgerufen wurde, die Forderung verbreitet, sich vom Raum als reinen Schauplatz des Historischen zu verabschieden. Raum gilt nicht mehr einfach als gegebene Dimension historischer Prozesse, sondern wird zunehmend als wandelbar und sozial hergestellt begriffen.75 Speziell mit Blick auf städtische Räume plädieren zudem viele Stadtforscherinnen und -forscher dafür, weniger von einer scheinbar homogenen Einheit Stadt auszugehen als von der prozessualen Herstellung simultan existierender urbaner Räume und Ordnungen.76 »Die Stadt« ist eben nicht ein gegebenes, homogenes Ganzes, sondern sie ist das sich permanent wandelnde Ergebnis vielfältiger Praktiken, die das Städtische stets aufs Neue »versammeln« (assemble).77 Umso relevanter ist die Frage nach dem Wechselverhältnis von Gesellschaft und Raum, von gesellschaftlichen Hierarchien und zersplitterter, in eine Vielheit von Räumen gespaltener Stadt.78 Jede Gesellschaft produziere, argumentiert der französische Philosoph Henri Lefebvre, ihren eigenen Raum: Raum existiere nicht einfach, sondern werde stets kollektiv (»sozial«) hergestellt.79 Grob an Lefebvre angelehnt, ist eine urbane Problemzone dementsprechend dreierlei: Sie ist 1.) eine Arena der materiellen Gestaltung von Gesellschaft mit Hilfe von Architekturen, Plätzen und Infrastrukturen, von Routinen und alltäglichen Praktiken, 2.) ein imaginierter Raum, ein Element der sich wandelnden Vorstellung und Beschreibung des Sozialen, 3.) ein Ort der Wissensproduktion, der 75 Schlögel. Die Kritik an einem gewissen Missverhältnis zwischen der Forderung nach kon struktivistischen Raumstudien und deren nur verhaltener Umsetzung ist gerade für die deutsche Zeitgeschichte dennoch nicht unberechtigt. Jureit, S. 11; Dipper u. Raphael, v. a. S. 28 f. 76 Farías u. Bender. 77 »Indeed, ANT provides a radical account of space and time as consequences, effects, or even, dependent variables of the relations and associations making up actor-networks. […] Space, scale and time are rather multiply enacted and assembled at concrete local sites, where con crete actors shape time-space dynamics in various ways, producing thereby different geographies of associations.« Farías, S. 6. 78 Zum Wechselverhältnis zwischen den Differenzierungen des Städtischen und gesellschaftlichen Differenzkategorien siehe Löw, Die Stadt; Topalov, Introduction, sowie die Beiträge in dem Abschnitt zu »City Divisions and Differences« in Bridge u. Watson, S. 499–616. 79 Lefebvre, The Production, u. a. S. 38–46.
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Erforschung und Beobachtung gesellschaftlicher Probleme.80 Der Schwerpunkt der Analyse liegt im Folgenden auf den letzten beiden Aspekten. Er liegt auf den Problematisierungen des Sozialen und ihren politischen Effekten, und er liegt auf der Bedeutung von Raum als »Selbstbeschreibungsformel von Gesellschaften«.81 Doch soll eben stets versucht werden, diese Problematisierungen an lokalisierte Praktiken, an das Treppensteigen und Fahrstuhlfahren zurückzubinden. Auf diese Weise rücken stärker die unterschiedlichen (wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen) Praktiken in den Blick, die in der Bundesrepublik und Frankreich beeinflussten, wie Armut, Segregation und Desintegration in Politik und Öffentlichkeit eingeordnet und welche Maßnahmen der Disziplinierung und Aktivierung im Umgang damit ergriffen wurden. Die boomende historische Forschung zu Verwissenschaftlichung, in jüngerer Zeit auch zu Gouvernementalität und den unterschiedlichen Regierungsweisen des Selbst hat den Blick für die Bedeutung geschärft, die (wissenschaftlich generiertem) Wissen im 19. und 20. Jahrhundert zukam.82 Die folgende Unter suchung knüpft an diese Debatten an. Sie greift Ansätze auf, die vornehmlich im weiteren Umfeld der Wissensgeschichte, der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Science and Technology Studies erprobt worden sind. So plädiert Bruno Latour in seinem Entwurf einer Akteur-Netzwerk-Theorie dafür, »das Soziale« als Ergebnis situierter Praktiken und Wissensbestände zu analysieren und eingedenk der Tatsache, dass es stets die Beobachtenden selbst sind, die das Soziale zu einem einheitlichen Ganzen wie »der Gesellschaft« versammeln.83 Das ist einleuchtend. Herausfordernd ist es allerdings auch. Denn folgt man Bruno Latour, auf den sich die aktuelle praxeologische Wissensforschung gerne bezieht, lässt sich das Wissen über das Soziale immer nur situativ, symmetrisch und im Prozess seiner Herstellung untersuchen.84 Nicht von ungefähr haben daher Freunde wie Kritiker einer ANT-inspirierten Forschung darauf hingewiesen, dass sich deren Maßgaben am ehesten in kleinen, begrenzten, laborartigen Settings umsetzen lassen.85 80 Auch Lefebvre unterscheidet zwischen drei Dimensionen der Produktion des Raums: zwischen dem von Planern und anderen konzipierten Raum, dem alltäglich genutzten, wahrgenommenen und körperlich erfahrenen Raum sowie schließlich den in Bildern, Texten und Symbolen imaginierten, gedeuteten und auf vielfältige Weise angeeigneten Räumen der Repräsentation. Ebd.; Schmid, v. a. S. 191–245. 81 Jureit, S. 13. 82 Die Analyse von Verwissenschaftlichung orientiert sich in Deutschland maßgeblich an den Beiträgen von Raphael, Die Verwissenschaftlichung. Zum Begriff der »Durchwissenschaftlichung« siehe Szöllösi-Janze. Zur Wissensgeschichte allgemein siehe Vogel; Kaschuba, Sarasin. 83 Latour, Soziologie. Zum Nutzen der der Akteur-Netzwerk-Theorie für die historische Analyse vgl. auch Joyce, v. a. S. 226 ff., Lanzinger; Bennett u. Joyce. Zur Historisierung des Wissens über »das Soziale« siehe u. a. Camic u. a.; Savage; Brückweh. 84 Zum aktuellen Boom der Materialitätsforschung aus geschichtswissenschaftlicher Sicht siehe u. a. Derix u. a.; Füssel u. Habermas; Knoll. 85 Farías u. Thrift, S. 112 f.
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Die vorliegende Studie ist daher auch keine ANT-Studie im engeren Sinne. Sie macht sich deren Pochen auf eine situative Herangehensweise nicht konsequent zu eigen, zumal in ihrem Mittelpunkt Akteure stehen, denen es oft gerade darum ging, im Nahen und Konkreten die Gesellschaft als Ganzes zu finden (oder doch nennenswerte Ausschnitte). Doch folgt sie der praxeologisch ausgerichteten Wissensforschung insofern, als sie das Wissen über das Soziale als das Ergebnis von Praktiken analysiert, die ihrerseits an konkrete Orte gebunden sind und die stark von der Hardware der Wissensproduktion und -zirkulation und deren Finanzierung abhängen.86 An der Methode der Akteur-Netzwerk-Theorie erscheint in diesem Rahmen vor allem der Versuch produktiv, soziale Kategorien weniger a priori zu setzen als deren Gebrauch durch die Akteure zu verfolgen und den Prozess der Zusammensetzung einzelner Gruppen und Räume zu scheinbar homogenen Entitäten zu beschreiben.87 Verschiebungen im Reden über urbane Ungleichheit – wie etwa der Aufstieg einer neuen Sprache der Exklusion und (Des)integration oder wie der Wechsel von einer question sociale zu einer question raciale bei der Einordnung urbaner Probleme – erscheinen dann nicht einfach als Reaktionen auf vorangehende gesellschaftliche Entwicklungen, sondern sie sind selbst erklärungswürdige Ereignisse, die ihrerseits gesellschaftliche Veränderungen und neue Politiken anleiteten. Ausgehend von wechselnden Problematisierungen und Praktiken des Eingreifens in das urbane Zusammenleben konturiert die vorliegende Studie so eine Geschichte räumlicher Disparitäten, die eigenen Rhythmen folgte und die sich nur in Teilen in das etablierte Periodisierungsschema vom Aufstieg und Ende der goldenen Nachkriegszeit fügt. Sie konturiert ein Bild, das die 1950er und 1960er Jahre deutlich weniger als reine Aufstiegs- und Wirtschaftswunderperiode erscheinen lässt, und sie argumentiert, dass es nicht allein makroökonomische Entwicklungen wie die Deindustrialisierung waren, die sich auf den veränderten Umgang mit urbanen Ungleichheiten auswirkten. Mindestens ebenso eng war die Geschichte urbaner Ungleichheiten mit der Dekolonisation und der Modernisierung der Städte verschränkt, sowie mit einem Wandel in der Art und Weise, wie Gesellschaft gedacht, welche Trennlinien darin hervorgehoben und wie soziale Probleme gerahmt wurden.
86 Für die praxeologische Ausrichtung der Wissensforschung wegweisend: Latour u. Woolgar. Für eine Einführung in diese Debatten vgl. Rheinberger, S. 119–130; Sarasin. 87 »As a method ANT […] challenges a priori deployments of social categories, particularly that of ›Society‹. Instead it promotes a research strategy of building the elements of society from the ground up, from its networks and the connections among them that proliferate yet more networks.« Bender, S. 311.
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c) Das »soziale Projekt« der städtebaulichen Moderne, transnational 1972 wurden nicht einmal zwanzig Jahre nach ihrem Bau die ersten Gebäude der Hochhaussiedlung Pruitt-Igoe im US-amerikanischen St. Louis gesprengt, weil Kriminalität und soziale Probleme überhandnahmen. Die Bilder der einstürzenden Hochhäuser von Pruitt-Igoe gingen um die Welt. Sie wurden nicht nur lokal, sondern auch international zum Symbol einer Krise: Sie galten als Symbol einer scheiternden Politik des Sozialen Wohnungsbaus. Vor allem aber galten sie als das Symbol einer in die Krise geratenen urbanen Moderne und damit eines Projekts, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dank eines intensiven Austauschs zwischen Architekten und Kommunalpolitikern weltweit einen bemerkenswerten Einfluss erlangt hatte.88 Pruitt-Igo wurde zu einem Mythos, und zwar vornehmlich deswegen, weil das modernistische Projekt einer Neuordnung der Städte zwar keineswegs überall, aber spätestens in den 1970er Jahren in erstaunlich vielen westlichen Industriestaaten in Verruf geraten war.89 Wie sich die französische und westdeutsche Stadtgesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg änderten und wie sie wurden, was sie heute sind, ist ohne den transnationalen Aufstieg der funktionalistischen Moderne nicht zu verstehen. Zwar gab es zweifelsfrei nationale (und lokale) Eigenheiten urbaner Modernisierungsprojekte. Das ändert aber nichts daran, dass die tiefgreifende Umstrukturierung der französischen und westdeutschen Städte seit den 1950er Jahren jeweils ähnlichen Planungsidealen folgte. Ebenso wie die Architekten waren auch die politischen Verantwortlichen von einer global verzweigten Planungs bewegung beeinflusst, die im Namen der Moderne das Aussehen und die Struktur vieler Städte grundlegend veränderte.90 Am Ende dieser Entwicklung stand eine umfassend transformierte urbane Landschaft, die in ihren Zentren stark von hochgeschossigen Gebäuden und Büro- und Geschäftsvierteln dominiert war, während sich an die Ränder großflächige Einfamilienhaussiedlungen und Großsiedlungen anschlossen. Doch entstanden nicht nur die Bauten der funktionalen Moderne im Rahmen eines intensiven transnationalen Austauschs. Auch die westeuropäischen Kritikerinnen und Kritiker der unbehaglichen »organi88 Zur transatlantischen Geschichte des Endes der technokratischen »urban renewal order« in den USA, Kanada und Westdeutschland siehe die Analyse von Klemek. Zur Bedeutung des transatlantischen Austauschs für urbane Reformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Rodgers. Zum historischen Vergleich der Entwicklung US-amerikanischer und europäischer Städte allgemein siehe Lenger u. Tenfelde. 89 Florian Urban hebt in seiner vergleichenden Studie hervor, dass der moderne Massenwohnungsbau in einigen Ländern sein ursprüngliches Prestige gerade nicht verlor und keineswegs ubiquitär in die Kritik geriet. Urban. Für eine globalgeschichtlich-vergleichende Perspektive auf die Geschichte moderner Hochhaussiedlungen siehe zudem Dufaux u. Fourcaut. 90 Für eine ideengeschichtliche Sicht auf die moderne Stadtplanung siehe Hall, Cities; für die Bedeutung von CIAM und die internationale Vernetzung von Architekten für die Stadtplanung der funktionalen Moderne vgl. Mumford.
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sierten Moderne« bezogen sich auf die Entwicklungen in anderen Gesellschaften.91 Ihre Hinwendung zur historischen Stadt und zu Formen der partizipativen Stadtentwicklung war in vielerlei Hinsicht eine transnationale Entwicklung. Zudem begleitete nicht zufällig das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen das Ende der transatlantischen urban renewal order. Das Experimentieren mit neuen demokratischen Formen und die mit wachsendem Nachdruck geäußerte Forderung, bei der Gestaltung der Städte mehr auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner zu achten, waren über nationale Grenzen hinweg miteinander verknüpft.92 Um verstehen zu können, wie sich die urbanen sozialen Topographien seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wandelten und wie mit diesem Wandel umgegangen wurde, müssen die vielfältigen Verflechtungen und gegenseitigen Beobachtungen einbezogen werden, die mit dem transnationalen Projekt der urbanen Moderne einhergingen. Kommunalpolitische Besuchergruppen aus unterschiedlichen Ländern besuchten in den 1960er Jahren die Baustellen französischer und westdeutscher Großsiedlungen, weil sie selbst ähnliche Vorhaben planten. Stadtsoziologen machten sich auf die Suche nach innerstädtischen Sanierungsvierteln, weil solche Viertel anderen in anderen Städten bereits dazu gedient hatten, die sozialen Folgen der Modernisierung zu untersuchen. Lokal agierende Armutsinitiativen unternahmen internationale Besuchsreisen, um sich mit den Community-Projekten in den Problemvierteln anderer Städte vertraut zu machen. Und die neuen Bewohnerinnen und Bewohner bezeichneten ihre Großsiedlungen auch deswegen als »Kleen-Chicago« (das Westberliner Märkische Viertel) oder »Bunny Hill« (Hamburg Mümmelmannsberg), weil die Hochhaussiedlungen sie an die Inner Cities US-amerikanischer Städte erinnerten. Das sind unterschiedlich gelagerte Beispiele. Sie weisen aber darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem urbanen Sozialen in Frankreich und der Bundesrepublik zwar meist auf national gerahmte Gesellschaften – auf die französische oder die westdeutsche Gesellschaft – zielte, aber durch global zirkulierende Praktiken, Images und Referenzen geprägt war. Nicht nur im alltäglichen »city-making«,93 sondern auch im alltäglichen »society-making« trafen lokale, nationale und transnationale Entwicklungen aufeinander. Umso sinnvoller ist deren Historisierung aus einer vergleichend-verflechtungsgeschichtlichen Perspektive.94 91 Für eine (an Peter Wagner und Andreas Reckwitz orientierte) Periodisierung der europäischen Stadtgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert entlang der Entstehung einer »organisierten Moderne« und ihrer Ablösung seit den 1960er/70er Jahren siehe Lenger, v. a. S. 12 ff. 92 Zur Ablösung einer paternalistischen modernen Stadtplanungskultur durch partizipative Planungskonzepte im transatlantischen Zusammenhang vgl. Haumann. Zur Auseinandersetzung mit Fragen der Partizipation innerhalb französischer Stadtplanungszirkel vgl. Cupers, The Expertise; ders., The Social, v. a. S. 137 ff. 93 Löw, Raumsoziologie, S. 161 ff. 94 Für einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der historischen Debatten zu Vergleich, Verflechtung und Transfer siehe Middell, Kulturtransfer; Conrad u. Randeria; Lingelbach.
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Historikerinnen und Historiker haben erst begonnen, die transnationale Geschichte der schrittweisen Auf- und Ablösung der urbanen Nachkriegsmoderne zu verstehen. Sie haben den Wandel in den Städten der urbanistischen Moderne in erster Linie aus ideen- und planungsgeschichtlicher Sicht beschrieben oder als Geschichte der Stadt- und Wohnpolitik, als Geschichte urbaner Protestbewegungen und neuer alternativer Lebensstile.95 Deutlich weniger wurde, zumal im deutschen Fall, untersucht, auf welche Weise Wohnpolitiken und die Modernisierung des Wohnens mit sozialen Wandlungsprozessen verschränkt waren. Dabei wirkte sich der fundamentale Wandel in den urbanen Topographien seit den 1950er Jahren darauf aus, wie Unterschiede im Wohnen sich entwickelten und was sie für die Bewohner implizierten.96 Zudem waren die Instrumente, die die Verantwortlichen in Kommunalpolitik und Stadtverwaltung ergriffen, um sozialen Problemen zu begegnen, eng mit dem Großprojekt einer Modernisierung des Wohnens verknüpft. Die Neuordnung des urbanen Raums im Namen der Moderne, das war unter anderem die Geschichte einer spezifischen gesellschaftlichen Vision. Schließlich umfasste der modernistische Wohn- und Städtebau seit den 1920er Jahren deutlich mehr als ein ästhetisches Programm. Seine Verfechter verfolgten auch sozialreformerische Ziele und versuchten, eine Einhegung sozialer Probleme über räumliche Arrangements zu erreichen.97 Der moderne Urbanismus stellte für sie eine Antwort auf jenes Bündel von Problemen dar, das im 19. Jahrhundert als »soziale Frage« bezeichnet wurde. »Das Gleichgewicht unserer Gesellschaft hängt ab von der Lösung des Bauproblems«, erklärte 1922 der Schweizer Architekt Le Corbusier, der in seinen Schriften die Leitgedanken der internationalen Moderne einflussreich formulierte.98 Wie Le Corbusier beanspruchten die Protagonisten der funktionalen Moderne insgesamt für sich, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Damit trugen sie zum Aufstieg eines Dispositivs des social engineering bei, das der Historiker Thomas Etzemüller als »Kombination von Sozialtechnologien, einem Ordnungsmodell und einem dezidierten Gestal95 Für einen (primär planungsgeschichtlichen) Überblick zur Geschichte des Städtebaus in Deutschland siehe Düwel u. Gutschow. Zur Entwicklung der westdeutschen Stadtpolitik siehe zudem, eher soziologisch Häußermann u. a., Stadtpolitik. Zur Etablierung eines modernen Stadtplanungsregimes »von oben« im Frankreich der Nachkriegszeit siehe Newsome; sowie, stärker sozialgeschichtlich, Tellier. Speziell zur französischen Stadtpolitik vgl. Oblet; sowie, mit Blick auf die Zeit seit den frühen 1980er Jahren, Dikeç; Tissot, L’Etat. Zu Hausbesetzungen und den alternativen Wohnungspraktiken der Neuen Linken in Berlin siehe Vasudevan; MacDougall sowie zu Westdeutschland allgemein Reichardt, v. a. S. 498–570. Für eine stärker mit Verschiebungen im Mietmarkt verknüpfte Analyse von Hausbesetzungen und urbanen Protesten siehe Führer, Die Stadt, v. a. Teil II. 96 Zur Sozialgeschichte des urbanen Wohnens in Deutschland siehe allerdings von Saldern, Häuserleben; dies., Geschichte des Wohnens. Einen Überblick geben auch die Beiträge in Flagge. Zur Wohn- und Sozialgeschichte speziell der französischen Großsiedlungen siehe zudem Rudolph; Tellier. 97 Für eine Langzeitperspektive auf sozialräumliche Regulierung vgl. Raphael, Grenzen. 98 Le Corbusier, S. 200, 215.
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tungsimperativ« charakterisiert hat und das zwischen dem Ersten Weltkrieg und den frühen 1970er Jahren seine Hochphase erlebte.99 Die Schönheit einer Architektur lag für die Verfechter der städtebaulichen Moderne maßgeblich darin, dass sie funktional, rational und praktisch war und sich den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner anpasste.100 Während in den Fabriken der industrielle Fertigungsprozess in separate Arbeitsschritte gesplittet und auf diese Weise optimiert wurde, schwebte den Verfechtern der urbanen Moderne eine Aufteilung der Städte nach funktionalen Gesichtspunkten vor. Wohnen, Arbeiten und Konsum sollten in separaten Räumen stattfinden. Darüber hinaus erleichterte die Ausbreitung industrieller, standardisierter Fertigungstechniken die massenhafte und damit vergleichsweise preiswerte Herstellung von Wohnraum für (beinahe) alle. So, wie im fordistischen Kapitalismus überhaupt, sollten Massenproduktion und Konsum im Massen wohnungsbau und zumal im Sozialen Wohnungsbau ineinandergreifen und die Gesellschaft auf diese Weise ins Gleichgewicht bringen. Auch hofften die Planer, mit Hilfe neuer Haushaltstechniken und wissenschaftlicher Erhebungen dazu beizutragen, das Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner im Privaten zu optimieren. Sie zielten auf deren »Erziehung durch den Raum«.101 Jüngere historische Studien haben zudem auf die spezifischen Gemein schaftsideale hingewiesen, die Großbauprojekte seit den 1930er Jahren häufig anleiteten.102 Architekten aus unterschiedlichen politischen Lagern waren in dieser Zeit auf der Suche nach räumlichen Formen, die der individualisierten modernen Gesellschaft das Zusammenleben in dichten lokalen Gemeinschaften entgegen setzten. David Kuchenbuch hat gezeigt, wie ähnlich sich beispielsweise schwedische und deutsche, dem Nationalsozialismus verbundene Planer in dieser Hinsicht waren. Zwar zielten die einen eher auf sozialdemokratisch solidarische Gemeinschaften, die anderen auf eine rassisch homogene Volksgemeinschaft, doch verband beide der sozialtechnologische Glaube, über neue Architekturen soziale Beziehungen zu gestalten und sozialen Auflösungserscheinungen entgegen zu wirken.103 Der Einfluss dieser spezifischen Gemeinschaftsvorstellungen nahm seit den 1950er Jahren ab. Dennoch knüpften sich auch in der Bundesrepublik und in Frankeich an die Umgestaltung des urbanen Raums, an den Abriss innerstädtischer Arbeiterquartiere und den Bau neuer Siedlungen umfassende Erwartungen an eine Neugestaltung von Gesellschaft. Das galt vor allem für die seit 99 Dessen Hochphase sieht er in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis etwa zum Beginn der 1960er Jahre. Etzemüller, S. 30. Sylvia Necker siedelt das Ende des Architekten als sozialtechnokratischen Experten dagegen eher in den frühen 1970er Jahren an. Necker, S. 15. 100 Ein Haus, das »so praktisch ist, wie eine Schreibmaschine«, forderte der Schweizer Architekt Le Corbusier, der in seinen Schriften die Leitgedanken der internationalen Moderne besonders einflussreich formulierte. Le Corbusier, S. 179. 101 Heßler; Kuchenbuch, »Spuren im Schnee«. 102 Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Siehe zudem die Beiträge in Couperus u. Kaal. 103 Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft.
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den 1950er Jahren in beiden Ländern erbauten Großsiedlungen oder grands ensembles. Sie waren zentrale Elemente einer staatlichen Modernisierungsagenda, die sich in beiden Ländern vornehmlich auf den öffentlich geförderten Bau von Mietwohnungen und die Subventionierung von Einfamilienhäusern stützte.104 Beide Regierungen zielten mit ihrer ambitionierten Wohn- und Stadtplanungspolitik auch auf eine Abschleifung der Unterschiede zwischen bürgerlichem, ländlichem und proletarischem Wohnen.105 Und insbesondere von den neuen Hochhaussiedlungen erhofften sich die politischen Verantwortlichen nicht nur eine Milderung der Wohnungsnot, sondern auch eine Herauslösung der Arbeiterfamilien aus ihren angestammten proletarischen Milieus. Eingesetzt hatte der öffentlich subventionierte Massenwohnungsbau indes schon früher.106 So wurde in Frankreich 1912 per Gesetz die Gründung von Gesellschaften verfügt, die den Bau staatlich subventionierter preiswerter Wohnungen, sogenannter Habitations à Bon Marché, initiieren sollten. Sie waren der Vorläufer für die ab Mitte der 1950er Jahre im großen Stil erbauten Sozialwohnungen, die Habitations à loyer modéré (HLM). Auch in Deutschland entstanden bereits in den 1920er Jahren erste öffentlich geförderte Wohnsiedlungen. Doch blieb der Einfluss beider Staaten auf das Angebot neuer Wohnungen zunächst beschränkt und war kaum zu vergleichen mit der massiven öffentlichen Bau tätigkeit und staatlich angeleiteten Neugestaltung innerstädtischer Viertel, die in den 1950er Jahren einsetzte.107 Außerdem unterschied sich der Wohnsiedlungsbau der Zwischenkriegszeit von dem der Nachkriegsjahrzehnte im Umfang und in der Anlage der Wohnsiedlungen, die verstärkt an den Stadtrand wanderten.108 Mit ihrer umfangreichen Neubau- und Modernisierungspolitik reagierten die französische und westdeutsche Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine gravierende Wohnungsnot. In beiden Ländern stellte der fundamentale Mangel an Wohnraum, der in Großstädten besonders ausgeprägt war, ein dringliches Problem dar.109 Seine Ursachen hatte dieser Mangel unter anderem in den mas104 Zu den jeweiligen Instrumenten der Wohnungspolitik siehe im deutschen Fall den Überblick bei Beyme, im französischen Fall Newsome. 105 Rudolph. 106 Schildt u. Sywottek, Massenwohnung. In Frankreich gilt gemeinhin das 1928 erlassene »loi Locheur«, das die Finanzierung tausender Wohnungen für die unteren Schichten vorsah, als frühes Beispiel einer staatlichen Politik des Sozialen Wohnungsbaus. Effosse. 107 Von den in Frankreich unter dem »loi Locheur« vorgesehenen 500.000 neuen Wohnungen wurden nur 200.000 realisiert. Und zum Massenwohnungsbau in Deutschland vor den 1950er Jahren schreiben Schildt und Sywottek, dass die »Übernahme öffentlicher Verantwortung für den Wohnungsbau zunächst kaum mehr bewirkte als die Regulierung und Förderung wohnungswirtschaftlicher Trends, die weiterhin vom Mangel bzw. von einem zu geringen Wohnungsangebot bestimmt wurden.« Schildt u. Sywottek, »Massenwohnung«, S. 17. 108 Für einen Vergleich des Wohnsiedlungsbaus der 1920er und 1960er Jahre siehe auch Herlyn u. a. 109 Zu den Problemen einer konkreten Quantifizierung des damaligen Wohnungsmangels siehe Saly-Giocanti.
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siven Zerstörungen, die das Kriegsgeschehen in vielen Städten mit sich gebracht hatte. Hinzu kam gerade im französischen Fall, dass seit der Zwischenkriegszeit kaum in den Neubau oder die Sanierung des bestehenden Wohnraums investiert worden war.110 Zwar waren deutsche Städte im Zuge des Kriegs stärker zerstört worden als französische, doch zog das Ausbleiben von Sanierungen und Neubauten seit der Zwischenkriegszeit auch in Frankreich eine ausgeprägte Wohnungsnot nach sich. Der Wohnungsbestand war nach 1945 in weiten Teilen veraltet und es fehlte an Wohnraum. Die Zerstörungen des Kriegs betrafen ein geschätztes Viertel des patrimoine immobilier, und die französischen Autoritäten bezifferten 1948 den Bedarf an neuen Wohnungen auf 4 bis 5 Millionen.111 In Westdeutschland veranschlagte das Bundesbauministerium den Wohnungsfehlbestand 1950 mit rund 4,8 Millionen Wohnungen und ging davon aus, dass 39 von 100 Haushalten über keine eigene Wohnung verfügten.112 Noch Mitte der 1960er Jahre häuften sich die Klagen über die sozialen Folgen dieser Wohnungskrise. Dass der Wohnungsmangel sich nur langsam beseitigen ließ, hing unter anderem damit zusammen, dass die Geburtenrate nach Kriegsende merklich angestiegen war. Gepaart mit einer starken Zuwanderung führte der Babyboom vor allem in Frankreich zu einem beeindruckenden demographischen Wachstum. Darüber hinaus schritt die Urbanisierung des Landes voran: Noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Frankreich stärker agrarisch geprägt als alle anderen westlichen Länder. Zwischen 1946 und 1968 wuchs die urbane Bevölkerung dann von 53 auf 66 %, und während 1946 noch 36 % der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiteten, waren es 1975 lediglich 9,5.113 Verstärkt wurde dieser Urbanisierungsschub durch die Zuwanderung aus dem sich auflösenden französischen Kolonialreich sowie die europäische Arbeitsmigration. Die meisten der aus südeuropäischen Ländern wie Portugal, Italien und Spanien kommenden Migrantinnen und Migranten, die in der boomenden französischen Wirtschaft tätig waren, zogen in städtische Gebiete.114 Ähnliches galt für die Arbeitsmigration in Westdeutschland, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten gleichfalls in erster Linie ein Phänomen der Städte darstellte.115
110 Marie-Claude Blanc Chaléard weist darauf hin, dass Deutschland zwischen 1918 und 1939 4 Millionen neuer Wohnungen erbaute, Frankreich dagegen nur 1,5 Millionen. Blanc- Chaléard, En finir, S. 24. 111 Voldman; Tellier, S. 22. 112 Ebd., S. 23; Beyme, S. 90, Harlander, S. 237. Führer, Mieter, Hausbesitzer, S. 42 f. Das französische Minstère de la Reconstruction et de l’Urbanisme bezifferte 1947 den Bedarf an neuen Wohnungen in den kommenden zehn Jahren auf 5,85 Millionen. Fourcaut u. Voldman, S. 14. 113 Sirinelli, S. 37 f. 114 Für einen Überblick zur französischen Migrationsgeschichte und -politik in dieser Zeit siehe Noiriel, S. 483 ff.; Weil. 115 Herbert, Ausländerpolitik, S. 198 f., 226.
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In beiden Ländern war der von staatlichen Subventionen vorangetriebene Bauboom in den 1950er bis 1970er Jahren bemerkenswert. In Westdeutschland entstanden in den 1960er Jahren jährlich im Schnitt 600.000 neue Wohnungen, und noch 1973 vermeldete die Bundesrepublik ein Rekordhoch von 714.226 neu erbauten Wohnungen pro Jahr.116 In Frankreich wurden Mitte der 1950er Jahre jährlich um die 300.000 Wohnungen gebaut, und im Jahr 1972 entstand die Rekordzahl von mehr als 550.000 neuen Wohnungen.117 In beiden Fällen ließ diese massive Neubautätigkeit dann aber merklich nach, weil der Bedarf gesunken war und das Bauen teurer wurde. Die sozialstaatliche Hilfe verlagerte sich von der Subventionierung des Sozialen Wohnungsbaus auf die Zahlung von Wohnungsbeihilfen.118 Auch wurde der private Wohnungsbau stärker gefördert. Und die 1980er Jahre stellten dann, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern, endgültig eine Phase des »demantèlement« dar, der Veräußerung von Wohnungen im öffentlichen Besitz und der sinkenden Bedeutung eines staatlich subventionierten Wohnungsbaus.119 1974 hatte die westdeutsche Bundesregierung erklärt, dass erstmals seit Kriegsende ein »Gleichstand zwischen der Zahl der Wohnungen und der Zahl der Haushalte« erreicht sei, und auch in Frankreich galt die akute (quantitative) Wohnungskrise der Nachkriegszeit Anfang der 1970er Jahre als beseitigt.120 Allerdings galt das auch zu diesem Zeitpunkt nicht für alle Städte und Regionen in gleicher Weise. Hinzu kam, dass der Bedarf an Wohnraum pro Kopf stetig zunahm. Das war vor allem deswegen der Fall, weil die Zahl der Einpersonen haushalte wuchs. Darüber hinaus verschoben sich die Wohnvorstellungen und die Wohnfläche pro Kopf nahm deutlich zu.121 Neue Haushaltstypen wie Wohngemeinschaften oder Single-Haushalte gewannen gegenüber dem zuvor vom Modell der Kleinfamilie bestimmten Wohnen an Einfluss. Die allgemeine Pluralisierung der Lebensstile schlug sich in veränderten Erwartungen an den Zuschnitt von Wohnungen und deren Lage nieder und trieb die weitere Ausdifferenzierung der städtischen Wohnungsmärkte voran. Schon in den frühen 1980er Jahren war in Westdeutschland daher wieder von einer »neuen Wohnungsnot« die Rede, wobei sich die erneuten Klagen über die Lage am Wohnungsmarkt vor allem auf Großstädte bezogen und maßgeblich den Mangel an eher preisgünstigen kleineren Wohnungen betrafen.122 In jedem Fall wurden in diesem Zusammenhang Forderungen nach einem erneuten Engagement des Staates in der Baupolitik und auf dem Wohnungsmarkt laut, das letztlich aber ausblieb, da neoliberale Absagen an einen starken Staat 116 Kühne-Büning u. a., S. 161ff; Beyme, S. 107. 117 Saly-Giocanti, S. 32. Die französische Regierung erbaute zwischen 1953 und 1970 um die zwei Millionen HLM und 3 Millionen logements aidés. 118 Effosse; Barou. 119 Fourcaut u. Voldman, S. 7. 120 Zapf, S. 576; Saly-Giocanti, S. 42. 121 Saly-Giocanti, S. 40. 122 Führer, Die Stadt, S. 328–336.
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mehr Gehör fanden und darüber hinaus der öffentliche Wohnungsbau vielen als gescheitertes Projekt galt.123 Auch in Frankreich war in den 1980er Jahren wieder zunehmend von einer »Wohnungskrise« die Rede. Anders als in der Nachkriegszeit ging es dabei allerdings weniger um einen rein quantitativen Mangel an Wohnraum als um die offenkundig werdenden Probleme des Sozialen Wohnungsbaus in den Vorstädten einerseits und eine voranschreitende Verbürgerlichung (embourgoisement) der französischen Innenstädte andererseits.124 Die zeitgenössischen Beobachterinnen und Beobachter begannen vor einer »Polarisierung« oder »Spaltung« der deutschen und französischen Städte zu warnen, und die in Großbritannien und den USA schon länger zirkulierende Warnung vor einer Gentrifizierung der Innenstädte griff seit den späten 1980er Jahren auf Frankreich und die Bundesrepublik über.125 Damit prägten in beiden Ländern vergleichsweise ähnliche wohnpolitische Veränderungen den Wandel des Wohnens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um diesen Wandel und seine sozialen Effekte zu verstehen, folgt diese Untersuchung den Praktiken und Wissensbeständen, auf die die zeit genössischen Akteure zurückgriffen, um urbane Problemlagen einzuordnen und sie einzuhegen. Als Ausgangspunkt dienen ihr dazu im zweiten Kapitel randstädtische Ba rackenlager und Notunterkünfte, die in den späten 1950er und 1960er Jahren in Frankreich und Westdeutschland zum Inbegriff für die Wohnungsnöte »armer« oder »nicht assimilierbarer« Familien wurden. Anhand der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit randstädtischen bidonvilles im französischen und mit kommunalen Notunterkünften im deutschen Fall geht es um die Frage, was für Hierarchien die zeitgenössischen Akteure über den Bezug auf die »Rückständigkeit« urbanen Wohnens stabilisierten und welches Ordnungsdenken sie mit der Rede von einem »modernen« Wohn- und Lebensstil verbanden. Die Analyse folgt dazu zunächst der Entdeckung urbaner Armutszonen seit den späten 1950er Jahren und ihrer Skandalisierung durch christlich-humanitäre Initiativen. Sie geht von der Entstehung und Auflösung des französischen Barackenlagers Noisy-le-Grand aus und zeichnet die enge Verzahnung von humanitärem Engagement, sozialwissenschaftlicher Forschung und administrativer Praxis im Umgang mit urbanen Wohnungsnöten nach. Das folgende Unterkapitel widmet sich dann der Auflösung der bidonvilles und der Überführung ihrer Bewohner in betreute Übergangslager. Es beleuchtet die eng mit kolonialen Institutionen verzahnte Praxis der Separierung algerischer Migrantinnen und Migranten mit dem Ziel ihrer »Adaptation« und »Evolution«, um dazu dann im anschließen123 Hinzu kam, dass mit der seit den 1970er Jahren fortschreitenden Teuerung im Bauen der finanzielle Aufwand für die Subventionierung sozialer Wohnungen deutlich stieg. Ebd. 124 Fourcaut u. Voldman, S. 15. 125 Der Begriff der »gentrification« selbst geht auf die in Großbritannien lebende Soziologin Ruth Glass zurück, die ihn 1964 in London prägte. Glass. Zu der Auseinandersetzung mit vergleichbaren Prozessen in Frankreich und Deutschland siehe Pinçon u. Pinçon-Charlot; Dangschat u. Friedrichs.
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den Unterkapitel die versuchte »Hebung« wohnungslos gewordener Familien in westdeutschen Städten in Beziehung zu setzen. Abschließend wird diskutiert, wie das zuvor etablierte System der Disziplinierung und Separierung von als deviant, unterentwickelt oder asozial klassifizierten Gruppen in beiden Ländern um 1970 ins Wanken geriet und – eng verknüpft mit einem neuen Verständnis urbaner Problemlagen – einer neuen Formation der versuchen Aktivierung randständiger Gruppen wich. Das dritte Kapitel widmet sich Großsiedlungen am Stadtrand. Die von Hochhäusern dominierten Siedlungen, die seit Mitte der 1950er Jahre an den Rändern westdeutscher und französischer Städte entstanden, galten ursprünglich als Inbegriff eines modernen Wohnens für die »breite Bevölkerung«. Doch begann sich dieses Bild rasch zu wandeln. Immer häufiger war von der Kälte des Lebens dort die Rede und viele der Großsiedlungen galten bald als Arenen urbaner Marginalisierung. Um den Prozess dieser Abwertung zu verstehen, befasst sich die Analyse mit dem Märkischen Viertel in Westberlin und Sarcelles in der Peripherie von Paris. Sie zeigt, wie die beiden neu erbauten Großsiedlungen im Rahmen massenmedialer und sozialwissenschaftlicher Berichte sowie aktivistischer Interventionen als Problemzonen hergestellt wurden. Dabei wird deutlich, dass sich die Siedlungen in den Augen der Zeitgenossen nicht nur deswegen früh zu problematischen Räumen entwickelten, weil ihnen deren Architektur nicht behagte, sondern auch, weil die urbane Modernisierung und das Konzept eines sozial durchmischten Wohnens neue Abgrenzungen, Ein- und Ausschlüsse mit sich brachten. Das vierte Kapitel schließlich folgt der Karriere von Ghettoisierungs- und Segregationsnarrativen in Frankreich und Westdeutschland und setzt sie zu dem sich wandelnden Umgang mit ethnischer Diversität in beiden Ländern in Beziehung. Es geht darin um den Einfluss, den global reisende Daten und an den USA geschulte racial narratives auf die Definition und Verwaltung urbaner Probleme nahmen. Die Analyse widmet sich dafür zunächst der sich wandelnden Sprache der Segregation und Ghettoisierung im 20. Jahrhundert und beschreibt, wie beide Konzepte zunehmend mit einem Phasenmodell der räumlichen Verteilung und (Des)integration migrantischer Gruppen verknüpft wurden. Sie befasst sich mit der Erfindung des »Ausländerghettos« in der westdeutschen Stadtpolitik und Soziologie um 1970 und wendet sich dann den ethnisierten Praktiken der Quotierung migrantischer Bevölkerungen zu, die in französischen und westdeutschen Städten zwischen den 1960er und 1980er Jahren ergriffen wurden. Ausgehend von der bei Lyon gelegenen und wiederholt von urbanen Unruhen heimgesuchten Großsiedlung Les Minguettes vollzieht die Analyse anschließend das Umschlagen einer »question social« in eine »question raciale« in der Beschreibung urbaner Konflikte nach und stellt Überlegungen zum Übergang von stärker klassenbasierten zu ethnisierten und Race-basierten Grenzziehungen in der Bundesrepublik und in Frankreich im späten 20. Jahrhundert an.
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2. Die neue Normalität des modernen Wohnens und ihre Ein- und Ausschlüsse
2.1 Das Projekt der Modernisierung der Gesellschaft in den 1950er und 1960er Jahren Die Beseitigung der akuten Wohnungsnot und die Schaffung besserer Wohnverhältnisse für alle sozialen Schichten gehörten in der Nachkriegszeit zu den zentralen Versprechen westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten. Dementsprechend gern führten zeitgenössische Politikerinnen und Politiker die Zahl neu erbauter Wohnungen an, um auf die Leistungen des Staates und einen allgemein steigenden Wohlstand zu verweisen. An die neuen Standards des modernen Wohnens band sich die Hoffnung auf eine befriedete, weniger durch Klassenunterschiede definierte Gesellschaft, und das »moderne Wohnen« wurde in Frankeich und in Westdeutschland zu einem viel zitierten Signum der Wirtschaftswunderjahre.1 Allgemein war damit ein Lebensstil gemeint, der ein Mindestmaß an Komfort umfasste. Konkret ging es um Wohnungen, die auf die Bedürfnisse der Kleinfamilie als zentraler sozialer Einheit zugeschnitten waren, die über neue Haushaltsgeräte und einen standardisierten Grundriss, über fließend warmes Wasser, Zentralheizung und Innen-WC verfügten. Doch erwies sich bald, dass sich der Wohnungsmangel der Nachkriegszeit kaum schnell beheben ließ und sich das Versprechen auf modernen Komfort für einen Teil der Bevölkerung nicht (oder nicht schnell) verwirklichte. Genau genommen zeigte sich, dass das umfassende Projekt einer Modernisierung der Städte keineswegs nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervorbrachte: Gruppen, deren Wohnprobleme im Laufe der 1950er und 1960er Jahre durch Urbanisierung, Sanierung und Massenwohnungsbau tendenziell eher zu- als abnahmen. Im französischen Fall war das Projekt einer Modernisierung der Städte zunächst noch eng mit kolonialen Interessen verschränkt und erstreckte sich über die Grenzen des metropolitanen Frankreichs hinaus auf die noch bestehenden Kolonien. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren in kolonialen Kontexten modernistische Stadtplanungskonzepte erprobt worden, die auf eine Separierung
1 Vgl. zum französischen Kontext v. a. Cupers; Rudolph sowie zum westdeutschen Fall: Kuchen buch, Geordnete Gemeinschaft. Vgl. mit Blick auf die in die NS-Zeit zurückreichenden Kontinuitäten der Architektur der Moderne zudem Necker. Zum Wohnungsbau der Nachkriegszeit in Westdeutschland allgemein siehe auch Flagge, S. 817 ff.
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und Erziehung der kolonialen Subjekte zielten.2 Nach dem Krieg bemühte sich die französische Bürokratie dann darum, vor allem den algerischen Unabhängigkeitsbestrebungen im Zuge des Algerienkriegs (1954–1962) eine Politik der Modernisierung und der sozialen Reformen auch im Bereich des Wohnens entgegenzusetzen.3 Unter anderem betrieb die französische Kolonialverwaltung dazu in Algerien eine Politik der Zwangsumsiedlung und -modernisierung der muslimischen Bevölkerung, die sich auf Umsiedlungslager ebenso stützte wie auf neu erbaute Großsiedlungen am Rande algerischer Städte. Im metropo litanen Frankreich initiierte die Regierung wiederum ein Wohnprogramm, das dazu beitragen sollte, insbesondere algerische Migrantinnen und Migranten an das »Leben in der Moderne« zu gewöhnen. Historikerinnen und Historiker haben bei ihrer Schilderung der Nachkriegszeit mitunter allzu bereitwillig eine Sprache der Modernisierung und des Fortschritts übernommen, die den zeitgenössischen Akteuren selbst dazu diente, ordnend und disziplinierend in Raum und Gesellschaft einzugreifen.4 Überhaupt führt die Geschichte der damaligen Wohnpolitiken die Probleme der gängigen Beschreibung der 1950er bis 1970er Jahre als trente glorieuses oder »Wirtschaftswunderjahre« in Frankreich und Westdeutschland vor Augen.5 Denn die viel beschworene Hebung des Lebensstandards in diesem Zeitraum war zwar bemerkenswert, doch betraf sie nicht alle sozialen Gruppen in gleicher Weise. Bestimmte Disparitäten blieben bestehen und neue entstanden, und das gilt zumal für Unterschiede im urbanen Wohnen. Auch war der sozio-ökonomische Wandel gerade der französischen Nachkriegsgesellschaft eng mit dem Prozess der Dekolonisation verschränkt.6 Und obwohl sich eine stetig wachsende Zahl von Studien der französischen Kolonialherrschaft, der damit verknüpften fracture coloniale und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart widmet,7 ist das 2 Rabinow, Kap. 9. Zur kolonialen Wohnungspolitik in Algerien und speziell zu den ersten sozialen Wohnungsbauprojekten für die algerische Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit siehe Çelik, Kap. 6. Zu französischen Stadtplanungsexperimenten in verschiedenen kolonialen Kontexten im frühen 20. Jahrhundert siehe zudem Wright. 3 Lyons, The Civilizing. Zur Politik der Zwangsmodernisierung und -umsiedlung im Rahmen des Algerienkriegs vgl. Feichtinger u. Malinowski; Feichtinger, Ein Aspekt; ders., Modernisierung; Lyons, The Civilizing. 4 Das gilt zumal für die französische Geschichtswissenschaft, in der Moderne und Modernisierung als analytische Begriffe insgesamt länger gebräuchlich waren als in der deutschen. Miard-Delacroix, S. 259 f. Es dürfte stimmen, dass in Deutschland unter anderem die breite Debatte zu den modernisierenden Aspekten der NS-Herrschaft den Modernisierungsbegriff stärker diskreditiert hat. Ob das die Unterschiede zwischen beiden Ländern hinreichend erklärt, ist allerdings fraglich. 5 Siehe hierzu auch Reinecke, Die dunkle Seite. 6 Allgemein zur Geschichte der Dekolonisierung siehe Eckert; Conrad; Kalter u. Rempe; Leonhardt sowie die besonders einflussreiche Studie von Shepard. 7 Zu den Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit auf aktuelle gesellschaftliche Konstellationen siehe u. a. Blanchard u. a., Fracture; Blanchard u. a., Colonial Culture. Der Schwerpunkt der zeithistorischen Auseinandersetzung mit dem postkolonialen Frankreich liegt bis
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master narrative der glorreichen Nachkriegsjahre davon erstaunlich unberührt geblieben. Darüber hinaus droht die gängige Boomerzählung auszublenden, was für ein Ordnungsdenken die zeitgenössischen Akteure mit der Rede von einem »modernen Lebensstil« verbanden und welche Ein- und Ausschlüsse damit verknüpft waren. Dabei war die Modernisierung des Wohnens in Frankreich und Westdeutschland nicht nur an spezifische Vorstellungen von Normalität gebunden, sondern sie wirkte auch auf spezifische Weise integrierend und desintegrierend. Das wird besonders am Umgang mit Familien deutlich, die in der französischen und deutschen Wohnpolitik als »asozial«, »sozial schwach« oder »nicht angepasst« eingestuft wurden. Auch wird es an den Räumen deutlich, die zwischen den 1950er und frühen 1970er Jahren als besonders abweichend oder modernisierungsbedürftig galten. Das folgende Kapitel setzt sich daher mit randstädtischen Barackenlagern (sogenannten bidonvilles) im französischen und kommunalen Notunterkünften im westdeutschen Fall auseinander, sowie mit den Praktiken und Klassifikationen, die sich in beiden Wohlfahrtsregimen um sogenannte »schlecht Untergebrachte« oder wohnungslos gewordene Familien gruppierten. Dass die Modernisierung des Wohnens und die Schaffung besserer Wohnverhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren eigene Differenzierungen, Ein- und Ausschlüsse mit sich brachte, gehört zu den zentralen Thesen dieses Kapitels. Dass diese Ein- und Ausschlüsse auch etwas damit zu tun hatten, was als Ursache urbaner Wohnungsnot galt, gehört zu dessen zentralen Beobachtungen. Denn während sich in den ersten Nachkriegsjahren die Umstrukturierung des urbanen Raums mit dem Versprechen auf einen besseren Lebensstil für alle verband – und damit auf einen Lebensstil, der zuvor der Mittelschicht vorbehalten war – wurde im Zusammenhang mit dem modernen Wohnen stets auch die Frage verhandelt, welche spezifischen Verhaltensweisen dieser Lebensstil erforderlich machte, wer diesen Anforderungen gewachsen war und wer nicht. Urbane Wohnungsnot galt vielen wohnpolitischen Autoritäten lange als Problem des abweichenden Sozialverhaltens, der ungenügenden »Entwicklung«, »Adaptation« oder »Modernität« der Betroffenen. Viele wohnpolitische Maßnahmen zielten deswegen nicht allein oder primär auf die Bereitstellung von mehr Wohnraum, sondern sie zielten auf die Erziehung der Bewohner, auf ihre Integrationsfähigkeit und ihre Befähigung zum »modernen Leben«. Auch zur Blütezeit der europäischen Wohlfahrtstaaten, das wird im Folgenden deutlich, wirkten Politiken des urbanen Wohnens nicht durchgehend de-segregierend, sondern sie zielten dezidiert auf die Separierung bestimmter dato auf der Erinnerung an die koloniale Vergangenheit, dem Algerienkrieg sowie der (post-) kolonialen Immigration, vgl, etwa Stora. Auch hat die Geschichte von Gewalt und Gewalterfahrungen zur Zeit des Algerienkriegs viel Aufmerksamkeit erfahren: Branche; House u. MacMaster. Zur (post-)kolonialen Migration und dem Umgang damit siehe den Überblick bei Weil. Zu den eng mit der Dekolonisierung verknüpften Verschiebungen in der radikalen Linken siehe zudem Kalter.
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Gruppen. Maßgeblich zwei Wissensordnungen beeinflussten in dieser Zeit den Umgang mit schlecht Untergebrachten: die an medizinisch-biologische Wissensbestände anknüpfende Vorstellung, dass über eine räumliche Separierung deren Erziehung zur und Integration in die moderne Gesellschaft erreicht werden konnte und die an soziologische Wissensbestände anknüpfende Vorstellung, dass die räumliche Mischung und das alltägliche soziale Miteinander mit Menschen normalisierend wirkten, deren Lebensweise als »normal« galt. Beide Modelle beeinflussten die Strategien, die in westdeutschen und französischen Städten zur Bekämpfung urbaner Wohnungsnöte ergriffen wurden, doch löste das (soziologische) Modell der Durchmischung gegen Ende der 1960er Jahre tendenziell das (biologische) der Separierung ab. Die randstädtischen provisorischen Siedlungen, die dabei häufig im Zentrum wohnpolitischer Erziehungsmaßnahmen standen, waren an sich kein neues Phänomen. Paris etwa umgab im frühen 20. Jahrhundert eine jenseits der früheren Festungsanlagen gelegene, etwa 250 m breite Zone wie ein Gürtel: la zone. Entgegen des herrschenden Bauverbots beherbergte diese zone eine rasch wachsende Zahl selbst erbauter Hütten und Siedlungen. Sie diente als Ausweichraum für proletarische Haushalte sowie in Teilen auch für neu Ankommende aus ländlichen Regionen, die in der Stadt selbst keine Bleibe finden konnten oder der dort herrschenden Wohnungsnot entkommen wollten. Ende der 1920er Jahre wohnten infolge dieser »wilden Urbanisierung« um die 40.000 Personen in der zone.8 Zugleich entstanden dort in der Zwischenkriegszeit erste Sozialwohnungsbauten, und die Verwaltung unternahm Vorstöße zur Räumung. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass in der weiteren Peripherie von Paris die Zahl von lotissements, von selbst erbauten Baracken, Häusern und Hütten, wuchs und in den Augen der Sozial- und Stadtreformer um 1930 als »urbanes Übel« galt, das beseitigt gehörte.9 Ähnliche Entwicklungen gab es in deutschen Städten. Auch dort waren im Zuge der Wohnungsnot in den Randlagen vieler Großstädte Laubensiedlungen und ungenehmigt errichtete Gebäude entstanden. Das »wilde Siedeln« wurde in der Zwischenkriegszeit zum viel zitierten Beispiel eines Wohnungselends, das es zu bekämpfen galt. Allein in Berlin wurde 1934 die Zahl der Menschen, die dauerhaft in solchen Lauben wohnten, auf 124.000 geschätzt.10 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen noch die in großer Zahl errichteten Flüchtlingslager und Notunterkünfte für Kriegsgeschädigte hinzu. Trotz des beachtlichen Baubooms der 1950er und 1960er Jahre sank die Zahl an randstädtischen Notsiedlungen zunächst nicht. In Teilen nahm sie sogar zu. Und das, obwohl der 8 Blanc-Chaléard, En finir, S. 27. 9 Fourcaut, La banlieue, v. a. S. 57–62, 83–111. Einen guten Eindruck der zone und ihrer zeitgenössischen Darstellung als Armutszone vermittelt der Film von Georges Lacombe zum »Land der Lumpensammler«: La Zone. Au pays des chiffoniers (Frankreich, Stummfilm, 1928). 10 Fischer-Dieskau, S. 35.
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staatlich induzierte Bauboom in der Nachkriegszeit einen bemerkenswerten Wandel in der Wohnqualität mit sich brachte. Noch Anfang der 1950er Jahre verfügten in Frankreich 65 % der Arbeiterhaushalte über weniger als 10 qm Wohnfläche pro Person. Dreiviertel der Wohnungen besaßen keine eigene Toi lette und nur 60 % verfügten über fließendes Wasser.11 In den folgenden zwei Jahrzehnten änderte sich das schrittweise. Die durchschnittliche Belegungsdichte von Wohnungen sank in Westdeutschland ebenso wie in Frankreich, zugleich verbesserte sich deren Ausstattung.12 Doch während modern ausgestattete Wohnungen für immer größere Teile der Bevölkerung zur Normalität wurden, blieb der neue Komfort für andere unerreicht. Beide Länder hatten bis in die frühen 1970er Jahre zumal in den Großstädten damit zu kämpfen, dass die Nachfrage nach Wohnraum das vorhandene Angebot überstieg. Zwar schuf die staatliche Wohnungspolitik insgesamt mehr und besseren Wohnraum, doch trug der umfassende Abriss von Altbauten zugleich zur Beseitigung besonders preiswerter Unterkünfte bei. Hinzu kam, dass im Zuge der voranschreitenden Urbanisierung und einer sich ausdehnenden Arbeitsmigration neue Wohnungssuchende in die Städte drängten. Die rege Neubautätigkeit der Nachkriegszeit beseitigte den herrschenden Wohnungsmangel daher nicht vollständig, das erweiterte Angebot an modernisiertem Wohnraum kam nicht allen in gleicher Weise zugute und brachte neue Probleme mit sich. In Frankreich begannen um 1960 vor allem die sich mehrenden bidonvilles an den Rändern französischer Städte die Aufmerksamkeit staatlicher wie nicht-staatlicher politischer Akteure zu erregen. In Westdeutschland galt das Gleiche für die steigende Zahl der Bewohner kommunal verwalteter Notunterkünfte in den Randlagen deutscher Großstädte. Die Lebensverhältnisse in diesen Siedlungen wurden in beiden Ländern zunehmend skandalisiert. Auch deswegen, weil damit die verbreitete Annahme in Frage stand, das starke wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegsjahre werde, gepaart mit dem expandierenden Wohlfahrtsstaat, Armut endgültig beseitigen. Wenn Foucaults Beobachtung zutrifft, dass sich Gesellschaften stets aufs Neue ihre eigenen Gegenräume schaffen – andere Orte »jenseits aller Orte« – dann wurden periphere Barackenlager, Notunterkünfte und Übergangssiedlungen in den modernisierten Städten der 1950er und 1960er Jahre zunehmend zu solchen Heterotopien. In beiden Gesellschaften fungierten die randstädtischen Lager und Siedlungen entweder als Räume der Abweichung oder als Räume der Moral.13 Die Zeitgenossen sahen darin Armutszonen, in denen Verhältnisse herrschten, die es in einer Wohlstandsgesellschaft gab, aber nicht geben durfte. Ganz im Sinne von Foucault und dessen »Abweichungsheterotopie«, behandel11 In Paris hatten 1954 54 % der Wohnungen kein eigenes WC, 74 % fehlte eine Zentralheizung. Zancarini-Fournel u. Delacroix, S. 139; Blanc-Chaléard, En finir, S. 67. 12 In der Bundesrepublik verfügten auch 1968 nur 30 % der Wohnungen über Bad, WC und Sammelheizung. Zapf, S. 578. 13 Foucault, Die Heterotopien.
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ten sie die Siedlungen als Abweichungsräume, in denen Menschen lebten, die sich »im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm« abweichend verhielten.14 Zugleich begann eine Reihe von Akteuren – vor allem aus dem humanitären Umfeld und später aus dem weiteren Umfeld der Neuen Linken – eben diese Siedlungen als Orte der reinigenden Moral zu behandeln, die sie aufsuchten, um an einer besseren, gerechteren Gesellschaft zu arbeiten. Es waren vor allem drei Gruppen, die dazu beitrugen, dass urbane Armut und die Wohnverhältnisse in bidonvilles und Notunterkünften verstärkt öffentlich diskutiert wurden: Erstens waren das Aktivisten und lokale Initiativen, die in der Auseinandersetzung mit mangelhaften Wohnverhältnissen ein neues Feld für ihr humanitär oder christlich begründetes Engagement fanden. Sie sahen in dem Fortbestand ärmlicher Lebensverhältnisse in einer vom Wohlstand gezeichneten Gesellschaft ein vor allem moralisches Problem. Zweitens wandten sich die Wohnverwaltungen verstärkt urbanen Problemzonen und prekär wohnenden Gruppen zu, die vom Sozialen Wohnungsbau der Nachkriegsjahre noch nicht profitiert hatten. Beide, lokale Initiativen und (kommunale und nationale) Wohnverwaltungen, griffen in den 1960er Jahren zunehmend auf Auftragsforschungen zurück. Sozialwissenschaftliche Expertinnen und Experten waren damit eine dritte Gruppe, die Wissen zu den bidonvilles und Notunterkünften produzierte.
2.2 Das Barackenlager Noisy-le-Grand und die Neuentdeckung urbaner Armut in der humanitären Hilfe und den Sozialwissenschaften a) Noisy-le-Grand, ATD Quart Monde und die Wohnungskrisen der Nachkriegszeit Eine der Straßen der nordöstlich von Paris gelegenen Kleinstadt Noisy-le-Grand führte seit Mitte der 1950er Jahre aus der Stadt heraus zu einem Barackenlager. Am Stadtrand, in der Nähe einer Baustofffabrik und eines früheren Schuttabladeplatzes gelegen, standen auf unbefestigtem Terrain 250 lang gezogene, halbrunde Nissenhütten aus Eternit, sogenannte igloos. Jede davon war mit einem Wellblechdach versehen und um die 42 qm groß. 1961 lebten darin etwa 1.400 Menschen. In der Mehrzahl handelte es sich um kinderreiche Familien, von denen der bei weitem größte Teil aus dem metropolitanen Frankreich, vor allem aus der Pariser Region kam.15 Die Bewohnerinnen und Bewohner versorgten sich über zwei Pumpen mit Wasser, das Terrain war nicht an das Stromnetz 14 Ebd., S. 12. 15 Labbens, La condition, S. 49. Im Schnitt lebten dort vier Kinder in einem Haushalt. Cournut, S. 13.
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oder die Kanalisation angeschlossen, und die Wege zwischen den Hütten waren nicht asphaltiert. Müll wurde nicht abgeholt, bei den meisten der in hölzernen Baracken untergebrachten WCs fehlte die Überdachung. Unter den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen firmierte dieses Lager meist als Camp von Noisy-leGrand. Offiziell trug es allerdings einen anderen, durchaus sarkastisch anmutenden Namen: »Château de France«.16 Essen sei ein Problem gewesen, Wasser auch, erinnert sich später Bernard Jährling, der mit seiner Mutter und seinen Geschwistern Mitte der 1950er Jahre in Noisy-le-Grand unterkam.17 Wasser habe es nur aus einer zentralen Pumpe gegeben und wenn der Winter kam, sei die Situation zu einem Martyrium ge worden. Jährling berichtet über beengte Wohnverhältnisse und ständige Konflikte. Gewalt sei eine alltägliche Erfahrung gewesen. Auch lebten die Bewohnerinnen und Bewohner in der ständigen Angst, dass die Sozialfürsorge ihre Kinder in Heimen unterbrachte, was oft passierte. Jährling, Kind einer deutschen Mutter und eines französischen Kriegsgefangenen, war vierzehn Jahre alt, als er in Noisy-le-Grand ankam. Als junger Erwachsener kam er dort mit seiner Frau Jeanne zusammen. Als sie von ihm ein Kind erwartete, wechselten beide in eine eigene Baracke. Sie blieben bis zu dessen Auflösung Anfang der 1970er Jahre in Noisy und zogen dann mit anderen Bewohnern in eine von der Hilfsorganisation ATD Quart Monde und der französischen Regierung errichtete Übergangsunterkunft. Der Aufenthalt dort sollte ihnen helfen, sich – in den Worten ATDs – schrittweise zu »assimilieren« und sich jene »Elemente anzueignen, die die Kultur der Gesellschaft ausmachen, in der sie leben sollen«.18 Jährlings Erfahrungen spiegeln damit die Entwicklung des Barackenlagers Noisy-le-Grand wider, ebenso wie sich darin zentrale Elemente jener Politik der versuchten »Adaptation« der bidonvilles-Bevölkerung andeuten, die die französische Verwaltung im Laufe der 1960er Jahre etablierte. In den frühen 1960er Jahren erhielten die Bewohnerinnen und Bewohner Noisy-le-Grands wiederholt Besuch von Interviewern, die mit dem Fragebogen in der Hand bei ihnen klopften. Die Besucher gehörten zwei unterschiedlichen Forschungsteams an. Bei den einen handelte es sich um Studierende, die für den Soziologen Pierre Badin und den Psychiater Jean Cournut arbeiteten. Die beiden waren 1961 vom französischen Bauministerium mit einer Untersuchung beauftragt worden.19 Sie sollten dem Ministerium helfen, die Bevölkerung von Siedlungen wie Noisy anhand ihres Sozialverhaltens und ihrer psychischen Verfassung in unterschiedliche Gruppen einzuteilen. Die französische Minis16 Archives Départementales de la Seine-Saint-Denis, 1654 W-75, Direction Départementale des Affaires Sanitaires et Sociales de la Seine-Saint-Denis; Sous-Préfecture du Raincy. Résorption des bidonvilles de Noisy-le-Grand, Sitzungsprotokoll vom 24. Februar 1970. 17 Jährling, S. 59. 18 Siehe die Vorstellung des geplanten Centre de promotion sociale in der von ATD Quart Monde herausgegebenen Zeitschrift Igloos, November / Dezember 1964, S. 8. 19 Cournut, S. IV; Centre d’étude des équipements résidentiels, Etude.
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terialbürokratie war an solchen Einteilungen interessiert, weil es zwar zu ihren Zielen gehörte, die Barackenlager am Rande vieler französischer Städte aufzulösen. Doch fehlten ihr für eine rasche Überführung der Bewohner in den Sozialen Wohnungsbau die Kapazitäten. Wer Zugang zu Sozialwohnungen erhalten sollte, war aus Verwaltungssicht außerdem nicht nur eine Frage der vorhandenen finanziellen Mittel, sondern auch des angemessenen Verhaltens.20 Untersuchungen wie die von Badin und Cournut sollten der Verwaltung helfen zu entscheiden, wer für das Leben im Sozialen Wohnungsbau »sozial« und »adaptiert« genug und wer dafür ungeeignet schien und dementsprechend in den Lagern verbleiben sollte. Im Februar und Juni 1961 schickten Badin und Cournut also zunächst eine Gruppe von Soziologiestudenten nach Noisy, gefolgt von einem Team von je einem Psychiater und einem Sozialarbeiter, um die Bewohnerinnen und Bewohner mit Hilfe von Fragebögen zu befragen und sie entlang einer Skala einzustufen, die von »normal« bis »asozial« reichte.21 Bei dem anderen Interviewteam handelte es sich um Freiwillige, die für die Hilfsorganisation Aide à toute détresse (ATD, später ATD Quart Monde) in Noisy-le-Grand arbeiteten. Sie halfen dem Soziologen Jean Labbens bei einer Studie, mit deren Durchführung ATD ihn beauftragt hatte. Mit Unterstützung der Freiwilligen beobachtete und protokollierte Labbens 1963 sechs Monate lang die alltäglichen Routinen der Bewohnerinnen und Bewohner von Noisy.22 Er versuchte auf diese Weise, zu einem besseren Verständnis der »ganz Armen«, ihrer Strategien und sozialen Beziehungen zu gelangen. Darüber hinaus hoffte er, wie er später schrieb, Strategien zu erarbeiten, die deren »Reintegration« in die französische Gesellschaft ermöglichen sollten. Die Arbeit dieser beiden Forschungsteams dient im Folgenden als Bezugspunkt, um den Einfluss nachzuzeichnen, den nicht-staatliche humanitäre Initiativen neben Experten wie Cournut und Badin in den 1960er Jahren auf den Umgang mit urbaner Wohnungsnot und Desintegration nahmen. Im Mittelpunkt steht die zunächst lokale, bald internationale Arbeit der Hilfsorganisation ATD Quart Monde, die ihren Ursprung in Noisy-le-Grand hatte. In Teilen humanitär-universalistischen, in Teilen christlichen Idealen verpflichtet, began-
20 Vgl. die Einteilung, die eine Arbeitsgruppe des Bau- und Wohnungsministeriums 1966 vornahm und bei der zwischen »normalen Familien« unterschieden wurde, deren Integration als vollzogen und deren Zugang zu einer Sozialwohnung angeraten schien, Familien, die von einer kurzfristigen Integration profitieren sollten und deren Überweisung in eine cité de transit daher ratsam schien sowie Familien, deren Integration nur auf lange Dauer möglich schien. Tricart. 21 Cournut. Siehe dazu auch Blunschi Ackermann, S. 144. Dass, wie die langjährige ATD-Aktivistin Francine de La Gorce erklärt, das Ministerium für Bevölkerung die Untersuchung in Auftrag gab, ist falsch. La Gorce, L’espoir, S. 189. 22 Labbens, La condition; Klanfer, S. 92–109. Die Unterlagen einer zuvor für Labbens im Mai 1962 durchgeführten Befragung der Bewohnerinnen und Bewohner siehe zudem in: Centre International Joseph Wresinski, Baillet-en-France (CIJW), Ordner: Documents d’enquête.
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nen deren Mitglieder in den späten 1950er Jahren, in Noisy Strukturen zu eta blieren, die einerseits die Selbstorganisation »der Armen« untereinander fördern und andererseits den öffentlichen Umgang mit Armut verändern sollten. Dafür bemühte sich die Organisation intensiv um eine enge, auch internationale Zusammenarbeit mit Soziologinnen und Soziologen auf der einen und staatlichen Akteuren auf der anderen Seite. Diese Kooperationen erwiesen sich als durchaus erfolgreich. ATD Quart Monde vermochte einen beträchtlichen Einfluss auf wissenschaftliche Debatten und die Formulierung politischer Agenden in einem sich neu etablierenden Feld zu nehmen, das sich um die »soziale Hebung« und »Assimilation« von Gruppen formierte, die als »arm« (pauvre) »randständig« (marginale), »sozial unangepasst« (inadapation sociale) oder »sozial gehandicapt« (handicapés sociaux) galten.23 Als Akteure der humanitären Hilfe trugen sie damit zur Formulierung einer Politik bei, die von der französischen Ministerialbürokratie im Laufe der 1960er Jahre schrittweise etabliert wurde und die darauf abzielte, sogenannte schlecht Untergebrachte (mal logés), wie etwa die Bewohner von Barackenlagern, vor deren Umsetzung in den Sozialen Wohnungsbau zum Leben in der französischen Gesellschaft zu erziehen. Während die französische Verwaltung sich bei dieser Politik auch an kolonial-rassistischen Vorstellungen unterschiedlicher »Entwicklungs-« oder »Zivilisationsstufen« orientierte – ich komme darauf zurück – entwickelte sie die konkrete Form der adaptation schlecht Untergebrachter maßgeblich in enger Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation ATD Quart Monde. Noisy-le-Grand fungierte so vorübergehend als Laboratorium der Entwicklung neuer administrativer Praktiken im Umgang mit urbaner Wohnungsnot. In dem Barackenlager, das erstaunlich viele Besucherinnen und Besucher anzog, kreuzten sich die Wege zweier Akteursgruppen, die soziale Probleme unterschiedlich rahmten und letztlich die Welt auch unterschiedlich ordneten. Auf der einen Seite waren das politische Akteure und Experten, die sich in ihrem Handeln auf den französischen Sozialstaat bezogen und die in den Lagern den Skandal einer Armut sahen, die dem Wohlstand der französischen Nation nicht angemessen war. Auf der anderen Seite waren das die Protagonistinnen und Protagonisten eines christlich-humanitären Milieus und einer sich international vernetzenden Armutsforschung, die »Armut« als ein universales Phänomen und eine globale Aufgabe betrachteten. Beide behandelten Noisy als einen Ort der Abweichung, den es eigentlich nicht geben durfte. Darüber hinaus stilisierten gerade die humanitären Akteure das Lager aber auch zu einem Ort der Moral: zu einem Ort der Arbeit an einem besseren Selbst oder einer besseren Gesellschaft.
23 Für die Bedeutung dieser Begriffe typisch war die Arbeit der interministeriellen Kommission beim Commissariat Général du Plan, die sich »Intergroupe Handicapés-Inadaptés« nannte. Für die gängige Darstellung von Armut als Problem der »Inadaptation« siehe auch die damals viel beachtete Studie des französischen Politikers Lenoir.
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Politische Akteure ebenso wie Vertreter der Massemedien riefen im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre wiederholt eine Krise des Wohnungswesens aus.24 Das Fernsehen und lokale Kinos zeigten Dokumentarfilme und Reportagen zu dem Thema, überregionale Zeitungen publizierten ganze Serien zur aktuellen Lage am Wohnungsmarkt und im Parlament waren Wohnungsmangel und Wohnungsbau viel diskutierte Themen. Für eine Vielzahl sozialer Übel verantwortlich gemacht, wurde die Wohnungskrise zum Gegenstand eines regen gesellschaftlichen Engagements. Die vorhandenen Zahlen legen dabei nahe, dass es der französischen Regierung, ungeachtet ihrer ambitionierten Wohnungsbaupolitik, nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich nur langsam gelang, der verbreiteten Wohnungsknappheit Herr zu werden.25 Im Laufe der 1960er Jahre entwickelten sich die sogenannten bidonvilles, die Barackenlager am Rande vieler französischer Städte, dann zu einem Kristal lisationspunkt der öffentlichen und verwaltungsinternen Auseinandersetzung mit den Folgen der Wohnungsknappheit.26 Das hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen war deren Zahl im Laufe der 1950er Jahre stark gestiegen.27 1959 belief sich die Zahl an extrem ärmlichen Behausungen (taudis) in Frankreich auf etwa 350.000; speziell in bidonvilles lebten Mitte der 1960er Jahre um die 100.000 Menschen.28 Zum anderen wurden die Barackenlager umso stärker als eine Abweichung vom Normalen und Akzeptablen wahrgenommen, umso mehr Mitglieder der französischen Gesellschaft Zugang zu gut ausgestatteten neuen oder frisch sanierten Wohnungen hatten. Es war maßgeblich das Nebeneinander eines für einen wachsenden Teil der französischen Gesellschaft zugänglichen Komforts auf der einen und ärmlichen Wohnverhältnissen auf der anderen Seite, das die Barackenlager in den 1960er Jahren zu einem Skandal werden ließ. Neben einkommensschwachen, kinderreichen französischen Großfamilien stellten nordafrikanische und südeuropäische (portugiesische, italienische und spanische) Migranten den Großteil, etwa 80 %, der bidonvilles-Bevölkerung. Beide Gruppen kämpften auf dem Wohnungsmarkt mit Problemen.29 Von dem auf die Bedürfnisse von vier- oder fünfköpfigen Familien zugeschnittenen Standard neu erbauter Wohnungen wichen die Wohnbedürfnisse größerer Familien tendenziell ab, zugleich war das Armutsrisiko bei ihnen höher. Hinzu kam, dass 24 Zur Wohnungskrise der Nachkriegsjahre siehe den Überblick bei Zancarini-Fournel u. Delacroix, S. 139–146. 25 Zu den Problemen einer konkreten Quantifizierung des damaligen Wohnungsmangels siehe Saly-Giocanti. Speziell zur Situation in Paris siehe Wakeman, Heroic City, v. a. S. 45–48, 131 f. 26 Zur Karriere des Begriffs »bidonville« selbst siehe die Ausführungen in Unterkap. 2.3. 27 Centre des archives contemporaines [im Folgenden CAC], 199771141/1, Unterakte: VI Plan, Commissariat Général du Plan. Intergroupe Handicapés-Inadaptés, Groupes des Handi capés Sociaux, Bericht von André Trintignac, Oktober 1970. Trintignac war Direktor des innerministerialen Bureau des études sociologiques de l’habitat und damit ein zentraler Vermittler zwischen Ministerium und Sozialwissenschaften. 28 Zancarini-Fournel u. Delacroix, S. 140. 29 Gastaut.
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im Zuge innerstädtischer Sanierungen die Zahl an niedrigpreisigen Altbauwohnungen sank, während die Mieten für öffentlich subventionierte Wohnungen vergleichsweise hoch waren. Mit dem durchschnittlichen Einkommen gerade ungelernter Arbeiter waren sie schwer zu finanzieren.30 Für migrantische Familien kam erschwerend hinzu, dass die Wohnungsgesellschaften, denen die Verwaltung der Sozialwohnungen oblag, sie bei der Zuteilung außen vor ließen oder ihren Zugang quotierten.31 Beiden Gruppen blieben ein paar Alternativen: Sie kamen in hôtels meublés unter, die traditionell Räume für Arbeiterinnen und Arbeiter zur Verfügung stellten.32 Ihnen gelang es, eine Wohnung in den staatlich geförderten Einfachstwohnungen für einkommensschwächere Haushalte zu erhalten. Sie verblieben in innerstädtischen Arbeiterquartieren, deren baldiger Abriss oder deren Sanierung allerdings oftmals vorgesehen war. Oder sie zogen eben in Barackenlager in der städtischen Peripherie. Zwar begann die französische Regierung 1959 damit, die bestehenden bidonvilles aufzulösen. Dennoch lebten 1966 offiziellen Schätzungen zufolge noch immer 75.000 Menschen in den Lagern.33 Der Regierung gelang deren Räumung nur schrittweise, viele blieben bis in die 1970er Jahre bestehen. Bevor sich die öffentliche Auseinandersetzung mit den bidonvilles im Laufe der 1960er Jahre immer mehr auf deren migrantische Bevölkerung verlagerte,34 erregten zunächst die extremen Wohnungsnöte einheimischer Familien die Aufmerksamkeit von Politik und Medien.35 »Armut« wurde Mitte der 1950er Jahren vor allem mit Blick auf französische Haushalte als Problem wieder entdeckt und auf die politische Agenda gesetzt. Für diesen Prozess bildete das »Camp de Noisy-le-Grand« einen wichtigen Bezugsraum. Dabei unterschied sich Noisy vom Großteil der übrigen bidonvilles dadurch, dass französische (und nicht migrantische) Familien den Großteil der Bewohnerschaft ausmachten.36 Die Entstehung Noisy-le-Grands war dabei eng verknüpft mit einer der einflussreichsten öffentlichen Kampagnen gegen Armut im Frankreich der Nach30 Voldman; Tellier; Fourcaut, Les premiers grands ensembles. 31 Vgl. u. a. Blanc-Chaléard, Quotas, sowie am Beispiel Lyons Severin-Barboutie, City, S. 65. Allgemein zur Geschichte der Wohnungspolitik im Umgang mit algerischen Migranten vgl. Bernardot; Blanc-Chaléard, En finir. 32 Zur Geschichte der hôtels meublées siehe Faure u. Lévy-Vroelant. 33 CAC, 199771141/1, Unterakte: VI Plan, Commissariat Général du Plan. Intergroupe Handicapés-Inadaptés, Groupes des Handicapés Sociaux, Bericht von André Trintignac, Oktober 1970. 34 Zur Geschichte der bidonvilles allgemein siehe v. a. Nasiali, Order; Blanc-Chaléard, En finir; Lyons, Des Bidonvilles. 35 Die Hervorhebung entspricht den Hervorhebungen der Zeit. Dass einige der aus den ehemaligen oder noch bestehenden Kolonien eingereisten Migranten de facto französische Staatsbürger waren, trat demgegenüber in den Hintergrund. 36 1966 waren von 247 Familien (1.094 Personen) 212 französisch, 18 algerisch, 11 »mixtes«, 6 von unterschiedlicher Nationalität. CAC, 19980440/3, Société d’H. L. M. Emmaüs, Broschüre: Résorption du bidonville du château-de-France à Noisy-le-Grand, Seine-Saint- Denis, 1966–1971, S. 6.
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kriegszeit.37 Der katholische Priester Abbé Pierre (mit bürgerlichem Namen Henri Grouès), der während des Kriegs in der Résistance gekämpft hatte, startete im Februar 1954 einen öffentlichen Aufruf: Er forderte die französische Öffentlichkeit auf, sich der wachsenden Zahl an Obdachlosen anzunehmen, die in Frankreich lebten.38 Der Aufruf des Abbé zu einem »Aufstand der Güte«, den Radio-Luxembourg am 1. Februar 1954 sendete, wird gerne in französischen Geschichtsbüchern zitiert: »Meine Freunde, zur Hilfe! Eine Frau ist vor Kälte gestorben in dieser Nacht, um 3 Uhr, auf dem Bürgersteig des Boulevard Sébastol. In den Händen hielt sie das Dokument, mit dem man sie vorgestern aus ihrer Wohnung ausgewiesen hatte.« Aufgrund des ungewöhnlich harten Winters und des verbreiteten Wohnungsmangels starben vor allem nachts regelmäßig Menschen auf den Straßen von Paris und anderen französischen Städten. Für den frühen Februar allein wurde 1954 über den Kältetod von hundert Pariserinnen und Parisern in einer Woche berichtet.39 Angefangen mit einer Art Obdach losengemeinschaft bei Paris hatte der Abbé 1949 die sogenannte EmmaüsBewegung (Communauté d’Emmaüs) gegründet, die sich der Bekämpfung von Armut und Wohnungsnot verpflichtet sah. Mit Hilfe dieser »Emmaüs-Gefährten« begann er 1954, Notlager in und bei Paris, aber auch in anderen Städten zu errichten. Darüber hinaus wandte er sich in Reden und Briefen an einzelne Politiker oder, wie in seiner Radioansprache vom 1. Februar, gleich an die gesamte französische Öffentlichkeit. Von Radiostationen übertragen und durch eine rasch wachsende Zahl an Zeitungsberichten und Nachrichtensendungen in lokalen Kinos begleitet, löste der Aufruf des Abbé in Frankreich eine bemerkenswerte Welle der Hilfsbereitschaft aus.40 In ganz Paris entstanden Spendenpunkte und provisorische Lager, bei denen die Bevölkerung Decken, Betten oder warme Kleidung abgeben konnte. Nachts wurden verschiedene Metrostationen und Bahnhöfe offengelassen und Wohnungslosen als zusätzliche Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt. Der französische Strukturalist Roland Barthes, der in seinen Betrachtungen alltäglicher Mythen Ende der 1950er Jahre der Verehrung des Abbé Pierre einen eigenen Abschnitt widmete, mokierte sich dort über eine Gesellschaft, die derart begierig eine zur Schau getragene Wohltätigkeit konsumiere, dass sie Gefahr liefe, die Zeichen der Nächstenliebe an die Stelle realer Gerechtigkeit zu setzen.41 37 Zu dieser Darstellung siehe beispielsweise Grégoire, Le Camp; D. Périer-Daville, Bidonvilles, ces plaies des grandes cités, in: Figaro, 25.12.1960. D. Perier-Daville, Lutter contre la ségrégation sociale des bidonvilles, in: Le Figaro, 08.07.1963. 38 Gueslin, S. 205–219, 138–145. Zancarini-Fournel u. Delacroix. Im Folgenden eigene Übersetzung. 39 Wakeman, Heroic City, S. 139. 40 Laut Wakeman kam es allein in den ersten beiden Februarwochen zu Spenden in Höhe von geschätzt 1 Billion Francs. Ebd., S. 140. Gueslin widerspricht einer solchen Darstellung. Er spricht von 2,5 Milliarden Francs bis März 1954. Gueslin, S. 213. 41 Barthes, S. 51.
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Dennoch führte die stark medialisierte und sehr zeitgemäße Kampagne des Abbé dazu, dass »die Wohnungskrise« Mitte der 1950er Jahre in Frankreich in den Medien ebenso ausgiebig behandelt wurde wie in politischen Debatten. Die französische Nationalversammlung verabschiedete in Reaktion auf den Aufruf des Abbés ein Programm zum Bau von 12.000 Unterkünften in sogenannten cités d’urgence: besonders einfach ausgestatteten und preisgünstigen Notunterkünften. Zu den Notsiedlungen, die infolgedessen entstanden, gehörte Noisy-le-Grand, das 1954/55 von Emmaüs-Aktivistinnen und Aktivisten errichtet wurde. Die Mitglieder der Organisation erwarben mit Hilfe der eingegangenen Spendengelder ein an die Kleinstadt Noisy-le-Grand angrenzendes Gelände. Die wohnungslosen Familien beherbergten sie dort zunächst in Zelten, bevor sie begannen, jene halbrunden Metallbaracken zu errichten, die dessen Struktur bis Anfang der 1970er Jahre bestimmen sollten.42 Durch seine Verbindung zum Wirken des Abbé Pierre zog das Lager bereits früh öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und wurde vorübergehend zum em blematischen Ort der Wohnungskrise. Es wurden Postkarten mit Ansichten des Lagers gedruckt, wiederholt kamen Besucherinnen und Besucher nach Noisy.43 Als im Anschluss an einen reportagehaften Roman von Boris Simon zu den »Lumpensammlern von Emmaüs« 1954 eine Film entstand, gehörte Noisy zu einem der Schauplätze, und in Jean Dewevers viel beachteter Dokumentation »Die Wohnungskrise« von 1956 war das ebenfalls so.44 Noisy-le-Grand war anfänglich vor allem als Übergangslager gedacht, das obdachlos gewordene Familien für kurze Zeit beherbergen sollte, bevor sie eine bleibende Unterkunft fanden. Doch kamen zu den anfänglich etwa 200 dort untergebrachten Familien bald neue hinzu. Das Lager blieb bis Anfang der 1970er Jahre bestehen, und obwohl die Fluktuation gerade in den 1950er Jahren hoch war, verblieb die Mehrzahl der dort Untergebrachten für mehrere Jahre in Noisy. 1963 befand sich ein Drittel der 1955 dorthin verbrachten Familien noch immer dort. In den ersten Jahren von Mitgliedern der Emmaüs-Bewegung geführt, ging die Verwaltung des Lagers nach einer Reihe von Konflikten 1960 allerdings in die Hände der Organisation Aide à toute détresse über.45 Die anfänglich vor allem in Frankeich, erstaunlich schnell aber international operierende Organisation hatte ihre Ursprünge in dem Lager. Zunächst in Form eines Vereins dort gegründet, entwickelte ATD in Noisy eigene Ansätze der humanitären Arbeit.46 Eng verknüpft mit einem christlichen Wohltätigkeitsverständnis wurde das enge Zusammenleben der Aktivistinnen und Aktivisten 42 La Gorce, L’espoir, S. 19; Gueslin, S. 219–229. 43 Perron u. Pouvreau. 44 La crise du logement (Frankreich, Dokumentarfilm, 1956); Les chiffoniers d’Emmaüs (Frankreich, Spielfilm, 1955). 45 Genau genommen war es zunächst der Verein der Amis du Hameau, der später in der Organisation ATD Quart Monde aufging, dem ab 1960 die Leitung des Camps übertragen wurde. 46 Tricart, S. 611–14.
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mit Familien, die in extremer Armut lebten, zu einer zentralen Maßgabe der Organisation. Darüber hinaus propagierten deren Mitglieder eine enge Koope ration mit Sozialwissenschaftlern, die einem Ideal des »geteilten Wissens« folgte. Aktivisten, Bewohner und Forscher sollten miteinander ins Gespräch kommen, voneinander lernen und auf diese Weise Strategien zum Umgang mit Armut erarbeiten. Gegründet wurde ATD durch den katholischen Priester Joseph Wresinski (1917–1988). Im französischen Angers als Kind einer spanischen Mutter und eines polnischen Vaters geboren, wuchs Wresinski – wie seine Biografinnen ebenso wie er selbst stets hervorhoben – in ärmlichen Verhältnissen auf. Von einem anderen Priester auf das Lager aufmerksam gemacht, kam er 1956 erstmals nach Noisy. Von den Bewohnern sowie seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern stets als Père Joseph angesprochen, begann Wresinski, immer mehr Außenstehende auf die dort lebenden Familien aufmerksam zu machen und Strukturen zu etablieren, die deren Lage verbessern sollten. Zu seinen ersten Schritten gehörte der Versuch, Helfer zu finden, die seine Projekte entweder finanziell oder durch ihre Tätigkeit vor Ort unterstützten. In Noisy entstanden infolge dessen zahlreiche neue Räume, wie ein Kindergarten, ein als Treffpunkt für Frauen konzipierter öffentlicher Waschsalon und eine Kirche. Schrittweise rief Wresinski einen Verein von wohltägig Gesinnten ins Leben (Amis du Hameau), gefolgt von der 1958 eingetragenen Association Aide à toute détresse, Kern der später in ATD Quart Monde umbenannten Organisation, sowie einem Büro, das deren Kooperation mit den Sozialwissenschaften koordinieren sollte. Wie viele Organisationen dieser Art neigt ATD Quart Monde dazu, die eigene Geschichte maßgeblich als Ausdruck des charismatischen Wirkens einer Gründerfigur zu deuten.47 Im Falle des Abbé Joseph folgt dessen Inszenierung im Nachhinein, vergleichbar mit der des Abbé Pierre, der narrativen Struktur einer Hagiographie, die wichtigen Stationen des Lebens und Lernens folgt. Gerne erzählt wird eine Anekdote, der zufolge Joseph Wresinski Emmaüs-Aktivisten verbat, im Winter Suppe an die Bewohnerinnen und Bewohner von Noisyle-Grand auszuteilen, mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht permanent von Hilfsleistungen abhängig gemacht, sondern im Gegenteil dazu motiviert werden sollten, selbständig zu werden und sich Arbeit zu suchen.48 Tatsächlich sprach sich Wresinski wiederholt für eine Form der Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen in extremer Armut aus, und er betrachtete die Hebung von deren Selbstwertgefühl als wichtiges Element der eigenen Arbeit. Auch forderte er, in Noisy und vergleichbaren Orten eine Solidarisierung »der Armen« untereinander zu beför47 Vergleiche auch die in ihrer Entwicklung in vielerlei Hinsicht mit Emmaüs und ATD Quart Monde vergleichbare Geschichte der britischen Obdachlosen-Charity Shelter, die in den 1960er Jahren in Reaktion auf die starke Wohnungsnot in Großbritannien gegründet wurde und deren Gründer Des Wilson zwar nicht religiös aufgeladen, aber doch als charismatische Figur inszeniert wurde. Wilson. 48 La Gorce, L’espoir, S. 86–89; Neau-Dufour; Wilson, S. 157.
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dern. Sie sollte es ihnen erlauben, zu »einem Volk« oder einem »vierten Stand« zusammen zu wachsen und sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen. Der Verweis auf die »Vierte Welt« (Quart Monde) im Namen der Organisation wurzelt in diesem Verständnis von Armut nicht als temporärem Zustand, sondern als separater sozialer Sphäre. Die Hilfe zur Selbsthilfe stützte sich in Noisy auf ein System von Freiwilli gen, die für unterschiedlich lange Zeiträume in dem Lager arbeiteten und teilweise auch dort wohnten. Wresinski nahm dafür anfänglich Kontakte mit einer Schweizer Organisation auf, die junge Menschen aus unterschiedlichen euro päischen Ländern vermittelte, die im Sommer für einige Wochen oder Monate nach Noisy kamen.49 Die Zahl dieser Helferinnen und Helfer war durchaus beachtlich, die Vielfalt ihrer Herkunftsländer auch: Allein im Sommer 1961 berichtete »igloos«, die von ATD ins Leben gerufene Lagerzeitung, dass sich derzeit 67 Volontäre aus 16 Ländern in dem Camp aufhielten.50 Aus diesen ersten Kontakten entstand in den folgenden Jahren ein zunehmend verzweigtes internationales Netzwerk, das maßgeblich von Menschen getragen wurde, die zuvor als Freiwillige für ATD gearbeitet hatten. Sie waren es meist, die in anderen europäischen Ländern die ersten Ausgründungen der Organisation schufen. Obwohl er traditionelle Formen der Fürsorge dafür kritisierte, dass sie die Armen in Abhängigkeit hielten, anstatt sie zu ermächtigen, appellierte Wresinski wiederholt an ein traditionelles Verständnis bürgerlicher Mildtätigkeit und christlicher Fürsorge. Für die von ihm propagierte Kombination von Forschung, lokaler Sozialarbeit und einem geteilten Leben in Armut gab es dabei in der bürgerlichen Sozialreform des späten 19. Jahrhunderts prominente Vorläufer. An erster Stelle zählte dazu die britische und US-amerikanische SettlementBewegung.51 Zu deren bekanntesten Projekten gehörte, neben der Londoner Toynbee Hall, das 1889 in Chicago von Jane Addams in einem von Migranten geprägten Armenviertel gegründete Hull House. Dessen Geschichte war mit der der bürgerlichen Frauenbewegung eng verflochten. Die in Hull House tätigen Volontärinnen waren in der Mehrzahl gebildete Frauen, die für eine Kombination von »residence, research, and reform« warben. Das gemeinschaftliche Leben der bürgerlichen Reformerinnen in einer »subproletarischen neighborhood« war so ein zentrales Merkmal der amerikanischen settlements um 1900.52 Die Parallelen zur Arbeitsweise von ATD sind umso markanter, als auffallend viele der Aktivistinnen und Freiwilligen Frauen mit meist bürgerlichem, in
49 Bei der Organisation handelte es sich um die Fraternité Européenne des Bâtisseurs. La Gorce, L’espoir, S. 56. 50 Der Zeitung zufolge kamen die Freiwilligen aus Deutschland, Österreich, Belgien, Canada, Dänemark, Spanien, Äthiopien, Frankreich, Großbritannien, Holland, Italien, Norwegen, Portugal, Schweden, der Schweiz und den USA. Igloos, August 1961, S. 5. 51 Zur amerikanischen settlement-Bewegung siehe Gräser, S. 112, 123–131, 181–86. 52 Ebd., S. 185.
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Teilen adligem Hintergrund waren.53 Ihr humanitäres Engagement hatte indes vergleichsweise wenig mit ihrer bürgerlichen Identität zu tun. Zwar definierte sich die zunehmend vermittelschichtete französische Gesellschaft auch in Abgrenzung von den Barackenlagern am Stadtrand als moderne Wohlstands- und Konsumgesellschaft. Doch war es kaum noch ein selbstverständlicher Teil der bürgerlichen Identität, sich in der privaten Fürsorge zu engagieren. Und auch der Reiz des Engagements für ATD lag für die Beteiligten eher in einer Selbstverwirklichung als femme engagée, bei der sie sich von gängigen bürgerlichen Idealen dezidiert abgrenzten.54 Hinzu kam, dass viele gar nicht Französinnen waren und sich dezidiert als Teil einer internationalen Bewegung begriffen. Und während für die Vernetzung der Organisation etablierte kirchliche Netzwerke eine wichtige Rolle spielten, war ein guter Teil der Aktivistinnen selbst nicht katholisch oder religiös. Abgesehen von Wresinski selbst nahmen so seit den frühen 1960er Jahren vornehmlich Frauen einflussreiche Positionen in der Organisation ein. Dazu gehörte die aus einer adeligen Familie stammende niederländische Diplomatin Alwine de Vos van Steenwijk ebenso wie die Belgierin und spätere Vizepräsidentin der Organisation Francine de le Gorce (geborene Didisheim). Und dazu gehörte Geneviève de Gaulle-Anthonioz, eine Nichte von Charles de Gaulle, die von 1964 bis 2001 als Präsidentin von ATD fungierte. Gerade de Gaulle-Anthonioz, die in den 1950er Jahren einen Posten im französischen Kulturministerium innehatte, verhalf der Organisation durch ihren Namen und ihre persönlichen Beziehungen zu mehr politischem Einfluss. De Gaulle-Anthonioz war als Mitglied der Résistance 1943 verhaftet und später nach Ravensbrück deportiert worden. Ähnlich wie Francine de la Gorce, selbst Tochter eines Résistance-Kämpfers und einer in Ravensbrück internierten jüdischen Mutter, stellte de GaulleAnthonioz wiederholt eine Verbindung zwischen den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Noisy-le-Grand her. Beide Räume beschrieb sie als vom »Leben getrennte Orte«, die ihr jeweils den Wert individueller Menschenrechte gezeigt hätten.55 Die Formulierung ruft Foucaults Definition heterotoper Orte in Erinnerung: Orte, die »anders sind als die übrigen Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weis sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.«56 Weniger als die dort lebende Bevölkerung behandelten viele von außen kommende Akteure Noisy als einen fundamental anderen Ort, der gleich53 Zu deren Engagement und Selbstverständnis siehe u. a. La Gorce, L’espoir; dies., Un peuple; de Vos van Steenwijk u. Dogneton; Neau-Dufour. 54 Vgl. etwa die Bemerkung von Francine de la Gorce, sie sei – »wie alle engagierten Frauen« (femmes engagées) – eine schlechte Mutter gewesen, habe ihren Kindern aber immerhin eine Mutter sein können, die lebe, an was sie glaube. Zitiert nach L. de Courcy, Francine de la Gorce, combattante du quart-monde, in: La Croix, 02.01.2008. 55 Vorwort von de Gaulle-Anthonioz zu: La Gorce, L’espoir, S. 9. Siehe dazu auch ebd., S. 90 f.; Neau-Dufour, S. 156, sowie die Zitate in: Tonglet. 56 Foucault, Die Heterotopien, S. 10.
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wohl eine Lektion bereithielt. Mehr noch als andere Vergleiche trug der Lagervergleich dazu bei, Noisy zu einem Ort des moralischen Imperativs, zu einem Ort des Leidens und der humanitären Arbeit zu stilisieren, dessen Bedeutung weit über das Schicksal der dort Lebenden hinaus reichen sollte. Dass sich eine wachsende Zahl von Akteuren aus Politik und Medien mit Noisy-le-Grand zu befassen begann, war dabei auch eine Folge der Bemühungen ATDs um eine Kooperation mit internationalen Wissenschaftlern. Dass gesellschaftliche engagierte Akteure die Nähe zur Wissenschaft suchten, war nicht neu; die erwähnte Settlement-Bewegung ist dafür ein gutes Beispiel. Doch ist auffallend, wie wirkungsvoll die Organisation die Zusammenarbeit mit internationalen Experten einsetzte, um politischen Einfluss und öffentliche Aufmerksamkeit in Frankreich und darüber hinaus zu erlangen.57 Auffallend ist zudem, wie effizient die Aktivistinnen und Aktivisten auf diesem Wege das eigene Verständnis von Armut als einer Subkultur in politischen und wissenschaftlichen Debatten zu platzieren vermochten. Zentral für die enge Kooperation ATDs mit Forschenden wurde die Arbeit von Alwine de Vos van Steenwijk, die durch einen Artikel in dem französischen Frauenmagazin »Elle« auf Noisy-le-Grand aufmerksam geworden war.58 Sie besuchte 1960 das Lager, um sich mit Joseph Wresinski zu treffen, und begann daraufhin, sich für ATD zu engagieren.59 De Vos etablierte 1960 gemeinsam mit Wresinski das Bureau de Recherches Sociales.60 Zu dessen Aufgaben gehörte es, Kontakte mit Sozialforschern zu etablieren, die sich in Frankreich und anderen Ländern mit Armut und Randständigkeit befassten. Zu den ersten Schritten, die de Vos in diesem Zusammenhang unternahm, zählte die Organisation zweier internationaler Konferenzen zu sogenannten schlecht angepassten Familien (familles inadaptées), die zu Beginn der 1960er Jahre öffentlichkeitswirksam im Unesco-Palais in Paris stattfanden.61 Bei den Teilnehmenden handelte es sich in erster Linie um Soziologen und Psychologen aus Nordamerika und Westeuropa.62 Gemeinsam mit den Vertretern unterschiedlicher Hilfsorganisationen und einer Reihe von Sozialarbeiterinnen und -arbeitern diskutierten sie in Paris über Formen der extremen Armut in westlichen Gesellschaften. 57 Auch Emmaüs hatte in den 1950er Jahren ein Institut etabliert, das mit Hilfe soziologischer Methoden Antworten auf Fragen finden sollte, die sich aus der eigenen Armutsarbeit ergaben: das Institut de recherches et d’action sur la misère du Monde. 58 M. Schaeffer, Les bidonvilles, in: Elle, 31.12.1959. 59 Alwine de Vos van Steenwijk wurde später Präsidentin von ATD Quart Monde. Zu ihrem frühen Engagement dort siehe de Vos van Steenwijk u. Dogneton, S. 14–35. 60 Das Bureau wurde später umbenannt in Institut de Recherche et de Formation aux Relations Humaines. Vgl. hierzu auch Tricart, S. 611–14. 61 Die beiden Konferenzen fanden im Mai 1961 und im Februar 1964 statt. Bureau de Recherches Sociales; Labbens, Colloque international; Klanfer. 62 Darunter war eine Reihe von Soziologen, die international entweder schon bekannt waren oder bald wurden, wie der britische Armutssoziologe Peter Townsend und sein amerikanischer Kollege Lloyd E. Ohlin, der Sozialpsychologe Otto Klineberg oder der norwegische Soziologe Vilhelm Aubert.
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Im Anschluss unterhielten Wresinski und de Vos van Steenwijk dann nicht nur Kontakte zu einem sich rasch verdichtenden internationalen Netzwerk an Soziologen, sondern auch zu einer Vielzahl lokaler Initiativen. Bereits 1961 verfügte die Organisation über Büros in sechs Ländern, und in den folgenden Jahren erweiterte sich das Aktionsfeld ATDs rasch über Westeuropa und die USA hinaus in den asiatischen Raum.63 Darüber hinaus wurde Noisy für Forschende und Aktivisten aus den USA und Westeuropa zu einem beliebten Anschauungsort für das Leben in Armut. Der US-Soziologe S. M. Miller kam 1966 auf Einladung von ATD nach Noisy.64 Der britische Armutssoziologe Peter Townsend schickte wiederholt Studierende dorthin.65 Auch arbeitete die Organisation eng mit dem Soziologen Lloyd E. Ohlin (1918–2008) zusammen, der neben seiner Tätigkeit an der Columbia University ein Armutsprogramm für Jugendliche in der Lower East Side in Manhattan betreute. Bernadette Cornuau, die als eine der ersten Freiwilligen in Noisy-le-Grand gearbeitet hatte, ging 1964 nach Manhattan und übertrug die von ATD entwickelten Leitlinien des geteilten Lebens mit Familien der »Vierten Welt« auf die dortige Arbeit. Zahlreiche weitere Freiwillige folgten.66 In dem Bemühen der Organisation um Internationalisierung und Verwissenschaftlichung überlagerten sich drei Ziele: 1.) jene Probleme, die sich bei der alltäglichen Armutsarbeit stellten, wissenschaftlich zu durchdringen; 2.) über die Zusammenarbeit mit bekannten Forschern Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen sowie 3.) über den internationalen Austausch zu unterstreichen, dass es sich bei Armut um ein universales Problem und eben nicht um das Problem einzelner Staaten handelte.67 63 La Gorce, L’espoir, S. 187. Anfang der 1960er Jahre zählte die in westdeutschen Obdachlosen siedlungen in Köln und Bonn operierende Organisation Kinder in Not dazu, in Großbritannien das Frimhurst Recuperative Home. In Brüssel war ATD unter anderem in CommunityProjekte im innerstädtischen Les Marolles involviert, in New York kooperierte sie mit einem Präventionsprojekt in der Lower East Side. 64 »They took me to Noisy«, erinnerte er sich später, »where people were living in makeshift, igloo-like housing; two taps were the sole sources of water for the people of the shantytown; little drainage was available. It was a terrible place, only minutes from Paris«. Miller. 65 CIJW, Ordner: BRS: Colloques et études, Années 1960, Comité international de recherche sur la pauvreté, 1962–1970, Briefwechsel zwischen de Vos und Peter Townsend. 66 CIJW, Ordner: BRS: Colloques et études, années 1960. Comité international de recherche sur la pauvreté, 1962–1970, Brief von de Vos an Ohlin, 17.02.1966. Der Austausch wurde auf amerikanischer Seite anfänglich von der Organisation Mobilization for Youth betreut, die in der Lower East Side Projekte der sozialen Arbeit initiierte. 1968 gründete ATD dann ein children’s centre, um mit der Arbeit fortzufahren. Fanelli. 67 Dementsprechend sprach Wresinski von »millions of families who, throughout the industrialised Western world, are excluded from our cultures and rejected from all systems of redistribution within our affluent societies.« J. Wresinski, The Rights of the Fourth World. Vortrag bei einem von der Association pour le Développement du Droit Mondial organisierten Symposium, Paris, 30.11.–01.12.1973, https://www.joseph-wresinski.org/en/the-rightsof-the-fourth-world/ [20.08.2020]. Siehe dazu auch das Vorwort von Wresinski in: Labbens, Le Quart-monde, S. 22 f.
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Dementsprechend war es nicht allein Ausdruck der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch des Bemühens um politische Autorität, dass die Organisation bzw. ihr Bureau de Recherches Sociales Anfang der 1960er Jahre den Soziologen Jean Labbens mit einer Studie zu Noisy-le-Grand beauftragte. Labbens (1921–2005) war zu diesem Zeitpunkt Professor für Soziologie am Institute Catholique de Lyon, einer katholischen Universität. Er begann 1963, in Noisy-le-Grand zu forschen. Wenig später erweiterte er diese Untersuchung um die Analyse von vier anderen Lagern, nachdem die Préfecture de la Seine, die direkt dem Staat unterstellte Verwaltung von Paris, ihn um eine vergleichende Studie zu Notunterkünften und Übergangssiedlungen in der Region gebeten hatte. Die Ergebnisse dieser beiden Forschungen publizierte Labbens in zwei Monographien. Beide Studien gelten als Pionierstudien in dem in Frankreich zu diesem Zeitpunkt kaum etablierten Feld der Armutssoziologie.68 Darüber hinaus trugen sie dazu bei, jene Thesen von einer eigenen »Welt« oder »Kultur« der Armut auszuformulieren, die für die Auflösung von Noisy-le-Grand und bald auch anderer Lager handlungsleitend wurden. »Wir gaben die Arbeit mit Fragebögen bald auf«, erklärte Labbens später mit Blick auf die Methoden, die er und seine Helfer dafür in Noisy-le-Grand nutzten, »da wir sehr bald merkten, dass die Bewohner […] sehr genau wussten, was der Rest der Gesellschaft von ihnen hielt. Sie wussten sehr genau, was sie antworten sollten, um – in ihren Augen – dem Interviewer zu gefallen.«69 Aus Sicht des Soziologen war das vor allem dann der Fall, wenn Interviewer nur einmal zu ihnen kamen, und insbesondere dann, wenn die Befragten fürchteten, dass ihre Antworten Einfluss auf ihr Verhältnis zum Sozialamt oder ihre Umsetzung aus dem Lager haben könnten.70 Labbens entschied sich vor diesem Hintergrund, für seine Studie qualitative Interviews zu führen und das Lagerleben als teilnehmender Beobachter über einen Zeitraum von sechs Monaten zu begleiten. Darüber hinaus wertete der Soziologe die tagebuchartigen Berichte aus, die ATDs Freiwillige im Zuge ihres Aufenthalts regelmäßig verfassen mussten, und griff zudem auf Methoden zurück, die aus der psychologischen Persönlichkeitsdiagnostik stammten.71 Er legte einem Teil der Jugendlichen den sogenannten Van-Lennep-Test vor.72 Den Befragten wurden dafür vier Bilder vorgelegt, die bewusst unscharf gehalten waren: Davon zeigte eines eine Person zusammen mit einer anderen; eines zeigte ein Person allein in einem Zimmer; ein drittes eine, 68 Labbens, La condition; ders., Le Quart-monde. Zur Bedeutung und Rezeption dieser Studien siehe Mendras; Paugam, S. 175 f. 69 (Übers. C. R.) Zitat aus dessen Präsentation bei einer der beiden UNESCO-Konferenzen mit dem Titel »Organisation sociale d’un bidonville de la région parisienne«, nach: Klanfer, S. 94. Siehe auch Labbens, La condition, S. 178. 70 Ebd. 71 Ders., Le Quart-monde, S. 44 f.; ders., La condition, S. 37; Klanfer, S. 94 f. 72 Das Verfahren geht auf den niederländischen Psychologen David Jacob van Lennep zurück, der es in der Zwischenkriegszeit am Utrechter Institut für Industriepsychologie entwickelte. Siehe van Lennep.
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die sich in der Öffentlichkeit allein aufhielt und auf dem vierten war eine Person in Gesellschaft vieler anderer zu sehen. Die Befragten wurden aufgefordert, anhand dieser vier Bilder eine Geschichte zu erzählen, daraus wurden dann Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeitsentwicklung gezogen. Für die Jugendlichen von Noisy konstatierte Labbens anschließend eine »starke Ich-Schwäche« und verwies auf deren Passivität und ein verbreitetes Gefühl von Minderwertigkeit und Machtlosigkeit.73 Der Soziologe verlieh damit seiner zentralen These Ausdruck, dass die Armut der Bewohner auch aus den Kontakten resultierte, die sie untereinander unterhielten, bzw. durch die Verhaltensweisen perpetuiert wurde, die sie voneinander erlernten. Lager wie Noisy-le-Grand brachten Personen zusammen, die auf die eine oder andere Weise »deviant« waren, hob Labbens hervor.74 In 70 % der Fälle sei das Einkommen spärlich.75 Die Mehrheit verfüge über eine begrenzte Schulbildung, und einem Großteil der (meist kinderreichen) Haushalte sei durch die Ämter mindestens ein Kind vorübergehend oder bleibend entzogen worden. »Wir haben es«, erklärte er ATDs Freiwilligen in einem ihrer Vorbereitungskurse, »hier mit Leuten zu tun, die eine Schwäche haben, eine inadaptation, mit Leuten, denen das gewöhnliche Leben in der Gruppe nicht gelingt, mit Leuten, deren Sozialisation schlecht gemacht oder zunichte gemacht wurde.«76 Immer wieder umkreiste Labbens in seinen Studien die Grenze zwischen einer noch zur Gesellschaft gehörigen Arbeiterschaft und einem davon ausgeschlossenen Subproletariat, einem den Normen entsprechenden und einem davon abweichenden Leben. Er unterschied zwischen verschiedenen Kategorien von »nicht angepassten Familien«: Da gebe es solche, die zwar zu ärmlichen Bedingungen lebten, aber ein den gängigen Normen entsprechendes Leben führten.77 Der Mann arbeite regelmäßig. Die Kinder gingen zur Schule und lebten mit beiden Elternteilen zusammen. Dennoch hätten selbst diese Familien Schwierigkeiten, das Camp zu verlassen. Labbens führte das Beispiel einer Familie an, die Noisy verlassen hatte, um in ein Dorf im nördlichen Frankreich zu ziehen. Dann aber schrieb die Ehefrau nach zwei Jahren einen verzweifelten Brief, in dem sie erklärte, nicht bleiben zu können: »Die Leute sehen in uns die Armen und Fremden des Dorfs. […]. Im Lager waren wir jemand, man hat uns respektiert, man hat uns geschätzt.«78 Dann gebe es noch jene, die zu elenden Bedingungen lebten und sich damit eingerichtet hätten. Diese Familien, erklärte Labbens, drängten sich bisweilen in einem einzelnen Raum zusammen, 73 Labbens, La condition, S. 151–171. 74 »Le camp (et sans doute tout bidonville de ce style) rassemble de individus et des unités familiales ›déviantes‹ qui ne vivent pas à la hauteur des normes courantes dans notre so ciété.« Ebd., S. 198. 75 Ebd., S. 61 f. 76 (Übers. C. R.) CIJW, Ordner: BRS: Colloques et Etudes Années 1960, Unterordner: BSR: Colloques et études 1950, Cours de M. Labbens, 1962–1963, Manuskript. 77 J. Labbens, La condition sous-prolétariaienne, in: Igloos, Januar / Februar 1965, S. 5–17, 7 f. 78 (Übers. C. R.). Ebd., S. 8 f.
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im Winter verbrannten sie ihre Möbel, um heizen zu können. Ihre Kinder ließen sie mitunter nicht zur Schule, aus Angst, dass das Sozialamt sie auf dem Weg dorthin abfangen könne. Und schließlich gebe es noch jene vielen, die sich zwischen diesen beiden Polen bewegten: die beinahe im Elend lebten, aber noch immer die Werte der Arbeiterklasse hochhielten und deren Ambitionen oder Träume teilten.79 Labbens zufolge bildeten Armutszonen wie Noisy-le-Grand eine eigene, separate soziale Welt. Das war für ihn auch deswegen so, weil deren Bewohnerinnen und Bewohner untereinander enge Beziehungen ausbildeten und häufig miteinander verwandt waren. Dem Soziologen zufolge war die Armut von knapp 90 % der Campbewohner insofern »ererbt«,80 als sie selbst in ärmlichen Milieus aufgewachsen waren und nur über eine begrenzte Schulbildung verfügten. Außerdem verwies er auf das hohe Maß an Endogamie, an internen Eheschließungen und Beziehungen. Man müsse, erklärte der Soziologie, sich nur einmal die Liste der Bewohner und ihrer Nachnamen anschauen. Mehr als die Hälfte sei miteinander verwandt oder liiert.81 Diese engen sozialen Beziehungen verstärkten in Labbens Sicht die Distanz zur übrigen Gesellschaft. Hinzu kam die räumliche Isolation im Lager und die Stigmatisierung durch Außenstehende, in Läden, in der Schule oder bei der Arbeitssuche. Zu den Effekten dieser Situation gehörte aus Labbens Sicht allerdings auch die ausgeprägte Solidarität der Bewohner untereinander.82 Formen der nachbarschaftlichen Hilfe und durchaus auch das Verleihen von Gegenständen oder Geld waren im Lager auffallend ausgeprägt, und Labbens hob hervor, dass diese enge Nachbarschaftlichkeit den Betroffenen Halt gab. Umso mehr, als viele bei ihren Kontakten mit Außenstehenden (Lehrern, Verkäufern, möglichen Arbeitgebern) Ablehnung erfuhren und besonders auf das Unter-sich-Sein im Lager angewiesen waren. Bezeichnenderweise folgte der Soziologe damit einem allgemeinen Trend in der internationalen Armutssoziologie. Denn die von dem US-Anthropologen Oscar Lewis 1959 in seiner Studie »Die Kinder von Sanchez« entwickelte Konzeption von Armut als einer Kultur oder Subkultur wurde nicht nur in der amerikanischen Politik und Sozialforschung rege diskutiert.83 Die Untersuchung des Anthropologen, in der er eine Reihe mexikanischer Familien interviewte, die sich in der Transition vom dörflichen zum Stadtleben befanden und in einem urbanen Elendsviertel wohnten, wurde international zu einer Art wissenschaftlichem Bestseller. Lewis beschrieb darin Armut nicht als primär ökonomische Situation, sondern als eigene Kultur, die sich durch spezifische Familienstrukturen, Konsumpraktiken und Wertesysteme auszeichnete. Lewis ging selbst davon 79 Ebd., S. 9. 80 Aus seiner Sicht galt für 90 % der Haushalte und mindestens 83 % der Individuen, dass ihre aktuelle Situation »ein Erbe« darstelle. Labbens, La condition, S. 92 f. 81 Ebd., S. 183. 82 Ebd., S. 181–98. 83 Lewis, Five Families; ders., The Children. Die französische Übersetzung erschien 1963: ders., Les enfants; die deutsche ebenfalls: ders., Die Kinder.
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aus, dass diese Kultur der Armut nicht spezifisch für Mexiko City war, sondern ubiquitär und sich in London, Paris oder Harlem ebenso finden ließ.84 Kontrovers diskutiert wurden seinen Thesen allerdings nicht allein mit Blick auf ihre wissenschaftliche Validität, sondern maßgeblich hinsichtlich ihrer politischen Implikationen. Denn in den USA selbst bedienten sich in den 1960er Jahren vor allem konservative Kreise der Argumente von Lewis.85 Wenn die Lage der poor black families in den innerstädtischen Ghettos den eigenen Verhaltensweisen geschuldet war, so das Argument, sollten sie darin nicht durch den laufenden Bezug von Sozialhilfe unterstützt werden. Labbens zog in seiner Untersuchung explizit Parallelen zwischen der Isolation der »sehr Armen« in französischen Barackenlagern und der Abschottung der »Kinder von Sanchez«. Er verband diese Beobachtungen allerdings mit anderen politischen Empfehlungen. Eben weil Camps wie Noisy-le-Grand für ihn eine geschlossene soziale Welt darstellten, kritisierte der Soziologe eine Politik der gestreuten Umsetzung der Bevölkerung bei der Auflösung der Lager.86 Die Verteilung (dispersion) der Familien auf Viertel mit anderer sozialer Zusammensetzung führe, warnte er, wenn nicht zu deren Desintegration, so doch zu deren weiterer Isolation. Nicht der oder die einzelne sollte damit aus Sicht des Soziologen im Mittelpunkt politischer Maßnahmen stehen, sondern die Arbeit an der »lebendigen Gemeinschaft« (communauté vivace) der Bewohnerschaft.87 Gegenüber den Freiwilligen von ATD Quart Monde unterstrich Labbens so die Notwendigkeit einer »Gruppentherapie« und schlug die Arbeit mit Rollenspielen, mit Psychodramen und Praktiken des »community building« vor.88 Auch trug er mit seinen Empfehlungen zu dem Programm einer gruppenweisen Umsetzung und »Assimilation« marginalisierter Familien bei, das von ATD Quart Monde in den 1960er Jahren zunehmend propagiert und in Zusammenarbeit mit der französischen Wohnverwaltung umgesetzt wurde. Die Organisation war insgesamt vergleichsweise erfolgreich darin, die eigenen Ansätze in der politischen Debatte zu verankern. Dazu gehörte, dass die 84 Siehe etwa dessen Hinweis auf die überraschenden Übereinstimmungen in der Familienstruktur, den Ausgabegewohnheiten, Wertesystemen und dem »sense of community« zwischen Armutsmilieus in London, Mexico City, Glasgow, Paris und Harlem. Lewis, Five Families, S. 2; ders., Les enfants, S. 30. Tatsächlich schlug Lewis als Mitglied des amerikanischen Social Science Research Council daher 1959 auch vor, sich vergleichend mit den »Armutsvierteln« verschiedener europäischer Städte zu befassen. RAC, SSRC, Acc.1, Series I, Subseries 35: Urbanization, Box 306, Folder 1760, Committee on Urbanization, Minutes, 28–29.03.1960. 85 Siehe dazu und den damit verknüpften Ambivalenzen: O’Connor; Katz. 86 »La dispersion des familles dans des quartiers de milieux différents, si elle n’aboutit pas toujours à leur désintégration, les affirme dans une situation d’exclus et dans un isolement qu’aucun voisinage familier ne pourra atténuer.« J. Labbens, La condition sous-prolétarienne, in: Igloos, Januar / Februar 1965, S. 17. 87 Ebd. 88 CIJW, Ordner: BRS: Colloques et Etudes Années 1960, Unterordner: BSR: Colloques et études 1950, Cours de M. Labbens, 1962–1963, Manuskript.
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moralische Rede von einer »Vierten Welt« der Armen, die von der übrigen Gesellschaft ausgeschlossen und auf bestimmte Räume zurückgeworfen waren, weit über Frankreich hinaus Verbreitung fand. Als die Europäische Kommission Mitte der 1970er Jahre ein eigenes Programm zur Bekämpfung von Armut initiierte, gehörte de Vos zu den ersten, die um Mitarbeit gebeten wurden.89 Dass im Rahmen des Ersten Armutsprogramms der Kommission bis in die frühen 1980er Jahre eine »Unesco-Definition« von Armut verwendet wurde, die de facto auf die von ATD organisierten Konferenzen im Unesco-Palais Anfang der 1960er Jahre zurückging, war eines der Ergebnisse dieser Zusammenarbeit.90 Auch griff die französische Ministerialbürokratie, als sie sich Mitte der 1960er Jahre mit sogenannten schlecht angepassten Familien und der Auflösung der bidonvilles zu befassen begann, wiederholt auf die Expertise von Alwine de Vos, de GaulleAnthonioz und Joseph Wresinski zurück.91 Dass Mitglieder der Organisation sich binnen kurzer Zeit vergleichsweise erfolgreich als Experten für den Umgang mit urbaner Armut etablierten konnten, spricht für den Erfolg ihrer Strategie einer engen Kooperation mit internationalen Sozialwissenschaftlern und anderen Initiativen. Zugleich gab es Schnittpunkte zwischen dem eigenen und einem auch in der französischen Verwaltung gängigen Verständnis extremer Wohnprobleme als Folge einer mangelnden adaptation der Betroffenen an das Leben in der modernen französischen Gesellschaft. b) Die Auflösung der Barackenlager und die Klassifikation ihrer Bewohnerschaft Die Wohnungspolitik der französischen Regierung basierte in den 1960er Jahren auf Systemen der Klassifizierung und Hierarchisierung der Wohnungssuchenden entsprechend ihrer Bedürftigkeit und Eignung. Die Wartelisten für neue Wohnungen waren auch Anfang der 1960er Jahre noch lang. Außerdem begann die Verwaltung, ganz in der Tradition einer hygienisch-technischen Modernisie 89 Zu den Diskussionen im Rahmen des Ersten Europäischen Armutsprogramms und der zentralen Rolle ATDs in diesem Zusammenhang siehe: Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel, BAC 18/1987. 90 Ebd., M. Brugnon, Poverty in Europe. Report. Explanatory Memorandum, in: Council of Europe. Parliamentary Assembly, 32. Sitzung, 21.–25.04.1980. Documents. Working Papers, Vol. I, Doc. 4508, S. 4–5. Siehe dazu auch Reinecke, Localising the Social. 91 Eine in diesem Rahmen eingesetzte interministeriale Kommission zitierte in den eigenen Empfehlungen ausgiebig aus den von ATD in Auftrag gegebenen Studien, auch gehörten alle drei Genannten der Kommission an: CAC, 19771141/1, Commissariat Général du Plan, Intergroupe Handicapés-Inadaptés, Groupe des Handicapés Sociaux, Le problème de l’habitat des inadaptés sociaux. Note établie par M. Trintignac, Paris 1970; CAC, Commissariat Général du Plan, Commission de l’habitation, Rapport du Groupe ›Mal Logés‹, Paris 1970, Liste des Rapporteurs; CIJW, Rapport Colloques, 1970–1981, Habitat I. Siehe dazu auch Blanc-Chaléard, En finir, S. 252.
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rung, immer mehr Quartiere umfassend zu sanieren, abzureißen oder zu räumen, die als »insalubre« galten: als gesundheitsschädliche Slums. Zu diesen Quartieren zählten Barackenlager ebenso wie zahlreiche innerstädtische Viertel. In beiden Fällen musste die Verwaltung für die dort Wohnenden neue Wohnlösungen finden. Die Bandbreite an Wohnungen, auf die sie dafür zurückgriff, war groß; sie reichte von einfachen lagerartigen Unterkünften bis zu unterschiedlich gut ausgestatteten Sozialwohnungen. Und um über die Umsetzung neuer Bewohnerinnen und Bewohner in dieses hierarchisierte Set von Wohnungen entscheiden zu können, waren die Verwaltungen auf standardisierte Verfahren angewiesen. Die Produktion von Wissen zu Wohnungslosen war in den 1950er und 1960er Jahren eng mit dieser Nachfrage nach Klassifikationen und Hierarchisierungen verknüpft.92 Dabei wird an den Entscheidungen der Wohnverwaltungen zum einen der seit dem späten 19. Jahrhundert fortwährend große Einfluss hygienischer und medizinischer Experten auf die Beurteilung urbaner Lebensverhältnisse als »gesund« oder »pathologisch«, wünschenswert oder schlecht deutlich. Zum anderen schlug sich darin das auffallende Interesse an sozialpsychologischen Deutungen in der Nachkriegszeit nieder. Die Arbeit des Psychiaters Jean Cournut (1929–2003) in Noisy-le-Grand ist dafür ein charakteristisches Beispiel. Obwohl er später vor allem für seine psychoanalytischen Arbeiten bekannt wurde, war Cournut eigentlich ein klinischer Psychiater, der 1959 seine Facharztausbildung an den Hôpitaux Psychiatriques de la Seine begonnen hatte.93 Seine Doktorarbeit schrieb Cournut auf der Basis einer Studie, mit der das französische Bauministerium ihn und den Soziologen Pierre Badin gemeinsam mit CEDER, einer öffentlich finanzierten Forschungsagentur, beauftragt hatte.94 Das Ministerium plante in Noisy eine soziomedizinische Einrichtung, die die Umsetzung der Bewohnerinnen und Bewohner vorbereiten sollte, indem sie sie untersuchte und kategorisierte. Cournut war als Leiter dieses Zentrums vorgesehen.95 Seine in diesem Rahmen verfasste Doktorarbeit trug den Titel »Psychopathologische Zugänge zu einem Lager von Asozialen« und war explizit als Studie angelegt, die Orientierungswissen für Politik und Verwaltung liefern sollte. In seiner Einleitung beschrieb Cournut die eigene Arbeit als Teil eines größeren Projekts zur Beseitigung von Slums in der Pariser Region. Die »îlots insalubres où cohabitent des ›asociaux‹« – »gesundheitsschädliche Inseln, in denen ›Asoziale‹ zusammenleben« – seien in zahlreichen Ländern eine Folge der Modernisierung der Städte und vom moralischen Standpunkt ein Skandal, erklärte er. Doch müsse man mehr über deren Bevölkerung wissen, um sie umsetzen zu können. Ein vordringliches Ziel seiner Studie sah Cournut darin, eine Klassifikation 92 Zur Einteilung der Bewohner sogenannter ›gesundheitsschädlicher‹ Quartiere anhand von moralischen und sanitären Kriterien vgl. auch Nasiali, Order. 93 J. Fortineau, Hommage à Jean Cournut, in: Perspectives Psy Jg. 43, 2004, S. 5–6. 94 CEDER war eine Abkürzung für Centre d’Etudes des Equipements Résidentiels. Zur Beauftragung der Studie siehe Cournut, S. IV; Blunschi Ackermann, S. 144; Tricart. 95 CIJW, Ordner: BRS: Colloques et Etudes Années 1960, Briefwechsel mit Christian Debuyst, Brief von Wresinski an Debuyst, 21.07.1962; Blunschi Ackermann, S. 144.
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der beobachteten Familien zu formulieren, die deren »readaptation« an eine normale Wohn- und Lebensweise sowie ihre gesellschaftliche Wiedereingliederung (»reinsertion«) erleichtern sollte.96 Cournut war überzeugt, dass bei einem Großteil neben ökonomischen Schwierigkeiten physische und mentale Probleme dazu geführt hatten, dass sie längerfristig in einem Lager wie Noisy-le-Grand verblieben. Nachdem ein vom Soziologen Pierre Badin angeleitetes Team die Bewohner zunächst zu ihrer familiären und ökonomischen Situation befragt hatte, instruierte Cournut daher eine Gruppe von Psychiatern und Sozialfürsorgern mit einer Befragung der 231 Haushalte, die 1961 in dem Camp wohnten.97 Angelehnt an therapeutische Techniken orientierte sich diese Gruppe bei ihren Interviews an psychologischen Dossiers, wie sie für medizinische Krankenakten angefertigt wurden. Auf der Basis dieser Dossiers wurde die sozio-psychologische Beurteilung der Familien und ihrer »Adaptation« vorgenommen, die sich nach ihrem Sozialverhalten, ihrer psychischen Gesundheit und ihrem Einkommen richtete.98 Die Skala reichte von Familien, deren unmittelbare und bedingungslose Überführung in normale Wohnungen empfohlen wurde bis zu Fällen einer »profunden und komplexen Unangepasstheit«, deren Umsetzung nicht empfohlen wurde.99 Für die Mehrheit der leichten bis schweren Fälle einer »désadaptation sociale« forderte Cournut eine psychotherapeutische Betreuung.100 Armut betrachtete der Psychiater als eine Störung, die durch therapeutische Arbeit und eine enge sozialfürsorgerische Betreuung sowie die angemessen separate Unterbringung der betroffenen Bevölkerung behandelt werden konnte. Während Jean Labbens in seiner Studie von deren ausgeprägter Solidarität ausging, erklärte Cournut, dass die Camp-Bewohnerinnen und Bewohner dazu tendierten, schlecht über die eigenen Nachbarn zu sprechen und gegenüber der Außenwelt gesteigert aggressiv auftraten.101 Labbens und die Aktivistinnen und Aktivisten von ATD Quart Monde standen Cournuts pathologisierender Analyse insgesamt ablehnend gegenüber. Sie kritisierten, dass sich die Kontakte zwischen dem Forschungsteam und den Untersuchten auf zwei Besuche beschränkten. Dass die Interviewer noch dazu durch eine Sozialfürsorgerin beg leitet wurden, führte aus ATDs Sicht dazu, dass die Bewohner nicht ihre wirklichen Ansichten preisgaben, sondern sie, auch aus Angst vor möglichen Auswirkungen auf den eigenen Sozialhilfebezug, eine verbreitete negative Sicht auf die Lagerbevölkerung reproduzierten und schlecht über die übrigen Bewohner sprachen.102 Unberechtigt erscheint eine solche Kritik nicht, und tatsächlich wurde der Rück 96 Cournut, S. V. 97 Ebd., S. 40. 98 Ebd., S. 42. 99 Ebd., S. 42 ff. 100 Er diagnostizierte das für 115 Familien. Ebd., S. 52. 101 Ebd., S. 33. 102 CIJW, Ordner: BRS: Colloques et Etudes Années 1960, Briefwechsel mit Christian Debuyst, Brief von Wresinski an Debuyst, 21.07.1962; Labbens, La condition, S. 178.
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griff auf Sozialfürsorgerinnen bei der Befragung »armer Haushalte« zu einem häufig debattierten Problem der Armutssoziologie der 1960er Jahre. In jedem Fall illustriert die Befragung der Bewohnerschaft von Noisy, wie sehr sozialpsychologische Kriterien sowie die Gegenüberstellung von »sozial« – »asozial«, »adaptiert« – »nicht adaptiert« die Auseinandersetzung mit Wohnungsnöten um 1960 strukturierte. Das wird auch an der konkreten Praxis der Wohnverwaltungen deutlich. Denn bei ihrer Umsetzung der Bevölkerung im Zuge der schrittweisen Auflösung randständischer bidonvilles orientierte sich die französische Verwaltung maßgeblich an Klassifikationen, die die Umzusetzenden anhand ihrer (A)Sozialität und ihrer Adaptions- oder Integrationsfähigkeit einordnete. Das war auch bei der Auflösung Noisy-le-Grands der Fall. Die von Regierungsvertretern und den beiden Hilfsorganisationen ATD und Emmaüs gemeinsam erarbeitete Form der Umsetzung der Bewohnerschaft galt dabei in der französischen Ministerialverwaltung als ein Modellprojekt, das den weiteren Umgang mit sogenannten schlecht Untergebrachten und nicht angepassten Familien beeinflusste.103 Die Verwaltung des Departments Seine-et-Oise hatte Noisy-le-Grand bereits 1959 als »insalubre« ausweisen lassen und damit den Prozess seiner schrittweisen Auflösung eingeleitet.104 Neben der Departmentsverwaltung bemühte sich insbesondere das Bürgermeisteramt der Kleinstadt Noisy-le-Grand um einen raschen Abbau des Camps und die möglichst gestreute Umsetzung seiner Bewohnerinnen und Bewohner. 1962 hieß es im lokalen Verwaltungsblatt, von dem bidonville gingen, zum Nachteil der arbeitssamen Bevölkerung der Stadt, Gewalt und Diebstahl aus; die Mehrheit der Lagerbewohner seien »Asoziale« und Vorbestrafte.105 Beide, Stadt- und Departmentverantwortliche, forderten daher eine Verteilung der Insassen auf ganz Frankreich. Joseph Wresinksi und andere ATD-Mitglieder kritisierten hingegen die Praxis einer Streuung der bidonvilles-Bevölkerung. Die Barackenlager würden insgesamt zu abrupt geräumt, argumentierte Wresinski. Deren Bewohnern blieben teilweise nicht mehr als 24 Stunden, um zu packen, bevor die Bulldozer kamen. Das wiederum führe dazu, dass die Insassen oft lediglich von einem bidonville ins nächste zögen. Auch kritisierten die Aktivisten, dass die Mieten in normalen Sozialwohnungen die finanziellen Mittel vieler Familien überstiegen. Es fehlten alternative Wohnlösungen, die deren Bedürfnissen gerecht würden.106 ATDs Aktivistinnen und Aktivisten forderten deshalb, die Auflösung der bidonvilles und die Umsetzung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner langfristig vorzube 103 Dazu, dass die Auflösung von Noisy-le-Grand aus Verwaltungssicht einen experimentellen Charakter hatte und dazu dienen sollte »anhand eines konkreten Projekts die Validität der vorgeschlagenen Normen und Prinzipien zu verifizieren« siehe CAC, 1970097/27, Unterakte: Résorption des bidonvilles, Bericht des Bureau des études économiques et sociolo giques de l’habitat, 07.02.1966, S. 10–12. 104 Ebd., S. 1; La Gorce, L’espoir, S. 107. 105 Bulletin Municipal de Noisy-le-Grand, 17.11.1962, zitiert nach La Gorce, Un peuple, S. 24. 106 Dies., L’espoir, S. 196.
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reiten. Jede Anstrengung sei unnütz, wenn die segregierten Familien nicht selbst die eigene soziale Hebung anstrebten, hieß es 1962 in einer Zusammenfassung der Ziele der Organisation.107 Vor allem aber kritisierten deren Vertreter, dass bei einer gestreuten Umsetzung jene Solidaritäts- und Nachbarschaftsbeziehungen verloren gingen, die für die Bewohner im Alltag so wichtig waren. Das habe auch die Forschung gezeigt. Als die französische Regierung im November 1963 einen neuen Gesetzesentwurf zur Auflösung der bidonvilles vorlegte, druckte ATD in der eigenen Zeitschrift ein Memorandum ab. Zu den Bedingungen einer erfolgreichen Umsetzung gehöre, hieß es darin, dass nicht der soziale Zusammenhalt der Familien untereinander zerstört werde, der es den sehr Armen ermögliche zu überleben ohne in einer permanenten Abhängigkeit zu leben.108 Die Familien bildeten in den Camps eine »spezifische Form der Subkultur aus«, die ihnen eine gewisse Sicherheit verleihe und ihnen zu überleben helfe.109 Immerhin, erklärte die Organisation, versprächen die bidonvilles Wärme und Stabilität. Zugleich führte die Organisation die vielfältigen Spannungen an, die sie in der »Unfähigkeit, sich den Normen einer entwickelten und komplexen Gesellschaft anzupassen« begründet sah, und wies in diesem Zusammenhang auf das eigene Projekt einer betreuten Übergangssiedlung hin, die zur sozialen Hebung der Bewohner beitragen sollte. Joseph Wresinski setzte sich seit 1960 für die Schaffung einer Siedlung ein, die es den Bewohnerinnen und Bewohnern Noisy-le-Grands ermöglichen sollte, von ATD betreut den Übergang ins normale Leben gemeinsam zu vollziehen. Bei der Departmentsverwaltung und dem zuständigen Ministerium stieß dieser Vorschlag zunächst auf Ablehnung. Zwar vermochte die Organisation eine rasche Auflösung Noisys zu verhindern, doch dauerte es zehn Jahre, bis deren Pläne einer Übergangssiedlung tatsächlich umgesetzt wurden. Joseph W resinsksi, Alwine de Vos und Geneviève de Gaulle-Anthonioz legten Vertretern des Bauministeriums in der Zwischenzeit immer wieder ihre Pläne für ein »Centre de Promotion Familiale« vor, unter anderem, wenn sie in Ministerialkommissionen als Experten oder Berichterstatter hinzugezogen wurden. Letztlich waren sie mit dieser Taktik erfolgreich.110 Seit November 1965 kam es im französischen Bauministerium zu einer Reihe von Treffen, die sich mit der Planung eines solchen Zentrums in Noisy-le-Grand befassten.111 Anwesend waren stets Vertreterinnen und Vertreter von ATD Quart Monde und der 107 Igloos, Januar 1962, S. 2. 108 Igloos, Januar 1964, S. 7 f. 109 Ebd. 110 Im Herbst 1965 kam es zu einem ersten Treffen zwischen Vertretern des Bauministeriums, Mitgliedern von ATD Quart Monde und Vertretern der Wohnungsbaugesellschaft S ociété d’HLM Emmaüs, das der Planung des vorgeschlagenen Zentrums in Noisy-le-Grand diente. Weitere Treffen folgten. 111 CAC, 19980440/2, Ordner: Remplacement des cités d’urgence, Unterordner: Société d ’Emmaüs. Bureau des Etudes Economiques et Sociologique de l’Habitat, Protokoll zur Sitzung am 09.11.1965.
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Wohnungsbaugesellschaft Societé d’HLM Emmaüs sowie Mitarbeiter des Ministeriums selbst. Die Gruppe bereitete gemeinsam die Umsiedlung der Bewohnerschaft vor, die ab 1970 dann schrittweise erfolgte. Die von Abbé Pierre ins Leben gerufene Hilfsorganisation Emmaüs, die das Camp anfänglich gegründet hatte, verfügte über eine eigene Wohnungsbaugesellschaft. Diese Gesellschaft verpflichtete sich, angrenzend an das Lager eine Reihe von Häusern zu errichten, die knapp 80 Wohnungen umfassten und die als »Cité Promotionelle« der vorübergehenden Unterbringung und Betreuung vor allem »schwerer Fälle« dienen sollten. Darüber hinaus baute die Gesellschaft auf dem Terrain des Lagers nach dessen Räumung 1.000 HLM, also normale Sozialwohnungen. Als im Frühjahr 1971 das Camp endgültig geräumt wurde, bestand die von ATD geplante Cité Promotionelle bereits seit ein paar Monaten. Die Siedlung helfe den Familien, sich wieder an ein normales soziales Leben anzupassen (»à se réadapter à une vie sociale normale«), bevor sie in ein HLM umzogen, unterstrich de Gaulle-Anthonioz gegenüber der Verwaltung von Seine-et- Oise.112 Obwohl die Übergangssiedlung sich formal im Besitz von Emmaüs befand, wurden die Familien von ATD-Freiwilligen betreut.113 Die Organisation wollte auf diese Weise dazu beitragen, dass die Erwachsenen stabil beschäftigt waren, die Kinder regelmäßig zur Schule gingen und die Familien medizinisch betreut wurden. Sie half ihnen zudem bei der Verwaltung des eigenen Einkommens, der Organisation ihres Haushalts und ihres Familien- und Soziallebens.114 1970 wurden die Bewohnerinnen und Bewohner Noisys in drei Tranchen umgesetzt. Davor waren sie in unterschiedliche Gruppen eingeteilt worden. ATD Quart Monde und Emmaüs hatten dazu bereits 1966 gemeinsam Listen erstellt, in denen sie die Familien gemäß ihrer »Fähigkeit zur Unterbringung« und ihres »soziokulturellen Niveaus« einstuften. Sie unterschieden darin zwischen den Kategorien »aptes« (fähig), »recyclables« (wiederverwertbar) und »lourdes« (schwer). Die Mehrzahl der 1966 im Camp wohnenden 247 Familien (1.094 Personen, davon 798 Kinder und Jugendliche) wurde als »recyclables« eingestuft (120), es folgten die »schweren Fälle« (62) und schließlich die kleinste Gruppe der »Fähigen« (45). Ergänzend kamen drei weitere Gruppen hinzu: Zwanzig Familien wurden als »nomadisch, aber sesshaft werdend« beschrieben und in das Umsiedlungsprogramm aufgenommen, während vierzig als »Nomaden« klassifizierte Familien davon ausgenommen wurden, weil argumentiert wurde, dass sie sich ohnehin nur vorübergehend im Lager aufhielten. Hinzu kamen 86 »Alleinstehende«, bei denen es sich in der Mehrzahl um Männer nordafrika112 Archives Départementales de la Seine-Saint-Denis, 1654 W-75, Direction Départementale des Affaires Sanitaires et Sociales de la Seine-Saint-Denis ; Sous-Préfecture du Raincy. Résorption des bidonvilles de Noisy-le-Grand, Sitzungsprotokoll, 29.09.1970. 113 CAC, 19980440/3. Société d’HLM Emmaüs, Broschüre: Résorption du bidonville du Château-de-France à Noisy-le-Grand, Seine-Saint-Denis, 1966–1971, Paris 1970, S. 9. 114 Archives Départementales de la Seine-Saint-Denis, 1654 W-75, Direction Départementale des Affaires Sanitaires et Sociales de la Seine-Saint-Denis ; Sous-Préfecture du Raincy. Résorption des bidonvilles de Noisy-le-Grand, Sitzungsprotokoll, 29.09.1970.
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nischer Herkunft handelte.115 Als Kriterien für die Einstufung dienten sowohl das Einkommen und die berufliche Stabilität, die familiäre Situation und der Umgang mit den eigenen Kindern, ergänzt durch die Frage nach der Sauberkeit der Wohnung, guten bis schlechten Nachbarschaftsbeziehungen, Alkoholismus und Kriminalität. Die Mehrheit der Haushalte (201 von 259 Familien, 78 %) waren »Franzosen«, hinzu kamen vierzig »algerische«, sieben »ausländische« und elf »gemischte« Haushalte. Auf deren Einstufung als leicht bis schwer assimilierbar hatte das aber anscheinend keinen Einfluss. Obwohl ATDs Aktivisten davor stets auf die Bedeutung der bestehenden Nachbarschaftsbeziehungen gepocht hatten, wurden die Familien des Lagers letztlich auf vergleichsweise viele Orte verteilt: Ein guter Teil, 17 %, zog in die neu erbaute »Cité Promotionelle«. 22 % zogen in die neuen HLM auf dem Gelände des ehemaligen Lagers in Noisy-le-Grand. Die Mehrheit, 23 %, kam in einer Siedlung mit besonders einfach ausgestatteten, betreuten Wohnungen unter, die Emmaüs Mitte der 1950er Jahre für Wohnungslose in einer Kleinstadt nahe bei Noisy-le-Grand, in Plessis-Trévise, errichtet hatte. 11 % siedelten in eine ländlich-dörfliche Gegend über, einige wenige zogen in Einfamilienhäuser in der Nähe, und ein weiterer Teil, 15 %, zog zurück in vormals bewohnte Unterkünfte in der Region. Weitere 24 Familien (9 %) wurden schließlich in Wohnwagen untergebracht. Anders als es ATDs Forderungen nach einem Erhalt des sozialen Zusammenhalts der Bewohner suggerieren mochten, pochte die Wohnungsgesellschaft Emmaüs bei den Umsiedlungen auf ein Mindestmaß an sozialer und ethnischer Durchmischung. Dass nur etwa die Hälfte der Plätze der neuen cité von Familien aus Noisy-le-Camp belegt wurde, während die anderen an Haushalte von außerhalb vergeben wurden, begründete Emmaüs damit, dass man habe vermeiden wollen, dass zu viele Personen zusammen kamen, die alte Gewohnheiten und die gleichen Einstellungen teilten. Eine weniger homogene Bewohnerschaft schien den Verantwortlichen für die vorgesehenen »erzieherischen Maßnahmen« eher empfänglich.116 Und zur Belegung der eigenen Einfachstsiedlung in Plessis hieß es, man habe darauf geachtet, nicht jenen »Prozentsatz an Ausländern zu überschreiten«, mit dem »rassische Probleme« zu entstehen drohten.117 Tatsächlich begann die Vorstellung, dass ein spezifischer Anteil an ausländischen 115 CAC, 19980440/3. Société d’HLM Emmaüs, Broschüre: Résorption du bidonville du Château-de-France à Noisy-le-Grand, Seine-Saint-Denis, 1966–1971, Paris 1970, S. 7. Die angeführten Zahlen beziehen sich auf die 1966 vorgenommene Einteilung der Lagerbevölkerung. 1970, zu Beginn der eigentlichen Umsetzung, hatte sich diese Einteilung etwas verschoben. Von 259 umgesetzten Familien galten 71 als »aptes«, 104 als »recyclables« und 64 als »lourdes«. 116 Ebd., S. 9. 117 »Il était nécessaire de limiter le nombre des familles ›lourdes‹ pour ne pas faire basculer l’équilibre fragile des couches diverses de la population de la cité. De même, nous avons veillé à ne pas dépasser le pourcentage d’étrangers au-déla duquel risquaient de se poser, de surcroit, des problèmes raciaux.« Ebd., S. 11
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Bewohnern in einer Siedlung nicht überschritten werden durfte, um 1970 die Belegungspolitik vieler Wohnungsbaugesellschaften zu bestimmen. Emmaüs bildete keine Ausnahme. Auch ging die Wohnungsgesellschaft im eigenen Bericht von den Grenzen der Assimilierbarkeit bestimmter Haushalte aus. Die Organisation sprach von einer Gruppe der »vom Leben Besiegten«, der »Ärmsten von allen, der ›Asozialen‹«, für die sich keine Lösung finden lasse. »Diese da (ceux-la) haben nirgendwo einen Platz.«118 Die involvierten staatlichen wie nicht-staatlichen Akteure behandelten ausgeprägte Wohnungsprobleme in den 1960er und 1970er Jahren durchgehend in einer Sprache der Assimilation, Inadaptation oder Asozialität. Dabei zeichneten sich schon früh die Widersprüche der Strategie ab, auf diese Probleme mit spezifischen räumlichen Lösungen zu reagieren, die disziplinierend oder sozialisierend wirken sollten. Denn tatsächlich tauschte ein beträchtlicher Teil der bidonvilles-Bevölkerung im Zuge dessen eine stigmatisierte Wohnumgebung gegen eine nur geringfügig bessere ein. Im Falle der Wohnwagen ist das offensichtlich, doch gilt auch für die Einfachstsiedlung im nahen Plessis-Trévise, dass sie schon ein Jahr später aufgelöst werden musste, weil ein großer Teil der Unterkünfte marode war.119 Auch hier sprach sich der Bürgermeister der Kleinstadt für eine Streuung der Bewohnerinnen und Bewohner aus, während die Ministerialverwaltung die Einrichtung einer neuen cité promotionelle im Department plante, die einen Teil der Bevölkerung aufnehmen sollte, einen anderen nicht – und das Spiel von erneuter Verteilung, Separierung und Stigmatisierung begann von neuem.120 Das Beispiel verweist auf eine Dynamik der über ihre separate Unterbringung perpetuierten Wohnprobleme der betroffenen Haushalte. Dennoch wurde das von ATD vorgeschlagene und in Zusammenarbeit mit der Wohnungsgesellschaft Emmaüs etablierte System von Übergangswohnungen, die der Lagerbevölkerung helfen sollten, sich auf das Leben in normalen Sozialwohnungen vorzubereiten, verwaltungsintern als Modellprojekt gehandelt.121 Die interministerielle Kommission, die für die Auflösung der bidonvilles in französischen 118 »Il n’était pas possible, sans manquer à l’objectivité de passer sous silence notre impuissance à trouver une solution décente aux problèmes posés par les vaincus de la vie, les plus démunis de tous, les ›asociaux‹, à qui tout fait défaut. [...] Ceux-là n’ont de place nulle part. Au regard de la collectivité que nous avons forgée, ils n’existent simplement pas.« Ebd., S. 13 f. 119 CAC, 19980440/2, Ordner: Remplacement des cités d’urgence, Unterordner : Société Emmaüs, Protokoll zur Sitzung am 22 Dezember 1971, Démolition de la cité d’urgence du Plessis-Trevise (Val de Marne). 120 Ebd. Zur Einrichtung einer cité promotionelle, die unter anderem einen Teil der aus Plessis-Trévise umgesetzten Bevölkerung aufnehmen sollte, siehe CAC, 19910712/37, Rapport au Préfet de la Région Parisienne sur la résorption de l’habitat insalubre et les problèmes des migrants, 1973, S. 37. 121 CAC, 1970097/27, Unterakte: Résorption des bidonvilles, Bericht des Bureau des études économiques et sociologiques de l’habitat, 07.02.1966, S. 10–12.
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Städten zuständig war, betrachtete das in Noisy umgesetzte Projekt der betreuten Überführung in Übergangssiedlungen als ein Modell für die angestrebte »soziale Integration unangepasster Familien« (»intégration sociale des familles inadaptées«), die in Barackenlagern wohnten. Allerdings betreffe die Auflösung der bidonvilles sowohl Ausländer als auch Franzosen, stellte die Kommission in diesem Zusammenhang fest, und die einen unterschieden sich in ihrer inadaptation von den anderen.122 Tatsächlich betrachtete die Verwaltung im Laufe der 1960er Jahre zunehmend Migrantinnen und Migranten, und zumal algerische, als die eigentliche Risikound Problembevölkerung der bidonvilles. Zwar ging sie bei ihrer Auflösung der Barackenlager auch in deren Fall von einem je unterschiedlichen Grad der Assimilation und Integrierbarkeit aus. Doch waren die konkreten Praktiken im Umgang mit der migrantischen bidonvilles-Bevölkerung stärker mit kolonialen Rhetoriken und Kontexten verknüpft.
2.3 »Modern zu leben, das muss man lernen«. Die postkoloniale Politik der »Adaptation« a) Orte der Rückständigkeit: Die bidonvilles zwischen Kolonie und Metropole Unter dem Titel »Bidonvilles. Inseln der Hölle in der Stadt des Lichts« publizierte die viel gelesene Tageszeitung »France Soir« im Herbst 1965 eine Artikelserie.123 Ergänzt durch Leserbriefe berichtete der Journalist Maurice Josco elf Wochen lang in ausführlichen Reportagen über die »89 bidonvilles«, die sich in und bei Paris befanden. Immer wieder hob Josco den Kontrast zwischen dem Wohlstand der französischen Hauptstadt einerseits und der Misere der bidonvilles andererseits hervor. »Auf der einen Seite Paris mit seinen luxuriösen Straßen und seinen neuen Gebäuden«, hieß es in einer vielfach variierten Einleitung zu der Serie, »auf der anderen Seite 9.000 Baracken aus Blech, Brettern und Pappe, auf Schlamm und Müllbergen erbaut.«124 Die Verhältnisse in den Barackenlagern beschrieben Josco und die von ihm interviewten Experten als eine separate Welt,
122 CAC, 19910712/5, GIP. Commission Permanente des Bidonvilles, Groupe Massenet. Siehe vor allem die Sitzungsunterlagen der Gruppe für 1966, darunter ihren Bericht vom 07.02.1966. 123 M. Josco, Bidonvilles autour de Paris, in: France Soir, 22.10.1965. Siehe zum Folgenden auch: Reinecke, Die dunkle Seite. 124 »D’un côté Paris, ses luxueuses avenues et ses immeubles neufs. De l’autre, 9.000 baraques de tôle, de planches et de carton plantées sur la boue et les tas d’immondices.« M. Josco, Bidonvilles, in: France Soir, 06.11.1965.
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die sich zugleich in Sichtweite der übrigen Bevölkerung befand.125 Schließlich waren die bidonvilles, die manchmal einige wenige, manchmal mehrere tausend Menschen beherbergten, meist auf Brachland in der urbanen Peripherie, in der Nähe bestehender Wohnsiedlungen und Industriegebiete entstanden. Die Koexistenz dieser beiden Welten, dieser »Inseln der Hölle« und der »Stadt des Lichts«, stelle für die französische Gesellschaft eine »soziale Wunde« dar, wiederholte Josco von Artikel zu Artikel – und für den französischen Wohlfahrtsstaat eine Herausforderung. Tatsächlich handelte es sich bei seiner Reportageserie um eine von vielen. Seit Mitte der 1960er Jahre widmeten sich immer mehr Fernsehdokumentationen und Zeitungsartikel den bidonvilles, die sich an Paris und andere französische Städte anlagerten.126 Die Auseinandersetzung der Massenmedien mit den bidonvilles als Schauplätzen des Elends, die mit dem Wohlstand der französischen Städte kontrastiert wurden, gibt auf produktive Weise einen Einblick in die Ambivalenzen des zeitgenössischen Modernisierungsbegriffs. Denn zum einen befassten sich die zeitgenössischen Kommentatoren in diesem Rahmen mit der französischen Gesellschaft als moderner Wohlstandsgesellschaft, zum anderen befragten sie die Camp-Bewohner immer wieder auf deren Modernität oder Rückständigkeit, Integriertheit oder inadaptation. Dabei standen im Laufe der 1960er Jahre neben portugiesischen vor allem algerische Migrantinnen und Migranten im Zentrum der Debatten um die »Hölle der bidonvilles«. In Teilen entsprach das der Bevölkerungsstruktur der Lager: Nordafrikanische und südeuropäische Arbeitsmigranten stellten tatsächlich den Großteil, etwa 80 %, der bidonvilles-Bevölkerung, die Mehrheit davon aus Algerien und Portugal,127 und insbesondere bei den Algeriern war der Anteil derer, die in Barackenlagern wohnten, auffallend hoch.128 Vor allem aber spiegelte es den Fokus der französischen Politik wider, die nordafrikanische Migranten immer mehr als zentrale Problembevölkerung der bidonvilles ausmachte.129 Das galt auch für das System 125 »Deux Mondes, c’est ce que voient ›ceux d’en face‹ à Nanterre : au loin le palais ultra moderne du Rond-Point de la Défense et ; tout près, sous leurs fenêtres, un amoncellement de planches, le bidonville. Deux mondes, dont la coexistence est une injure à une cité comme Paris.« Ebd. 126 Vgl. u. a. M. Josco, Bidonvilles, in: France Soir, 22.10.1965–13.11.1965 (Artikelserie); P. Trey, Bidonvilles et sous-prolétariat urbain, in: Le Monde, 01.–08.06.1966 (Artikel serie); C. Rudel, Proches mais lointains bidonvilles, in: La Croix, 22.–27.12.1965 (Artikelserie). Für den Versuch einer Quantifizierung der Berichterstattung siehe Blanc-Chaléard, En finir, S. 48. 127 Ebd. 128 Cohen zitiert eine Studie, wonach 1958 in Paris von 20.000 algerischen Familien 9.000 als mal logés galten, wobei 9 % in bidonvilles und 35 % in hôtels meublées wohnten. Cohen, S. 111. 129 Zu der eng mit Formen der (post-)kolonialen Migration und kolonialen Politiken und Akteuren verknüpften Geschichte der bidonvilles und ihrer Auflösung siehe u. a. BlancChaléard, En finir; Cohen; Nasiali, Order; Lyons, Des Bidonvilles; dies., Civilizing Mission; Nasiali, Citizens, Squatters; Gastaut.
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staatlicher Übergangssiedlungen, das die Regierung bei der Auflösung der Lager installierte und das dazu dienen sollte, die Bewohnerschaft an einen modernen Lebensstil zu gewöhnen. Die Art und Weise, wie die bidonvilles in den Massenmedien zu Orten jenseits der Moderne stilisiert wurden, hilft zu verstehen, wie verbreitet zu dieser Zeit eine letztlich rassifizierte Vorstellung der Rückständigkeit oder Unfähigkeit zur Moderne war. Das Problem der bidonvilles machten zeitgenössische Beobachterinnen und Beobachter oft nicht allein an den dort herrschenden Wohnbedingungen fest, sondern auch an dem Verhalten und der Kultur ihrer Bewohnerschaft. Dabei war es ein spezifisches Verständnis des unterschiedlichen Entwicklungsstands ehemals kolonialer Subjekte, das in den 1960er Jahren die Politik einer Erziehung zum modernen Wohnen anleitete.130 Und tatsächlich lag das Projekt der Auflösung der bidonvilles maßgeblich in den Händen der Kolonialverwaltung bzw. nach dem Ende des Algerienkriegs in den Händen von Experten, Beamten und Institutionen, die vormals der Kolonialverwaltung angehört hatten. Zugleich wurden die an den bidonvilles erprobten Praktiken später auf andere (innerstädtische) Viertel in Frankreich übertragen, die gleichfalls als abrissreif deklariert und deren Bewohner ebenfalls, unabhängig davon, ob es sich um Migranten handelte oder nicht, in Übergangssiedlungen überführt wurden.131 Während die Geschichte der randstädtischen Barackenlager eng mit dem Prozess der Dekolonisierung verknüpft war, ist sie zugleich allgemein kennzeichnend für eine spezifische Etappe der urbanen Modernisierung. Diese Etappe war geprägt von einer Generation von Stadtplanern, die glaubten, mittels einer Modernisierung des Wohnens homogenere nationale Gemeinschaften zu schaffen. Für die Moderne schienen ihnen jedoch nicht alle Gruppen gleichermaßen geeignet. Sogenannte »asoziale Familien« etwa galten ebenso wie »muslimische Franzosen aus Algerien« als nicht »angepasst« genug für eine moderne westliche Lebensweise. Am Beispiel der Barackenlager und der versuchten Adaptation ihrer Bewohner wird damit deutlich, wie über den erweiterten Zugang zum modernen Komfort in der Nachkriegszeit neue soziale Grenzziehungen und Formen des Ein- und Ausschlusses verhandelt und stabilisiert wurden. Die Bezeichnung bidonville selbst kam im metropolitanen Frankreich erst in den 1950er Jahren in Gebrauch. Sie ist bis heute assoziiert mit informell errichteten Siedlungen in der urbanen Peripherie, die von aus Bau- und Industrieresten wie Pappe, Holzlatten oder Metall erbauten Hütten und Baracken geprägt sind.132 Bidonvilles, das sind im weiteren Sinne eben tatsächlich »villes de bidons«, »Metallkanister-Städte«. Bezeichnenderweise kam der Begriff zuerst 130 Zum Transfer rassistischer Vorstellungen der unterschiedlichen »Evolution« kolonialer Subjekte in das metropolitane Frankreich siehe vor allem Barros. Zum Begriff der »adaptation« vgl. Lyons, Civilizing Mission. 131 Tricart. 132 Zur Geschichte des Begriffs bidonville siehe Cattedra.
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um 1930 in Casablanca in Gebrauch und war dort zunächst eine Ortsbezeichnung.133 Es war der Name für eine von vielen informellen Siedlungen, die in der Peripherie von Casablanca in den 1920er Jahren zur Zeit des französischen Protektorats entstanden. Während die Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft auch infolge kolonialpolitischer Maßnahmen zunahm und die Industrialisierung der Städte voranschritt, zogen immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit aus den ländlichen Regionen in die Städte.134 Die neuen Siedlungen am Stadtrand waren ein Resultat dieser Entwicklung. Der Geograph Raffaele Cattedra hat den Begriff bidonville bis nach Casablanca zurückverfolgt. Er beschreibt dessen Karriere vom Ortsnamen zur gängigen Bezeichnung stigmatisierter urbaner Räume als eine Reise, die in der Zwischenkriegszeit in Casablanca, Tunis und anderen Städten des Maghreb ihren Ausgang nahm. Von dort führte sie weiter in die Peripherie französischer Städte, bevor es dann in den 1980er Jahren üblich wurde, bidonvilles als typische Begleiterscheinung von Urbanisierungsprozessen im globalen Süden zu beschreiben. Nachdem der Begriff in den 1930er Jahren zunächst in Reisebeschreibungen und Verwaltungsberichten zirkulierte und der Beschreibung einer kolonialen Urbanität diente, wurde er in den 1950er Jahren schrittweise auch im metropolitanen Frankreich gebräuchlich; zunächst in Verwaltungskreisen, dann in der Presse und in sozialwissenschaftlichen Studien. Anfang der 1960er Jahre fand er erstmals Eingang in französische Wörterbücher.135 Allerdings assoziierten die Zeitgenossen den Begriff weiterhin mit den Armutsvierteln nordafrikanischer Städte. Genau daraus gewann seine Anwendung auf metropolitane Kontexte ihre Polemik. Während man in der Zwischenkriegszeit die Vielzahl selbst erbauter Baracken in der Peripherie von Paris noch als ein französisches Phänomen aufgefasst hatte, wurden die randstädtischen Barackenlager in der Nachkriegszeit als bidonvilles bezeichnet und zunehmend als ein migrantisches Phänomen beschrieben.136 Im Rahmen ihrer mehrteiligen Artikelserie zu den bidonvilles bei Paris veröffentlichte die Tageszeitung »France Soir« am 13. November 1965 einen Leserbrief von Thérèse Nadji, in dem Nadji über den Alltag in einer Siedlung namens La Folie berichtete, in der sie früher gewohnt hatte.137 Tatsächlich stand 133 Cattedra gesteht allerdings zu, dass Bidonville in Tunis fast zeitgleich als Ortsbezeichnung aufgetaucht sei. Ebd. 134 Zur Geschichte der bidonvilles am Rande von Casablanca und Algiers vgl. die luzide Analyse von House. 135 Der Grand Larousse führt den Begriff 1960 zum ersten Mal auf. Cattedra. 136 Zu der in Teilen migrantischen Bevölkerung der zone von Paris in der Zwischenkriegszeit siehe die Hinweise bei Blanc-Chaléard, En finir. Die Einschätzung von de Barros, dass die Bezeichnung bidonville in Frankreich bis 1962 äquivalent mit »indigenen Algeriern« gewesen sei, erscheint allerdings angesichts dessen, dass etwa ATD zu dieser Zeit mit Blick auf Noisy-le-Grand gleichfalls von einem bidonville sprach, wenig überzeugend. Barros, S. 30 f. 137 T. Nadji, Je sors de l’enfer des bidonvilles, voilà ce que c’est, in: France Soir, 13.11.1965 (Leserbrief, verfasst am 23.10.1965).
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das westlich von Paris in Nanterre gelegene und in der Mehrzahl von Algeriern bewohnte La Folie stärker als andere bidonvilles in der öffentlichen Debatte. Das hing damit zusammen, dass in Nanterre zu dieser Zeit überdurchschnittlich viele Menschen in Baracken wohnten. Ende der 1960er Jahre waren von den 90.000 Bewohnern Nanterres 10.000 bidonvilles-Bewohner, 1965 waren es 14.000. La Folie war das größte dieser Barackenlager, und Nadji schilderte ausführlich die dortigen Wohnverhältnisse. Sie habe seinerzeit, erklärte sie unter anderem, im Luftfahrtministerium gearbeitet und habe jeden Morgen eine halbe Stunde früher losgemusst, um im WC eines Cafés im Spiegel zu überprüfen, ob sie ausreichend sauber war. Schließlich sei es mit Kerzenlicht im Lager schwer gewesen, tadellos auszusehen. Doch ging Nadji nicht allein auf die materiellen Bedingungen in dem bidonville ein, auf die unzureichende Versorgung mit Strom und Wasser, den Schlamm, die Ratten, die in den Baracken immer wieder ausbrechenden Feuer.138 Sie kritisierte auch die stigmatisierende Behandlung durch Außenstehende. Der Platz zum Wasserholen, schrieb sie, habe sich in La Folie an einer Schnellstraße befunden, so dass man jederzeit die verächtlichen Blicke der sogenannten normalen Nachbarn habe ertragen müssen. Es sei, kurzum, der reine Irrsinn gewesen, und als sie schließlich herausgekommen sei aus dieser Schlammhöhle, sei sie wie benommen gewesen. Zugleich betonte Nadji die große menschliche Wärme der Camp-Bewohner. Sie verstecke nicht, schloss sie schließlich, dass sie in einem bidonville gelebt habe, aber wolle, dass man endlich die Augen öffne für etwas, das es im 20. Jahrhundert nicht geben dürfe, »noch nicht einmal in unserer Vorstellung«. Der Großteil der Bidonvilles-Bevölkerung war, wie auch Thérèse Nadji, berufstätig. Doch handelte es sich, anders als auch in der Forschung lange ver mutet, nicht nur um alleinstehende Arbeiter. Ab den späten 1950er Jahren wuchs der Anteil an Familien.139 Neben einkommensschwachen französischen Großfamilien waren das einerseits europäische Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien und Portugal, die im Zuge der staatlichen Anwerbungspolitik oder auch unabhängig davon nach Frankreich kamen. Andererseits kamen dort Algerier unter, die auf der Suche nach Arbeit oder aus politischen Gründen migriert waren und gleich mit ihren Familien einreisten oder sie nachholten. Der Zuzug nach Frankreich nahm im Laufe der 1950er und 1960er Jahre insgesamt zu. 1954 waren im Rahmen einer Volkszählung 1,7 Millionen in Frankreich lebende Ausländer gezählt worden, inklusive muslimisch-algerischer Migranten, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich die französische Staatsangehörigkeit besaßen. 1968 lebten laut Volkszählung 2,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer dort, 138 Zur besonderen Bedeutung der Wasserversorgung für den Alltag sowie überhaupt zur Erfahrungsgeschichte der bidonvilles siehe McDonnell. Speziell zum Alltag in dem größtenteils von algerischen Migrantinnen und Migranten bewohnten bidonville La Folie siehe auch die Schilderungen bei Hervo u. Charras. 139 Laut Muriel Cohen stellten Familien 1962 etwa ein Viertel der bidonvilles-Bevölkerung. Cohen, S. 54–60.
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davon 350.000 Algerier, 84.200 Marokkaner, 607.200 Spanier, 571.600 Italiener und 296.450 Portugiesen.140 Letztlich wohnte auch in den späten 1960er Jahren deutlich weniger als ein Zehntel der ausländischen Bevölkerung Frankreichs in Barackenlagern.141 Dass aber umgekehrt ein derart hoher Anteil der Camp-Bewohner Migranten waren, hing damit zusammen, dass die bidonvilles wie typische Ankunftsviertel fungierten: Neuankömmlinge zogen zuerst dorthin, weil dort bereits Verwandte oder Bekannte wohnten, die ihnen das Ankommen erleichterten.142 Umso mehr, als gerade neu ankommende Migrantinnen und Migranten von der herrschenden Wohnungskrise stark betroffen waren. Der Zugang zu Sozialwohnungen war ihnen weitgehend verschlossen, und auf dem freien Mietmarkt hatten viele mit Diskriminierungen zu kämpfen. Gerade alleinstehende Arbeiter kamen daher vielfach in möblierten Zimmern in hôtels meublées unter, die jedoch häufig überbelegt waren und deren Betreiber den Ruf hatten, die Zimmermieten willkürlich zu erhöhen.143 Andere wichen an den Stadtrand aus. Obwohl die meisten Barackenlager keinen Zugang zum regulären Stromnetz, zur Abwasseroder Müllentsorgung sowie überhaupt zu öffentlichen Infrastrukturen hatten, war die Unterkunft in den bidonvilles allerdings selten kostenfrei. Zwar gab es Neuankömmlinge, die aus Wellblech, Pappe oder Holz selbst neue Baracken errichteten oder in einem Auto unterkamen, doch zahlten viele regelmäßig, um in einer der bereits errichteten Unterkünfte unterzukommen. Die informellen Siedlungen stellten aus administrativer Sicht nicht nur deswegen Problemzonen dar, weil die dortigen Wohnverhältnisse gesundheits gefährdend und ärmlich waren, sondern auch, weil insbesondere algerische Mig ranten als potentiell gefährlich eingestuft wurden. Nachdem zuvor auf lokaler Ebene, ausgehend von einzelnen Stadtverwaltungen, erste Vorstöße zu deren Auflösung unternommen wurden, begann sich die französische Regierung Ende der 1950er Jahre verstärkt für die bidonvilles zu interessieren.144 Dass die Ministerialbürokratie in wachsendem Maße auf die Barackenlager aufmerksam wurde, hing nicht allein damit zusammen, dass deren Zahl wuchs und die überregionale Presse darüber zu berichten begann; es hing vielmehr auch mit dem Algerienkrieg zusammen.145 Polizei und Militär warnten davor, dass die Siedlungen sich zu beliebten Rekrutierungsräumen für die Anwerbung neuer Kämpfer für die algerische Unabhängigkeitsbewegung entwickelten. Diese 140 Blanc-Chaléard, En finir, S. 424–426. 141 Ebd., S. 51. 142 Siehe zu dieser Dynamik beispielweise die Studie von Pétonnet, On est. 143 Zur Geschichte der hôtels meublées siehe Faure u. Lévy-Vroelant. 144 Zur (politischen) Geschichte der Auflösung der bidonvilles siehe Blanc-Chaléard, En finir; Cohen. 145 Beispielsweise hatte die Tageszeitung France Soir bereits am 29.10.1957 eine erste Karte der bidonvilles in der Region von Paris abgedruckt. Es vergingen mehrere Jahre, bis die französische Ministerialbürokratie selbst begann, Zahlen zum Umfang der in Barackenlagern lebenden Bevölkerung zu erheben.
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Warnungen wurden lauter, nachdem die FLN, der bewaffnete Zweig der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, in der Metropole mehrere Attentate verübte. Vor allem in der Pariser Region führten die Polizei und die Seine-Präfektur in der Folge regelmäßig Razzien in den Barackenlagern durch oder initiierten deren Auflösung. Sie agierten dabei zunehmend gewaltvoll. Die Situation eskalierte, als am 17. Oktober 1961 die Pariser Polizei höchst gewaltsam gegen algerische Demonstrierende vorging und infolge dessen geschätzte 200 Algerierinnen und Algerier starben.146 Bei ihren sicherheitspolitischen Maßnahmen konzentrierten sich die Polizisten und Kolonialbeamten meist auf sogenannte Français musulmans d’Algérie, »muslimische Franzosen aus Algerien« (FMA).147 Algeriens muslimische Bevölkerung hatte im Rahmen der französischen Kolonialherrschaft staatsangehörigkeitsrechtlich einen Sonderstatus besessen; sie verfügte nicht über die vollständigen Bürgerrechte. 1947 änderte sich das insofern, als die Algerier per Dekret formal zu gleichwertigen französischen Staatsbürgern erklärt wurden. Unter anderem erhielten sie das Recht auf Freizügigkeit. Doch diente die Kategorie der »Français musulmans d’Algérie« de facto weiterhin als eine eigene Rechtsund Verwaltungskategorie. Die Betroffenen wurden von Polizei und Verwaltung anders behandelt; ihr hybrider Status als Franzosen, die nicht gleichberechtigte französische Bürger waren, blieb bis zu einem gewissen Grad bestehen.148 Zugleich begann die französische Regierung in den 1950er Jahren Programme zu finanzieren, die die aus Algerien zuziehenden Arbeiter und Familien sozial unterstützen und sie auf diese Weise stärker an Frankreich binden sollten.149 Während in Algerien selbst im Rahmen des sogenannten Constantine-Plans 1958 umfassende Maßnahmen der Modernisierung, des Wohnungsbaus und der Zwangsumsiedlung eingeleitet wurden, widmete sich in Frankreich der neu gegründete Fonds d’Action Sociale (FAS) der Finanzierung von Projekten, die der Unterstützung algerischer Familien, ihrer Unterbringung und Kontrolle in Frankeich dienen sollten.150 Auch diese Maßnahmen konzentrierten sich maßgeblich auf die FMA sowie auf jene muslimisch-algerischen harkis, die während des Kriegs auf französischer Seite gekämpft hatten.151 Die harkis wurden dafür in Algerien stark angefeindet, waren in Frankreich selbst aber keineswegs willkommen. Deutlich wohlwollender wurden dagegen die »europäischen« Siedlerinnen und Siedler (»pieds noirs«) empfangen, die Algerien nach der Erklärung 146 Zur Kontextualisierung der Ereignisse vom Oktober 1961 in einer Geschichte kolonialer Gewalt und zur Historisierung ihrer Aufarbeitung und Erinnerung siehe House u. MacMaster. 147 Vgl. die Schilderungen solcher Razzien bei Hervo u. Charras Zu der kolonialpolitischen Kategorie FMA siehe Barros. 148 Speziell zur Politik der Staatsangehörigkeit nach der algerischen Unabhängigkeit siehe Shepard; Weil; Spire. 149 Lyons, Social Welfare; dies., The Civilizing. 150 Lyons, Social Welfare. 151 Ebd.; dies., The Civilizing.
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der Unabhängigkeit in großer Zahl verließen – allein 1962 kamen 600.000. Während muslimisch-algerischen Migranten immer wieder als rückständig beschrieben und Maßnahmen ergriffen wurden, die deren »kultureller Erziehung« und Zivilisierung dienen sollten, galt das für die (christlichen) »repatriierten Franzosen« und pieds noirs aus Algerien nicht. Dass sie in ihrer Entwicklung eng mit den Migrationsbewegungen im Zuge und in Folge des Algerienkriegs verknüpft waren, ließ die bidonvilles in den 1960er Jahren zu wichtigen sozial- und wohnpolitischen Interventionsräumen werden. Nach einer ersten Phase der zahlenmäßigen Erfassung und Auflösung einzelner Lager erließ das französische Parlament so 1964 ein Gesetz, das loi Debré, das den Stadtverwaltungen und anderen öffentlichen Organen das Recht gab, sich die Gebiete zu übereignen, auf denen sich bidonvilles befanden – sofern sie versprachen, dort neu zu bauen oder den Boden auf andere Weise für Urbanisierungsprojekte zu benutzen. 1966 wurde dieses Gesetz durch ein weiteres ergänzt, das den Kommunen weniger und den Präfekturen mehr Einfluss auf diese Politik der Enteignung zugestand.152 Trotz dieser weitreichenden Gesetzesänderungen schritt die Auflösung der bidonvilles nur langsam voran. Allerdings stieg der Druck durch die Massenmedien, die, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Orientierung, im skandalisierten Ton über die »Inseln der Hölle« berichteten. Mit dem Ausbruch der Studentenunruhen im Mai 1968 erhöhte sich dieser Druck weiter, zumal sich in Nanterre mehrere Barackenlager in unmittelbarer Nähe der Universität befanden, und sich die Studierenden um eine Einbindung der Bewohnerinnen und Bewohner in ihre Proteste bemühten.153 Schließlich kündigte die französische Regierung 1970 die Räumung sämtlicher noch bestehender Barackenlager in den kommenden drei Jahren an und erließ dafür das loi Vivien. Eine interministerielle Kommission wurde eingerichtet, und die Regierung reagierte auf die Problematisierung der bidonvilles in den Medien, indem Premierminister Jacques Chaban-Delmas deren baldige Auflösung in den Fernsehnachrichten verkündete und verschiedenen bidonvilles in Begleitung der Presse einen Besuch abstattete.154 Abgeschlossen war die Auflösung der Barackenlager damit noch nicht. Offiziellen Schätzungen zufolge lebten 1973 noch immer knapp 13.000 Personen in bidonvilles, und das letzte größere Lager wurde 1976 aufgelöst.155 Doch hatte die öffentliche Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt merklich nachgelassen. 152 Vorbereitet und begleitet wurde diese Entwicklung von einer 1965 gegründeten Arbeitsgruppe unter der Leitung von Michel Massenet. Blanc-Chaléard, En finir. 153 Gastaut, S. 247. 154 Am 12.02.1970 fuhr Chaban-Delmas nach Aubervilliers, am 29.06.1971 besuchte er ein bidonville in Nanterre. Les taudis remplacent les baraques, in: L’Humanité, 30.06.1971. Zur Berichterstattung über den Besuch in den Nachrichten siehe auch http://www.ina.fr/ video/CAF89001601/monsieur-jacques-chaban-delmas-visite-les-bidonvilles-video.html [20.08.2020]. 155 Gastaut, Les bidonvilles, S. 241.
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Tatsächlich markierten die frühen 1970er Jahre das Ende einer Phase der intensiven Auseinandersetzung mit »rückständigen« Räumen und Verhaltensweisen. Davor hatte in den 1960er Jahren die Gegenüberstellung von Rück ständigkeit und Modernität die Diskursivierung der bidonvilles dominiert. Kennzeichnend für die Haltung der französischen Verwaltung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern ebenso wie für deren Darstellung in den Medien war dabei zweierlei: Zum einen kritisierten Journalisten und Aktivisten immer wieder, dass in den Camps Bedingungen vorherrschten, die dem Wohlstand und der Modernität der französischen Gesellschaft nicht angemessen waren. Zum anderen bezweifelten sie, dass die Bewohner selbst in ihrem Verhalten, ihrer Einstellung und ihrem Lebensstil modern genug für das Leben in normalen Wohnungen waren. So befragte Maurice Josco im Rahmen seiner Recherchen für »France Soir« eine Aktivistin, die für die Hilfsorganisation ATD Quart Monde tätig war. Wie sie denn ihre Arbeit fortführen wolle, wenn die Regierung alle noch bestehenden Barackenlager beseitigt habe, fragte er sie – woraufhin die befragte Marie-Claude ihm erklärte, ihre Arbeit sei niemals beendet: »Selbst wenn es keine bidonvilles mehr gibt, bleibt meine Aufgabe bestehen. Denn der Rhythmus des modernen Lebens beschleunigt sich derart schnell, dass es immer mehr Leute geben wird, die dahinter zurück bleiben und die unterstützt werden müssen.«156 Ähnlich wie die Aktivistin argumentierten im Zusammenhang mit den bidonvilles viele, dass die Zahl derjenigen, die in der französischen Gesellschaft mit ausgeprägten Problemen kämpften, eher zu- als abnahm. Häufig formulierten sie diese Bedenken in einer Fortschrittsrhetorik: Aktivisten wie verwaltungsnahe Experten gleichermaßen sorgten sich um soziale Gruppen, die, wie es hieß, hinter dem Entwicklungsgrad der modernen Wohlstands gesellschaft zurückblieben. Derartige Bedenken bezogen sich auf Franzosen und Nicht-Franzosen. Allerdings griffen zeitgenössische Beobachter insbesondere bei der Darstellung migrantischer Familien aus den ehemaligen Kolonien auf rassistische Stereotype einer grundsätzlich begrenzten Adaptions- und Entwicklungsfähigkeit zurück. Die Art und Weise, wie Maurice Josco eine seiner Reportagen für »France Soir« mit der Schilderung eines Nachbarschaftsstreits in einem Sozialen Wohnungsbau einleitete, war dafür charakteristisch. Auslöser des Konflikts war eine zwölfköpfige algerische Familie, die mitsamt ihres Schafs und anderer Tiere aus einem bidonville in eine Sozialwohnung umgesetzt worden war und dort nun die Nachbarn störte. Für den Journalisten bestand das Problem darin, dass die Bewohner der Barackenlager ein dem modernen urbanen Leben angemessenes Verhalten generell noch erlernen mussten: »Wer kann schließlich übergangslos ein Jahrhundert überspringen? Modern zu leben, das muss man lernen. Es erfordert eine Zeit der Anpassung, deren Länge individuell 156 »Ce ne serais jamais fini. Quand il n’y aura plus de bidonvilles, ma tâche restera entière. Le rythme de la vie moderne s’accélère si vite qu’il y aura de plus en plus de gens à la traine qu’il faudra soutenir.« M. Josco, Bidonvilles, in: France Soir, 24.–25.10.1965.
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variiert. Manchen wird es allerdings nie gelingen. Sie muss man zurück in ihr Herkunftsland schicken, zurück in ihre Hütten, in denen sie letztlich glücklicher sein werden. Aber lassen Sie uns sofort klar stellen, dass die nicht Anpassungsfähigen (»les inadaptables«) eine sehr kleine Minderheit darstellen.«157
In ähnlicher Weise hatte die Pariser Polizei 1953 in einer Broschüre die »inadaptation« algerischer Migranten beschrieben. Der Mann, der aus seiner Douar nach Paris komme, hieß es dort, sei acht bis zehn Jahrhunderte hinter der eigenen technischen und individualistischen Zivilisation zurück. Man müsse ihm helfen, diesen Rückstand aufzuholen – teilweise gegen dessen Widerstand.158
b) Durchmischen oder separieren: Unterschiedliche Modelle der Erziehung zur Moderne In Algerien selbst hatte die französische Kolonialverwaltung während des Kriegs eine Politik der Zwangsmodernisierung und -umsiedlung der (muslimischen) Landbevölkerung betrieben. Diese Politik stützte sich unter anderem auf ein System von als »neue Dörfer« titulierten Umsiedlungslagern, bezog aber auch die grands ensembles am Rande algerischer Städte als Schauplätze der Erziehung zu einem »europäischen Lebensstil« mit ein.159 Zwar fand diese Politik mit der algerischen Unabhängigkeit 1962 ihr formales Ende, dennoch erfuhren algerischmuslimische Migrantinnen und Migranten auch im französischen Mutterland wohnpolitisch weiter eine Sonderbehandlung. Die französische Verwaltung war bestrebt, sie in separaten Heimen und Sozialwohnungen unterzubringen. In der Mehrzahl wurden diese Heime von einer noch zu Kolonialzeiten gegründeten Wohnungsbaugesellschaft verwaltet, der SONACOTRAL. Sie war seit 1962 offiziell mit der Unterbringung aller Arbeitsmigranten in Frankreich befasst, ursprünglich aber allein für die Unterbringung und Kontrolle algerischer Arbeiter geschaffen worden und behielt diesen Fokus intern weitgehend bei. Die Auflösung der bidonvilles und die Überführung ihrer migrantischen Bewohner
157 »Il n’est pas possible d’arracher les habitants des bidonvilles à leur horrible misère pour les installer de but en blanc dans le confort. Qui pourrait sauter un siècle sans transition ? Vivre dans la modernité, cela s’apprend. Cela demande une période d’adaptation, plus ou moins longue selon les individus. Certains même ne pourront jamais s’y faire. Il faudra les renvoyer dans leur pays, les rendre à leurs gourbis où ils seront d’ailleurs plus heureux.« M. Josco, Bidonvilles, in: France Soir, 03.11.1965. 158 Zitiert nach Blanc-Chaléard, S. 63. 159 Diese Maßnahmen zogen einen massiven Wandel der algerischen Gesellschaft nach sich. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu schätzte, dass 1958 jeder dritte Algerier nicht mehr dort wohnte, wo er noch 1954 gewohnt hatte. Bourdieu, Sociologie; ders., In Algerien. Zur Politik der Zwangsmodernisierung und -umsiedlung im Rahmen des Algerienkriegs vgl. Feichtinger u. Malinowski; Feichtinger, Ein Aspekt; ders., Modernisierung.
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in andere Unterkünfte stand damit auch institutionell in einer kolonialpolitischen Tradition.160 Die französischen Autoritäten gingen bei ihrer Auflösung der bidonvilles davon aus, dass das »moderne Wohnen« von den Bewohnerinnen und Bewohnern ein spezifisches Verhalten erforderte, zu dem sie notfalls erzogen werden mussten. Um die Entwicklung und Erziehung der bidonvilles-Bewohner zu erreichen, etablierte die Regierung so ein gestaffeltes System von Wohnlösungen. Dessen Dreh- und Angelpunkt bildeten spärlich ausgestattete sogenannte cités de transit, die in randstädtischen Gebieten erbaut wurden. Sie sollten die Familien aus den aufgelösten Barackenlagern und Sanierungsgebieten vorübergehend beherbergen und sie, kombiniert mit ihrer sozialpädagogischen Betreuung, zu einem »Normalverhalten« erziehen, bevor sie Zugang zum Sozialen Wohnungsbau erhielten.161 Die konkrete bauliche Struktur dieser Übergangssiedlungen variierte, doch kennzeichnete sie eine spärliche Ausstattung, siedlungsähnliche Struktur und die Lage in peripheren, schlecht angebundenen Gebieten. In einem Rundschreiben der Verwaltung wurden sie als Siedlungen definiert, die provisorisch Familien beherbergen sollten, deren definitive Unterbringung nicht ohne vorherige sozial-erzieherische Maßnahmen erfolgen könne.162 Vor ihrer Überweisung in normale Sozialwohnungen sollten die Bewohner dort »normalisiert« (normaliser) und auf ihre »Eingliederung« und »Hebung« vorbereitet werden. Im Zusammenhang mit dieser Politik einer sozialräumlichen Normalisierung und Integration führten die zuständigen Beamten wiederholt die unterschiedliche évolution der Bewohnerinnen und Bewohner urbaner Problemzonen an. Sie griffen damit eine Kategorie auf, die für das koloniale Projekt zentral
160 Die Sonacotral wurde 1963 in Sonacotra umbenannt, um diese Veränderung in der Zuständigkeit zu markieren. Zu der Wohnungspolitik gegenüber Migranten und der Geschichte der Sonacotra als vor allem für algerische Migranten zuständige, ursprünglich der staatlichen Kolonialverwaltung zugeordnete Wohnungsgenossenschaft vgl. Bernardot. Zu den Auswirkungen auf die jeweiligen Wohnbiographien siehe Cohen. 161 In Teilen firmierten die Unterkünfte für als schwer integrierbar klassifizierte Fälle auch unter der Bezeichnung centre de promotion familiale. Zu dieser Politik der sozialräumlichen Integration vgl. u. a. CAC, 1970097/27, Unterakte: Habitat insalubre, Berichte der Groupe interministériel permanent pour la résorption de l’habitat insalubre, 06.10.1971. Siehe hierzu auch Reinecke, Disziplinierte Wohnungsnot. 162 »Les cités des transit peuvent être définies comme des ensembles d’habitations affectées au logement provisoire des familles, occupantes à titre précaire, dont l’accès en habitat définitif ne peut être envisagé sans une action socio-éducative destinée à favoriser leur insertion sociale et leur promotion. […] le travail social servirait à normaliser sur le modèles des habitants des HLM des populations qui échappent pour des raisons diverses aux valeurs idéologiques dominantes.« Circulaire interministerielle, 19.04.1972, zitiert nach Liscia, Le travail, S. 1092. Zu einer früheren Form dieser Definition vgl. die konzeptionellen Überlegungen der Groupe interministériel permanent pour la résorption de l’habitat insalubre, 06.10.1971, CAC, 1970097/27, Unterakte: Habitat insalubre.
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gewesen war.163 Damit sie ohne weiteres in einem HLM, also einer Sozialwohnung, untergebracht werden könnten, sollten die aus den bidonvilles kommenden Migrantenfamilien ausreichend entwickelt (évoluées) sein, erklärte etwa die für die Großregion Paris zuständige Präfektur 1967. Die zuständigen Beamten wurden daher angewiesen, die Familien zunächst anhand ihres Verhaltens und ihrer Ressourcen einzustufen, um dann zu entscheiden, ob sie in eine cité de transit, in eines der noch einfacher ausgestatteten Wohnheime oder – seltener – in ein HLM überwiesen werden konnten.164 Der Prozess der sozialen Hebung, erklärte die Präfektur, erfordere eine separate Unterbringung; er erfordere eine wiederholte Prüfung der Ressourcen und Fähigkeiten der Betroffenen sowie schließlich, falls möglich, deren eigentliche Hebung, die in der Überweisung in eine normale Sozialwohnung bestand. Dass alle gleichermaßen integrierbar waren, bezweifelten die Beamten indes: Zwar bemühe man sich, hieß es, um die »soziale Hebung der besten und am besten qualifizierten Elemente«, doch dürfe man nicht vergessen, dass für andere dieses Ziel angesichts ihrer mangelnden Ressourcen oder unzureichenden Entwicklung (évolution) nicht zu erreichen sei. Umso mehr stelle sich die Frage, wie sich deren Zukunft in Frankreich gestalte.165 Im Falle der bidonvilles und ihrer Auflösung bestimmten damit koloniale Ordnungsvorstellungen der unterschiedlichen »Entwicklung« oder »Zivili siertheit« der zu regierenden Subjekte die administrative Praxis. Und gerade im Umgang mit algerischen Migrantinnen und Migranten verschränkte sich die Erziehung zum modernen Wohnen mit migrationspolitischen Zielen der Inund Exklusion.166 Die Praxis der vorübergehenden Unterbringung in den cités de transit stand allerdings eigentlich im Widerspruch zu einer in Verwaltungskreisen immer deutlicher formulierten Forderung nach ethnischer und sozialer Durchmischung im urbanen Wohnen. Angeleitet durch soziologische Studien wuchs Ende der 1960er Jahre in Verwaltungskreisen, vor allem mit Blick auf die noch neuen Großsiedlungen, die Sorge vor Prozessen der sozialen Entmischung im urbanen Raum. Darüber hinaus warnten immer mehr Verwaltungsexperten vor einer räumlichen Konzentration insbesondere algerischer Bewohnerinnen und Bewohner. Unter anderem hing das damit zusammen, dass die Verwaltung im Kontext des Algerienkriegs befürchtete, dass die Algerier sich politisch schneller organisierten, wenn sie eng beieinander wohnten. Darüber hinaus fürchteten die französischen Autoritäten die sozialen Folgen:167 Die gemeinschaftliche Unterbringung in hôtels meublés oder den bidonvilles erlaube einen Fortbestand 163 Barros. Vgl. dazu auch Cohen u. David. 164 Die Heime – als die im französischen Fall unterste Stufe eines 3-Stufen-Systems – firmierten teilweise unter der Bezeichnung cité d’accueil, teilweise unter centre de herbergement. 165 CAC, 19770317/1, Unterakte: Bilan résorption, 1966–1968, Schreiben der Préfecture de la Seine an das Cabinet du Secrétaire Général. 166 Zur engen Verknüpfung wohnungs- und migrationspolitischer Maßnahmen allgemein vgl. House u. Thompson. 167 Siehe etwa Blanc-Chaléard, S. 141.
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»traditioneller Verhaltensweisen«, hieß es etwa 1969 in einem Kommentar des Ministère d’Equipements zur Lage der ausländischen Arbeitsmigranten in Frankreich.168 Kämen die Migranten dagegen in kleiner Zahl gemeinsam mit Franzosen in HLM unter, mache das ihre Integration wahrscheinlicher. Tatsäch lich galt die Mischung in »normalen Unterkünften« gegen Ende der 1960er zunehmend als Instrument der Integration. Wohnpolitische Maßnahmen zielten vermehrt auf eine Streuung, »brassage« (Vermischung), multiethnische Zusammensetzung und Quotierung des Zugangs von Migranten zum Sozialen Wohnungsbau.169 Dass es dennoch zunächst gängige Praxis wurde, die Bewohnerinnen und Bewohner der bidonvilles entsprechend ihrer Anpassungsfähigkeit zu klassifizieren und einen Teil in separate Unterkünfte zu überweisen, die meisten davon in homogenen ethnischen Gruppen, schien dem zu widersprechen. Verständlich wird es vor allem darüber, dass die Verwaltungsexperten davon ausgingen, dass nicht alle gleichermaßen zum modernen Wohnen fähig oder erziehbar waren. Während sich die Politik der Modernisierung des Wohnens insgesamt an der Vision einer über das moderne Wohnen zusammengeführten nationalen Gemeinschaft ausrichtete, beschäftigten unterschiedliche Expertengruppen zugleich die Grenzen einer solchen Integration über den modernen Komfort. Die den cités de transit zugrunde liegende Vorstellung einer über die Unterbringung in speziell gestalteten Räumen vollzogenen »Adaptation« an das moderne Leben führte Ideen zusammen, die in der Nachkriegszeit in unter schiedlichen Kontexten entwickelt wurden. Genau genommen kamen dabei drei Diskussionsstränge zusammen: 1.) Der erste Strang erwuchs aus dem bereits dargestellten, in enger Kooperation mit Akteuren der humanitären Hilfe entwickelten Projekt einer gemeinschaftlichen Unterbringung der Bewohner urbaner Armutszonen in Siedlungen mit geminderten Wohnstandards. In Verwaltungskreisen galt dieses Projekt als Modellprojekt für die adaptation sogenannter schlecht angepasster (französischer) Familien aus urbanen Problemzonen. 2.) Orientiert an der Vorstellung, dass schlechte sanitäre Bedingungen mit einem mangelhaften Sozialverhalten einhergingen, waren französische Stadtplaner und Sozialreformer seit der Zwischenkriegszeit darum bemüht, die Einstufung der Sanierungsbedürftigkeit von Vierteln mit einer Einstufung der dort wohnenden Haushalte zu kombinieren. Im Auftrag des Ministeriums für Wiederaufbau und Urbanismus (MRU) wurden diese Bemühungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs fortgeführt und weiter systematisiert. Auch in diesen Kreisen wurden Vorschläge zu einer rééducation sogenannter »asozialer« Haushalte mit Hilfe ihrer Umsetzung in separate Unterkünfte entwickelt. Schließlich diskutierten 3.) koloniale Experten und Stadtplaner mit Blick auf die bidonvilles 168 CAC, 19790094/9, Zusammenfassung der Ergebnisse und interner Kommentar zu dem Bericht »Les travailleurs étrangers en France« durch das Atelier d’aménagement urbain et régional, Pierre Calame, Dezember 1969. 169 Siehe dazu die Ausführungen in Abschnitt 4.3 dieser Arbeit.
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nordafrikanischer Städte die Frage, ob für die Anpassung der kolonialen Subjekte an einen modernen Lebensstil deren separate oder deren gemischte Unterbringung mit »Europäern« angebrachter schien. Diesen unterschiedlichen Projekten war die Vorstellung gemeint, dass der Inklusion über das moderne Wohnen Grenzen gesetzt waren, die nicht ökonomischen oder gesellschaftlichen Problemen, sondern der Kultur und dem Verhalten der oder des Einzelnen geschuldet waren. Diese Grenzen wurden ebenso innerhalb der französischen Gesellschaft (zwischen »normalen« und »asozialen«) wie sie in kolonialen Kontexten zwischen »Indigenen« und »Europäern« sowie zwischen »entwickelten« und »nicht-entwickelten« Muslimen gezogen wurden. Insofern lohnen die verschiedenen Kontexte, in denen eine sozialräumliche Erziehung zur Moderne erprobt wurden, einen vergleichenden Blick. Dann werden nicht nur die Überlagerungen zwischen der versuchten »Adaptation« französischer und nicht-französischer Gruppen deutlich, sondern es wird auch deutlich, dass es zwei konkurrierende Modelle der Integration und Normalisierung gab, die für die Auseinandersetzung mit urbaner Ungleichheit nach 1950 prägend waren: die (hygienische) Vorstellung, dass über die räumliche Separierung und schrittweise Gewöhnung an eine moderne Wohnumgebung eine schrittweise Integration auch jener erreicht werden konnte, die im gesellschaftlichen Unten oder Außen angesiedelt wurden. Und die (soziologische) Vorstellung, dass die Mischung und das alltägliche soziale Miteinander mit Menschen, deren Lebensweise als »normal« galt, normalisierend wirkten. Um die Sanierung und teilweise Räumung urbaner Slums vorzubereiten, formulierte der Stadtplaner und Architekt Robert Auzelle (1913–1983) im Auftrag des MRU 1949 eine Handreichung für lokale Verwaltungen.170 Auzelle hatte in dem neu gegründeten Ministerium den Posten des »Urbaniste en Chef« inne.171 Ende der 1940er Jahre richtete er dort eine Arbeitsgruppe ein, die frühere Untersuchungen sanierungsbedürftiger Viertel sichtete und auf dieser Basis Vorschläge für eine verbesserte Erfassung der dort herrschenden Wohnbedingungen formulierte.172 Die von dieser Arbeitsgruppe erarbeiteten Fragebögen sollten den lokalen Verwaltungen helfen, umfangreiche Sanierungs- und Abrissmaßnahmen vorzubereiten und erfolgreich durchzuführen.173 Die Gruppe griff dabei auf Vorschläge zurück, die im Umfeld der Zeitschrift »Economie et humanisme« und damit von einem Kreis katholisch-humanistischer Reformer zur Modernisierung innerstädtischer Slums erarbeitet worden waren.174 An früheren Versuchen der systematischen Erfassung »gesundheitsschädlicher« Viertel 170 Auzelle. 171 Auzelle leitete ein dem Ministerium zugeordnetes Forschungszentrum, das Centre d’étude de la Direction de l’Aménagement du Territoire. Er stand selbst der Bewegung »Economie et Humanisme« nahe, die, orientiert an der katholischen Soziallehre, eine humanere politische Ökonomie forderte. 172 Siehe dazu auch Tricart, S. 605. 173 Ebd., S. 605. 174 Cupers, S. 74.
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Abb. 1: Beispiel eines ausgewerteten Fragebogens, entwickelt im Rahmen einer Evaluation von Haushalten in einem als »sanierungsbedürftig« eingestuften Viertel in Troyes, einer im Nordosten von Frankreich gelegenen Kleinstadt. Der Fragebogen kombiniert eine Einstufung der Soziabilität der befragten Familien (»sociabilité«) mit einer Bewertung des Hygienegrads ihrer Wohnung (»salubrité«). Dabei ist es charakteristisch für die teilweise Gleichsetzung von äußeren sanitären Bedingungen und sozialem Status im Hygienediskurs der Zeit, dass die Soziabilität der Familien unter anderem anhand ihres Mobiliars überprüft wurde. Das Beispiel soll den Typus der »asozialen Familie« mit »ungesunder Wohnung ohne WC« veranschaulichen, die bei ihrer Umsetzung aus Sicht der Experten »spezielle Maßnahmen« – wie die Überweisung in eine Übergangssiedlung – benötigte.175
kritisierte Auzelle, dass sie sich allein auf den Zustand der Gebäude bezogen, deren Bewohnerschaft aber außer Acht ließen.176 Dagegen hinge der nachhaltige Erfolg urbaner Sanierungsprojekte von der erfolgreichen Umsetzung der dort wohnenden Familien ab; einer Umsetzung, die wiederum dem sozialen 175
175 Graphik aus ebd., S. 36. 176 Auzelle, S. 14.
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Niveau der Familien angemessen sein müsse. Auzelle schlug daher eine Erfassung sanierungsbedürftiger Quartiere vor, die die »Soziabilität« (sociabilité) der dort ansässigen Haushalte ebenso einbezog wie den »sanitären« Zustand ihrer Wohnungen (salubrité). Auzelle empfahl, bei der Einstufung der Wohnungen die Einschätzung des Sozialverhaltens der Familien mit der ihres sanitären Verhaltens zu kombinieren und nach einem Punktesystem zu bewerten. Zu den Punkten, die helfen sollten, die »Soziabilität« der Haushalte zu bestimmen, gehörte ebenso die Frage nach dem Beruf des Haushaltsvorstands und der Größe der Familien wie die nach dem Grad der Sauberkeit von Fußboden, Geschirr und Fenstern. Weitere Frage betrafen die Qualität der Möbel und die Art zu wohnen: Wie wird die Wäsche getrocknet? Wie Abfall beseitigt? Gibt es eigene Ausbesserungsarbeiten oder Wohnungsschmuck? Die Interviewer sollten jeden Haushalt einzeln befragen. Die nach Durchgang des Fragebogens erreichte Gesamtpunktzahl bildete den »valeur de sociabilité«, und dieser »Soziabilitäts-Wert« wiederum bestimmte die Art der Umsetzung. Ein solches Punkteverfahren erinnert nicht von ungefähr an psychologisch angehauchte Erfahre-was-für-ein-Typ-Du-bist-Tests in populären Zeitschriften: Auzelle schlug jedenfalls vor, bei der Durchführung der Befragungen mit Psychologen zusammen zu arbeiten, die Erfahrungen mit Persönlichkeitstests hatten.177 Ähnlich wie bei der im vorangehenden Unterkapitel diskutierten Studie Jean Cournuts macht das deutlich, wie eng die Karriere des Begriffs der »Asozialität« im französischen Fall mit dem Aufstieg sozialmedizinischer und psychologischer Verfahren verknüpft war.178 Auzelle unterschied zwischen drei Klassen von Familien (»normal«, »erziehbar« und »anormal«) sowie vier Klassen von Wohnungen (angemessen, verbesserbar, gesundheitsschädlich, sehr gesundheitsschädlich). Damit verknüpft, schlug er verschiedene Wohnlösungen vor: Familien, die bewiesen hatten, dass sie normal zu wohnen vermochten, konnten demnach unmittelbar in eine bleibende Unterkunft ziehen. Familien, die »erzogen werden mussten, bevor sie sich mit der gesamten Bevölkerung vermischten«, sollten in Übergangsunterkünften untergebracht werden.179 Diese Unterkünfte, in denen die Familien für zwei bis fünf Jahre wohnen konnten, sollten zu deren sozialer rééducation beitragen. Mit Blick auf die »asozialen Familien« wiederum hieß es, sie erforderten »spezifische Maßnahmen«, die allerdings nicht weiter ausgeführt wurden. Auzelles Hand reichungen wurden in der Nachkriegszeit in verschiedenen französischen Kommunen zur Vorbereitung von Sanierungsmaßnahmen und der Einstufung der dort wohnhaften Bevölkerung eingesetzt.180 Auch wurden im Laufe der 1950er Jahre im weiteren Umfeld des MRU verschiedene Vorstöße zum Bau von Siedlungen unternommen, die der temporären Unterbringung umgesiedelter Familien 177 Ebd. 178 Siehe zum »Asozialitäts«-Begriff im deutschen Fall die Ausführungen in Abschnitt 2.4. 179 Ebd., S. 42–44. 180 Nasiali erklärt, dass das MRU ein standardisiertes Formular zur Beurteilung von Slums und deren Bevölkerung verteilt habe. Nasiali, Order, S. 1025.
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dienen sollten. In eine einheitliche Politik überführt wurden diese Vorstöße aber erst im Zusammenhang mit der Auflösung der bidonvilles in den 1960er Jahren. Auch in kolonialen Zusammenhängen diskutierten die französischen Autoritäten intensiv über den Umgang mit den randstädtischen Barackenlagern sowie allgemein über die räumliche Separierung von »Indigenen« und »Europäern« im urbanen Raum. Dabei setzte in den 1950er Jahren mit dem Ausbruch des Algerienkriegs eine Wende in der kolonialen Wohnungs- und Stadtplanungspolitik ein.181 Mit dem ambitionierten Neubau von Wohnungen insbesondere in algerischen Städten hoffte die Kolonialverwaltung, das revolutionäre Potenzial der »indigenen Bevölkerung« zu mindern. Zugleich begannen Stadtplaner und Kolonialbeamte, über die Vor- und Nachteile der bisherigen Praxis einer gezielten räumlichen Trennung von »Indigenen« und »Europäern« in den kolonialen Städten zu diskutieren. In spätkolonialen Städten wie Casablanca oder Algiers entwickelten sich die bidonvilles am Stadtrand in den 1950er Jahren zu Schlüsselräumen kolonialer Interventionen. Sie wurden zum Gegenstand zahlreicher von der Kolonialverwaltung in Auftrag gegebener soziologischer Studien und wohnungspolitischer Maßnahmen.182 Allerdings herrschte in den Reihen der damit befassten Experten nicht durchgehend Einigkeit darüber, auf welche Weise die politische und soziale Einhegung der meist aus ländlichen Räumen zugewanderten »indigenen« Bevölkerung dort erfolgen sollte. Zwar schuf die Kolonialverwaltung in Algerien für die separate Unterbringung eines Teils der Bidonvilles-Bewohner sogenannte cités de recasement – einfach erbaute, schlecht ausgestattete Siedlungen – doch war diese Maßnahme nicht unumstritten.183 Schon, als in Algier 1952 der »Congrès national d’habitation et d’urbanisme« stattfand, ein Kongress, der die in der französischen Stadtplanung seinerzeit einflussreichsten Akteure zusammenführte, votierten manche Anwesende zwar weiterhin für eine gestufte Segregation und separate Unterbringung »wenig entwickelter« (peu évolués) Bidonvilles-Bewohner in besonders einfach ausgestatteten, niedrigstockigen Unterkünften. Nur jene muslimischen Algerierinnen und Algerier, die eine gewisse »Entwicklungsstufe« erreicht hatten, sollten Zugang zu regulären HLM erhalten, die auch von Europäern bewohnt wurden.184 Andere Anwesende sprachen sich aber für eine Politik der gemischten Unterbringung von Europäern und Nicht-Europäern in modernen Wohnhäusern aus. Der »positive Schock« der modernen Umgebung sollte es den Nicht-Europäern erleichtern, ihre etablierten Gewohnheiten zu ändern.185 Allerdings waren es schließlich die Befürworter der ersten Lösung, die sich durchsetzten. Es blieb bei der separaten Unterbringung in besonders einfach ausgestatteten Siedlungen.186 181 Siehe dazu vor allem Çelik, Kap. 4. 182 Jim House spricht von »key sites of intervention«. House. 183 Blanc-Chaléard, En finir, S. 139ff; Cohen. 184 Siehe dazu auch Fourcaut, Alger-Paris. 185 Blanc-Chaléard, En finir, S. 140; Cohen, S. 136. 186 Cohen, S. 137 f.
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In dem System der Übergangssiedlungen, das die französische Regierung schließlich im metropolen Frankreich etablierte, griffen letztlich koloniale Projekte, hygienische Vorstellungen und sozialreformerische Bemühungen ineinander. Die Bewohnerinnen und Bewohner der peripheren Barackenlager sollten zunächst separiert und durch ihre Unterbringung in den cités de transit adaptiert, zivilisiert und zum modernen Wohnen erzogen werden. Diese Praxis beschränkte sich allerdings nicht auf die ehemaligen bidonvilles-Bewohner. Sie wurde wiederholt auf innerstädtische Arbeiterquartiere wie die courées in Roubaix oder Lille übertragen, die kahlschlagsaniert wurden und deren Bewohnerschaft daher umgesetzt werden musste.187 Allgemein gesprochen waren die Übergangssiedlungen also Teil einer Politik der urbanen Modernisierung, die in dieser Zeit noch stark in einer hygienischtechnischen Tradition stand.188 Schließlich gingen die damit befassten Stadtplanerinnen und -planer durchgehend davon aus, dass eine schlechte (nicht modernisierte, gesundheitsschädliche) Wohnumgebung und eine unzureichende Entwicklung der Bewohnerschaft einander bedingten. Und sie erwarteten, dass die räumliche Separierung problematischer Gruppen dazu beitrug, dass sie sich schrittweise an die Moderne gewöhnten und normalisierten. Sie suchten, über eine Modifikation der materiellen urbanen Umgebung soziale Veränderungen zu erreichen. c) Ces gens-là – Diese Leute da. Zu den Effekten der Separierung »Der Reisende steigt auf der Höhe der Kirche aus dem Bus aus und geht zu Fuß eine viel befahrene Straße, gesäumt von Einfamilienhäusern und Gärten, entlang. Er muss zehn Minuten lang einem schlammigen Trampelpfad folgen, bevor er in der Kurve die Ampel an der Kreuzung erreicht, die an der Zugangsstraße zu der Siedlung steht. Von diesem Punkt aus ist keine Behausung zu sehen; eine graue, undefinierbare Ebene erstreckt sich bis zu einem Horizont, der von Fabrikschornsteinen und Gas-Tanks versperrt wird. Auf der linken Seite stehen einige sechsseitige graue Strukturen mit spitzen Dächern mit der Rückseite zur Straße. Das ist die Siedlung.«189
187 Vgl. die Einteilung, die eine Arbeitsgruppe des Bau- und Wohnungsministeriums 1966 vornahm und bei der zwischen »normalen Familien«, deren Integration als vollzogen und deren Zugang zu einer HLM angeraten schien, Familien, die von einer kurzfristigen Integration profitieren sollten und deren Überweisung in eine cité de transit daher ratsam sowie Familien unterschieden wurde, deren Integration nur auf lange Dauer möglich schien. Tricart. 188 Zur Übertragung der im Umgang mit den bidonvilles erprobten administrativen Mechanismen auf die Sanierungspolitik in Roubaix und Lille siehe CRESGE (F. Galloo, P. Jacob, J. P. Tricart, A.de Villanova), La résorption. Zur Geschichte der sozialhygienischen Wohnungs- und Reformpolitik vgl. Hall, Cities, S. 32 ff., 240 ff.; Lenger, S. 131 ff. 189 (Übers. C. R.) »Die Siedlung«, »la cité« im Original, in der englischen Ausgabe mit »the project« übersetzt. Pétonnet, Those people, S. 4.
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Auf diese Weise beschrieb die französische Anthropologin Colette Pétonnet 1968 den Weg zu einer Übergangssiedlung, deren Bewohnerinnen und Bewohner den Gegenstand ihrer Studie mit dem Titel »Ces gens-là« (»Diese Leute da«) bildeten. Sie befasste sich darin, basierend auf einer längeren ethnographischen Feldforschung, mit der Subkultur der Bevölkerung einer cité de transit südwestlich von Paris. Wie schon bei der ausführlichen Beschreibung des Wegs, der in die Siedlung führte, ging bei ihr die Beschreibung einer spezifisch räumlichen in die Beschreibung einer sozialen Situation über. Das Soziale situierte die Anthropologin in einer spezifischen Landschaft. Das entsprach der eigenen, eng an einen spezifischen Ort gebundenen Forschungsarbeit. Pétonnets Beschreibung von grauer Siedlung neben grauer Ebene zeitigte allerdings noch andere Effekte. Sie transportierte eine Stimmung oder noch wahrscheinlicher: eine politische Kritik. Indem Pétonnet die Lesenden als Reisende ansprach und zur imaginierten Anreise aufforderte, legte sie ihnen einen empathischen Blick nahe und bediente zugleich einen für die Anthropologie typischen Gestus: Erst über die Reise in die unerkundete Fremde brachte sich der oder die Forschende in die Position, andere Kulturen verstehen und erforschen zu können. Über bidonvilles und cités de transit sprachen wissenschaftliche Akteure ebenso wie Journalisten zu dieser Zeit häufig im Modus der »Reise« oder »Expe dition«. Das hatte Authentizitätseffekte, weil die Betreffenden damit schlicht unterstrichen, selbst »dort« gewesen zu sein und daher über Deutungsrechte zu verfügen. Sie hoben die Räume aus der übrigen nationalen Landschaft – aus Pétonnets grauer Ebene – heraus und machten sie zu sichtbaren, teilweise sogar auf Karten verzeichneten Räumen. Sie setzten sie, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, auf die politische Landkarte und ließen sie auf diese Weise zu einem Problem der eigenen Gesellschaft werden, das Handlungsbedarf erforderte. Zugleich trugen die Topoi der Expedition oder Reise aber auch zur Exotisierung oder Perhorreszierung der betreffenden Räume bei, die, ob intendiert oder nicht intendiert, zu Ausnahmeräumen stilisiert wurden, die fremd genug waren, um eine Reise wert zu sein. Colette Pétonnet selbst hatte, bevor sie sich den cités de transit bei Paris zuwandte, in Casablanca in einem bidonville gearbeitet und dort Kinder an einer Schule unterrichtet, deren Position zwischen ländlichem und urbanem Marokko, Landwirtschaft und Industrie sie später als die eines »urbanen Neoproletariats« beschrieb.190 Ihr Weg vom Stadtrand Casablancas in die Periphere von Paris war charakteristisch für eine Bewegung, die im Frankreich der 1960er Jahre zahlreiche Verwaltungsbeamte, Stadtplaner und Sozialwissenschaftler aus den Kolonien in die Metropole zurückführte. Nachdem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert koloniale Räume Stadtplanern und Sozialwissenschaftlern als bevorzugte Experimentierfelder für das Projekt einer Modernisierung von Stadt und Gesellschaft gedient hatten, wandte sich deren Blick im Zuge der voranschreitenden Dekolonisation in den 1950er und 1960er Jahren wieder mehr der 190 Dies., Autobiographie, S. 7 f.
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Metropole zu. Dabei übertrugen sie wiederholt ihre an kolonialen Kontexten geschulten Kategorien und Praktiken auf die Arbeit in Frankreich. Die jüngere historische Forschung zu den bidonvilles hat den Blick auf die Bedeutung kolonialer Ordnungsvorstellungen sowie den Sonderstatus algerischer Familien gelenkt, um deren Separierung einerseits, Integration und Zivi lisierung andererseits sich die französischen Autoritäten bemühten.191 Sie hat gezeigt, dass algerische Migrantinnen und Migranten wohnpolitisch tendenziell anders behandelt wurden als Migrierende aus anderen Herkunftsländern. Ebenso wurde deutlich, dass die konkrete Praxis der Auflösung der bidonvilles vor allem die betroffenen Algerier häufig langfristig segregierte.192 Das hing unter anderem damit zusammen, dass für die Organisation und Verwaltung der cités de transit in erster Linie ehemals kolonialpolitische Organe und Akteure zuständig waren. Finanziert wurden viele der Übergangssiedlungen vom Fonds d’Action sociale (FAS), der von der französischen Regierung im Zuge des Algerienkriegs mit dem Ziel einer besseren Kontrolle algerischer Mi granten eingerichtet worden war.193 Verwaltet wurden sie meist von den Präfekturen oder von der SONACOTRA, jener Wohnungsgesellschaft, die 1956 mit dem gleichen Ziel wie der FAS etabliert worden war. Die Leitung der einzelnen Übergangssiedlungen lag in den 1960er Jahren daher mehrheitlich bei einem Personal, das über Erfahrungen in kolonialen Kontexten verfügte. Die von der SONACOTRA betriebenen Siedlungen und Herbergen für alleinstehende Arbeiter wurden Anfang der 1970er Jahre zu 95 % von ehemaligen Mitgliedern der französischen Armee geleitet, die in Indochina, West- oder Nordafrika gekämpft hatten.194 Algerierinnen und Algerier wurden in diesen Herbergen und Übergangssiedlungen nicht selten separat, in ethnisch homogenen Gruppen untergebracht. Und obwohl sie lediglich ihrer vorübergehenden Unterbringung dienen sollten, beherbergten viele cités de transit ihre Bewohner deutlich länger als zwei bis drei Jahre. Noch 1977 wurde deren Bewohnerschaft auf 120.000 geschätzt. Dabei verfügten die Siedlungen zu diesem Zeitpunkt selbst über einen überaus schlechten Ruf. Ähnlich wie zuvor die bidonvilles galten sie als stigmatisierte Problemzonen.195 Anders als bei ihrer Planung anvisiert, wurden die dort Untergebrachten eher bleibend separiert als schrittweise in die französische Gesellschaft integriert. Dass allerdings, wie etwa Minayo Nasiali anhand der Marseiller Wohnver waltung herausgearbeitet hat, algerische Migranten sogenannte »asoziale« französische Familien in den frühen 1960er Jahren als zentrale Problemkategorie 191 Vgl. dazu u. a. Nasiali, Order; Barros; Lyons, Des Bidonvilles; Cohen u. David; Blanc- Chaléard, En finir. 192 Siehe dazu auch Cohen. 193 Blanc-Chaléard, En finir, S. 132 f., 147. 194 Lyons, Social Welfare, S. 86 f. 195 Das wurde auch in der französischen Soziologie zunehmend kritisiert. Vgl. dazu Unterkap. 2.5.
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ersetzt hatten, ist nicht durchgehend überzeugend.196 Schließlich bezogen die stadtpolitischen Programme zur Auflösung der bidonvilles und zum Umgang mit sogenannten schlecht Untergebrachten sich durchaus auch auf einkommens schwache französische Großfamilien, die als »asozial« oder »inadaptiert« eingestuft und in Übergangssiedlungen überwiesen wurden.197 Das wird an der Umsiedlung der Familien aus Noisy-le-Grand deutlich. Schließlich zielte auch sie auf deren Erziehung und Adaptation mit Hilfe unterschiedlicher Wohnlösungen. Und auch sie basierte auf einer Einteilung dieser Familien entsprechend ihrer Ressourcen, ihres Verhaltens, ihrer psychischen Disposition und Integrationsfähigkeit.198 Tatsächlich gab es eben Überlappungen zwischen der segregierend-disziplinierenden Behandlung von muslimisch-algerischen Migranten auf der einen und als rückständig gekennzeichneten französischen Familien auf der anderen Seite. Die sozialdisziplinierenden Bemühungen in der Wohnpolitik und die damit oft verknüpften Stigmatisierungsprozesse waren nicht allein ethnisch exklusiv. Sie betrafen neben Nicht-Franzosen auch Franzosen, denen eine benachteiligte Position auf dem Mietmarkt gemein war. Allerdings hatte die Parallelstruktur der Wohnungsverwaltung für algerische Migrantinnen und Migranten zur Folge, dass deren Separierung deutlich langfristiger und damit folgenreicher war als die anderer Bidonvilles-Bewohner, die schneller Zugang zu normalen Sozialwohnungen erhielten.199 Überhaupt folgte die Entwicklung räumlicher Disparitäten häufig längerfristigen Rhythmen, die sich nicht in das etablierte Periodisierungsschema vom Aufstieg und Ende der Trente Glorieuses fügen. Das gilt nicht nur, weil französische Haushalte schon in den 1960er Jahren einen wachsenden Anteil ihres Einkommens für Wohnkosten aufbringen mussten. Sondern es gilt auch, weil die vom Mangel an billigem Wohnraum besonders betroffenen Gruppen mit Problemen kämpften, die durch die staatliche Wohnpolitik nicht durchgehend gemildert werden konnten bzw. in Teilen perpetuiert wurden. Das Beispiel der aus den bidonvilles in minderwertige periphere Siedlungen umgesetzten Bewohnerinnen und Bewohner ist so charakteristisch für den häufigen Wechsel von einer stigmatisierten Wohnumgebung in eine andere. De facto trugen wohnpolitische Maßnahmen wiederholt zu einer Perpetuierung der Isolation und des Ausschlusses der betroffenen Gruppen bei. 196 »By the early 1960s, and with the intensification of the Algerian war for independence, local technicians’ understanding of the ›asocial‹ category narrowed. Local technicians began to label slum-dwelling families exclusively ›Algerian‹.« Nasiali, Order, S. 1022. 197 Siehe sowohl den ministerialen Bericht »Etude du problème général de l’inadaptation des personnes handicapées« von 1967 als auch die Überlegungen der Arbeitsgruppe »Handicapés Sociaux«: CAC, 199771141/1, Unterakte: VI Plan, Bericht von André Trintignac für die Intergroupe Handicapés-Inadaptés, Groupes des Handicapés Sociaux (Commisariat Général du Plan), Oktober 1970. 198 CAC, 1970097/27, Unterakte: Résorption des bidonvilles, Bericht des Bureau des études économiques et sociologiques de l’habitat, 07.02.1966. 199 Vgl. dazu Cohen.
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2.4 Räume der Disziplinierung, Räume der Aktivierung: Obdachlosensiedlungen in der Bundesrepublik a) Zwischen Ent- und Remoralisierung: Obdachlosigkeit und Wohnpolitik in den 1950er bis 1970er Jahren Der Schrotthändler Heinz Fabian, Oberhaupt einer siebenköpfigen Familie, wohne im Mannheimer Stadtteil Waldhof-Ost am Hinteren Riedweg, »ein wenig abseits von der Welt der schönen Bilder«, schrieb der Journalist Hans-Joachim Noack 1972 in der Wochenzeitung »Die Zeit«.200 Sein Haus sei 46 qm groß, eine Baracke unter annährend zweihundert anderen. Die übrige Mannheimer Bevölkerung meide diesen Ort und betrachte ihn als Schandfleck, schrieb Noack. Allerdings waren die Waldhof-Baracken, anders als die französischen bidonvilles, nicht von den Bewohnern selbst erbaut worden. Es handelte sich vielmehr um eine von der Stadt Mannheim betriebene Notunterkunft, in der vornehmlich Familien wohnten, die zuvor wegen Mietschulden oder infolge von Sanierungsmaßnahmen wohnungslos geworden waren. In der Siedlung am Hinteren Riedweg, in einem Industriegebiet im Nordosten von Mannheim gelegen, lebten Anfang der 1970er Jahre 4.000 Menschen.201 Doch waren es gar nicht die dort herrschenden Wohnbedingungen allein, die Enge oder der Müll zwischen den Baracken, die Noack als ein Problem betrachtete, sondern ihn beschäftigte in erster Linie die soziale Isolation der Bewohnerschaft. Umso mehr, als der Journalist darin keinen Einzelfall sah: Sie repräsentierte für ihn »ziemlich genau« die Geschichte der seinerzeit etwa 800.000 Bewohner städtischer Obdachlosensiedlungen im Bundesgebiet. Noack war zu dieser Zeit nicht der einzige, der sich für Obdachlosigkeit interessierte. Am Übergang zu den 1970er Jahren erschien in der überregionalen Presse und im Fernsehen eine bemerkenswerte Vielzahl von Reportagen, die sich mit Obdachlosensiedlungen in westdeutschen Großstädten befassten.202 Aus200 H.-J. Noack, Begraben in Baracken. Eine Studie zeigt, wie Obdachlose sich abkapseln, in: Zeit, 03.03.1972. 201 Eine von der Stadt Mannheim in Auftrag gegebene gemeindesoziologische Studie ging 1970 von 4.000 Barackenbewohnern aus. Krebs u. a., Obdachlosigkeit. 1973 erklärte die Stadt Mannheim, neuere Zählungen hätten ergeben, dass in der Siedlung (Stand März 1972) 3.200 Personen wohnten, davon seien 50 % noch nicht volljährig. Stadt Mannheim, Obdachlosigkeit, S. 10 f. 202 Als Basis der folgenden Analyse dient eine Stichwortanalyse in der »FAZ«, dem »Spiegel«, der »Zeit« und dem »Hamburger Abendblatt« für den Zeitraum von 1950 bis 1980. Die folgenden Ausführungen zu der Berichterstattung um 1970 beziehen sich auf: E. Zundel, Die Gesellschaft der Obdachlosen, in: Zeit, 02.06.1967; H. Neumann, Abgestempelt. Elendsviertel am Rande Mannheims – Wer kümmert sich um seine Bewohner?, in: Zeit, 08.03.1968; E. Klee, Ne Alkoholfahne wie’n Heiligenschein, in: Zeit, 03.04.1970; SpiegelReport über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik, Part I: Obdachlose,
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nahmslos ging es den Journalistinnen und Journalisten darin nicht um Menschen, die auf der Straße lebten, Nichtsesshafte also, sondern um Familien, die in kommunalen Notunterkünften wohnten. Beinah alle stellten Obdachlosigkeit als ein zentrales, wenn nicht als das zentrale kommunalpolitische Problem ihrer Zeit dar. Die Obdachlosensiedlungen firmierten in der Presse wahlweise als »Elendsviertel«, »soziale Brennpunkte« oder »Ghettos«, ihre Bewohnerinnen und Bewohner als »sozial Schwache«, »Randständige« oder (stets in Anführungszeichen) »Asoziale«. In der Regel standen kinderreiche deutsche Familien wie die siebenköpfige Familie des Schrotthändlers Fabian im Zentrum der Berichte. Und neben der Kölner Siedlung Am Grauen Stein besuchten die Journalisten besonders häufig die Mannheimer Siedlung am Hinteren Riedweg; damals eine der größten Obdachlosensiedlungen der Bundesrepublik. Ganz ähnlich der Berichterstattung zu den bidonvilles stellten auch sie die Wohnverhältnisse in den peripheren Siedlungen dem erreichten Wohlstand der westdeutschen Gesellschaft gegenüber. Doch schien der eigentliche Skandal den Journalisten in etwas anderem zu bestehen: der Politik der Unterbringung in den Obdachlosensiedlungen selbst. Während Anfang der 1960er Jahre in den Medien kaum über Obdachlosigkeit berichtet wurde,203 waren Obdachlosensiedlungen in den frühen 1970er Jahre zu einem Thema geworden, das die liberale wie konservative Presse in gleichem Maße und auf auffallend ähnliche Weise beschäftigte. Und während es Anfang der 1960er Jahre noch üblich gewesen war, die Ursachen für die Probleme Wohnungsloser in deren Fehlverhalten und »sozialer Schwäche« zu suchen, zeichnete sich Ende der 1960er Jahre ein Wandel in diesem Verständnis ab. Obdachlosigkeit wurde verstärkt als Ausdruck einer gesellschaftlich produzierten Ungleichheit dargestellt und mit Prozessen der Stigmatisierung, Marginalisierung und Segregation in Verbindung gebracht. Die Berichterstattung in den Medien spiegelte diesen Wandel allerdings eher wider als dass sie ihn anstieß. Denn die Massenmedien griffen um 1970 Debatten auf, die zuvor von kommunalpolitischen in: Spiegel, 28.09.1970; U. Hofmann, Fünf Menschen in einem Zimmer ohne Wasser anschluss, in: FAZ, 06.02.1970; Fünfhunderttausend Obdachlose im Wohlstandsstaat, in: FAZ, 25.03.1970; V. Sturm, Bedrängnisse derer, die am Rande leben, in: FAZ, 06.12.1970; V. Sturm, »Nach sieben Jahren eine andere Mutter?, in: FAZ, 09.01.1971; V. Sturm, Die Leute aus der Hacketäuerkaserne. Obdachlose zwischen Reformern und Revolutionären, in: FAZ, 18.12.1971; H.-J. Noack, Begraben in Baracken. Eine Studie zeigt, wie Obdachlose sich abkapseln, in: Zeit, 03.03.1972; S. Diehl, Schwere Wege aus dem Getto, in: FAZ, 15.04.1972; Warum soll ich keine Chance haben? Gespräch mit Gustav St. im Obdachlosenlager, in: FAZ, 30.06.1973; P. Michaely, Warum sammelt Frau Schumann Tabletten? Leben müssen in einer Obdachlosensiedlung, in: FAZ, 22.09.1973. Zu der weiteren Auseinandersetzung um 1970 vgl. außerdem: Spoerl; Roth. Siehe zum Folgenden auch Reinecke, Disziplinierte Wohnungsnot; dies., Localising the Social. 203 Siehe allerdings (u. a.): Die Obdachlosen in unserer Stadt, in: FAZ, 14.03.1959; Notschrei aus dem Elendslager, in: SZ, 23.06.1960; Unsere Armen haben das nicht nötig: Elend im Wunderland, in: Spiegel, 20.12.1961.
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Akteuren lanciert und in den späten 1960er Jahren zunehmend im Dialog mit Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern geführt worden waren. Auch entdeckten immer mehr lokale Initiativen die Obdachlosenunterkünfte und begannen dort, mit neuen Formen der Sozialarbeit zu experimentieren. Verlor eine Familie oder Einzelperson ihre Wohnung, etwa nachdem sie zwangsgeräumt wurde, fiel sie in die Zuständigkeit der städtischen Ordnungsund Sozialämter. Während auf der Straße lebende alleinstehende Personen, die dauerhaft ohne Unterkunft waren, als »Nichtsesshafte« bezeichnet wurden, handelte es sich bei diesen wohnungslos gewordenen, exmittierten Gruppen, denen von den Behörden eine Unterkunft zugewiesen wurde, administrativ um »Obdachlose«. Die Kommunen überwiesen die Betroffenen in den 1950er und 1960er Jahren in der Regel in Notunterkünfte, die teilweise aus Baracken oder besonders einfach ausgestatteten »Einfachsthäusern«, teilweise aus metallenen Nissenhütten oder Bunkern bestanden. Die zeithistorische Forschung hat sich mit diesem ausufernden System städtischer Not- und Obdachlosensiedlungen bisher kaum befasst.204 Dabei standen die Siedlungen im Zentrum eines wachsenden Interventionsfeldes, das sich um die »soziale Hebung«, »Integration« und »Aktivierung« Obdachloser gruppierte und das städtische Wohnpolitik, soziale Arbeit und wissenschaftliche Forschung eng miteinander verzahnte. Ungeachtet des Baubooms der Nachkriegszeit nahm die Zahl der Obdachlosen bis in die späten 1960er Jahre hinein in westdeutschen Großstädten nicht ab, sondern zu. Das war vor allem in Großstädten der Fall. Die Stadt Köln etwa registrierte zwischen 1955 und 1961 einen Anstieg von 6.563 auf 16.363 und dann bis 1966 auf 18.713 Personen, die als Obdachlose kommunal betreut wurden.205 Während die Gesamtbevölkerung Kölns in dieser Zeit von 712.561 (1955) auf 860.200 (1966) anwuchs, hatte sich die absolute Zahl der Obdachlosen fast verdreifacht und war anteilig von 0,92 % der städtischen Gesamtbevölkerung auf 2,18 % gestiegen.206 Nordrhein-Westfalen, das als erstes Land die Zahl der in Notunterkünften und ähnlichen Einrichtungen Untergebrachten systematisch erfasste, zählte 1965 48.329 Obdachlosenparteien mit 208.252 Personen, 1966 waren es 209.399.207 Das entsprach etwa 1,2 % der Gesamtbevölkerung des größten Bundeslandes. Nicht alle Kommunen führten solche Statistiken, doch 204 Siehe allerdings Lorke, Armut, S. 167–199. Auch befasst sich Britta Schenk in ihrem Habilitationsprojekt zur Geschichte der Obdachlosigkeit u. a. mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Siehe dazu Schenk, Geschichte. 205 Höhmann, Zuweisungsprozesse, S. 29. Zu den steigenden Zahlen allgemein siehe Haag, S. 16; Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 5. Christiansen, S. 29; Schulz, S. 12. Lediglich Nordrhein-Westfalen erfasste Obdachlose systematisch, viele Kommunen veröffentlichten dazu keine Statistiken. Höhmann gibt in einer anderen Publikation die Zahl für 1966 mit 18.423 an Höhmann, Integration marginaler Gruppen, S. 5. 206 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Köln 41 (1955), S. 15ff; Statistisches Jahrbuch der Stadt Köln 52 (1966), S. 15. 207 Deutscher Städtetag, Hinweise; Brisch, Obdachlosigkeit, S. 7. Duisburg zählte 1966 gut 14.600 Obdachlose, Hamburg knapp 15.600, Düsseldorf knapp 11.700.
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dürfte zutreffen, dass 1970 in der Bundesrepublik insgesamt etwa 800.000 bis 1.000.000 Menschen als Obdachlose betreut wurden.208 Anders als in den direkten Nachkriegsjahren machten nicht mehr Flüchtlinge und Bombenopfer die maßgebliche Bevölkerung der Notunterkünfte aus.209 Die große Mehrheit bildeten stattdessen einkommensschwache Familien, die infolge von Sanierungsmaßnahmen oder aufgrund von Mietschulden ihre früheren Wohnungen hatten räumen müssen.210 Die Zahl solcher Räumungsschuldner wuchs in den späten 1950er und 1960er Jahren auch deswegen, weil die Mieten in Neubauten, auch im Sozialen Wohnungsbau, deutlich über denen in nicht sanierten Altbauten lagen und einkommensschwache Haushalte häufig überforderten. Umso mehr, als die Bundesregierung begann, die zuvor bestehende Mietpreisbindung für immer mehr Gebiete aufzuheben und die Mieten in Altbaugebieten dadurch stiegen.211 Überhaupt stiegen die Mieten in den 1960er Jahren deutlich schneller als die Nominallöhne, und diese Steigerung des Mietniveaus traf einkommensschwache Haushalte stärker als die Mittelschichten. Denn während die Mietausgaben bei Haushalten mit mittlerem Einkommen 14 % des Einkommens ausmachten, waren es bei den untersten Einkommensgruppen 20 %. Dementsprechend wuchs die Zahl an Haushalten, die aufgrund von Mietschulden exmittiert und wohnungslos wurden. Die städtischen Wohnungs- und Sozialverwaltungen reagierten, indem sie auf ein gestaffeltes System von Wohnlösungen setzten, das, ähnlich der in Frankreich etablierten Übergangssiedlungen, dazu beitragen sollte, wohnungslos gewordene Familien zu einem »normalen« Wohn- und Sozialverhalten zu erziehen, bevor sie in reguläre Sozialwohnungen ziehen durften. Diese erzieherischen Bemühungen waren deutlich weniger als im französischen Fall in einen Diskurs der urbanen Modernisierung eingebunden. Sie knüpften in erster Linie an eine in die 1920er Jahre zurückreichende Tradition der disziplinierenden Fürsorge im Umgang mit sogenannten »Asozialen« an. Doch ging die Klassifikation der Wohnbevölkerung entlang ihrer Anpassungsfähigkeit und Soziabilität auch in Westdeutschland mit der Vorstellung einher, dass es Grenzen der Fähigkeit zum urbanen Zusammenleben gab; eine Vorstellung, die die politischen Autoritäten in beiden Länder in ein räumliches Arrangement der konzentrierten Unter bringung sogenannter Problemfamilien übersetzten.
208 Deutscher Städtetag, Hinweise; Christiansen, S. 29; Schulz, S. 12. 209 Haag, S. 12 f. Die Wohnungsämter gestanden Flüchtlingen in den 1950er Jahren oft eine hohe Dringlichkeitsstufe zu, sodass die Betreffenden relativ schnell aus den Behelfsunterkünften in neue Wohnungen ziehen konnten. 210 Der Soziologe Otto Blume hatte bereits Anfang der 1960er Jahre darauf hingewiesen, dass die Zahl an Räumungen wegen Mietrückstands sich in Köln zwischen 1952 und 1959 verdreifacht hatten. Blume, S. 24. 211 Zur Geschichte der staatlichen Wohnungspolitik in dieser Zeit vgl. Kühne-Büning u. a., hier v. a. S. 158–162.
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Es ist die Geschichte dieser Politik der Normalisierung und »sozialen Hebung« Wohnungsloser (und ihrer wachsenden Kritik), die im Folgenden im Mittelpunkt steht. Sie lohnt auch deswegen einen genaueren Blick, weil sie zeigt, wie um 1970 eine dominante Beschreibung sozialer Notlagen (als selbstverschuldet und Problem sozialer Schwäche) einer anderen Platz machte (als Produkt gesellschaftlicher Prozesse) und wie infolge dessen eine Form der Arbeit am Verhalten Wohnungsloser (deren Isolation und Disziplinierung) von einer anderen abgelöst wurde (deren Vergemeinschaftung und Aktivierung). Dieser Wandel im Umgang mit urbaner Wohnungsarmut, der sich am prägnantesten als Übergang von Projekten der Disziplinierung zu Projekten der Aktivierung beschreiben lässt, ging unter anderem von Akteuren aus dem Umfeld der Neuen Linken aus. Zugleich war er eng verknüpft mit den wechselnden Wissensbeständen und -praktiken, auf die die Kommunen bei ihren wohnungspolitischen Entscheidungen zurückgriffen. Um diese Entwicklung nachzeichnen zu können, befasst sich der erste Abschnitt im Folgenden mit den vom Deutschen Städtetag initiierten Diskussionen um Obdachlosigkeit in den späten 1950er Jahren, während sich der zweite Abschnitt dem sogenannten 3-Stufen-System und damit dem Versuch einer sozialräumlichen Disziplinierung Wohnungsloser widmet. Vor allem anhand von Kölner Beispielen und der Mannheimer Waldhof-Siedlung wird gefragt, wie sich das disziplinierende Handlungsprogramm der Kommunen in der konkreten Gestaltung der Notunterkünfte ausdrückte und welche Effekte es im Wohna lltag zeitigte. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der in sozialwissenschaftlichen Auftragsforschungen und Projekten der sozialen Arbeit entwickelten Kritik an diesem 3-Stufen-System und dem Bemühen um eine Aktivierung der in Notunterkünften Untergebrachten. Als im Juni 1958 in der »Hamburger Morgenpost« ein kurzer Artikel mit der Überschrift »Protest gegen Slums in Stellingen« erschien, war dem Bericht ein Foto beigegeben, das ein Barackenlager zeigte. Im Hintergrund waren die Umrisse einer Fabrik zu sehen.212 Wenig später erhielt die Hamburger Baubehörde einen Brief vom Deutschen Städtetag, der zentralen Interessenvertretung der (west-)deutschen Städte.213 Der für den Städtetag tätige Kommunalpolitiker Hermann Brügelmann bat darin die Hamburger, ihm einen Abzug des in der Presse abgedruckten Fotos zu schicken. Man überlege, erklärte er, Slum-Darstellungen aus verschiedenen Großstädten zu sammeln, um für die Zeitschrift des Städtetags einen Beitrag zu verfassen. Darin solle es weniger um die Aufbauleistungen der Städte gehen als um »das, was noch geleistet werden muss«. Die Hamburger 212 Unter dem Foto vermerkte die Zeitung »Kein Nomadenlager in der Mongolei – sondern das Wohnlager in Stellingen«. Landesarchiv Berlin (im Folgenden LAB), B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Notunterkünfte, Slums- und Wohnwagenquartiere, Zeitungsausschnitt mit dem Vermerk »Echo der Presse« und dem Zusatz Hamburger Morgenpost. 213 LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Schreiben Dr. Hermann Brügelmann (DST), an Senator Dr. Nevermann, Baubehörde Hamburg, 09.07.1958.
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Baubehörde schien überzeugt und lieferte dem Städtetag zwar nicht das erbetene Bild, wohl aber eine Reihe anderer.214 Brügelmann war dennoch nicht zufrieden: »Wenn ein Überblick gegeben werden soll, wie es hinter den Fassaden aussieht, müssten die bildlichen Belege dafür schon sehr durchschlagend sein; andernfalls entsteht beim unbefangenen Leser der Eindruck, es stehe ja gar nicht so schlimm. Wir meinen, dass keine Stadt es zu scheuen braucht, das Ungünstigste zu zeigen, was es innerhalb ihrer Mauern gibt […].«215
Schließlich stellten Siedlungen wie die Stellinger Wohnwagensiedlung eine Spätfolge des Kriegs dar, deren Beseitigung nicht allein Aufgabe der Kommunen sei, sondern auch des Bundes. Brügelmann bat die Hamburger daher um anderes Bildmaterial, und tatsächlich schickte ihm die Baubehörde einen zweiten Stoß Bilder. Dazu gesellten sich in den folgenden Monaten weitere Fotos aus anderen Großstädten, nachdem sich der Städtetag im August 1958 in einem Rundschreiben an all seine Mitgliedsstädte gewandt hatte.216 Die Kommunen müssten, hieß es in dem Anschreiben, neben ihren Leistungen stärker die Zwangslage deutlich machen, in der sie sich befänden – auch, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Der Aufruf zeigt ein typisches Muster bundesdeutscher Städtepolitik. Der Städtetag selbst, durchaus aber auch einzelne Kommunen, bemühten sich wiederholt, Problemlagen, mit denen sie lokal zu tun hatten, als gesamtgesellschaftlich relevant oder verursacht darzustellen und auf diese Weise mehr Engagement und finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder einzufordern. Im vorliegenden Fall war die offenkundige Strategie des Städtetags, über die Darstellung schlechter Wohnverhältnisse politische Effekte zu erzielen, wie namentlich eine Beteiligung des Bundes an der Unterstützung Wohnungsloser. Der Verband hatte bereits 1955 einen Entschluss verabschiedet, in dem es hieß, dass das aktuelle »außerordentliche Obdachlosenproblem« eine Folge des Kriegs sei und keineswegs mit der Obdachlosenfürsorge im früheren Sinne identisch. Kriegsfolgelasten fielen per Gesetz in die Zuständigkeit des Bundes, und der Städtetag forderte von Bund und Ländern, dass sie für »das Obdachlosenproblem« die politische Verantwortung übernahmen. Seinen fertigen Beitrag zu »Wohnungsnotständen« publizierte Brügelmann 1959 dementsprechend nicht nur in der Zeitschrift des Städtetags, sondern er verschickte ihn auch an verschiedene Zeitungen sowie an die Abgeordneten des Bundestags und einzelne Minister.217 Wie erfolgreich er mit dieser Lobbyarbeit war, ist schwer festzustellen. In jedem Fall stellte die Bundesregierung Anfang der 1960er Jahre den Kommunen zusätzliche Mittel zur Verfügung, um eine beschleunigte Räumung der noch vor214 LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Antwort der Hamburger Baubehörde, Technische Abteilung, 23.07.1958. 215 LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Brief von Hermann Brügelmann (DST) an die Hamburger Baubehörde, 26.07.1958. 216 LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Rundschreiben, 14.08.1958. 217 Brügelmann.
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handenen Wohnlager und Baracken sowie die Errichtung von Wohnungen für »sozial Schwache« zu fördern.218 Von diesem politischen Kontext abgesehen, ist vor allem das Material interessant, das die einzelnen Städte in Reaktion auf den Aufruf des Städtetags schickten. Von der Darstellung einfacher Holzbaracken und Wohnwagenlager über sogenannte Einfachstwohnungen bis hin zu unsanierten Altbauten illustrieren die eingesandten Bilder, was, aus Sicht westdeutscher Stadtverwaltungen, Ende der 1950er Jahre sichtbar schlechte Wohnverhältnisse ausmachte.219 In Reaktion auf den massiven Wohnungsmangel infolge des Kriegs waren in vielen Städten in der unmittelbaren Nachkriegszeit temporäre Unterkünfte wie Nissenhütten oder Bunker zur Unterbringung genutzt worden. Anfänglich als Opfer des Kriegs und der Bombardierung der deutschen Städte betrachtet, wurden die Bewohnerinnen und Bewohner dieser provisorischen Unterkünfte zunächst in das kollektive Narrativ der »Trümmergesellschaft« integriert. Auch wurden die in vielen Städten mit Hilfe metallener Nissenhütten errichteten Notsiedlungen zunächst primär mit Flüchtlingen und Vertriebenen in Verbindung gebracht, die einen großen Anteil der Bewohner stellten. 1958 tauchten diese Gruppen in den Berichten der Kommunen dann aber kaum noch auf. In erster Linie hing das damit zusammen, dass die städtischen Wohnungsämter diese Gruppen in der Regel als besonders bedürftig einstuften und sie damit schneller als andere Zugang zu neuen Wohnungen erhielten.220 Während sich neue oder modernisierte Wohnungen zum Symbol einer von weiten Teilen der Bevölkerung erfahrenen Hebung des Lebensstandards entwickelten, war das Leben in Notunterkünften um 1960 kaum noch ein Synonym für Flucht und Vertreibung, sondern allgemein für Elend und abweichende Verhältnisse.221 Das galt auch für die sogenannten Schlicht- und Einfachstwohnungen, die viele Kommunen in den ersten Nachkriegsjahren neben regulären Sozialwohnungen hatten errichten lassen. Meist in Form von niedrigstockigen Siedlungen mit kleinen Wohnungen in bewusst einfacher Ausstattung in randstädtischer Lage erbaut, sollten sie der Unterbringung von Haushalten dienen, die durch den Krieg wohnungslos geworden waren. Doch zeigten diese Siedlungen – angesichts ihrer bewusst einfachen Ausstattung wenig verwunderlich – schon bald erste Bauschäden und entwickelten einen schlechten Ruf. 218 Zu den lokalen Diskussionen bei der Umsetzung dieses Barackenräumungsprogramms siehe z. B. StA Bremen, 4,29/2/356, Senator für Bauwesen, Lager- und Barackenräumung; StA Hamburg, 353-4, Amt für Wohnungswesen, 610, Bd. 6. 219 Vgl. die Fotos, Briefe und Berichte in: LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1–3; sowie die Korrespondenz in: LAB, B Rep 142-09, Nr. 4/44–47. Beseitigung von Notunterkünften, Räumung von Bunkern, 1953–1972. 220 Zu dieser administrativen Praxis siehe Nilson. 221 Vgl. u. a. Die Obdachlosen in unserer Stadt, in: FAZ, 14.03.1959; Notschrei aus dem Elendslager, in: SZ, 23.06.1960; Unsere Armen haben das nicht nötig: Elend im Wunderland, in: Spiegel, 20.12.1961; Das Prestige muss gewahrt werden, in: Spiegel, 08.12.1965; Abgestempelt: Elendsviertel am Rande Mannheims, in: Zeit, 08.03.1968.
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Abb. 2, 3, 4: Bilder, die die »überaus ernste Kehrseite« der Wohnungsbaupolitik dokumentieren sollten: (von links oben im Uhrzeigersinn) eine Barackensiedlung in Hamburg, Altstadtbauten in Mainz, eine Obdachlosensiedlung in Hannover (das sogenannte Mühlenberglager auf dem Gelände eines früheren KZ-Außenlagers).222
Insbesondere großstädtische Kommunen, das zeigen die Antworten auf die Anfrage des Städtetags, beschwerten sich Ende der 1950er Jahre darüber, es nicht etwa mit einer sinkenden oder stagnierenden, sondern mit einer wachsenden Zahl an Obdachlosen und Räumungsschuldnern zu tun zu haben. Viele beschrieben die lokale Wohnsituation als krisenhaft. Die Stadt Mainz etwa erklärte in ihrem Schreiben vom September 1958, beim eigenen Wohnungsamt seien derzeit knapp 16.000 wohnungssuchende Parteien gemeldet. Da woh-
222 Die Bilder aus Hannover und Mainz wurden in dem Artikel von Brügelmann abgedruckt, das Bild aus Hamburg nicht. Jeweils aus LAB, B Rep 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1.
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nungssuchende Parteien im Schnitt drei Personen umfassten, entsprach das fast 50.000 Menschen.223 Dabei führten die Stadtverwaltungen gegenüber dem Städtetag 1958 vor allem drei Entwicklungen an, um die vergleichsweise hohe Zahl an Wohnungslosen und Räumungsschuldnern zu erklären: das Anwachsen der städtischen Bevölkerung, das ebenso auf die hohe Geburtenrate wie auf den Zuzug aus ländlichen Regionen und aus Ostdeutschland zurückzuführen war; die Überbelegung und Baufälligkeit vieler Altbauten und provisorischer Siedlungen sowie schließlich die staatliche Wohnungsbaupolitik selbst, die sich zu wenig an den Bedürfnissen einkommensschwacher Haushalte orientierte. Der Begriff der »Obdachlosigkeit« erwies sich in diesem Zusammenhang als durchaus streitbar. Ursprünglich eine ordnungspolizeiliche Kategorie, fiel Obdachlosigkeit traditionell in die Zuständigkeit der Gemeinden und ihrer Ordnungsbehörden. Der Begriff fungierte lange als eine Art Sammelbegriff für Gruppen oder Verhaltensweisen, die auf die eine oder andere Weise als deviant – als »asozial«, »sozial labil«, »arbeitsscheu« – gekennzeichnet und mit disziplinären Maßnahmen geahndet wurden. Von diesem Verständnis distanzierten sich die Kommunen Ende der 1950er Jahre zumindest teilweise, indem sie wiederholt die Normalität und Ordentlichkeit der von Wohnproblemen Betroffenen hervorhoben. Hermann Brügelmann in seinem Artikel für den Städtetag etwa zählte 1959 zunächst ein paar Beispiele für Obdachlosigkeit im »früheren Sinne« auf, etwa die »Familie des Arbeitsscheuen, der seine Miete nicht zahle«, um dann fortzufahren, es sei »hoch an der Zeit, mit dem Missverständnis aufzuräumen, ›obdachlos‹ sei auch heute dasselbe wie ›asozial‹.«224 In ähnlicher Weise unterschied der Niedersächsische Städtetag in einer Denkschrift 1958 zwischen »früherer« und »heutiger« Obdachlosigkeit und unterstrich, dass heutzutage der größte Teil der Obdachlosen ohne eigenes Verschulden in Not geraten sei.225 Das gelte selbst für Mieter, die wegen Zahlungsverzugs eine Räumungsklage erhielten. Um überhaupt nach jahrelangem Warten in geordnete Wohnverhältnisse zu kommen, erklärte der Städtetag, hätten viele dieser Menschen Wohnungen bezogen, deren Mieten sich später als für ihre Einkommensverhältnisse zu hoch herausstellten. Doch seien die Gemeinden mit der Aufgabe überlastet, diese Gruppen unterzubringen.226
223 Das entsprach beinah einem Drittel der Gesamtbevölkerung. LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30– 54, Bd. 1, Schreiben der Stadtverwaltung Mainz, 12.09.1958. 224 Brügelmann, S. 22. Für einen Artikel mit ganz ähnlicher Stoßrichtung, hier vom späteren Direktor der Wohnungsbaugesellschaft »Neue Heimat«, siehe Baumann. 225 LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Denkschrift des Niedersächsischen Städtetags, 10.07.1958. 226 Auch wies die Stadtverwaltung von Hannover darauf hin, dass das eigene Wohnungsamt regelmäßig mit etwa 1.000 unerledigten Räumungsurteilen zu tun habe. Aus Sicht der Verwaltung handelte es sich mehrheitlich um Fälle, bei denen Eigentümer ihren zuvor an Ausgebombte oder Flüchtlinge abgegebenen Wohnraum wieder für sich reklamierten und auf Eigenbedarf klagten. Die weitaus überwiegende Zahl der Räumungsschuldner, erklärte
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Obwohl die Kommunen sich erkennbar darum bemühten, Wohnungslosigkeit zu entmoralisieren, indem sie sie als Problem auch »normaler«, »ordentlicher« Familien beschrieben, verabschiedeten sie sich allerdings keineswegs durchgehend von einer Sprache der »Asozialität«, Schuld und Moral. Die Unterscheidung zwischen »ordentlichen« und »asozialen« Bewohnerinnen und Bewohnern bzw. zwischen unverschuldeter und verschuldeter Obdachlosigkeit blieb eine zentrale Unterscheidung in ihren Stellungnahmen. Nur waren viele Stadtverwaltungen Ende der 1950er Jahre eben bemüht, politischen Handlungsdruck zu erzeugen, indem sie vor allem auf die Nöte der unverschuldet obdachlos gewordenen »Ordentlichen« hinwiesen. Hinzu kam die Sorge vor den de facto steigenden Zahlen. In ihren Antworten auf den Aufruf des Städtetags beschrieben die meisten Kommunen Obdachlosigkeit so als ein wachsendes Problem, das umso skandalöser schien als es auch ordentliche Familien betraf. In vielen Großstädten werde die Zahl der »ordentlichen Familien«, die wohnungslos würden, gewaltig anwachsen, warnte Hermann Brügelmann in einem Brief an einen »FAZ«-Redakteur, dem er einen Sonderabdruck seines Artikels beilegte. Das sei unausweichlich, wenn im Laufe der nächsten Jahre Wohnungsbewirtschaftung und Mieterschutz weiter gelockert würden. b) Grenzen der Eingliederungsfähigkeit: Das 3-Stufen-System zur »sozialen Hebung« wohnungsloser Familien Auf den ersten Blick bemühten sich die westdeutschen Stadtverwaltungen damit in den 1950er Jahren darum, die Gründe für Wohnprobleme im herrschenden Wohnungsmangel und nicht im Verhalten der Betroffenen zu suchen. Allerdings hielten sie in ihrer administrativen Praxis weitgehend daran fest, Wohnungsnöte und abweichendes Verhalten gleichzusetzen. Bei ihrer Klassifikation Wohnungsloser und deren gestufter Überführung in »Normalwohnungen« unterschieden die Beamten jedenfalls weiterhin zwischen »ordentlichen«, »sozial labilen« und »asozialen Familien«. Und während sie bei ihrer Politik des Sozialen Wohnungsbaus eigentlich dem Leitbild einer sozialen Durchmischung folgten und auf Siedlungen für eine »breite Bevölkerung« setzten, zielten die städtischen Verwaltungen bei ihren Notunterkünften dezidiert auf die räumliche Isolation bestimmter Gruppen vom Rest der Bevölkerung. Die Wartelisten für neu erbaute Sozialwohnungen blieben bis weit in die 1960er Jahre hinein lang. Das brachte es mit sich, dass die Wohnungsämter Wohnungssuchende entsprechend ihrer Bedürftigkeit und Eignung hierarchisierten, um entscheiden zu können, wem sie frei werdende Wohnungen zuteilten. Umso interessanter ist die Frage, welche Kriterien sie dafür heranzogen. Margarethe die Stadt, seien damit nicht Obdachlose im alten Sinne und gehörten daher auch nicht »in Obdachlosenquartiere alten Stils«. LAB, B Rep. 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1, Stadtverwaltung Hannover, Denkschrift vom 03.03.1958.
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Bischke, die in Hamburg beim Amt für Wohnungswesen arbeitete, war 1954 mit einer Befragung von Hamburger Nissenhüttenbewohnern beauftragt worden.227 Bischke unterschied in ihrem Bericht zwischen »ordentlichen« und »tüchtigen« Familien auf der einen Seite und »sozial sehr schwachen« auf der anderen Seite. Wie sich die einen von den anderen unterschieden, ließ sie offen.228 Dafür sorgte sie sich um die »große Unterschiedlichkeit im sozialen Niveau« sowie die Stigmatisierung der Hüttenbewohner: »Die ordentlichen Familien empfinden es geradezu als Makel, hier noch wohnen zu müssen. Nicht selten werden sie von den Bewohnern benachbarter Häuser beschimpft und als Menschen zweiten Grades bezeichnet. […] Je ordentlicher die Familien sind, umso dringender ist der Wunsch, aus dem Lager herauszukommen.« Umso sinnvoller erschien es Bischke, den »Ordentlichen« bei der Umquartierung Priorität einzuräumen. Die »asozialen Familien« wiederum empfahl sie in den Nissenhütten zu belassen – aus erzieherischen Gründen: »Es könnte von erzieherischem Wert sein, wenn sich herumspräche, dass eine ordentliche Lebensführung Voraussetzung ist für die Zuweisung einer ordentlichen Wohnung.«229 Aufschlussreich ist dieses Disziplinierungsdenken, weil es in den 1950er und 1960er Jahren handlungsleitend für die Räumungspolitik der westdeutschen Großstädte und deren Zuteilung von Sozialwohnungen war. Dass Familien, die in irregulären Unterkünften wohnten, sich erst an geordnete Verhältnisse gewöhnen und lernen mussten, sich in die Gemeinschaft einzufügen, war eine zentrale Maßgabe nicht nur der Hamburger Wohnungspolitik, sondern auch der anderer westdeutscher Großstädte. Deren Verwaltungen bauten in den 1950er Jahren ein mehrstufiges System aus, das auf die Eingliederung von Familien abzielte, die über keine reguläre Unterkunft verfügten. Solche mehrstufigen Unterbringungsverfahren waren de facto bereits in der Weimarer Republik erprobt worden,230 doch diente als Vorbild in der Bundesrepublik in der Regel ein 3-Stufen-System, das Köln in den 1950er Jahren etabliert hatte.231 Die unterste Stufe dieses Systems bildeten Obdachlosenunterkünfte, die in der Regel isoliert am Stadtrand lagen und sehr einfach ausgestattet waren. Die zweite Stufe bildeten geringfügig besser ausgestattete sogenannte Übergangswohnungen. Auf der dritten Stufe folgten Normalwohnungen im Sozialen Wohnungsbau.
227 StA Hamburg, 353–4, Amt für Wohnungswesen, 610, Bd. 1, Notiz Alfred Schulz-Bischof, 23.12.1953. 228 StA Hamburg, 353–4, Amt für Wohnungswesen, 610, Bd. 1, Zusammenfassender Bericht Dr. Bischke, 12.03.1954. 229 Ebd. Ähnliche Vorschläge machten die Vertreter der städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die empfahlen, Familien, die lange in Notwohnungen gelebt hatten, nicht direkt in Neubauwohnungen einzuweisen, sondern sie »etappenweise an ein geordnetes Wohnen« zu gewöhnen. StA Hamburg, 353–4, Amt für Wohnungswesen, 610, Bd. 1, Bericht Dr. Bischke, 19.12.1953. 230 Schenk, Ambivalenzen. 231 Haag, S. 17; Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 11 f.
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Dieser Dreiteilung entsprach eine Einteilung der obdachlosen Familien entsprechend ihrer Eingliederungsfähigkeit. Ulrich Brisch, der als Leiter des Kölner Sozialamts besonders aktiv und einflussreich für das dort etablierte System warb, unterschied in einer Denkschrift von 1960 zwischen zwei Gruppen: »1. Personen, die nach ihrer sozialen Struktur nur vorübergehend in der Betreuung der Obdachlosenfürsorge stehen, […], die im Übrigen aber der sozialen Hebung würdig sind und die zur Vermeidung des Abgleitens in die Gruppe der Asozialen der öffentlichen Hilfe bedürfen (›Förderungswürdige Obdachlose‹) 2. Asoziale oder stark soziallabile Personen, die sich in die bürgerliche Gesellschaft nicht einzuordnen vermögen und deren soziale Hebung nicht oder nur unter unverhältnismäßig hohen Aufwendungen möglich ist.«232
Er ging davon aus, dass ungefähr zwei Prozent der gesamten Kölner Bevölkerung »asozial« oder »stark sozial labil« waren.233 Durchaus in der Tradition eines Gemeinschaftsdenkens, das klare Grenzen zwischen zur Gemeinschaft Gehörigen und außerhalb der Gemeinschaft Stehenden bzw. für die Gemeinschaft Schädlichen zog, plädierte Brisch für die räumliche Isolation der Soziallabilen auf der einen und die Überweisung der Förderungswürdigen in Übergangshäuser und Normalwohnungen auf der anderen Seite. Die Ziele dieser Praxis fasste er, zu dieser Zeit noch Leiter des Sozialamtes in Köln, später Direktor des dortigen Diözesan-Caritasverbandes, in drei Punkten zusammen: »1. Die Isolierung der asozialen Bevölkerung von der sozial intakten Bürgerschaft; 2. Die soziale Hebung labiler Bevölkerungskreise zur sozialbewußten Bürgerschaft, 3. Die menschenwürdige Unterbringung aller vom Obdachlosenproblem umfassten Personen.« Die städtische Sozialverwaltung orientierte sich an diesen Einteilungen, um zu entscheiden, welche Familien aus den Notunterkünften in Übergangswohnungen überwiesen wurden, welche in den normalen Sozialen Wohnungsbau überwechselten und welche vorerst in den Notunterkünften verblieben. Es entsprach der Logik eines einflussreichen sozialtechnologischen Denkens, dass die Verwaltungsexperten damit in Köln und anderen westdeutschen Großstädten versuchten, über eine Ordnung des Raums geordnete soziale Verhältnisse zu schaffen. Ihr Handlungsprogramm der Normalisierung und Integration übersetzten sie in ein räumliches Arrangement.234 Zugleich lässt sich ihr 232 Brisch, Denkschrift, S. 1. Im Laufe der 1960er Jahre ersetzte Brisch diese Einteilung dann durch eine andere: Er unterschied nun zwischen »sozial unangepassten, nicht oder nur mit besonderem Aufwand eingliederungsfähigen Familien«, solchen, die mit sozialer Hilfe eingliederungsfähig waren und »sozial angepassten Familien.« Brisch, Obdach losigkeit, S. 14. 233 Brisch, Denkschrift, S. 19. 234 Brisch fasste diese Erwartung 1969 zusammen, indem er erklärte, die Übergangshäuser seien »der Drehpunkt des beabsichtigten Erziehungszweckes«: Sie ersparten intakten Familien das Schicksal der Obdachlosenunterkunft, erlaubten es aber, soziallabile Familien einer »genauen Überprüfung und Bewährungszeit zu unterziehen.« Brisch, Moderne Formen, S. 14.
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3-Stufen-System in eine weit zurückreichende Tradition der Disziplinierung durch die Einweisung in Arbeits- und Armenhäuser einordnen.235 Dennoch präsentierten die Mitglieder der kommunalen Sozial- und Arbeitsverwaltungen ihr Vorgehen in den 1950er und 1960er Jahren häufig als eine neue Praxis. Unterschiede zwischen sozial- oder christdemokratisch verwalteten Städten waren dabei nicht erkennbar. Während München das Mehr-Stufen-System unter einer SPD-Regierung etablierte, waren sowohl Köln als auch Hamburg CDU-regiert, als sie die entsprechende Regelung Mitte der 1950er Jahre einführten. Dass sich die großstädtischen Kommunen in ihrer Politik der sozialräumlichen Regulierung glichen, war damit kaum einer spezifischen parteilichen Orientierung zuzuschreiben. Eher hing es damit zusammen, dass sie jeweils auf ein schon länger etabliertes Fürsorgeverständnis zurückgriffen. Das galt auch für den häufig verwandten Begriff der Asozialität. Eng verknüpft mit kriminologischen, psychiatrischen und sozialhygienischen Devianzbeschreibungen, war der Begriff in der Weimarer Republik maßgeblich von Expertinnen und Experten gebraucht worden, die sich mit einer Reform des damaligen Fürsorgewesens befassten. Anknüpfend an deutlich ältere Vorstellungen und Politiken, die Armut und Bettelei mit einem Ausschluss vom Gemeinwesen verknüpften, fungierte der Begriff als eine Art Sammelkategorie für Gruppen, Verhaltens- und Subsistenzweisen, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprachen.236 In den 1930er Jahren knüpfte sich daran dann vermehrt die Forderung nach einer Internierung und Umerziehung der »Gemeinschaftsfremden« in separaten Einrichtungen, die auf diese Weise entweder erzogen oder aus dem Gemeinschaftsleben entfernt werden sollten. »Der Asoziale«, forderte etwa 1937 der Jurist und Sozialpolitiker Hans Muthesius, könne entweder »einer besonderen Beeinflussung (Erziehung) unterworfen werden«, oder er könne, falls das nicht möglich sei, »aus dem Gemeinschaftsleben herausgenommen und unter Anwendung besonderer Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen von allen Gemeinschaften ferngehalten werden, deren natürliches Leben durch ihn gestört würde«.237 Forderungen wie diese wurden nach 1933 in die nationalsozialistische Politik der Rassenhygiene und Vernichtung Gemeinschaftsfremder integriert; sie mündeten in der Zwangssterilisation und Tötung »Asozialer«. Muthesius war dabei in den 1920er Jahren Referent beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge gewesen, später wurde er NSDAP-Mitglied und leitete ab 1940 die Wohlfahrtsabteilung beim Reichsinnenministerium. Nach dem Krieg war er einige Jahre in der Geschäftsstelle des Deutschen Städtetags tätig und saß bis 1963 dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge vor. Er blieb ein häufig konsultierter sozialpolitischer Experte und war ein typischer Vertreter einer Generation von Fürsorgeexperten, deren Einfluss von der Weimarer 235 Siehe dazu u. a. Althammer. 236 Steinhöfel, S. 26–48. 237 Muthesius, S. 169.
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Republik über die NS-Zeit bis in die Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre reichte. Wenn Sozial- und Wohnungsbeamte in den 1950er Jahren für eine Isolierung von als »asozial« klassifizierten Wohnungslosen plädierten, bezogen sie sich nicht notwendigerweise auf rassenbiologische Vorstellungen, knüpften aber an eine Tradition der sozialdisziplinierenden Fürsorge an, die bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichte.238 Auffallend unbestimmt ließen sie dabei, wie genau die »Tüchtigen« eigentlich von den »Labilen« oder die »Ordentlichen« von den »Asozialen« zu unterscheiden waren. Es sind lediglich Nebenbemerkungen, die deutlich machen, dass vor allem drei Bereiche für diese Unterscheidung herangezogen wurden: Arbeit, Familienleben und Hygiene.239 So wertete der Jurist Herbert Hossmann Anfang der 1970er Jahre in Hamburg die Berichte von Fürsorgerinnen aus, die von der Arbeits- und Sozialbehörde herangezogen wurden, um über die Unterbringung obdachlos gewordener Familien zu entscheiden. In erster Linie waren dort die folgenden Eigenschaften aufgeführt: »faul, schmutzig, dreckig, arbeitsscheu, Kriminelle, verlogen, dreist, frech, kümmert sich nicht um die Kinder, verantwortungslos, Trinker, Schläger«. Positiv vermerkt wurden dagegen die Charakteristika »fleißig, sauber, ordentlich, ehrlich, bemüht, anständig, freundlich, sparsam«.240 Zum gängigen Verständnis des Normalen gehörte, dass Männer einer regelmäßigen Arbeit nachgingen und Frauen ihre Wohnungen sauber und ordentlich hielten. Auch gehörte, wie die tadelnden Verweise auf Konkubinat und ungeregeltes Eheleben verdeutlichen, das Zusammenleben als Eheleute dazu. Darüber hinaus galt ein zu großer Kinderreichtum vielen Fürsorgerinnen als ein Problem. Im Zusammenhang mit der Unterbringung in Notunterkünften wurde in den 1950er und 1960er Jahren intensiv diskutiert, wie viele Kinder eine Familie hatte oder haben sollte. Das war auch deswegen so, weil Familien mit drei oder mehr Kindern den Großteil der Bewohnerschaft ausmachten; in der Mannheimer Siedlung Waldhof Ost stellten sie etwa die Hälfte, in anderen Obdachlosensiedlungen einen ähnlich hohen Anteil der Bewohner.241 Größere Familie hatten mehr Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, die sie sich leisten konnten und in der man sie als Mieter akzeptierte. Dass einige Stadtverwaltun-
238 Das war im Übrigen in der DDR zu dieser Zeit ebenfalls der Fall. Schenk, Geschichte. 239 Ein typisches Bild vermitteln einzelne Fallbeschreibungen des Soziologen Otto Blume, der in seiner Studie zu Obdachlosigkeit auch die Akten des Kölner Sozialamtes eingesehen hatte. Mit Blick auf den Fall der »Familie Sch.« hieß es unter anderem: »Er ist notorischer Faulenzer […] Die Wohnung ist in schlechtem Zustand, die Frau ist schlampig. […] Wegen Streitigkeiten mit dem Hauswart wurde die Familie schon einmal in eine andere Unterkunft verlegt. Es liegen Beschwerden gegen sie wegen gemeinschaftsstörenden Verhaltens vor.« Blume, S. 141. 240 Hossmann, S. 192. 241 Siehe für Köln-Poll etwa die Aufstellung bei Höhmann, Integration marginaler Gruppen, S. 132 ff.
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gen in den 1960er Jahren begannen, an die Bewohnerinnen ihrer Obdachlosenunterkünfte die Antibabypille auszuteilen, ist insofern charakteristisch für die Bedeutung der Familiengröße als Ursache ökonomischer Probleme.242 Ebenso kennzeichnend ist es aber für den Einfluss, den sozialhygienische und -biologische Positionen auf die damalige Debatte nahmen. Der in Köln mit der Gesundheitsfürsorge in den städtischen Obdachlosenunterkünften betraute Medizinaldirektor Karl Schneider etwa unterschied 1967 bei einer Tagung des Vereins für öffentliche und private Fürsorge zwischen »sozialer Vollfamilie« und »asozialer Großfamilie«243 und stellte Überlegungen zu den biologischen Ursachen von »Asozialität« an. Schneider zitierte dabei wiederholt aus einer Untersuchung von Hans W. Jürgens, Jahrgang 1931, später Professor für Anthropologie an der Universität Kiel, der sich 1960 mit einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie über »Asozialität als bio logisches und sozialbiologisches Problem« habilitiert hatte. Jürgens hatte für diese Studie Stammbäume (»Sippentafeln«) von Kieler Familien erstellt, die er zum größten Teil in Obdachlosenlagern aufgesucht und die er entlang einer Skala von sozial unauffällig bis asozial eingeordnet hatte.244 Das Wohnen in Notunterkünften betrachtete Jürgens als »besonders häufiges Merkmal asozialer Personen«. Den »typischen asozialen Sippenverband« charakterisierte er über einen »häufigen Wechsel des Sexualpartners, die durch Arbeitsunwilligkeit und mangelnde Stetigkeit verursachte häufige Arbeitslosigkeit, das Scheitern beim Erlernen eines Berufes, die Unwirtschaftlichkeit und regelmäßige Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung, die persönliche Unsauberkeit und die starke Vernachlässigung der Kinder.«245 Das gängige 3-Stufen-System befürwortete Jürgens, weil es eine separate Unterbringung der »Zustandsasozialen« vorsehe, die »resozialisierbaren Verhaltensasozialen« aber bei ihrer Eingliederung befördere.246 Gegenüber einer Verteilung der Bewohner auf unterschiedliche Wohngebiete hegte der Anthropologe dagegen »eugenische Bedenken«. Typisch oder besonders einflussreich war Jürgens mit seinem Festhalten an seiner Sprache der Volksgemeinschaft und Sozialbiologie nicht unbedingt.247 Dass er sich mit sei242 Zu dieser Praxis siehe die Hinweise bei U. Hofmann, Fünf Menschen in einem Zimmer ohne Wasseranschluss, in: FAZ, 06.02.1970; P. Michaely, Warum sammelt Frau Schumann Tabletten?, in: FAZ, 22.09.1973; von Behr, Wir sind doch auch Bürger, in: Spiegel, 28.02.1970. Die Zeitungsberichte zu Obdachlosensiedlungen um 1970 spiegelten das wider: Beinah jedes zur Illustration abgedruckte Foto zeigte Eltern mit mehreren Kindern, beinah jede Reportage befasste sich mit dem Kinderreichtum der Siedlungsbewohner. Siehe dazu auch Lorke, Armut. 243 Schneider, S. 50. Er erklärte u. a., Unehelichkeit verstärke die Disposition zur »sozialen Leistungsschwäche«. 244 Jürgens, S. 16, 134. 245 Ebd., S. 38 f. 246 Ebd., S. 157. 247 Der letzte Abschnitt seiner Studie ist dem Verhältnis von »Volksgemeinschaft« und »Asozialität« gewidmet. Ebd., S. 161 f.
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ner DFG-geförderten Forschung im Bereich des Sag- und Zitierbaren bewegte, verdeutlicht aber, wie akzeptiert der Begriff der »Asozialität« auch in den frühen 1960er Jahren noch war. Der Begriff war eng verknüpft mit der seinerzeit gängigen Praxis einer räumlichen Separierung wohnungslos Gewordener von der übrigen Gesellschaft. Eine disziplinierende Wirkung erhofften sich die Verwaltungen dabei maßgeblich von der besonders spärlichen Ausstattung der Obdachlosensiedlungen und Übergangshäuser. Die Kölner Sozialverwaltung etwa empfahl, dass die Obdach losenunterkünfte als unterste Stufe des 3-Stufen-Systems zwar solide gebaut, aber aufs einfachste ausgestattet sein sollten. Begründet wurde das mit den möglichst niedrigen Kosten, aber auch damit, dass »jede Großzügigkeit in der Ausstattung […] das Beharrungsvermögen der Obdachlosen in den Unterkünften« stärke.248 Auch hoffte die Verwaltung, durch die besonders einfache Ausstattung zu verhindern, dass Familien bewusst in den Notunterkünften verblieben, um Geld zu sparen. Andernfalls wollten einige Familien nicht für den Bezug einer Normalwohnung in Frage kommen, in der die Mieten höher seien, erklärte Sozialamtsleiter Brisch. Die Kölner Verwaltung sah bei ihrem Bau der städtischen Obdachlosenunterkünfte 4 qm pro Person vor, sowie die Ausgestaltung der Zimmerböden mit Hartasphalt. Die einzelnen Wohnungen erhielten einen Wasseranschluss und eine Kochecke pro Unterkunftseinheit sowie eine Toilette für je zwei Unterkünfte. Unter anderem, um sie an ein normales Mietverhalten heranzuführen, erhielten die Bewohnerinnen und Bewohner der Obdachlosenunterkünfte keinen Mietvertrag und zahlten keine Miete, sondern ein sogenanntes Benutzungsentgelt. Das galt zunächst auch für diejenigen, die von dort in eine normale Sozialwohnung umgesetzt wurden. Angemietet wurde diese Sozialwohnung von der amtlichen Obdachlosenfürsorge, die für die Umgesetzten eine Mietgarantie abgab, bevor die nach einer Bewährungszeit von ein bis zwei Jahren einen eigenen Mietvertrag erhielten. Bewährten sie sich nicht, mussten sie wieder ausziehen und in eine Obdachlosenunterkunft zurückkehren.249 Das Handlungsprogramm der Disziplinierung, das die städtischen Sozialverwaltungen mit den Notunterkünften verbanden, trug zur Herstellung spezifischer räumlicher Situationen bei. Denn die finanzielle Notwendigkeit niedriger Baukosten führte, kombiniert mit dem Wunsch, »Problemfamilien« zu isolieren, dazu, dass die großstädtischen Kommunen ihre Siedlungen in städtischer Randlage errichteten.250 Die eingangs erwähnte Mannheimer Waldhofsiedlung am Hinteren Riedweg war dafür ein typisches Beispiel. Sie lag in der Nähe der Bahngleise an der Grenze zu einem Fabrikgelände und damit in einem Gebiet,
248 Brisch, Denkschrift, S. 8. 249 Einem »anderen förderungswürdigen Obdachlosen« werde dann »die Chance der sozialen Einordnung gegeben«. Ebd., S. 15. 250 Siehe zu den Konsequenzen am Beispiel Kölner Siedlungen u. a. Adams; Spoerl.
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das für andere Bauherren eher unattraktiv und daher billig war.251 Die Obdachlosensiedlung, die von einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft verwaltet wurde, bestand aus zwei Teilen: den sogenannten »Benz-Baracken« (einstöckigen einfachen Baracken, die an das Werksgelände von Daimler Benz anschlossen und dort bereits vor dem Krieg gestanden hatten), und dreistöckigen sogenannten Einfachstwohnungen oder »Laubenganghäusern«, die die Stadt Mannheim nach dem Krieg zur Unterbringung Wohnungsloser erbaut hatte. Zwar wurden die eigentlichen Benz-Baracken Anfang der 1970er Jahre schrittweise abgerissen, die dreigeschossigen Einfachstwohnungen blieben aber bestehen und firmieren bis heute als »Benz-Baracken«.252 Die randstädtische Lage in einem Industriegebiet ging in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mit einer schlechten verkehrstechnischen Anbindung einher. Die Mehrheit der Bewohner besaß kein Auto, insofern verstärkte das ihre Distanz zum übrigen städtischen Raum. Zudem erhöhte die betont einfache Ausstattung das Konfliktpotenzial innerhalb der Siedlung, weil die dünnen Wände, gepaart mit einer hohen Belegungsdichte, zu Beschwerden über den Lärmpegel führten und es an Ausweichraum mangelte. Auch war die Feuchtigkeit vieler Wohnungen ein Problem.253 Die Wege zwischen den Baracken waren lange unbefestigt; das verschärfte die räumliche Abgrenzung zur Umgebung. Auch brachte es die betont einfache Bauweise mit sich, dass die Baracken sich sichtbar von ihrer Umgebung abhoben. Das hatte vor allem zwei Effekte: Zum einen nahm die übrige Stadtbevölkerung die Siedlung als separate Einheit wahr und brachte sie mit abweichenden Verhältnissen in Verbindung. Zum anderen unterschieden die Siedlungsbewohnerinnen und -bewohner selbst klar zwischen sich und »den anderen«. Der Boxer Charly Graf, der in den 1970er Jahren zu einem Star der west deutschen Boxszene wurde, wuchs in Waldhof auf. Graf war das uneheliche Kind eines afroamerikanischen GI und einer deutschen Mutter, die in Mannheim in einer Fabrik arbeitete. In seiner Autobiographie beschreibt Graf die EinZimmer-Baracke, die er mit seiner Mutter bewohnte: »Es war alles sehr eng, und so etwas wie Privatsphäre konnte man sich in dieser Baracke überhaupt nicht aufbauen. […] Da mussten sich also siebzig oder achtzig Personen die Toiletten und die Waschbecken teilen – fünf Klos für achtzig Personen, dazu eine einzige Badewanne – für mich war das damals normal […].«254 Von sich selbst spricht Graf wiederholt als Barackler, und er schildert seine Versuche, Außenstehenden die eigene Herkunft zu verbergen. Als er seine erste Freundin kennenlernte, die 251 Zu der Siedlung vgl. v. a. Krebs; Forschungsgruppe Gemeindesoziologie. Zu der Forschungsgruppe zählten: Dagmar Krebs, Josef Krolage, Hartmut Meuter, Siegfried Röck, Ekkehard Rosch. 252 Stadt Mannheim, Obdachlosenhilfe, S. V–VI. 253 Noch mehr war das in anderen Siedlungen wie der Kölner Siedlung »Am Grauen Stein« der Fall, in denen sich die Bewohner darüber beschwerten, dass die Möbel anfingen zu schimmeln. Vgl. etwa, jeweils mit Blick auf Kölner Beispiele, Spoerl, S. 50; Adams, S. 28. 254 Graf, S. 18.
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ein eigenes Auto besaß, ließ er sich von ihr wochenlang im gut situierten Ostheim »vor einem besonders schönen Haus« absetzen, um danach die sieben Kilometer nach Waldhof zu laufen: »Ich hatte regelrecht Angst, als Bewohner der Benz-Baracken erkannt zu werden.« Zugleich betont er den engen Zusammenhalt der dort Wohnenden.255 In Grafs Fall wurde diese Herkunft dauerhaft Teil seines Images als Underdog; er wurde in den Medien immer wieder als »Barackenkind« und »Ali vom Waldhof« beschrieben, der es »von der Gosse zum Star« gebracht hatte.256 Als ähnlich zählebig erwies sich das Image von Waldhof-Ost selbst. Dass der populäre Fernsehsender RTL2 2017 eine dreiteilige »Brennpunkt-Doku« zu der Siedlung zeigte, die den Titel »Hartz und Herzlich – Die Benz-Baracken von Mannheim« trug, ist kennzeichnend für den abermals über Mannheim hinausreichenden Ruf der Siedlung als Problemviertel.257 Dieser beharrlich schlechte Ruf hatte sein Äquivalent in der beständigen Gleichsetzung von Siedlung und Bewohnerschaft, auf die die gängige (Selbst- und Fremd-)Bezeichnung als »Barackler« verweist. Wie auch im Falle anderer stigmatisierter Viertel wurde die soziale Identität der Bewohnerinnen und Bewohner untrennbar mit dem Wohnort verbunden. Allerdings ging diese Verschmelzung im Falle der Notunterkünfte besonders weit; in zeitgenössischen Berichten klagen auffallend viele darüber, auch jenseits der eigenen Siedlung – in Geschäften, Schulen, Betrieben – unmittelbar, per Augenschein als »Barackler« oder jemand »aus der Siedlung« erkannt worden zu sein.258 Dass die Bewohnerinnen und Bewohner mindestens ebenso häufig den ausgeprägten Zusammenhalt innerhalb der Siedlungen hervorhoben, erscheint vor diesem Hintergrund als durchaus schlüssige Technik des Umgangs mit jener »beschädigten Identität«, die Erving Goffman als das Ergebnis sozialer Stigmatisierungsprozesse beschreibt.259 Kennzeichnend für die Bedeutung der engen Nachbarschaft innerhalb der Siedlungen war, dass die Stadtverwaltungen sich wiederholt über Familien beschwerten, die nicht aus den Notunterkünften ausziehen wollten, obwohl ihnen alternative Unterkünfte im Sozialen Wohnungsbau angeboten worden waren. In anderen Fällen kamen Haushalte, die bereits ausgezogen waren, wieder zurück. Die Soziologin Petra Dorsch, die sich in einer Studie mit der Großsiedlung München-Perlach befasste, führte 1974 das Beispiel einer alleinerziehenden Putzfrau an, Frau L., die mit ihren fünf Kindern in einer Barackensiedlung gewohnt hatte, bevor sie in die Großsiedlung am Münchener 255 »Wir waren arm, wurden nicht akzeptiert und stammten aus schwierigen Familienverhältnissen. Und das schweißte uns als Freunde natürlich zusammen […].« Ebd., S. 19 f., 22. 256 Siehe etwa: http://www.stern.de/kultur/buecher/ali-vom-waldhof-6187642.html [20.08.2020]; http://www.stuttgarter-zeitung.de / i nhalt.boxlegende-charlie-graf-wird-65-der-ali-vomwaldhof.81914a96–266f-4821-be87–7889f3bbb596.html [20.08.2020]. 257 https://www.mannheim24.de/mannheim/mannheim-waldhof-erste-folge-hartz-herzlichbenz-baracken-mannheim-auf-rtl-2-8345274.html [20.08.2020]. 258 Siehe v. a. die Schilderungen in Spoerl; Adams. 259 Goffman.
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Stadtrand zog.260 Ursprünglich froh über die neue Wohnung, spiele Frau L. mit dem Gedanken, wieder in das Barackenlager zurückzuziehen, schrieb Dorsch. Der Umzug in die Sozialwohnung habe sie in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, hinzu käme der Verlust der alten Nachbarschaft und die »mangelnde Kommunikationsfähigkeit« der Großsiedlungsbewohner. Dorsch wies darauf hin, dass in der Großsiedlung München-Hasenbergl allein im Juni 1973 rund 100 Familien wegen Mietrückständen die Kündigung und der abermalige Umzug in Barackenlager oder Nissenhütten drohte.261 Einmal miteinander verschmolzen, schien es nicht leicht, Mensch und Baracke wieder voneinander zu lösen. Dass »Gebäude das soziale Leben stabilisieren«, behauptete der Soziologe Thomas F. Gieryn 2002 in seinen architektursoziologischen Überlegungen.262 In der Stadtforschung ist immer wieder gefordert worden, das urbane Soziale als Assoziation zwischen menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Dingen zu verstehen. Zahlreiche Stadtforscherinnen und -forscher plädieren für eine materialistische Lesart der Herstellung urbaner Situationen, und Ansätze aus dem Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie und den Science and Technology Studies werden dort aktuell rege diskutiert.263 Im Rückgriff auf Donna Haraways Cyborg-Konzept sprechen Matthew Gandy und andere gar von einer Cyborg Urbanization, um für eine alternative Konzeptualisierung urbaner Entwicklungen zu plädieren.264 Ihnen geht es um eine Stadtforschung, die von der prozessualen Herstellung simultan existierender urbaner Situationen ausgeht und sie fordern, diese urbanen Situationen als Assoziationen zwischen Materialitäten und Akteuren, körperlichen Erfahrungen und sozialen Praktiken zu untersuchen. Daran orientiert, ließen sich die immer wieder per Augenschein, in ihrer Körperlichkeit als solche identifizierten »Barackler« auch als urbane Cyborgs verstehen, als Menschen, deren materielle Wohnumgebung auf vielfältige Weise ihren Alltag und ihre Subjektivität prägte. Im Falle der Mannheimer Waldhof-Baracken ist dabei die Dauerhaftigkeit ihres Problemstatus umso bemerkenswerter, als sich eine Reihe von Akteuren um 1970 dort engagierte und für einen veränderten Umgang mit den dort Lebenden einsetzte. Ein Ergebnis dieses Engagements war, dass die Stadt Mannheim 1969 eine Forschungsgruppe mit der Untersuchung der Siedlung am Hinteren Riedweg beauftragte. Der Vorschlag ging auf die Anregung eines Arbeitskreises zurück, in dem sich verschiedene lokale Initiativen und Bewohner der Siedlung Ende der 1960er Jahre zusammengeschlossen hatten.265 Mit der Studie beauf260 Dorsch, Warum machen Trabantenstädte krank? 261 Ebd., S. 121. 262 »Buildings stabilize social life. They give structure to social institutions, durability to social networks, persistence to behavior patterns.« Gieryn, S. 35. 263 Siehe etwa die Arbeiten von Nigel Trift sowie überhaupt die Beiträge in Farías u. Bender. 264 Gandy. Siehe hierzu auch Shields. 265 Forschungsgruppe Gemeindesoziologie, Teil II, Anhang: Informationen zum Arbeitskreis Sozialer Brennpunkt; Krebs u. a., Obdachlosigkeit, S. 25. Dem Arbeitskreis gehörte unter
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tragt wurde dann die »Forschungsgruppe Gemeindesoziologie«, die Martin Irle, seinerzeit einflussreicher Professor für Sozialpsychologie, 1969 an der Universität Mannheim gegründet hatte. Neben dem Gutachten für die Stadt Mannheim ging aus der Arbeit dieser Gruppe eine Doktorarbeit hervor, mit der die Soziologin Dagmar Krebs 1971 bei Irle und Rainer Lepsius promoviert wurde.266 Dagmar Krebs, Anfang der 1970er Jahre eine beliebte Interviewpartnerin, erzählte 1972 einem Journalisten, sie habe angesichts der Zustände in der Mannheimer Siedlung anfänglich mehrfach abbrechen, »den Kram hinschmeißen und weglaufen« wollen.267 In ihrer eigentlichen Untersuchung ging Krebs auf solche Bedenken nicht ein.268 Sie beschäftigte sich in ihrer sozialpsychologischen Studie in erster Linie mit den Vorurteilen, die den Obdachlosen am Hinteren Riedweg entgegengebracht wurden, und beschrieb einen Kreislauf der sich gegenseitig verstärkenden Diskriminierung und sozialen Isolation der Siedlungsbewohnerinnen und -bewohner. Bei ihr, wie auch in dem Gutachten, das die Forschungsgruppe um Irle schließlich der Stadt Mannheim vorlegte, dominierten kritische Töne. Die Situation der Obdachlosen war demnach vornehmlich gesellschaftlich bedingt und wurde durch gängige Stigmatisierungen verstärkt.269 Umso mehr kritisierten die Forschenden die bisherige Praxis einer gestuften Unterbringung. Die gewünschten Lernprozesse, stellten die Soziologen in ihrem Bericht für die Stadtverwaltung lakonisch fest, würden dadurch kaum erzielt:270 »Handlungsweisen, die eine Integration in ›normale‹ Lebens- und Wohnbedingungen ermöglichen und / oder fördern […] können in einem Kontext, der nicht den ›normalen‹ Lebens- und Wohnbedingungen entspricht […] nicht erworben oder verstärkt (reinforced) werden.«271 Von einer isolierten Unterbringung riet das Team grundsätzlich ab. Es empfahl stattdessen die Betreuung in einer »normalen Wohnumwelt«. Die Stadt Mannheim übernahm sowohl diese Kritik als auch den Großteil der damit verknüpften Forderungen kommentarlos. Die Stadtverwaltung, die eine anderem der Soziologe Detlev Ipsen an, der seit 1969 wissenschaftlicher Assistent in Mannheim war. 266 Hans Martini, Vorbemerkung, in: Forschungsgruppe Gemeindesoziologie, Teil I, III. Krebs, Anwendung. 267 H.-J. Noack, Begraben in Baracken. Eine Studie zeigt, wie Obdachlose sich abkapseln, in: Zeit, 03.03.1972. 268 Krebs, Anwendung, S. 266. 269 Die Autorinnen und Autoren sahen eine enge Verbindung zwischen einem Mangel an preiswerten Wohnungen und den Wohnproblemen der meist kinderreichen Familien dort. Mietschulden bildeten den häufigsten Grund für die Überweisung in die Siedlung. Forschungsgruppe Gemeindesoziologie, Teil II, S. 10. 270 »Sozialpsychologische Untersuchungen aus neuerer Zeit zeigen ganz allgemein, dass unter bestrafenden Bedingungen (hier Umsetzung in engeren Wohnraum) die gewünschten Lernprozesse (hier Anpassung und regelmäßige Mietzahlung) nur mit geringer Wahrscheinlichkeit ausgelöst werden.« Ebd., S. 16. 271 Krebs, S. 26.
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zügige Umsetzung der Barackenbewohner plante, erklärte 1972, es sei wichtig, dass alle zuständigen Behörden und Institutionen anerkannten, dass es sich »bei Obdachlosen um eine Randgruppe handelt, für die aufgrund ihrer, zum größten Teil von der Gesellschaft bedingten Situation mehr geleistet werden muss«.272 Damit übernahm die Verwaltung beinah wortgleich eine Formulierung aus dem Gutachten der Forschungsgruppe um Martin Irle. Die Behörden sollten in den Obdachlosen keine Abhängigen sehen, die von ihnen Anweisungen und Almosen erhielten, hieß es. Sie sollten sie vielmehr als »gleichberechtigte Verhandlungspartner« betrachten, die »nicht weniger Rechte haben als Personen aus anderen Wohngebieten«. Auch sprach sich die Stadt unter Bürgermeister Hans Martini, CDU, der zu dieser Zeit auch dem Deutschen Städtetag vorstand, dagegen aus, weitere Einfachstwohnungen zur Unterbringung Obdachloser zu erbauen. Die Stadtverwaltung kündigte stattdessen den Bau von mehr Normalwohnungen und die Ausweitung der sozialpädagogischen Betreuung der noch in Waldhof Untergebrachten an. c) »Lernziel Solidarität«: Die Obdachlosensiedlungen am Schnittpunkt von Forschung und Aktivismus Als sich der Sozialwissenschaftler Fritz Haag im September 1966 gemeinsam mit seiner Ehefrau in eine Hamburger Obdachlosensiedlung begab, um mit ihr dort zwei Monate lang als wohnungsloses Ehepaar unterzukommen, war sein erklärtes Ziel die »verdeckt teilnehmende Beobachtung« der dort lebenden Familien.273 Seine Beobachtungen in dem etwa 1.200 Personen umfassenden Lager benutzte Haag, um Fragebögen für Interviews vorzubereiten, die er später gemeinsam mit Studierenden durchführte. Überhaupt flossen in seine Forschung drei Arbeitskontexte ein: erstens die Seminararbeit mit Studierenden der Sozialpädagogik, die in den Hamburger Wohnunterkünften im Sommer 1968 forschungspraktische Erfahrungen sammeln sollten, zweitens die Tätigkeit für eine Kreisstadt bei Hamburg, die ihn mit einem Gutachten zu kommunalen Notunterkünften beauftragt hatte. Drittens diente Haag der Aufenthalt in den Notunterkünften als Ausgangspunkt für seine Dissertation, die er 1971 abschloss. Sein Vorgehen war charakteristisch für die Art und Weise, wie Obdach losigkeit in der Bundesrepublik als ein neues gesellschaftliches Problem konstruiert wurde. Denn dass sich Obdachlosigkeit sowie überhaupt die Lage von Randgruppen um 1970 zu einem Forschungs- und Handlungsfeld entwickelte, 272 Stadt Mannheim, Obdachlosenhilfe, S. 7. Zu den Abrissplänen siehe auch: Stadt Mannheim, Wohngebiet. 273 Haag spricht von der Rolle des »verdeckt teilnehmenden Beobachters«. Haag, S. 89. Problemfrei gestaltete sich die Kontaktaufnahme nicht. Haag jedenfalls erklärte, dass die weitgehende Isolation der Familien dazu führte, dass sie nur sporadisch miteinander in Kontakt traten.
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dem sich Forschende ebenso zuwandten wie neue Bürgerinitiativen, Wohlfahrtsverbände und politische Kreise, hing damit zusammen, dass hier zwei Entwicklungen zusammen kamen: Zum einen versuchten kommunalpolitische Akteure, über die Finanzierung wissenschaftlicher Studien die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein wachsendes soziales Problem zu lenken.274 Zum anderen entdeckte eine jüngere Generation von Soziologen und Erziehungswissenschaftlern die Arbeit über und mit Randgruppen als ein neues Forschungs- und Handlungsfeld. Die einzige soziologische Studie, die in den frühen 1960er Jahren zum Thema der Obdachlosigkeit entstanden war, hatte sich noch auf die Erhebung von Daten zur sozialen und demographischen Struktur der Obdachlosen beschränkt.275 Die Ende der 1960er Jahre einsetzende Obdachlosenforschung schlug andere Wege ein: Die mit den Studien betrauten, in der Regel jüngeren Forscherinnen und Forscher verknüpften ihre Analyse mit theoretischen Konzepten und brachten die Situation der Obdachlosen mit Formen der sozialen Kontrolle oder Stigmatisierung in Verbindung. Zudem forderten sie, in den Notunterkünften neue Methoden der sozialen Arbeit aufzugreifen, die auf die Mitsprache und Teilhabe der Bewohnerschaft zielten. »Selbstaktivierung« wurde zu einem zentralen Stichwort. Meist orientierten sich die Forschenden dabei an Praktiken der Gemeinwesensarbeit und Aktionsforschung, die im angloamerikanischen Raum verbreitet waren. Haag etwa schloss seine Studie damit, dass er eine sozialtherapeutische Intervention empfahl, die community work und action research kombinierte. Alle beteiligten Gruppen, an erster Stelle die Wohnungslosen, sollten systematisch die Möglichkeit erhalten, ihre Probleme zu artikulieren und sie im Zusammenspiel mit anderen, wie etwa der Verwaltung, zu lösen.276 Vor allem aber bediente sich die westdeutsche Obdachlosenforschung um 1970 einer neuen Semantik der Ungleichheit, indem sie die Situation obdachloser Familien über den Begriff der »Randständigkeit« erfasste. Die historische hat ebenso wie die soziologische Forschung das neue Interesse an Randgruppen als eine kurze Episode gedeutet. Sie führt die Randgruppenforschung als Beispiel einer politisierten Ungleichheitsforschung an, die im Schlepptau der Studentenbewegung auf die Revolutionierbarkeit eines marginalisierten Subproletariats hoffte, bald aber an Einfluss verlor.277 Das ist zwar insofern überzeugend, als die Obdachlosensiedlungen sich um 1970 vorübergehend zu einem beliebten Aktionsraum für gesellschaftspolitische Projekte aus dem weiteren Umfeld der Studentenbewegung entwickelten. Auch ist zu274 Zu der Bedeutung, die Zeitgenossen dem Problem der Obdachlosigkeit zumaßen, vgl. u. a. Höhmann, Zuweisungsprozesse, S. 10. Zum Interesse bundesweit agierender Verbände an dem Thema vgl.: Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge; Deutscher Städtetag, Hinweise. 275 Blume. 276 Haag, S. 141 f. 277 Leisering, Zwischen Verdrängung, S. 497; Leibfried u. Voges, S. 10. Für eine deutlich differenziertere Sicht vgl. Ziemann, hier S. 218–24.
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treffend, dass die Versuche einer Politisierung der Siedlungsbewohner von vergleichsweise kurzer Dauer waren und das mediale Interesse Mitte der 1970er Jahre wieder nachließ. Dennoch übersieht eine solche Deutung vier wesentliche Punkte: Erstens blendet sie aus, dass der Anstoß für die Randgruppenforschung nicht aus dem studentischen Umfeld kam, sondern es städtische Verwaltungen unterschiedlicher politischer Orientierung waren, die einen Großteil der Studien zu Obdachlosigkeit in Auftrag gab. Sie übersieht zweitens, wie grundlegend die Verschiebung vom Bild individuell verschuldeter Wohnungsnöte zu einem Verständnis war, das gesellschaftliche Prozesse und Fragen der Partizipation, Exklusion und Isolation in den Mittelpunkt rückte. Drittens lässt sie außer Acht, dass die Randgruppenforschung zwar für die aktuelle Soziologie kaum zentral sein dürfte, die damit befassten Autorinnen und Autoren um 1970 aber keineswegs am Rande des akademischen Felds operierten.278 Viertens schließlich verkennt eine solche Deutung den durchaus nachhaltigen Einfluss der Randgruppenforschung auf die Verwaltungspraxis sowie die weitere Problematisierung sozialräumlicher Ungleichheit in der Bundesrepublik. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren gaben die Sozialverwaltungen fast aller westdeutscher Großstädte Studien und Gutachten in Auftrag, die sich mit der Obdachlosensituation vor Ort befassen sollten. Verwaltungsintern waren zuvor in vielen Städten die Zweifel an dem eigenen System der hierarchisierten Wohnungspolitik gewachsen. Dass Ende der 1960er Jahre immer mehr Städte wissenschaftliche Untersuchungen zu obdachlosen Familien in Auftrag gaben, war ein Ausdruck dieser Skepsis.279 Für München galt das ebenso wie für Hamburg, für Mannheim wie für Köln, Düsseldorf, Bonn oder Dortmund. Nicht alle dieser Studien wurden veröffentlicht. Einige zirkulierten lediglich verwaltungsintern, andere flossen in Dissertationen oder größere Forschungsprojekte ein.280 Dementsprechend zählte der Soziologe Laszlo Vaskovics, der vom 278 Angesichts dessen ist wenig überraschend, dass viele, die mit Arbeiten über Obdach losigkeit und Randständigkeit promoviert wurden, später Professuren an deutschen Universitäten und Fachhochschulen innehatten. Fritz Haag wurde Professor für Sozial- und Familienrecht an der Universität Hamburg; Dagmar Krebs erhielt eine Soziologieprofessur in Gießen; Ursula Adams (1930–2009) war zunächst Dozentin an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Münster, dann Professorin an der Katholischen Hochschule NordrheinWestfalen; Karolus Heil wurde Professor für Planungstheorie an der Technischen Universität Berlin; Gerd Iben wurde Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt; Laszlo A. Vaskovics war Professor für Soziologie an der Universität Bamberg; Peter Höhmann war Privatdozent an der Universität Bielefeld, Adolf Däumling war Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Bonn. 279 Zu dieser Praxis vgl. Heil. 280 Vgl. u. a. Haag (im Auftrag einer bei Hamburg gelegenen Stadt); Krebs (im Auftrag der Stadt Mannheim); Höhmann, Zuweisungsprozesse (DFG-finanziert); Iben (Marburg); Adams (Köln); Direktorium Investitionsplanungs- und Olympiaamt (München); Vaskovics (der Studie ging eine Untersuchung voran, die von der Stadt Trier finanziell gefördert wurde); Däumling (Däumlings Analyse basierte auf Forschungen, die er im Auftrag der Stadt Bonn durchgeführt hatte).
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Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit den Auftrag erhalten hatte, eine Bestandsaufnahme der Forschung zu Obdachlosigkeit zu machen, 1975 dreißig bis vierzig größere empirische Erhebungen, Fallstudien, Befragungen und sekundärstatistische Auswertungen, die seit Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik durchgeführt wurden. Er erfasste bis 1978 rund 600 Veröffentlichungen zum Thema, wobei die meisten dieser Arbeiten in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erschienen waren.281 Bei allen Unterschieden war den Untersuchungen gemein, dass sie an der konkreten räumlichen Situation der Notunterkünfte ansetzten und auf dieser Basis Beobachtungen zur Lage »armer« oder »sozial schwacher« »Problemfamilien«, »Randgruppen« oder schlicht »der Unterschicht« anstellten. Überhaupt glichen sich die Arbeiten in einer Reihe von Punkten: Sie konzentrierten sich erstens auf die Situation obdachloser Familien und ließen Alleinstehende und Nichtsesshafte als besondere Problemgruppen außen vor. Im Mittelpunkt standen beinahe durchgehend kinderreiche deutsche Familien, die über ein unterdurchschnittliches Einkommen verfügten, deren Haushaltsvorstand aber in der Mehrheit erwerbstätig war. Diese Gruppe stellte den größten Teil der Bevölkerung in Obdachlosensiedlungen. Als Indikator für deren benachteiligte Lage führten die Autoren oft die überdurchschnittlich hohe Zahl an Kindern an, die die Sonderschule besuchten; in vielen Siedlungen lag ihr Anteil bei etwa 50 % (gegenüber 3 % in der Bundesrepublik insgesamt). Migrantische Familien tauchten in den Statistiken so gut wie nicht auf, der Anteil an Rentnern sowie überhaupt der Altersdurchschnitt waren in der Regel niedrig.282 Das zentrale Problem dieser Familien war aus Sicht der Autorinnen und Autoren zweitens nicht deren wirtschaftliche Lage, sondern die Kumulation unterschiedlicher Formen der Benachteiligung wie mangelnde Bildung, Erziehungsprobleme und der begrenzte Zugang zu Ressourcen und öffentlichen Infrastrukturen. Vor allem aber hoben sie die soziale Isolation der untersuchten Familien hervor sowie ihre eingeschränkte Teilhabe am kulturellen, politischen und sozialen Leben. In der Regel ging diese Einordnung mit einer Kritik an der wohlfahrtsstaatlichen Bürokratie einher. Sie erhöhe die Sichtbarkeit wohnungsloser Familien, indem sie sie gesondert unterbringe und trage damit zu deren Stigmatisierung durch die übrige Bevölkerung bei; eine Stigmatisierung, die wiederum die soziale Isolation der Familien erhöhe.283 Das mit der Notwendigkeit der Resozialisierung begründete 3-Stufen-System, erklärte etwa der Volkswirt Peter Höhmann, der seine Dissertation im Rahmen eines DFG-finanzierten Forschungsprojektes zur »Integration marginaler Gruppen« schrieb, trage gegenwärtig lediglich zur »Herstellung von Distanz zwischen Obdachlosen und 281 Vaskovics u. Weins, S. 41, 17. Zum Hintergrund dieser Forschungsarbeit selbst siehe die Unterlagen in: Bundesarchiv (Koblenz) (im Folgenden Barch), Barch, B/189/22000. 282 Haag, S. 31–36, 36; Adams, S. 41; Krebs, S. 34. 283 Zu einem in den ausgehenden 1960er Jahren eingeleiteten »Paradigmenwechsel bei der Beobachtung von sozialer Ungleichheit« vgl. auch Lorke, Soziale Utopien.
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ihrer sozialen Umgebung sowie zur endgültigen Verfestigung des zugewiesenen Status« bei.284 Dieser Kritik entsprach drittens eine Verschiebung in der wissenschaftlichen Terminologie. Während zu Beginn der 1960er Jahre noch von abweichendem Verhalten und Asozialität die Rede war, wurde Obdachlosigkeit Ende der 1960er Jahre vermehrt als Ausdruck einer sozial produzierten »Randständigkeit« dargestellt und mit unterschiedlichen Graden der starken oder schwachen Integration in Zusammenhang gebracht.285 Dass die sozialliberale Bundesregierung 1973 darüber nachdachte, ein Aktions- und Forschungsprogramm zur »Eingliederung sozialer Randgruppen« aufzulegen, ist charakteristisch dafür, dass der Begriff – als dessen Paradebeispiel stets die Obdachlosen dienten – als Problembegriff eine weite Verbreitung erfuhr.286 Damit festigte sich Ende der 1960er Jahre ein neuer moralischer Konsens. Immer häufiger suchten Beobachter die Ursache für urbane Armut in der Politik (in städtebaulichen Maßnahmen, der Aufhebung der Wohnungszwangswirtschaft, einer zu wenig sozial verträglichen Wohnungspolitik) oder in den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt (in einer zu schnelllebigen, zu leistungsoder zu konsumorientierten Gesellschaft). Nicht alle gingen so weit wie der Psychologe und spätere Friedensaktivist Horst Eberhard Richter, der mit Blick auf die gruppentherapeutische Arbeit in Notunterkünften von einem »Lernziel Solidarität« sprach und die Arbeit in den Siedlungen als eine Form der Selbstfindung und existenziellen Erfahrung beschrieb.287 Doch hatte Richter wahrscheinlich nicht Unrecht, wenn er das neue Interesse für Wohnungslose als moralische und gesellschaftliche Neupositionierung von Teilen der westdeutschen Mittelschicht verstand. Viele der sich in verschiedenen Notunterkünften etablierenden Initiativen gingen von studentischen oder kirchennahen Akteuren aus, und um 1970 stilisierte eine wachsende Zahl an Journalisten, Aktivisten und Forschenden die Obdachlosensiedlungen zu Orten, die ein besonderes Maß an Solidarität und Engagement erforderten. Oft beriefen sie sich darauf, dass der Wohlstand der eigenen Gesellschaft neue moralische Imperative mit sich bringe.288 Als »Der Spiegel« 1970 eine mehrteilige Artikelserie zu sozialer Benachteiligung mit einer Reportage zu Obdachlosigkeit einleitete,
284 Höhmann, Zuweisungsprozesse, S. 105. Zu dem Projekt siehe auch ders., Integration marginaler Gruppen. Höhmann kritisierte mit seiner Forschungsgruppe das »System sozialer Kontrolle«, das er mit der Überweisung in Obdachlosensiedlungen verband. Er spricht von einem »an eine totale Institution erinnernden Kontrollsystem, das überhaupt erst Teile der Bevölkerung in deviante Karrieren hineinzwängt«. Ebd., S. 198 f. 285 Dafür typisch ebd. 286 Barch, B/189/21991, Entwurf eines Aktionsprogramms der Bundesregierung zur Eingliederung »sozialer Randgruppen‹, 07.01.1973. 287 Richter, Gruppe; Richter, Lernziel. 288 Siehe dazu auch das (Anfang der 1970er Jahre häufig aufgeführte) Stück »Die Hebamme« von Hochhuth.
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erklärte das Magazin so unter anderem, dass die Ächtung der Obdachlosen, sich in das Bild einer Gesellschaft füge, »die kommerziellen Erfolg zur moralischen Maxime erhoben hat […] und dabei allemal eine menschliche Bruchquote einkalkuliert wie bei der Herstellung von Einwegflaschen«.289 In jedem Fall entwickelten sich die Siedlungen um 1970 vorübergehend zu beliebten Erprobungsräumen für neue Ansätze der sozialen Arbeit und des gesellschaftlichen Engagements. Horst Eberhard Richter beispielsweise, zu dieser Zeit Direktor an der Psychosomatischen Universitätsklinik in Gießen, war auf die städtischen Notunterkünfte durch eine studentische Initiative aufmerksam geworden. Mitglieder der Katholischen Studentengemeinde hatten in einer Gießener Siedlung, unterstützt durch andere Studierende, einen Aktionskreis gebildet, der sich um die »Aktivierung« der Bewohnerschaft bemühte. Von dem Kreis um Unterstützung gebeten, begann Richter in dem Projekt mitzuarbeiten. Auch um, wie er selbst schrieb, auf diese Weise Zugang zu »Randschichtfamilien« zu erhalten.290 Wie er erhielten viele Forschende vermittelt über studentische oder andere Bürgerinitiativen Zugang zu den Notunterkünften. Ursula Adams etwa, die sich in ihrer Untersuchung einer Obdachlosensiedlung in Köln-Poll für neue Formen der Sozialarbeit interessierte, arbeitete dafür eng mit der Förderergemeinschaft »Kinder in Not« zusammen, die in einer Reihe von Notunterkünften sogenannte Selbsthilfekommittes gegründet hatte. Mit ihren Empfehlungen für die Arbeit mit obdachlosen Familien wurde die Förderergemeinschaft »Kinder in Not« tatsächlich weit über den Köln-Bonner Raum hinaus bekannt. Gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Gerd Iben hatte die Initiative Ende der 1960er Jahre Richtlinien zur sozialen Arbeit in Notunterkünften erarbeitet, die in den folgenden Jahren in der Bundesrepublik breit rezipiert wurden.291 Stark von dem Glauben an das Gespräch als Mittel der Bewusstwerdung und Problemlösung getragen,292 setzte diese Arbeit auf »die Gruppe« als Objekt fürsorgerischer Interventionen und auf politische Teilhabe als Mittel zur Eindämmung sozialer Benachteiligung.293 Zu den Empfehlungen der Förderergemeinschaft gehörte so ein mehrstufiges Verfahren der »Aktivierung« der Bewohnerinnen und Bewohner. In einer ersten Phase sollte eine aktivierende Befragung dazu führen, dass die Betroffenen sich der eigenen Probleme bewusst wurden. In einer zweiten Phase debattierten sie im Rahmen öffentlicher Versammlungen und angeleiteter Gruppendiskussionen über die 289 Spiegel-Report über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik, Part I: Obdachlose, in: Spiegel, 28.09.1970. 290 Richter, S. 219. 291 In Bonn entwickelte die Förderergemeinschaft in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung einen Plan für die Sozialarbeit in den städtischen Unterkünften, andere Städte zogen nach. Die Fördergemeinschaft arbeitete auch mit ATD Quart Monde zusammen. Siehe dazu auch: Reinecke, Wohlstand verpflichtet. 292 Zur Bedeutung von Diskussion und Gespräch in Westdeutschland und insbesondere in der 68er Bewegung siehe auch Verheyen, hier v. a. S. 244 ff. 293 Zum Verhältnis von sozialer Arbeit und linksalternativem Milieu generell siehe Steinacker.
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eigene Situation und entwickelten Strategien, um Veränderungen anzustoßen.294 Eine weitere Phase sah vor, dass sie die eigenen Anliegen gegenüber Außenstehenden, wie etwa den Behörden, artikulierten und ihre Probleme vorbrachten. Dass sich auch der Deutsche Städtetag in seinen Hinweisen zum Umgang mit Obdachlosen für eine solche »aktivierende Sozialarbeit« in den Obdachlosensiedlungen aussprach,295 verdeutlicht, dass der Wandel in den Strategien, die im Umgang mit Wohnungslosen als adäquat oder erfolgsversprechend galten, sich kaum auf studentische Kreise oder das linksalternative Milieu beschränkte. Er ging weit darüber hinaus. Dafür ist charakteristisch, dass auch Ulrich Brisch, der als Leiter der Kölner Verwaltung zu den maßgeblichen Verfechtern des 3-Stufen-Systems gehörte, bei einem Vortrag vor dem Sozialausschuss des Deutschen Städtetags empfahl, mit Hilfe anderer Formen der Sozialarbeit die Eigeninitiative von Obdachlosen zu stärken, ihr Gruppenbewusstsein positiv zu fördern und bei ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.296 Brisch berief sich dabei unter anderem auf Empfehlungen von ATD Quart Monde in Frankreich und vom Verein »Kinder in Not« in der Bundesrepublik.297 Seine Vorschläge machen ebenso wie die Empfehlungen des Städtetags deutlich, dass eine »aktivierende« Sozialarbeit kaum von allen als Instrument der Politisierung oder Revolutionierung verstanden wurde. Viele kommunalpolitische Akteure sahen darin schlicht eine effizientere Strategie zur Eingliederung sozial Unangepasster.298 Insgesamt wurde der Umgang mit wohnungslosen Familien infolge der sich mehrenden Kritik durch Sozialwissenschaftler und lokale Initiativen nicht revolutioniert. Er begann sich aber zu ändern. Denn ein Teil der Stadtverwaltungen schaffte das 3-Stufen-System im Laufe der 1970er Jahre tatsächlich ab. Auch beteiligte sich die Bundesrepublik mit einer Reihe von Pilotprojekten, die auf eine veränderte Betreuung von Obdachlosen in westdeutschen Städten zielten, an dem ersten Anti-Armutsprogramm, das die Europäische Kommission 1974 initiierte.299 Kommunale Obdachlosenheime gab es dann zwar auch in den 1980er Jahren noch. Sie wurden allerdings stärker von präventiven Maßnahmen flankiert, die auf den Erhalt der bisherigen Wohnungen gefährdeter Haushalte zielten, etwa durch die Zahlung von Wohngeld. Auch gab es Beratungsstellen und psychologische Hilfen, die stärker den individuellen Bedürfnissen Wohnungsloser gerecht zu werden suchten.300 Zudem hatte das auf Disziplinierung zielende 294 Schlichting. Siehe dazu auch Iben; Adams. In Köln ging u. a. die Interessengemeinschaft Obdachlosigkeit, die wiederum vorübergehend eine Obdachlosenzeitung herausgab, aus diesen Bemühungen hervor. 295 Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 21–23. 296 Brisch, Das Obdachlosenproblem, S. 50. 297 Ebd., S. 50. 298 Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 22, 8. 299 Zu den Vorschlägen für Action-Research-Projekte, die das Familienministerium der Kommission vorlegte, siehe Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel, BAC 18/1987, Vol. 1, Bl. 14, 19, 27, 49, 56, 99. 300 Schenk, Geschichte.
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3-Stufen-System weiter an Bedeutung verloren und war schrittweise einer Praxis gewichen, bei der die Kommunen die Betroffenen ohne Zwischenstufe gestreut in Normalwohnungen umsetzten. In der historischen Forschung ist bis dato übersehen worden, wie breit das Interesse an Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre war. Die gängige Behauptung, dass eine nennenswerte Auseinandersetzung mit Armut in der westdeutschen Soziologie, Politik und Öffentlichkeit erst in den späten 1970er Jahren einsetzte, übersieht, dass es eine solche Auseinandersetzung durchaus gab, sie aber in einem unerwarteten Kontext stattfand: in kommunalpolitischen Zirkeln, nicht-staatlichen Organisationen und im Rahmen einer anwendungsorientierten Sozialforschung, deren Ergebnisse nur in Teilen veröffentlicht wurden. Für die meisten der um 1970 damit befassten Akteure waren Obdachlosigkeit und urbane Armut Ausdruck einer sozialen Ungleichheit, die maßgeblich strukturelle Ursachen hatte und gesellschaftlich oder staatlich hergestellt war. Gegenüber früheren Deutungen urbaner Wohnungsnöte rückten sie stärker Probleme der kumulativen Benachteiligung und des Ausschlusses von Teilhabe in den Fokus. Durchaus vorangetrieben durch die Studentenbewegung, aber keineswegs auf linke Kreise beschränkt, dominierte die Forderung nach einer Selbstorganisation und Aktivierung der Betroffenen einerseits und einer inklusiveren Politik andererseits.
2.5 Der Abschied von der Disziplinierung und die neue Kategorie der Marginalität a) Normalisierung durch Separierung: Ein Modell in der Kritik Die französische und westdeutsche Verwaltung ähnelten sich in dem Versuch, über räumliche Arrangements und eine Politik der gestaffelten Wohnlösungen Familien zu disziplinieren, die über keine reguläre Unterkunft verfügten. Ihre Praxis der dem Zugang zu normalen Sozialwohnungen vorgeschalteten Überweisung in Notunterkünfte lässt sich einreihen in eine lange Tradition der Normalisierung über institutionell-räumliche Arrangements. Die Übergangs- und Obdachlosensiedlungen, die sich in den 1950er und 1960er Jahren in wachsender Zahl an die Ränder französischer und westdeutscher Städte anlagerten, stellten jeweils auf ihre Weise »Abweichungsheterotopien« dar.301 Schließlich handelte es sich um Räume der Separierung und Normalisierung, in denen diejenigen, die als zu wenig »entwickelt«, »modern« oder »angepasst« galten, zum Leben in der Moderne erzogen werden sollten. Im einen wie im anderen Fall wurden in den einfach ausgestatteten Übergangssiedlungen oder cités de transit Familien untergebracht, die von den Verwaltungen als zu unangepasst für die Unterbrin301 Foucault, Die Heterotopien, S. 12.
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gung in regulären Sozialwohnungen eingestuft worden waren. Und im einen wie im anderen Fall ging der Überweisung eine Einteilung der Wohnbevölkerung voran, bei der die Verwaltungen auf hygienische, sozialbiologische und -medizinische Wissensbestände zurückgriffen und zwischen normalen (angepassten) und devianten (»asozialen«, »nicht angepassten«) Bewohnerinnen und Bewohnern unterschieden. Allerdings wurden die Unterkünfte Ende der 1960er Jahre auch auf ähnliche Weise zum Gegenstand einer grundlegenden Kritik an der bisherigen Wohnpolitik bzw. an Staat und Gesellschaft allgemein.302 Die versuchte Integrationdurch-Disziplinierung Wohnungsloser geriet um 1970 in beiden Ländern in die Kritik und machte schrittweise einer neuen Formation des Umgangs mit urbanen Wohnungsnöten Platz. Administrative Technologien gewannen an Einfluss, die weniger an physisch abgegrenzte Einschließungsorte (wie Obdachlosensiedlungen) gebunden waren als an Formen der sozialen Community-Arbeit, der Gruppenfindung, Selbstartikulation und räumlichen Verteilung. Dieser schrittweise Abschied von Räumen und Praktiken der Separierung lohnt einen genaueren Blick. Erstens, weil er auf einen grundlegenden Wandel im Verständnis sozialer Ungleichheit hindeutet und mit neuen Ungleichheitssemantiken einherging. Zweitens, weil er in beiden Ländern eng verknüpft war mit einem wachsenden Einfluss soziologischer Wissensbestände auf die Definition urbaner Probleme. Und drittens, weil er – ausgehend von der Wohnungspolitik – Fragen aufwirft, die grundlegende Verschiebungen in den sozialstaatlichen Arrangements des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts betreffen. Anders ausgedrückt stellt sich die Frage, ob die sich wandelnden Strategien zur Einhegung urbaner Wohnungsnot darauf hinweisen, dass sich um 1968 im städtischen Kontext ein Niedergang der »Disziplinargesellschaft« und, wie von Gilles Deleuze behauptet, eine »Krise aller Einschließungsmilieus« (von der Familie über die Schule und Fabrik bis zum Gefängnis) abzeichnete.303 Versuche, über institutionell-räumliche Arrangements – wie Gefängnis, Armen- oder Arbeitshaus – die Disziplinierung und Normalisierung von Menschen zu erreichen, reichen weit zurück, wie Michel Foucault und andere eindrücklich gezeigt haben. Demnach fanden mit der Etablierung des modernen Verwaltungsstaates disziplinierende Techniken Verbreitung, die darauf abzielten, dass der oder die Einzelne das eigene Verhalten und die eigenen Instinkte kontrollierte und modifizierte. Es geht mir hier allerdings weniger darum, die Verschiebungen in der Verwaltung urbaner Wohnprobleme mit Hilfe Foucaultscher Regierungsbegriffe einzuordnen.304 Vielmehr geht mir um eine Kritik an 302 Vgl. zum Folgenden auch Reinecke, Disziplinierte Wohnungsnot. 303 Eitler u. Elberfeld, S. 19; Deleuze, S. 257. 304 Siehe u. a. Foucault, In Verteidigung, S. 282–311. Foucault selbst wandte sich in den späten 1970er Jahren vermehrt Programmen des »Regierens« und des »Sich-Selbst-Regierens« zu, wobei er unter Regierung die »Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden« verstand, welche »die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten«. Die aktuelle Gouvernementalitätsforschung orientiert sich in erster Linie am Spätwerk Michel
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sozialstaatlich-isolierenden Praktiken, die von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, darunter Foucault selbst, um 1970 als »Disziplinierung« angeprangert wurden. Und es geht mir um eine veränderte Problematisierung urbaner Ungleichheitsverhältnisse, die gegenüber der Gegenüberstellung von »unten« und »oben« nun Prozesse des Ein- und Ausschließens, des Drinnen- oder Draußenseins fokussierte. Die Erziehung zum Normalverhalten mit Hilfe gestaffelter Wohnlösungen fügte sich in Frankreich und Westdeutschland zunächst ein in eine Phase des expandierenden Wohlfahrtsstaates. Sie zielte auf die Inklusion möglichst vieler und die Separierung und Exklusion weniger, die als der nationalen Gemeinschaft schädlich oder als deren Modernität nicht angemessen galten. Allerdings waren diese Bemühungen im französischen Fall deutlich stärker als im deutschen mit kolonial- und migrationspolitischen Zielen verschränkt.305 Auch bestimmte in Frankreich das Gegensatzpaar von »modern« und »rückständig« mehr als in Westdeutschland die um die Erziehung zum normalen Wohnen gruppierten Diskurse und Praktiken, während dort die Gegenüberstellung von »ordentlichen« und »asozialen« oder »sozial schwachen« Familien dominierte. Zudem waren es in Westdeutschland weniger Migranten, die als besondere R isiko- oder Problembevölkerung identifiziert wurden – diese Debatte ent zündete sich in der Bundesrepublik an innerstädtischen Sanierungsgebieten – sondern einkommensschwache kinderreiche Familien.306 Eng verbunden mit der langsam voranschreitenden Dekolonisation entwickelte sich die Politik der Erziehung zur Moderne im französischen Fall im Wechselspiel von kolonialen und metropolitanen Schauplätzen. Dennoch waren die Übergangssiedlungen kaum allein ein koloniales Projekt. Das verdeutlicht der Einfluss, den die Hilfsorganisation ATD Quart Monde auf die Etablierung des gestuften Wohnsystems im metropolitanen Frankreich nahm. Und während muslimisch-algerische Migranten im Laufe der 1960er Jahre endgültig in den Fokus disziplinierender Wohnpolitiken rückten, blieb die Integration extrem armer französischer Familien ein weiteres Ziel dieser Politiken. Die Programme zum Umgang mit schlecht Untergebrachten (mal logés) oder sozial Unange passten (inadaptés), die die französische Ministerialverwaltung Ende der 1960er Jahre etablierte, präsentierten so neben migrantischen Familien weiterhin einkommensschwache kinderreiche französische Familien als eine besondere »Problembevölkerung«, die der Adaptation bedurfte. Trotz dieser Unterschiede fallen im deutsch-französischen Vergleich eher die Ähnlichkeiten ins Auge. Das gilt auch für die Ende der 1960er Jahre wachsende Foucaults. Ders., Geschichte. Zu Foucaults Analyse der Gouvernementalität vgl. die noch immer lohnenswerte Analyse von Dean sowie die Beiträge in: Krasmann u. Volkmer. Speziell mit Blick auf die Historisierung von Körpertechniken als Techniken des Selbst siehe auch Möhring, Regierung. 305 House u. Thompson; Nasiali, Order; Barros; Lyons, Des Bidonvilles; Cohen. 306 Zu den Ende der 1960er Jahre dort einsetzenden Debatten um Ghettoisierung und Segregation im Zusammenhang mit dem Zuzug von Migranten vgl. die Ausführungen in Kap. 4. 2.
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Kritik an der räumlichen Separierung sogenannter Problemfamilien. Sie deutet in beiden Ländern darauf hin, dass um 1970 ein System der sozialhygienisch oder -medizinisch angeleiteten Isolation von als deviant, unterentwickelt oder asozial klassifizierten Gruppen ins Wanken geriet und schrittweise einer neuen Formation der versuchen Aktivierung und schrittweisen Integration »randständiger« Gruppen wich. Gegenüber dem Bild einer selbst verschuldeten, mit den abweichenden Verhaltensweisen der Betreffenden begründeten (Wohnungs-)not gewann die Vorstellung einer staatlich oder gesellschaftlich hergestellten Randständigkeit an Bedeutung, die wiederum mit der Forderung an die Betroffenen einherging, sich zu organisieren und artikulieren. Und in beiden Ländern war diese Entwicklung eng verknüpft mit einem wachsenden Einfluss sozialwissenschaftlicher Auftragsforschungen auf die Stadt- und Wohnpolitik. b) Eine neue Ungleichheitssemantik und die Soziologisierung der Stadtpolitik Ähnlich wie in der Bundesrepublik setzte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wohnungslosigkeit und urbaner Armut in Frankreich nach dem Krieg eher zögerlich ein. Sie bildete zunächst eher ein Forschungsfeld am Rande denn ein Kernthema der Sozialwissenschaften.307 Allerdings standen die französischen Soziologinnen und Soziologen, die sich um 1970 mit urbaner Wohnungsnot zu befassen begannen, zwar tendenziell am Beginn ihrer Karriere, waren aber oft an einflussreichen Institutionen angebunden. Von der voranschreitenden Institutionalisierung der Soziologie an den Universitäten profitierten sie dabei ebenso wie von einer stark ausgeweiteten Forschungsförderung durch die französische Regierung. Als der Soziologe Maurice Chevallier zu Beginn der 1970er Jahre einen Forschungsvertrag mit einer interministeriellen Agentur zur Forschungsförderung, der DGRST,308 abschloss, war er jedenfalls kaum der einzige Sozialwissenschaftler, der von einer französischen Behörde den Auftrag erhalten hatte, sich mit den cités de transit zu befassen.309 Zu Beginn der 1970er Jahre gaben zahlreiche öffentliche Institutionen Untersuchungen zu den Übergangslagern in 307 Dafür ist charakteristisch, dass der Soziologe Michel Pialoux im Interview erklärte, Pierre Bourdieu habe ihm aus Karrieregründen zunächst eher davon abgeraten, sich mit der Situation in den cités de transit zu befassen. Interview der Verfasserin mit Michel Pialoux, 08.11.2013. 308 Die DGRST, Délégation générale à la Recherche scientifique et technique, wurde in den 1960er Jahren etabliert. Zur Bedeutung der Auftragsforschung und der Verbindung zwischen »Dispositiven der Beauftragung und der Finanzierung, die zwischen den 1960er und 1990er Jahren« in Frankreich etabliert wurden, vgl. die Beiträge in dem Band: Bezes, insbesondere Chatriot u. Duclert. 309 Die Analyse der cités de transit machte nur einen Teil der Studie aus, der andere widmete sich der Situation »normaler Familien«, die in HLM wohnten. Chevallier u. Regazzola.
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Auftrag.310 Meist glichen sich die fertigen Studien in ihrer Stoßrichtung. Obwohl im Auftrag von regierungs- oder regierungsnahen Institutionen erstellt, einigte sie eine staatskritische Haltung. Chevallier etwa, der als Mitglied einer stadtsoziologischen Forschergruppe mehrere Auftragsstudien zur staatlichen Wohnpolitik durchführte, schrieb über die Bewohner der Übergangssiedlungen, die seien nicht nur einkommensschwach, sondern multidimensional benachteiligt. Maßgeblich führte Chevallier das auf einen administrativen Prozess zurück, der zwar darauf abzielte, drängende soziale Probleme zu lösen, der dabei aber eine Problembevölkerung hervorbrachte, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, eine »Restgröße« der gewöhnlichen administrativen Abläufe zu sein: »Es ist das Wohnungssystem, dass die Randständigen hervorbringt« (»C’est le système du logement qui produit les marginaux«).311 Ähnlich wie zeitgleich die Kritiker deutscher Notunterkünfte ging Chevallier davon aus, dass die sichtbar schlechten Bedingungen in den französischen Übergangssiedlungen zu einer Stigmatisierung der Bewohnerschaft beitrugen. Die negative Selbstwahrnehmung und Isolation der Cité de transit-Bewohner betrachtete er letztlich als eine Folge ihrer Marginalisierung durch die Wohnpolitik. Noch stärker als im deutschen Fall ging diese Kritik in Frankreich mit einer semantischen Verschiebung einher. Während in den 1950er und 1960er Jahren staatsnahe technokratische Experten eher die inadaptation, das handicap social oder die unzureichende évolution von Familien mit Wohnproblemen bemängelten, kritisierten Soziologinnen und Soziologen wie Chevallier am Übergang zu den 1970er Jahren die Produktion von »Marginalität« durch soziale, wirtschaftliche oder staatliche Praktiken. Sie setzten sich damit von einem in Verwaltungskreisen dominierenden Verständnis ab, demzufolge die soziale Lage der Familien mit Wohnproblemen in erster Linie auf deren individuelles Fehlverhalten zurückzuführen war.312 Geht man von der Wissensproduktion zu Wohnungsnot 310 Ebd. Vgl. zudem die von der Kommission ORSUCOMN finanzierten Forschungen des Centre Recherches Economiques Sociologiques et de Gestion, etwa CRESGE, La résorption; Tricart; sowie deren zahlreiche, seit 1970 publizierten Studienberichte in: CAC, 19910712/34, Unterakte: Documentation sur la résorption de l’habitat insalubre en métropole nord et en région parisienne, 1968–1974. Vgl. zudem die Arbeiten von Claude Liscia und Françoise Orlic, finanziert vom GRECOH, einer dem Bauministerium unterstellten Forschungsbehörde: Liscia u. Orlic; Liscia, L’enfermement; dies., Le travail. Zum Hintergrund dieser Studien siehe die Tätigkeitsberichte von Liscia und Orlic in: Archives de l’EHESS, CEMS, Rapport sur les activités (1976). Vgl. schließlich auch die in Teilen vom Bauministerium unterstützten Arbeiten von Pialoux, Etat; ders., Etat, classe; Freyssenet u. a. 311 Chevallier u. Regazzola, S. 518. 312 Dagegen schrieb 1970 André Trintignac, der Vorsitzende einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die sich im Auftrag des Bauministeriums mit handicapés und inadaptés befasste, dass mangelnde Anpassung (inadaptation) aus Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft resultiere. Letztere erfordere ein Verhalten, das nicht zu sehr vom Durchschnitt abweiche. Der Unangepasste sei derjenige, der »nicht oder schlecht mit dieser sozialen Erwartung umgehe«. CAC, 199771141/1, Unterakte: VI Plan, Commissariat Général du Plan. Intergroupe Handicapés-Inadaptés, Groupes des Handicapés Sociaux, Bericht von André Trintignac, Oktober 1970.
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aus, verlor das Bild einer primär selbst verschuldeten Benachteiligung um 1970 zumindest vorübergehend an Einfluss, während sich der Blickpunkt auf Fragen der Partizipation und des Ausschlusses (von Bildung, politischer Mitsprache, Konsum) und damit der kumulativen Benachteiligung verlagerte. Und die Beschreibung sozialer Benachteiligung gruppierte sich immer weniger um den Gegensatz von oben und unten denn um die Gegenüberstellung von drinnen und draußen, Teilhabe oder Ausschluss.313 Dass »Marginalität« institutionell hergestellt und durch die Logiken der Sozial- und Wohnungsverwaltung selbst hervorgebracht wurde, behaupteten am Übergang zu den 1970er Jahren auffallend viele der Soziologinnen und Soziologen, die sich in Frankreich mit der Politik der Auflösung der bidonvilles befassten. Der für ein Forschungsteam in Lille arbeitende Soziologe Jean-Paul Tricart, die bei Alain Touraine in Paris angebundene Claude Liscia, der in Lyon arbeitende Maurice Chevallier oder der im Umfeld Pierre Bourdieus tätige Michel Pialoux: Sie alle wiesen in ihren Arbeiten darauf hin, dass die Randständigkeit der in staatlichen Übergangswohnungen lebenden Familien dadurch entstand, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht in normalen Sozialwohnungen untergebracht werden konnten und ihr Restdasein im administrativen Sinne in eine de facto randständische Existenz umschlug. Marginalität sei eben nicht auf individuelle oder familiäre Eigenschaften zu beschränken, unterstrichen Chevallier und Regazzola im Fazit ihrer Studie.314 Ähnlich wie die Rede von »Randständigkeit« und »Randgruppen« im deutschen Fall, war der Begriff der marginalité in diesem Zusammenhang neu. Es gibt so gut wie keine vor 1970 erschienene französische Studie, die damit arbeitet.315 Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Karriere des Marginalitätsbegriffs und der damit zentral gesetzten Gegenüberstellung von »integriert« und »randständig«, »innen« und außen« im deutschen wie im französischen Fall auf die wieder einsetzende Rezeption von stadtsoziologischen Studien aus dem Umfeld der Chicago School zurückzuführen. Die in der Zwischenkriegszeit maßgeblich – aber nicht allein – durch den Soziologen Robert E. Park eingeführte Figur des zwischen verschiedenen Kulturen stehenden »marginal man« wurde zum Vorbild für die »Randgruppen« um 1970. Diese semantische Karriere war Teil einer veränderten Beschreibung der sozialen Ordnung insgesamt. Der Soziologe Friedrich Fürstenberg, der in Deutschland 1965 zu den ersten gehörte, die Überlegungen zum Begriff der »Randgruppe« anstellten, verband damit sehr grundsätzliche Überlegungen zu einer sich verschiebenden Sozialstruktur.316 Fürstenberg ging davon aus, dass die 313 Siehe zur Geschichte dieser Verschiebung allgemein – wenngleich mit Blick auf die Einordnung von Klanfer und die Unesco-Konferenz fehlerhaft – auch Ziemann. 314 Chevallier u. Regazzola, S. 518. 315 Eine Ausnahme bildet der bereits erwähnte Bericht zu den beiden von ATD Quart Monde organisierten Konferenzen im Unesco-Gebäude Anfang der 1960er Jahre: Klanfer. 316 Fürstenberg.
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lange Zeit grundlegende Dichotomie von »oben« und »unten« und eine letztlich durch Klassenhierarchien geprägte soziale Ordnung an Bedeutung verloren, weil Industrialisierung und Demokratisierung Aufstiegs- und Mobilitätschancen mit sich brachten, die letztlich dazu führten, dass Gesellschaften in wachsendem Maße von den Mittelschichten geprägt waren. Dennoch zeige, hob Fürstenberg hervor, die eigene Gesellschaft Anzeichen einer sozialen Desintegration; Anzeichen, die sich über das traditionelle Bild einer in »oben« und »unten« gespalteten Gesellschaft aber nicht erfassen ließen. Denn, erklärte Fürstenberg: »diese Gefährdung der gesellschaftlichen Stabilität stammt nicht so sehr von Gruppen, die, sei es oben oder unten, einen festen Platz in der Sozialstruktur einnehmen, sondern von Personen und Gruppen, die ganz oder teilweise außerhalb des sozialen Zusammenhangs stehen.«317
Maßgeblich für die Entstehung sozialer Randgruppen schienen Fürstenberg ein beschleunigter sozialer Wandel und eine ausgeprägte soziale Mobilität zu sein, die es mit sich brachten, dass lange etablierte Vorstellungen und Verhaltensweisen bereits im Verlauf eines Lebensalters an Bedeutung verloren und eine Abwertung erfuhren. Die Ausbildung unterschiedlicher Randgruppen war eine Reaktion auf diese Beschleunigung, und gegenüber einer stark nach Klassen und Schichten vertikal geordneten Gesellschaft beschrieb der Soziologe eine Gesellschaft, deren Wandel stark von wechselnden sozialen Gruppenbildungen geprägt war.318 Wie hier Fürstenberg identifizierten einige Jahre später, um 1970, zahlreiche französische und deutsche Soziologen die Marginalität bestimmter sozialer Gruppen als ein neues soziales Problem. Sie ordneten insofern die Gesellschaft neu, als sie verschiedene Gruppen unter dem Begriff der Randständigkeit zusammenfassten: Obdachlose und Familien mit Wohnungsproblemen, Behinderte, Migranten oder ältere Menschen. Für sie alle galt, dass ihre soziale Lage über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht nicht ausreichend erfasst war. Und für sie alle machten die betreffenden Forscher stark, dass ihre Benachteiligung sich maßgeblich in sozialer Isolation und dem Ausschluss von Teilhabe ausdrückte. Im neuen Begriff der »Marginalität« überkreuzen sich damit zwei für die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert zentrale Entwicklungen: eine selbstverständlich gewordene Forderung nach universeller Teilhabe einerseits und die sich auflösenden Konturen einer klar vertikal, nach Klassen und Schichten geordneten industriellen Klassengesellschaft andererseits. Die bis heute in westeuropäischen Gesellschaften gängige Selbstbeschreibung im Modus des Ein- und Ausschlusses, der Inklusion, Exklusion und Randständigkeit knüpft an Begriffstraditionen an, die in der Regel nicht weiter
317 Ebd., S. 236. 318 Damit verknüpft betrachtete Fürstenberg eine mangelnde »soziale Teilhabe« als das zentrale Kriterium sozialer Randständigkeit. Ebd., S. 240.
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zurück als bis in die 1960er Jahre reichen.319 Für den aktuell in der Soziologie international gebräuchlichen Begriff der »Exklusion« werden dabei vor allem drei Theorietraditionen unterschieden: eine system- und differenzierungstheoretische, eine machttheoretische und eine kulturtheoretisch-interaktionistische.320 Als prominenter Vertreter der ersten Tradition gilt Niklas Luhmann. Er versuchte über das Begriffspaar der In- und Exklusion ein Strukturproblem funktional differenzierter Gesellschaften zu systematisieren, die sich zwar an universalen Prinzipien ausrichten (gleiches Recht für alle), in denen aber in erster Linie die einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme mit ihren je eigenen Regelsystemen und -logiken darüber bestimmen, wer wie inkludiert wird (in das System des Rechts, der Bildung, der Wissenschaft).321 Unter den »Modi der Inklusion« versteht Luhmann das, was in den unterschiedlichen Systemen jeweils als Teilnahmebedingung gesetzt bzw. als Teilnahmechance in Aussicht gestellt wird.322 Eine vertikale Differenzierung von Gesellschaft (in Klassen und Schichten, oben und unten) ist aus Luhmanns Sicht zu dieser funktionalen Differenzierung sekundär.323 Machttheoretische Analysen fokussieren dagegen stärker Prozesse der sozialen Schließung durch soziale Gruppen, während kultur- oder wissenssoziologische Untersuchungen eher auf die Effekte der Kategorisierung von Personen, auf Prozesse der Grenzziehung und deren ein- und ausschließende Dimensionen verweisen. Tatsächlich setzten auch die Verfasserinnen und Verfasser der Studien zu marginalité / Randständigkeit in Frankreich und Westdeutschland unterschiedliche Akzente. Während die französischen Autoren, ganz in der Tradition Durkheims, stärker nach den Effekten sozialstaatlicher Kategorien fragten und Marginalität vornehmlich als ein Produkt administrativer Grenzziehungen beschrieben, verorteten die deutschen Forschenden die beobachtete Randständigkeit in erster Linie in sozialen Beziehungen und hoben auf die, allerdings eng
319 Die bisherige Forschung geht von einer deutlich späteren Verbreitung von Exklusion und Marginalität als Elementen einer transnationalen Sprache sozialer Ungleichheit aus. Fassin, Exclusion, underclass, hier S. 40–47. Der deutsch-französische Vergleich zeigt aber, dass beide Begriffe bereits um 1970 zu wichtigen Ungleichheitsbegriffen wurden. 320 Leisering, Desillusionierung. Zum Versuch einer stark am französischen Beispiel geschulten Systematisierung des Exklusionsbegriffs siehe auch Silver sowie, vor allem mit Blick auf die Systemtheorie: Stichweh. 321 Weil eine übergeordnete Instanz fehlt, die zwischen den verschiedenen Funktionssystemen vermittelt, bedeutet die Exklusion aus dem einen System oftmals auch die aus anderen. Verfüge ich über keine feste Wohnung, habe ich Probleme, meine Kinder in die Schule zu schicken. Verfüge ich über keine Bildung, sinkt die Chance, dass ich mein Recht gelten mache oder politische Entscheidungen beeinflusse. 322 Exklusion hingegen ist das »was unmarkiert bleibt, wenn diese Bedingungen bzw. Chancen formuliert werden«. Exklusion ergebe sich »gleichsam aus der Operation der Selbstbeschreibung als Nebeneffekt«. Luhmann, S. 244. 323 Zur Konzeptualisierung von sozialer Ungleichheit als Folge funktionaler Differenzierung siehe auch Nassehi, S. 225 f.
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mit sozialstaatlichen Praktiken verknüpfte, Isolation und Stigmatisierung der Betroffenen ab. In beiden Fällen deuten die Verschiebungen in der Auseinandersetzung mit urbanen Wohnungsnöten darauf hin, dass in den späten 1960er Jahren das Bild der französischen und westdeutschen Gesellschaften als Wohlstandsgesellschaften zwar weitgehend gefestigt war, für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen die Ausschlüsse und Auslassungen dieser Wohlstands- und Sozialstaatsnormalität aber umso prägnanter in den Blickpunkt rückten. Als Selbstbeschreibungsformel westeuropäischer Gesellschaften drückte sich in dem Exklusionsbegriff und seinen unterschiedlichen Spielarten wohl tatsächlich eine gewisse »Desillusionierung in Bezug auf die Fortschrittsverheißungen der industriellen Moderne« aus.324 Darüber hinaus war die (wenngleich langsame) Karriere des Exklusionsund Marginalitätsbegriffs mit einem zunehmend ambivalenten Verhältnis zum Sozialstaat verknüpft, der immer mehr Beobachtern des Sozialen nicht mehr allein als mögliche Lösung für beobachtete Probleme, sondern eben auch als deren mögliche Ursache erschien. Wirklich verständlich wird der Übergang von einer Formation der Disziplinierung zu einer der Aktivierung in der Wohnungspolitik in jedem Fall nur, wenn er eingebettet wird in eine umfassende Soziologisierung der Auseinandersetzung mit urbanem Wandel seit den 1960er Jahren. Gemeint ist damit der (zumindest vorübergehend) große Einfluss, den soziologische Semantiken und Denkfiguren auf die Definition von Problemen und die damit verknüpften Lösungsstrategien nahmen. Zwar mochte M. Rainer Lepsius in der Gesamtschau Recht haben, als er 1979 mit Blick auf die deutsche Soziologie schrieb, dass eine »Soziologisierung der gesellschaftlichen Selbstreflexion und der auf ihr aufbauenden Entscheidungsprozesse« seit den 1940er Jahren nur im Einzelfall durch die Terminologie, kaum aber im Hinblick auf den Analysegehalt erkennbar gewesen sei.325 Doch gilt dieses Urteil nicht für alle Bereiche gleichermaßen. Auch ist es stark davon abhängig, was als Übernahme eines soziologischen »Ana lysegehalts« – der über die Verbreitung einer bestimmten Terminologie hinaus reicht – gelten gelassen wird.326 Die Verschiebungen, die sich in Frankreich und Westdeutschland in der Auseinandersetzung mit Barackenlagern, Obdachlosenund Übergangssiedlungen beobachten lassen, hingen jedenfalls damit zusammen, dass um 1970 in der Stadt- und Wohnungspolitik eine Kultur der wissenschaftlichen Expertise an Einfluss gewann, von der in erster Linie Soziologinnen und Soziologen profitierten – und dass deren Empfehlungen Effekte zeitigten. Ungeachtet der Unterschiede im französischen und westdeutschen Wissenschaftssystem und der dort gängigen Karriere- und Professionalisierungs strategien gewannen in beiden Ländern in den 1960er Jahren Auftragsforschun 324 Leisering, Desillusionierung, S. 261. 325 Lepsius, S. 54. 326 Lepsius selbst verweist allerdings auch auf den Einfluss, den in den späten 1960er Jahren eine »soziologisierte Kulturkritik« erhielt. Ebd.
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gen durch staatliche und halb-staatliche Institutionen – ebenso wie im Übrigen durch Verbände und Hilfsorganisationen – massiv an Bedeutung. Diese Expansion der Sozialwissenschaften war zumindest teilweise ein Produkt des Kalten Kriegs. Eine Vielzahl von Programmen und Akteuren drängte auf eine Ausweitung der sozialwissenschaftlichen Forschung nach US-amerikanischem Vorbild.327 Nachdem der New Deal in den USA selbst bereits in der Zwischenkriegszeit mit einer erhöhten Nachfrage nach Sozialstudien einhergegangen war und sich diese Nachfrage im Zuge des Kriegs noch erhöhte, brachten die ersten Nachkriegsjahrzehnte national wie international eine weitere Expansion mit sich; auch deswegen, weil die Sozialforschung aus Sicht der politischen Akteure eine genuin demokratische Praxis darstellte.328 Sozialwissenschaftliche Akteure sollten nicht allein zur Erforschung von Demokratisierung, Liberalisierung und Modernisierung beitragen, sondern auch zu deren Verbreitung und Konsolidierung.329 Neben staatlichen Akteuren spielten dafür private philanthropische Stiftungen wie die Rockefeller Foundation und die Ford Foundation eine wichtige Rolle. Sie hatten in Europa bereits in der Zwischenkriegszeit massiv in sozialwissenschaftliche Projekte investiert und es zahlreichen Wissenschaftlern ermöglicht, sich zu Forschungsaufenthalten in die USA zu begeben.330 Hinzu kam die UNESCO und ihre sozialwissenschaftliche Abteilung, die nach dem Krieg in verschiedenen Ländern, darunter Westdeutschland und Frankreich, Forschungsinstitute und -projekte lancierte.331 Gemeinsam mit kommerziellen Meinungs- und Marktforschungsinstituten wie Gallup unterstützten diese unterschiedlichen Akteure Mitte des 20. Jahrhunderts eine Ausweitung und Internationalisierung der Sozialwissenschaften. Wenngleich der Einfluss der US-amerikanischen Sozialwissenschaften im französischen Fall nicht so ausgeprägt war wie im westdeutschen, entwickelte sich der sozialwissenschaftliche Apparat in beiden Fällen in einem internationa327 Die »Machtpolitik der Wissenszirkulation« im Kalten Krieg habe, schreibt Tim B. Müller, unterschiedliche lokale Ausprägungen gehabt: »Die amerikanische Macht erfand sich in der Wissenschaftssphäre des Kalten Kriegs an Ort und Stelle immer wieder neu […] Die Ergebnisse waren nicht durch das Zentrum determiniert, sondern von ihm in komplexer Weise dominiert und es wusste die verschiedensten Potenziale für sich zu nutzen.« Müller, Macht, S. 146. 328 Siehe dazu v. a. Solovey. Auch in den USA selbst wuchs in den ersten Nachkriegsjahrzehnten und zumal in den 1960er Jahren die Zahl an sozialwissenschaftlichen Departments, Graduate-Kursen und Seminaren bemerkenswert schnell. Ähnliches galt für die Zahl an Sozialwissenschaftlern. Allein die Mitgliederzahl der ASA, der American Sociological Society (ASA) und damit des größten soziologischen Fachverbands der USA wuchs von 1.034 Mitgliedern im Jahr 1940 auf 3.241 im Jahr 1950, 6.875 im Jahr 1960 und schließlich 14.156 im Jahr 1970. Ihren (bis heute unerreichten) Höchststand erreichte die Mitgliederzahl der ASA 1972. 329 Ebd. 330 Zu deren Engagement in Frankreich siehe Tournès, wobei Tournès auch auf das Engagement der Rockefeller Foundation in der Zwischenkriegszeit eingeht. 331 Zu Frankreich siehe Drouard. Zu Deutschland siehe Fleck.
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len Rahmen. In Frankreich brachten vor allem die 1960er Jahre einen wachsenden Einfluss der sozialwissenschaftlichen Forschung mit sich.332 An erster Stelle gilt das für die Soziologe, die, verglichen mit Psychologie, Anthropologie oder Philosophie, lange eine Randdisziplin dargestellt hatte. Sicher, Emil Durkheim erhielt seine Nominierung als Soziologe in Bordeaux 1887, aber noch 1927 gab es in Frankreich nicht mehr als drei Lehrstühle für Soziologie (in Bordeaux, Straßburg und Paris) und der Einfluss der Soziologie sank in den folgenden beiden Jahrzehnten zunächst wieder. 1946 gründete dann Georges Gurvitch, frisch aus New York zurückgekehrt, in Paris das Centre d’études sociologiques, das – dem außeruniversitären CNRS unterstellt – soziologische Forschungen lancierte, die wiederum stark auf politische Belange Bezug nahmen. Das Centre wurde in seiner Frühzeit von US-amerikanischen Stiftungen wie namentlich der Rockefeller und der Ford Foundation finanziell unterstützt. Ähnliches gilt für das Centre de sociologie européenne, das Raymond Aaron 1960 an der EHESS gegründet hatte und das bald zur institutionellen Heimat von Pierre Bourdieu wurde.333 Darüber hinaus investierte der französische Staat seit den späten 1950er Jahren vermehrt in sozialwissenschaftliche Forschungen.334 Der planende technokratische Zentralstaat der Fünften Republik förderte eine erstaunliche Vielzahl an Projekten und Instituten, wobei neben universitären oder CNRS-finanzierten Forschungen viele Studien in hybriden Forschungskontexten entstanden, die zwischen Bürokratie, Politik und Wissenschaft changierten.335 Besonders häufig gaben staatliche Akteure in den 1960er Jahren Analysen in Auftrag, die sich mit der Modernisierung der Städte und damit einem zentralen Feld sozialstaatlichen Handelns befassen sollten. Die Sanierung innerstädtischer Viertel, die Auflösung der bidonvilles und die Etablierung der neuen Großsiedlungen am Stadtrand wurden verstärkt zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen. Und während zuvor eher Hygiene und Sozialmedizin zu den Leitwissenschaften der Stadtpolitik gezählt hatten, wuchs der Einfluss von Soziologie, Sozialpsychologie und Ethnologie. Das war auch in der Bundesrepublik der Fall, wo internationale Akteure ebenfalls stark zum Ausbau eines sozialwissenschaftlichen Apparats beigetragen hatten. Zwar gab es in der westdeutschen Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg keine Stunde Null; das verdeutlichen unter anderem die Kontinuitäten zur so332 Bezes; Drouard; Masson, S. 9–12. 333 Beziehungsweise zu dieser Zeit noch: der EPHE. 334 Dazu gehörten u. a. DGRST (Délégation générale à la recherche scientifique et technique), CORDES (Comité d’organisation des recherches appliquées sur le développement éco nomique et social), CREDOC (Centre de recherche et de documentation sur la consommation). 335 Diese Struktur blieb in den 1970er Jahren einflussreich und veränderte sich zu Beginn der 1980er Jahre lediglich insofern, als der politische Sieg der Linken zwar mit einem großen Interesse für sozialwissenschaftliche Forschungen einherging, die »kritische Sozialforschung« aber im politischen Diskurs verstärkt zur Rechtfertigung der eigenen Politik herangezogen wurde. Farrugia.
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ziographischen Forschung der NS-Zeit.336 Doch gewann auch dort in den 1950er Jahren eine vor allem quantifizierende Survey-Forschung nach US-amerikanischem Vorbild an Einfluss, die von der US-amerikanischen Militärverwaltung und international operierenden Stiftungen aktiv gefördert wurde. Wie sehr dann eine neue Kultur der Expertise die Soziologisierung der gesellschaftlichen Reflexion über das Urbane beschleunigte, wird am Beispiel der städtischen Obdachlosenpolitik gut deutlich. Wie gezeigt, erbaten sich die Mitglieder städtischer Verwaltungen Ende der 1960er Jahre zunehmend routiniert wissenschaftliche Studien, um auf diese Weise eine Grundlage für politische Entscheidungen und administrative Praktiken zu erhalten. Während der Deutsche Städtetag sich noch Ende der 1950er Jahre an Befragungen per Mitglieder-Rundbrief versucht hatte, war es um 1970 gängige Praxis geworden, Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler mit Analysen zu beauftragen. Dass der Städtetag Anfang der 1970er die Gründung des Deutschen Instituts für Urbanistik lancierte, ist ein weiteres Beispiel für die gewachsene Bedeutung einer wissenschaftsbasierten Stadtpolitik.337 Allgemein gesprochen wuchs im Rahmen der sich ausdifferenzierenden westeuropäischen Sozialstaaten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Nachfrage nach Wissen über Gesellschaft. Und die zumindest für einen gewissen Zeitraum veränderten Semantiken und Praktiken im Umgang mit Wohnungslosen zeugen davon, dass diese in der Regel soziologische Expertise Effekte zeigte. c) Von der Disziplinierung zur Aktivierung? Die Situation von Obdachlosen oder mal-logés stellte damit um 1970 maßgeblich deswegen ein wachsendes Forschungs- und Interventionsfeld dar, weil sich darin die Interessen unterschiedlicher Akteursgruppen trafen: die Interessen der kommunalen Sozialverwaltungen im westdeutschen, der ministerialen Auto ritäten im französischen Fall, die auf der Suche nach Lösungen für ein wachsendes soziales Problem waren; die Interessen translokal agierender Initiativen und Sozialarbeiter, die an der Erprobung neuer Methoden der sozialen Arbeit 336 Gerhardt; Weischer; Klingemann. 337 Die Gründung des Deutschen Instituts für Urbanistik 1973 ging auf eine Initiative des Deutschen Städtetags zurück. Ihm vorangegangen war ein 1965 im Berliner Ernst-ReuterHaus etabliertes kommunalwissenschaftliches Institut, das wiederum von einem auf die Initiative des DST hin gegründeten Verein zur Pflege kommunalwissenschaftlicher Aufgaben e. V. (ab 1963 Verein für Kommunalwissenschaften) betrieben wurde, der auch die Herausgabe der Zeitschrift »Archiv für Kommunalwissenschaften« verantwortete. Der Verein richtete ab 1963 im Ernst-Reuter-Haus verschiedene Forschungsstellen ein, die wiederum 1966 im Kommunalwissenschaftlichen Forschungszentrum (KWFZ) zusammengeführt wurden. Das KWFZ ging dann in dem 1973 gegründeten Deutschen Institut für Urbanistik auf. Deutsches Institut für Urbanistik, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 12 (1973), S. 165–166.
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interessiert waren; sowie schließlich die Interessen einer neuen Generation von Sozialwissenschaftlern, die Ende der 1960er Jahre zu promovieren begannen und für die sich über die Forschungsaufträge der Kommunen neue Möglichkeiten der finanzierten Forschung eröffneten. Sie fanden in der Auseinandersetzung mit Marginalität und Stigmatisierung ein Themenfeld, zu dem in den USA bereits ein Forschungskorpus bestand und das zugleich öffentliche Aufmerksamkeit versprach. Deutlich schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Effekten dieser neuen Kultur der Expertise. Dass sich im westdeutschen Fall in einer Stadt wie Mannheim die administrativen Praktiken und die Sprache, mit der über Wohnungslose gesprochen wurde, in direkter Auseinandersetzung mit einer Auftragsstudie wandelten, spricht in jedem Fall dafür, dass die sozialwissenschaftliche Forschung semantische und politische Effekte zeitigte. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass sich die Bundesregierung bei ihrer Formulierung politischer Programme vermehrt des Begriffs der Randständigkeit bediente. Hinzu kommt, dass einzelne Städte das 3-Stufen-System um 1970 wieder abschafften und in zahlreichen großstädtischen Obdachlosensiedlungen mit neuen Formen der »aktivierenden Sozialarbeit« experimentiert wurde, die darauf abzielten, den Betroffenen die Möglichkeit zur Selbstreflexion und Artikulation der eigenen Bedürfnisse zu geben. Stark von dem Glauben an das Gespräch in der Gruppe als Mittel der Problemlösung getragen, setzte diese Arbeit zur Eindämmung sozialer Benachteiligung auf mehr politische Teilhabe und die Selbstaktivierung der Betroffenen.338 Diese veränderte Praxis deutet auf einen schrittweisen Abschied von sozialtechnokratischen Vorstellungen hin. Soziale Wohnprobleme sollten nicht mehr in erster Linie über eine Ordnung des Raums gelöst werden, sondern über pädagogische Maßnahmen, Kommunikation und Partizipation. Dennoch verschwanden die ursprünglich mit einem isolierenden und erzieherischen Impetus erbauten Siedlungen in beiden Ländern kaum unmittelbar. Cités de transit gab es in Frankreich auch Anfang der 1980er Jahre noch, und sie hatten einen ausgesprochen schlechten Ruf.339 Allerdings sank die Zahl der dort Untergebrachten im Laufe der 1970er Jahre, ebenso wie im westdeutschen Fall die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner kommunaler Obdachlosenunterkünfte sank. Unter Umständen war das aber darauf zurückzuführen, dass in beiden Ländern Anfang der 1970er Jahre der Mangel an Wohnraum stark zurückgegangen war. 1974 entsprach die Gesamtzahl der Haushalte in Westdeutschland zum ersten Mal seit dem Krieg der Anzahl an verfügbaren Wohnungen, wenngleich mit lokalen Schwankungen.340 Gleiches galt für Frankreich. Während die ersten Familien bereits wieder aus den neu erbauten Sozialwohnungen auszogen, ver-
338 Zum Verhältnis von sozialer Arbeit und linksalternativem Milieu generell siehe Steinacker. 339 Láe u. Murard. 340 Beyme, S. 126; Kühne-Büning u. a., S. 153–232.
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fügten die Verwaltungen über mehr freie Wohnungen, in die sie schlecht Untergebrachte oder Wohnungslose umsetzen konnten. Dennoch lässt die im westdeutschen Fall zeitweise verbreitete Forderung nach »Aktivierung« (ebenso wie die im französischen Fall dezidierte Kritik an Praktiken der Separierung und Disziplinierung) aufhorchen. Schließlich wird in aktuellen Analysen des »flexiblen Kapitalismus« die Forderung nach einer »Aktivierung« der oder des Einzelnen gerne als Ausdruck einer neuen, postfordistischen Arbeits- und Gesellschaftsordnung angeführt, die wiederum von umfassenden Verschiebungen in den Sozialpolitiken begleitet wird. Das sich stets selbstoptimierende, aktive und aktivierte »unternehmerische Selbst« ist demnach zu einer neuen Leitfigur aktueller sozialstaatlicher Arrangements geworden. Ihr Aufstieg hängt damit zusammen, dass sich Arbeitsverhältnisse zunehmend von Fabrik und Betrieb gelöst und prekärer geworden sind und unter dem Vorzeichen von sowohl Selbstverwirklichung als auch Wettbewerb stehen. Um was es geht, ist das Individuum als ökonomische Institution, das in allen Lebensbereichen den Regeln des Wettbewerbs und der Vermarktlichung ausgesetzt ist.341 Für »genormte und normalisierte Disziplinarsubjekte« sei »in der verallgemeinerten Wettbewerbsgesellschaft kein Platz«, erklärt der Soziologe Ulrich Bröckling.342 Ständig mit Feedback, mit der Einschätzung der eigenen Leistungen konfrontiert, ist der oder die Einzelne beständig dazu aufgefordert zu lernen, sich zu verändern, an den Markt abzupassen und zu optimieren.343 Diese umfassende Ökonomisierung ist in der »verallgemeinerten Wettbewerbsgesellschaft« eng mit einem Wandel in den sozialstaatlichen Arrangements verschränkt: Der sorgende Staat weicht im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert einem aktivierenden Staat, der auf die Selbstsorge, Eigenverantwortung und Initiative der Individuen setzt.344 Dass die Leitforderung nach Selbstoptimierung und Aktivierung sich nicht grundsätzlich in Opposition zu gesellschaftskritischen Positionen, sondern sich – zumindest teilweise – durch die Aneignung und Umformung kapitalismuskritischer Positionen entwickelte, ist in diesem Zusammenhang, in der Regel unter Verweis auf Luc Boltanski und Eve Chiapello, wiederholt behauptet worden.345 Bleibt die Frage, ob die vor allem im linken Milieu formulierte Kritik an disziplinierend-isolierenden Techniken sowie die in diesem Umfeld etablierten
341 Bröckling. Die neoliberale Re-formierung der Gesellschaft gehe mit einer »Verallgemeinerung der Unternehmensform« einher, schreibt Foucault. Foucault, Geschichte, S. 333 f. 342 Bröckling. 343 Gilles Deleuze hat die Ausbreitung dieses Zusammenhangs als den einer »Kontrollgesellschaft« beschrieben, in der »man nie mit irgend etwas fertig« werde. Deleuze, S. 257. 344 Lessenich, S. 82. Sozialstaatliche Institutionen würden zu »Ermöglichungsagenturen aktiver Eigenverantwortung«. 345 Allerdings geht es den beiden dabei in erster Linie um die Übernahme einer Künstlerkritik in den Managementdiskurs der 1990er Jahre und weniger um den Einfluss oder die Anverwandlung einer kapitalismuskritischen Sozialkritik. Boltanski u. Chiapello.
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aktivierenden Praktiken im Umgang mit Wohnungslosen sich sinnvoll in eine Vorgeschichte aktueller sozialstaatlicher Aktivierungsregime einordnen lassen. Im Falle der westdeutschen Obdachlosensiedlungen und französischen bidonvilles trug eine Allianz aus Aktivistinnen, Aktivisten und Forschenden Anfang der 1970er Jahre an die dort Untergebrachten verstärkt die Forderung heran, aktiv zu werden, sich selbst zu befragen, zu organisieren und zu ermächtigen, um auf diese Weise die eigenen Belange politisch besser vertreten zu können. Diese in lokalen Initiativen erarbeiteten Prinzipien der Selbstermächtigung gingen wiederum schrittweise in kommunalpolitische Maßnahmenkataloge über; sie wurden Teil des sozialstaatlichen Sets an Praktiken zur Regierung der Wohnbevölkerung in den 1970er Jahren. Als Vorläufer einer neoliberalen Zurichtung des unternehmerischen Selbst im auslaufenden 20. Jahrhundert können sie dennoch nicht gelten. Auch, weil sie sich gerade nicht an das Individuum richteten, sondern den Einzelnen oder die Einzelne jeweils als Teil einer Community oder Gruppe – der Obdachlosen oder der Randständigen – ansprachen. Der Aufruf zur Aktivierung der Wohnungslosen adressierte weniger das Individuum als eine Gruppe, die sich um Formierung und Anerkennung bemühen sollte. Vor allem aber war das Ziel dieser Praktiken nicht die Herstellung ökonomischer Leistungsfähigkeit und die Herstellung eines marktfähigen Subjekts, sondern das Ziel war die Herstellung politik- und gesellschaftsfähiger Bewohnerinnen und Bewohner. Gepaart mit dem Abschied von separierenden, isolierenden Unterkünften sollte deren Selbstreflexion und -artikulation in erster Linie ihrer besseren Inklusion in die städtische Gesellschaft dienen. Auch ersetzte im Umgang mit urbaner Wohnungsnot die (soziologische und pädagogische) Formation der Aktivierung und Arbeit an sozialen Beziehungen die der Separierung und Disziplinierung nicht dauerhaft. Am ehesten lässt sich das Verhältnis beider als das einer (zeitweisen) hegemonialen Verschiebung beschreiben.
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3. Isoliert am Stadtrand. Großsiedlungen und der wehmütige Abschied von der Klassengesellschaft 3.1 Topographien der Kälte oder die Genese der Großsiedlung als urbane Problemzone Hans R.: »Also, Bereitschaft zur Solidarität is schon irgendwie da. Aber die haben eben alle Angst. Horst L.: »Wovor eigentlich, vor sich selbst? Ich meine, stell Dir mal vor, wenn Du mit Muttern oben bumst, dann liege ich nur janze zwei Meter unter Dir. Meene Gören liegen zehn Meter weit weg. Und das is alles, wat ick von Dir wees und wat Du von mir weest. Und so is dit im janzen Haus. Logisch. […] Das einzigste, wo man sich ja mal trifft, is der Fahrstuhl. Wenn’s hoch kommt, dann sagste vielleicht mal ›Juten Morgen‹, und dann weeste nicht, wo de hingucken sollst. Anstatt dass man mal miteinander redet. Das is doch Käse.« Dialog aus dem Film Der Lange Jammer (BRD, Dokumentarischer Spielfilm, 1973) »So ist auch Der Lange Jammer organisiert, ein Film, mit dem Max D. Willutzki und Bewohner des Märkischen Viertels von Berlin in einer Mischung aus Dokumentarund Spielfilm die mühselige Arbeit der Solidarisierung von Mietern schildern, deren Vereinzelung in den überdimensionierten Komplexen des sozialen Wohnungsbaus geradezu einbetoniert ist.« P. W. Jansen, Manipulierte Utopie, in: Die Zeit, 19.10.1973
»Langer Jammer«, so bezeichnen die Bewohnerinnen und Bewohner den größten Wohnkomplex im Märkischen Viertel, einer von Hochhäusern dominierten Großsiedlung, die zwischen 1963 und 1974 am nordöstlichen Stadtrand von Westberlin erbaut wurde. Das Viertel galt, noch bevor es fertig gestellt war, weit über Berlins Grenzen hinaus als Problemviertel. Das Wochenmagazin »Der Spiegel« charakterisierte die Siedlung 1968 als »Slum vom Reißbrett«. Die Wochenzeitung »Die Zeit« schrieb 1970, es handele sich um einen »gesellschaftlichen Schuttabladeplatz«, und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« kritisierte, es seien dort 30.000 Menschen »in Betontürmen von trister Eintönigkeit zusam135
mengepfercht«.1 Nachdem die Großsiedlung einige Jahre zuvor noch als Stadt der Zukunft gepriesen wurde, verfügte sie Ende der 1960er Jahre über ein denkbar schlechtes Image. Befürworter wie Kritiker sahen darin nicht nur eine konsequente Umsetzung moderner Städtebauideen, sondern das Viertel galt vielen auch als typische Lebensumgebung einer sozialen Gruppe, die die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wahlweise als »sozial Schwache« oder »Problemfamilien« bezeichneten.2 Und das, obwohl die Großsiedlung dezidiert als sozial durchmischte Siedlung für die »breite Bevölkerung« geplant worden war. Ein Einzelfall war das nur bedingt. Zwar zog das Märkische Viertel besonders früh und intensiv die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, doch war dessen Darstellung als urbane Problemzone eng verknüpft mit einer insgesamt wachsenden Kritik am modernen Wohnungsbau. Selbst Inbegriff des modernen Massenwohnens, gerieten randstädtische Großsiedlungen wie das Märkische Viertel im Laufe der 1960er und 1970er Jahre zunehmend in Verruf, und zwar in Westdeutschland ebenso wie in Frankreich. In der öffentlichen Wahrnehmung wechselte ihr Status binnen weniger Jahre von positiv zu negativ. In einer Zeit, in der der Anspruch auf Individualität gegenüber dem Standardisierten und Kollektiven an Bedeutung gewann, verschob sich offenbar die Haltung zum modernen Massenwohnen.3 Eben noch Inbegriff für Fortschritt und Komfort, waren die Großsiedlungen kurz darauf zu Räumen der Entfremdung, Isolation und sozialen Randständigkeit geworden. Ubiquitär oder unausweichlich war diese Entwicklung nicht. Schließlich behielt der moderne Massenwohnungsbau in anderen Gesellschaften sein soziales Prestige dauerhaft. In der DDR etwa wurden die Plattenbausiedlungen am Stadtrand zwar mitunter auch als grau und anonym kritisiert, doch genossen sie einen deutlich höheren sozialen Status.4 Die Nachfrage nach den dortigen Wohnungen, die gegenüber nicht sanierten Altbauten einen überdurchschnitt
1 Westberlin. Slums verschoben, in: Spiegel, 09.09.1968; Gescheiterte Aktion, in: Spiegel, 14.12.1970; Wir wollen Blumen und Märchen bauen, in: Spiegel, 14.02.1972; Eine Initiative im Berliner Märkischen Viertel. Glatte Bauchlandung, in: Zeit, 11.12.1970; Mit Pauken und Trompeten durchgefallen, in: FAZ, 04.10.1969. 2 Siehe zum Folgenden auch: Reinecke, Am Rande; dies., Laboratorien. 3 Pascal Eitler und Jens Elberfeld kritisieren berechtigterweise, dass der Prozess der »Individualisierung« in der Zeitgeschichte gerne etwas vereinfachend mit einem Zugewinn an Freiheiten und einer Pluralisierung der Lebensstile assoziiert wird; sie schreiben hingegen: »Was sich gerade auch für die 1960er und 1970er Jahre historisch rekonstruieren lässt, ist nicht ein sukzessiver Anstieg von Individualität, sondern ein massenhaft auftretender, öffentlich vermittelter, zweifelsfrei wachsender, aber doch stets phantastischer Anspruch auf Individualität«. Eitler u. Elberfeld, Von der Gesellschaftsgeschichte, S. 17. Zur zeithistorischen Historisierung von Individualität und Individualisierung siehe auch Wirsching, Konsum. 4 Dass die Architektin Franziska Linkerhand, die Hauptfigur des 1974 in der DDR veröffentlichten Romans von Brigitte Reimann, die von ihr miterbaute Plattenbausiedlung Neustadt wiederholt als toten, tristen Blockbau kritisiert, entspricht einer durchaus gängigen Kritik. Reimann.
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lichen Wohnstandard versprachen, war auch in den 1980er Jahren noch hoch. Das Gleiche galt für die Wohnzufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner.5 Im Vergleich zu Westdeutschland lebte Ende der 1980er Jahre ein deutlich höherer Anteil der DDR-Bevölkerung in Neubausiedlungen.6 Der soziale Abstieg der Großsiedlungen und die damit verknüpften sozialen Entmischungsprozesse setzten dort erst mit der Wende ein.7 Umso erklärungsbedürftiger sind die Parallelen in der französischen und westdeutschen Entwicklung.8 Denn zu mindest auf den ersten Blick bestimmten in beiden Ländern ganz ähnliche Topoi der Anonymität und Trostlosigkeit die medial und wissenschaftlich generierten Repräsentationen der Siedlungen. Sie führten in beiden Fällen dazu, dass spätestens in den 1970er Jahren immer mehr Mittelschichtshaushalte aus den Hochhaussiedlungen wieder auszogen und die sozialen Probleme vor Ort sich verstärkten. In beiden Ländern waren die Großsiedlungen Arenen des Sozialen Wohnungsbaus. Zwar waren nicht alle der in den Großsiedlungen entstehenden Wohnungen öffentlich gefördert, umgekehrt lagen nicht alle Sozialwohnungen in Großsiedlungen, aber doch ein beträchtlicher Teil: In der Bundesrepublik stieg die Zahl der im Sozialen Wohnungsbau geförderten Wohnungen zwischen 1950 und 1975 von 319.000 auf 6,6 Millionen.9 In dieser Zeit entstanden in den Großsiedlungen zwischen 500.000 und 600.000 neue Wohnungen. Den Großteil dieses Bestandes (89 %) machten Mietwohnungen aus, von denen wiederum 87 % mit öffentlichen Mitteln geförderten wurden.10 Auch in Frankreich machten öffentlich geförderte Wohnungen, vor allem sogenannte habitation à loyer modéré (HLM), einen Großteil des Wohnungsbestands der neuen Stadtrandsiedlungen aus. Zwischen 1945 und 1975 vergrößerte sich die Zahl der Sozialwohnungen in Frankreich von 500.000 auf 3 Millionen,11 und von diesen öffentlich geförderten Wohnungen befand sich ungefähr ein Drittel in den neuen Großsiedlungen.12 5 Hannemann, S. 132 f. 6 Rubin schätzt, dass 1989 in der DDR 1,57 Millionen Menschen in Großsiedlungen lebten, die 25.000 Menschen und mehr umfassten bzw., dass 4,65 Millionen Menschen in »pre fabricated housing settlements« wohnten, und damit 28 % der damaligen Gesamtbevölkerung. Rubin. In der Bundesrepublik lebten zeitgleich etwa 2 Millionen Menschen in Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre, also etwa 3 % der Gesamtbevölkerung. 7 Zur Entwicklung der Großsiedlungen in der DDR siehe Hannemann, Keller, Rubin, sowie aus eher stadtplanerischer Perspektive Braun. Für eine vergleichende Sicht auf den sozialistischen Städtebau siehe zudem die Beiträge in Moravánszky. 8 Vgl. auch Urban, S. 51. Urban hebt in seiner vergleichenden Studie allerdings hervor, dass der moderne Massenwohnungsbau in einigen Ländern sein ursprüngliches Prestige gerade nicht verlor. Für eine globalgeschichtlich-vergleichende Perspektive auf die Geschichte moderner Hochhaussiedlungen siehe zudem Dufaux u. Fourcaut. 9 Beyme, S. 128. 10 Schmidt-Bartel u. Meuter, S. 5. 11 Tellier, S. 14. 12 1965 wohnten etwa 2 % der französischen Bevölkerung in Großsiedlungen. Zancarini-Fournel u. Delacroix, S. 145.
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Es ist bemerkenswert und auf den ersten Blick überhaupt nicht selbstverständlich, warum der moderne Soziale Wohnungsbau in Frankreich und Westdeutschland in vergleichsweise kurzer Zeit in die Kritik geriet. Die neuen Großsiedlungen waren, zumal angesichts des verbreiteten Wohnungsmangels, doch eigentlich die Räume, in denen das Versprechen auf Aufstieg und modernen Konsum für alle sich verwirklichte. Sie galten als Labore einer im Komfort geeinten Mittelschichtsgesellschaft und als Insignien einer mit Hilfe des Sozialstaates überwundenen Wohnungsnot. Von der Peripherie des städtischen Wohnens, von den Barackenlagern und Obdachlosensiedlungen aus betrachtet, erschienen die neuen Wohnungen am Stadtrand als das Wohlstandsversprechen schlechthin. Auch bedeutete der Umzug in die modernen Siedlungen für den Großteil der neuen Bewohnerinnen und Bewohner tatsächlich eine Verbesserung: Die Wohnungen waren im Schnitt größer und besser ausgestattet und angesichts des herrschenden Wohnungsmangels waren viele dankbar dafür, überhaupt Zugang zu einer neuen Wohnung zu erhalten. Sicher, einmal vor Ort, traten die infrastrukturellen Mängel vieler Siedlungen und die damit verbundenen Einschränkungen im Alltag deutlicher zu Tage. Dennoch bleibt erklärungsbedürftig, warum die Großsiedlungen vergleichsweise schnell als unbehagliche Räume der sozialen Kälte und bald auch: des sozialen Abstiegs gehandelt wurden. Tatsächlich entwickelten sich die Großsiedlungen in den Augen der Zeit genossinnen und Zeitgenossen nicht nur deswegen zu problematischen Räumen, weil ihnen deren Architektur nicht behagte, sondern auch, weil das sozial durchmischte Massenwohnen für einige finanzielle Probleme mit sich brachte – und eigene Verunsicherungen im Hinblick auf etablierte Formen der sozialen Grenzziehung im urbanen Raum. Dass »die Arbeiter« nicht mehr in dichten innerstädtischen Arbeiterquartieren anzutreffen waren und sich das »proletarische« immer weniger vom »bürgerlichen« Wohnen unterschied, war zwar aus Sicht der Planenden ein dezidiertes Ziel des Großsiedlungsbaus, bedeutete für eine Reihe anderer Akteure aber eine erhebliche Herausforderung.13 Ähnliches galt für die Tatsache, dass sich mit der Verlagerung des urbanen Wohnens an den Stadtrand das (traditionell klassenspezifische und gegenderte) Verhältnis von Arbeiten und Wohnen, öffentlicher und privater Sphäre verschob und damit das etablierte Verständnis von Klasse, Familie und Geschlecht gleich doppelt in Frage stand. Das war umso mehr der Fall, als die funktionale Umgestaltung der Städte im Namen der Moderne mit einer erheblichen räumlichen Mobilisierung der Wohnbevölkerung einherging, die nicht nur in Folge des Kriegs, sondern dann auch in Folge umfassender Sanierungs- und Neubauprojekte zum Umzug gezwungen war. Die westeuropäischen Stadtgesellschaften waren in doppelter Hinsicht Gesellschaften in Bewegung. Vor diesem Hintergrund ist wenig überraschend, dass die Nachfrage nach sozialwissenschaftlichem Reflexionswissen 13 Zum Ideal der sozialen Durchmischung im Zusammenhang mit den Großsiedlungen vgl. für Frankreich u. a. Oblet, S. 135 f.
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dort exponentiell wuchs. Ebenso wenig überraschend ist, dass im Zusammenhang mit den neuen Großsiedlungen das für die Moderne kennzeichnende Spannungsverhältnis zwischen überzeitlicher, lokaler Gemeinschaft und dynamischer, großräumiger Gesellschaft, zwischen der Sehnsucht nach Zugehörigkeit einerseits und Individualisierung und Pluralisierung andererseits in den Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung rückte. Anders als im britischen Fall wird gemeinhin sowohl für die französische als auch für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft angenommen, dass die Sehnsucht nach lokal verhafteten Gemeinschaften dort auf Misstrauen stieß: im französischen Fall, weil das republikanische Nationsverständnis zwischen Individuum und Staat keine Zwischeninstanz duldete. Im westdeutschen Fall, weil im Nachzug der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftspolitik dem Gemeinschaftsbegriff der Ruch des Gefährlichen anhing.14 Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit den Großsiedlungen legt dennoch in beiden Fällen nahe, dass die Umgestaltung der Wohnumgebung im Namen der funktionalen Moderne von einer erheblichen Sehnsucht nach Lokalität, Solidarität und Gemeinschaft begleitet war; eine Sehnsucht, die im Übrigen nicht auf ein spezifisches Milieu beschränkt blieb. Die Beschwörung der kalten Siedlungen am Stadtrand ging Hand in Hand mit einer Aktivierung von Semantiken der Wärme, Solidarität und Nachbarschaftlichkeit, die weit über linke oder alternative Kreise hinausreichte und die auch nicht erst in den 1970er Jahren einsetzte.15 Diesen Prozess beschreibt das vorliegende Kapitel, verbunden mit dem Argument, dass das Unbehagen am modernisierten Stadtrand unter anderem eine Reaktion auf eine erhebliche Dynamisierung der sozialen Verhältnisse seit den 1950er Jahren darstellte. Die staatlich angeleitete Modernisierung der Städte ging mit einer Krise der etablierten sozialen Grenzziehungen entlang von Klasse und Gender einher; eine Krise, die die Entwicklung der randstädtischen Großsiedlungen prägte. Das ist die Ausgangsthese. Denn selbst wenn die Zeitgenossen den erweiterten Zugang zu Massenkonsum und modernem Wohnen sowie die Egalisierung des sozialen Umgangs über Klassen- und Geschlechtergrenzen hinweg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mehrheitlich begrüßten, bedeuteten diese Entwicklungen dennoch eine erhebliche Umstellung in der Art, sich selbst und andere sozial einzuordnen und sich ihnen gegenüber zu verhalten.16 Das galt auch für die unterschiedlichen Beobachter des Sozialen. Eben weil sich soziale und kulturelle Unterschiede verfeinerten und weniger unmittelbar über das jeweilige Wohn14 Siehe zu Frankreich u. a. die Auseinandersetzung bei Dikeç. Zu (West)deutschland siehe Gertenbach u. a., S. 10, 53. 15 Zur »allgemeinen Renaissance der Gemeinschaftsidee« im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert siehe, speziell mit Blick auf das alternative Milieu in Westdeutschland, die Überlegungen bei Reichardt; sowie allgemein ideengeschichtlich: Gertenbach u. a. 16 Dass der soziale Umgang zwischen Klassen, Schichten, Geschlechtern oder Generationen während der ersten Nachkriegsjahrzehnte »egalitärer« geworden sei, ist verschiedentlich konstatiert worden. Siehe etwa Nolte, Die Ordnung, S. 405.
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viertel, die Lage der Wohnung oder die Kleidung sicht- und lesbar wurden,17 erforderten die vertrauten Praktiken der Beschreibung sozialer Unterschiede eine Neujustierung. Hinzu kam, dass es ein Spannungsverhältnis gab zwischen dem Selbstbild der westeuropäischen Gesellschaften als Wohlstandsgesellschaften, in denen ein rasch wachsender Anteil der Bevölkerung sich selbst der Mittelschicht zuordnete – und den weiterhin durchaus ausgeprägten wirtschaftlichen Unterschieden. Dieses Spannungsverhältnis wurde im Zusammenhang mit den Großsiedlungen besonders offenkundig, die zwar offiziell für eine »breite Bevölkerung« gedacht waren, finanziell aber de facto nicht für alle gleichermaßen erschwinglich waren. Die Auseinandersetzung mit den Großsiedlungen als den damaligen prime locations der Produktion von Wissen über Gesellschaft eröffnet daher neue Perspektiven auf die Herausbildung der westlichen Massenkonsumgesellschaften und ihre inneren Trennlinien. Dass deren Aushandlung einen keineswegs spannungsfreien Prozess darstellte, hat in den aufstiegsorientierten Erzählungen der glorreichen Wirtschaftswunderjahre bisher zu wenig Beachtung gefunden, und die vorliegende Analyse möchte zu einer Nuancierung dieser Erzählungen beitragen.18 Die Geschichte der in Misskredit geratenen urbanen Moderne siedelt die historische Forschung bisher am Schnittpunkt zweier Entwicklungen an: der Ablösung einer sozialtechnokratischen »organisierten Moderne« seit den 1960er Jahren auf der einen und der ökonomischen Transformationen der post-1970er Jahre auf der anderen Seite.19 Vor allem in Frankreich ist die Geschichte des 17 Schildt, Sozialgeschichte, S. 32 f. 18 Das gilt in gewisser Weise für den westdeutschen Fall noch mehr als für den französischen. Zwar wird in der Historiographie zur Bundesrepublik wiederholt darauf hingewiesen, dass die Unterschiede in den Lebensbedingungen auch um 1960 noch eklatant waren, doch wird stets hervorgehoben, dass die Zeitgenossen sie im Vergleich zu den 1920er Jahren als weniger gravierend wahrnahmen. Wehler, Bundesrepublik, S. 119–24, 207 ff.; Wirsching, Deutsche Geschichte, S. 101; Herbert, Deutsche Geschichte, S. 682–690, 787 f. Das stimmt, allgemein gesprochen, übersieht aber, dass die grundlegenden Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der 1950er und 1960er Jahre sowie das gewandelte Leitbild der sozialen Ordnung von den zeitgenössischen Akteuren neue Praktiken der gesellschaftlichen Selbstverortung erforderten. In der Sozialgeschichte ist durchaus auf das Spannungsverhältnis hingewiesen worden zwischen einem hohen Anteil der Bevölkerung, der sich einer imaginären Mittelschicht zugehörig fühlte, und dem Fortbestand sozialer Ungleichheitsverhältnisse, der wiederum an einer Ungleichverteilung der Vermögen gemessen wird. Schildt, Sozialgeschichte, S. 32 f. Doch wird meist betont, dass der Fortbestand von Ungleichheitsverhältnissen kaum wahrgenommen worden sei, weil »die gesamte Gesellschaft auf einer höheren Stufe, in einem neuen und bisher ungekannten Wohlstand, angekommen war.« Im französischen Fall haben allerdings die Ungleichheiten im urbanen Wohnen, die in den 1950er und 1960er Jahren entstanden, stärker Beachtung gefunden. Siehe u. a. Blanc-Chaléard; Barou; Fourcaut u. Voldman. 19 Für eine an Peter Wagner und Andreas Reckwitz orientierte Periodisierung der europäischen Stadtgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert entlang der Entstehung einer »organisierten Moderne« und ihrer Ablösung seit den 1960er/70er Jahren siehe auch Lenger, v. a. S. 12 ff.
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modernen Massenwohnens als Geschichte des Staates und einer von staatlichen Eliten getragenen technokratischen und konsumgesellschaftlichen Agenda erzählt worden, die in den 1950er bis 1970er Jahren ihre Hochphase erlebte, deren Scheitern dann aber immer offenkundiger wurde und in einen Umbau der bisherigen Wohnungspolitik mündete.20 Vom aktuellen Interesse an der Krise der banlieues getragen, hat sich die französische Forschung in diesem Zusammenhang in erster Linie mit der Geschichte der Großsiedlungen und deutlich weniger mit der Modernisierung innerstädtischer Viertel befasst. Die jüngere deutsche Zeitgeschichte interessiert sich dagegen vornehmlich für die innerstädtischen Sanierungsgebiete und die Hausbesetzungen und Proteste der 1970er und 1980er Jahre.21 Das Stadtrandwohnen seit den 1950er Jahren ist dort insgesamt schlechter erforscht.22 Doch gilt auch hier, dass ein Großteil der vorhandenen Studien zur städtischen Modernisierung sich auf einen Wandel der staatlichen Planungspolitiken konzentriert, vor allem unter dem Einfluss der neuen sozialen Bewegungen.23 In Westdeutschland ebenso wie in Frankreich verband sich dabei mit dem modernen Massenwohnen für die »breite Bevölkerung« zunächst das Ideal einer sozialen Durchmischung und Annäherung der städtischen Bevölkerung.24 Stets in Abgrenzung von traditionellen Arbeiter- und Armutsvierteln, von deren Enge, schlechter Bausubstanz und Düsternis, geplant, sollten die neuen Quartiere am Stadtrand ein Wohnen im Grünen ermöglichen, in hellen und weiträumigen Wohnungen und einer gesunden Umgebung. Darüber hinaus sollten ein breit gefächertes Wohnungsangebot und, vor allem im deutschen Fall, die Kombination von Hochhäusern, hochgeschossigen Siedlungsbauten und Einfamilienhäusern dazu beitragen, die neuen Viertel für unterschiedliche Familiengrößen und Budgets attraktiv zu machen. In gewisser Weise war diese Gestaltung selbst das Ergebnis früherer Reformbemühungen. Neu waren schließlich weder der Massenwohnungsbau noch die 20 Zur Geschichte des Sozialen Wohnungsbaus der 1950er bis 1970er Jahre siehe Tellier. Zur Etablierung eines modernen Stadtplanungsregimes »von oben« im Frankreich der Nachkriegszeit siehe auch Newsome, French Urban Planning. Zur Geschichte der französischen Stadtpolitik vgl. Oblet; Bachmann u. LeGuennec. 21 Zu Hausbesetzungen und den alternativen Wohnungspraktiken der Neuen Linken in Berlin siehe Vasudevan; MacDougall; sowie allgemein zu Westdeutschland Reichardt, S. 498–571. Für eine stärker mit Verschiebungen im Mietmarkt und der Immobilienspekulation verknüpfte Analyse von Hausbesetzungen und urbanen Protesten siehe Führer, Die Stadt, v. a. Teil II. 22 Für eine der frühen Ausnahmen vgl. die Analysen in: Schildt u. Sywottek. 23 Dafür typisch ist der Überblick in Häußermann u. a., Stadtpolitik. Siehe zudem die Beiträge in Flagge. Zur Sozialgeschichte des urbanen Wohnens vgl. noch immer vor allem Saldern, Häuserleben; sowie für einen primär planungsgeschichtlichen Überblick zur Geschichte des Städtebaus in Deutschland Düwel u. Gutschow. isel: 24 Zum Märkischen Viertel etwa erklärte der an den Planungen beteiligte Architekt Ernst G »Die Verschiedenartigkeit der einzelnen Wohnungen erlaubt die Vermietung an sozial verschiedengestellte Bewohner«. Ernst Gisel, zitiert in: Bauwelt 1967, H. 46/47, S. 1192.
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Ende der 1960er Jahre verbreitete Kritik daran. Der umfangreiche Bau großer Mietskasernen und damit hochverdichteter Massenwohnungen in den neuen Arbeitervierteln Berlins beispielsweise hatte bereits während des Kaiserreichs massive Kritik nach sich gezogen.25 Diese Kritik ging von unterschiedlichen Akteuren aus, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts aber besonders einflussreich von Mitgliedern der bürgerlichen Reformbewegung artikuliert. Die meist aus Vorder- und Quergebäuden bestehenden und sich über mehrere Hinterhöfe erstreckenden Mietshäuser erfuhren in diesem Rahmen eine Abwertung, die durchaus Parallelen zum rasch sinkenden Ansehen der randstädtischen Großsiedlungen aufwies. Dennoch waren die Vorzeichen, unter denen sich die Kritik am modernen Massenwohnen entwickelte, andere: Die Mietskasernen, ein Produkt privater Bau- und Spekulationsgeschäfte, waren weitgehend ohne staatliche Intervention entstanden, während die Großsiedlungen ein Produkt des expandierenden Wohlfahrtsstaates der 1950er bis 1970er Jahre waren. Für den Bau der neuen Siedlungen hatte das beengte Wohnen in den unhygienischen Mietskasernen slums selbst als Negativfolie gedient; die neuen Hochhaussiedlungen am Stadtrand sollten dazu beitragen, das innerstädtische Elend früherer Zeiten durch einen modernen Komfort zu ersetzen – und taten das auch. Vor allem aber hatte sich der gesellschaftliche Kontext verändert. Zwar verbanden auch frühere Reformer wie der Berliner Stadtbaurat James Hobrecht (1825–1902) mit den Mietskasernen die Hoffnung, dass es dort im Kleinen, durch die Mischung von großzügigen Bürgertumswohnungen im Vorder- und kleineren Arbeiterwohnungen im Hinterhaus zu einer Art »friedlicher Durchdringung« der sozialen Schichten käme, die gesellschaftlich stabilisierend wirken sollte.26 Unumstritten war diese Forderung allerdings nicht, auch war sie in ihrer Wirkung begrenzt. Denn wenngleich es gerade in den größeren Berliner Etagenhäusern tatsächlich zu einer gewissen Durchmischung kam, waren die städtischen Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts deutlich stärker von Klassengrenzen und stark divergierenden Wohnverhältnissen geprägt.27 Den neuen Möglichkeiten zum repräsentativen bürgerlichen Wohnen stand in Städten wie Paris die Herausbildung von Zonen des proletarischen Wohnens gegenüber, die eher am Stadtrand gelegen und ärmlich waren.28 Nicht von ungefähr fürchteten die zeitgenössischen Kritiker daher, dass die schlechten Wohnverhältnisse in den städtischen Arbeiterquartieren sozialen Sprengstoff bargen. Die Wohnungsfrage des frühen 20. Jahrhundert war maßgeblich ein Problem der industriellen Klassengesellschaft und ihrer inneren Trennlinien. 25 Bodenschatz, Platz frei, v. a. S. 55–69. Ein besonders bekanntes Beispiel der Kritik an der Mietskasernenstadt lieferte 1930 Hegemann. 26 Bernhardt. 27 Siehe dazu Saldern, Häuserleben. 28 Küchel. Friedrich Lenger geht mit Blick auf die europäischen Städte dieser Zeit insgesamt von einem generell eher hohen Maß an sozialer Durchmischung aus. Lenger, S. 105 f.
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Die Auseinandersetzung mit den neuen Großsiedlungen der Nachkriegsjahrzehnte entwickelte sich dagegen in zwei zunehmend vermittelschichteten, vom Aufstieg geprägten Wohlstandsgesellschaften. Die Frage, wie die Großsiedlungen in diesem Kontext im Rahmen soziologischer und massenmedialer Beobachtungen und aktivistischer Interventionen als urbane Problemzonen hergestellt wurden, bildet die Ausgangsfrage des folgenden Kapitels. Die Analyse geht dazu in einem ersten Unterkapitel darauf ein, wie in der westeuropäischen Soziologie die Gegenüberstellung von (solidarischen) »traditionellen Arbeiterquartieren« und (kalten) »modernen Stadtrandsiedlungen« die Beschreibung urbaner Wandlungsprozesse zu dominieren begann. Die Untersuchung wendet sich anschließend zwei spezifischen Großsiedlungen zu und beschreibt, auf welche Weise beide zu hoch medialisierten Problemzonen wurden. Im Mittelpunkt stehen einerseits Sarcelles, eine der ersten Großsiedlungen, die in der Region von Paris ab 1955 gebaut wurden, sowie andererseits die vielfältigen (journalistischen, politischen, akademischen) Aktivitäten, die sich im Märkischen Viertel am Rande von Westberlin entwickelten. Ebenso wie ihre Planung in internationalen Zirkeln vorangetrieben wurde, entwickelte sich auch die Kritik an den randstädtischen Großsiedlungen im Austausch über nationale Grenzen hinweg. Dennoch verlief die Auseinandersetzung mit den lokalen Großbauprojekten nicht überall nach dem gleichen Schema.29 Und obwohl ihnen ähnliche Planungsideale zugrunde lagen, unterschieden sich die Siedlungen in ihrer sozialen Zusammensetzung, baulichen Struktur, ihrer Positionierung im städtischen Gefüge und ihrer Planungs- und Baugeschichte massiv. Auch zogen nicht alle in gleicher Weise die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und sowohl innerhalb der einzelnen Städte wie überregional unterschied sich ihr Image. In Frankreich und der Bundesrepublik wurden dabei sowohl Sarcelles als auch das Märkische Viertel vorübergehend zum Inbegriff der Probleme des modernen Massenwohnens. Noch bevor ihr Bau abgeschlossen war, verfügten sie zu Beginn der 1960er Jahre (Sarcelles) bzw. zu Beginn der 1970er Jahre (das Märkische Viertel) in der Öffentlichkeit über ein denkbar schlechtes Image, und beide galten vorübergehend als die urbanen Problemzonen schlechthin. Ungeachtet einer Reihe von Unterschieden entwickelte sich die öffentliche Auseinandersetzung mit den Siedlungen dabei jeweils zwischen zwei Polen: der Euphorie über die Entstehung einer neuen, modernen Gesellschaftsordnung – und der melancholischen Beschwörung einer scheinbaren Klarheit früherer sozialer Grenzziehungen und Lebenswelten.
29 Vgl. dazu auch die Beiträge in Haumann u. Wagner-Kyora, Westeuropäische Großsiedlungen.
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3.2 Von warmen Arbeiterquartieren und kalten Großsiedlungen: Die Soziologie und ihr langsamer Abschied von der Proletarität a) Kälte und Wärme, Vereinzelung und Solidarität In der zeitgenössischen Hochhauskritik wimmelte es vor Gefühlen. Die gesamte Urbanitätsdebatte der 1960er und 1970er Jahre lässt sich in weiten Teilen anhand der Gegenüberstellung von warmen, nachbarschaftlichen, irgendwie heimeligen innerstädtischen Altbauvierteln und kalten, anonymen, irgendwie abweisenden Großsiedlungen beschreiben. Wärme versus Kälte, Solidarität und Gemeinschaft versus Isolation und soziale Härte: Diese Gegenüberstellung strukturierte die Debatte um das moderne Massenwohnen. Während die Bewohnerinnen und Bewohner sich mitunter als Pioniere betrachteten, die angesichts des provisorischen Lebens auf den Großbaustellen der neuen Siedlungen zusammenhalten mussten, interessierten sich externe Beobachter meist eher für Anzeichen ihrer Vereinzelung. Wenn sie ihnen überhaupt Beachtung schenkte, hat die bisherige Forschung die gängigen Topoi der Einsamkeit und sozialen Isolation in den neuen Großsiedlungen in erster Linie als Ausdruck eines vor allem in linksalternativen Kreisen wachsenden Unbehagens am modernistischen Stadtplanungsregime interpretiert und darin den Ausdruck eines sich verändernden Leitbildes von Urbanität und Mitbestimmung gesehen.30 Doch war die Krise der Großsiedlungen mehr als nur die Krise eines spezifischen Stadtplanungsregimes. Denn in den häufigen Evokationen des anonymen Massenwohnens, dessen Kälte stets mit der Wärme innerstädtischer Altbauviertel kontrastiert wurde, drückten sich Spannungen aus, die die Herausbildung einer in ihrem Selbstbild vermittelschichteten, weniger klassenbasierten und individualisierten Wohlstands gesellschaft im Kern betrafen. In seiner Studie »Verhaltenslehren der Kälte« argumentiert der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen, dass in der Zwischenkriegszeit Intellektuelle des linken wie des rechten politischen Lagers der Instabilität der sich modernisierenden und säkularisierenden post-Kriegsgesellschaft ein Lob der Sachlichkeit, der Distanzierung und des kühlen Kopfs entgegensetzten. Sie forderten ein Verhalten der Kälte, das es ermöglichen sollte, sich in der Gesellschaft der Moderne angemessen zu bewegen.31 Sven Reichhardt hat in seiner Studie zum alternativen
30 Die Verknüpfung bestimmter Räume mit bestimmten Affekten und Emotionen wurde in den Kultur- und Sozialwissenschaften lange vernachlässigt. Für erste Überlegungen zu einer emotionsgeschichtlichen Analyse moderner Topographien, siehe Gammerl u. Herrn. Zur Kombination von stadt- und emotionsgeschichtlichen Perspektiven siehe auch Prestel; Häberlen, Feeling. 31 Lethen.
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Milieu der Bundesrepublik der 1970er Jahre dessen Hochhalten von Innerlichkeit und Nähe wiederum als eine Art Gegenbewegung zum Kältekult der Neuen Sachlichkeit beschrieben.32 Er zeichnet nach, wie Wärme und Vergemeinschaftung die Selbstbeschreibung und das Politikverständnis des linksalternativen Milieus prägten und Praktiken der Subjektivierung anleiteten. Gerechtfertigt wurde dieses Pochen auf Innerlichkeit und Solidarität dabei stets über die Abgrenzung von der »Kältemaschine« des Staates, der Bürokratisierung, Technisierung und des Massenkonsums. Auf den ersten Blick liegt es damit nahe, die Kritik an der funktionalen Moderne allein auf Leitvorstellungen des linksalternativen Milieus zurückzu führen, dessen Ablehnung des entindividualisierten Massenwohnens die Stadtplanung der 1970er und 1980er Jahre zunehmend beeinflusste.33 Doch greift eine solche Deutung zu kurz. Schließlich ging das Unbehagen am Massenwohnen in den 1960er Jahren auch von Kulturkonservativen aus, die der modernisierten Stadt das sehnsuchtsvolle Lob ihrer historischen Vorgängerin gegenüberstellten.34 Hinzu kommt, dass der Massenwohnungsbau selbst zunächst stark von sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Akteuren geprägt war. Die internationale Planungsbewegung der funktionalen Moderne war alles andere als eine Bewegung der sich selbst als politisch konservativ Verstehenden; im Gegenteil. Ebenso wenig war der Soziale Wohnungsbau der ersten Nachkriegsjahrzehnte ein primär konservatives Projekt, weder in Frankreich noch in Westdeutschland.35 Zudem war gerade in Paris die die Stadt umgebende banlieue traditionell eine Hochburg der kommunistischen Partei – und blieb es lange. Viele der dort neu entstehenden Großsiedlungen lagen in der banlieue rouge und wurden bis in die 1980er Jahre hinein von der kommunistischen Parti Communiste Français regiert.36 Gerade kommunistische Bürgermeister begrüßten den Bau von Großsiedlungen in ihren Kommunen zunächst
32 Reichardt, v. a. S. 186–203. Zu den emotionalen Praktiken in der westdeutschen alternativen Linken und deren Versuch der Abgrenzung von der kapitalistischen Gesellschaft siehe auch Häberlen u. Tändler. 33 Für diese (bei ihm anhand des Kölner Severinsviertel Anfang der 1970er Jahre ent wickelte) Deutung siehe auch Haumann, S. 191–197. 34 Vgl. etwa Siedler u. a. 35 Für Frankreich fasst Topalov die Situation wie folgt zusammen: »Though diverse reform groups and political parties supported urban renewal programs, on the whole it was the political left that stood solidly behind them in the 1950s and 1960s.« Topalov, »Traditional Working-Class Neighborhoods«, S. 232. Siehe dazu auch Magri. Bodenschatz spricht gar von einem »sozialdemokratischen Stadtentwicklungstyp«, den er durch die Produktion von neuen Massenwohnungen durch gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften ebenso gekennzeichnet sah wie durch die Beseitigung von Wohnungsbeständen durch die öffentliche Hand, die er als Produkte eines früheren, stärker durch private Investoren geprägten »liberalistischen Stadtentwicklungstyps« beschreibt. Bodenschatz, Platz frei, S. 259. 36 Zur Geschichte der banlieue rouge siehe die mittlerweile klassische Analyse von Fourcaut, Bobigny, banlieue.
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enthusiastisch.37 Der Aufruf zu Solidarität und Nachbarschaftlichkeit in den neuen Hochhausblöcken entsprach in diesen Zirkeln einer Strategie der Politisierung vor allem jener Bewohner, die aus den traditionellen Arbeiterquartieren an den Stadtrand umgesetzt wurden. Dennoch beschränkte sich der Appell an mehr Wärme und Gemeinschaftlichkeit im urbanen Zusammenleben, den die Kritiker dem kalten Massenwohnen entgegenhielten, nicht auf die alte oder neue Linke, sie ging klar darüber hinaus. Das zeigt sowohl die nostalgische Beschwörung der verlorenen Wärme innerstädtischer Arbeiterquartiere als auch die zunehmend verbreitete Warnung vor einer neuen sozialen Kälte der modernisierten Stadt.38 b) Beschwörungen eines verschwindenden Milieus: Das »traditionelle Arbeiterquartier« »René Range ist Bankangestellter«, erklärt der Kommentator, während die Kamera über die reparaturbedürftigen Dächer einer Reihe mehrgeschossiger Altbauten schwenkt.39 Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter wohne er im dritten Arrondissement, in einer Dachwohnung mit feuchten Wänden. Allerdings sei die Familie Range dabei wegzugehen: »Sie werden Paris verlassen.« Das Gleiche gelte für Maurice Bonmot, einen Industriemeister, der im 13. Arron dissement in einem sogenannten Slum wohnte. Auch er gehe aus Paris fort, ebenso wie Raymond Le Vavasseur, der als Facharbeiter bei Citroën arbeite und mit seiner Frau und seinen zwei Kindern knapp außerhalb der Kernstadt wohne. Alle drei Familien zögen in eine gerade fertig gestellte Neubausiedlung namens La-Butte-à-la Reine in der südlichen banlieue von Paris. Mit eben dieser Siedlung und ihren Bewohnern befasste sich die Dokumentation, die das französische Fernsehen 1957 zeigte. Sie war Teil einer Serie, die der Fernsehsender RTF zwischen 1957 und 1960 ausstrahlte. Unter dem Titel »A la découverte des Français« sollte die Serie den Französinnen und Franzosen vorführen, wie und wo sie lebten. Moderiert wurde sie von dem Soziologen Paul-Henry Chombart de Lauwe, konzipiert von einer von ihm initiierten Forschergruppe.40 Jede Sendung drehte sich um die Bewohnerinnen und Bewohner 37 »Dans les ›banlieues rouges‹, la réception d’un grand ensemble HLM renforçait le pouvoir municipal.« Oblet. 38 Er war vielmehr anschlussfähig an einen in der direkten Nachkriegszeit insgesamt einflussreichen nationalen Solidaritätsdiskurs, der von katholischen Humanisten, Technokraten und Kommunisten gleichermaßen bedient wurde. Vgl. dazu Wakeman, The Heroic City. 39 (Übers. C. R.). La Butte-à-la-Reine (Frankreich, Dokumentarfilm im Rahmen der Reihe »A la découverte des Français«, 1957, Erstausstrahlung: 12.04.1957, RTF). 40 Die Dokumentation entstand in Zusammenarbeit mit der Groupe d’Ethnologie Sociale (C. N. R. S.). Zu Paul-Henry Chombart de Lauwe und dessen Einfluss auf die Auseinandersetzung mit Stadtplanungsfragen in den 1950er und 1960er Jahren siehe Newsome, Paul-Henry Chombart; Le Breton. Auch hat sich Jeanne Haffner – mit besonderem Augenmerk auf die
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einer bestimmten Straße, eines Viertels oder Dorfs, die jeweils symptomatisch für ein bestimmtes Milieu waren. Im Anschluss wurden einige der Protagonisten ins Studio eingeladen, um dort gemeinsam mit Chombart de Lauwe und dem Regisseur Jean Claude Bergeret über die gezeigte Reportage zu diskutieren. Paul-Henry Chombart de Lauwe (1913–1998) war in den 1950er und 1960er Jahren in Frankreich einer der einflussreichsten Experten in städtischen Fragen; er wurde von Politik und Medien gleichermaßen konsultiert. Chombart de Lauwe, der in den 1930er Jahren bei Marcel Mauss und Paul Rivet Ethnographie studiert hatte, hatte zunächst an Forschungen zur Verknüpfung von ländlicher Topographie und lokalen Familienstrukturen im kolonialen Kamerun mitgewirkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er dann in Frankreich zum einflussreichen Vertreter einer stark auf die Verknüpfung von Raum und Gesellschaft ausgerichteten Stadtsoziologie.41 Der Soziologe setzte sich dabei für eine Stadtplanung ein, die sich stärker an den Bedürfnissen der Wohnbevölkerung ausrichtete, und er betrachtete die soziologische Forschung als ideale Mittlerin zwischen öffentlicher Stadtplanung und Bevölkerung.42 Deutlich früher als andere bemühte sich de Lauwe um Auftragsforschungen und die Beratung von Regierung und Verwaltung. Finanziell durch das französische Städtebauministerium und später auch andere staatliche Institutionen unterstützt,43 gründete er Mitte der 1950er Jahre das Centre d’études des groupes sociaux (den Vorläufer des Centre de Sociologie Urbaine), das auf die wissenschaftliche Beratung staatlicher Institutionen zielte.44 Während Chombart der Lauwe die eigene Arbeit als dezidiert politikberatend verstand und sie vergleichsweise effektiv vermarktete, war sein Erfolg darüber hinaus kennzeichnend für den großen Einfluss, den Angehörige des links katholischen Milieus und Anhänger eines kritischen Humanismus im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre auf die öffentliche Problematisierung sozialer Missstände ausübten. Den sozialen Veränderungen, die die Wohnungs- und Baupolitik mit sich brachten, begegnete de Lauwe mit beträchtlicher Skepsis. Dementsprechend zeigte er in seiner Serie zur »Entdeckung der Franzosen« nicht allein das Versprechen auf einen modernen Wohn- und Lebensstil, sondern er warnte auch davor, dass die neuen Konsummöglichkeiten keineswegs allen zu-
Bedeutung von Luftaufnahmen für die sozialwissenschaftliche Forschung – intensiv mit dem wachsenden Einfluss von Chombart in den 1950er Jahren befasst. Haffner, v. a. Kap. 4. 41 Zur Historisierung des Konzepts des »sozialen Raums« vgl. Haffner, ebd. 42 Ebd., S. 93. 43 Ebd., S. 87. Vor allem mit Robert Auzelle, der im Planungsministerium (MRU) eine zentrale Stellung einnahm, war de Lauwe eng befreundet; das stärkte seinen Einfluss als Experte. Ebd., S. 58, S. 87 f. 44 1959 folgte eine weitere außeruniversitäre Einrichtung, das Centre d’ethnologie sociale et Psychosociologie, das wiederum stärker Grundlagenforschung betrieb. Zuvor hatte Chombart de Lauwe die Groupe d’ethnologie sociale, die wiederum an das Musée de l’homme angegliedert war, 1949 (bzw. 1950 laut Newsome, Paul-Henry Chombart) ins Leben gerufen.
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gänglich waren und neben finanziellen auch soziale Kosten mit sich brachten.45 Er zeichnete in der Serie das Bild einer Gesellschaft, in der mit der Ausweitung von Urbanisierung und Massenkonsum klassenspezifische Lebensstile und Räume (das Bergdorf, die Siedlung der Mienenarbeiter, das Arbeiterquartier) einerseits verschwanden und uniformeren Lebensverhältnissen wichen, andererseits aber neue Disparitäten entstanden. Bemerkenswert ist das auch deswegen, weil sich mehr oder weniger zeitgleich in den USA und Großbritannien eine Reihe von Stadtsoziologen auf ähnliche Weise zu Fürsprechern der urbanen Arbeiterklasse machten, und weil es ihnen auf ähnliche Weise gelang, sich öffentlich Gehör zu schaffen. Neben dem Nutzen thematisierten sie auch die Kosten der urbanen Modernisierung. In diesem Zusammenhang trugen sie dazu bei, dass das von Sanierungen bedrohte quasidörfliche Arbeiterquartier zu einem international zirkulierenden Inbegriff für die Probleme urbaner Modernisierungspolitiken wurde – und zum Signum einer schwindenden Klassengesellschaft. Auch de Lauwes Serie zur »Entdeckung der Franzosen« beschrieb die modernisierungsbedingte Lösung der Bewohner aus ihren etablierten proletarischen Milieus als keinesfalls verlustfreien Prozess. Die erste Folge der Serie zeigte so die Wohnverhältnisse in der Rue du Moulin de la Pointe im 13. Arrondissement, einem traditionellen Pariser Arbeiterquartier.46 Das Zusammenleben in den eng stehenden Häusern der Rue du Moulin war, glaubte man der Serie, nicht nur vom schlechten Zustand der zu kleinen Wohnungen geprägt, sondern auch vom außerordentlichen Zusammenhalt der dort seit langem ansässigen Familien. Das Viertel, erklärt der Kommentator dem Publikum unter Rückgriff auf eine Sprache der hygienisch-technischen Modernisierung, weise sämtliche Merkmale eines quartier insalubre (eines Slums) auf, wie namentlich eine erhöhte Sterbe-, Kriminalitäts- und Tuberkulose-Rate.47 88 % der Familien – in der klaren Mehrzahl Arbeiterfamilien, in denen der Großteil der Männer in der Autoindustrie arbeitete – wohnten in Wohnungen, die über kein fließendes Wasser und kein eigenes WC verfügten. Doch konzentrierte sich die Sendung weniger auf die beengten Wohnverhältnisse als auf das rege Nachbarschaftsleben des Quartiers und zeichnete ein nostalgisches Bild proletarischer Gemeinschaftlichkeit. Die mit narrativen Elementen durchsetzte Dokumentation umkreiste die Geschehnisse in einem courée, einem um einen Hof gruppierten Gebäudekomplex, und damit einem Setting, das traditionell stark die Lebensverhältnisse der Industriearbeiterschaft prägte. Sie setzt mit den Bildern eines Ehepaars ein, das mit seinem 15 Tage alten 45 Haffner, S. 75 f. Auch setzte sich der Soziologe früh für eine stärkere Demokratisierung von Planungsprozessen ein. Cupers, The Expertise. 46 Rue du Moulin de la Pointe (Frankreich, Dokumentarfilm im Rahmen der Reihe »A la découverte des Français«, 1957, Erstausstrahlung: 05.04.1957, RTF). 47 Zur Geschichte der sozialhygienischen Wohnungs- und Reformpolitik allgemein vgl. Hall, Cities, S. 32 ff., 240 ff.; Lenger, S. 131 ff.
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Sohn Serge aus dem Krankenhaus in das Viertel zurückkehrt. Über ihre Fenster lehnen gebeugt beobachten die Nachbarn die Ankunft des kleinen Serge Spinoza und begrüßen ihn freundlich. Dann folgt die Kamera seinen Eltern in die EinZimmer-Wohnung, die beide gemeinsam mit ihren Kindern bewohnen. Der Vater ist als einfacher Arbeiter bei Renault beschäftigt, die Mutter verrichtet, wie viele Frauen des Viertels, zu Hause bezahlte Heimarbeiten. Ihre Wohnung koste sie 100.000 Francs, erzählt der Vater. Es sei ihnen darin eigentlich zu eng, doch gelinge es ihnen nicht eine größere, aber bezahlbare Wohnung zu finden. Die Erzählung kehrt dann zu Serge zurück. Der werde nun in die Bewohnerschaft aufgenommen: »Serge est integré dans les habitants de la courée«.48 Und der Sprecher imaginiert, wie das Kind in dem Viertel aufwachsen wird, mit allen bekannt und von Nachbarn und Eltern gleichermaßen erzogen: Die Tochter der Concierge schenke ihm seine ersten Schuhe, beim lokalen Trikotagenhändler bekomme er seine ersten Hemdchen. Die eine Nachbarin bringe ihm im Hof das Laufen bei, die andere passe nachmittags in ihrer Wohnung auf ihn auf. Jeden Donnerstag schaue er sich bei Mme Chambard, die einen Fernseher besitze, eine Kindersendung an, und schon bald werde er erstmals allein zum lokalen Lebensmittelladen von Mme Glade gehen, um dort Milch zu kaufen. Was man in diesen Straßen finde, erklärt der Sprecher, während die Kamera an den kaputten Hausfassaden entlangfährt, sei eben ein gewisses Feingefühl, wie es lediglich in armen Nachbarschaften existiere, einen außerordentlichen »Sinn für Solidarität«.49 Die Serie zur »Entdeckung der Franzosen« entstand an der Schnittstelle zwischen Sozialwissenschaften und Massenmedien. Es gehörte erkennbar zu ihren Zielen, dem französischen Publikum anhand der Darstellung sich wandelnder Orte einen Umbruch in der traditionellen französischen Klassengesellschaft zu zeigen. Dass die Serie auf ihre Darstellung der Rue du Moulin eine Woche später die einer Neubausiedlung am Stadtrand folgen ließ, wirkt dabei auf den ersten Blick wie die Beschreibung einer sozialen Aufstiegserfahrung. Denn glaubte man der Serie, hatte das Leben in der Vorstadtsiedlung La-Butte-à-la-Reine nur noch wenig mit dem Leben in der Rue du Moulin zu tun: Familien wie die des Facharbeiters Raymond Le Vavasseur wechselten mit ihrem Umzug über zu einem Lebensstil, der zuvor maßgeblich der Mittelschicht vorbehalten war. Denn genau wie die Familie des Bankangestellten René Range wohnten die Le Vavasseurs in La-Butte-à-la-Reine in einer hellen, mit fließend Wasser, Strom und WC ausgestatteten Wohnung. Sie schaffen sich neue Möbel an und aßen in Küchen, die über Kühlschränke und einen modernen Herd verfügen. Allerdings problematisierten de Lauwe und sein Team die sozialen Kosten dieses modernen Wohnens ebenso wie die finanziellen. Demnach mussten die Männer und teilweise auch die Frauen in La-Butte-à-la-Reine zusätzlich arbeiten, um für die Zahlung der monatlichen Raten für ihre Wohnung sowie die in 48 Rue du Moulin, TC 00:04:32. 49 Rue du Moulin, TC 00:19:40.
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der Regel kreditfinanzierten Möbel aufzukommen. Auch kannten sie, anders als zuvor, ihre Nachbarn kaum. Für das Privileg, komfortabel zu wohnen, müssten die Familien teuer zahlen, erklärte der Sprecher dem Publikum.50 Diese Warnung setzte sich in der Diskussionsrunde fort, zu der ausgewählte Bewohnerinnen und Bewohner im Anschluss an die Reportage zusammenkamen und die gleichfalls im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Gemeinsam mit einem Vertreter der Wohnungsgenossenschaft sprachen drei Ehepaare im Fernsehstudio mit Chombart de Lauwe über die finanziellen Belastungen, die ihr neues Leben am Stadtrand mit sich brachte. Tatsächlich waren die neu erbauten Wohnungen am Stadtrand im Vergleich zu innerstädtischen Altbauwohnungen teurer.51 De Lauwe hatte also durchaus Recht, wenn er kritisierte, dass eine »beachtliche Zahl von Familien« sich die Neubausiedlungen zu diesem Zeitpunkt nicht leisten konnte.52 Er beschrieb den Umzug aus den proletarischen Arbeiterquartieren zudem als eine gemischte Erfahrung, weil er soziale Kosten mit sich brachte, wie etwa den Verlust der solidarischen Nachbarschaftlichkeit innerstädtischer Quartiere. Mit dieser Kritik stand er kaum allein dar. Denn während in der Stadtplanung die Gegenüberstellung von gesundheitsschädlichen versus fortschrittlichen Vierteln weiterhin das planerische Handeln anleitete, setzte sich in der Soziologie schrittweise eine andere Paarung durch: die Kontrastierung von historisch gewachsenen nachbarschaftlichen (Arbeiter)quartieren und anonymen Neubauquartieren. Die Frage, wie sich die Neuordnung der Städte auf jene proletarische Kultur auswirkte, die mit dem Leben in städtischen Arbeiterquartieren traditionell verknüpft war, beschäftigte in der Nachkriegszeit eine Reihe von Soziologen. Christian Topalov hat gezeigt, wie sich die Rede von traditional working-class neigh borhoods seit den 1950er Jahren international zu einem neuen soziologischen Beschreibungsmodell entwickelte.53 Als Ausgangspunkt dienen ihm dafür drei stadtsoziologische Klassiker: »Family and Kinship in East London« von Michael Young und Peter Willmott, »The Urban Villager« von Herbert J. Gans und »Rénovation urbaine et changement social« von Henri Coing.54 Zwar unterscheiden sich die nationalen und urbanen Settings, in denen sich diese vier Soziologen bewegten, doch zeigt Topalov, wie sie alle sich in ihren Studien auf innerstädtische Arbeiterviertel in London, Boston und Paris bezogen, die eine Phase der grundlegenden Sanierung durchliefen. Auch stellten sie alle die quasi-familiären Beziehungen in den Mittelpunkt, die die Bewohner zueinander unterhielten, sowie die Effekte, die deren Umsetzung aus den angestammten Quartieren an den Stadtrand hatte. Durchweg hoben die Soziologen, alle im linken Milieu oder im linkskatholischen Milieu (Coing) verhaftet, die engen sozialen Bezie50 Butte-à-la-Reine, TC 00:16:05. 51 Barou, S. 124; Tellier, S. 64, 67 f. 52 Butte-à-la-Reine, Diskussionsrunde im Anschluss, TC 00:33:15. 53 Topalov, »Traditional Working-Class Neighborhoods«. 54 Young u. Willmott, Kinship; Gans; Coing.
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hungen hervor, die die von ihnen Beobachteten über Generationen hinweg ausgebildet hatten.55 Während frühere soziologische Beschreibungen die Arbeiterviertel als unorganisierte Slums darstellten, beschrieb die Stadtsoziologie der 1950er und 1960er Jahre sie als quasi-dörfliche working-class neighborhoods, deren Verschwinden sie kritisierte. Das Gegenstück zu den Arbeiterquartieren bildeten dabei stets moderne Siedlungen in der urbanen Peripherie, in die jene Familien, die zuvor noch in den Innenstädten gewohnt hatten, entweder selbst zogen oder in die sie sanierungsbedingt umgesetzt wurden.56 Deren plötzliche soziale Isolation in den neuen Siedlungen erschien als das genaue Gegenbild jenes solidarischen Lebens in den ehemaligen Arbeiterquartieren, das die Verfasser so beschworen. Michael Young und Peter Willmott, deren Namen in den kommenden Jahrzehnten eng mit dem britischen Institute of Community Studies und dem wachsenden Einfluss einer Community-basierten Stadtpolitik verbunden waren, schrieben mit ihrer 1957 veröffentlichten Studie eines sich auflösenden Arbeiterquartiers eine Art wissenschaftlichen Beststeller.57 Die Neuauflage ihrer Untersuchung zu »Familie und Verwandtschaft in East London« kommentierte der »Guardian« 2007 mit den Worten, das Buch dürfe »wohl zu den einflussreichsten soziologischen Werken im Großbritannien des 20. Jahrhunderts« gehören.58 Das Buch habe eine ganze Generation von Sozialarbeitern, Soziologen und lokalen Regierungsbeamten dazu gebracht, ihren Beruf zu ergreifen und dazu beigetragen, gängige Wahrnehmungen des working-class life zu verändern. Ausgehend von einer langjährigen teilnehmenden Beobachtung in Bethnal Green – Peter Willmott zog dazu mit seiner Familie in das Viertel und lebte dort drei Jahre – widmeten die beiden Soziologen den ersten Teil ihrer Untersuchung dem alltäglichen Miteinander der dort lebenden Arbeiterfamilien.59 Sie unterstrichen die große Bedeutung, die vor allem die lokalen Netzwerke der Frauen und deren enge Einbindung in intergenerationelle Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen besaßen. Eine gegenseitige Unterstützung der Bewohnerinnen und Bewohner in finanziellen Notlagen, bei der Erziehung der Kinder oder bei der Arbeitssuche beschrieben sie als eine gängige Praxis. Den zweiten (deutlich knapperen) Teil ihrer Analyse widmeten die beiden dann den gleichen Arbeiterfamilien, nur dass die in der Zwischenzeit in eine neu erbaute Siedlung außerhalb von London gezogen waren. Young und Willmott zitierten ausführlich aus Interviews, in denen die Befragten sich zwar lobend über die deutlich besseren Wohnverhältnisse, die neuen Läden und neuen Schulen dort äußerten, aber von der mangelnden Nachbarschaftlichkeit enttäuscht 55 Topalov, »Traditional Working-Class Neighborhoods«, S. 215. 56 Ebd., S. 230. 57 Laut Topalov wurden bis 2003 etwa eine halbe Million Exemplare des Buchs auf Englisch verkauft. Ebd., S. 213. 58 M. Bunting, Kin Outrage, in: The Guardian, 25.04.2007. 59 Siehe zu einigen der Hintergründe die Einleitung von Kate Gavron und Geoff Mulgan, in: Young u. Willmott, Kinship, S. ix; M. Young, Peter Willmott, in: The Guardian, 19.04.2000.
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waren. Insbesondere die Frauen vermissten die Unterstützung durch ihre Verwandten und Nachbarn.60 »We found people cut off from relatives, suspicious of their neighbours, lonely; the atmosphere very different from the warmth and friendliness of Bethnal Green«, schrieben die beiden Soziologen einige Jahre später, als sie für eine Folgestudie die Ergebnisse ihrer früheren Untersuchung zusammenfassten.61 Bethnal Green dagegen galt ihnen auch in der Rückschau noch als Dorf (»we discovered a village in the middle of London«) und als tief in dem Viertel verwurzelte, eng miteinander verbundene »one-class-society«.62 Herbert J. Gans war für seine 1962 publizierte Studie über das Bostoner West End ebenfalls mit seiner Ehefrau in das Viertel gezogen. Er stützte sich bei seiner Analyse auf eine sechsmonatige Beobachtung des Alltags in einem stark von italienischen Migranten geprägten Quartier, das er als »urbanes Dorf« inmitten der Metropole fasste. Seine Kritik an der sanierungsbedingten Umsetzung der Bewohnerschaft formulierte Gans vor allem im Schlussteil seiner Studie, in dem er – wie dann später immer wieder in Artikeln, bei Konferenzen und auf politischen Veranstaltungen – die Abrisspolitik des urban renewal kritisierte. Henri Coing schließlich, Jesuit und als Doktorand von Chombart de Lauwe an dessen Centre d’Ethnologie Sociale et Psychosociologie angebunden, veröffentlichte seine Untersuchung 1966. Die sozialen Effekte der französischen Sanierungspolitik studierte er anhand eines quartier populaire, das in Paris im 13. Arrondissement lag.63 Den Kontakt dorthin hatte ihm ein befreundeter Jesuit vermittelt, der über enge Kontakte zu den lokalen Gewerkschaften dort verfügte. Anders als Gans, der eine migrantische Bevölkerung in den Mittelpunkt seiner Studie stellte, bezog sich Coing maßgeblich auf französische Arbeiterfamilien und deren durch die Modernisierung des Wohnens veränderte Lebenswelt. Die französische Regierung hatte sich mit der Verabschiedung ihres vierten Fünfjahresplans 1962 verstärkt den Abriss sogenannter taudis (Slums) und logements vetustes (baufällige Wohnungen) zum Ziel gesetzt. In Teilen in Kooperation, in Teilen in Konflikt mit den städtischen Verwaltungen initiierten das Stadtplanungsministerium und die zentrale Planungsbehörde Abrissmaßnahmen, die mit einer umfassenden Neubaupolitik Hand in Hand gingen.64 Diese Politik der rénovation urbaine sah die Umsetzung der ansässigen Bevölkerung vor; teilweise auch gegen deren Willen. Von Ausnahmen abgesehen, zog sie gerade in den ersten Jahren den fast vollständigen Austausch der jeweiligen Quartiersbevölkerungen nach sich. Die von Coing untersuchte îlot 4 im südöstlichen Paris gehörte zu den Quartieren, die von diesen Modernisierungsprojekten betroffen waren. Sie war mehrheitlich von Arbeiterfamilien bewohnt. Die 60 Willmott u. Young, Kinship, S. 121–185. 61 Willmott u. Young, Family and Class, S. viii. 62 Ebd., vii. 63 Besprechung der Studie durch Pierre Bourdieu, in: Le Monde, 12.01.1967, zitiert nach Magri, S. 181–183. 64 Zu dem in Teilen durchaus konflikthaften Verhältnis von staatlicher und lokaler Stadtplanungspolitik in diesem Zusammenhang siehe Wakeman, Modernizing.
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meisten arbeiteten als nicht oder gering qualifizierte Arbeiter in lokalen Industriebetrieben, und ihr Leben war mehrheitlich von Unsicherheit geprägt, von Kürzungen am Arbeitsplatz oder der wiederholt drohenden Räumung der eigenen Wohnung.65 Umso mehr überraschte den Soziologen die enge Bindung der Bewohner an ihr Viertel. »Soziale Kohäsion« und »lokale Verwurzelung« waren zentrale Schlagworte seiner Analyse. Demnach unterhielten die Familien der îlot 4 den Großteil ihrer Kontakte zu Menschen, die gleichfalls in dem Quartier wohnten. Sie kauften in lokalen Geschäften ein und arbeiteten mehrheitlich in lokalen Betrieben. Coing ging davon aus, dass sie in ihrer Weltwahrnehmung maßgeblich um ihre kleine Insel kreisten. Das übrige Paris, berichtete er, beschrieben einige als ihnen fern scheinende Stadt, in die sie sich selten bis gar nicht begaben. Im Alltagsleben des Quartiers, das politisch traditionell von der kommunistischen Partei dominiert wurde, gingen öffentliche und private Sphären ineinander über. Auf Nachbarschaftlichkeit legten die Bewohner großen Wert, wobei es laut Coing vornehmlich Frauen waren, die die nachbarschaftlichen Beziehungen pflegten. Wie auch Young und Willmott hob er hervor, dass diese Beziehungen in Krisen als Notgemeinschaften fungierten. Ähnlich wie Chombart de Lauwe grenzte Coing dabei ein spezifisch »proletarisches« Sozialverhalten von »bourgeoisen« Formen der weniger lokalisierten Sozialbeziehungen ab.66 Die Arbeiterfamilien seien im Vergleich zu bürgerlichen Familien stärker in ihrem Viertel verwurzelt und legten mehr Wert auf nachbarschaftliche Beziehungen. Umso problematischer erschien Coing die Praxis der gestreuten Umsetzung aus den sozial dichten innerstädtischen Vierteln in Neubauviertel in der näheren oder entfernteren banlieue. Viele Familien hätten Probleme, sich an die neue Umgebung anzupassen.67 Zwar war im Falle der îlot 4 nach intensiven Protesten der Prozentsatz derer, die im Zuge der Sanierung das Viertel dauerhaft verlassen mussten, kleiner als bei früheren Modernisierungsprojekten. Doch sah Coing in der aktuellen Wohn- und Baupolitik insgesamt den Auslöser für eine verstärkte soziale Segregation. Die Lebenskosten in den innerstädtischen Vierteln stiegen infolge der staatlichen Modernisierungspolitik, und der Soziologe kritisierte, dass Paris sich mehr und mehr zu einer Domäne der sehr Reichen und jener sehr Armen entwickele, die in noch nicht sanierten Gebäuden wohnten.68 Mit den übrigen Soziologen Young, Willmott und Gans teilte Coing ein praxisnahes Verständnis der eigenen Forschung. Alle vier versuchten, Einfluss auf die Politik der urbanen Modernisierung zu nehmen. Die umfassende Sanierung innerstädtischer Quartiere trug in ihren Augen zur Auflösung engmaschiger lokaler Communities bei, die für die Ansässigen eine wichtige Ressource darstellten, und die vier Soziologen kritisierten, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung zu 65 Coing, S. 41. 66 Siehe dazu u. a. Chombart de Lauwe, Paris; ders., Famille. 67 Coing, S. 249. 68 Ebd., S. 246–247.
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wenig in den Planungsprozess einbezogen wurden. In den Schlusskapiteln ihrer Studien richteten sich die vier daher mehr oder weniger direkt an die Stadtplanerinnen und Stadtplaner, in Teilen veröffentlichten sie ihre Ergebnisse auch in Stadtplanungszeitschriften und sprachen in den Massenmedien darüber.69 Insbesondere Gans präsentierte die eigene Forschung als ein quasi-aktivistisches Instrument, das helfen sollte, den Betroffenen eine Stimme zu verleihen.70 Er habe versucht, schrieb Gans in der Einleitung zu seiner Studie, die Lebensweise von lower level people so zu beschreiben, wie sie selbst sie möglicherweise beschreiben würden, wären sie Soziologen: »In a sense, then, I am reporting to the upper level for them and urging that they be given more consideration when policy decisions are made.«71 Und als Peter Willmott im Jahr 2000 verstarb, erinnerte sich Michael Young in einem Nachruf an die Zusammenarbeit in Bethnal Green: »It did not seem such a large step from socialism to sociology, which in Britain was then in its trampolining infancy. For one thing, the words were so similar. We were young and naïve enough to believe that, if we could report, in a convincing way, on the needs and hopes of Labour supporters, even if only in one working-class district, it would help to ›bridge the gap‹ (another of our favourite platitudes) with the leadership – and that the leaders might take note.«72
Während Soziologinnen und Soziologen die Möglichkeit oder Unmöglichkeit zur politischen Teilhabe zunehmend in die eigene Analyse urbaner Ungleichheit integrierten, wurde es zu einem häufig artikulierten Motiv ihrer Forschung, anderen »eine Stimme zu verleihen«; entweder im Zuge kollaborativer Projekte oder im Rahmen von Arbeiten, die auf Nahbeobachtung und Interview basierten. Ob sie die Betreffenden damit tatsächlich so beschrieben, wie sie selbst es an ihrer Stelle getan hätten, ist die Frage. In jedem Fall aber wird am Beispiel der drei stadtsoziologischen Studien deutlich, dass im Laufe der 1960er Jahre eine neue Legitimationsform sozialwissenschaftlicher Forschung an Einfluss gewann. Während frühere Armutsstudien eher zum Ziel hatten, eine bürgerliche Öffentlichkeit auf das Leid »der Armen« aufmerksam zu machen, erklärten wissenschaftliche Akteure nun, Foren schaffen zu wollen, in denen die Bewohner urbaner Problemzonen ihre eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen artikulieren konnten. 69 Ebd., S. 223 f. Die BBC brachte beispielsweise im Radio 1957 eine Sendung, die sich – unter Mitwirkung von Young und Willmott – mit den Ergebnissen ihrer Studie zu Bethnal Green befasste: Relatives and Relations, BBC, Third Programme, 04.09.1957. 70 Topalov, »Traditional Working-Class Neighborhoods«, S. 223. 71 Gans, S. x. Gans kritisierte, dass die Planer die proletarische »Sub-Kultur« zu wenig in ihre Planungen einbezogen. »[…] the West Enders were not frustrated seekers of middle-class values. Their way of life was a distinct and independent working-class subculture […]. Consequently, I concluded that the behavior patterns and values of working-class subculture ought to be understood and taken into account by planners and caretakers.« Ebd. 72 M. Young, Peter Willmott, in: The Guardian, 19.04.2000.
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Die westdeutsche Stadtsoziologie brachte allerdings keine Studie zu den Effekten des urban renewal hervor, die international ähnlich breit rezipiert wurde wie die drei genannten Untersuchungen. Erst um 1970 begann sich in der Bundesrepublik eine jüngere Generation von Stadtsoziologinnen und -soziologen mit den Effekten der modernen Stadtplanung zu befassen. Ihre Studien wiesen insofern Parallelen zu den Analysen von Gans, Young und Willmott oder Coing auf, als auch sie dem neuen Leben am Stadtrand ein Ideal innerstädtischer Nachbarschaftlichkeit entgegenhielten.73 Dennoch blieb auf bundesdeutscher Seite die romantisierende Beschwörung einer proletarisch-urbanen Solidarität weitgehend aus. In erster Linie hing das wohl damit zusammen, dass sich Arbeiterfamilie und -kultur im stark von Systemkonkurrenzen bestimmten Westdeutschland der 1950er und 1960er Jahre weniger für nostalgische Erzählungen eigneten. Die westdeutsche Gesellschaft verstanden und beschrieben die Soziologen zu dieser Zeit insgesamt weniger als Klassengesellschaft. Die in Frankreich und Groß britannien einflussreiche Angst vor einer Auflösung »der Arbeiterklasse« war dort weniger präsent; am ehesten kam sie im Zusammenhang mit den Wohnund Lebensbedingungen des Bergarbeitermilieus zum Ausdruck oder leitete nach 1968 einzelne, marxistisch orientierte Studien an. Hinzu kam, dass es den Typus des stark von Arbeiterfamilien dominierten, traditionell von Sozialdemokratie oder kommunistischer Partei dominierten Viertels in der Bundesrepublik durch den Bruch der nationalsozialistischen Zeit weniger gab.74 Außerdem rückten umfassende Sanierungsprojekte in der Bundesrepublik im Vergleich zu den USA, Großbritannien und letztlich auch Frankreich später, nämlich erst im Laufe der 1960er Jahre, auf die politische Agenda. Die westdeutsche Soziologie hatte sich in den 1950er Jahren vom Modell einer nach Klassen und Schichten hierarchisch geordneten Gesellschaft rasch zu lösen begonnen.75 Dort dominierte zunehmend eine auf die Mitte konzentrierte, am Ideal der Mittelstandsgesellschaft ausgerichtete Beschreibung der sozialen Ordnung, die anfänglich allerdings noch Züge der Volksgemeinschaftsideologie der NS-Zeit trug.76 Das galt auch für soziologische Untersuchungen zum Wohn- und Stadtraum. Meist herrschte darin die Erwartung vor, dass sich die Vermittelschichtung der deutschen Gesellschaft auch räumlich ausdrückte.77 73 Heil, Neue Wohnquartiere, S. 188. 74 Dass die Stadtsoziologie sich dort zögerlicher etablierte und westdeutsche Sozialwissenschaftler »Raum« als Kategorie mieden, dürfte eher nicht der Grund gewesen sein. Jedenfalls schienen sich weder Young und Willmott noch Coing oder Gans stark für »Raum« als eine analytische Kategorie zu interessieren. Sie alle tendierten zu einer Form der frohgemut selbst gemachten teilnehmenden Beobachtung, die vergleichsweise wenig in zeitgenössischen theoretischen oder methodischen Diskussionen verankert war. 75 Siehe hierzu auch Reinecke, Wo das Soziale wohnt. 76 Zum Selbstbild der klassenlosen Gesellschaft und der dominierenden Denkfigur eines Strebens zur Mitte in dieser Zeit vgl. Nolte, Die Ordnung, S. 318–351. 77 Siehe v. a. Schelsky.
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Zwar konzedierten einige Studien, dass es weiterhin Stadtteile gebe, die für bestimmte Schichten »charakteristisch« seien,78 doch dominierte der Fokus auf Durchmischung.79 Ein charakteristisches Beispiel ist die Untersuchung »Die Familie im Gefüge der Großstadt. Zur Sozialtopographie der Stadt«, die die Stadtsoziologin Elisabeth Pfeil 1964/65 in Hamburg durchführte.80 Am Ideal einer ausgewogenen, durchmischten Sozialstruktur orientiert, plädierte Pfeil darin für einen Städtebau, der zur Lösung der Arbeiterschaft aus einer engmaschigen proletarischen Kultur beitrug. Die den Großsiedlungen der 1960er Jahre zugrundliegende Konzeption der Durchmischung begrüßte die Soziologin explizit; sie sah darin die Basis für »eine breite nivellierte Mittelstandsgesellschaft«.81 »Verpflanzt in Wiederaufbaugebiete oder Neubaugebiete machen die Arbeiter einen Emanzipationsvorgang durch, […] Ihr Verhaltensstil ändert sich, seit sie die fabriknahen Arbeiterviertel mit ihrer starken inneren Sozialisation verlassen und in sozial gemischte Gebiete kommen,« schrieb sie.82 Ihre Analyse unterschied sich damit weniger in ihren Ergebnissen als in ihrer Nähe zur staatlichen Stadtplanungspolitik vom kritischen Ton der Studien von Young und Willmott, Coing oder Gans. Ende der 1960er Jahre wandten sich allerdings auch in der Bundesrepublik mehr und mehr Soziologinnen und Soziologen den Effekten städtischer Sanierungsprojekte zu und begannen einen kritischeren Ton anzuschlagen. Als der Bundestag ein neues Gesetz vorbereitete, das Städtebauförderungsgesetz, das die konkreten Rahmenbedingungen für städtische Sanierungsprojekte festlegte, lud der zuständige Ausschuss 1970 den Göttinger Stadtsoziologen Hans-Paul Bahrdt als Sachverständigen ein.83 Der Soziologe plädierte gegenüber dem Ausschuss dafür, den Bewohnerinnen und Bewohnern sanierungsbedürftiger Viertel in Planungsprozessen mehr Beachtung zu schenken. Die Wohnbevölkerung sanierungsbedürftiger Viertel gehöre, erklärte Bahrdt, zur »sozialschwachen Bevölkerung«,84 wobei deren soziale Schwäche für den Soziologen auch darin bestand, dass sie die eigenen Bedürfnisse nur begrenzt kollektiv artikulieren konnte.85 Genau in der Artikulation dieser Bedürfnisse sah Bahrdt nun die Aufgabe der empirischen Sozialforschung. Er drang gegenüber dem Ausschuss darauf, stadtplanerische Entscheidungen stärker auf der Basis wissenschaftlich 78 Siehe etwa die Folgerungen bei Braun. 79 Siehe auch den Überblick zur westdeutschen Gemeindesoziologie bei Oswald, S. 96. 80 Vor ihrem Wechsel nach Hamburg war Pfeil in Dortmund an der an die Universität Münster angegliederten Sozialforschungsstelle tätig. Zu deren Verbindungen zur NS-Volkssoziologie vgl. Nolte, Die Ordnung, S. 253–55. 81 Pfeil, Die Familie, S. 36. 82 Ebd., S. 66. 83 Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags, Gesetz über städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Gemeinden (Städtebauförderungsgesetz), 27.07.1971, Gesetzesmaterialien, VI 169, Bd. A 3., Behandlung im federführenden (14.) Ausschuss, Nr. 89, Stenographisches Protokoll über die öffentliche Anhörungssitzung 16.04.1970, 10/7–10/15. 84 Ebd., 10/7 f. 85 Ebd., 10/12.
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erhobener Daten zu fällen. Damit hatte er durchaus Erfolg: Der Ausschuss ließ im Städtebauförderungsgesetz von 1971 die Erstellung von Sozialplänen gesetzlich vorschreiben, die sich ebenso mit der anvisierten ökonomischen und sozialen Struktur von Sanierungsgebieten befassen sollten wie mit dem Schicksal der von den Sanierungen Betroffenen. Das Tätigkeitsfeld für empirische Sozial forscher erweiterte sich damit deutlich.86 Die verstärkte Hinwendung zur Sozialstruktur innerstädtischer Sanierungsgebiete folgte in der Bundesrepublik damit einem Prozess, wie ihn die Forschung als quasi idealtypisch für Verwissenschaftlichungsprozesse beschrieben hat: Wissenschaftler identifizierten und definierten ein Problem, das der Aufmerksamkeit bedurfte. Politische Akteure übernahmen diese Definition und erbaten sich als Grundlage für ihr politisches und administratives Handeln mehr wissenschaftliche Expertise. Im Falle der Sozialpläne hieß das konkret, dass die Soziologie mit ihrem Pochen auf mehr Teilhabe zunächst weniger den benachteiligten Gruppen selbst als der eigenen soziologischen Forschung mehr Einfluss verschaffte. Die Sanierung innerstädtischer Altbauviertel rückte in den späten 1960er Jah ren jedenfalls vermehrt auf die politische Agenda westdeutscher Großstädte.87 In ihren empirischen (Auftrags)Studien, die in diesem Rahmen in wachsender Zahl entstanden, interessierten sich die Autorinnen und Autoren aber – anders als Young und Willmott, Gans oder Coing – kaum für die Bedeutung eines irgendwie gearteten proletarischen Milieus. Eher zeichneten sie ein Bild sozialer Benachteiligung, das in einer Art negativer Vergemeinschaftung bestand. Das verdeutlicht eine Studie der Stadtsoziologin Katrin Zapf, die 1969 unter dem Titel »Rückständige Viertel. Eine soziologische Analyse der städtebaulichen Sanierung in der Bundesrepublik« erschien und aus einer von Ralf Dahrendorf betreuten Dissertation hervorging.88 Westberlin hatte 1963 früher als andere westdeutsche Großstädte ein Stadterneuerungsprogramm verabschiedet, das den teilweisen oder vollständigen Abriss von Gebieten im Wedding, in Kreuzberg, Charlottenburg, Schöneberg und Neukölln vorsah.89 Für diese Abrisssanierungen zuständig war die gemein86 Die Stadtsoziologin Katrin Zapf sah darin später einen »Durchbruch« für die Sozialforschung und eine »Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für empirische Sozialforscher«. K. Zapf, Die Entwicklung des Emmertsgrunds aus stadtsoziologischer Sicht. Vortrag vor dem Kulturk reis Emmertsgrund-Boxberg, 27.05.2008, http://emmertsgrund.de/sites/default/ files/downloads/KK_Zapf_Vortrag_Emmertsgrund.pdf [20.08.2020], S. 4. Vgl. dazu auch: Schmidt-Relenberg u. a. 87 So ergibt eine Recherche im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek mit dem Titelstichwort »Sanierung*« für den Zeitraum von 1951–1955 28 deutschsprachige Treffer, davon zwei mit einer städtebaulichen Thematik, für den Zeitraum von 1956–1960 26 Treffer, davon fünf mit einer städtebaulichen Thematik, für den Zeitraum 1961–1965 39 Treffer, davon 13 mit einer städtebaulichen Thematik – und für den Zeitraum von 1966–1970 65 Treffer, davon 33 mit einer städtebaulichen Thematik. 88 Zapf. 89 Bodenschatz, Platz frei, S. 172 f.
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nützige Wohnungswirtschaft, die, öffentlich subventioniert, die betreffenden Grundstücke und Gebäude erwarb, die Ansässigen umsetzte und die entleerten Gebäude abriss, um neue zu erbauen. Das größte dieser Sanierungsgebiete befand sich im Wedding, in der Umgebung der Brunnenstraße, und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung wurde von dort in Großsiedlungen am Stadtrand, in die Gropiusstadt und das Märkische Viertel umgesetzt. Neben zwei weiteren Quartieren diente dieses Gebiet Zapf als Untersuchungsgebiet. Dessen Modernisierung begrüßte die Soziologin.90 Sie ging allerdings davon aus, dass gerade ältere Personen, kinderreiche Familien und Ansässige mit schlecht bezahlten Berufen Schwierigkeiten hatten, die noch unsanierten Wohnungen dort zu verlassen, während die Jüngeren, besser Qualifizierten fortzogen, bevorzugt in Neubauten am Stadtrand.91 Zurück bliebe, schloss sie am Beispiel des Weddings, der »große Rest«: ein Milieu, das durch ein sehr niedriges Einkommen, »Alter, Armut und Unbildung« charakterisiert werde.92 Dieses räumlich fixierte Milieu binde die Ansässigen »erbarmungsloser als andere« aneinander: »Immobilität, Unkenntnis und Armut verweisen die beieinander wohnenden Menschen intensiver aufeinander«.93 Während enge soziale Bindungen in den Studien zu London, Boston und Paris als eine Ressource gegolten hatten, erschienen sie bei Zapf und anderen als Element sozialer Benachteiligung.94 Diese Unterschiede hatten eine Reihe von Gründen, waren aber auch das Resultat einer spezifischen Arbeitsweise: Während Young, Willmott und Co sich bei ihren Studien auf eine quasi-ethnogra phische Nahbeobachtung stützten, ging Zapf von der quantifizierenden Erfassung lokaler Sozialstrukturen aus. Hinzu kam der unterschiedliche Zeitpunkt ihrer Forschungen. Als Zapf ihre Analyse durchführte, waren bereits zahlreiche Haushalte aus den nichtsanierten Vierteln in andere Gegenden gezogen und hatten auf diese Weise die Unbehaustheit der Quartiere erhöht. Insgesamt gab es in der Bundesrepublik keine vergleichbare Untersuchung zu den viel gelesenen Analysen von Willmott und Young oder Gans, die den Wert einer urbanen proletarischen Kultur für die Bewohnerschaft beschworen. Zu der eher nostalgischen Zeichnung eines durch Modernisierung bedrohten, solidarischen proletarischen Milieus kam es dort dann zwar auch, aber eher später, in den Grenzbereichen der etablierten Sozialwissenschaften und in aktivisti-
90 Neben dem Wedding zog sie außerdem noch Fallbeispiele aus Dortmund und Konstanz heran. 91 Zapf, S. 161. 92 Ebd., S. 137. 93 Ebd., S. 162. 94 Auch Schmidt-Relenberg, Feldhusen und Luetkens erklärten mit Blick auf ihre Studie zu den Bewohnern von Sanierungsgebieten in Hamburg St. Georg und St. Pauli, sie seien durch eine ökonomische Unterprivilegiertheit ebenso gekennzeichnet wie durch ihre spezifische Betreuungsbedürftigkeit. Schmidt-Relenberg u. a., S. 35. Deren »große Seßhaftigkeit« und »soziale Verflechtung« erwähnen sie lediglich am Rande. Ebd., S. 39.
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schen Zirkeln. Diese Verzögerungen hingen vielleicht mit Unterschieden in den beobachteten urbanen Räumen zusammen, in jedem Fall aber damit, dass die Selbstbeschreibung als Klassengesellschaft im stark von Logiken der Systemkonkurrenz bestimmten Westdeutschland früher an Einfluss verlor als in Großbritannien oder Frankreich. Dennoch begannen auch westdeutsche Soziologinnen und Soziologen, bei ihren Analysen der neuen Großsiedlungen am Stadtrand deren soziale Kälte von der Wärme innerstädtischer Altbauquartiere abzugrenzen. Obwohl sich einige bemühten zu betonen, dass das Leben am Stadtrand weniger einsam war als häufig angenommen, wurden die neuen Großsiedlungen in zahlreichen anderen Studien als Orte der Vermassung und Entpersönlichung dargestellt;95 bis hin zu der Rede von einer »Kommunikose« als durch die Großsiedlungen hervorgerufene Erkrankung.96 Als Messlatte oder Folie dieser Einordnung dienten dabei quasi durchgehend innerstädtische Altbauquartiere sowie die dichte Nachbarschaftlichkeit, mit denen sie assoziiert wurden. In so unterschiedlichen Städten wie London oder München, Boston oder Paris bestimmte damit zwischen den späten 1950er und den 1970er Jahren die Kontrastierung der neuen Großwohnsiedlungen mit »traditionellen Arbeiterquartieren« deren soziologische Beschreibung. Während sie mit Blick auf innerstädtische Sanierungsgebiete davon ausgingen, dass proletarische Verhaltensweisen dort infolge umfassender Modernisierungen verschwanden, erwarteten die Soziologinnen und Soziologen dabei, dass sich in den neuen Siedlungen neue Formen des Sozialverhaltens und der Vergesellschaftung entwickelten. Insofern war es nur konsequent, dass sowohl Henri Coing und Herbert J. Gans als auch Michael Young und Peter Willmott sich im Anschluss an ihre Untersuchungen traditioneller Arbeiterquartiere jeweils in Neue Städte oder Großsiedlungen am Stadtrand begaben.97 Während sie die innerstädtischen Sanierungsgebiete zu Räumen der Vergangenheit stilisierten, sahen sie in den neuen Siedlungen, die sozial stärker durchmischt und von neu Zugezogenen geprägt waren, Pionier-
95 Herlyn, Wohnen im Hochhaus, S. 13 f.; Heil, Kommunikation und Entfremdung, S. 15 f. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem negativen Image der randstädtischen Großsiedlungen vgl. auch Pfeil, Stadtrandsiedlungen; Heil, Neue Wohnquartiere, v. a. S. 188. Siehe auch Zapf u. a., Stadt am Stadtrand. Von Saldern erklärt, dass soziologische Studien der 1950er Jahre gezeigt hätten, dass Nachbarschaften früheren Typs nicht mehr gefragt gewesen seien: »Das richtige Abstandhalten zum Nachbarn oder zur Nachbarin wurde offenbar zum Kennzeichen zeitgemäßen Verhaltens.« Saldern, Von der ›guten Stube‹, S. 248 f. 96 Dorsch verweist auf den Begriff der »Kommunikose« zur Beschreibung der von den neuen Wohngebieten verursachten Erkrankungen. Dorsch, S. 14. Heil, Kommunikation; FischerHarriehausen, S. 25–28. 97 Topalov, »Traditional Working-Class Neighborhoods«, S. 230. Gans schrieb im Anschluss seine Studie zu Levittown. Willmott und Young untersuchten gemeinsam eine stärker von Mittelschichten geprägte suburbane Siedlung im Osten von London. Coing widmete sich einem grand ensemble. Zum Laborcharakter der Neuen Städte aus Sicht der französischen Soziologie vgl. Amiot, v. a. S. 40–43.
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räume, in denen sie nach Anzeichen einer schönen oder düsteren gesellschaftlichen Zukunft suchten.98 Begleitet war diese Entwicklung von einem veränderten Selbstverständnis der wissenschaftlichen Akteure, die für sich verstärkt in Anspruch nahmen, der Bevölkerung und vor allem den unteren Schichten mit ihrer Forschung »eine Stimme« zu verleihen und die um 1970 vielerorts begannen, sich über ihre Forschung hinaus politisch für die Proteste gegen Abrisssanierungen zu engagieren.99 1968 stellte für diese Entwicklung eine wichtige Zäsur dar. Das galt für die Bundesrepublik ebenso wie für Frankreich, obwohl sich wissenschaftliche Akteure aus dem weiteren Umfeld der Neuen Linken im französischen Fall besonders intensiv für die räumliche Dimension des zeitgenössischen Kapitalismus zu interessieren begannen.100 Stadtforscherinnen und -forscher wie Henri Lefebvre oder Manuel Castells wurden mit ihren materialistisch-marxistischen Analysen urbaner Transformationen zu zentralen Figuren der Neuen Linken, und das weit über die Grenzen Frankreichs (und über die Sozialwissenschaften) hinaus.101 Das modernistische Projekt einer Neuordnung der Städte geriet spätestens in den 1970er Jahren in sehr vielen westeuropäischen Gesellschaften in die Krise, und sowohl in Frankreich als auch in Westdeutschland trugen Formen der aktivistischen Forschung oder recherche engagée zu diesem Prozess bei.
3.3 Genealogie eines Abstiegs I: Sarcelles und die Einsamkeit der grands ensembles um 1960 a) Sarcelles und die Aufmerksamkeitsökonomie der Mediengesellschaft Sarcelles, hieß es 1966 in einem Vorwort zu einer breit angelegten soziologischen Untersuchung, habe aufgehört, eine topographische Realität zu sein und begonnen, ein soziologischer Mythos zu sein.102 Angesichts des Ausmaßes an öffentlicher Aufmerksamkeit, den der Großwohnkomplex seit den späten 1950er 98 Zu den Implikationen einer in der Stadtforschung verbreiteten Nutzung städtischer Räume als »Laboratorien« einer- und »Forschungsfeldern« andererseits siehe die vor allem anhand der Chicago School der Zwischenkriegszeit entwickelten Überlegungen bei: Gieryn, City. Zur Landschaft als Laboratorium vgl. zudem die Überlegungen bei Kohler. 99 Schmidt-Relenberg, Feldhusen und Luetkens beispielsweise forderten mit Blick auf die Erstellung von Sozialplänen ein verändertes Verhältnis von Wissenschaft, Planung und Politik sowie namentlich eine Wissenschaft, die »nicht lediglich Informationen und Daten für Planer liefert, sondern an Aufklärung und Beratung der Betroffenen interessiert ist«. Schmidt-Relenberg u. a. 100 Topalov, A History, S. 630 f. 101 Das verdeutlicht v. a. der Erfolg von Castells, La question; Godard; Castells, Luttes urbaines; sowie (obwohl in der zeitgenössischen französischen Diskussion weniger einflussreich) Lefebvre, Le droit à la ville. 102 Kursivsetzung im Original. B. Masson, Vorwort, in: Duquesne, S. 5 f.
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Jahren erfuhr, übertrieb der Verfasser nicht einmal. Obwohl der Bau der Großsiedlung noch nicht abgeschlossen war, wurde Sarcelles in den 1960er Jahren zu einer Art Raumereignis; zu einem Raum, der in der imaginären Topographie der französischen Nachkriegsepoche eine bedeutende Position einnahm. In der Presse mehrten sich die Reportagen, und mehrere Soziologinnen und Soziologen führten dort Studien durch.103 Die Schriftstellerin Christiane Rochefort ließ 1961 in ihrem Bestseller-Roman »Kinder des Jahrhunderts« (»Les petits enfants du siècle«) ihre gebeutelte junge Protagonistin nach Sarcelles ziehen. Der Schriftsteller Marc Bernard zog 1963 für einige Monate dorthin und schrieb über diese Zeit eine viel besprochene literarische Reportage: »Sarcellopolis«.104 Und tatsächlich gab es, wie der Publizist Bernard Masson in seinem eingangs zitierten Vorwort 1966 belustigt bemerkte, zu diesem Zeitpunkt kaum ein Frauenmagazin, das noch nicht das »klaustrophobe Leben der weiblichen Bewohnerinnen« dort erforscht und keine Tageszeitung, die nicht schon einen Berichterstatter nach Sarcelles geschickt hatte, um über »die Hölle der Neuen Städte vor den Toren von Paris« zu schreiben.105 Diese mediale Aufmerksamkeit ließ erst Mitte der 1970er Jahre schrittweise wieder nach. Während die Bewohnerinnen und Bewohner selbst zum ersten Mal seit Baubeginn nicht mehr auf oder am Rande einer Großbaustelle wohnten und die ersten Mieter bereits wieder ausgezogen waren, während sich lokal der Zuschnitt des Lebens also weiter wandelte, schien eine gewisse Sättigung des öffentlichen Interesses eingetreten. Den Regeln der medialen Aufmerksamkeitsökonomie folgend, sank zumindest vorübergehend der Nachrichten- und Neuigkeitswert der Großsiedlungen. Auch änderte sich der zeitliche Bezugsrahmen. Eben noch Städte der Zukunft und Schauplätze neuer Formen des Zusammenlebens, erschienen die grands ensembles Mitte der 1970er Jahre als das Ergebnis früherer Entscheidungen und (Fehl)einschätzungen. Eher als mit einer Vorschau auf kommende Entwicklungen verband sich ihre Analyse mit einer Rückschau. Das galt zumal, nachdem Bauminister Olivier Guichard 1973 das Ende des Baus weiterer grands ensembles angekündigt hatte, um auf diese Weise einer weiteren sozialen Segregation entgegen zu wirken.106 In den 1960er Jahren und damit zwischen diesen beiden Momenten von Euphorie und Krise war Sarcelles Gegenstand einer intensiven medialen und wissenschaftlichen Beobachtung, Beschreibung und Bebilderung. Am Beispiel der Großsiedlung lassen sich daher gut die Aufmerksamkeitsökonomien von medialen und wissenschaftlichen Akteuren verfolgen, die sich in ihrer Stilisierung der Großsiedlung zu einem Laboratorium der Moderne eng aufeinander 103 Siehe u. a. ebd.; Kaës; Clerc (Sarcelles stellte in den Studien von Kaës und Clerc eine von mehreren untersuchten Siedlungen dar); Jannoud u. Pinel. Für einen Überblick über die Forschungsliteratur und Presseberichte, die zu Sarcelles bis 1980 erschienen sind, siehe auch Mission Mémoires et identités en Val de France, Catalogue; Dufaux u. a. 104 Rochefort; Bernard. 105 B. Masson, Vorwort, in: Duquesne, S. 6. 106 Zum damit eingeleiteten Ende der »années béton« vgl. Oblet, S. 131–140.
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bezogen. Die Aufmerksamkeit der einen zog die Aufmerksamkeit der anderen nach sich.107 Der genauere Blick auf die Genese des »Mythos Sarcelles« hilft damit zum einen verstehen, welche konkreten, vornehmlich sozialpsychologischen Wissensbestände anfänglich zur Produktion der Großsiedlung-als-urbane-Problemzone beitrugen. Zum anderen wird an der Stilisierung Sarcelles zu einem Raum der Isolation deutlich, dass die mit der Neuordnung der Städte eng verknüpften sozialen Wandlungsprozesse quasi von Beginn an – und nicht erst in den 1970er Jahren – als mindestens ambivalent beschrieben wurden. In der öffentlichen Auseinandersetzung mit den neuen Siedlungen erschien der Umzug an den Stadtrand als ein seltsam überdeterminierter Prozess: Die Großsiedlungen waren eindeutig mehr als eine Ansammlung moderner Wohnungen, sie wurden ebenso mit einer neuen Ortlosigkeit in Verbindung gebracht wie mit neuen Familien-, Geschlechts- und Nachbarschaftsverhältnissen sowie überhaupt mit einer neuen, weniger durch Klassen strukturierten Gesellschaft. Dass das neue Leben am Stadtrand immer wieder pathologisiert und skandalisiert wurde, entsprach zumindest teilweise dem Versuch einer Restabilisierung von Verhältnissen, die als destabilisiert empfunden wurden. Historikerinnen und Historiker haben sich wiederholt mit der Faszination für Sarcelles auseinander gesetzt und darin ein Beispiel für die wachsende Desillusionierung mit der funktionalen Moderne in Frankreich gesehen.108 Allerdings haben sie sich in diesem Zusammenhang kaum für die Mechanismen interessiert, mittels derer die Großsiedlung ihr spezifisches Image erhielt, oder dafür, was es für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutete, in einer Siedlung zu leben, die quasi von Beginn an konkreter Ort und Mythos zugleich war.109 Dabei dürfte es selten Bewohner gegeben haben, deren Zusammenwohnen derart intensiv von Außenstehenden begleitet wurde. Umfragen kamen in den 1950er und 1960er Jahren in Mode und neben Sozialforschern ließen auch andere die Bevölkerung befragen: Zeitschriften etwa, Bürgerinitiativen oder die öffentlich subventionierten Wohnungsbaugesellschaften, die auf diese Weise herauszufinden hofften, wie sich die Bevölkerung in ihrer neuen Umgebung einlebte, was sie tat, mochte, brauchte oder anders machte als in anderen Vierteln.110 107 Georg Franck hat vorgeschlagen, »Aufmerksamkeit« als zentrale Ressource der Mediengesellschaften des späten 20. Jahrhunderts zu verstehen. Franck. Zu den analytischen Vorund Nachteilen der »Aufmerksamkeitsökonomie« aus zeithistorischer Sicht siehe Schildt, Ökonomie. 108 Vgl. u. a. Cupers, The Social; Urban; Canteux, Sarcelles, dies., Filmer les grands ensembles, v. a. S. 59–118. 109 Am ehesten vollzieht noch Urban eine solche Chronologie der Skandalisierung nach, interessiert sich dabei aber kaum für die Dynamiken zwischen Massenmedien, (Sozial) wissenschaften und Bevölkerung. Cupers wiederum folgt zwar in Teilen ebenfalls einer wissenshistorischen Perspektive, interessiert sich aber vor allem für die Verschiebungen im damaligen Stadtplanungsregime. Urban; Cupers, The Social. 110 Zur Geschichte des Aufstiegs der »repräsentativen Umfrage« siehe die Analyse von Igo. Speziell zu den Umfragen zu Sarcelles siehe: CAC 19770784/10, CINAM, Etude des conditions de vie à Sarcelles et dans trois autres nouveaux ensembles urbains de l’agglomération
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Sarcelles zog unter anderem deshalb so viel Aufmerksamkeit auf sich, weil es sich um eines der ersten grands ensembles handelte, die in der Pariser Region entstanden.111 Mit dem Bau wurde 1955 begonnen, die ersten Bewohner zogen 1956 ein, die letzten Wohneinheiten wurden 1976 fertig gestellt. 15 km nördlich vom Stadtzentrum von Paris, am Rande der Kleinstadt Sarcelles gelegen, bestand der neue Wohnkomplex aus langgestreckten 5-geschossigen Riegeln, die rechtwinklig gegeneinandergesetzt und mit einzelnen Hochhäusern durchsetzt waren. Im Mittelbereich durchzog eine breite Schneise das Gebiet, an der links und rechts Hochhaustürme aufgereiht waren. 1965 wohnten 36.500, 1975 bereits 54.439 Menschen in Sarcelles. Der von Jacques-Henri Labourdette und Roger Boileau geplante Wohnkomplex entwickelte sich binnen weniger Jahre zum viel zitierten Inbegriff einer neuen urbanen Formation: dem grand ensemble. 1935 von einem Stadtplaner erstmals verwendet, begannen zeitgenössische Akteure in den 1950er Jahren von grands ensembles zu sprechen, um damit Siedlungen oder Neue Städte zu bezeichnen, die in der Peripherie französischer Städte neu erbaut wurden, in der Regel öffentlich subventioniert und von hochgeschossigen Gebäuden dominiert.112 Zwar ähnelten sich viele der so bezeichneten neuen Siedlungen und Städte nur bedingt, sie waren unterschiedlich verwaltet, wiesen unterschiedlich hohe Anteile an Sozialwohnungen auf, waren unterschiedlich groß und architektonisch durchaus variabel gestaltet, doch spielten diese Unterschiede in den zeitgenössischen Debatten eine untergeordnete Rolle.113 Letztlich waren es vor allem vier Charakteristika, die die neu entstehenden Räume aus Sicht der Zeitgenossen zu einem einheitlichen Phänomen werden ließen: deren moderne Ästhetik und standardisierte, industrialisierte Massenfertigung, ihre hochgeschossige verdichtete Bauweise, die zentralisierte Planung und Finanzierung mit Hilfe staatlicher Subventionen und ihre randstädtische Lage. Während die französische Regierung just in dem Moment offiziell von grands ensembles zu sprechen begann, als Bauminister Olivier Guichard 1973 das Ende von deren Bau verkündete, wurden die Ensembles in medialen und wissenschaftlichen Darstellungen bereits seit langem als eine scheinbar einheitliche soziale Realität behandelt. Und als das Ensemble schlechthin galt in den 1960er Parisienne, Paris 1963 (Dossier Provisoire); CAC 19770784/10, Institut Dourdin, Etude sur le Logement, realisée pour Elle, Paris 1958. Auch der lokale Mieterverein führte 1960 eine groß angelegte Befragung der Bewohner durch: Association Sarcelloise des Habitants du Bois de Lochères, Habitants du Grand Ensemble de Sarcelles, Vous avez la parole. Une enquête de l’A. S., Sarcelles 1962 (Bulletin d’information de l’Association Sarcelloise des Habitants de Lochères, Sablons, Barrage). 111 Zur Geschichte der grands ensembles in der Pariser Region vgl. Fourcaut, Les premiers grands ensembles. Die SCIC erwarb das Baugelände 1954, daher gilt mitunter auch dieses Jahr als Beginn der Bauphase. 112 Der Stadtplaner Maurice Rotival gilt als der erste, der von »grands ensembles« sprach: Rotival. Zur Geschichte des Begriffs siehe auch Tellier, S. 6 f. 113 Die Unterscheidung zwischen eigenständig verwalteten Neuen Städten und neuen Großsiedlungen, die einer bereits existierenden Kommune eingegliedert wurden, spielte in der zeitgenössischen Debatte meist eine untergeordnete Rolle.
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Jahren eben Sarcelles, obwohl eigentlich weder Sarcelles Baugeschichte noch die Belegungsstruktur besonders repräsentativ für die neuen Wohnkomplexe waren.114 Mitte der 1950er Jahre ursprünglich von einer Baugruppe als sehr viel kleineres Projekt angelegt, übernahm die SCIC, eine Tochtergesellschaft der der französischen Regierung unterstellten Zentralen Depositenkasse (CDC),115 die Planung und Finanzierung der Siedlung. Die nahm in Reaktion auf den herrschenden Wohnungsmangel immer größere Dimensionen an. Schon bald sprachen politische Akteure stolz von der größten Neuen Stadt Frankreichs oder gleich: ganz Europas.116 Allgemein waren grands ensembles stark von sogenannten »habitation à loyer modéré« (HLM) und damit von staatlich subventionierten Sozialwohnungen geprägt.117 Dennoch handelte es sich nur bei einem Teil der in Sarcelles erbauten Wohnungen um HLM, und die (mit lokalen Wohnungsgesellschaften vergleichbaren) organismes d’HLM spielten für die Vergabe und Verwaltung der Wohnungen dort kaum eine Rolle.118 Über einen Großteil des Wohnungsbestands verfügten individuelle Unternehmen. Private ebenso wie staatliche Unternehmen mussten in Frankreich eine einprozentige Arbeitgeberabgabe (1 % der ausgezahlten Gehälter) an den Staat zahlen, um dessen Bautätigkeit zu unterstützen. Im Gegenzug stand ein Teil der neu entstehenden Wohnungen ihren Beschäftigten zur Verfügung. In zahlreiche der nach und nach entstehenden Siedlungsblöcke zogen infolge dessen zunächst ausschließlich die Arbeitnehmer und Beamten bestimmter Betriebe oder Ämter. Es gab das »bâtiment des flics«, in dem ausschließlich Polizeibeamte wohnten, oder das »bâtiment Citroën«, in dem 600 Arbeiterinnen und Arbeiter des Autokonzerns unterkamen, der Großteil davon spanische und portugiesische Arbeitsmigranten. 1962 zog mit dem Ende des Algerienkriegs eine große Zahl an pieds noirs nach Sarcelles. Auch sie kamen größtenteils in eigenen Gebäuden unter.119 Dennoch stammte zu diesem Zeitpunkt der bei weitem größte Teil der Bewohner (83 %) aus der Region von Paris, gut 14 % kamen aus der französischen Provinz und lediglich knapp 3 % aus dem Ausland oder den 114 Zu Sarcelles als einer Art Archetyp des grand ensemble vgl. mit Blick auf dessen filmische Darstellung auch Canteux, Sarcelles, sowie die (allerdings nicht ausschließlich auf Sarcelles bezogenen) Überlegungen in: dies., Filmer les grands ensembles, v. a. S. 72–93. 115 Zur Planungsgeschichte siehe Duquesne, S. 19, 24–29. Die SCIC, Société Centrale Immobilière de la Caisse des Dépôts, selbst eine Wohnungsbaugesellschaft, war eine 1954 gegründete Tochtergesellschaft der Caisse des Dépôts et Consignations (CDC), die in Sarcelles zugleich als »promoteur, propriétaire, syndic et gérant d’immeubles« agierte. Zur zentralen Rolle der CDC für die Finanzierung des Wohnungsbaus in Frankreich siehe die Beiträge in dem Themenheft: A. Fourcaut u. D. Voldman, Financer l’habitat: Le rôle de la CDC aux XIXe–XXe siècles, Histoire urbaine, Jg. 23, 2008. 116 Municipalité, S. 7. 117 Tellier. 118 Die organismes d’HLM spielten für die Vergabe und Verwaltung der Wohnungen in Sarcelles kaum eine Rolle. 119 Duquesne, S. 94. Siehe dazu auch R. Lechene, Ce qu’on ne vous dit pas sur les grands ensembles, in: L’Humanité, 18.12.1960.
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Kolonien.120 Der Kommune selbst standen nur etwa 10 % der neuen Wohnungen zur Verfügung, die sie vor allem für die Unterbringung »schlecht untergebrachter« Familien aus bidonvilles oder Sanierungsgebieten nutzte. Bis zu 80 % gingen an die Arbeitnehmer und Beamten der Unternehmen,121 über die übrigen 10 % verfügte die SCIC. Auch handelte es sich nicht immer um Mietwohnungen, ein Teil der neu erbauten Wohnungen waren (Teil)Eigentumswohnungen oder sie wurden später dazu gemacht. Dass die Besitz- und Verwaltungsstruktur der Gebäude nicht einheitlich war, und sie außerdem noch im Rahmen unterschiedlichen Regierungs- und Sozialwohnungsprogramme zu unterschiedlichen Zeitpunkten errichtet worden waren, sorgte bei den Bewohnerinnen und Bewohnern mitunter für Verwirrung, zumal es bedeuten konnte, dass sie in gleich ausgestatteten Wohnungen wohnten, dafür aber unterschiedlich hohe Mieten zahlen mussten und als Mieter unterschiedliche Rechte besaßen.122 Wie auch im Falle anderer Großsiedlungen zogen nach Sarcelles anfänglich vor allem Angestellte und Facharbeiter.123 Im Vergleich zur Region Paris insgesamt waren Angehörige der Mittelschicht, wie Angestellte und kleine Funktionäre, in den 1960er Jahren dort über-, Arbeiterhaushalte aber unter repräsentiert.124 Gerade einfache Arbeiter zogen anfänglich kaum in die grands ensembles. So gehörten Mitte der 1960er Jahre knapp 50 % der dortigen Bevölkerung der Mittelschicht an, ca. 38 % waren Arbeiter und bei 10 % handelte es sich um »cadres superieurs« (leitende Führungskräfte). Die grands ensembles wurden in der Regel über einen Zeitraum von mehreren Jahren erbaut. Infolge dessen zog ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ein, während ein Teil der Siedlung noch Großbaustelle war. Viele kämpften daher anfänglich mit infrastrukturellen Problemen, wie etwa mit der mangelhaften Verkehrsanbindung der Ensembles oder der Unterausstattung mit öffentlichen Einrichtungen und Läden. Hinzu kamen Beschwerden über die schlechte bauliche Ausführung der Gebäude. Insbesondere die Hellhörigkeit der Wohnungen war ein Problem. Darüber hinaus mangelte es an Schulen, Kinderkrippen und Spielplätzen, obwohl Familien mit kleinen Kindern einen Großteil der Bevölke120 Duquesne, S. 73. Duquesne stellte bei einer eigenen Befragung fest, dass von 1.780 Bewohnern 1.228 im metropolitanen Frankreich geboren wurden, 308 in Algerien, 86 in Tunesien, 158 in anderen Ländern. Ebd., S. 75. 121 Mezrahi, S. 172; Duquesne, S. 28. 122 Anders als im Falle von Wohnungen, die direkt von den organismes d’HLM verwaltet wurden, handelte es sich bei den von SCIC und CDC verwalteten Wohnungen technisch nicht um HLM, selbst wenn HLM-Normen beim Bau angewandt wurden. Das minderte die Rechte der Mieter. Duquesne, S. 48 f. Siehe auch die Erläuterungen der Mietervereinigung: Augmentation des loyers, in: Association Sarcelloise des Habitants du Bois de Lochères et Sablons. Bullettin Special, April 1959, keine Seitenangabe. 123 Duquesne, S. 82, 85 f. Der Anteil an Selbständigen und freien akademischen Berufen lag unter dem nationalen Durchschnitt. Barou zufolge waren 1955 die mittleren und höheren Schichten bei der HLM-Bevölkerung gegenüber dem nationalen Durchschnitt über repräsentiert. Barou, S. 124. Siehe dazu auch Tellier, S. 64, 67 f. 124 Duquesne spricht von einer »prédominance des classes moyennes«. Duquesne, S. 86 f.
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rung stellten. Die Vergabekriterien der zuständigen Ämter und Unternehmen brachten es mit sich, dass in der überwiegenden Mehrheit junge Familien in die neuen Großsiedlungen zogen. 1962 waren in Sarcelles lediglich 8 % der Bewohnerinnen und Bewohner älter als 45 Jahre, das Durchschnittsalter der Bevölke rung lag bei 21 Jahren, und 91 % der dort lebenden Erwachsenen waren verheiratet.125 Wenn der Soziologe Henri Lefebvre mit Blick auf die Neuen Städte bemerkte, dass es dort keine Toten gebe, die hätten beerdigt werden können, kommentierte er nicht allein das Fehlen von Friedhöfen als Symbol historisch gewachsener Städte, sondern auch eine spezifische demographische Struktur.126 Dennoch waren es weniger allein oder maßgeblich infrastrukturelle Pro bleme, die anhand der Siedlungen verhandelt wurden, als vielmehr die Begleiterscheinungen des modernen urbanen Lebens für Individuum und Gesellschaft. Die standardisierte Massenarchitektur, ihre Anonymität, soziale Kälte und immer wieder ihre Geschichts- und Seelenlosigkeit: Sie wurden in den 1960er Jahren mit Großsiedlungen wie Sarcelles in erster Linie assoziiert und begründeten deren schlechten Ruf.127 b) Frauen am Rande der Stadt. Vom »Wahnsinn der grands ensembles« Eine der ersten Reportagen, die sich in der überregionalen Presse mit Sarcelles befassten, erschien am 28. August 1958 in dem Modemagazin »Elle«.128 Die Reportage war gut vorbereitet: Die Herausgeberin der Zeitschrift, Hélène GordonLazareff, hatte zuvor ein privates Marktforschungsinstitut mit einer Befragung der Bewohnerinnen von Sarcelles beauftragt.129 Gordon-Lazareff, die an der Sorbonne Ethnographie studiert hatte und in den 1940er Jahren im Exil unter anderem für die »New York Times« und »Harper’s Bazaar« schrieb, gehörte einer 1957 eingerichteten Regierungskommission an, die sich mit den Lebensbedingungen in den neuen grands ensembles befasste.130 Die von ihr in Auftrag gegebene, im Mai und Juni 1958 in Sarcelles durchgeführte Befragung sollte zeigen, wie sich Familien »psychologisch und materiell« an die neuen Wohnbedingungen 125 Die Daten basieren auf der soziologischen Studie der CINAM von 1963, Bd. 1, S. 36 f. Duquesne wiederum gibt an, dass 80 % der Erwachsenen jünger als 44 Jahre seien. Duquesne, S. 73. 126 Lefebvre, Les nouveaux ensembles, S. 195, 197. 127 Darüber hinaus hoben die Kritikerinnen und Kritiker vor allem drei Punkte immer wieder hervor: die vergleichsweise hohen Mieten, die für einkommensschwächere Haushalte eine Herausforderung darstellten, den Mangel an öffentlichen Infrastrukturen sowie schließlich die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit vor allem der Bewohnerinnen. Tissot, L’Etat, S. 33–36. Siehe dazu auch Jannoud u. Pinel, S. 31–47. 128 Une ville est née, in : Elle, 28.08.1958, S. 36–37, 40–41, 66–67. 129 Institut Dourdin, Etude sur le logement. Réalisée pour Elle, Paris 1958. 130 Mission Mémoires et identités en Val de France, Textes et images, S. 17. Fourcaut, Les premiers grands ensembles, S. 214.
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anpassten, die in und bei Paris entstanden. Repräsentativ war die Umfrage nicht. Sie fußte auf einer kleinen Zahl von 39 ausschließlich weiblichen Befragten, die sich in der großen Mehrheit positiv zum Leben in Sarcelles äußerten. Daraufhin befragt, ob sie die Neue Stadt als »totalen Erfolg«, »gewagtes Unterfangen« oder als »zu korrigierende Erfahrung«, betrachteten, wählten 27 der Befragten die erste und lediglich eine die zweite Antwortmöglichkeit.131 Die Umfrage legte im Zuschnitt ihrer Fragen allerdings selbst bestimmte Antworten nahe. Frage Nummer 10 etwa lautete: »Haben Sie den Eindruck in einer großen Stadt, in der Nähe von allem, das sie benötigen, zu wohnen, während Sie aber zugleich nicht den Lärm ertragen und den Geruch von Benzin einatmen müssen und nicht von Fabriken umgeben sind, sondern von Luft und Sonne profitieren?« Wenig überraschend antwortete die überwiegende Mehrheit (36 von 39 Befragten) darauf mit »Ja«.132 Indem sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu wichtigen Auftraggebern für Umfragen wurden, trugen populäre Magazine und Zeitungen zur Verbreitung dieser Form der Wissensproduktion entscheidend bei.133 Mit ihren Fragen nach Konsum und Lebensstil begleiteten die Magazine den Aufstieg der Konsumgesellschaft; sie trugen dazu bei, dass es üblicher wurde, sich selbst anhand von Konsum- und Lebensstilentscheidungen sozial zu verorten. Das verdeutlicht auch die Reportage, die »Elle« im Anschluss an die Befragung in Sarcelles veröffentlichte. Von dem Journalisten Albert Palle unter dem Pseudonym Stanislas Fontaine verfasst, erschien die Reportage im August 1958 unter der Überschrift »Eine Stadt wird geboren«.134 Den Einstieg bildete das ungläubige Lächeln von Yvette Sarton, der das Magazin die gute Nachricht überbrachte, dass für sie, ihre beiden Kinder und ihren Ehemann in Sarcelles endlich die Wohnung frei wurde, auf die die Sartons seit fünf Jahren sehnsüchtig gewartet hatten. Das Magazin präsentierte die Neue Stadt als lang ersehnten Zufluchtsort für junge Familien, die unter der herrschenden Wohnungsnot litten und sich darüber freuten, in Sarcelles endlich in gut ausgestattete Wohnungen mit Bad und Küche ziehen zu können.135 Das Leben dort beschrieb Fontaine als »human, praktisch und vergnügt«. Visuell unterstützte die Reportage dieses Narrativ, indem sie eine Luftaufnahme der Siedlung abdruckte, in der die dargestellten Gebäudekomplexe einzeln beschriftet waren. Während es später oft gängig wurde, die neuen Großsiedlungen aus der Froschperspektive als Anhäufungen hoher Gebäude darzustellen, die sich schwer voneinander unterscheiden ließen und wenig Möglichkeiten zur Orientierung boten, erschien die Neue Stadt hier handhab- und lesbar. Dem entsprach, dass deren Größe und Modernität durchweg positiv dar131 Institut Dourin, Enquête effectuée à partir du questionnaire rédigé par ›Elle‹, à Sarcelles, S. 44. 132 Ebd., S. 51. 133 Igo. 134 Rudolph macht Palle als deren eigentlichen Autor aus. Rudolph, S. 142 f. 135 Une ville est née, in: Elle, 28.08.1958, S. 66.
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gestellt wurden. Das Gebäude, das Yvette und ihr Mann bisher in der angrenzenden Kleinstadt Sarcelles bewohnt hatten, beschrieb Fontaine als »archaisch«, den Umzug der Sartons kommentierte er mit den Worten, sie müssten kaum mehr als zwei Kilometer zurücklegen, um »die Vergangenheit zu verlassen und in die Zukunft einzutreten«.136 Gegenüber dieser Eloge auf die Modernität und Humanität der (Vor)Städte, die tausenden schlecht Untergebrachten mehr Komfort boten, schlug die Berichterstattung zu Sarcelles allerdings schon bald einen anderen Ton an. Infra strukturelle Mängel rückten stärker in den Fokus, und der Verweis auf die Vereinsamung und Depressivität der Bewohnerinnen und Bewohner wurde zu einem wesentlichen Element des Raumereignisses Sarcelles. Bevor gegen Ende der 1960er Jahre die Soziologisierung der Auseinandersetzung mit dem modernen Massenwohnen zunahm, dominierte zunächst deren Psychologisierung und Pathologisierung.137 »Mit einem Wort: Es ist die Welt der Isolation und des Zusammengepferchtseins, der Langeweile und des Lärms, in der Sprache der Mieter wie der der Experten: es ist die Hölle.«138 Auf diese Weise charakterisierte der Journalist Louis Caro in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift »Science et vie« 1959 das Leben in den Großsiedlungen.139 Unter der Überschrift »Psychiater und Soziologen klagen an: Der Wahnsinn der grands ensembles« warnte Caro wortreich vor den physischen und psychischen Gefährdungen, die das Leben in den neuen Schlafstädten mit sich brachte.140 Bei seiner Kritik bezog der Journalist sich auf die Aussagen von »vier Experten«: auf den Soziologen Paul Chombart de Lauwe, auf einen Ingenieur, einen Ökonomen und einen Sozialmediziner. Von allen vieren hieß es, dass sie in der hohen Wohndichte, Eintönigkeit und Abgeschiedenheit der Ensembles eine Bedrohung für die mentale wie physische Gesundheit der Bewohnerschaft sahen. Auch zog Caro ihre Expertise heran, um die baulichen Schwächen und zumal die Hellhörigkeit der neu erbauten Siedlungen ebenso zu kritisieren wie die erhöhte Zahl ihrer depressiven oder suizidalen Bewohnerinnen und Bewohner. Der Journalist zitierte sogar Experimente mit weißen Ratten, die kürzlich in einem Laboratorium in Marseille »unwiderlegbar« gezeigt hätten, dass deren Nervensystem sich dauerhaft verändere, wenn sie systematisch einer lauten Umgebung ausgesetzt würden.141 Mit Blick auf die 136 Ebd. 137 Siehe dazu auch Tissot, S. 33–37. 138 »En un mot, c’est le monde de l’isolement et de la promiscuité, de l’ennui et du vacarme, dans le langage des locataires comme dans celui des experts, c’est l’enfer.« Caro, S. 32. 139 Caro war 1918 geboren worden und schrieb für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, er war zwischenzeitlich Mitglied der Redaktion der Zeitschrift »L’écho de la mode«. 140 »August 1959. Jahr 14 des Wohnungskampfs. 12 Millionen Franzosen […] lernen bei ihrer Rückkehr aus den Ferien die genaue Natur des geheimen Leidens kennen, das sie befällt: die Neurose der banlieues.« Caro. 141 Ebd., S. 31. Für den alarmistischen Ton der Reportage war typisch, dass diese Kritik in einem separaten Kasten formuliert wurde, der die Überschrift »Cote d’alarme dépassée«
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geometrischen Fassaden der neuen Ensembles in Sarcelles, Villejuif und anderen Orten sprach Caro gar von einer »monde concentrationnaire« und rückte sie damit semantisch in die Nähe von Konzentrationslagern.142 Die Resonanz auf seinen Artikel war beachtlich. Zu den Leserbriefen, die das populärwissenschaftliche Magazin »Science et Vie« in seiner übernächsten Ausgabe druckte, gehörte ebenso ein Schreiben des ehemaligen Parlamentariers Philippe Serre, der Caro zustimmte, wie ein Brief des amtierenden Bauministers Pierre Sudreau, der ihn kritisierte und auf die Notwendigkeit und Fortschrittlichkeit der neuen Bauten hinwies.143 Es ist dieses Spannungsfeld zwischen dem Verweis auf akute Wohnungsnöte einerseits und einer scharfen, anti-urbanen Kritik der neu geschaffenen Wohnverhältnisse andererseits, in dem sich die öffentliche Auseinandersetzung mit den grands ensembles um 1960 bewegte. Noch mehr als in Westdeutschland rekurrierten die französischen Massenmedien in diesem Rahmen auf wissenschaftliche Forschungen und deutlich ausgeprägter als im westdeutschen Fall waren es psychologische Deutungsmuster, die dominierten. Die Beschwörung der sozialen Isolation im modernen Massenwohnungsbau einte dabei die Kommentatorinnen und Kommentatoren unterschiedlicher politischer Lager. Der Neue, schrieb etwa die kommunistische Tageszeitung »L’Humanité« 1960 im Rahmen einer mehrteiligen Reportage zu den grands ensembles, werde dort unter 999 anderen Einsamen der eigenen Einsamkeit ausgesetzt.144 In der konservativen Tageszeitung »Le Figaro« hieß es, ebenfalls als Teil einer mehr teiligen Artikelserie, in den Neuen Städten manifestiere sich, »was die Soziologen als ›Gefühl der affektiven Vereinsamung‹« bezeichnen.145 Und in der mehrteiligen Reportage, die Geneviève Lainé 1960 für die katholische Tageszeitung »La Croix« verfasste, schrieb die Journalistin, die tatsächliche Krankheit der grands ensembles sei die »Isolation« (l’isolement) vor allem der Bewohnerinnen. Sie zitierte eine Bewohnerin, die kurz nach der Euphorie der Ankunft von einem Gefühl der Einsamkeit erfasst wurde: »Eine Mentalität, die wahrscheinlich mit der der Vertriebenen (personnes déplacées) zu vergleichen ist, ergriff uns und machte uns Angst; Angst vor der brutalen Trennung von unseren alten Beziehungen […]. Man schließt sich bei sich ein (»On s’enferme chez soi«).«146 Von der konservatrug. Neben einem Foto, das eine Familie zeigte (vier Kinder die sich mit ihren Eltern in einer sehr kleinen Küche aufhielten), erläutert ein kurzer Absatz die gesundheitlichen Gefahren einer zu hohen Lärmbelästigung. Ebd. 142 Ebd., S. 32. 143 Leserbriefe, in: Science et vie, H. 11, 1959, S. 5–7. 144 »Le ›nouveau‹ ne se sent pas pris en charge par une collectivité ayant déjà son histoire, sa chaleur. Il est livré à sa solitude parmi 999 autres solitudes.« Robert Lechene, Ce qu’on ne vous dit pas sur les grands ensembles, L’Humanité, 18.12.1960. 145 A. Vinard, Les ›grands ensembles‹, univers concentrationnaire?, in: Le Figaro, 16./17.01.1960. 146 »Une mentalité, semblablement probablement à celle des ›personnes déplacées‹, s’empare de nous et nous avons peur. Peur de cette coupure brutale avec nos anciennes relations, nos habitudes.« G. Lainé, Grands ensembles. Enquête, 3 : Naissance d’une civilisation, in : La Croix, 04.02.1960.
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tiven Tageszeitung »Le Figaro«, über die liberale »Le Monde« bis hin zur katholischen »Le Croix« oder zur kommunistischen »L’Humanité«: die Kritikerinnen und Kritiker der grands ensembles ähnelten sich in ihrer Zeichnung der neu entstehenden modernen Stadtrandsiedlungen als Räumen der sozialen Kälte. Die zeitgenössischen Beschwörungen des »Wahnsinns der grands ensembles« spiegelten dabei ein verbreitetes Interesse an den pathologischen Effekten beengter Lebensbedingungen wider. Der US-amerikanische Verhaltensforscher John Calhoun etwa hatte in den 1950er Jahren damit begonnen, Mini-Hochhäuser zu bauen, in die er Laborraten setzte, deren Zahl er schrittweise erhöhte. Calhoun ging es darum zu zeigen, dass eine zu große Bevölkerungsdichte mit pathologischen Verhaltensweisen, wie einer wachsenden Apathie, Aggressivität und übersteigerten Sexualität einherging.147 Ratten, die zu eng beieinander wohnten, zeigten demnach ein besorgniserregendes Sozial- und Sexualverhalten. Zwar war Calhoun primär am Verhalten von Tieren interessiert, doch bezog er seine Ergebnisse auch auf das menschliche Zusammenleben in Städten. Damit war er erstaunlich erfolgreich. Städteplaner begannen weit über die USA hinaus seine Arbeiten zu zitieren, und Calhouns Experimente zogen in den 1960er Jahren weitere nach sich, auch in Frankreich, die darauf zielten, einen Zusammenhang zwischen räumlicher Dichte und sozialen Pathologien herzustellen.148 Der Einfluss des Massenwohnens auf die Psyche und das Verhalten beschäftigte mit Blick auf die grands ensembles auch eine wachsende Zahl von Soziologinnen und Soziologen.149 Michèle Huguet etwa führte ihre Großsiedlungsforschung an Chombart de Lauwes’ Centre d’ethnologie sociale et de psychosociologie durch.150 Die Soziologin interessierte sich in erster Linie für die negativen Effekte der Siedlungen auf die Psyche von Frauen, und sie versuchte, auf der Basis von Interviews herauszufinden, wie sich deren Umzug dorthin auswirkte. Sie befragte die Bewohnerinnen zweier grands ensembles und unterteilte die Interviewten dann in solche, die sich gut in die neue Umgebung einfügten, und solche, denen das nicht gelang. Huguet unterschied dabei zwischen jungen Frauen, die eher aus einem bürgerlichen Umfeld kamen, dessen Mondänität sie vermissten, und solchen, die eher aus einem Arbeiterumfeld kamen, dessen Nachbarschaftlichkeit ihnen fehlte. In beiden Fällen beschrieb Huguet den Umzug in die sozial durchmischten Ensembles als eine Art Identitätsverlust, der durch die Konformität der urbanen Umgebung verstärkt wurde: »Das Aufeinandertreffen einer großen Zahl von Personen vermittelt den Eindruck, Teil einer Masse zu sein, ohne sich davon psychologisch oder soziologisch (Mischung sozialer Klassen) unterscheiden zu können.« Die Einsamkeit der banlieues war 147 Calhoun. 148 Zum großen Einfluss der Rattenexperimente des US-Verhaltensforschers John B. Calhoun auf stadtplanerische Debatten der 1960er Jahren siehe Ramsden; Ramsden u. Adams. 149 Siehe u. a. auch Lefebvre, Les nouveaux ensembles; Kaës; Clerc. 150 Zu diesem Centre siehe auch die Ausführungen in Kap. 3. 2.; Huguet, Approche; dies., Les femmes.
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in dieser Sicht sowohl eine geschlechtsspezifische als auch eine klassenbezogene Erfahrung: Es war die Einsamkeit derer, die ihr früheres soziales Umfeld verlassen mussten und sich nach der Vertrautheit ihres eigenen Milieus sehnten. Obwohl die Belegungsdichte in innerstädtischen Altbauvierteln deutlich höher war als in den Großsiedlungen, beschrieben zeitgenössische Sozialwissen schaftler lediglich die randstädtischen Siedlungen als Orte einer zu großen räumlichen Nähe. Die grands ensembles erschienen als Orte der Masse, der sozialen Kälte und des Verlusts an Klassenzusammenhalt, nicht aber die weiterhin dicht besiedelten innerstädtischen Viertel. Indem sie deren hohe Bevölkerungsdichte zu einem Problemfaktor erklärten, griffen die Kritiker der grands ensembles allerdings ein Kriterium auf, das eigentlich für die moderne Stadtplanung selbst zentral war. Schließlich wurde eine zu große räumliche Nähe auch im hygienischen Denken als Bedrohung für die (Volks)Gesundheit gedeutet; genau deswegen hatten die modernen Siedlungen ja dezidiert mehr Raum für den Einzelnen oder die Einzelne versprochen. Letztlich schlug das große Lob des modernen Bauens um 1960 auch deswegen so unmittelbar in massive Kritik um, weil sich die Argumente von Verteidigern und Kritikern zunächst ähnelten.151 Dazu passt, dass die medizinisch gefärbte Rede von der »Krankheit der grands ensembles« um 1960 auch in staatlichen Planungszirkeln aufgegriffen wurde. Die Kritik am modernen Massenwohnen war zunächst die (rasch akzeptierte) Kritik staatsnah operierender Sozial psychologen und Mediziner. Als das französische Bauministerium im Januar 1960 gemeinsam mit zwei anderen Ministerien zu einer Konferenz in das Pariser Unesco-Gebäude einlud,152 nahmen daran neben Vertretern unterschiedlicher Ministerien und öffentlicher Organisationen zwei wissenschaftliche Experten teil: Der Soziologe Chombart de Lauwe hielt dort ebenso einen Vortrag wie der renommierte Sozialmediziner und Hygieniker Robert Hazemann, der den Posten eines Directeur Départemental de la Santé bekleidete.153 Schon der mehrfach umformulierte Arbeitstitel der Konferenz verdeutlicht die Stoßrichtung der Debatten. Zunächst mit »Die Krankheiten der grands ensembles« überschrieben, wurde die Konferenz dann unter dem Arbeitstitel »Psychosoziale Risiken der grands ensembles« geplant, um schließlich unter der Leitfrage, wie »die grands ensembles zu einem Erfolg werden können«, statt zu finden.154 Chombart de Lauwe trug bei dieser Gelegenheit seine auch in anderen Zusammenhängen immer wieder formulierte Kritik vor, dass die grands ensembles zu wenig an den 151 Siehe dieses Argument auch bei Urban. 152 Der eigentliche Organisator der Konferenz war das Centre national pour l’amélioration de l’habitation (CNAH). Ankündigung des Colloquiums am 21.–23.01.1960, in: L’Habitation, Jg. 69, 1959; Editorial, in: L’Habitation, Jg. 78, 1960. 153 Siehe dazu auch: A. Vinard, Les ›grands ensembles‹, univers concentrationnaire?, in : Le Figaro, 15.01.1960. 154 Editorial, in : L’Habitation, Jg. 78, 1960; G. Houist, Préparation du Colloque, in: L’Habitation, Jg. 78, 1960, S. 23.
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Bedürfnissen der Bewohner orientiert seien,155 während Hazelmann erklärte, dass die räumliche Nähe der dort Wohnenden und die konkreten Wohnbedingungen gesundheitsschädigende Wirkungen zeitigten und die sozialen Beziehungen zerstörten.156 Hazemann hatte bereits 1958 vor den Mitgliedern der Préfecture de la Seine einen Vortrag gehalten, bei dem er erklärte, man habe vergessen, dass Individuen sich in einer zu großen Welt nicht integrieren könnten.157 Während jemand, der zusammen mit 20 Familien in einem Gebäude wohne, durch die sich dort unweigerlich etablierenden Kontakte »weniger geneigt sei, sich gehen zu lassen« und der Vernachlässigung anheim zu fallen, sei das Individuum, das nicht in eine Gemeinschaft eingebunden ist, nicht es selbst.158 »Je größer das ensemble ist, desto weniger Integration gibt es. Es besteht aus Molekülen in einem immensen Raum«.159 Die Menschen würden sich nicht kennen, nicht grüßen, sämtliche sozialen Kontakte würden unterdrückt. Diese Zerstörung des Affektiven wiederum, schloss Hazemann, erkläre zumindest in Teilen die Indifferenz, den Egoismus und den allgemeinen Mangel an Solidarität in den Großsiedlungen.160 Obwohl Chombart de Lauwe deutlich soziologischer als Hazemann argumentierte, der stärker medizinisch dachte, ähnelten sich beide in ihrer Sorge um die gesellschaftlichen Folgen einer zu geringen Einbindung des Individuums in lokale Gemeinschaften, und beide wurden um 1960 in den Debatten über die grands ensembles häufig als Experten konsultiert.161 Allerdings war es erst das Zusammenspiel von Forschung und Massen medien, das die Isolation und Einsamkeit in den grands ensembles zu einer politisch einflussreichen »Tatsache« werden ließ. Der Journalist André Vinard beispielsweise befasste sich für die konservative Tageszeitung »Le Figaro« in einer mehrteiligen Reportage mit den Siedlungen. Er überschrieb die Serie mit der Frage »Les ›grands ensembles‹, univers concentrationnaire?« und zitierte darin gleich eingangs einen, wie er schrieb »Soziologen« – um dann wortwörtlich Passagen aus dem vorhin erwähnten Artikel des Journalisten Louis Caro zum Wahnsinn der grands ensembles wiederzugeben, die wiederum eigentlich von Caro selbst stammten. Das Beispiel ist bezeichnend, weil es zeigt, wie eng die unterschiedlichen Presseberichte über die Siedlungen aufeinander bezogen waren, und wie sehr eine Sprache der wissenschaftlichen Expertise diese Be-
155 Siehe zum Beispiel die Beiträge von Chombart und Hazemann in: Les Maladies des Grands Ensembles. Themenheft, in: L’Habitation, Jg. 72, 1959. 156 Siehe zu diesen Thesen auch Tellier, S. 44 f. 157 Hazemann. 158 Ebd., S. 12 f. 159 Ebd., S. 13. 160 Ebd., S. 15. 161 Tellier, S. 133. Als 1963 von der Regierung abermals eine Kommission gebildet wurde, die sich mit der Kriminalität und Isolation von Jugendlichen in den Siedlungen befassen sollte, gehörte Chombart de Lauwe abermals zu den Mitgliedern.
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richterstattung prägte, die auf das konkrete Gespräch mit wissenschaftlichen Akteuren nicht angewiesen war. Dass zugleich Soziologen wie Henri Lefebvre ihre Untersuchungen der Neuen Städte unter Verweis auf deren Darstellung in der Presse einleiteten, verdeutlicht, dass mediale und wissenschaftliche Akteure die »soziale Isolation« am Stadtrand gemeinsam als (wissenschaftlich bezeugtes) Problem herstellten. Und das, obwohl in der Rückschau viele der Bewohnerinnen und Bewohner das Zusammenleben in den noch neuen Großsiedlungen durchaus als nachbarschaftlich beschrieben. Die Problematisierung des modernen Massenwohnens macht deutlich, warum die Beziehung zwischen Sozialwissenschaft, Öffentlichkeit und Gesellschaft als ein reziprokes Verhältnis analysiert werden muss. Sie zeugt insofern von einer Medialisierung der Sozialwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich die wissenschaftlichen Akteure nicht allein an eine selbst generierte Fachöffentlichkeit richteten, sondern sich auch an den Massenmedien orientierten. Zugleich entsprach die Art und Weise, auf die Journalisten ihre Berichterstattung über den Verweis auf Experten und deren wissenschaftliche Erkenntnisse legitimierten, weder einem einseitigen Transfer (von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit) noch einer Popularisierung, bei der vorher Komplexes vereinfacht wurde.162 Es sprach in erster Linie für eine in den 1950er und 1960er Jahren eng miteinander verschränkte Wissenschafts- und Mediengläubigkeit. Dass etwa die »Sarcellite« sich Anfang der 1960er Jahre zu einer feststehenden Bezeichnung für depressive Zustände entwickelte, die durch das Leben in den Großsiedlungen ausgelöst wurden, zeugte nicht allein vom großen Einfluss sozialpsychologischer und -medizinischer Deutungen in wissenschaft lichen Zirkeln.163 Es war auch einer Dynamik geschuldet, bei der eine durch die Massenmedien erfundene »Tatsache« ihrerseits von der Forschung aufgegriffen wurde. Zuerst verwendet wurde der Begriff »Sarcellite« 1962 von dem Regionalblatt »L’echo régional«.164 In einem kurzen Artikel wurde dort über ein Radiointerview berichtet, in dem ein Bewohner Sarcelles anscheinend erklärte hatte, unter der »Sarcellite« zu leiden. Die Zeitung ging dem nach und konsultierte einen Mediziner, der seinerseits vermutete, es handele sich dabei wohl um eine scherzhafte Bezeichnung für die »nervösen Leiden, der Neurasthenie vergleichbar, unter denen manche Frauen leiden, die sich erst kürzlich in ihrem neuen Leben eingerichtet haben und denen es noch nicht gelungen ist, sich in das Ge-
162 Siehe dazu Felt. Zum Versuch einer kommunikationswissenschaftlichen Systematisierung des Verhältnisses von vor allem Naturwissenschaft und Medien siehe Schäfer. Zu einer stärker wissenssoziologischen und -historischen Perspektive auf dieses Verhältnis vergleiche die Beiträge in Rödder u. a. 163 Zur Bedeutung der Sozialpsychologie für die französische (Stadt)soziologie dieser Zeit siehe auch Amiot, Kap. 3. 164 Sarcellite, in: L’Écho régional, 22.03.1962.
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meinschaftsleben der Stadt einzufügen«.165 Diese eher kurze Passage bildete den Auftakt für eine wieder und wieder in Reportagen, Dokumentationen und Studien über die Großsiedlungen allgemein und Sarcelles im Speziellen aufgegriffene Darstellungsweise.166 Die »Sarcellite« entwickelte sich in den 1960 Jahren zu einer feststehenden Krankheitsbezeichnung für Depressionen, von denen es hieß, dass sie vor allem bei Frauen durch das Leben in den Großsiedlungen ausgelöst würden.167 Im Gegensatz zu späteren Debatten standen Anfang der 1960er Jahre nicht so sehr Klassenunterschiede oder ethnische Differenzen im Fokus der Problematisierung der Hochhaussiedlungen, sondern Geschlechterdifferenzen. Zwar wurden verschiedentlich Zweifel an der Umsetzbarkeit des Leitbilds einer sozialen Durchmischung geäußert, und bereits in den späten 1950er Jahren wiesen Journalisten wie Soziologen darauf hin, dass der Umzug in die randstädtischen Siedlungen mit einer vergleichsweise großen finanziellen Belastung für einkommensschwächere Haushalte einherging.168 Hinzu kam, dass die Mieten (nicht nur in Sarcelles) im Laufe der 1960er Jahre deutlich stiegen; ein Umstand, der bei den Bewohnerinnen und Bewohner zu Protesten führte, zumal es vermehrt zu Räumungen kam.169 Konfliktherde waren die Siedlungen dennoch kaum. Ledig lich am Rande wurden grands ensembles wie Sarcelles mit delinquenten Jugendlichen, mit »blousons noirs« und Jugendgangs, in Verbindung gebracht.170 Die eigentliche »Problembevölkerung«, die um 1960 im Fokus der Beschwörungen des Wahnsinns, der Einsamkeit oder der Seelenlosigkeit des Stadtrandwohnens stand, waren Frauen.171 Allgemein galten Wohnsiedlung und Nachbarschaft als primär weibliche Handlungsräume, weil sie Schauplätze von Tätigkeiten waren, die zu den weiblichen Kernaufgaben gezählt wurden: Einkaufen, Kindererziehung, Wäschewaschen, Pflege von Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen. Selbst bei Arbeiterhaushalten wurde die außerhäusige, bezahlte Erwerbstätigkeit in den 1950er Jahren in erster Linie als Aufgabe der 165 »[…] que ça ne pouvait être qu’une boutade, appliquée à des troubles nerveux voisins de la neurasthénie qu’éprouvent certaines femmes récemment installées dans leur nouvelle vie et qui ne sont pas encore parvenues à s’incorporer à la vie collective de la cité.« Ebd. 166 Auch Kaës bescheinigte in einer der ersten soziologischen Studien zu den grands ensem bles den Bewohnerinnen und Bewohnern ein »neurotisches Verhalten«, das von der Angst hinauszugehen über Formen des zwanghaften Verhaltens und Alkoholismus bis hin zu Depressionen reiche. Zwar schienen ihm Hausfrauen nicht die einzigen zu sein, die mit diesen Problemen kämpften, doch stellte Kaës sie als besonders gefährdet dar. Kaës, S. 12–15. 167 Die Sarcellite sei, hieß es etwa in L’Aurore, keine eingebildete Krankheit. L’Aurore, 26.04.1965; Siehe auch die Zitate bei Duquesne, S. 100 f. 168 Tellier, S. 79 f. Barou zufolge waren 1955 die mittleren und höheren Schichten bei der HLMBevölkerung gegenüber dem nationalen Durchschnitt überrepräsentiert. Barou, S. 124. 169 Duquesne. 170 Zum »Konflikt der Generationen« in Sarcelles siehe Jannoud u. Pinel, S. 163–176. Siehe dazu auch Tellier, S. 131–135. 171 Tissot, S. 36. Siehe zu diesem Phänomen auch die soziologischen Überlegungen von H uguet, Les femmes.
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Männer betrachtet, während die Berufstätigkeit von Frauen – zumindest, wenn sie verheiratet waren – eher als Zugabe gesehen wurde. Diese gegenderte Aufteilung wurde durch den Umzug in die Stadtrandsiedlungen tendenziell verstärkt: Denn während arbeitende Ehemänner und Väter in vielen innerstädtischen Vierteln oft noch in der Nähe beschäftigt gewesen waren und damit bis zu einem gewissen Grad in der Quartiersöffentlichkeit präsent blieben, war das in den Neuen Städten und Großsiedlungen am Stadtrand anders. Arbeiten und Wohnen waren dort klarer voneinander getrennt. Und obschon deren lokale Erwerbsquote nicht signifikant unter dem nationalen Durchschnitt lag, erschwerte das Fehlen von Arbeitsplätzen vor Ort es gerade Frauen, als Mütter berufstätig zu sein.172 Die funktionalen Maßgaben der modernen Stadtplanung sahen eine Trennung von Wohnen und Arbeiten vor. Obwohl in dieser Zeit eine wachsende Zahl von Produktionsstätten aus den Innenstädten heraus an den Stadtrand verlagert wurde, fanden sich diese Stätten selten in unmittelbarer Nähe der neuen Siedlungen. Dementsprechend gehörte es zu den immer wieder beschriebenen Routinen der Neuen Städte, dass sie sich morgens leerten.173 »Die Männer« (und eine Reihe von Frauen) verließen am frühen Morgen ihre Wohnungen, um mit dem Zug oder dem Auto zur Arbeit zu fahren, während »die Frauen« mit den Kindern zurück blieben.174 Vor allem deshalb wurden Sarcelles und andere Siedlungen häufig als »Schlafstädte« bezeichnet. Die um 1960 anhebenden Beschwörungen der Depressivität vor allem der Bewohnerinnen legen dabei nahe, dass diese verschärfte räumliche Trennung der Tätigkeitssphären von den Zeitgenossinnen und -genossen als krisenhaft empfunden wurde. Umso mehr, als es vor Ort an öffentlichen Infrastrukturen fehlte, die ausgleichend hätten wirken können: Geschäfte wurden erst nach und nach eröffnet und Kinderkrippen meist mit großer Verzögerung gebaut. Ähnliches galt für den öffentlichen Nahverkehr.175 Dass die Protagonistin in Jean-Luc Godards Film »2 oder 3 Dinge, die ich von ihr weiß« (1967) nicht nur mit der Leere ihres Alltags in einer neuen Großsiedlung 172 Tellier zitiert eine Studie von 1964, wonach 61 % der in Sarcelles lebenden Frauen nicht arbeiteten. Tellier, S. 103. Eine andere soziologische Befragung ging 1962 davon aus, dass 34 % der Mütter in Sarcelles berufstätig waren. Tellier, S. 87.In Frankreich lag die Erwerbsquote bei Frauen Anfang der 1960er Jahre bei etwa 43 %. 173 Beispielsweise M. Denuzière, Cités sans Passé, in : Le Monde, 27./28.10.1963, S. 12. Der Journalist beschreibt dort einen morgendlichen Exodus aus Sarcelles, bei dem früh morgens 13.000 Personen die Stadt verließen, 60 % der Arbeitenden mit dem Zug, 10 % mit dem Autobus, 30 % mit dem Auto. Siehe in ähnlicher Weise R. Lechene, Ce qu’on ne vous dit pas sur les grands ensembles, in : L’Humanité, 18.12.1960. Duquesne, S. 89, 120 f., 135. 174 Auch in der Fernsehserie des Soziologen Chombart de Lauwe zur »Entdeckung der Franzosen« wurde der Alltag in den vorstädtischen Siedlungen auf diese Weise geschildert. La Butte-à-la-Reine (Frankreich, Dokumentarfilm im Rahmen der Reihe »A la découverte des Français«, 1957, Erstausstrahlung: 12.04.1957, RTF). 175 Siehe auch: Madame Bovary dans les HLM, in: Libération, 26.11.1963; R. Caillot, La femme et l’aménagement humain de la cité, in: Economie et Humanisme, 1958, S. 109.
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bei Paris kämpfte, sondern auch sehr konkret mit der Frage, wer auf ihr Kind aufpasste, wenn sie es nicht konnte oder wollte, entsprach einer häufig vorgebrachten Kritik und einem zentralen Strukturproblem der grands ensembles.176 Obwohl mitunter scherzhaft vorgebracht, stand die Evokation der »Neurose der banlieue« in einer langen Tradition der gegenderten Subjektkonstitution der »nervösen« oder »neurotischen« Frau. Dennoch ist die Obsession mit der Isolation der »Frauen der banlieues« bemerkenswert. Zwar bemerkte im Laufe der 1960er Jahre die Mehrheit der medialen Beobachter, dass die soziale Realität der Großsiedlungen deutlich komplexer war als es die ersten Reportagen suggeriert hatten. Dennoch führte quasi jeder Artikel und jede soziologische Studie zu den grands ensembles im Allgemeinen und Sarcelles im Speziellen die These der Depressivität der Bewohnerinnen an, um sie anschließend zu bestätigen oder zu verwerfen. Während die einen, meist unter Bezug auf einen lokal tätigen, namentlich nicht genannten Arzt, erklärten, bei der Sarcellite handele es sich um eine Erfindung, schrieben die anderen, meist ebenfalls unter Bezug auf einen lokal tätigen, namentlich nicht genannten Arzt, es gäbe sie.177 Und obschon zumindest ein Teil der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eher zweifelnd über die Neurosen der Vorstadtbewohnerinnen sprach, erwies sich das Image der Hochhaussiedlung als Ort der Vereinsamung als erstaunlich stabil. Dabei war der Alltag in den neuen grands ensembles de facto weitaus vielfältiger, als es der Ruf der Siedlungen als kalte, seelenlose Umgebung vermuten lässt. Wenn später auf ihre Erfahrungen hin befragt, erinnerten sich viele der frühen Bewohnerinnen und Bewohner eher liebevoll an ihren Umzug in die banlieues.178 Sie verwiesen auf den erheblichen Wohnungsmangel in den 1960er Jahren und berichteten von ihrer Erleichterung und ihrem Stolz über die großen und gut ausgestatteten Wohnungen am Rande der Stadt. Das Zusammenleben der frühen Jahre beschrieben viele als quasi-dörflich, nachbarschaftlich.179 Sie betonten gerade die Gemeinschaftlichkeit der Anfangszeit und berichteten von einer verbreiteten Solidarität im Angesicht einer oft noch provisorischen, unvoll176 2 ou 3 choses que je sais d’elle (2 oder 3 Dinge, die ich von ihr weiß) (Frankreich, Spielfilm, 1967). Bei der dort dargestellten Großsiedlung handelt es sich um La Courneuve. Zu den infrastrukturellen Problemen und der mangelnden verkehrstechnischen Anbindung insbesondere von Sarcelles siehe Tellier, S. 101 f. In der Presse wurde das Bild der vereinsamten Frauen der grands ensembles in Teilen – darin der Schilderung bei Godard nicht unähnlich – mit der skandalträchtigen Schilderung verbunden, viele begännen sich dort zu prostituieren. Tellier, S. 106 f. 177 G. Gatinot, Vivre sous un toit, VIII: Les vraies raisons de la ›sarcellite‹, in : L’Humanité, 05.11.1965; Le Monde (»La ›sarcellite‹, ça n’existe pas […] »); A. Vinard, Les ›grands ensembles‹, univers concentrationnaire?, in : Le Figaro, 15.01.1960 ; G. Lainé, Grands ensembles, Enquête, Part 3 (Naissance d’une civilisation), in : La Croix, 04.02.1960. 178 Siehe etwa die Erinnerungen in der oral-history-basierten Untersuchung von Taboury u. Gougerot. 179 Die erhöhte Fluktuation seit den späten 1960er Jahren und zumal dann den Zuzug migrantischer Familien stellten sie dem allerdings als einen Bruch gegenüber. Ebd.
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endeten Umgebung. Auch entwickelte sich in zahlreichen neuen grands ensembles, darunter Sarcelles, schon bald ein auffallend reges Vereins- und Gemeinschaftsleben. Davon zeugen auch die vielfältigen Bulletins und Jahresberichte der lokalen Vereine, in denen immer wieder der Wert enger nachbarschaftlicher Beziehungen beschworen wurde.180 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Sarcelles sich wiederholt über die verzerrte Darstellung ihrer Siedlung in den Medien beschwerten. Dennoch mussten sie Umgangsweisen finden, die es ihnen erlaubten, mit den öffentlich zirkulierenden Repräsentationen der Siedlung umzugehen. Dazu gehörte, dass manche es unterließen, Außenstehenden zu erzählen, wo sie wohnten.181 Andere waren verunsichert. Ein gutes Beispiel dafür sind die Erinnerungen einer Bewohnerin, die 1973 nach Sarcelles zog und in der Rückschau beschreibt, wie sehr sie sich davor gefürchtet habe, die Sarcellite zu bekommen. Ihre Ankunft in Sarcelles beschreibt sie als schockierendes Erlebnis. Sie habe sich verloren gefühlt und sei unsicher und verängstigt gewesen: »Ich war komplett durcheinander! Andere haben mir so viel über die Übel von Sarcelles erzählt.« Dieses Gefühl habe etwa drei Jahre angehalten. Dann habe sie begonnen, sich einzuleben.182 Ihre Beschwörungen der Einsamkeit des Massenwohnens verbanden die zeitgenössischen Kritikerinnen und Kritiker um 1960 häufig mit einem Appell. Den Neuen Städte müsse es in Zukunft nicht an Reiz fehlen, wenn es den neu zuziehenden »Pionieren« gelänge, ihnen eine Seele geben, erklärte etwa der Journalist Maurice Denuzière in seiner dreiteiligen Reportage zu den »Städten ohne Vergangenheit«, die er 1960 in der »Le Monde« veröffentlichte.183 Dass letztlich die Bevölkerung selbst aktiv werden müsse, um die neuen Siedlungen zu beleben, schrieben in den 1960er Jahren mehr oder weniger alle von außen kommenden Kommentatoren, ob es sich dabei nun um Journalisten oder um Soziologen handelte. Ähnliches galt für lokale Zeitschriften und die Bulletins der Vereine, die in Sarcelles und andernorts in rasch wachsender Zahl entstanden. Auch sie appellierten immer wieder an die neuen Bewohnerinnen und Bewohner, sich zu engagieren und integrieren.184 »Die Stadt aus Stein (oder Beton) ist gebaut«, er-
180 Siehe etwa Bulletin mensuel de l’Association sarcelloise des habitants de Lochères, Sablons, Barrage; En famille. Bulletin mensuel de l’Association des familles du grand ensemble de Sarcelles. 181 Duquesne, S. 104. 182 Interview mit Mme Pantigny, aus : Mission Mémoires et identités en Val de France, Textes et images, Quelle Nr. 110. 183 M. Denuzière, Cités sans passé. III: Construire une communauté humaine, in: Le Monde 27./28.10.1963. 184 Diese Beobachtung basiert auf einer Sichtung von: Bulletin mensuel de l’Association sarcel loise des habitants de Lochères, Sablons, Barrage, und: En famille. Bulletin mensuel de l’Association des familles du grand ensemble de Sarcelles aus den Jahren 1958–1960, 1964, 1966.
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klärte etwa die zentrale Mieterorganisation von Sarcelles 1960, »es ist an uns, sie lebenswert zu machen, sie mit unseren eigenen Mitteln zu beleben.«185 Auf Regierungsebene wiederum wurde auf die Kritik an den seelenlosen Großsiedlungen vermehrt mit animation reagiert, mit der Finanzierung öffent licher Einrichtungen und Formen der Sozialarbeit, die den lokalen Zusammenhalt stärken sollten. Damit verbunden war die wiederholte Aufforderung an die Bürgerinnen und Bürgern, selbst aktiv zu werden, sich nicht zu isolieren, sondern »in die Gemeinschaft zu integrieren«.186 Obwohl die Psychologisierung urbaner Probleme im Zusammenhang mit den grands ensembles bemerkenswert war, lag die Lösung aus der Vereinzelung der Bewohner für die zeitgenössischen Autoritäten zunächst nicht in einer etwaigen Therapierung der Individuen, sondern in der verbesserten infrastrukturellen Ausstattung ihrer Quartiere und dem Aufruf zu mehr bürgerlichem Engagement.187 Dennoch deutet die Skandalisierung der peripheren Großsiedlungen darauf hin, dass die Herstellung eines funktionierenden Zusammenlebens am Stadtrand kaum allein ein Projekt staatlicher oder staatsnaher Technokraten war, die über die Durchmischung der Viertel eine homogenere Gesellschaft zu formen suchten. Der Versuch, mit Hilfe der neuen Hochhaussiedlungen eine neue soziale Ordnung zu schaffen, ist bisher meist als integraler Teil eines technokratischen Modernisierungsprojekts »von oben« beschrieben worden.188 Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz. Die bemerkenswerte Sehnsucht nach urbaner Gemeinschaft, die in den Beschwörungen der vermeintlich kalten Großsiedlungen zum Ausdruck kam, erstreckte sich in den 1960er Jahren jedenfalls auf mehr als ein Milieu, eine soziale Gruppe oder ein soziales Feld und sie war zudem keineswegs, wie in der Literatur mitunter suggeriert, erst eine Entdeckung der 1970er Jahre oder ein Phänomen der Spätmoderne.189
185 (Übers. C. R.) Association Sarcelloise des Habitants du Bois de Lochères et Sablons. Bullettin mensuel (Juni 1960), S. 5. Tellier zitiert einen ganz ähnlichen Aufruf eines Mietervereins der Lyoner Großsiedlung Les Minguettes von 1969 in dem die Bewohnerinnen und Bewohner sich gleichfalls als »Seele« der Siedlung bezeichneten: »C’est nous qui l’animons […] afin qu’elle ne soit plus pour nous une ville dortoir, mais une cité pleine de vie où tous les habitants se connaissent.« Tellier, S. 145 f. 186 »Chacun doit comprendre qu’il a son rôle à jouer dans l’animation du grand ensemble, qu’il ne doit pas s’isoler dans sa demeure mais s’intégrer dans la communauté et faire bénéficier les autres de ses connaissances et de son expérience.« Tellier, S. 123 f. 187 Ebd., S. 123 f. Cupers, The Social; ders., The Expertise. 188 Zu dem weit über die 1960er Jahre hinausreichenden Versuch vor allem politischer Akteure, in modernen Siedlungen »Gemeinschaft« herzustellen siehe auch Sammartino. 189 Ebd.; Gertenbach u. a., S. 58 ff. Zur Bedeutung der Sehnsucht nach Gemeinschaft für das (westdeutsche) alternative Milieu siehe auch Reichardt.
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c) Von der Vereinsamung zur Segregation Gegen Ende der 1960er Jahre wuchsen in Frankreich die Bedenken hinsichtlich einer sozialen Segregation der (Vor)Städte. Anfänglich eher verhalten, wiesen vor allem Soziologinnen und Soziologen immer lautstärker darauf hin, dass der Fortzug aus den Großsiedlungen sich verstärkte. Ihren Widerhall fanden diese Warnungen in der Politik. Schließlich begründete der französische Bauminister Guichard 1973 das Ende des Baus weiterer grands ensembles unter anderem damit, auf diese Weise der sozialen Segregation der französischen Städte entgegen treten zu wollen.190 Und in den parlamentarischen Debatten, die auf das circulaire Guichard 1973 folgten, warnten die Redner, gleich welcher Partei, vor einer »Segregation« der französischen Städte und speziell der Vorstädte.191 Gegenüber der früheren sozialmedizinischen Sorge um eine Vereinsamung der Stadtbewohner akzentuierte die Großsiedlungsdebatte der frühen 1970er Jahre stärker gesellschaftliche Probleme, wie namentlich eine Verstärkung der Probleme der classes populaires.192 Das hatte etwas mit einem schrittweisen Wandel in der sozialen Zusammensetzung der Siedlungen zu tun. Während grands ensembles wie Sarcelles zuvor Orte waren, an denen eine neue Mittelschicht und die aufsteigende Arbeiterschaft Zugang zu modernem Konsum erhielten, begann sich das in den frühen 1970er Jahren zu ändern. Zwar war die Fluktuation in den Großsiedlungen quasi von Beginn an hoch gewesen. Viele Familien zogen von vornherein mit dem Plan dorthin, die Siedlungen später wieder zu verlassen, um in ein Einfamilienhaus zu ziehen. Doch rückte der von vielen geträumte Traum vom Eigenheim um 1970 für einen wachsenden Teil der Bevölkerung in greifbare Nähe. Zum einen, weil die Regierung den Eigenheimbau stärker förderte, zum anderen, weil viele erst im Laufe der 1960er Jahre über Ersparnisse verfügten, die es ihnen ermöglichten, ein Einfamilienhaus zu finanzieren. Unter Wohnungsminister Albin Chalandon förderte die französische Regierung ab 1969 verstärkt den Eigenheimbau.193 Dementsprechend brachten die 1970er Jahre eine beschleunigte »Rurbanisation« mit sich; eine in die Weite gestreckte Sub190 Olivier Guichard, Déclaration sur les orientations de la politique urbaine, 17.05.1973, in: JO, no354, 1973, S. 8–9. Guichard bezog sich bei seinen Ausführungen unter anderem auf Henri Lefebvre und dessen Forderung nach einem »Recht auf Stadt«. Siehe dessen Erläuterungen in: Le Monde, 12.05.1973. 191 Tissot, L’Etat, 30 f. Allerdings weist Tissot darauf hin, dass sie mit dem Begriff durchaus unterschiedliche Dinge meinten. 192 »Nous voulons que nos villes soient de véritables communautés […] Pour que la ville enseigne et maintienne la nation, il faut qu’elle en reflète la structure, sinon exactement du moins sans trop de distorsion. Il est évident que la cité ouvrière, le quartier HLM ou la banlieue résidentielle sont à cet égard des structures déformantes - à la limite des lieux d’apprentissage de la sécession sociale.« Olivier Guichard, Assemblée nationale, Sitzung vom 17.05.1973, in : JO. Débats Parlementaires, no30, 1973, S. 1327 ff. 193 Oblet.
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urbanisierung durch meist in Fertigbauweise erbaute preiswerte Einfamilienhaussiedlungen, die (in Anlehnung an den verantwortlichen Minister) mitunter als »Chalandonnettes« bezeichnet wurden.194 Während es damit insbesondere Mittelschichtshaushalte in wachsender Zahl aus den Großsiedlungen heraus drängte, rückten Gruppen nach, deren Wohnprobleme von der staatlichen Politik bis dato nicht beseitigt worden waren oder durch die umfassende Sanierung innerstädtischer Quartiere verstärkt wurden. Diese Entwicklung wurde durch die Wohnungspolitik der französischen Regierung noch beschleunigt. Denn Anfang der 1970er Jahre verpflichteten sich die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, zwischen 7 und 30 % ihrer frei werdenden HLM für Bewohner zur Verfügung zu stellen, die aus bidonvilles kamen oder die aus anderen Gründen als »schlecht untergebracht« eingestuft wurden.195 Während Einfamilienhäuser einen wachsenden Anteil der neu erbauten Wohnhäuser in Frankreich ausmachten,196 ließ die Regierung in den Großsiedlungen vermehrt Sozialwohnungen bauen, die dezidiert für die Unterbringung einkommensschwacher Haushalte gedacht waren. Infolgedessen wuchs dort der Anteil an einkommensschwachen Haushalten, während die Zahl der Mittelschichtsfamilien sank. Während die Großsiedlungen in den 1960er Jahren noch – bei aller Kritik – als eine verbesserungswürdige Lösung für urbane Probleme gegolten hatten, wurden sie nach 1968 immer stärker als problematische Formation beschrieben, die selbst Lösungen erforderte. Dazu trug bei, dass vor allem Soziologinnen und Soziologen vermehrt davor warnten, dass sich die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Milieus dort, anders als geplant, nicht annäherten, sondern tendenziell abstießen. Besonders einflussreich war das in einer Studie der Fall, die in den späten 1960er Jahren im Umfeld von Pierre Bourdieu entstand. Jean-Claude Chamboredon und Madeleine Lemaire waren zwei junge Soziologen, die am Centre de sociologie européenne angebunden waren, einer Forschungsgruppe, die ursprünglich von Raymond Aaron gegründet wurde.197 Sie führten ihre Forschung zwischen 1966 und 1969 in Antony, einem neu erbauten grand ensemble im Süden von Paris durch. Den Kontakt dorthin hatte ihnen Pierre Bourdieu vermittelt, der in Antony wohnte. Die Kommune von Antony kämpfte (wie viele) mit den infrastrukturellen Mängeln der Großsiedlungen und sorgte sich insbesondere um die Situation der Jugendlichen und eine erhöhte Jugend kriminalität dort. Bourdieu schlug dem Bürgermeister daher die Durchführung
194 Ebd. 195 Laut Tellier sollten ab 1971 30 % der frei werdenden HLM in der Pariser Region sogenannten mal logés zugänglich gemacht werden. 196 Von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre wuchs ihr Anteil von 30 % im Jahr 1965 auf 57 % im Jahr 1977. Tellier, S. 114 f. 197 Chamboredon u. Lemaire. Zu den Hintergründen dieser Studie siehe die wissenssoziologischen und -historischen Analysen von Pasquali; Magri.
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einer soziologischen Untersuchung vor, die für die politische Lösung dieser Probleme eine Grundlage liefern sollte.198 1970 in der »Revue française de sociologie« veröffentlicht und bis heute viel zitiert, präsentierten Chamboredon und Lemaire die Ergebnisse ihrer Forschung in einem Artikel zu »Räumlicher Nähe und sozialer Distanz«, in dem beide die bisherige Großsiedlungsplanung stark kritisierten.199 Dass die räumliche Nähe der Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen in den grands ensembles weniger zu deren Annäherung beitrug als Spannungen zu produzieren, war ihre wesentliche und seitdem immer wieder zitierte These. Es gehöre zu den Besonderheiten der grands ensembles, dass dort, anders als bei anderen urbanen Quartieren, keine soziale Schicht in der Mehrheit sei und sozial »den Ton angebe«.200 Insbesondere die Gruppen an den beiden Extremen der sozialen Hierarchie kämpften mit dieser Nähe zu anderen sozialen Schichten, argumentierten die beiden. Die einen fürchteten eine Entwertung der eigenen Wohnumgebung, die anderen fürchteten den Stolz und die Verachtung der Nachbarn und fühlten sich durch die Nähe zu deren für sie unerreichbaren Komfort gedemütigt. Chambordeon und Lemaire zitieren in diesem Zusammenhang die Aussage einer Arbeiterin aus der Großsiedlung Creil, die im Interview erklärt hatte, sie würde gerne nach Sarcelles ziehen: Sie glaube, dass es dort »moins fier« (weniger stolz) sei und »plus ouvrier« (stärker von Arbeitern geprägt). »Hier«, fuhr sie fort, gebe es eine Mischung, von allem etwas, und sie setzte, keineswegs lobend, hinzu: »C’est fier« – »Es ist stolz.«201 Für alle stelle der Umzug in die neuen Siedlungen einen gewissen Bruch dar, argumentierten die beiden Soziologen. Doch gehe der Umzug vor allem für einkommensschwache Haushalte mit einer erhöhten Verschuldungsgefahr einher, zumal angesichts des dadurch erhöhten Zwangs zur Konformität und zum Konsum. In den grands ensembles würden die Unterschiede zwischen den dort zusammenwohnenden Gruppen also letztlich stärker betont, erklärten beide, »und zwar umso mehr, als die scheinbare Ähnlichkeit der Wohnbedingungen in diesem Kontext die Mechanismen der Differenzierung verstärkt.«202
198 Chamboredon und Lemaire führten ihre Studie dank dieser Vermittlung mit finanzieller Unterstützung der Kommune von Antony durch. Der französische Soziologe Paul P asquali hat durchaus Recht, wenn er in diesem Zusammenhang auf die Ambivalenzen der gängigen, auch von Bourdieu gerne angeführten Gegenüberstellung von »angewandter« und »purer« (unabhängiger, theorieorientierter) Forschung hinweist. Pasquali, S. 125. 199 »Proximité spatiale et distance sociale. Les grands ensembles et leur peuplement ». Chamboredon u. Lemaire. 200 Letztlich diente auch Chamboredon und Lemaire dabei das sozial homogene »traditionelle Arbeiterquartier« als Vergleichsfolie. 201 Chamboredon u. Lemaire, S. 19. 202 »Les différences entre les groupes différents qui coexistent dans le grand ensemble s’en trouvent renforcées et d’autant plus que dans ce contexte la similitude apparente des conditions de logement est de nature à renforcer les mécanismes de différenciation.« Ebd., S. 22.
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Chamboredon und Lemaire machten also ein Spannungsverhältnis aus zwischen einer Annäherung der Lebensbedingungen in den (Vor)städten auf der einen und dem verschärften Bemühen um Distinktion auf der anderen Seite. Sie waren nicht die einzigen. Die beiden britischen Soziologen Michael Young und Peter Willmott etwa hatten sich im Anschluss an ihre Untersuchung eines innerstädtischen Arbeiterquartiers im Osten Londons einem mittelschichtsdominierten Neubauviertel im suburbanen London zugewandt. Obwohl die Angehörigen unterschiedlicher Klassen dort ihr Geld eigentlich für die gleichen Dinge ausgäben, wie Autos, Waschmaschinen oder Kühlschränke, schrieben sie, und die Vision einer »klassenlosen Gesellschaft« damit in greifbare Nähe rücke, blieben die Klassengrenzen in den Köpfen bestehen.203 Während die Bewohnerinnen und Bewohner des innerstädtischen Bethnal Greens noch, quasi qua Geburt, einer lokalen Community angehört hatten, stelle sie der Umzug in die housing estates am Stadtrand nicht nur vor finanzielle, sondern auch vor soziale Probleme.204 Sie fühlten sich in der mixed society am Stadtrand deutlich unsicherer als im innerstädtischen Arbeiterquartier.205 Tatsächlich beschäftigten die Mechanismen der sozialen Distinktion innerhalb ihrer sozial wie räumlich hochmobilen Gesellschaften die soziologischen Beobachter der Peripherie unterschiedlicher westeuropäischer Städte um 1970 in ganz ähnlicher Weise. Auch wurde in unterschiedlichen Städten die Warnung vor sozialen Segregationsprozessen, zumal in der urbanen Peripherie, lauter.206 Dass diese Diagnose in Frankreich in politischen Kreisen Resonanz fand, zeigt die Tatsache, dass der Abschied vom Bau der grands ensembles mit dem expliziten Verweis auf soziale Segregationsprozesse gerechtfertigt wurde. Resonanz fand diese Diagnose aber auch in massenmedialen Darstellungen. In Spielfilmen und filmischen Dokumentationen wurden die vorstädtischen Großsiedlungen immer seltener als Ausdruck einer Modernisierung der Städte und immer häufiger als Inbegriff des Sozialen Wohnungsbaus und seiner Probleme dargestellt.207 Obwohl Sozialwohnungen dort nur einen Teil des Wohnungs bestandes ausmachten und umgekehrt nur ein Drittel der französischen HLM sich in Großsiedlungen befanden,208 wurden die grands ensembles zunehmend 203 Willmott u. Young, Family and Class, S. 122. 204 Ebd., S. 128. 205 Ebd., S. 129. 206 Zu dem konflikthaften Aufeinandertreffen von »Mittelschichtsangehörigen, die soziale Distanz in der Regel anstreben und auch ertragen können, mit eingewiesenen sozialen Problemgruppen, die zu großen Teilen traditionsgemäß von der Nachbarschaft im umfassenden Sinne noch Hilfestellungen im Alltag erwarten«, siehe für den deutschen Fall u. a. die Überlegungen von Herlyn, Wohnverhältnisse, S. 522. 207 In Teilen war diese Abwehr ökologisch grundiert; der wachsende Einfluss der Umwelt bewegung führte dazu, dass das urbane Wachstum verstärkt mit der Zerstörung des natürlichen Lebensraums von Mensch und Tier verbunden wurde. Canteux, Filmer les grands ensembles. 208 Ebd., S. 282.
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als reine Sozialwohnungssiedlungen und Wohnumgebung der unteren Schichten gezeichnet. Vermehrt dienten Großsiedlungen, in denen der Anteil an Sozialwohnungen überdurchschnittlich hoch war, als Schauplatz filmischer Darstellungen, wie etwa die Cité des 4000 in La Courneuve oder die südlich von Paris gelegene Großsiedlung La Grande Borne.209 Auch wurden anstelle des Angestellten oder aufsteigenden Arbeiters »der Arbeitslose« und »die migrantische Großfamilie« in Medienberichten schrittweise zu den dominanten Sozialfiguren. Dass die Siedlungen dessen ungeachtet zu diesem Zeitpunkt sozial weiterhin durchmischt waren, trat in den Hintergrund. Ein gutes Beispiel für dieses veränderte soziale Image der Siedlungen ist eine Dokumentation mit dem Titel »L’enfer du décor« (Die Hölle des Dekors, zugleich ein Wortspiel mit dem Ausdruck »l’envers du décor« – die Kehrseite der Medaille), die das französische Fernsehen 1973 erstmals ausstrahlte.210 Am Beispiel der zwischen 1967 und 1971 erbauten Großsiedlung La Grande Borne behandelt die einstündige Reportage den sozialen Abstieg der Vorstädte. Dabei hatte gerade La Grande Borne ursprünglich als Vorzeigeobjekt eines reformierten, durch Kunst im öffentlichen Raum aufgelockerten Massenwohnungsbaus gegolten. Zugleich diente die Siedlung dazu, Familien aus bidonvilles und innerstädtischen Sanierungsgebieten aufzunehmen. Der Anteil an Sozialwohnungen lag dort daher klar über dem Durchschnitt.211 Dass La Grande Borne zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht repräsentativ für die französischen Großsiedlungen war, problematisierte die Dokumentation indes nicht. Gleich zu Anfang ist dort ein Umzugswagen zu sehen, der vor einem der Häuser der Siedlung hält. Die Frage, ob sie es bedauere, dort wegzuziehen, verneint die danebenstehende Frau.212 Die Kinder hätten Läuse, es gebe keine Kinderbetreuung, Paris sei zu weit weg, die Jugendlichen machten aus Langeweile alles kaputt, es gebe keine Ablenkung. Sie ziehe nun in ein Einfamilienhaus in der Touraine. Damit sind quasi alle Topoi der seit den frühen 1960er Jahren gängigen Großsiedlungskritik aufgezählt. Dazu passt, dass die Dokumentation die Kehrseiten des Lebens am Stadtrand in erster Linie anhand von Müttern behandelt, die mit Depressionen kämpfen. Autorität erhält diese Darstellung durch einen Notarzt, der auf dem Rückweg von einem Einsatz über die hohen Selbstmordraten vor allem der Frauen in den Siedlungen spricht. Für ihn seien diese cités, erklärt der hinterm Lenkrad gefilmte Arzt, die Barackenlager der Zukunft: die »bidonvilles des Jahres 2000«.213 Insgesamt wurden psychische Probleme in der »Hölle des Dekors« stark ökonomisch konturiert: Die im Beisein ihrer vielen Kinder über ihre Selbstmordgedanken redende Mutter war in der 209 Ebd., S. 281. Beispielhaft für die veränderte Kritik an den Großsiedlungen im Fernsehen waren u. a. verschiedene Beiträge im Rahmen der TV-Serie »La France défigurée«. 210 L’enfer du décor (Frankreich, Dokumentarfilm, 1973). 211 Zu La Grande Borne siehe auch Cupers, The Social. 212 L’enfer, TC 00:07:40. 213 L’enfer, TC 00:27:51.
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Dokumentation zugleich die alleinerziehende, verschuldete Mutter. Verschuldung, Verarmung und die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und Frauen: darum ging es in der Dokumentation in erster Linie. Und es ging, daher der Einstieg mit dem Umzugswagen, um die Problematisierung sozialer Entmischungsprozesse. Autorität erhielt die filmische Segregationsanalyse nicht zufällig durch ein Interview mit »Jacques und Françoise«, einem jungen Mann und einer jungen Frau mit Notizbuch auf den Knien, bei denen es sich um die beiden Soziologen Jacques und Françoise Caroux handelte.214 Der Großteil der Bevölkerung von La Grande Borne stamme aus »traditionellen Quartieren«, erklären die beiden dem Publikum. Der Umzug an den Stadtrand stelle für diese Haushalte so etwas wie den »Übergang in das 20. Jahrhundert« dar: Sie ließen ihre vormals engen sozialen Beziehungen in den proletarischen Innenstadtvierteln hinter sich, verschuldeten sich aber zugleich häufig, weil sie die vergleichsweise hohen Mieten in der Großsiedlung nicht zahlen könnten. Umso mehr, als das Verhältnis von angebotener und nachgefragter Arbeitskraft am Stadtrand schlechter sei. Was daraus resultiere, schließt der Soziologe Jacques Caroux, sei die finanzielle wie kulturelle inadaptation der proletarischen Bewohner an ihre neue Umgebung. Während Françoise Caroux in der Rolle der interessierten Zuhörerin verbleibt, beschreibt ihr Ehemann La Grande Borne als »Arbeiterquartier des 20. Jahr hunderts«, in dem die Ansässigen weniger als früher verdienen, zugleich aber höhere Mieten zahlen.215 Ein kleiner Vorfall wie eine Erkrankung habe dann schnell die eigene Verschuldung oder die Räumung der Wohnung zur Folge. Überhaupt umkreiste die »Hölle des Dekors« Prozesse der Verarmung. Zwanzig Prozent der Haushalte seien in La Grande Borne unter Vormundschaft gestellt worden, um ihre Schulden in den Griff zu bekommen, lernte das Publikum in Interviews mit Richtern und Sozialarbeiterinnen. Die Siedlung erschien in der Dokumentation in erster Linie als Ort der ökonomischen Überforderung und Prekarität. Während die Hochhaussiedlungen um 1960 maßgeblich Räume der Vermittelschichtung oder des sozialen Aufstiegs darstellten, änderte sich das im Laufe der späten 1960er und 1970er Jahre: Die eigentlich schon länger bestehenden finanziellen Probleme der dort ansässigen classes populaires nahmen zu, zugleich schritt die soziale Entmischung der Siedlungen voran und deren Zusammensetzung veränderte sich.216 Reportagen wie die »Hölle des Dekors« reflektierten diesen sozialen Wandel allerdings nicht nur, sondern sie trugen ihrerseits dazu bei, das Image der Vorstädte als prekäre Räume zu festigen. Ein Image, das für die dortige Bevölkerung (und potentielle neue Bewohner) kaum attraktiv war. Den Siedlungen eilte zunehmend ein schlechter Ruf voraus; ein schlechter Ruf, der sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs durchgehend mit den sozialen 214 L’enfer, TC 00:37:30. 215 L’enfer, TC 00:38:00. 216 Zu den Reaktionen auf den Dokumentarfilm in der Presse und die dadurch ausgelöste heftige Kritik an den Zuständen in den Großsiedlungen siehe auch Jannière.
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Realitäten vor Ort deckte, der aber zum beschleunigten Fortzug derer beitrug, die sich das Wohnen andernorts leisten konnten. Die soziale Transformation der Hochhaussiedlungen setzte dabei zu einer Zeit ein, in der Massenarbeitslosigkeit und ein wirtschaftlicher Umbruch zu erahnen, aber noch nicht weit fortgeschritten waren. Insgesamt spricht viel dafür, die Entwicklung der Großsiedlungen zu Räumen der Marginalisierung und Ausgrenzung nicht als einen Bruch mit den Bedingungen der Wirtschaftswunderjahre zu beschreiben, sondern als deren Konsequenz. Schließlich gruppierte sich um die Siedlungen bereits um 1960 ein hoch medialisierter Krisendiskurs, der zu deren beschleunigter Abwertung in den folgenden Jahrzehnten klar beitrug. Auch hatte die Wohn- und Stadtplanungspolitik der ersten Nachkriegsjahrzehnte die Wohnsituation gerade einkommensschwacher Haushalte nicht durchgehend verbessert, sondern in Teilen perpetuiert, wenn nicht verschärft. Die soziale Entmischung der Siedlungen war damit kaum allein ein Produkt der wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre, sondern mindestens ebenso ein Produkt von Deutungskonstellationen und sozialen Wandlungsprozessen früherer Jahre.
3.4 Genealogie eines Abstiegs II: Das Westberliner Märkische Viertel, die Neue Linke und der O-Ton des Arbeiters um 1970 a) Ein Erprobungsraum eingreifender Gesellschaftskritik Die Abkehr von modernistischen Planungsidealen in der Bundesrepublik hat die historische Forschung bis dato meist als eine Geschichte des Protestes gegen innerstädtische Sanierungsprojekte beschrieben.217 Der schrittweise Abschied von der funktionalen Moderne ging in dieser Perspektive maßgeblich von Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen aus, die sich mit ihren Stadtteilinitiativen und Hausbesetzungen für den Erhalt bestehender Quartiere und damit einer historisch gewachsenen Umgebung einsetzten.218 Dementsprechend sind es vornehmlich ehemalige Arbeiterquartiere wie Berlin-Kreuzberg oder das Hamburger Schanzenviertel, die als ultimative Schauplätze der Erprobung neuer 217 Baumeister u. a. Zu Hausbesetzungen und den alternativen Wohnungspraktiken der Neuen Linken in Berlin siehe Vasudevan; MacDougall; Haumann, S. 159–300, sowie allgemein zu Westdeutschland: Reichardt, S. 498–571. Für eine stärker mit Verschiebungen im Mietmarkt und der Immobilienspekulation verknüpfte Analyse von Hausbesetzungen und urbanen Protesten siehe Führer, Die Stadt, v. a. Teil II. 218 Allerdings hat Harald Bodenschatz, der sich intensiv mit der Geschichte des Märkischen Viertels befasst hat, die Proteste, die sich im Rahmen studentischer Initiativen dort 1968 entfalteten, als »Westberliner Geburtsstätte der neuen sozialen Bewegungen in den Stadtteilen« beschrieben. Bodenschatz, S. 244–249, hier S. 244.
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Lebensstile und Praktiken der Aneignung des urbanen Raums gelten. Wenn dem linksalternativen Milieu und dessen Praxeologie der Selbstverwirklichung und Solidarität ein eigener Raum zugewiesen wird, dann das vom Abriss bedrohte innerstädtische Mietshaus (oder der ländliche Einsiedlerhof). Doch legt das Beispiel des Märkischen Viertels nahe, dass den modernen Großsiedlungen für die Formulierung neuer Leitbilder einer authentischen Urbanität eine zentrale Rolle zukam. Schließlich dienten Hochhaussiedlungen wie das Märkische Viertel den zeitgenössischen Akteuren als Kontrastfolie: Die im Rahmen staatlicher Planungsverfahren industriell hergestellte Betonwelt am Stadtrand wurde zu einem genauen Gegenbild jener von Partizipation und Selbstverwirklichung geprägten Stadt, die einer wachsenden Zahl von Akteuren als Ideal vorschwebte. Vor allem aber wurde gerade das Märkische Viertel zu einem Versuchsfeld, in dem eine Reihe von Akteuren – von Sozialpädagogen und Filmemachern bis hin zu Städteplanern und Soziologen – mit neuen Praktiken des politischen Protestes, der Gesellschaftskritik und der sozialen Arbeit zu experimentieren begannen, die sie dann in andere Felder und Räume übertrugen. Es wurde zu einem Versuchsfeld, auf dem Angehörige des linksalternativen Milieus eine Deutung der eigenen Gesellschaft, ihrer Trennlinien und Spannungen erprobten und schärften, die weit über dieses Milieu hinaus Wirksamkeit entfaltete. Ihre Sicht »der Unterschicht« oder »der Arbeiterklasse« war eingelassen in eine Hinwendung zu Erziehung und Therapeutisierung, wie sie für die Neue Linke und die Zeit um 1968 insgesamt kennzeichnend war.219 Im Rahmen von partizipativen Film- und Zeitungsprojekten, von Elterninitiativen und Abenteuerspielplätzen interessierten sich die Aktivistinnen und Aktivisten neben der ökonomischen Situation sogenannter Problemfamilien auch für deren Umgang mit den eigenen Kindern, für ihre Ängste und Aggressionen sowie dafür, wie ihnen politisch und gesellschaftlich mehr Teilhabe zuteilwerden könne. Die Berichterstattung in den Massenmedien spiegelte diesen Fokus wider. Nachdem der Begriff der »Gesellschaft« in den 1960er Jahren rasant Karriere gemacht hatte und um 1970 eine neue Aufmerksamkeit für Fragen der sozialen Ungleichheit einsetzte,220 wurde das Märkische Viertel zu einer zentralen Arena für die Formulierung neuer Forderungen an eine egalitäre Gesellschaft. Anhand der Westberliner Siedlung wurden nicht allein konkurrierende Vorstellungen von Urbanität verhandelt, sondern unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Unten und Außen der Gesellschaft. Die einen bemühten sich am Stadtrand um eine Reaktivierung von Klassensemantiken und die Neuformierung eines proletarischen Milieus, das durch die Kahlschlagsanierung innerstädti219 Für eine Auseinandersetzung mit Therapeutisierung und dem wachsenden Einfluss von »Psycho-Wissen« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zumal seit den 1960er Jahren siehe die Beiträge in: Maasen u. a.; Eitler u. Elberfeld, Zeitgeschichte sowie speziell mit Blick auf das linksalternative Milieu Reichardt, S. 782–807. 220 Zur Karriere des Gesellschaftsbegriffs seit den 1960er Jahren siehe Nolte, Die Ordnung, S. 387 f.
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scher Viertel endgültig bedroht war. Die anderen warnten allgemeiner – und weitgehend ohne Rückgriff auf Klassensemantiken – vor neuen Formen der Randständigkeit in der modernisierten Stadt. Für zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter stand um 1970 zunehmend in Frage, wie gerecht, gleich oder ungleich die herrschenden sozialen Verhältnisse trotz oder wegen des Sozialstaates waren. Sie verhandelten anhand der Probleme einkommensschwacher Arbeiterfamilien in den eigentlich sozial durchmischten Siedlungen die Konfliktlinien der vermittelschichteten Wohlstandsgesellschaft und machten den Sozialen Wohnungsbau am Stadtrand zum Experimentierfeld für eine versuchte Neuordnung oder gar Revolutionierung der Gesellschaft. Anders als in Frankreich setzte die Skandalisierung der Großsiedlungen in Westdeutschland erst in den fortgeschrittenen 1960er Jahren ein und ging zunächst vornehmlich – wenngleich keineswegs ausschließlich – von der Neuen Linken aus. Um 1970 ähnelten sich dann aber die Topoi der Entfremdung, Isolation und Marginalisierung, mit denen in beiden Ländern das moderne Massenwohnen problematisiert wurde. Diese Parallelen spiegelten zum einen Parallelen in der Entwicklung der Mietmärkte und sozialen Zusammensetzung der Siedlungen wider. Zum anderen hingen sie damit zusammen, dass die Studentenbewegungen von 1968 ebenso wie die neuen urbanen Bürgerinitiativen transnational miteinander vernetzt waren und bei ihren Protesten zum Teil auf die gleichen Texte, Wissensbestände und Praktiken zurückgriffen.221 Die um 1970 um sich greifende Kritik des Stadtrandwohnens markierte damit in beiden Fällen einen spezifischen Moment und den Beginn einer eigenen Phase der Auseinandersetzung mit urbanen Ungleichheitsverhältnissen.222 Diesen spezifischen Moment kennzeichneten vier Veränderungen: In beiden Ländern zeichnete sich erstens ab, dass, nachdem der massive Wohnungsmangel der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte weitgehend bewältigt war, sich die städtischen Miet- und Immobilienmärkte weiter ausdifferenzierten.223 Während der Staat den Eigenheimbau stärker förderte und die Eigentumsbildung voranschritt, zogen gerade Mittelschichtshaushalte vermehrt aus den sozial durchmischten Großsiedlungen aus.224 Zugleich kämpften besonders vulnerable Gruppen damit, dass die Mieten in Neubauten, durchaus auch im Sozialen Wohnungsbau, deutlich über denen in Altbauten lagen, die Zahl an preiswerten 221 Zu den transnationalen Verflechtungen der neuen Kritikerinnen und Kritiker des urban renewal siehe vor allem Klemek, sowie, ausgehend von der Karriere der Forderungen von Jane Jacobs: Schubert. Zur globalen Dimension von 1968 siehe Frei, sowie die medienhistorischen Überlegungen bei Gilcher-Holtey. Siehe zudem die Beiträge in Klimke u. Scharloth. 222 Das zeichnete sich bereits in der veränderten Auseinandersetzung mit »schlecht untergebrachten« Familien und in der zunehmenden Kritik an deren Marginalisierung und separater Unterbringung ab. Siehe die Ausführungen in Unterkap. 2.5. 223 Beyme, S. 126; Kühne-Büning / Plumpe / Hesse, Zwischen Angebot und Nachfrage. 224 Ähnlich wie in Frankreich profitierte auch in der Bundesrepublik in erster Linie der Mittelstand von der staatlichen Baupolitik und zumal der Eigenheimförderung. Hilpert, S. 271–298.
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Wohnungen durch die voranschreitende Sanierung der innerstädtischen Altbauquartiere aber abnahm.225 Hinzu kam im deutschen Fall, dass die Regierung die Mietpreisbindung für Altbauten schrittweise lockerte. Dementsprechend kam es in den Großsiedlungen wiederholt zur Verschuldung oder Zwangsräumung einkommensschwacher Haushalte, und diese Fälle nahmen im Laufe der 1970er Jahre aufgrund des rückläufigen Realeinkommens tendenziell zu. Der Wohnungsmarkt wurde also segmentierter: Mittelschichthaushalten standen mehr Optionen zur Verfügung, während sich die Auswahl für einkommensschwache Haushalte verringerte. Diese Entwicklung war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass, zweitens, die soziale Struktur von Wohnvierteln und das unter-sich-Sein sozialer Gruppen an Brisanz gewannen. In kommunalen Zirkeln, der Soziologie und in den Medien wuchs die Sorge vor sozialen Entmischungsprozessen im urbanen Raum; eine Sorge, für die die Hochhaussiedlungen am Stadtrand wichtige Bezugsräume bildeten.226 Hinzu kam drittens, dass soziale Ungleichheit als Problem der eigenen Gesellschaft insgesamt stärker in den Fokus rückte und Ungleichheit anders definiert wurde als zuvor. Die zeitgenössischen Kritikerinnen und Kritiker konturierten oft weniger allein oder in erster Linie Einkommensungleichheiten oder den unterschiedlichen Zugang zu modernem Komfort, sie hoben vielmehr Unterschiede in den Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben und in der Aneignung der (urbanen) Umwelt stärker hervor, Unterschiede in der gesellschaftlichen Anerkennung und in den Möglichkeiten zur politischen Selbstrepräsentation.227 Damit und mit dem wachsenden Einfluss von »Psycho-Wissen« in dieser Zeit eng verknüpft waren Verschiebungen in der versuchten Arbeit an den sozialen Verhältnissen, indem die Selbstorganisation und -artikulation sozialer Gruppen und die Herausbildung eigener Solidaritätsund Kommunikationsstrukturen stärker in den Mittelpunkt rückten. Den spezifischen Moment 1970 kennzeichnete viertens vor allem im deutschen Fall eine Reaktivierung von Klassensemantiken im weiteren Umfeld der Neuen Linken, die allerdings zeitlich nur von begrenzter Dauer war. Die Art 225 1969 lag in der Bundesrepublik in Großstädten die durchschnittliche Miete pro qm für eine schlecht ausgestattete, nicht sanierte Altbauwohnung bei 1,60 DM pro qm, die für eine Neubauwohnung mit Bad und Heizung dagegen bei 3,08 DM. Herlyn u. Herlyn, S. 90. Bundesweit stand 1970 einer durchschnittlichen Altbaumiete von 2,20 DM im öffentlich geförderten Neubauwohnungen eine Durchschnittsmiete von 3,15 DM gegenüber. 226 Siehe dazu auch die zeitgenössische soziologische Diskussion, u. a. Herlyn, Stadt- und Sozialstruktur; Hiss u. a.; Herlyn, Soziale Segregation; ders., Soziale Sortierung; Vaskovics; Schneider. Siehe dazu auch die Auflistung von Forschungen in dem »Ordner Stadtrandsoziologie« des Deutschen Städtetags LAB, B Rep 142-09, 6/22–44, Stadtrand-Soziologie. 227 In der neuen Sozialphilosophie hat vor allem Axel Honneth den Begriff der »Anerkennung« als einen zentralen Analysegriff etabliert und die Kritik von Anerkennungsverhältnissen zu einer zentralen Aufgabe der Sozialkritik erklärt. Honneth. Als Gegenbegriff dient Honneth wiederholt der der »Missachtung«.
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und Weise, wie etwa das Märkische Viertel um 1970 zu einem Ort der Angst, der Vernachlässigung und Randständigkeit stilisiert wurde, war nicht zu trennen von dessen Etikettierung als Arbeiter- und Unterschichtenquartier. Und beide, die soziale wie die emotionale Einordnung des Märkischen Viertels, werden nur darüber verständlich, dass die verschiedenen Beobachterinnen und Beobachter des Viertels, dass Publizisten, Studenten, Filmemacher und Sozialwissenschaftler dort dezidiert gesellschaftspolitische Ziele verfolgten. Dass Großsiedlungen wie das Märkische Viertel vorübergehend zu Erprobungsräumen einer neuen, für die 1970er Jahre dann insgesamt prägenden Gesellschaftskritik wurden – und damit für den Versuch, innerhalb der westdeutschen Gesellschaft Formen und Felder der sozialen Benachteiligung auszumachen, sie zu problematisieren, zu moralisieren und, falls möglich, zu beseitigen – ist von der historischen Forschung bis dato kaum thematisiert worden. Dabei erlaubt die Entwicklung des Viertels zu einem zweifelhaften Quartier nicht nur Einblicke in die Entwicklung urbaner Ungleichheit, sondern sie gibt auch Aufschluss über ein klassisches Dilemma der Problematisierung sozialer Zustände: Gesellschaftskritik folgte in den demokratischen Mediengesellschaften des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie. Im ständigen Wettbewerb der Themen und Belange musste neben den politischen Verantwortlichen auch die weitere Öffentlichkeit auf ein Pro blem aufmerksam gemacht werden. Sie musste hinsehen. Lokale Lebensverhältnisse und konkrete Akteure dienten in diesem Rahmen oftmals nicht allein als Untersuchungsorte oder -objekte, sie dienten der Illustration. Sie sollten Journalisten wie Aktivisten helfen, Aufmerksamkeitseffekte zu erzielen. Das führte allerdings dazu, dass wiederholt eher über die Betroffenen gesprochen wurde als dass sie selbst sprachen. Statt selbst Anerkennung einzuklagen, erlangten sie Problemstatus und wurden zu »Beispielen für«. Die Zeit um 1970 markierte allerdings auch insofern einen spezifischen Moment, als die zeitgenössischen Akteure die Machtverhältnisse, die der Fürsprache für andere in der Regel eingeschrieben sind, selbst zum Thema machten. Ob jemand eine »Stimme« hatte, wurde vermehrt als ein Element sozialer Ungleichheit verstanden, und »den Benachteiligten« dazu zu verhelfen, die eigenen Probleme zu artikulieren, wurde zu einem politischen Ziel. Weniger als die Figur des wissenschaftlichen Experten dominierte in den Sozialreportagen, Ausstellungen und selbst in den Schulbuchbeiträgen über das Märkische Viertel daher der O-Ton, die in der Regel dialektgetreue Wiedergabe der Aussagen der Bewohner.228 Sozialforschende, Studierende, Filmemacherinnen und -macher initiierten dort partizipative Projekte, die die Ansässigen in Entscheidungsprozesse einbezogen, oder die ihnen, vermittelt über Tonbandaufnahme, Stadtteilzeitung und Super-8-Kamera, eine Stimme verlieh. 228 Diese Tendenz war eng verwandt mit jener Feier des Authentischen, die Sven Reichhardt als Charakteristikum des linksalternativen Milieus in der Bundesrepublik der 1970er Jahren herausgearbeitet hat. Reichardt.
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Zur »Sprache gebracht« wurde dabei allerdings nur ein kleiner Ausschnitt der Viertelbevölkerung: Einkommensschwache proletarische Großfamilien wurden zu den Großsiedlungsbewohnern schlechthin stilisiert und prägten deren Image anhaltend. Repräsentativ für die Viertelbevölkerung war diese Auswahl nicht. Dennoch vermitteln die zahlreichen Protokolle, die ein zentrales Instrument der politischen Arbeit in der Großsiedlung darstellten,229 einen Einblick in die spezifischen Dynamiken, die sich daraus ergaben, dass eine lokale »Problembevölkerung« immer wieder dazu aufgefordert wurde, sich der eigenen sozialen Lage und den damit verknüpften Zwangslagen und Affekten bewusst zu werden, sich zu engagieren und die eigenen Bedürfnisse und das eigene Begehren zu artikulieren. Mit Blick auf die viel beschriebene Krise der »organisierten Moderne« in den 1970er Jahren wirft das die Frage auf, welche neuen Machtverhältnisse und sozialen Asymmetrien der Aufstieg des selbstreflexiven, aktiven oder aktivierbaren Individuums zu einer neuen Leitfigur mit sich brachte.230 Oder, anders gewendet, wirft es die Frage auf, ob ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit den Großsiedlungen, die gerne als die Orte der fordistischen Disziplinierung schlechthin gehandelt werden, neue Anforderungen an ein sich selbst organisierendes und optimierendes Subjekt formuliert wurden.231 In jedem Fall stellt sich die simple Frage, was es für die Bewohnerinnen und Bewohner der Westberliner Großsiedlung bedeutete, in eine permanente Feedback-Schleife aus O-Tönen, Kamera- und Tonbandaufnahmen gestellt zu werden und was an dieser Erfahrung über die lokale Konstellation hinauswies, (zeit)typisch oder zukunftsweisend war. Hans Rickmann: »Was mich eigentlich heute stört, dass man von Anfang an nicht wusste, worum es ging. Es is mir alles später klar geworden, dass da welche Bücher drüber schreiben, dass da welche Dokumentationen von machen, welche Filme geplant werden. Ich bin ja mit der Motivation herangegangen, […] dass det ne echte Selbsthilfe für uns sein sollte […]. Det det schon Leute da gab, die damit wat geplant hatten und uns eingeplant haben, det is mir alles später erst gekommen.«232 229 Zur Diffusion des Protokollierens als einer Kulturtechnik bzw. einem »ausgeprägten Protokoll-Syndrom« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe auch den Tagungsbericht: Zu Protokoll. Theoriegeschichte und Ideenpolitik einer übersehenen Gattung, 27.04.2017 – 28.04.2017 Berlin, in: H-Soz-Kult, 04.07.2017, www.hsozkult.de/conferencereport/id/ tagungsberichte-7229 [20.08.2020]. 230 Zur »organisierten Moderne« und deren Krise siehe Wagner. Zum Beitrag der counterculture der 1960er und 1970er Jahre zur Ablösung des (nun als konformistisch und unauthentisch) markierten »nach-bürgerlichen Angestelltensubjekts der organisierten Moderne« durch eine neue hegemoniale Subjektkultur siehe die Überlegungen bei Reckwitz, Das hybride Subjekt, v. a. S. 442 f. 231 Zur Deutung der Großsiedlungen als fordistische Räume schlechthin siehe Ronneberger; Termeer. 232 Archiv APO und soziale Bewegungen, Berlin (im Folgenden: APO-Archiv), Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972, Protokoll des Gesprächs vom 10.04.1974, S. 3. Die Transkrip-
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Auf diese Weise kommentierte ein Bewohner des Märkischen Viertels 1974 in einem auf Tonband aufgezeichneten Gespräch mit zwei weiteren Bewohnern das rege Engagement Außenstehender im eigenen Viertel. Rickmann hatte dort in den vergangenen Jahren selbst in verschiedenen politischen Initiativen und Filmprojekten mitgewirkt. Nun wehrte er sich in der Rückschau gegen die Vereinnahmung dieses lokalen Engagements durch Filmemacher und studentische Gruppen, die selbst nicht in der Siedlung wohnten.233 Für die Entwicklung des Märkischen Viertels ist diese Wahrnehmung insofern kennzeichnend, als sich dessen Bewohnerschaft tatsächlich früh organisierte, um gegen infrastrukturelle Mängel und politische Fehlplanungen zu protestieren.234 Dennoch waren es maßgeblich von außen kommende Akteure, die eine überregionale Öffentlichkeit auf die Siedlung aufmerksam machten. Die Inszenierung des Viertels als Quartier unterprivilegierter Familien, an dem sich die Probleme einer kapitalistischen Bau- und Stadtplanungspolitik zeigten, ging vor allem auf das gesellschaftspolitische Engagement von Studierenden und Filmemachenden aus dem Umfeld der Studentenbewegung zurück. Sie bemühten sich am Stadtrand um eine Politisierung der Bevölkerung und versuchten zugleich, das Interesse der Massenmedien zu erregen, um auf die Probleme »der Arbeiter« oder »der Unterschicht« aufmerksam zu machen.235 In der Aufwärtsspirale der Aufmerksamkeit, die sie damit anstießen, lag allerdings eine zentrale Ursache für die nachhaltige Abwertung des Viertels. Denn die geballte Medienarbeit und die vielen Protestaktionen vor Ort gingen Hand in Hand mit einer im Fernsehen und in der Presse verbreiteten Darstellung des Viertels als außergewöhnlich problematischem Quartier.236 Dem entspricht, dass sich der Tenor der überregionalen Berichterstattung zwischen 1968 und 1972 verschob und anschließend weitgehend stabil blieb.237 1974, zum Zeitpunkt des oben zitierten Gesprächs, neigte sich eine Phase des intensiven Engagements im Märkischen Viertel dann ihrem Ende zu. Das mediale Interesse ließ nach. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt dessen »Monstrosität« in der überregionalen Presse längst zu einem gängigen Attribut des Märkischen Viertels geworden.238 tion ist im Wortlaut aus den vorliegenden Protokollen, die ihrerseits auf Tonband-Mitschnitten basieren, übernommen. 233 Protokoll, ebd., v. a. S. 3–5, 12–17. 234 Die Bewohner begannen sich im Sommer 1968 in Initiativen und Elternvereinen zu organisieren. Groll aus dem Märkischen Viertel, in: Tagesspiegel, 08.06.1968, S. 11; Taten nach kritischen Mieter-Worten, in: Tagesspiegel, 28.06.1968, S. 10. 235 Zu den medialen Strategien der Studentenbewegung vgl. u. a. die Beiträge in Klimke u. Scharloth. 236 Siehe zum Folgenden auch: Reinecke, Laboratorien; dies., Am Rande. 237 Dieser Periodisierung folgt auch die Darstellung bei: Bodenschatz u. a., Märkisches Vierteljahrhundert. Als Basis der folgenden Zeitungsanalyse dient eine Schlagwortanalyse in »FAZ«, »Spiegel« und »Zeit«, ergänzt durch stichpunktartige Analysen des »Tagesspiegels« und der »BZ«. 238 Allermöhe – Getto für die junge Mittelklasse, in: Spiegel, 46/1973, S. 78–84, hier S. 78.
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Dabei war das Märkische Viertel anfänglich ebenso ein Produkt der zeitgenössischen Wohnungsnot wie sozialplanerischer Ambitionen. Zwischen 1963 und 1974 am nordöstlichen Stadtrand entlang der Mauer zu Ostberlin erbaut, war das Viertel eine von zahlreichen Stadtrandsiedlungen, die in der Bundesrepublik im Rahmen der umfassenden staatlichen Baupolitik entstanden.239 Der in dieser Zeit ohnehin verbreitete Mangel an Wohnraum wurde dabei in Westberlin noch durch den Bau der Mauer verschärft. Schließlich mussten die zuvor aus dem Ostteil der Stadt täglich nach Westen pendelnden Arbeitskräfte durch neue westdeutsche Kräfte ersetzt werden, für die wiederum Wohnungen benötigt wurden. Großprojekte wie das Märkische Viertel und die beinah zeitgleich erbaute Gropiusstadt stellten auch eine Reaktion auf diese Situation dar. Zugleich sollten beide Viertel, jeweils in Mauernähe gelegen, im Zeitalter der Systemkonkurrenz als Vorzeigeobjekte des westlichen Sozialen Wohnungsbaus dienen.240 Nachdem bereits zuvor mit innerstädtischen Großbauprojekten wie dem Hansaviertel im Westen und der Stalinallee im Osten eine Art Wettbewerb des städtischen Wiederaufbaus eingesetzt hatte, verlagerte sich dieser Wett bewerb in den 1960er und 1970er Jahren schrittweise an den Stadtrand, auf die Errichtung staatlich geförderter Großsiedlungen. Der Anteil an öffentlich geförderten Neubauwohnungen war in Westberlin überdurchschnittlich hoch: Von den etwa 310.000 Wohnungen, die zwischen 1960 und 1975 neu erbaut wurden, entstanden 78 % im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus. Knapp 15 % dieser neu erbauten Wohnungen befanden sich in Großsiedlungen mit mehr als 10.000 Wohneinheiten: der Gropiusstadt, dem Märkischen Viertel und dem Falkenhagener Feld. Und während in anderen Städten der Anteil an Einfamilienhäusern oder privat finanzierten Wohnungen in den Großsiedlungen teilweise höher lag, waren im Märkischen Viertel 98 % der neu entstehenden Wohnungen öffentlich gefördert.241 Dennoch unterschied sich die Westberliner Stadtplanungspolitik eher graduell als grundsätzlich von derjenigen anderer westdeutscher Städte. Mit Blick auf den herrschenden Wohnungsmangel entschieden sich in den frühen 1960er Jahren zahlreiche Kommunen für den Bau von Großsiedlungen, die sich in der Anlage ebenso ähnelten wie in ihrer städtischen Randlage, wobei diese Randlage nicht allein planerischen Zielen folgte, sondern auch ein Ergebnis der pragmatischen Suche nach kostengünstigen Baugrundstücken darstellte. Von seinem nach 1961 beschleunigten Bau abgesehen, war es damit weniger die Planungsgeschichte des Märkischen Viertels, die für Westberlin spezifisch war, als die Art der öffentlichen Aufmerk239 Zur aktuellen historischen Erforschung der Großsiedlungen vgl. Haumann u. WagnerKyora, Westeuropäische Großsiedlungen. Vgl. zudem die Beiträge in: Herlyn u. a.; Schildt u. Sywottek. Speziell zur Baugeschichte des Märkischen Viertels siehe Birne; Duwe, S. 53–67. 240 Zum Einfluss des Kalten Kriegs auf den Umgang mit Architektur und Städtebau in Berlin siehe Warnke. Auch Wagner-Conzelmann, S. 9, unterstreicht mit Blick auf die Interbau 1957 die politische und propagandistische Funktion städtebaulicher Prestigeprojekte. 241 Braun.
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samkeit, die ihm – nach einer Phase der anfänglichen Begeisterung – Ende der 1960er Jahre zuteilwurde.242 Für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutete der Umzug in die gut ausgestatteten Wohnungen am Stadtrand zunächst einen Aufstieg. Das galt in besonderem Maße für das Märkische Viertel. Schließlich hatte ein beträchtlicher Teil der hinzuziehenden Familien zuvor in Wohnlauben und Baracken gelebt. Auf jenem Gelände, auf dem ab 1963 das Märkische Viertel erbaut wurde, war während des Ersten Weltkriegs die Laubensiedlung Wilhelmsruh entstanden. Im Laufe und in Folge des Zweiten Weltkriegs erfuhr die Kolonie einen breiten Zustrom von Menschen, die infolge der Kriegszerstörungen auf der Suche nach Wohnraum waren. Sie kamen in dem Gebiet, das infrastrukturell zum großen Teil nicht erschlossen war, meist in provisorischen Bauten unter und siedelten wild. Noch Mitte der 1950er Jahre war die Siedlung Westberlins größtes Notwohnungsgebiet; die Verwaltung ging davon aus, dass in Wilhelmsruh etwa 12.000 Menschen wohnten.243 An der Wende zu den 1960er Jahren wichen die ursprünglich auf Bezirksebene formulierten Pläne zur Erschließung dieses Gebiets dann einem sehr viel ehrgeizigeren Vorhaben des Senats, der nun, in enger Kooperation mit der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU, Wohnungen für rund 40.000 Bewohner plante.244 Die Laubenkolonie machte schrittweise der neuen Großsiedlung Platz, und ein Großteil der Laubenbewohner zog dorthin um. Zu ihnen gesellten sich Mieterinnen und Mieter, die zuvor in kommunalen Notunterkünften und Obdachlosenasylen gewohnt hatten.245 Die übrige Bevölkerung der Großsiedlung rekrutierte sich zu weiten Teilen aus innerstädtischen Arbeiterquartieren wie dem Wedding, dessen großflächige Sanierung Mitte der 1960er Jahre eingesetzt hatte.246 Nicht selten bemühten sich die dort Ansässigen selbst um die neuen Wohnungen am Stadtrand; andere wurden zwangsumgesetzt.247 Die letzte der gut 16.900 neuen Wohnungen wurde 1974 bezogen; Ende 1974 wohnten 46.922 Personen im Märkischen Viertel.248 Anfangs seien er und seine Familie froh gewesen, in das Märkische Viertel zu ziehen, erklärte der Arbeiter Hans Rickmann 1970: »die neue Wohnung, keine Kohlen mehr schleppen, den Hahn aufdrehen, und heißes Wasser kam. […] es war wie ein neues Leben.« Aber das sei nur der erste Eindruck gewesen, denn die Differenz zwischen alter und neuer Miete betrage im Schnitt 200 bis 300 DM. 242 Zu der – mit Blick auf 1968 – formulierten Beobachtung, dass es in dieser Zeit in den Massenmedien zu einer auffallenden Fokussierung auf Städte wie Westberlin und Frankfurt kam, siehe auch von Hodenberg, Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven. 243 MV-Plandokumentation, S. 14. Zur Geschichte der Laubenkolonie siehe Hildebrandt u. Schlickeiser. Zur langsam voranschreitenden Räumung von Kleingartengebieten und »Wilden Siedlungen« in Westberlin insgesamt vgl. Hanauske, S. 1144 ff. 244 Zur Planungs- und Baugeschichte siehe auch Bodenschatz u. a., Berlin, S. 328–334. 245 Vgl. Hasselmann, S. 156. 246 Duwe, S. 62. 247 Vgl. hierzu Zapf. 248 Bodenschatz, Platz frei, S. 243; Wilde, S. 60.
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Angesichts dessen, dass ein Arbeiter im Monat ca. 850 DM netto verdiene, könne »jeder wohl begreifen, unter welch wirtschaftlichem Druck die Masse der M V-Bewohner« stehe.249 Tatsächlich beschäftigten die gegenüber nicht sanierten Altbauten zwei- bis dreimal höheren Mieten sowie die wachsende Zahl an Zwangsräumungen, die aufgrund eines zu hohen Mietrückstands und einer verbreiteten Verschuldung erfolgten, Ende der 1960er Jahre immer mehr Großsiedlungsbewohner. Auch beschwerten sich die Neumieterinnen und -mieter häufig über die schlechte Verkehrsanbindung und ungenügende Ausstattung mit öffentlichen Einrichtungen dort. Wie auch in anderen Großbauvierteln handelte es sich bei den Zuziehenden in der Mehrzahl um Familien mit Kindern; eine Tatsache, die bei der Planung nicht ausreichend beachtet worden war. 1970 waren knapp 30 % der dort Lebenden nicht älter als 15 Jahre.250 Das Fehlen an Spielplätzen, Kindergärten, Schulen und Jugendfreizeitstätten fiel damit umso stärker ins Gewicht. Es kam zu Protesten der Bewohner, die sich im Sommer 1968 in Initiativen und Elternvereinen zu organisieren begannen und von der Bezirksverwaltung und den Wohnungsgenossenschaften Veränderungen forderten.251 Die Presse stellte diese Proteste zunächst als berechtigte Unzufriedenheit mit der ungenügenden Infrastruktur eines noch im Bau befindlichen Viertels dar, begann aber bald, sie sozial einzuordnen und auf die dort wohnhaften Arbeiterfamilien und unterprivilegierten Schichten zurückzuführen. Sie griff damit unter anderem Deutungen aus dem Umfeld einer Gruppe von Studierenden auf, die im Viertel aktiv zu werden begann. Den Anfang des stetig wachsenden Zugs von Aktivisten in das Märkische Viertel machten 1968 Studierende der Pädagogischen Hochschule (PH) Berlin. Sie wollten in der Stadtrandsiedlung in einem von der Volkswagenstiftung finanzierten Projekt praktische Erfahrungen sammeln. Sie hätten, erinnerte sich der Erziehungswissenschaftler C. Wolfgang Müller später, in einem »überwiegend proletarischen« Neubauviertel den Umgang mit Problemen der schichtspezifischen, politisch-gesellschaftlichen Erziehung erproben wollen.252 Das Märkische Viertel erschien Müller dafür besonders geeignet; zum einen, weil es viele Arbeiterhaushalte aufwies, zum anderen, weil es die Wohnungs- und Sozialisationsprobleme der neuen Großsiedlungen »wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar« mache.253 C. Wolfgang Müller hatte Ende der 1960er Jahre eine Professur für Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin inne. Die etwa 100 PH-Studierenden, die 1968 unter seiner Leitung in das Märkische Viertel kamen, gehörten zu den ersten von außen kommenden Akteuren, die sich dort engagierten. 249 »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, S. 58. 250 Voll, S. 180. 251 Groll aus dem Märkischen Viertel, in: Tagesspiegel, 08.06.1968, S. 11; Taten nach kritischen Mieter-Worten, in: Tagesspiegel, 28.06.1968, S. 10. 252 Müller u. Schröter; Müller. 253 Müller u. Schröter, S. 28.
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Gemeinsam mit den Bewohnern gaben die Studierenden eine Viertelzeitung heraus, sie engagierten sich in Elternkreisen, in der Jugendfreizeitstätte und auf dem Abenteuerspielplatz.254 Bei ihrer Seminar- und Forschungsarbeit bezogen sie sich auf Methoden der sozialen Arbeit, wie C. Wolfgang Müller sie in den USA kennengelernt hatte: auf eine Handlungsforschung, die die betreuten Gruppen an der Auswertung der Forschungsergebnisse beteiligte, und eine Community-Arbeit, die sich an der »anglo-amerikanischen Nachbarschaftsarbeit in den Gettos proletarischer Immigranten« einerseits und an der »proletarischen Wohnblockarbeit« der 1920er Jahre andererseits orientierte.255 Diesen Traditionen entsprechend, zielte die Gruppe vor allem auf eine Solidarisierung der lokalen Bevölkerung. Einen Schwerpunkt ihres Engagements, in dem sich benotete Seminararbeit und politische Aktivität überlagerten, bildeten kolla borative Medienprojekte, wie eine Stadtteilzeitung, die rasch Nachahmung fand, und eine Reihe von Filmprojekten.256 Das Interesse galt dabei dezidiert der »proletarischen Bevölkerung« des Viertels. Ziel der Arbeit sollte es sein, hieß es in einem Forschungsantrag, die »auf Selbsthilfe gerichteten Kommunikationsstrukturen alter Arbeiterquartiere in überwiegend proletarischen Neubauvierteln zu rekonstruieren.«257 Die Gegenüberstellung von innerstädtischen alten Arbeiterquartieren und randstädtischen neuen Großsiedlungen gewann in den bundesdeutschen Urbanitätsdebatten der späten 1960er und 1970er Jahre insgesamt an Bedeutung.258 Allerdings kam im Märkischen Viertel hinzu, dass die Aktivistinnen und Aktivisten dort versuchten, eine urbane proletarische Nachbarschaftlichkeit selbst herbei zu führen. Wieder und wieder appellierten sie an die Siedlungsbewohner, aktiv zu werden, sich zu engagieren und zu solidarisieren. Eng vernetzt mit anderen Initiativen, die im entmilitarisierten Berlin im weiteren Umfeld der Studentenbewegung entstanden, kamen sie zumindest unter anderem in die Siedlung, um dort, marxistisch inspiriert, ein proletarisches Bewusstsein zu schaffen. Mehr als in anderen Großsiedlungen ging die Beobachtung sozialer Prozesse im Märkischen Viertel in den aktiven Versuch ihrer Herstellung über.259 Und früher als in anderen Siedlungen geriet dort eine moderne Stadtplanung in die Kritik, die als zu wenig demokratisch und sozial gerecht galt. 254 Vgl. hierzu: Autorengruppe »Märkische Viertel Zeitung«; »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, v. a. S. 77–80; Schulz-Dornburg. 255 Müller u. Schröter, v. a. S. 30; Müller; »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, v. a. S. 77–80. 256 Autorengruppe »Märkische Viertel Zeitung«. Zu den medialen Strategien der Studentenbewegung allgemein vgl. die Beiträge in Klimke u. Scharloth. 257 »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, S. 77. Bericht zum Märkischen Viertel, in: Konkret, 12.04.1973. 258 Siehe dazu auch die Ausführungen in Unterkapitel 3.2. Für die Kritik an der modernen Stadtplanung in der Bundesrepublik zentral: Mitscherlich. Vgl. dazu auch: Schanetzky. 259 Zu der langen Tradition sozialreformerischer und -revolutionärer Stadt(teil)arbeit vgl. Lenger, S. 129–148.
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Dementsprechend bezog sich ein Großteil der Demonstrationen und politischen Aktionen, die im Viertel zwischen 1968 und 1974 organisiert wurden – von Autokorsos zum Rathaus über Unterschriftensammlungen bis hin zu Mietstreiks – auf die sozioökonomischen Probleme der Hochhaussiedlung: auf die Höhe der Mieten und die regelmäßigen Mieterhöhungen. Dass die Mieten im öffentlich geförderten Wohnungsbau deutlich über denen in nicht sanierten Altbauten oder Notunterkünften lagen, war in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren die Regel. Allerdings fiel diese Tatsache im Märkischen Viertel stärker ins Gewicht, weil das Durchschnittseinkommen dort vergleichsweise niedrig war. Einer 1970 durchgeführten Stichproben-Befragung der Bewohner zufolge lag das Durchschnittseinkommen jedenfalls deutlich unter dem von Westberlin insgesamt. Fast die Hälfte der Haushaltsvorstände wies ein Nettoeinkommen von monatlich nicht mehr als 800 bis 1.000 DM auf.260 Überdurchschnittlich viele, über 80 %, hatten Schulden.261 Auch war der Anteil an Sozialhilfeempfängern höher war als im übrigen Berlin: Jede sechste Familie nahm 1970 im Märkischen Viertel vorübergehend oder laufend Fürsorgeleistungen in Anspruch.262 Unter den Erwerbstätigen waren verhältnismäßig viele Arbeiter (40 %); ihr Anteil lag über dem Westberliner Durchschnitt.263 Umso mehr fiel ins Gewicht, dass die Mieten in der Großsiedlung in den Anfangsjahren gleich mehrfach erhöht wurden. Ein reines oder überwiegend proletarisches Viertel war die Siedlung dennoch nicht. Immerhin stellten Arbeiter weniger als die Hälfte und Angestellte, Beamte und Selbstständige knapp ein Drittel der erwerbstätigen Wohnbevölkerung. Wie in anderen Großsiedlungen auch, sollten in dem Viertel durch die Kombination von Hochhäusern und Einfamilienhäusern sowie Wohnungen unterschiedlicher Größe verschiedene soziale Schichten zusammen wohnen und taten das auch.264 Auch war die Wohnzufriedenheit der Bevölkerung im Schnitt eher hoch: In einer 1971 durchgeführten Umfrage gaben 36 % der befragten Haushalte im Märkischen Viertel an, mit ihrer Wohnsituation »sehr zufrieden« zu sein, 51 % waren »zufrieden«, 11 % »teilweise zufrieden, teilweise unzufrieden« und lediglich 2 % »unzufrieden«.265 260 Hasselmann, S. 153 f. 261 Ebd., S. 160. Hasselmann erklärt, dass von den untersuchten Haushaltsvorständen 17 % nicht verschuldet gewesen seien (und das ohne, dass Mietschulden einberechnet wurden). 262 Wilde, S. 114. 263 »Für den Überblick kann im Märkischen Viertel angenommen werden, daß die stärkste Gruppe die der ›Arbeiter‹ ist, die 40 % erreichen. Dieser Gruppe stehen ›Angestellte und Beamte‹ mit 27 % gegenüber. Relativ hoch ist der Anteil der Rentner mit 22 %.« Hasselmann, S. 153 f. Hasselmann bezieht diese Angaben auf die Gesamtheit der »Arbeitenden im Beruf« im Viertel, zu denen er allerdings neben den üblichen Kategorien auch »Rentner« zählt. 264 Irion u. Sieverts. Speziell zur Baugeschichte des Märkischen Viertels siehe Birne; Bodenschatz, Platz frei, S. 242. Im Falle des Märkischen Viertels wurden die eigentlich vorgesehenen neuen Einfamilienhausgebiete im Zuge des Planungsprozesses gestrichen, allerdings blieb ein Teil der bereits vorher bestehenden Kleinhausgebiete erhalten. 265 Braun, Großsiedlungsbau, S. 19.
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Dazu, dass das Viertel dennoch bald auch jenseits von Berlin als Problemviertel galt, trug unter anderem eine Ausstellung bei, die Architekturstudenten im Rahmen der Berliner Bauwochen im September 1968 organisierten. Unter dem Titel »Diagnose zum Bauen in Westberlin« ging es den Organisatorinnen und Organisatoren um eine kritische Analyse des Baugeschehens in der Stadt. Ihnen diente das Märkische Viertel als Inbegriff einer fehlgeschlagenen Stadtplanung.266 Im Vorfeld waren die Bewohner dafür von den Studierenden befragt worden. Ihre Kritik an den hohen Mieten und trüben Betonbauten am Rande der Stadt wurde zu einem zentralen Element der Ausstellung, die weit über die Grenzen Berlins hinaus wahrgenommen wurde. Dem Wochenmagazin »Der Spiegel« diente sie als Ausgangspunkt einer Reportage über das Märkische Viertel, in dem das Magazin die »Mammutsiedlung im Norden Berlins« als »neuen Slum« beschrieb.267 Das Wochenmagazin zitierte dabei ausführlich aus den (dialekt getreu wiedergegebenen) Stellungnahmen von Hans Rickmann und anderen, die zuvor von den Studierenden interviewt worden waren und deren Aussagen das Herzstück der kritischen Bauausstellung bildeten.268 Genau genommen stammten fast alle Zitate aus Tonbandaufnahmen, die die Studentin und spätere Filmemacherin Helga Reidemeister zunächst im Rahmen des PH-Projektes und dann im Rahmen eigener Arbeiten angefertigt hatte.269 Die auf ihren Aufnahmen basierenden Gesprächsprotokolle verdienen einen genaueren Blick, denn tatsächlich finden sich Ausschnitte daraus in bemerkenswert vielen Reportagen und Veröffentlichungen zum Märkischen Viertel. Auch waren es fast ausschließlich die von Reidemeister interviewten Bewohnerinnen und Bewohner, die in den folgenden Jahren in Reportagen und Filmen über das Märkischen Viertel wieder und wieder zitiert und gezeigt wurden. Dass Auszüge aus ihren Interviews ebenso in Enzensbergers »Kursbuch« abgedruckt wurden wie 1976 in einem Lesebuch für die 8. Klasse, war charakteristisch für die schrittweise Verfestigung dieser Gespräche zu Dokumenten mit repräsentativem Anspruch.270 Zu der spezifischen »Sprache der Klasse«, mit der um 1970 über die Großsiedlungen gesprochen wurde, trugen sie maßgeblich bei. Darüber hinaus geben die vielfältigen Ton-, Text- und Film-Protokolle aus dieser Zeit Einblick in einen spezifischen Moment der (sozial)wissenschaftlichen Wissensproduktion und universitären Lehre. Schließlich gehörte es zu den vielfältigen Veränderungen um 1968, dass nicht nur Studierende die gesellschaft
266 Die jungen Architekten wollen ganz anderes bauen, in: Tagesspiegel, 06.06.1968; Das große Buh der Bauwochen. Massive Kritik junger Architekten an der Stadtplanung, in: Tagesspiegel, 10.09.1968. 267 Westberlin. Slums verschoben, in: Spiegel, 09.09.1968. 268 »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, S. 33. 269 Ein Teil der mit Tonband aufgenommenen und transkribierten Gespräche sind abgedruckt in: »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels. Ein Großteil der Transkriptionen sind im APO-Archiv in Berlin einsehbar. 270 Reidemeister, ›Schöner Wohnen‹; dies., Schöner wohnen. Drucksachen.
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liche Relevanz der Universität verändern wollten, sondern sich auch Lehrende mit ihren Seminaren aus der Universität hinaus begaben und es zu Vermischungen von Studium, Forschung und gesellschaftlichem Engagement kam, die nicht nur das gesellschaftliche Engagement veränderten, sondern auch die Forschung. Die regelmäßige boundary work, die Abgrenzungsarbeit zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft veränderte sich, weil eine Reihe von Akteuren das bisherige Verhältnis von Universität und Gesellschaft hinterfragten, während sich zugleich im Zuge der Bildungsexpansion und mit der sich ausweitenden Finanzierung nicht-universitärer Forschungen die Zahl der Wissensproduzenten ausdifferenzierte.271 Dass der Auslöser der geballten Aktivitäten im Märkischen Viertel ein Seminar- und Forschungsprojekt war, das von der Volkswagenstiftung finanziell unterstützt wurde und durchaus die gängigen Qualitätskriterien universitären Arbeitens erfüllte, ist für diese veränderte Grenzziehung zwischen universitärer Arbeit und gesellschaftlichem Engagement ein kennzeichnendes Beispiel. b) Making up People: Der O-Ton des Arbeiters und die Sprache der Klasse »Manchmal bringen unsere Wissenschaften Arten von Menschen hervor, die es in gewisser Weise so zuvor nicht gab. Ich nenne das ›die Herstellung von Menschen‹(»I call this ›making up people‹)«, schrieb der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking 2006.272 Schließlich gingen viele Menschen aktiv mit der von außen an sie heran getragenen Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe und dem damit verknüpften Bündel an Zuschreibungen um: Sie passten ihr Verhalten daran gegebenenfalls an oder distanzierten sich davon. Sie seien letztlich also nicht mehr die gleiche Art Mensch wie zuvor, und das wiederum beeinflusse die wissenschaftliche Kategorisierung, erklärte Hacking.273 Ihm ging es in diesem Zusammenhang maßgeblich um wissenschaftlich generierte Klassifikationen, bei denen Menschen, etwa »Arme« oder »Obdachlose«, zu Objekten der Forschung, der Disziplinierung oder Fürsorge wurden. Dennoch sind seine Überlegungen zum Wechselspiel der Fremd- und Selbstbeschreibung sozialer Gruppen auch im Zusammenhang mit nicht-wissenschaftlichen oder nicht-nur-wissenschaftlichen Akteuren und Praktiken instruktiv. Die Bewohner des Märkischen Viertels sahen sich seit den späten 1960er Jahren immer wieder zur Teilnahme an Interviews, Film- und Zeitungsprojekten aufgefordert. Bis Mitte der 1970er Jahre, als das Interesse an dem Viertel schrittweise wieder abebbte, suchten Studierende, Reporter und Filmemacher 271 Gieryn, Boundary-Work. 272 (Übers. C. R.) Hacking, Making up. Hacking zog für seine Überlegungen vor allem Beispiele aus der Psychologie – wie das Aufkommen neuer Diagnosen – heran, bezog sich aber allgemein auf die Humanwissenschaften. Siehe auch ders., The Social. 273 Hacking, Making up.
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dort Ansässige, die sich an ihren Projekten beteiligten.274 Insbesondere die Darstellung des Märkischen Viertels im Dokumentarfilm und zumal im neuen Leitmedium Fernsehen trug dabei zur Festigung von dessen Ruf nachhaltig bei. Rundfunkredakteure und unabhängige Filmemacher drehten am Übergang zu den 1970er Jahren zahlreiche Dokumentationen in der Westberliner Siedlung. In Teilen von den Sendeanstalten finanziell unterstützt, erreichten viele dieser Produktionen eine breite Öffentlichkeit, indem sie in den frühen 1970er Jahren teilweise mehrfach im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt und daraufhin auch in den Printmedien besprochen wurden.275 Dokumentarfilme von Thomas Hartwig und Jean François le Moign, Herbert Ballmann und Wolfgang Patzschke oder Max Willutzki und Heide Reidemeister liefen in den frühen 1970er Jahren wiederholt im Fernsehen. Andere liefen im Kino und bei Filmfestivals. Durchgehend stellten diese Filme »proletarische« oder »unterprivilegierte« Protagonisten in den Mittelpunkt, und die politische Aktivierung der Bewohner gehörte zu ihren Leitmotiven. Darüber hinaus diente ihnen das Märkische Viertel als Schauplatz von zerrütteten Familienverhältnissen, die ihrerseits als Ausdruck ökonomischer Prekarität interpretiert wurden.276 Dass in der Großsiedlung binnen weniger Jahre eine vergleichsweise große Zahl an Dokumentarfilmen entstand, verdeutlicht deren Attraktivität als Schauplatz sozialdokumentarischer Arbeiten. Vor allem aber zeugt es von der Attraktivität, die Westberlin für eine neue Generation von sozialistisch inspirierten Filmschaffenden hatte.277 Thomas Hartwig und Jean-François le Moign, Max Willutzki und Christian Ziewer gehörten dem ersten Jahrgang der 1966 eröffneten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin an, bis sie 1968 infolge einer politischen Aktion ausgeschlossen wurden.278 Helga Reidemeister studierte von 274 Zu den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit dem Viertel siehe auch Bodenschatz u. a., Märkisches Vierteljahrhundert. 275 Wir wollen Blumen und Märchen bauen (BRD, Dokumentarfilm, 1970, Erstausstrahlung: 15.12.1970, ARD);Rudi (BRD, Dokumentarfilm, 1972, Erstausstrahlung: 27.03.1972, ARD); Der Lange Jammer (BRD, Dokumentarischer Spielfilm, 1975, Erstausstrahlung: 19.10.1975, ARD); Urbs Nova? (BRD, Dokumentarfilm, 1971, Erstausstrahlung: 20.09.1971, ZDF). Von wegen Schicksal (BRD, Dokumentarfilm, 1979, Erstausstrahlung: 29.03.1979, ZDF). Der gekaufte Traum (BRD, Dokumentarfilm, 1974) und Nun kann ich endlich glücklich und zufrieden wohnen (BRD, Kurzdokumentation, 1970), beide von Helga Reidemeister, wurden in Kinos und auf Festivals gezeigt, nicht aber im Fernsehen. 276 Dass z. B. einer der Söhne der mehrköpfigen Familie, die Helga Reidemeister in das Zentrum ihres Films »Der gekaufte Traum« stellt, in ein Erziehungsheim für schwererziehbare Kinder muss, die Vernachlässigungen und zahlreichen Streitereien, die teilweise handgreiflich enden: All das wird in dem Film maßgeblich mit dem finanziellen Druck erklärt, unter dem die Eltern stehen. Dass beide Elternteile berufstätig sind und lange arbeiten müssen, dass sie mit den Kindern auf zu engem Raum leben und von deren Erziehung überfordert sind, gilt als schwierige Normalität einer »Problemfamilie« im Märkischen Viertel. 277 Siehe dazu auch die (stark politisierte) Analyse von Drechsler. 278 Zur (quellengestützten) Darstellung der Entwicklungen 1968 seitens der DFFA siehe https://dffb-archiv.de/editorial/heinz-rathsack [20.08.2020]. Thomas Hartwig erreichte per Gerichtsverfahren seine Wiederzulassung zur Akademie.
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1973 bis 1977 dort. Bekannt wurde in den 1970er Jahren dann vor allem Christian Ziewer mit seinem Versuch einer Wiederbelebung des Arbeiterfilms, und Reidemeister erhielt 1979 für »Von wegen Schicksal« den Deutschen Filmpreis. Neben ihr hatten alle vier, Willutzki, Ziewer, Hartwig und le Moign, im Märkischen Viertel begonnen, an ihren ersten Filmprojekten zu arbeiten. Der erste Kontakt dorthin, erinnerte sich Thomas Hartwig 2012, kam über die Ehefrau von Jean-François le Moign zustande, die wiederum C. Wolfgang Müller kannte.279 Auf diesem Weg kamen die vier mit dem Gemeinwesenprojekt der PH-Studierenden in Berührung und fingen an, im Märkischen Viertel zu arbeiten. Insgesamt hatte sich Westberlin Ende der 1960er Jahre zu einem beliebten Experimentierfeld für neue Formen der Sozialen Arbeit und des universitären Arbeitens, des gesellschaftspolitischen Engagements und der alternativen Medienarbeit entwickelt.280 Auf Akteure aus diesem Umfeld übte das Märkische Viertel eine besondere Anziehungskraft aus, die den Status der Siedlung als Labor der Beobachtung »der Arbeiterklasse« oder »der Unterschicht« festigten. Kennzeichnend für die Vielfalt dieser lokalen Aktivitäten waren die Arbeiten von Helga Reidemeister, die zunächst an der PH-Studie von C. Wolfgang Müller mitgewirkt hatte und als Sozialarbeiterin im Viertel tätig war, bevor sie als Dokumentarfilmerin zu arbeiten begann. Bis heute wird in biographischen Skizzen zu ihrer Person gleich eingangs aufgeführt, dass Reidemeister in den 1970er Jahren in Berlin in der gleichen Wohngemeinschaft wie Rudi Dutschke wohnte. Zunächst als Studentin, dann als Teil ihrer eigenen filmischen Arbeit interviewte sie im Märkischen Viertel über mehrere Jahre hinweg eine Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern. Nach dem Vorbild Pariser Filmprojekte im Mai 1968 wollte sie ihnen die Möglichkeit zur Selbstrepräsentation geben.281 Einen Teil des so gewonnenen Materials verarbeitete Reidemeister in Dokumentarfilmen. Andere Teile wurden im Laufe der 1970er Jahre in Zeitschriften und Schulbüchern veröffentlicht.282 Sie trug auf diese Weise dazu bei, dass vor allem vier Familien in Filmen und Reportagen zum Märkischen Viertel immer wieder auftauchten und als dessen scheinbar prototypische Bewohner erschienen: die Familien Rickmann, Rakowitz, Bruder und Lange. Die Erwachsenen hatten alle Arbeiter- oder Arbeiterinnenbiographien und vor allem die Männer waren in der Regel gewerkschaftlich aktiv. Die meisten hatten deutlich mehr als zwei Kinder, und alle kämpften 279 Gespräch der Verfasserin mit Thomas Hartwig, Berlin, 31.08.2012. 280 »Berlin war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre voll von Projekten der Vorschulerziehung, der Kindergarten- und Hortarbeit, der offenen Jugendarbeit in Jugendclubs und Freizeitheimen, […] der sozialpädagogischen Arbeit in Wohngemeinschaften und in Familien mit Lebens- und Erziehungskrisen, voll von vorsichtigen Versuchen, die Psychiatrie zu öffnen und auf eine neue Weise mit neuen Zielgruppen und mit neuen Partnern internationale Begegnungen jenseits der bisher geförderten Westorientierung zu erproben.« Müller, S. 4 f.; Rahden u. Schlak. 281 Silberman. 282 Reidemeister, ›Schöner Wohnen‹; dies, Schöner wohnen, Drucksachen.
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mit finanziellen Problemen. Zwei der vier Familien hatten im Märkischen Viertel eine Räumungsklage erhalten, die sie aber letztlich abwenden konnten. Irene Rakowitz, die Protagonistin mehrerer Filme Reidemeisters, war gelernte Schneiderin. Sie arbeitete zunächst in einer Fabrik, bevor sie nach dem Umzug nach Berlin 1969 dann als Kassiererin anfing. Sie und ihr Mann, der gelernte Bergmann Richard Rakowitz, hatten gemeinsam vier Kinder. Irene Rakowitz ließ sich später von ihrem Mann scheiden, unter anderem, weil er sie schlug, und Helga Reidemeister drehte 1979 mit »Von wegen Schicksal« einen umstrittenen Dokumentarfilm über die mittlerweile geschiedene Mutter und Sozialhilfeempfängerin.283 Horst Lange, Jahrgang 1932 und gelernter Maler, hatte zwischenzeitlich als Busfahrer, dann als Tapetenkleber gearbeitet. Anfang der 1970er Jahre für drei Jahre berufsunfähig, gehörte er zu den Mietern, die Ende der 1960er Jahre im Märkischen Viertel eine Räumungsklage erhielten. Er war verheiratet mit der Arbeiterin Ulla und hatte mir ihr sieben Kinder. Hans Rickmann, Jahrgang 1932, hatte verschiedene Berufe und Gelegenheitsjobs ausgeübt, bevor er Ende der 1960er Jahre mit seiner Frau Janine nach Berlin zog. Dort arbeitete er zunächst als Klempner und Rohrleger, dann als Reinigungskraft. Irene Bruder schließlich (die teilweise auch als »Irene Schwester« firmierte), Jahrgang 1944, hatte in unterschiedlichen Fabriken gearbeitet, bevor sie ihren Mann Günter heiratete, der selbst Druckereiarbeiter und in der Gewerkschaft aktiv war. Beide hatten fünf Kinder. Auch die Bruders erhielten 1967 eine Räumungsklage und standen im Mittelpunkt des 1974 von Helga Reidemeister fertig gestellten Dokumentarfilms »Der gekaufte Traum«.284 Obwohl sie keineswegs repräsentativ für die sozial durchmischte Bevölkerung der Großsiedlung waren, tauchten diese vier Familien in einer erstaunlichen Vielzahl an Sendungen und Berichten auf. Hans Rickmann etwa wurde von Helga Reidemeister interviewt und im »Spiegel« zitiert. Er war der Protagonist zweier ZDF-Reportagen und wirkte noch in einem weiteren Spielfilm zur Belegschaft einer Maschinenfabrik mit.285 Damit gehörte er zu einer Handvoll immer wieder befragter oder gefilmter Mieterinnen und Mieter, die das soziale Image der Siedlung in der weiteren Öffentlichkeit prägten. Viele der im Umfeld der studentischen Linken wiederholt interviewten Bewohnerinnen und Bewohner bezeichneten sich dabei selbst als Arbeiter. Nicht wenige ordneten die eigenen Lebensverhältnisse mit Hilfe einer Klassenkampfrhetorik ein, wie sie in der marxistischen Linken gängig war. Doch ist kaum festzustellen, ob sie ihre eigene Situation bereits vor der Konfrontation mit den Interviewern auf diese Weise darstellten. Es fehlen Selbstzeugnisse aus der Zeit, bevor die Studierenden (und die wachsende Zahl von Journalisten, Sozialwissenschaftlern und Filmemachern in ihrem Schlepptau) in das Viertel kamen. 283 Von wegen Schicksal (BRD, Dokumentarfilm, 1979, Erstausstrahlung: 29.03.1979, ZDF). 284 »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, 10 f., sowie Informationen aus den verschiedenen Interviews. 285 Bei dem Spielfilm handelte es sich um »Liebe Mutter, mir geht es gut«, Regie Klaus Wiese und Christian Ziewer (BRD, Spielfilm, 1971).
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Die Unterschiede im Sprachgebrauch beschäftigten die von Helga Reidemeister über einen Zeitraum von vier Jahren Interviewten indes schon. Vor allem aber beschäftigte sie der Unterschied zwischen dem theoretischen Wissen der Studierenden und dem praktisch erfahrenen eigenen Arbeitersein. Horst Lange: »[…] Aber wat den Klassenkampf hier anbetrifft, naja, eben diese Änderung der Gesellschaft und so, sind wir denen auf Längen voraus, weil die det nur theoretisch erarbeiten können, wat wir nämlich dauernd praktisch machen hier und erleben – verstehste?« Hans Rickmann: »die ik hier kenne is keiner bei, der praktisch watt uffn’ Tisch legt […] ik unterstell denen ja nie Bösartigkeit, oder Arroganz, ik unterstell denen, det sie zu sehr in ihrer Universität kleben, da sieht alles janz anders aus als wie hier an der Basis der Arbeiter und wenn ik jetzt denen sage: so und so muss ik für den Arbeiter schreiben oder det und det interessiert ihm; denn kommen se sich so schlau vor und sagen: sie wüssten besser wat ihm interessiert und können es nich besser wissen; selbst wenn se 3 Monate irjendwo in der Fabrik waren […].«286
Dass »die Studenten« anders sprachen als sie selbst, dass sich die eigene Sprechweise im Zuge der gemeinsamen Projektarbeit aber auch änderte, war ein zentrales Thema der Gespräche. Für die Auseinandersetzung mit der sozialen Einordnung des Viertels, die sich um 1970 etablierte, ist das insofern charakteristisch, als sich Außen- und Innendarstellung – die Erzählung der Studenten und Sozialwissenschaftler, der Massenmedien und Mieter – kaum klar voneinander trennen lassen. Zu den Effekten ihrer Zusammenarbeit mit den Studierenden gehörte aber auch, dass die Bewohner begannen, dass wissenschaftliche Arbeiten der anderen zu kommentieren. Dass die Gruppe um C. Wolfgang Müller von der Volkswagenstiftung Geld für ihr Forschungsprojekt über die Großsiedlung erhalten hatte, erregte das Misstrauen der Interviewten, die es als ungerecht empfanden, als Objekt von Forschungen zu dienen, für die andere entlohnt wurden. Hinzu kam, dass die steigende Vertrautheit mit den universitären Diskussionen mit Zweifeln an der Deutungshoheit der Forschenden einherging. Wiederholt beanspruchten die Interviewten die Deutungshoheit über die eigene Situation.287 Auch forderten sie eine andere Form des wissenschaftlichen Schreibens: Horst Lange: »Jetzt, diese Analyse so zu verfassen, det se von uns verstanden werden kann und det wir überhaupt motiviert sind, det zu lesen, det is det Problem […] jetzt mußte det mit solchen Worten ausdrücken wo der wissenschaftliche Inhalt erhalten bleibt, weiter is det nischt. […] Das soll jetzt kein Vorwurf gegen Wolfgang [Müller, A. d. V.] sein, der kann das auch gar nicht besser, der macht aus Not, […] verbrät er da so ne Amerikanische Stadtsoziologie, da gibts so Untersuchungen aus amerika286 Protokoll des Gesprächs im Juli 1971 [genaues Datum fehlt], APO-Archiv, Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972, S. 10 f. 287 Protokoll des Gesprächs vom 10. April 1974, APO-Archiv, Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972, S. 3.
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nischen Großstädten und da macht er so’n Tuttifrutti, so’n Gemüseeintopf, […] so’n richtigen wissenschaftlichen unverbindlichen Salat, der der ganzen Arbeit, für mein Begriff ganz abträglich sein würde […]. Wichtig ist eine ganz knappe Beschreibung, welche politische, soziologische und psychologische Situation ist im MV ab 69, wie war dort die Lage.«288
Vor allem störte die Ansässigen, dass ihre lokalen Erfahrungen in den wissenschaftlichen Diskursen nicht angemessen gewürdigt wurden. Spezifisch für die Westberliner Großsiedlung und die dort verbreitete Form eines partizipativen wissenschaftlichen (oder dokumentarischen) Arbeitens war das nur bedingt. Schließlich sahen sich Sozialwissenschaftler und andere, die Wissen über Gesellschaft produzierten, im 20. Jahrhundert immer wieder damit konfrontiert, dass die von ihnen Beobachteten oder Befragten sich in den auf das Exemplarische, Allgemeine oder Repräsentative zielenden Analysen nicht angemessen erfasst sahen.289 Allerdings ging es vielen der im Märkischen Viertel aktiven Filmemacher und Studierenden ja gerade darum, einer unterprivilegierten Bevölkerung mit ihrer Arbeit mehr Teilhabe und Mitsprache zu ermöglichen. In der Interaktion mit den Studierenden ordneten die Bewohnerinnen und Bewohner die eigene Situation dabei nicht nur sozial ein, sondern auch politisch – und emotional. Die vier Ehepaare Rickmann, Rakowitz, Bruder und Lange etwa kamen in ihren von Helga Reidemeister aufgenommenen Gesprächen immer wieder auf die Aktivierung und Aktivierbarkeit von sich und anderen zu sprechen und verbanden das Nachdenken über die eigene soziale und ökonomische Lage mit der Reflexion darüber, welche emotionalen Reaktionen sie auslöste. Wenn sie über ihre Ängste, Unsicherheiten und Aggressionen sprachen, deuteten sie sie meist als Ausdruck der eigenen gesellschaftlichen Position. Typisch für diese Verschränkung von Selbstreflexion und Gesellschaftskritik ist die Art und Weise, wie Ulla Lange, berufstätige Mutter von sieben Kindern, über die hohe Mietbelastung im Viertel spricht und über die Angst »des Arbeiters« vor einer weiteren Räumungsklage: »Der Arbeiter sagt: ik brauch ein Dach überm Kopf, ik freß lieber trocken Brot, aber meine Miete bring ik uff, das is also immer wieder die Angst um die Wohnung, die den Arbeiter dazu bringt, sich nich zu aktivieren […] Ik hab ooch Angst davor, aus der Wohnung jeschmissen zu werden, mir jeht det jenauso, wo sollste denn noch hin? Und dieset jroße, schwarze Obdachlosenasyl, det steht dir denn immer wieder vor Augen und wenn de weeßt, wie det da zujeht, denn steckste hier lieber noch zurück in Bezug uff deine Wohnung, und siehst zu, dass de hier noch bleiben kannst.«290
288 Ebd., S. 5. 289 Vgl. etwa die von Sarah E. Igo in ihrer Analyse der empirischen Sozialforschung in den USA beschriebenen Proteste gegen die frühen »repräsentativen« Befragungen von Gallup und anderen. Igo, S. 150–190. 290 Protokoll des Gesprächs Ende Januar 1972 [genaues Datum fehlt], APO-Archiv, Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972.
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Der wachsende Einfluss psychologischer Kategorien prägte in Westdeutschland ebenso wie in Frankreich die Auseinandersetzung mit den neuen Großsiedlungen. Das Beispiel des Märkischen Viertels legt allerdings nahe, dass um 1968 die Politisierung von Emotionen zunahm. Während sich in Sarcelles die Sorge um die Einsamkeit der Bewohnerinnen um 1960 noch auf alle Milieus gleichermaßen bezogen hatte, interessierten sich Filmemacher und Aktivisten um 1968 vor allem für die Gefühle der proletarischen Siedlungsbevölkerung, und sie fragten nach dem Einfluss dieser Gefühle auf deren Verhalten im »Reproduktionsbereich« des Wohnens. Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner in Interviews über ihre Sehnsucht nach mehr Nachbarschaftlichkeit sprachen, erklärten sie sich ihre Vereinzelung dementsprechend nicht allein über die Randlage oder schlechte Verkehrsanbindung des Viertels, sondern sie gingen auch davon aus, dass die soziale Mischung der Bewohnerschaft einer möglichen Solidarisierung der dortigen Arbeiterschaft im Wege stand. In einem 1972 im »Kursbuch« veröffentlichten Auszug aus Gesprächen, die Helga Reidemeister mit dem Ehepaar Rakowitz führte, zitiert sie Irene so mit den Worten: »Lange Flure mit einzelnen Zellen, das isoliert so richtig schön. […] In diesen Häusern, das is auch raffiniert gemacht, du: dass immer so durchlaufend Wohnungstypen drin sind, wo dann Leute einziehn, die besser gestellt sind vom Beruf her und eben vom ganzen sozialen Kram. Wo se beide arbeiten, keine Kinder haben, die leben im täglichen Saus und Braus, die fahrn alle Autos und die haben unsere Probleme nich und die können die auch nie verstehn.«291
Man könne aber nur Leute aktivieren, denen es dreckig gehe. »Und so is eben das ganze Märkische Viertel gemacht: überall haben sie immer solche Hemmnisse eingebaut in Form von Leuten, denen es gut geht.« Damit ging die individuelle Frustration über die ausbleibende nachbarschaftliche Nähe in eine politische Deutung über, die spezifische Gefühlslagen stets als Ausdruck spezifischer Klassenlagen betrachtete und auf ihr politisches Potential hin befragte. Auch finanzielle Ängste, etwa mit Blick auf die höheren Mieten im Großsiedlungsbau, wurden mit dem Aufruf zu mehr Engagement verknüpft. Das war unter anderem in dem Film »Der Lange Jammer« so, einem 1972/73 produzierten und 1975 – nach langen sender-internen Debatten – im Fernsehen ausgestrahlten dokumentarischen Spielfilm. Der Regisseur Max D. Willutzki hatte dafür 1972 im Märkischen Viertel die Proteste gegen die Erhöhung der dortigen Mieten gefilmt und sie zu einer Art Lehrstück über die Solidarisierung Unterdrückter montiert. Er ergänzte dafür die eigentlichen Protestbilder durch eine Reihe nachgestellter Szenen. Um den Film zu finanzieren, griff Willutzki auf eine Förderung durch das Kuratorium Junger Deutscher Film zurück. Außerdem stellte er den Mitwirkenden, laut eigener Angabe etwa 180 Mieterinnen 291 Reidemeister, ›Schöner Wohnen‹, S. 9.
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und Mietern, Schuldscheine aus, mit denen er ihnen zusicherte, ihnen ihre Gage nach dem Verkauf seines Films auszuzahlen.292 Der Film, in dessen Mittelpunkt Horst Lange stand, umkreiste die wachsende Frustration und schrittweise Politisierung der Bewohner des Viertels. Weite Teile widmen sich der schrittweisen Selbstermächtigung der Mieterinnen und Mieter, die einen Mietstreik ausrufen, Transparente in ihre Fenster hängen und mit der Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU über die Höhe der Mieten verhandeln. Wieder und wieder ist darin von der Angst die Rede, die eigene Miete nicht aufbringen zu können, sowie von der Notwendigkeit, dieser Angst zu begegnen: »Überwinden Sie, wie wir, Ihre Angst, und beteiligen Sie sich an den Protesten« – das ist die Parole, mit der die Ansässigen im »Langen Jammer« über den Lautsprecher ihres Demowagens zum Mietstreik aufgerufen werden. Wie auch in anderen Zusammenhängen kritisierten die von Willutzki gefilmten Protestierenden die Hochhaussiedlung am Stadtrand dabei auch, indem sie sie mit der Solidarität innerstädtischer Arbeiterviertel und einer dort traditionell angesiedelten proletarischen Kultur kontrastierten: Bewohner: »Zu Hause, aufm Wedding, da war dit janz anders. Da haben wir unsere Versammlung immer inner Kneipe gemacht. […] Da kannten wir uns och noch alle. […] Heutzutage schmeißen se dich raus, wenn de in Arbeitsklamotten kommst.«293
Allerdings fanden sich keineswegs alle Bewohner in den Arbeiterinnen und Arbeitern wieder, die in Presse und Fernsehen stellvertretend für die Bevölkerung der Siedlung interviewt wurden. Das verdeutlichen die Reaktionen auf den vom ZDF produzierten und dort 1971 erstmals ausgestrahlten Dokumentarfilm »Urbs Nova«.294 Der Film zeichnete den Umzug Hans Rickmanns mit dessen Ehefrau Janine nach Westberlin nach und folgte deren Weg von einem Arbeiterwohnheim über eine Erdgeschosswohnung in Kreuzberg bis hin zur Neubauwohnung im Märkischen Viertel. Der Sender pries den Film von Herbert Ballmann und Wolfgang Patzschke als »Soziogramm« an und als Film über die Westberliner Großsiedlung. Sozial eingeordnet wurde Hans Rickmann als deren scheinbar repräsentativer Bewohner vor allem über eines: seine »Randständigkeit«: Interviewer [mit Blick auf dessen Lebensverhältnisse 1969]: »Es war eigentlich eine Zeit, in der schon eine Menge Bundesbürger sich einen gewissen Reichtum geschaffen hatten. Wir sprechen von der Wohlstandsgesellschaft, vom Wirtschaftswunder. Sie standen da ein wenig abseits, Herr Rickmann.« Hans Rickmann: »Wir fingen damals an, das, was andere schon hatten, langsam aufzubauen. Damals natürlich, habe ich mich erst einmal am Rande der Gesellschaft 292 Bürger gegen Langen Jammer. Gespräch mit dem Filmemacher Max Willutzki, in: Deutsche Volkszeitung, 25.04.1974. 293 Der Lange Jammer (BRD, Dokumentarischer Spielfilm, 1975, Erstausstrahlung: 19.10.1975, ARD), TC 00:55. 294 Urbs Nova? (BRD, Dokumentarfilm, 1971, Erstausstrahlung: 20.09.1971, ZDF).
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gefühlt, aber wenn man das ein wenig besser überblickt später, dann muss man feststellen, dass ich eigentlich nie eine andere Chance gehabt habe als am Rande der Gesellschaft zu stehen, seitdem ich überhaupt auf der Welt war.«295
Er habe dann jedoch verstanden, dass er nicht allein sei, fuhr Rickmann fort. Dass es vielen so gehe, müsse man ja erst einmal erkennen, dann müsse man sich zusammenschließen und wehren. Denn »wir sind ja die Mehrzahl, wir am Rand der Gesellschaft.« Es war sein Hang zu revolutionärer Rhetorik, der Rickmann für Filmschaffende besonders interessant machte. Der Telefondienst des ZDF indes notierte im Anschluss an die Ausstrahlung des Films am 10. Oktober 1973: »Urbs Nova, 28 Anrufe ab 22 Uhr: Massierte Proteste vor allem von Bewohnern des Märkischen Viertels. Fühlten sich diffamiert, da Aussagen angeblich nicht der Wirklichkeit entsprechen«. Und weiter unten: »Empörend. Rickmann mit seiner ›Familie‹ ist ein haarsträubendes Beispiel, ein Hohn und Spott, er ist asozial, ein Penner. Immer wieder die Frage nach dem verantwortlichen Redakteur.«296 Nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner identifizierten sich demnach mit Rickmann als immer wieder gefilmten und zitierten Vertreter des Viertels. Zugleich herrschte unter den immer wieder Gefilmten und Zitierten selbst ein gewisses Unbehagen an der geballten medialen Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wurde. Hans Rickmann etwa brachte in einem von Helga Reidemeister aufgezeichneten Gespräch mit Horst Lange sein Unbehagen darüber zum Ausdruck, dass sie beide in den vorangegangenen Jahren zum »Mythos« oder »Renommierproletarier« stilisiert worden seien.297 Auffallend ist jedenfalls, dass die Bewohnerinnen und Bewohner sich zur Hochzeit des studentischen Engagements in und des medialen Interesses an der Großsiedlung in bemerkenswert vielen Kontexten, vom Spielplatz über das Jugendzentrum bis hin zur Mieterversammlung, zur Selbstbeobachtung und kritischen Reflexion ihrer Klassenlage aufgefordert sahen.298 Während klassische sozialreformerische Projekte der Kartierung sozialer Notlagen sich in erster Linie an die übrige Gesellschaft bzw. maßgeblich an die bürgerliche Elite richteten, adressierten viele Dokumentationen über die Westberliner Großsiedlung sowohl die Dargestellten selbst als auch ein externes Publikum. Ob es sich um Helga Reidemeister handelte, die einer Familie über mehrere Jahre hinweg eine Super8-Kamera zur Verfügung stellte, damit sie ihren Alltag dokumentierte und die 295 Ebd., Dialog aus dem Film. 296 Archiv des ZDF, Mainz, Ordner Telefonprotokolle vom 1.9.1973 bis 31.12.1973. Protokoll des Telefondienstes am Mittwoch, dem 10.10.1973, 18 Uhr bis Sendeschluss, Nr. 117–143. 297 Protokoll des Gesprächs im Juli 1971 [genaues Datum fehlt], APO-Archiv, Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972, S. 8. 298 Bewohnerin: »So war es von Anfang an. Erst haben die Architekten sich hier ausgetobt und da haben se was erzählt: Menschen im Experiment, und dann kam der Senat […], und jetzt kommt Ihr und heizt die Leute an. Man kommt sich ja vor wie im Affenkäfig. Wie n Versuchskaninchen.« Ebd.
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Ergebnisse dann im Anschluss sichtete, oder um Max D. Willutzki, der seine Aufnahmen lokaler Proteste wiederholt in sogenannten »Anti-Wochenschauen« oder »Kinogrammen« an öffentlichen Orten im Viertel zeigte: Die dokumentarischen Techniken der Beobachtung verbanden sich in der Stadtrandsiedlung oftmals mit der Aufforderung zur Selbstreflexion. »Den Unterdrückten« legten die zahlreichen externen Beobachterinnen und Beobachter des Viertels damit nahe, dass Selbstbefragung und -reflexion wichtige Instrumente der politischen Selbstermächtigung darstellten. Die altbekannte Forderung an die Formierung eines Klassenbewusstseins erhielt damit einen neuen, therapeutisierend-individualisierenden Twist. Vor allem aber wurde sie zu einer Forderung mit Lokalkolorit, indem es neben dem Klassenbewusstsein maßgeblich die Viertelidentität und die Herausbildung lokaler Solidaritätsbeziehungen waren, auf die die Arbeit am kollektiven Selbst der Bewohnerinnen und Bewohner zielte. Die Forderung, neben der Klasse-für-sich zu einem Viertel-für-sich zu werden, wurde im weiteren Umfeld der Neuen Linken zu einer Art neuer Leitforderung. c) Die Hochhaussiedlung als Hort von »Problemfamilien« Schon die ersten Einstellungen des weltweiten Kinoerfolgs »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« stimmten das Publikum 1981 auf die sich anschließende Erzählung von Vernachlässigung und Drogenabhängigkeit ein. Bevor der Blick auf die trüben Flure der Westberliner Gropiusstadt freigegeben wurde, in der die 13-jährige Christiane F. wohnte, sah man das Gesicht der Protagonistin und hörte sie im Off von den Kindern dort sprechen, die, »wenn sie draußen spielen und mal müssen«, es nicht mehr rechtzeitig bis in den zwölften Stock schaffen und aus Angst vor den Prügeln der Eltern »lieber gleich in den Hausflur« machen.299 Dem Film reichte dieser Einstieg, um zu verdeutlichen, in was für Umständen Christiane F. aufwuchs. Und obwohl die Großsiedlung selbst im Film kaum zu sehen war, umrissen die Rezensenten das soziale Umfeld des drogenabhängigen Mädchens, indem sie auf das urbane Setting verwiesen, in dem es lebte: Im britischen »Guardian« war von einem »nasty high-rise housing development« die Rede, in der »Süddeutschen Zeitung« von einem »seelenlose(n) Hochhausviertel«.300 Selbstverständlich ist das nicht. Schließlich waren die peripheren Hochhaussiedlungen auch Anfang der 1980er Jahre keineswegs durchgehend Problem viertel; in vielen war die Kriminalitätsrate nicht höher als im übrigen Stadtraum und es kam auch sonst nicht zu auffallenden sozialen Spannungen. Dennoch 299 Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (BRD, Spielfilm, 1981). 300 M. Schwarze, Ohne Wut und ohne Wucht. Uli Edels umstrittener Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, in: FAZ, 04.04.1981; H. Riehl-Heyse, Wie vorbildlich ist Christiane F.?, in: SZ, 03.04.1981; D. Malcom, The Dance of Death in a Berlin Disco, in: Guardian, 03.12.1981.
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griff »Christiane F.« eine etablierte Darstellung der Siedlungen als Hort von Problemfamilien auf. Eine Darstellung, die besonders früh und besonders einflussreich anhand des Märkischen Viertels formuliert worden war. Allerdings fügte sich das filmische Narrativ Anfang der 1980er Jahre noch stimmiger ein in das mittlerweile verbreitete Bild Westberlins als Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte; ein Bild, das sich infolge der Hausbesetzungen und Straßenkämpfe in Kreuzberg und anderswo noch weiter verfestigte. Vor allem aber fügte es sich lückenlos in die um 1980 verbreitete Sorge vor der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit und einer Neuen Armut ein. Dementsprechend galten auch die Großsiedlungen verstärkt als Räume des Abstiegs, der Jugendkriminalität und Vernachlässigung.301 Die um 1970 geballte Problematisierung des Märkischen Viertels durch die Massenmedien nahm diese späteren Darstellungen in vielerlei Hinsicht vorweg. Denn tatsächlich waren es nicht allein Filmschaffende aus dem Umfeld der Studentenbewegung, die sich bei ihrer Auseinandersetzung mit der Großsiedlung auf einkommensschwache Arbeiterfamilien und deren Probleme konzentrierten. Auch die etablierte Presse führte primär die Konzentration sogenannter Problemfamilien an, um die Stadtrandsiedlung als sozialen Brennpunkt zu kennzeichnen.302 Längst sei das als »vorbildliche Stadtlandschaft« geplante Märkische Viertel zu einem »bedrückenden Getto für sogenannte Problemfamilien aus Abriss-Revieren geworden,« schrieb das Wochenmagazin »Der Spiegel« 1970. Und in der Wochenzeitung »Die Zeit« hieß es im gleichen Jahr, das Viertel sei »einer der größten Skandale« der deutschen Stadtplanung: »Fast nur sozial problematische Familien wurden hierher abgeschoben, […] Ein gesellschaft licher Schuttabladeplatz.«303 Es war dieses Image der Siedlung als gesellschaftlicher Schuttabladeplatz, das sich in den frühen 1970er Jahren verfestigte und in den folgenden beiden Jahrzehnten stabil blieb. Zwar kritisierte die »B. Z.« als Organ der Springerpresse die politisierte Darstellung des Viertels und sprach von einer »globalen Schmutzschleuderei«, schließlich sei die Siedlung für die übergroße Mehrheit »zur neuen ›Heimat‹ geworden«.304 Davor hatte die Zeitung allerdings selbst die Zusam301 Dafür ein typisches Beispiel war eine Reportage im Wochenmagazin »Stern«, die 1979 unter wiederholtem Bezug auf »Soziologen«, »Psychologen«, »Mediziner« und »Kriminologen« das Leben in den Hochhäusern als unerträglich, familien- und kinderfeindlich, als von Anonymität, Angst und nachbarschaftlichen Konflikten geprägt beschrieb. W. Maaß, Mord an unseren Städten. 30 Jahre Bauen in der Bundesrepublik, in: Stern, 12.07.1979. 302 Siehe dazu neben dem Film selbst die interne Beschreibung des in die Produktion involvierten Norddeutschen Rundfunks: NDR-Mitschnittservice, FESAD-Information zu »Wir wollen Blumen und Märchen bauen«. 303 Eine Initiative im Berliner Märkischen Viertel. Glatte Bauchlandung, in: Zeit, 11.12.1970; Flucht vor Blumen und Märchen, in: FAZ, 17.12.1970; Gescheiterte Aktion, in: Spiegel, 14.12.1970. 304 MV – Satellit der Kritik, in: B. Z., 1970, ohne konkrete Angabe eines Datums abgedruckt in: »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, S. 66.
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menballung von Kinderreichen in Westberlins Großsiedlungen als Problem beschrieben und, wenngleich in optimistischerem Ton, auf die notwendige Beseitigung von »kleinen Milieu-Unarten« bei den ehemaligen Laubenbewohnern dort verwiesen. Auch war von den Anstrengungen die Rede, derer es im Märkischen Viertel bedurfte, »um die Abrissmieter aus dem Stadtinneren einzuordnen«, vor allem solche »die hart am Obdachlosenasyl vorbeigerutscht« seien.«305 In der Darstellung der überregionalen Presse bestand der eigentliche Skandal der Westberliner Stadtrandsiedlung vor allem in zwei Punkten: im Scheitern einer modernen Stadtplanung, der es zu wenig gelang, eine wohnliche Umgebung zu schaffen, und in der räumlichen Konzentration sogenannter Problemfamilien, die für die übrige Viertelbevölkerung eine Zumutung bedeutete. Die krisenhafte Darstellung des Märkischen Viertels in der Presse und im Fernsehen war so nicht zu trennen von der Um- und Abwertung moderner Stadtplanungsideale, die in der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren einsetzte. Angelehnt an Jane Jacobs Streitschrift zu »Leben und Tod US-amerikanischer Städte« und angeführt von Alexander Mitscherlichs Kritik an der »Unwirtlichkeit der Städte« wuchs das Unbehagen an einer funktionalen Ordnung des urbanen Raums und ihren Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander.306 Insbesondere Hochhaussiedlungen wurden im Rahmen dieser sozialpsychologisch grundierten Kritik als monotone Orte der Entfremdung angeführt..307 Dass es wieder und wieder die Standardisierung und Uniformität der Siedlungen war, die den Kritikern aufstieß, legt nahe, dass sich hier eine Abkehr von den Leitvorstellungen der »organisierten Moderne« abzeichnete: von der Konformität und dem sozialen Normalismus einer stark auf ein fordistisches Produktionsregime ausgerichteten Ordnung.308 Darüber hinaus formulierten die zeitgenössischen Akteure in der Auseinandersetzung mit dem modernen Massenwohnungsbau neue Ideale der »sozialen Wärme« in einer sozial wie räumlich hochmobilen Gesellschaft. Das gilt auch für das Märkische Viertel, dessen mangelnde Wohnlichkeit stets über den Vergleich mit der warmen Nachbarschaftlichkeit jener Arbeiterquartiere markiert wurde, in denen ein Großteil der Bewohner zuvor gelebt hatte.309 Der viel beschworenen Vereinzelung der Stadtrandbewohner, die ihre Nachbarn nicht kannten, wurden die weniger anonymen Kommunikationsformen ihrer alten Viertel entgegen gehalten.310
305 A. Schulz, Soziale Schatten – bei Licht gesehen, in: B. Z., 22.07.1968. 306 Mitscherlich. 307 Gerade das Märkische Viertel galt als Inbegriff einer solchen gescheiterten Moderne. Siehe etwa: Westberlin. Slums verschoben, in: Spiegel, 09.09.1968; R. Michaelis, Mit Pauken und Trompeten durchgefallen, in: FAZ, 04.10.1969. 308 Siehe dazu, speziell mit dem Fokus auf einen Wandel der »Subjektkultur«, die Ausführungen von Reckwitz, Das hybride Subjekt, hier S. 442 f. 309 M. Schreiber, Die Satellitenstadt Märkisches Viertel. Wenn nicht mehr getratscht werden kann…, in: Zeit, 08.11.1968. 310 Vgl. dazu auch Fischer-Harriehausen.
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Vor allem aber rückten in der Auseinandersetzung mit den durchmischten Großsiedlungen die Konfliktpotentiale milieubedingter Unterschiede in den Blick. Obwohl sich durch die standardisierten Wohnbedingungen die sichtbaren Unterschiede zwischen größeren Sozialkollektiven (wie »den Industriearbeitern« und »den Angestellten«) eigentlich verringerten, machten nicht allein linke Aktivisten innerhalb dieser Konstellation neue Konfliktlinien aus. Auch viele Journalistinnen und Journalisten beschrieben das Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozial klassifizierter Verhaltensweisen, Lebens- und Erziehungsstile als spannungsreich. »Eine Geschäftsfrau sagt: ›Also, man schämt sich, den Besuch in den Hausflur zu lassen. Und man schämt sich überhaupt zu sagen: Ich wohne im Märkischen Viertel. Wir wohnen im ersten Stock, aber wir nehmen immer den Fahrstuhl, die Treppe kann man nicht benutzen: ein Kackhaufen neben dem anderen. Die Mütter sitzen oben, rauchen oder saufen, spielen Prinzessin oder haben irgend so einen Besuch und blöken über die Sprechanlage zu den Kindern runter: ›Mach unten!‹«311
schrieb etwa »Der Spiegel« 1970 in einem ausführlichen Artikel über das Märkische Viertel, um wenig später zu kommentieren, dass der »Anteil der Problemfamilien« dort dreimal so hoch sei wie in klassischen Berliner Arbeiterbezirken. Die sozial Schwachen attackierten dort die sozial Schwächeren. Die BetonUmwelt, der wirtschaftliche Druck und die spezifische Bevölkerungsstruktur setzten in der Großsiedlung Aggressionen frei, erklärte das Magazin, und wartete mit weiteren Beispielen familiärer und nachbarschaftlicher Streitigkeiten auf. Die Klage über die sozialen Härten der Wohnpolitik ging dabei in die Skandalisierung bestimmter sozialer Gruppen über. Die Sichtweisen der Mittelschicht, die im weiteren Umfeld der Studentenbewegung kaum Beachtung fanden, waren in den Berichten der Printmedien deutlich präsenter. Die Journalistin Marie-Luise Scherer etwa führte in einer Reportage für »Die Zeit« 1969 zwar schon in der Überschrift an, dass im Märkischen Viertel »jede fünfte Familie von der Sozialfürsorge unterstützt« werde und kritisierte die finanzielle Überforderung vieler Familien.312 Sie zitierte aber auch die Befürchtung, dass »gute Mieter« das Märkische Viertel verließen, weil der Leumund des Viertels sich ständig verschlechtere. Gleich eingangs berichtete die Journalistin zudem über diejenigen, denen »die Mischung« im Viertel nicht behage. »Wenn Frau S. ihren Besuch oben im vierten Stock empfängt, spricht sie als erstes vom Dreck auf den unteren Treppen, von der Macht der Gewohnheit bei jemandem, der aus der Laube kommt und im Winter die Schuhe im Hausflur stehen läßt.«313
311 K. -H. Krüger, Menschen im Experiment. Das Märkische Viertel und seine Bewohner, in: Spiegel 02.11.1970. 312 M. Scherer, ›Brei für alle‹. Geglücktes Wohnprojekt?, in: Zeit, 21.11.1969. 313 »Manchen Familien behagt hier die Mischung nicht.« Ebd.
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Letztlich festigte sich damit in der medialen Darstellung der Großsiedlung die Vorstellung einer idealen Durchmischung, die in der Kombination sehr weniger »Problemfamilien« mit vielen »Normalfamilien« lag. Zugleich vermitteln die teilweise polemischen Schilderungen nachbarschaftlicher Konflikte einen Eindruck von den zentralen Konfliktfeldern im alltäglichen Miteinander: der Sauberkeit von Treppenhaus, Hausflur und Fahrstuhl, und den Unterschieden in den Erziehungsstilen. Von unterschiedlicher Seite wurden die »sozial schwachen Problemfamilien«, die als maßgebliche Problembevölkerung der Großsiedlung galten, nicht allein über ihre finanziellen Probleme oder ihre berufliche Stellung definiert, sondern maßgeblich über ihr Verhalten, ihre Lautstärke, ihren Kinderreichtum, die nicht eindeutig genug eingehaltene Trennung von Privatem und Öffentlichem sowie über ihre Nachlässigkeit im Umgang mit den eigenen Kindern. Die mediale Fokussierung auf die finanziellen und emotionalen Probleme sogenannter Problemfamilien zeitigte dabei durchaus politische Folgen. Während die Berliner Verwaltung kinderreiche »Problem-Familien« als das zentrale Problem der noch neuen Stadtrandsiedlung beschrieb,314 veränderte die gemeinnützige Wohnungsgesellschaft GESOBAU, die für die Verwaltung beinahe aller Wohnungen im Märkischen Viertel zuständig war, den Wohnungsschlüssel: Sie begann, weniger große Wohnungen zu bauen und erklärte Familien mit über drei Kindern Mitte der 1970er Jahre für »untragbar«.315 Auch die Bewohnerinnen und Bewohner selbst führten, wenn sie über soziale Spannungen innerhalb der Siedlung sprachen, auffallend häufig Unterschiede in den Erziehungsstilen und im Familienleben an. Das Ehepaar Waltraud und Wolfgang Lieske etwa war 1970 in die Großsiedlung gezogen und dort in der stark reformorientierten evangelischen Gemeinde am Seggeluchbecken aktiv. Die beiden stellten Anonymität und Einsamkeit in der Rückschau als typische Probleme der Neubausiedlung dar, beschrieben aber auch, wie sich dort schnell Formen der gegenseitigen Unterstützung entwickelten – wenngleich primär unter Gleichen.316 Waltraud Lieske etwa erinnert sich, dass sie in der Anfangszeit gemeinsam mit anderen Müttern auf den Sandhügeln der Großbaustelle Sonnenschirme aufstellte und die Kinder dort spielen ließ: »Für mich war das damals die schönste Zeit. […] Und wir, die wir uns da kennen gelernt hatten, haben uns dann schon gegenseitig unterstützt […]. Aber das waren nicht die Familien, die es eigentlich schwer hatten im Leben. Das waren wir paar Mütter, die zu Hause und nicht berufstätig waren. […] Der überwiegende Teil der Kinder aber stammte von Eltern, die die Kinder allein runtergeschickt haben. […] So dass ich glaube, der überwiegende Teil der dort lebenden Kinder wurde eigentlich nicht behütet.«317 314 Schulz, S. 19. Die Broschüre erschien in einer vom Presse- und Informationsamt herausgegebenen Reihe. Die Redaktion lag beim Senator für Bau- und Wohnungswesen. 315 Bodenschatz, Platz frei, S. 243. 316 Neue Wege durch’s Märkische Viertel. Gemeindeaufbau im Neubaugebiet. Gespräch mit Waltraud und Wolfgang Lieske, in: Lehmann, S. 73–86, hier S. 75. 317 Ebd., 76 f.
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Hier wie auch in anderen Zusammenhängen wurde die Abgrenzung der bürgerlichen von der Arbeiterfamilie (oder auch: die der normalen von der Problemfamilie) stark an dem jeweiligen Umgang mit Kindern, an der Aufmerksamkeit, die ihnen gewidmet wurde sowie an den Räumen, in denen die Kinder sich bewegten, festgemacht.318 Das Zusammentreffen mit »anderen Menschen« beschrieb das Ehepaar Lieske dennoch als bereichernd. Waltraud Lieske etwa erklärt, sie sei in einer Einfamilienhausgegend aufgewachsen und gewohnt gewesen, dass jeder schaue, ob die Nachbarin die Wäsche ordentlich aufhänge. Im Märkischen Viertel hätten diese Maßstäbe nicht gegolten. Sie habe dort »andere Menschen« kennen gelernt und gemerkt, die seien nicht schlechter und nicht besser als sie.319 Den eigenen Fortzug nach sieben Jahren erklärte sich das Ehepaar dennoch auch über die Spannungen im Viertel. In der Gemeinde habe es immer geheißen, wer nach fünf oder sieben Jahren im Märkischen Viertel noch nicht ausgezogen sei, der ziehe nicht wieder weg, erzählt Wolfgang Lieske. Die meisten, die aus den Anfängen der Gemeinde stammten, seien aber tatsächlich nach einigen Jahren weggezogen, hätten Hauser gebaut und das Viertel verlassen.320 Nach einer Erklärung für die hohe Fluktuation befragt, sagt seine Frau: »Aber irgendwann, wenn man länger im Märkischen Viertel lebt, merkt man doch auch, dass Häuser einen erschlagen können, das ist einfach nicht wegzudenken oder wegzureden. […] Oder es war auch überhaupt nie zu überhören […], was sich so an Dramen hier abspielte. Wenn der Mann die Frau über die Straße schleifte, weil er wieder getrunken hatte. Das sind Gründe gewesen, weswegen wir dachten, man muss aus dem Märkischen Viertel auch wieder auszuziehen (sic), weil man das auf Dauer nicht erträgt.«321
Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Westberliner Siedlung sowie anderer Stadtrandsiedlungen sind die Erklärungen derer, die Häuser bauten und fortzogen, relevant. Auch deswegen, weil die Fluktuation in den 1970er Jahren zunahm und die Siedlungen sich in ihrer sozialen Zusammensetzung veränderten. Als erstes und am ehesten zogen Mittelschichtfamilien fort, die es in Einfamilienhaussiedlungen zog – obwohl das im Westberliner Fall weniger möglich war als in anderen Großstädten. Es fehlte dort schlicht das Umland für eine starke Ausdehnung des vorstädtischen Eigenheimbaus.
318 Siehe auch ebd., S. 86. 319 Ebd., S. 82. Auch andere schilderten ihre Erfahrungen im Märkischen Viertel als Form der Begegnung mit einem bis dato unbekannten Milieu. Jürgen Quandt etwa, später Pfarrer in der Gropiusstadt und danach ab 1980 in Kreuzberg, arbeitete während seines Vikariats im Märkischen Viertel und erinnert sich später, er habe dort »zum ersten Mal die soziale Realität von Arbeiterjugendlichen kennengelernt«.« T.-D. Lehmann, Von Projektarbeit in der Kirche und dem Beharrungsvermögen kirchlicher Strukturen. Ebd., S. 102–115, 103. 320 Ebd., S. 82 f. 321 Ebd., S. 83.
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Letztlich traten die Großsiedlungen dennoch vor allem mit zwei Räumen in eine enge Austauschbeziehung: mit (vor)städtischen Einfamilienhaussiedlungen auf der einen und mit innerstädtischen Sanierungsgebieten auf der anderen Seite. Mit letzteren sogar in zweierlei Hinsicht: indem ein Großteil ihrer Bewohnerschaft sich ursprünglich von dort rekrutierte und indem jene Aktivistinnen und Aktivisten, die sich zunächst in den Siedlungen engagiert hatten, sich in den 1970er Jahren vermehrt den Sanierungsgebieten zuwandten.322 Während Familien wie die Lieskes das Leben im modernen Massenwohnungsbau gegen das Einfamilienhaus eintauschten und damit einem mittelschichtstypischen Wohncurriculum folgten, traten die Aktivisten, Soziologen und Filmemacher aus dem weiteren Umfeld des PH-Projekts den Weg in innerstädtische Viertel wie Kreuzberg, den Wedding oder Charlottenburg an. Auch, um sich in den Initiativen zu engagieren, die sich dort gegen die Kahlschlagsanierung der Innenstädte formierten. Die Bewohnerinnen und Bewohner wiederum, die im Viertel blieben, reagierten auf die öffentliche Skandalisierung der Siedlung längerfristig mit einer sich verfestigenden Grenzziehung zwischen innen und außen, den anderen und uns. Das Interesse an der eigenen Beobachtung und Aktivierung durch Journalisten, Studenten und Filmemacher ließ jedenfalls bald nach und wich Zweifeln. Spätestens Mitte der 1970er Jahre zeichnete sich auch bei ehemals engagierten Mietern eine Desillusionierung mit den Praktiken und Zielen von außen kommender Akteure ab. Dass die Bereitschaft der Lokalbevölkerung nachließ, sich der Beobachtung durch andere zu stellen, verdeutlicht ein Kommentar des britischen Künstlers Stephen Willats aus den frühen 1980er Jahren. Willats, der 1980/81 in die Großsiedlung kam, um an einem Projekt zu »Häusern und Menschen« zu arbeiten, hatte Schwierigkeiten, Interessierte für sein Vorhaben zu finden.323 Das Märkische Viertel, erinnert er sich später, »erwies sich als problematisch, da die ins Auge springenden, zentral gelegenen Häuser schon von Soziologen und Fernsehproduzenten gründlich bearbeitet worden waren«. Die Anekdote führt die Aufwärtsspirale der Aufmerksamkeit vor Augen, der die Auseinandersetzung mit dem Viertel zuvor gefolgt war. Dass Akteure aus dem linksalternativen Milieu in dem Viertel den Inbegriff der Probleme einer kapitalistischen Bau- und Stadtplanungspolitik sahen, empfahl es zeitweise einem immer größeren Kreis als Untersuchungs- und Aktionsfeld.324 Zwar gelang es auf diese Weise, lokale Probleme einer überregionalen Öffentlich322 Zu den sich entwickelnden Protesten gegen die Kahlschlagsanierung innerstädtischer Viertel in Westberlin, und zumal in Kreuzberg, siehe Bodenschatz, Platz frei; Vasudevan; Klemek; sowie in anderen westdeutschen Städten Haumann; Reichhardt und aus vergleichender Perspektive die Beiträge in Baumeister. 323 Willats, S. 24. 324 Dass Ulrike Meinhof und Horst Mahler sporadisch zu den Aktiven der »Stadtteilzelle Märkisches Viertel« gehörten, erhöhte die öffentliche Aufmerksamkeit. »jetzt reden wir«. Betroffene des Märkischen Viertels, S. 85 f.
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keit nahezubringen, doch verfestigte sich im Zuge dessen der schlechte Ruf des Stadtteils. Nachdem die Siedlung bei Baubeginn noch als Wohnform der Zukunft begrüßt worden war, galt sie um 1970 bereits als Ort des sozialen Abstiegs. Dieses Image blieb in den folgenden beiden Jahrzehnten stabil. Zwar ging das öffentliche Interesse am Märkischen Viertel seit Mitte der 1970er Jahre deutlich zurück, zudem setzten sich einzelne Presseberichte mit der eigentlich hohen Wohnzufriedenheit der Bewohner auseinander. Dennoch griffen auch sie stets die »allgemeine« Einschätzung auf, dass die Siedlung einen schlechten Ruf habe. Dem entsprach, dass das Märkische Viertel in den 1980er Jahren trotz gezielter Imagekampagnen mit Vermietungsschwierigkeiten zu kämpfen hatte.325 Der spezifischen Westberliner Lage bzw. namentlich dem Fehlen eines städtischen Umlands geschuldet, war der Leerstand dort allerdings kleiner als in anderen Großsiedlungen. Auch lag zwar die Fluktuationsrate im Märkischen Viertel über dem Westberliner Durchschnitt,326 doch überstieg das durchschnittliche monatliche Haushaltsnettoeinkommen der Viertelbevölkerung das Westberliner Durchschnittseinkommen. Im Vergleich mit anderen Großsiedlungen stand das Märkische Viertel vergleichsweise gut da.327 Das legt auch ein Bericht über die Probleme der in den 1960er und 1970er Jahren erbauten Großsiedlungen nahe, der 1988 dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde. Die Regierung reagierte mit dem Bericht darauf, dass die Siedlungen in der westdeutschen Öffentlichkeit immer häufiger als Problemzonen galten, die Handlungsbedarf erforderten. Dabei lebten in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt immer noch etwa 2 Millionen Menschen in den Großsiedlungen, und es befanden sich noch etwa 10 % aller Sozialwohnungen in solchen Siedlungen. In einer Großstadt wie Hamburg waren es sogar 36 % aller städtischen Sozialmietwohnungen. Gleich eingangs wurde in dem Bericht der Regierung aber auf die »vielfach pauschale Beurteilung und nicht selten Verurteilung« der Siedlungen hingewiesen.328 Dass die hochgeschossigen Betonbauten optisch nicht »im Trend« lagen und der Funktionalismus der Siedlungen wenig Spielraum für die individuelle Entfaltung ließ, gestand die Bundesregierung in ihrem Bericht zwar selbst zu.329 Sie wies zudem auf Vermietungsschwierigkeiten hin. Auch kritisierte sie kommunale Belegungspolitiken, die in der »räumlichen Konzen325 Vgl. dazu: Bodenschatz u. a., Nachbesserung; »Ein bißchen viel Beton hier!«. Das Märkische Viertel zwischen Akzeptanz und neuer Krise, in: Zitty, 1984, H. 27, S. 29. Bodenschatz, Platz frei, S. 249–256. 326 Die durchschnittliche Fluktuationsrate Westberlins lag bei von 5,5 %, die des Märkischen Viertels bei 8,1 %. Neubausiedlungen der 60er und 70er Jahre. Probleme und Lösungswege. Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung, Deutscher Bundestag, S. 11. WP, Drucksache 11/2568, S. 117. 327 Bodenschatz u. a., Nachbesserung. 328 Neubausiedlungen der 60er und 70er Jahre. Städtebaulicher Bericht der Bundesregierung, S. 4. 329 Im Gegensatz zum Ausland stellten die Großsiedlungen, hieß es, ein »insgesamt gutes Wohnungsangebot für breite Schichten der Bevölkerung« dar. Ebd., S. 8.
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tration von Problemgruppen« in den Siedlungen resultierten.330 Und für eine solche Kritik gab es durchaus Anhaltspunkte: In Siedlungen wie OsterholzTenever in Bremen, Hamburg Kirchdorf-Süd oder Dortmund-Clarenberg lag der Anteil an Sozialhilfeempfängern mit 25 bis 30 % weit über dem Durchschnitt der jeweiligen Städte.331 Auch war in einigen Siedlungen der Anteil an verschuldeten Haushalten bemerkenswert hoch. Dennoch kritisierte die Regierung die in der Presse überdurchschnittlich häufige Assoziation der Siedlungen mit Jugend kriminalität und sozialen Problemen als undifferenziert. Anders als zeitgleich in Frankreich hielt sich die Skandalisierung der Großsiedlungen in der Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre in Grenzen. Trotz der verschiedentlich laut werdenden Kritik an der lokalen Konzentration vulnerabler oder sozial auffälliger Gruppen dominierte eine ambivalente Sicht auf die Großsiedlungen als nicht mehr zeitgemäße, aber notwendige und vor allem reformierbare Bauform. Das galt auch für das Märkische Viertel, das in den späten 1980er Jahren zu einem wichtigen Erprobungsraum für die Umgestaltung der peripheren Großsiedlungen wurde. Wie auch andere Siedlungen kämpfte das Viertel damit, dass die Mieten in den dortigen Sozialwohnungen meist weiterhin über denen in Altbauten lagen, für die in Westberlin noch die Mietpreisbindung galt, und dass dieses Problem durch den bundesweiten Abbau von Subventionen im Sozialen Wohnungsbau verschärft wurde. Hinzu kam der schlechte bauliche Zustand der Häuser. Mitte der 1980er Jahre begann daher ein Beirat, dem neben Vertretern des Senats und mehreren Stadtplanern auch drei Mieter angehörten, für die Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU Vorschläge für Verbesserungen im Märkischen Viertel zu erarbeiten.332 Der Beirat wies in diesem Kontext auf die hohe Wohnzufriedenheit der Viertelbewohnerinnen und -bewohner hin, warnte aber davor, dass die Sozialämter auf den wachsenden Leerstand reagierten, indem sie vermehrt sogenannte sozial Schwache dorthin umsetzten. Letztlich unterstrichen die Stadtplaner und Soziologen im Beirat aber vor allem, dass sie die Sozialstruktur des Viertels weiterhin für »überdurchschnittlich« und »verhältnismäßig durchmischt« hielten.333 Das führt vor Augen, wie sehr die peripheren Siedlungen sich zu diesem Zeitpunkt eigentlich sozial entmischt hatten. Auch macht es deutlich, wie sehr eine »durch330 Ebd., S. 59. Auch unterschied der Bericht zwischen einer eher beständigen und sozial durchmischten Generation von Erstbelegern, die durch kommunale Belegungspolitiken einer anders strukturierten Bewohnerschaft zu weichen begannen. Diese war stärker durch Alleinstehende, Einpersonenhaushalte und »Minderverdienende« geprägt, der Anteil an ausländischen Haushalten lag über dem Schnitt der jeweiligen Städte und die Zahl an Haushalten, die Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe empfingen, stieg. 331 Ebd., S. 18, 88, 92, 95. Mehr als in Westberlin, wo die spezifische geographische Lage der Stadt das verhinderte, vermeldeten die Wohnungsbaugesellschaften für andere Siedlungen eine massive Mieterfluktuation. Schmidt-Bartel u. Meuter, Der Wohnungsbestand; Herlyn, Wohnverhältnisse, S. 531. 332 Bodenschatz u. a., Nachbesserung. 333 Ebd., S. 44, 130.
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mischte Sozialstruktur« wiederum im soziologischen und stadtplanerischen Diskurs als Indikator für die Stabilität urbaner Räume diente. Kennzeichnend für den zeitgenössischen Stadtplanungsdiskurs war zudem die Selbstverständlichkeit, mit der der Beirat kritisierte, dass die Mieterinnen und Mieter zu wenig Einfluss auf die Gestaltung des Viertels hatten: »So entzieht sich die Wohnumwelt weitgehend der Aneignung durch Bewohner(gruppen), die hier keine selbstbestimmten Möglichkeiten zu positiven Veränderungen haben.«334 Gegenüber den ersten Nachkriegsjahrzehnten hatte eine partizipative Stadtplanung deutlich an Einfluss gewonnen. Auch orientierten sich stadtplanerische Maßnahmen mittlerweile stärker an Fragen des Denkmalschutzes. Selbst im Märkischen Viertel sah der dortige Beirat Mitte der 1980er Jahre den Ausdruck einer »abgeschlossenen Kulturepoche« und forderte, bei der Nachbesserung das vorhandene Alte nicht zu zerstören.335 Bei der Einschätzung urbaner Räume waren ihre Historizität und Gestaltbarkeit zu wichtigen Qualitätskriterien geworden. Doch eben, weil das so war, war das negative Image der in ihrer Struktur von ganz anderen Idealen bestimmten »Saurier der Wachstumsära« schwer revidierbar. Dass Rapper wie der im Märkischen Viertel aufgewachsene Sido mit »Mein Block« die Berliner Großsiedlung 2004 als von Drogen und Kriminalität geprägtes Ghetto, aber eben auch als »sein Herz, sein Leben, seine Welt« zeichneten,336 war letztlich eine schlüssige Entwicklung. Sicher, die urbane Ästhetik des Massenwohnungsbaus hatte in den 1980er Jahren an subkulturellem Potential gewonnen. Sie eignete sich jedenfalls deutlich besser als das gründerzeitliche Mietshaus für einen an die USA angelehnten Gangsta-Rap. Dennoch stand die Beschreibung der Hochhaussiedlung als Ghetto in einer Kontinuität. Sie reihte sich in eine bis in die späten 1960er Jahre zurückreichende Darstellung des Märkischen Viertels als sozialer Brennpunkt ein, die sich seitdem auf immer mehr Großsiedlungen ausgedehnt hatte. Umso mehr, als die Hochhaussiedlungen in der weiteren Öffentlichkeit oft nicht als individuelle Quartiere wahrgenommen wurden, sondern als »Nicht-Räume« ohne Eigenart. Und je mehr Individualität und Authentizität, die Ausbildung eines »authentischen Selbst« und das Erlebnis von lokaler Zugehörigkeit zu Leitvorstellungen des urbanen Wohnens wurden, desto mehr verloren die standardisierten Hochhäuser am Stadtrand an Attraktivität.337
334 Ebd., S. 85. 335 Ebd., S. 34. 336 Vgl. L. Vogelsang, Ihr Block, in: Tagesspiegel, 05.04.2014. 337 Reichardt.
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3.5 Multiple Entortungen. Neue Grenzziehungen in der modernisierten Stadt a) Die inneren Trennlinien der fordistischen Gesellschaft und andere Pfadabhängigkeiten Zu den Schwierigkeiten der gängigen Auffassung, zeithistorische Forschung müsse als Problemgeschichte der Gegenwart betrieben werden, gehört, dass im Angesicht des selbstverständlich gewordenen Gegenwärtigen mitunter der Blick für die Offenheit historischer Entwicklungen verloren geht, die eben nicht immer linear auf einen Punkt zulaufen. Angesichts der grauen Unwohnlichkeit und Vielzahl an sozialen Problemen, mit denen randstädtische Großsiedlungen aktuell kämpfen, scheint es gegenwärtige Beobachter in keiner Weise zu überraschen, dass diese Siedlungen bald in erster Linie Menschen beherbergten, die weniger aus freien Stücken denn aus Ermangelung von Alternativen dort wohnten. Doch ist diese Entwicklung angesichts der in den frühen 1960 Jahren noch grassierenden Wohnungsnot, angesichts der Erleichterung, mit der viele Bewohnerinnen und Bewohner den Umzug an den Stadtrand begrüßten und angesichts ihrer in Umfragen wiederholt erhobenen hohen Wohnzufriedenheit durchaus erklärungsbedürftig.338 Analytisch ist es dabei auf den ersten Blick verführerisch, in den Großsiedlungen das räumliche Äquivalent einer überholten sozioökonomischen Ordnung zu sehen: das räumliche Äquivalent einer fordistischen Gesellschaft, die nicht nur bei der industriellen Fertigung Wert auf Standardisierung und Arbeitsteiligkeit legte, sondern auch bei der Gestaltung der Städte. Von einem sorgenden Staat erbaut, griffen in den massenhaft gefertigten, mit ungeahntem Komfort ausgestatteten und in ihren alltäglichen Routinen stark an Betrieb und Fabrik ausgerichteten Großsiedlungen eine industrielle Massenfertigung und ein Regime des massenhaften Konsums auf eine Weise ineinander, die es nahelegt, die Großsiedlungen als fordistische Räume zu beschreiben.339 Allerdings sollte daraus noch lange nicht folgen, dass die Krise des modernen Massenwohnens durch den Hinweis auf eine irgendwie geartete Krise des fordistischen Kapitalismus an sich hinreichend erklärt wäre. Das ist auch deswegen so, weil die Abwertung des modernen Massenwohnens eindeutig vor der Ölkrise, vor der massenhaften Arbeitslosigkeit und dem Poröswerden jener Normalarbeitsverhältnisse einsetzte, die mit dem Ende des fordistischen Pro338 Das gilt für den westdeutschen Fall in gewisser Weise noch mehr als für den französischen. Schließlich befanden sich in einer Stadt wie Berlin Großsiedlungen wie das Märkische Viertel und Marzahn in enger Nachbarschaft, und anders als in der Bundesrepublik blieb in der nahen DDR die soziale Zusammensetzung der Neuen Städte und Großsiedlungen bis zum Mauerfall vergleichsweise stabil. Ihr Image war deutlich positiver als in Westdeutschland. Siehe zu deren Entwicklung u. a. Hannemann; Keller; Kahl. 339 Zur Deutung der Großsiedlungen als fordistische Räume siehe etwa: Ronneberger; Termeer.
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duktionsregimes in der Regel in Verbindung gebracht werden. Zwar ist offenkundig, dass diese ökonomischen Veränderungen sich auf die Großsiedlungen auswirkten, und zwar massiv, indem viele der Ansässigen von der wachsenden Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Lohnarbeit stark betroffen waren. Das galt insbesondere für Frankreich, wo der Anteil an Arbeitsmigranten unter den Siedlungsbewohnern zu diesem Zeitpunkt deutlich höher war als in Deutschland, und wo diese Gruppe überdurchschnittlich von den ökonomischen Transformationen der 1970er und 1980er Jahre betroffen war. Auch begannen in beiden Ländern die Wohnungsbaugesellschaften, den sich ausweitenden Leerstand darüber auszugleichen, dass sie mehr Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose in die Siedlungen umsetzten. Doch bleibt erklärungsbedürftig, warum viele Angehörige der Mittelschichten bereits Mitte der 1970er Jahre aus den Großsiedlungen wieder ausgezogen waren und in den folgenden Jahren weiter auszogen, obwohl für Frankreich wie für Westdeutschland gilt, dass deren Sozialstruktur anfänglich stark von Mittelschichtsfamilien geprägt war.340 Tatsächlich liegt eine besondere Pointe darin, dass die in den 1950er bis 1970er Jahren erbauten Großsiedlungen eigentlich zu keinem Zeitpunkt den ungebrochenen Höhepunkt einer mit sich selbst im Reinen befindlichen fordistischen Gesellschaft bildeten. Vielmehr wurden sie bereits in ihrer Entstehungsphase (wenngleich in Frankreich früher als in Westdeutschland) zum Schauplatz der inneren Widersprüche des Massenkonsums und eines als durchaus konflikthaft erfahrenen Zugangs der »breiten Bevölkerung« zu mehr Komfort. Die Geschichte der Großsiedlungen und ihrer quasi von Beginn an höchst ambivalenten Darstellung als Räume der Kälte und Isolation zeigt vielmehr, dass die in den »Boomjahren« einsetzenden Aufstiegsprozesse und die Vermittelschichtung westlicher Gesellschaften eigene Verunsicherungen mit sich brachten. Die schwindende Sichtbarkeit etablierter sozialer Großgruppen (wie die Arbeiterklasse) ebenso wie die sich verschiebende Positionierung von Frauen erscheinen im Zusammenhang mit den Großsiedlungen als keineswegs spannungsfreie Prozesse. Insofern spricht viel dafür, die weitere Entwicklung der Großsiedlungen zu Räumen der Marginalisierung und Ausgrenzung im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert nicht als einen Bruch mit den Bedingungen der Wirtschaftswunderjahre zu beschreiben, sondern als deren Konsequenz. Anders ausgedrückt begann die Entwertung der Großsiedlungen nicht erst mit der wirtschaftlichen Krise der 1970er Jahre. Sie begann auch nicht erst mit den neuen sozialen Bewegungen und den von ihnen propagierten alternativen Lebensstilvorstellungen oder ihrer Kritik an einem autoritären Planungsregime. Sie begann in vielerlei Hinsicht bereits in den 1960er Jahren, mit den inneren Widersprüchen der 340 Tellier etwa geht davon aus, dass sich bereits vor 1970 die Anzeichen eines Auseinanderbrechens der Großsiedlungen mehrten. Auch hätten eine Reihe (oftmals von der Regierung in Auftrag gegebener) Studien vor dem sozialen Abstieg der Siedlungen gewarnt. Tellier, S. 164 f.
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Massenkonsumgesellschaft, und wurde durch drei Faktoren beeinflusst: Erstens beschrieben die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen die Modernisierung des Wohnens und die damit verknüpften sozialen Wandlungsprozesse von vorneherein als ambivalent und verlustreich. Zweitens stellte der Mangel an vor allem preiswerten Wohnraum ein Problem dar, das die Hochhaussiedlungen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nicht angemessen beseitigen halfen und das sich durch die voranschreitende Sanierung ehemals preiswerter Altbauten weiter verschärfte. Drittens ging die fortschreitende Pluralisierung der französischen und westdeutschen Gesellschaft mit einer Ausdifferenzierung der Wohnverhältnisse und -wünsche einher, der die standardisierte Wohnumgebung der Großsiedlungen schon bald zu wenig gerecht wurde. Formen der sozialen Distinktion über das urbane Wohnen konnten sich in gewisser Weise erst dann voll entfalten, als genug Wohnraum vorhanden war, um das Wohnen und den Wohngeschmack zu einer Frage der Wahl und nicht allein der Notwendigkeit zu machen. Und in Frankreich und Westdeutschland war dieser Zeitpunkt erst in den frühen 1970er Jahren wirklich erreicht.341 Das eigentliche Aufstiegsziel war für viele Haushalte von vornherein nicht die moderne Großsiedlungswohnung gewesen, sondern das Einfamilienhaus. Dieser Traum rückte, auch aufgrund der verstärkten Förderung des Eigenheimbaus durch die französische und westdeutsche Regierung, nun für wachsende Teile der Mittelschicht in greifbare Nähe. Und es liegt nahe anzunehmen, dass das mittlerweile gefestigte negative Image der Großsiedlungen als anonyme Betonwüsten den Wunsch vieler verstärkte, von dort fortzuziehen.342 Die Sozialgeschichte der Großsiedlungen ist eben nicht ohne die Entwicklung ihres öffentlichen Images zu verstehen. Ihres Images, das sich zwar keineswegs durchgehend mit den Realitäten vor Ort deckte, das sich aber durchaus darauf auswirkte, wer dort wohnen wollte (oder nicht). Die krisenhafte bis skanda lisierende öffentliche Auseinandersetzung mit den neuen Großsiedlungen am Stadtrand folgte dabei in Westdeutschland und Frankreich einer ähnlichen, wenngleich zeitlich leicht versetzten Chronologie. In Frankreich wurde ihr Bau zwischen den späten 1950er und frühen 1970er Jahren von einer regen wissenschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit begleitet, die quasi von Beginn an einen kritischen Ton anschlug. Auch in Westdeutschland widmeten sich die Printmedien und das Fernsehen dem Bau der Großsiedlungen, doch setzte deren wissenschaftliche Erforschung zögerlicher ein und erreichte nicht das gleiche Ausmaß wie in Frankreich. Auch nahm die Kritik an den neuen Siedlungen später an Fahrt auf und erreichte erst um 1970 ihren ersten Höhepunkt. Die Topoi 341 Die Bunderegierung vermeldete 1974 erstmals einen Gleichstand zwischen der Zahl der Haushalte und der Zahl der Wohnungen. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, S. 35. 342 Tatsächlich wäre es fruchtbar, für die Analyse derartiger Wandlungsprozesse noch stärker Unterschiede in den urbanen Wohnkarrieren unterschiedlicher sozialer Gruppen zu untersuchen. Siehe für einen solchen Versuch die Beiträge in Herlyn, Lebenslauf.
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der Kritik an den Siedlungen ähnelten sich dann in beiden Ländern aber, zumal die von politisch unterschiedlich situierten Akteuren getragene Ablehnung der öden, seelenlosen Siedlungen 1968 jeweils eine Zuspitzung durch die oft marxistisch grundierte Kritik an Staat und Kapitalismus in linken Kreisen erfuhr. Mitte der 1970er Jahre ebbte die politische und mediale Aufmerksamkeit für die Siedlungen vorübergehend ab, auch das Interesse der Forschung ging zurück. Anders als in Westdeutschland, wo derartige Zweifel geballt erst um 1970 Resonanz fanden, setzte die Kritik der seelenlosen grands ensembles damit in Frankreich früher ein. Diese Ungleichzeitigkeit scheint erklärungsbedürftig. Sie mochte damit zusammenhängen, dass sozialpsychologische Wissensbestände in Deutschland später und insgesamt zögerlicher Diskurshoheit erlangten. In erster Linie aber hörte die westdeutsche Gesellschaft im Zeitalter der Systemkonkurrenz und in direkter Abgrenzung von der DDR früher auf, sich als Klassengesellschaft zu beschreiben. Deswegen kam es dort auch nicht (oder nur mit erheblicher Verspätung) dazu, dass, wie in Frankreich oder Großbritannien, linke Soziologen die Auflösung innerstädtischer Arbeiterquartiere als Bedrohung eines urbanen proletarischen Milieus bedauerten. Die schrittweise Auflösung des traditionell von Sozialdemokratie oder kommunistischer Partei dominierten, mehrheitlich von Arbeiterfamilien bewohnten »traditionellen Arbeiterquartiers« hatte im deutschen Fall durch den Bruch der nationalsozialistischen Zeit ohnehin früher begonnen. Vor allem aber wurde in der schon früher urbanisierten und dann in Folge des Kriegs massiver in Bewegung geratenen westdeutschen Gesellschaft die Lösung aus etablierten Quartieren weniger stark als neue Ortslosigkeit und als Bruch mit einer vorher engen Einbindung in urbane Milieus erfahren als in Frankreich. Ungeachtet dieser Unterschiede kann aber für beide Gesellschaften gelten, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit den Großsiedlungen sich zwischen zwei Polen entwickelte: der Euphorie über die Entstehung einer neuen, modernen Gesellschaft – und der melancholischen Beschwörung einer scheinbaren Klarheit früherer sozialer Grenzziehungen und Lebenswelten. Die Kritiker der französischen Großsiedlungen und die kapitalismuskritischen Aktivistinnen und Aktivisten, die im Westberliner Märkischen Viertel aktiv wurden, einte so das Bemühen um eine Rezentrierung der (Arbeiter)klasse als Subjekt von Studien und politischen Aktionen. Die umfassende Modernisierung der Städte und die Veränderungen in der konkreten Wohnumwelt, die sie mit sich brachte, wurden damit in beiden Ländern von einer intensiven interpretativen Arbeit begleitet. Vor allem in Frankreich, bis zu einem gewissen Grad aber auch in Westdeutschland, leiteten dabei zunächst (sozial)psychologische Deutungen die Auseinandersetzung mit dem Stadtrandleben an und trieben dessen Skandalisierung voran.343 Wenngleich in Frankreich früher (und stärker institutionalisiert), erlebten beide Länder einen »Psychoboom«, der die Auseinandersetzung mit sozialen und urbanen Proble343 Siehe dazu auch Tissot, L’Etat, S. 33–37.
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men prägte.344 Zudem wuchs der Einfluss einer marxistischen Stadt- und Ungleichheitskritik, sowie neuer Leitvorstellungen einer »authentischen« Urbanität. Die Vorstellung einer Verbesserung der Gesellschaft mit Hilfe einer materiellen Neuordnung des urbanen Raums machte infolge dessen Strategien Platz, die darauf zielten, benachteiligten Bewohnerinnen und Bewohnern eine »Stimme« zu geben, ihnen mit Hilfe unterschiedlicher medialer Feedbackstrategien zu einer Erkenntnis der eigenen Lage zu verhelfen, und ihnen die Möglichkeit zu geben, gestaltend auf ihre Umwelt einzuwirken. Dass die Großsiedlungen im Laufe der 1960er Jahre als spezifische soziale und emotionale Orte problematisiert wurden, war damit unter anderem einer Diffusion psychologischer und soziologischer Kategorien zu verdanken, die auf drei Säulen ruhte: auf der (schon beschriebenen) Expansion der Sozialwissenschaften, einer zunehmend einflussreichen eingreifenden Gesellschaftskritik und einer durch einen neuen Dokumentarismus und das Zusammenspiel von Presse und Fernsehberichterstattung veränderten Medialisierung der urbanen Umwelt.345 Sowohl am Beispiel Sarcelles als auch am Beispiel des Märkischen Viertels wird deutlich, wie sehr die Berichterstattung in den Printmedien und im Fernsehen die Skandalisierung beider Viertel vorantrieb. Deutlich wird aber auch, dass diese, im Ton zunehmend sozialkritische, Berichterstattung sich nicht losgelöst von der wissenschaftlichen Forschung oder Formen des urbanen Aktivismus entwickelte, sondern im engen Wechselspiel mit beiden Feldern: Im Falle Sarcelles war es eine von den Medien inszenierte (Pseudo)wissenschaftlichkeit, die das Bild des einsamen Großsiedlungsleben prägte. Im Falle des Märkischen Viertels war es ein zwischen universitärer Arbeit und gesellschaftskritischem Engagement schwankender Aktivismus, der den massiven Boom an sozialkritischen Reportagen in der Zeitung und im Fernsehen vorantrieb. Sowohl am Beispiel Sarcelles als auch am Beispiel des Märkischen Viertels wird damit deutlich, wie eng sich Aktivismus, Massenmedien und Sozialwissenschaften in ihren Sprachen, Deutungen und Schauplätzen in den 1970er Jahren aufeinander bezogen. Hier wie überhaupt verwischen mit dem stärker auf die Akteure der Skandalisierung einzelner Siedlungen orientierten Blick die klaren Abgrenzungen zwischen Wissenschaft und Staat hier, Massenmedien da und Aktivisten und Bürgerinitiativen dort, die in den bisherigen Erzählungen zur Krise des modernen Massenwohnungsbaus dominieren.346 Die Transformation der städtebaulichen Moderne und der Aufstieg neuer Leitbilder einer partizipativeren, pluralistischeren Urbanität ging eben nicht mit einem sinkenden Einfluss wissenschaftlicher Experten einher, sondern mit einem Wandel und einer Vervielfältigung der als gültig anerkannten Deutungshoheiten und Wahrheiten. 344 Tändler. Zur »Psychologisierung der Sozialdiagnose« in der Bundesrepublik der 1960er Jahre siehe Nolte, Seelenverfassung. Zur Aufstieg von »Psychowissen« im frühen 20. Jahrhundert siehe auch Jensen. 345 Zur Expansion der Sozialwissenschaften siehe die Ausführungen in Kap. 2. 5. 346 Siehe allerdings mit Blick auf das enge Wechselverhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und staatlichem Stadtplanungsregime: Cupers, The Social.
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b) Nicht-Orte? Großsiedlungen und die Erfahrung einsamer Individualität Nicht-Orte, schreibt der französische Anthropologe Marc Augé, das seien Räume, die keine Identität besäßen und die sich »weder als relational noch als historisch bezeichnen« ließen. Nicht-Orte schüfen keine spezifischen Identitäten, sie brächten lediglich »Einsamkeit und Ähnlichkeit« hervor. Während ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet sei, könne das für Nicht-Orte gerade nicht gelten.347 Die Unterscheidung zwischen Orten und Nicht-Orten bildet das Kernstück von Augés Versuch, eine Anthropologie der Übermoderne (anthropologie de la surmodernité) zu skizzieren und darüber nachzudenken, welche Konsequenzen sich für das anthropologische Forschen aus der veränderten räumlichen Organisation gegenwärtiger Gesellschaften ergeben. Als eines der zentralen Merkmale des Hier und Jetzt skizziert Augé dabei eine historisch neue Erfahrung »einsamer Individualität«, die er mit einer Vervielfältigung der zeitlichen und räumlichen Bezüge verknüpft, mit denen sich Individuen in ihrem Alltag konfrontiert sehen. Der Anthropologe geht davon aus, dass sich der oder die Einzelne einer wachsenden Zahl an realen wie medial vermittelten Räumen gegenüber sieht, während die Bedeutung sogenannter anthropologischer Orte sinkt, die eine eigene Geschichtlichkeit besitzen und die auch deswegen identitätsstiftend wirken und helfen, Bindungen zu anderen Räumen auszubilden (das Haus in dem Viertel in der Stadt). Die Vervielfältigung an realen wie fiktiven Raumangeboten geht für Augé einher mit einer territorialen Bindungslosigkeit eines wachsenden Teils der Menschheit. Die »gänzlich neuen Erlebnisse und Erfahrungen von Einsamkeit«, die Augé mit der Übermoderne verbindet, sieht er in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Vermehrung von Nicht-Orten.348 Als konkrete Beispiele dafür dienen ihm Räume des Konsums oder der Durchreise, von Flughäfen über Hotelketten bis hin zu Einkaufszentren, die sich überall ähneln und vergleichsweise wenig in einer historisch gewachsenen urbanen Topographie verankert sind. Es liegt nahe, diese Überlegungen Augés zu den noch neuen Großsiedlungen in Beziehung zu setzen. Schließlich wurden den Hochhaussiedlungen am Stadtrand von verschiedenen Beobachterinnen und Beobachtern ganz ähnliche Attribute zugesprochen: Sie galten als seelenlos, isoliert, ohne Geschichte, ohne Identität und sie wurden immer wieder mit Einsamkeit und Ortlosigkeit in Verbindung gebracht. Zwar spiegelten derartige Repräsentationen nicht dauerhaft die soziale Realität der Großsiedlungen wider, die im Laufe der Jahre durchaus eigene Beziehungsgefüge, Allianzen und Identitäten ausbildeten.349 Auch nahm – wenngleich bemerkenswert langsam und bruchstückhaft – die Einbindung der Siedlungen in die regionale Infrastruktur zu. Dennoch ist bemerkens-
347 Augé, S. 92, 121. 348 Ebd., S. 109 f. 349 Siehe dazu etwa Villechaise-Dupont; Taboury u. Gougerot.
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wert, dass die Großsiedlungen vorübergehend zu zentralen Arenen von Einsamkeit und Isolation und deren Effekten stilisiert wurden. An der Diagnose einer gesteigerten Anonymität und Indifferenz des städtischen Zusammenlebens war dabei an sich nichts neu. Georg Simmels Aufsatz zu den Strategien des Großstädters, der sich vor der Geschwindigkeit des großstädtischen Lebens durch Blasiertheit und Reserviertheit schützt, auf diese Weise aber auch die eigene Unabhängigkeit stärkt, erschien 1903. Der Text ist einerseits ein viel zitierter Klassiker der Stadtsoziologie und -geschichte.350 Andererseits legen die späteren Irritationen über die Einsamkeit des modernen Massenwohnens nahe, dass es historisch kaum damit getan ist, Anonymität als Konstante des großstädtischen Lebens anzunehmen. Wer das großstädtische Leben wo als anonym oder vertraut erfuhr, divergierte und wandelte sich historisch, ebenso wie sich die Praktiken wandelten, mit denen die Anonymität oder Vertrautheit urbaner Räume hergestellt wurden. »Coolness« und »Wärme« erscheinen im Zusammenhang mit dem modernen Massenwohnen jedenfalls als historisch spezifische und sozial codierte emotionale Stile.351 Schließlich kontrastierten die zeitgenössische Akteure immer wieder eine bürgerliche, kalkulierte Praxis der ausgewählten Kontaktaufnahme und Reserviertheit mit einer solidarischen, selbstverständlich eng in die lokale Gemeinschaft eingebundenen Proletarität, die die Grenzen zwischen Familie und Nachbarschaft verschwimmen ließ. Die Großsiedlungen waren weder bürgerliche noch Arbeiterviertel. Und es scheint, als wenn eines ihrer wesentlichen Versprechen und Probleme – zumindest aus Sicht ihrer soziologischen Beobachter – darin bestand, dass der Umzug dorthin für einen Teil der Bewohner einen Bruch mit den bekannten Formen von Nähe und Nachbarschaftlichkeit bedeutete. Dass sie das gewohnte Verhältnis von privat und öffentlich, wohnen und arbeiten, Familie und Nachbarschaft, denen und uns in Frage stellten, hing auch mit der baulichen Struktur und Lage der neuen Siedlungen zusammen. Schließlich brachten sie eine Verfeinerung der Sichtbarkeit sozialer Unterschiede mit sich, die sich dort nur noch bedingt über die unterschiedliche Lage oder Größe einer Wohnung ausdrücken ließen. Mit dem Siegeszug von Auto und Fernsehen musste ohnehin neu vermessen werden, welche Bedeutung das Nahe und Lokale für den Einzelnen oder die Einzelne und deren Ausbildung sozialer Beziehungen hatte. Die ungewohnten Hochhaussiedlungen trugen zu einer solchen Neuvermessung bei, zumal sie für die neu Hinzugezogenen oftmals nicht nur einen neuen Komfort bedeuteten, sondern von ihnen auch neue Wohn- und Mobili350 Simmel, v. a. S. 19–26. 351 Peter Stearns sieht in seiner wegweisenden Studie den Aufstieg von »Coolness« als einem emotionalen Stil eng mit der Sozialgeschichte der US-amerikanischen Mittelschicht im 20. Jahrhundert verknüpft. Er kontrastiert eine viktorianische Wertschätzung von Gefühlsintensität mit neuen Praktiken der Regulierung und Distanzierung. Stearns. Andreas Urs Sommers ideengeschichtlicher Überschlag folgt Coolness als Form der Distanzierung von »allerhand Kohäsionszumutungen« von der Antike bis jetzt; er ist an Formen der gesellschaftlichen Differenzierung wenig interessiert. Sommer.
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tätspraktiken erforderten. Dazu gehörte, dass sich, zumal angesichts des anfänglichen Fehlens öffentlicher Treffpunkte, das Leben von der Straße weg stärker in die Häuser, in Treppenhäuser, Hausflure und schließlich in die Wohnungen und damit auf das Zusammenleben in der Kleinfamilie verlagerte. Dazu gehörte auch, dass der Weg zur Arbeit sich merklich verlängerte, so dass die räumliche Trennung von Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden sich verschärfte; eine Trennung, die wiederum in der Regel gegendert war. Die Fokussierung auf die Sozialfigur der »einsamen Hausfrau« gerade im französischen Fall war kennzeichnend für die Widersprüche, die dieses veränderte Verhältnis von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen, von Familie und Nachbarschaftlichkeit zumal für Arbeiterfamilien mit sich brachte. Die Herauslösung der Menschen aus den ihnen zugewiesenen Orten in lokalen Gemeinschaften und deren Umsetzung in viel weniger vorbestimmte Posi tionen in großräumigen Gesellschaften sei ein bekanntes, vielleicht das konstitutive Thema der Soziologie, stellte Peter Wagner 1995 in seiner Soziologie der Moderne fest.352 Für ihn bildete diese Feststellung den Ausgangspunkt einer Kritik an soziologischen Analysen, die überschätzten, wie sehr sich soziale Praktiken tatsächlich »modernisierten« und die zu wenig einbezogen, welche »aktive, interpretative Arbeit« Menschen verrichten mussten, um ihre Identität und Lage in der modernen Gesellschaft zu bestimmen.353 Wagner ging es um die schrittweise Lösung von Individuen aus traditionellen Zugehörigkeiten und ihre sich erweiternden Möglichkeiten zur Selbstbestimmung in einer sich pluralisierenden und säkularisierenden Gesellschaft. Lesen und verstehen lässt sich seine Bemerkung allerdings auch anders, in einem streng räumlichen Sinne: als eine räumliche Mobilisierung, die es mit sich brachte, dass Menschen sich aus den ihnen zugewiesenen Orten lösten und ihren Wohnund Arbeitsort großräumiger, aus einer Vielzahl unterschiedlicher Orte wählen konnten. Die Auseinandersetzung mit der Entfremdung und Seelenlosigkeit des modernen Massenwohnens legt nah, dass es unter anderem, wenn nicht sogar maßgeblich der Prozess einer doppelten Herauslösung aus lokalen Zugehörigkeiten, dass es Individualisierung, Pluralisierung und eine erhöhte räumliche Mobilität waren, deren Effekte die zeitgenössischen Akteure im Zusammenhang mit der Modernisierung der Städte besonders beschäftigten. Dass sich die historischen Akteure in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern derart von der sozialen Isolation im modernen Massenwohnen irritiert zeigten, deutet jedenfalls nicht allein auf infrastrukturelle Mängel der Siedlungen oder deren schlechte verkehrstechnische Anbindung hin. Es zeugt vielmehr auch davon, dass die miteinander verschränkten gesellschaftlichen und städtebaulichen Umbrüche der 1950er bis 1970er Jahre eine Neuverhandlung des Verhältnisses von sozialer Identität und urbanem Wohnen auslösten.
352 Wagner, S. 15. 353 Ebd.
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Auf den ersten Blick ist es vielleicht überraschend, wenn der Normalismus und die Monotonie der Großsiedlungen mit einer Individualisierung und sinkenden Bindekraft sozialer Großkollektive zusammengebracht werden. Doch verdeutlichen die unterschiedlichen Wellen der krisenhaften Auseinandersetzung mit den Großsiedlungen, dass die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen den Umzug an den durchmischten Stadtrand bereits in den 1960er Jahren als eine Lösung aus etablierten Orts- und Sozialbeziehungen verstanden, die eine »aktive, interpretative Arbeit« erforderlich machte. Die Modernisierung und Standardisierung des Wohnens brachte für einen Teil der Bevölkerung neue Regeln des sozialen Spiels, der Distinktion und sozialen Verortung, Nachbarschaftlichkeit und Soziabilität mit sich. Und diese neuen Regeln sorgten durchaus für Irritationen.354
354 In der Literatur ist bisher vor allem angemerkt worden, dass die Verschiebungen in Soziabilität und Nachbarschaftlichkeit zumal mit Blick auf das 20. Jahrhundert wenig erforscht sind. Rau. Siehe allerdings zu den grundlegenden Verschiebungen in den Leitvorstellungen von sozialer Nähe seit dem 19. Jahrhundert die begriffsgeschichtliche Analyse von Gammerl und, mit Blick auf Kommunikationsbeziehungen, Föllmer, S. 14 f.
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4. Scripting (Dis)integration. Der Aufstieg des Ghettos und die Ethnisierung urbaner Problemlagen
4.1 Global zirkulierende Narrative, lokale Übersetzungen a) »Ghettoisierung«, »Segregation« und ihre vielen Karrieren im 20. Jahrhundert »Ich hasse das, wenn die Politiker sagen, dass es kein Ghetto gibt. Natürlich gibt es ein Ghetto: Wir leben da! Dann sagen die Leute: Du kannst doch weg von der Straße. Kann ich nach Mitte ziehen, wo die Mieten dreimal so teuer sind? Die haben uns alle in die Ghettos getan, wo sie uns Hartz-IV-Wohnungen geben, und da leben dann nur Alkoholiker und Kriminelle. Das ist doch abgekartet!« Bonek, Rapper, 23, im Jahr 2010 im Interview über die Großsiedlung Heerstraße Nord im Nordwesten von Berlin.1 »Wir bewegen uns auf Segregation in ihrer härtesten Form zu: das Ghetto. Das amerikanische Beispiel zeigt, dass Isolation stärker ist als Integration. In Washington, direkt an der Grenze zu sehr trendigen Viertel, gibt es eine Konzentration von Gewalt und Drogen […]. Wir bewegen uns in diese Richtung.« A. Touraine, Le syndrome américain, in: Le Figaro, 09.10.1990.2
Es liegt nahe anzunehmen, dass den Berliner Rapper Bonek wenig mit dem Pariser Soziologen Alain Touraine verbindet. Der eine war einer weiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, der andere zählte 1990 in Frankreich zu den einflussreichsten Soziologen des Landes. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Rapper und der Soziologe sich auf ähnliche Weise einer Sprache des Ghettos und der Ghettoisierung bedienten, um urbane Räume zu beschreiben. Die Parallelen zeugen 1 »Im Nachhinein denke ich: Scheiße, was habe ich gemacht?«, in: SZ Magazin, 23.07.2010, S. 22. Bonek bezieht sich auf die Großsiedlung Heerstraße Nord, die in den späten 1960er Jahren in Staaken, einem Ortsteil von Berlin-Spandau, errichtet wurde. 2 »Nous allons vers une ségrégation dans sa forme la plus dure, le ghetto. […] Vu la logique générale d›accroissement de la ségrégation, nous pouvons nous attendre à ce que nos grandes villes prennent le chemin de Chicago.« Le syndrome américain, in: Le Figaro, 09.10.1990.
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von einem grundlegenden Wandel in der Beschreibung urbaner Problemlagen. Auch Begriffe reisen, und der Ghettobegriff trat, nachdem er lange Zeit fester Bestandteil einer globalen jüdischen Topographie gewesen war, in den 1960er Jahren eine neue Reise an. Eng verknüpft mit einem Narrativ der zunehmenden Segregation führte diese Reise auch nach Westdeutschland und Frankreich, und sozialwissenschaftliche Akteure trugen dazu entscheidend bei, ebenso wie im Übrigen die Massenmedien und Akteure der Popkultur.3 Den westeuropäischen Gesellschaften fiel es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer, sich von ihrem lange dominierenden Selbstbild als ethnisch homogene Nationen zu lösen und ethnische Diversität in das eigene Selbstbild zu integrieren. Dass »Ghetto« und »Ausländerquartier« im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den gesellschaftlichen Problemräumen schlechthin wurden, hing damit zusammen. Sie waren zentrale Austragungsorte der vielfältigen Konflikte, die mit dem migrationsbedingten Wandel der westeuropäischen Stadtgesellschaften einhergingen. Als Kurzform für urbane Probleme ist »das Ghetto« ein Begriff mit globaler Reichweite,4 und der US-amerikanische Historiker Carl H. Nightingale hat Recht, wenn er in diesem Zusammenhang auf eine mittlerweile verbreitete Orientierung an US-amerikanischen Städten verweist: Dass »das Ghetto« im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert zu einem verbreiten Codewort für Race, für urbane Unruhen, Gewalt und Armut wurde, hängt mit einer gängigen Orientierung an der Topographie US-amerikanischer Städte zusammen. Vermittelt über Produkte der Popkultur vom Blockbuster bis hin zu Soul und Rap sowie zudem über soziologische Analysen und die Civil Rights-Bewegung der 1950er bis 1970er Jahre, begannen Harlem, das black inner-city ghetto und ein als weiß imaginiertes middle-class suburbia nicht nur das gängige Bild der USA zu prägen, sondern auch die Vorstellung davon, was ethnische Segregation und racial segregation andernorts bedeuteten. Die Historikerin Kennetta Hammond Perry spricht in diesem Zusammenhang von einer »international anerkannten Ikonographie des Jim Crow-Amerika«.5 Sie entwickelt anhand britischer Debatten der 1950er und 1960er Jahre die These, dass US-amerikanische racial narratives im weiteren Kontext des Kalten Kriegs und der Dekolonisierung für die Deutung gesellschaftlicher Konflikte weltweit eine besondere Attraktivität besaßen. Die Narrative der segregierten USA fungierten in ihren Augen wie international zirkulierende Schemata zur 3 Für den Vorschlag, soziologische und gesellschaftspolitische Debatten als Narrative zu analysieren siehe allgemein: Koschorke. Zur Sprache des Ghettos aus globalhistorischer Sicht vgl. die knappen Überlegungen bei Nightingale, A Tale, sowie den – weitgehend auf die USA beschränkten – begriffsgeschichtlichen Überblick bei Schuman. Zum Ghettobegriff in britischen Zuwanderungsdebatten vgl. Sturm-Martin, Ghetto, v. a. S. 75 ff. 4 »The word ghetto, just like everything else these days, has gone global.« Nightingale, A Tale, S. 257. 5 Perry.
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Deutung von Rasse und Rassismus.6 Sie stellten für andere Gesellschaften eine Art Jargon zur Verfügung, der für die zeitgenössischen Akteure deswegen besonders attraktiv war, weil er es ihnen erlaubte, Fragen der race relations und des Umgangs mit rassischer und ethnischer Differenz als Probleme mit einer transnationalen Dimension zu behandeln (und niemals als rein nationale).7 Die Art und Weise, wie sich die Verwendung des Ghettobegriffs in Frankreich und Westdeutschland seit den 1960er Jahren wandelte, spricht in der Tat dafür, dass in dieser Zeit eine Ikonographie des segregierten Amerika international an Einfluss gewann und in unterschiedliche lokale Kontexte übersetzt wurde, beflügelt durch die große Aufmerksamkeit, die in den 1960er Jahren den in verschiedenen US-Städten ausbrechenden race riots international zuteilwurde. Umso relevanter scheint die Frage, welche Entwicklungen und Gruppen genau in westeuropäischen Städten über den Bezug auf Ghetto, Ghettoisierung und Segregation als problematisch identifiziert wurden. Ebenso wie die Frage, was es heißt, wenn der semantische Haushalt, mittels dessen sich eine Gesellschaft beschreibt, in einem transnationalen Kontext entsteht. Um beide Fragen geht es im vorliegenden Kapitel. Die Karriere des »Ghettos« und die neuen stadtpolitischen Leitforderungen nach »Integration« und »Durchmischung« sollen im Folgenden dazu dienen, sich dem veränderten Umgang mit ethnischer Diversität im urbanen Raum zuzuwenden und zu zeigen, welche Bedeutung transnationalen Austauschprozessen und dem Vergleich mit anderen für die Ordnung urbaner Gesellschaften im späten 20. Jahrhundert zukam. Dass ihre geteilte Migrationserfahrung die westeuropäischen Gesellschaften im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert ähnlicher werden ließ, ist in der historischen Literatur bisher vor allem mit Blick auf deren demographischen Wandel und die de facto wachsende (kulturelle, ethnische) Diversität ihrer Wohnund Staatsbevölkerungen hervorgehoben worden.8 In der Tat ähnelten sich im deutschen und französischen Fall die Strukturen der sogenannten Gastarbeiterregime, die in beiden Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Das war auch deswegen der Fall, weil diese Regime im Zuge der voranschreitenden Europäisierung von Politik und Wirtschaft eng miteinander verknüpft waren.9 Den Mobilitäten in und aus den (ehemaligen oder noch bestehenden) Kolonien kam in Frankreich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten allerdings eine deutlich höhere Bedeutung zu. Doch wurde Westdeutschland seit den späten 1970er Jahren vermehrt zum Ziel einer mehrheitlich asylbedingten Migration aus dem außereuropäischen Raum; bald kam eine wachsende Zahl sogenannter Spätaussiedler hinzu. Während sich zugleich im Zuge des Familiennachzugs immer 6 Ebd., S. 175. 7 Ebd., S. 160. 8 Sturm-Martin, Annäherung, S. 215. Sturm-Martin sieht vor allem die 1970er Jahre als Ausgangspunkt einer Angleichung der europäischen Gesellschaften und ihrer Migrationsregime. Ebd., S. 226. 9 Berlinghoff. Zu historischen und zeitgenössischen Analyse unterschiedlicher »Migrationsregime« siehe auch die verschiedenen Beiträge in Pott.
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mehr migrantische Familien dort niederließen, nahm in beiden Ländern die ethnische Diversität der Wohnbevölkerung stark zu. Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung an der Gesamtbevölkerung war um 1990 in beiden Ländern jedenfalls ähnlich hoch.10 Dennoch ist die Frage, ob die Ähnlichkeit der westeuropäischen Gesellschaften nicht maßgeblich auch darin bestand, dass der eigene Wandel, das eigene Innen und Außen und die daran geknüpften Konfliktlinien dort im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert auf zunehmend ähnliche Weise gedacht und beschrieben wurden. Unter dem Einfluss von global zirkulierenden Images, Semantiken und »kulturellen Substanzen« erweiterte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts allgemein das Repertoire, das den zeitgenössischen Akteuren für die Deutung urbaner Wandlungsprozesse und die Ausbildung urbaner Identitäten zur Verfügung stand.11 Das gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit Migration und ethnischer Diversität. Denn gerade im Umgang mit Migration und ethnischen oder rassischen Differenzen griffen die zeitgenössischen Akteure auf global zirkulierende Narrative und Begriffe zurück, und es ist die Frage, welche Effekte das hatte. Es war an sich kein neues Phänomen, dass urbane Semantiken global zirkulierten. Schließlich wurde auch »der Slum« im späten 19. Jahrhundert zu einer transnational gebräuchlichen Bezeichnung für urbane Problemzonen. Getragen von einer Koalition von Public Health-Experten, urbanen Reformern und vornehmlich kolonialen Bürokraten waren Slums im langen 19. Jahrhundert weltweit zu einem Inbegriff für Problemräume geworden, die es zu beseitigen galt. Slums standen für die unhygienischen und baulich minderwertigen Wohngebiete unterer Schichten, die beseitigt gehörten. In den Praktiken zu ihrer Beseitigung mischten sich Hygienevorstellungen mit zeitgenössischen Vorstellungen von Race und Class. Slumbereinigungen und die Segregation der Bevölkerung entlang rassischer Trennlinien sollten in kolonialen Kontexten sowohl der Seuchenprävention als auch der Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung dienen.12 In den Metropolen wiederum sollte die Beseitigung von Slums zur Lösung der »sozialen Frage« und zur Reformierung und Disziplinierung der 10 Im deutschen Fall wuchs die ausländische Wohnbevölkerung von etwa 570.000 Anfang der 1950er Jahre auf 4,9 Millionen (7,3 % der Gesamtbevölkerung) im Jahr 1989 an. 1995, im wiedervereinten Deutschland, umfasste sie 7,7 Millionen (8,8 %). Im französischen Fall hatte die ausländische Bevölkerung Anfang der 1950er Jahre noch ca. 1,8 Millionen umfasst, 1982 waren es 3,7 Millionen (6,7 %), 1995 etwa 3,6 Millionen (6,3 % der Gesamtbevölkerung). Allerdings unterschieden sich die Einwanderungsgesetze und Einbürgerungspraktiken beider Länder erheblich, und Zugewanderte blieben im deutschen Fall deutlich dauerhafter »Ausländer« als in Frankreich. Oltmer, Migration, S. 56; Bade, S. 302 f., 378. Migranten aus dem Maghreb im französischen und aus der Türkei im deutschen Fall stellten dabei in beiden Ländern etwa ein Drittel der »ausländischen Bevölkerung«. 11 Appadurai spricht in seiner Analyse kultureller Globalisierungsprozesse im späten 20. Jahrhundert von der Zirkulation »kultureller Substanzen« (cultural substances). Appadurai. 12 Siehe dazu vor allem Nightingale, Divided.
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unteren Schichten beitragen. In beiden Fällen knüpfte sich an die Slumbeseitigung die Erwartung, gesellschaftliche Veränderungen über eine Neuordnung des urbanen Raums zu erreichen. Diese Vorstellung war es auch, die modernistische Stadtplanungs- und Sanierungsprojekte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts anleitete. Die (hygienische) Warnung vor Slums ging mit der Arbeit am materiellen Stadtraum einher. Die (in der Regel soziologische) Warnung vor »Ghettos« hingegen legte andere Praktiken der Arbeit an stabilen Verhältnissen nahe: Sie sah eher die Arbeit an den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst, an ihren Sozialbeziehungen und ihrer Mischung, Konzentration und Verteilung vor. Vor allem aber privilegierte sie in der Regel »Rasse« gegenüber »Klasse« als Kategorie der Problembeschreibung. Sowohl die französisch-metropolitane als auch die westdeutsche Gesellschaft unterhielten dabei zu ethnischen und noch mehr zu rassischen Kategorisierungen seit den 1950er Jahren eine höchst ambivalente Beziehung. Schließlich kannten die universalistischen Ideale und assimilationistischen Leitvorstellungen der französischen Republik offiziell nur die Kategorie des Bürgers. »Die Republik« basierte auf der Vorstellung einer gemeinsamen nationalen Kultur und Identität, die andere Zugehörigkeiten nicht zuließ. Unterschiede in Ethnie, Race oder Religion sollten daher staatlicherseits auch lange nicht erfasst werden. Zwischen Staat und Individuum sollte nichts stehen; alle Bürger sollten, ungeachtet etwaiger sozialer, ethnischer oder religiöser Differenzen, gleich sein.13 Dass die Kolonialverwaltung im französischen Empire durchaus selbst biologistischrassialisierte Hierarchien institutionalisiert hatte, die damit einhergingen, dass Kolonisierte zwar die französische Staatsangehörigkeit besitzen konnten, aber dennoch nicht über die gleichen Rechte verfügten, blieb dabei unerwähnt.14 Und noch im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert war Frankreich ein Einwanderungsland, das sich selbst nicht als solches betrachtete; »überzeugt, dass das republikanische Modell und die Klassenkämpfe die Zuwanderung auf eine simple Dimension der sozialen Frage reduzierten,« wie der Soziologe François Dubet treffend bemerkt.15 Auch die Bundesrepublik betrachtete sich lange nicht als Einwanderungsland. Dort wiederum war ein Nationsverständnis einflussreich, das Zugehörigkeit ethnisch-kulturell dachte und letztlich über Geburt und Herkunft vermittelt verstand. Darüber hinaus setzte in der post-nationalsozialistischen Bundesrepublik insofern eine Neu-Konzeptualisierung von Rasse ein, als die Verwendung des Rasse-Begriffs tabuisiert und Rassismen in der Regel als Problem anderer Gesellschaften, wie etwa der USA, konzipiert wurden, nicht aber der eigenen.16 13 Dikeç, v. a. S. 4, 10. 14 Hajjat, Les frontières. 15 Dubet, L’expérience. 16 Fehrenbach. Siehe dazu auch Möhring, Fremdes Essen, S. 14f, 468 f. Speziell mit Blick auf die Stadtsoziologie schreiben Ronneberger und Tsianos, in der deutschen Stadtforschung spielten, anders als in der angloamerikanischen, »ideologie- und diskurskritische Diskussionen über ›Rassismus‹ kaum eine Rolle«. Ronneberger u. Tsianos, S. 148.
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»Rasse« wurde im Nachkriegsdeutschland immer weniger mit der Differenz von jüdisch / nicht-jüdisch assoziiert. Der in der westdeutschen Öffentlichkeit akzeptierte Rassenbegriff näherte sich nach dem Ende des Kriegs vielmehr insofern dem der US-amerikanischen Besatzer an, als er um das Kriterium der Hautfarbe und die binäre Gegenüberstellung von »schwarz« versus »weiß« zu zirkulieren begann.17 Rassifizierungsprozesse verschwanden damit in der westdeutschen Gesellschaft nicht, nahmen aber eine andere Form an.18 Die Frage, wie global zirkulierende Semantiken und Narrative des Städtischen dort jeweils angeeignet und in lokale Kontexte übersetzt wurden, erlaubt einen neuen Blick auf die Verschiebungen im Umgang mit den gesellschaftlichen Differenzkategorien Klasse, Race und Ethnizität im ausgehenden 20. Jahrhundert. Dass Theorien und Konzepte reisen, von einem disziplinären, sprachlichen oder kulturellen Kontext in den anderen, beschäftigt die Geschichts- und Kultur wissenschaften schon seit längerem.19 Bei allen Unterschieden in der Konzeptualisierung dieses Prozesses wird in diesem Rahmen stets hervorgehoben, dass die betreffenden Begriffe, Konzepte oder Theorien im Zuge ihrer Zirkulation eine Transformation erfahren, dass sie an die neuen Kontexte angepasst, auf andere Lebenswelten bezogen, umgedeutet und von unterschiedlichen Akteuren auf unterschiedliche Weise gebraucht werden. Die Reise selbst ist wiederum an spezifische Medien gebunden. Wissensbestände bedürfen, erklärt der P hilosoph Bruno Latour, einer festen Form, um transportabel zu sein; sie reisen in der Form von Karten, Statistiken, Fotos oder Büchern, die dann zur Grundlage ihrer Übersetzung werden.20 Zu den Grundannahmen der Diskussionen um »travelling concepts« oder »travelling theories« gehört aber auch, dass Begriffe, Konzepte oder Theorien stets einen Ballast mit sich tragen, dass sie den spezifischen historischen und 17 Heide Fehrenbach argumentiert, dass Formen des racialist thinking im Nachkriegsdeutschland nicht verschwanden, sondern sich veränderten. Während eine um die Unterscheidung von Juden und nicht-Juden gruppierte Rede von Rasse, Blut und Erbe an Einfluss verlor, habe sich das Reden über »rassische Differenz« auf die Gegenüberstellung von »schwarz / weiß« verlagert. Fehrenbach bringt diese Entwicklung u. a. mit der US-amerikanischen Besatzung in Verbindung. Fehrenbach, S. 7 ff. 18 Zu der Forderung, die »Interaktion von deutschen und amerikanischen Rassifizierungsprozessen« in der Bundesrepublik über die 1950er Jahre hinaus zu untersuchen siehe auch Höhn, S. 369 f.; Alexopoulou. Höhn formuliert die Hypothese, dass die Debatten um schwarze GIs in den 1950er Jahren als »Brücke zur rassifizierten Ausgrenzung der Gastarbeiter« fungierten. Ebd., S. 370; sowie mit Blick auf eine Reaktivierung von race-based thinking in den 1970er Jahren auch Chin, Guest Worker Migration. Siehe zu diesen Fragen zudem Möhring, Fremdes Essen, S. 469. 19 Den Begriff des »travelling concept« hat vor allem die Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal geprägt, der es darum geht, sich bei der Erforschung von Kulturen über die Grenzen unterschiedlicher Disziplinen, sprachlicher Kontexte und Lebenswelten hinweg verständigen zu können. Bal. Zu einer Operationalisierung dieses Ansatzes siehe Neumann u. Nünning. Zum Konzept der »Übersetzung« siehe Bachmann-Medick. 20 Latour spricht in diesem Zusammenhang von »immutable mobiles«. Latour, Visualisation.
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lokalen Kontext, in dem sie entstanden, wie einen Geist oder Schatten mit sich führen.21 An Schärfe gewinnt diese Beobachtung, wenn sie auf Konzepte bezogen wird, denen in der Vergangenheit immer wieder weltweite Gültigkeit zugeschrieben wurde. Obwohl eigentlich an spezifischen (oft westlichen) Beispielen geschult und in einer spezifischen Zeit verankert, wurden Begriffe wie die Modernisierung, die Industrialisierung oder die Demokratisierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ebenso wie von politischen Akteuren immer wieder auf andere Räume übertragen, um deren Entwicklung einzuordnen und auf einer Skala von »nicht«, »noch nicht«, »fast« oder »schon« (modernisiert, industrialisiert, demokratisiert) zu verorten.22 Der Historiker Dipesh Chakrabarty hat das in seiner wegweisenden Studie »Provincializing Europe« als »problem of translation« bezeichnet.23 Keine Gesellschaft könne für eine andere als Modell dienen, erklärt Chakrabarty, und bringt damit die postkoloniale Kritik an einer unreflektierten Übertragung von an westlichen Beispielen gewonnenen Konzepten auf nicht-westliche Gesellschaften auf den Punkt.24 Folgenreich war die Zirkulation von Begriffen und Narrativen aber auch innerhalb »des Westens«, indem sich westliche Gesellschaften oft genug über den Bezug auf die gleichen Begriffe ähnlich zu machen suchten.25 Das gilt selbst für Krisendiagnosen und Problembegriffe wie den des Ghettos oder der Segregation. Im deutschsprachigen Kontext galt das Ghetto noch in den 1950er Jahren als jüdischer Ort. Dementsprechend ähneln sich im »Großen Brockhaus« aus den späten 1920er und den 1950er Jahren die Einträge unter dem Stichwort »Ghetto« / »Getto«: In der 15. Auflage von 1930 wurde noch, ausgehend vom »ghetto nouvo« Venedigs im 16. Jahrhundert, auf das Ghetto als einen besonderen Stadtteil verwiesen, in dem »die jüd. Bevölkerung bis zur bürgerl. Gleichstellung in verschiedenen Städten Italiens […], Deutschlands […] und anderen europ. und orient. Ländern von der christlichen getrennt wohnen musste«.26 Ähnliches gilt für den Eintrag in der 16. Auflage von 1954, dort ergänzt um den Hinweis auf die Errichtung von Ghettos im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen.27 Doch ist es charakteristisch für die schrittweise Verschiebung im Gebrauch des Begriffs in den 1960er Jahren, dass die Defini tion, die der »Große Brockhaus« in seiner nächsten Ausgabe 1969 gab, sich nicht 21 Den Begriff der »travelling theory« hat Edward Said in die Diskussion eingebracht. Siehe dessen Beitrag zu »Travelling Theory«, in: Said, S. 226–47. 22 Zur Kritik eines solchen Universalanspruchs westlicher Theoriemodelle vgl. am Beispiel soziologischer Modernisierungstheorien Bhambra. 23 Chakrabarty, S. 17. 24 Ebd., S. xii. 25 Zum Verhältnis der Globalisierung von Wissensbeständen zu deren lokaler Adaption speziell in der Stadtforschung siehe auch die Überlegungen bei Berking, Local Frames. 26 Getto, Ghetto, in: Der Große Brockhaus, 15., völlig neu bearb. Aufl., 7. Bd., Leipzig 1930, S. 300 f. 27 Ghetto, Getto, in: Der Große Brockhaus, 16., völlig neu bearb. Aufl., 4. Bd., Wiesbaden 1954, S. 3630 f.
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auf das Ghetto als einen jüdischen Raum beschränkte. Zwar wurden auch dort zunächst »behördlich erzwungene und räumlich beschränkte jüd. Wohnviertel« angeführt, die von außen abgeriegelt würden. Aber weiter hieß es: »In übertragenem Sinne heißt G. jeder Bezirk einer Stadt, in dem eine rassische oder religiöse Minderheit lebt, z. B. das Negerviertel Harlem in New York«.28 In der 20. Auflage von 1996 schließlich heißt es: »Im übertragenen Sinn heißt Ghetto jeder Bezirk einer Stadt, in dem eine ethnische, soziale oder religiöse Minderheit (zum Teil in aufgezwungener Segregation) lebt, z. B. der Stadtteil Harlem in New York. Die heutige Soziologie benutzt den Begriff jedoch nicht mehr ›nur‹ zur Beschreibung räumlicher Beschränkung, sondern beschreibt mit ihm auch die Lage von Bevölkerungsgruppen, denen aufgrund ihrer (persönlichen, aber auch gesellschaftlich bedingten) Lebenssituation eine Teilnahme am geistigen, kulturellen und politischen Leben der Gesamtgesellschaft nicht möglich ist beziehungsweise die als Minderheiten diskriminiert sind.«29
Die Passage lohnt einen genaueren Blick, weil sie illustriert, wie die Bedeutung des Ghetto-Begriffs sich seit den 1960er Jahren verschob. Vier Punkte sind besonders auffallend: 1.) verschob sich die Bedeutung des Ghetto-Begriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, indem das Ghetto von einem primär jüdischen Ort zum Inbegriff unterschiedlich motivierter Race- und Class-basierter Segregationsprozesse wurde. 2.) wurden US-amerikanische Städte bzw. namentlich Harlem zum Inbegriff des »Ghettos« in diesem neuen Sinne. 3.) erfuhr der Begriff eine Ausweitung, indem er nicht mehr allein auf eine spezifische urbane Konstellation bezogen wurde, sondern allgemeiner für Formen der sozialen Benachteiligung oder des Ausschlusses von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen stand. 4.) ist es die Soziologie, die für diese Deutungsweise als Referenzwissenschaft diente. Ghettos und Ghettoisierung bzw. vor allem der Begriff des »Ausländerghettos« stiegen in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre zu neuen Problembegriffen auf, die nicht nur in den Massenmedien und den Sozialwissenschaften, sondern auch in der Politik dazu dienten, die Wohnbedingungen von Migranten sowie deren Integration in die westdeutsche Gesellschaft als ein Feld zu definieren, das politische Interventionen erforderte. Dabei ist auffallend, dass die Karriere des Ghettobegriffs im westdeutschen Kontext beinah ohne jedweden Bezug auf die jüdische Geschichte oder die Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung auskam. Das »jüdische Ghetto« erschien als rein histo28 Ghetto, Getto, in: Der Große Brockhaus, 17., völlig neu bearb. Aufl., 7. Bd., Wiesbaden 1969, S. 308 f. 1978 wurde der Artikel noch einmal ergänzt durch den Zusatz, im weiteren Sinne bezeichne Ghetto »die Abgeschlossenheit und (in gewissem Ausmaß) beschränkte Selbstgenügsamkeit einer von den Strömungen ihrer Zeit isoliert lebenden Gruppe.« Ghetto, Getto, in: Der Große Brockhaus, 18., völlig neu bearb. Aufl., 4. Bd., Wiesbaden 1978, S. 522. 29 Ghetto, Getto, in: Der Große Brockhaus, 20., völlig neu bearb. Aufl., 8. Bd., Leipzig 1996, S. 486.
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risches, die Warnung vor der Entstehung urbaner Formationen à la Harlem als rein gegenwärtiges Phänomen. Auch im Französischen zeigt der vergleichende Blick in Wörterbücher und Enzyklopädien eine Bedeutungsverschiebung in der Verwendung des »Ghetto«Begriffs. Weisen Definitionen aus den 1950er Jahren das Ghetto noch durchgängig als jüdischen Ort aus, gesellte sich im Laufe der 1960er Jahre eine andere Bedeutung hinzu, wonach unter Ghetto auch ein Ort zu verstehen sei, »an dem eine Gruppe von Personen gleicher Herkunft eine Existenz am Rande der Gesellschaft führt«, wie es im »Larousse« heißt. 1971 fügte der »Grand Larousse« dem noch eine dritte Bedeutungsvariante hinzu: Ghettos, das seien (figurativ) auch die »deklassierenden oder marginalen Bedingungen, unter denen eine bestimmte Personengruppe (Kategorie von Personen) oder ein Volk lebe«.30 Und in der Ausgabe von 1982 heißt es, unter Ghetto sei – neben dem Ghetto als jüdischen Ort oder als Ort am Rande der Gesellschaft – ein abgeschlossenes Milieu oder eine condition marginale zu verstehen, zu der eine Bevölkerung, eine soziale Klasse oder Gruppe lebe. Als Beispiele waren diesen Definitionen jeweils Sätze beigestellt, die auf die USA verweisen, etwa, indem von den »ghetto noirs de New York« bzw. den »ghetto noirs des grandes villes américaines« die Rede ist.31 Damit durchlief der Ghettobegriff im Französischen im Laufe der 1960er Jahre eine zur westdeutschen ganz parallele Entwicklung: von einem jüdischen Ort zu einem Ort der Segregation, der wiederum mit den USA in Verbindung gebracht wurde, sowie, in einer erweiterten Bedeutung, mit einer gesellschaftlichen Lage, die sich von einem konkreten Ort weitgehend gelöst hatte. »Das Ghetto« in diesem Sinne ist ein Milieu oder eine condition marginale, ein Zustand des Ausgeschlossen-Seins und der Marginalität. Ähnlich wie in Westdeutschland waren es dabei auch in Frankreich vor allem die Lebensbedingungen von Migrantinnen und Migranten, die unter dem Label des Ghettos als Gefahr für die französische Gesellschaft diskutiert wurden. Indes war der Zeitpunkt ein anderer. Dass, von Einzelfällen abgesehen, in politischen Debatten und der soziologischen Literatur vor »Ghettos« in Frankreich gewarnt wurde, war weder in den 1970er oder frühen 1980er Jahren in nennenswerter Form der Fall. Das änderte sich aber in den späten 1980er Jahren, im Zusammenhang mit urbanen Unruhen und der hochmedialisierten Problematisierung »der banlieue« als Raum der Migration, Gewalt und Ungleichheit.32 Auch in Frankreich warnten Soziologen und andere vermehrt vor der Entstehung segregierter Städte und Ghettos »wie in den USA«.
30 Ghetto, in : Grand Larousse encyclopédique, Paris 1962 ; Ghetto, in: Grand Larousse de la langue française, Paris 1971/73. 31 Ghetto, in: Grand dictionnaire encyclopédique Larousse, Paris 1981/83. 32 Tissot, L’Etat.
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b) Scripting (Dis)integration: Zum Entwurf eines Phasenmodells der Segregation und Integration Was speziell mit dem Ghettobegriff in den 1960er Jahren auf Reisen ging, war letztlich weniger eine Bezeichnung urbaner Problemlagen als vielmehr ein spezifisches Script zur Einordnung und Prognose urbaner Wandlungsprozesse. Ein Script, das ist ein interpretativer Rahmen oder eine Erzählung mit Aufforderungscharakter.33 Es ist ein Ablaufplan, der wie ein Drehbuch eine bestimmte Handlungsfolge vorgibt und den unterschiedlichen Akteuren damit spezifische Deutungsweisen und Handlungsoptionen nahelegt.34 Um die Karriere der Segregations- und Ghettoisierungssemantik und die damit verknüpften Praktiken und Politiken zu verstehen, ist der Scriptbegriff hilfreich, weil er es ermöglicht, deren performativen Charakter auszuleuchten. Denn wenn zeitgenössische Akteure im späten 20. Jahrhundert vor segregierten oder gespaltenen Städten »wie in den USA« warnten, legten sie damit eine bestimmte Dramaturgie urbaner Entwicklungen nahe und setzten zugleich einen Prozess der (vorhersagbaren) Skandalisierung in Gang. Die Anfänge dieses Scripts der Segregation, Ghettoisierung und (Des)inte gration liegen in der Zwischenkriegszeit, in den Reihen der sogenannten Chicago School und damit in den Reihen einer Gruppe von Soziologen, die die Stadt Chicago in den 1920er und 1930er Jahren höchst einflussreich als eine Art Laboratorium zu nutzen begannen, um dort neue Ansätze der Stadt- und Gesellschaftsanalyse zu entwickeln.35 Gruppiert um Robert Ezra Park (1864–1944), der an der Universität von Chicago als Professor für Soziologie tätig war, ent wickelten die Soziologen der Chicago School einen eigenen Stil der teilnehmenden Beobachtung und verstehenden Erkundung. Ihre Schreib- und Arbeitsweise war der journalistischen Reportage eng verwandt,36 und angesichts der Vorliebe, die die Mitglieder der Chicago School für Außenseiter und underdogs, Gangs und urbane Halb- und Unterwelten hegten, ist ihre Forschung als »Soziologie 33 Zu dem instruktiven Vorschlag, die Analyse von »Scripten« für diachron und synchron vergleichende Analysen zu nutzen, siehe (mit Blick auf die Historisierung von Revolutionen) die Überlegungen bei Baker u. Edelstein, v. a. S. 2–10. Zum Ghetto als »Narrativ« und einer vergleichenden Analyse von dessen Medialisierung vgl. auch Stehle. 34 »A script, in other words, constitutes a frame within which a situation is defined and a narrative projected; the narrative, in turn, offers a series of consequent situations, subject positions, and possible moves to be enacted by the agents within that frame. Once known and enacted, the script can be replayed indefinitely; but it can also be changed, adapted, or even subverted by the introduction of new events, characters, or actions.« Baker u. Edelstein, S. 3. 35 Gieryn beschreibt, wie die Mitglieder der Chicago School Chicago zu einem »truth-spot« machten und dabei zwischen dem Zugang zu der Stadt als »Laboratorium« und als »Feld« schwankten. Gieryn, City. Die Historiographie zur Chicago School ist umfangreich, stellvertretend seien hier die klassischen Studien von Bulmer; Abbott und Lindner, v. a. S. 113–146 genannt, sowie die vergleichende Studie von Topalov, Histoires. 36 Lindner.
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Noir« gut beschrieben.37 Einer gemeinsamen Agenda folgend, ging aus ihrem Kreis eine ganze Reihe von Monographien hervor, die heute als Klassiker der Stadtforschung gelten.38 Der Einfluss, den die Gruppe weit über die 1930er Jahre hinaus auf die Forschungsdesigns und das Selbstverständnis vieler Forscherinnen und Forscher nahm, ist bemerkenswert.39 Die Chicagoer Soziologen hatten dabei bereits in ihren frühen Schriften dörfliche Lebensstile dezidiert von urbanen abgegrenzt, die sie stärker von Migration und Diversität bzw. vor allem von der ständigen Ankunft neuer Gruppen geprägt sahen.40 Die aus diesen Prozessen resultierende Aufteilung der Städte in unterschiedliche Gebiete gehörte zu den Kernthemen der Chicagoer Schule. Vor allem aber gehörte zu deren Kernthemen die Frage, welche Dynamiken der Isolation und Assimilation sich mit der stetigen Neuankunft von Gruppen verband, die sich in Ethnie, race, class oder Kultur voneinander unterschieden. In ihren stadtsoziologischen Studien hatte die Gruppe eine Art Ablaufplan urbaner Segregations- und Ghettoisierungsprozesse entworfen: Die »Invasion« einer statusniedrigen Gruppe in einen urbanen Raum hatte demnach die »Verdrängung« statushöherer Bewohner zur Folge, die wiederum im »Verfall« des betreffenden Quartiers mündete. Dieser Verfall führte zu einer weiteren »Konzentration« der statusniedrigen Gruppen. Einmal angestoßen, galten Ghettoisierung und Segregation als sich selbst verstärkende Prozesse. Als einer der ersten aus dem Kreis der Chicago School hatte der Soziologe Ernest W. Burgess (1886–1966) in den 1920er Jahren versucht, Segregation und die Abfolge unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im urbanen Raum mit Hilfe eines solchen Phasenmodells zu beschreiben.41 Die vier aufeinander folgenden Entwicklungsschritte der »invasion« und »succession« die er dafür skizzierte, waren noch in den 1990er Jahren häufige Bausteine soziologischer Stadtraumanalysen. Dass allerdings dieses Phasenmodell ursprünglich der zeitgenössischen Botanik entlehnt wurde, ist von der historischen Forschung nicht wirklich aufgearbeitet worden. Dabei hilft diese Wahlverwandtschaft zu verstehen, wie stark eine Art naturgesetzliches Verständnis urbanen Wandels die Segregations- und Integrationsnarrative im 20. Jahrhundert prägte. Tatsächlich bezogen sich die Chicagoer Soziologen bei ihren ersten Segregationsanalysen unter anderem auf eine wissenschaftliche Monographie mit dem Titel »Plant Succession«, die der Botaniker Frederic E. Clements 1916 veröffentlicht hatte.42 Clements (1874–1945) skizzierte darin ein Phasenmodell der sich verändernden Vegetation eines Gebietes, deren erste Phase er als invasion bezeichnete. Die »Migration« von Pflanzen betrachtete Clements als grundlegendes Element ökologischen Wandels, und er entwarf ein Phasenmodell, bei dem die »Invasion« sogenannter »Pioniere« 37 Salerno. 38 Später etwa Zorbaugh; Anderson; Cressey; Wirth, The Ghetto. 39 Lindner; Gieryn, City; Topalov, Ecrire, S. 150. 40 Siehe etwa die Beiträge in Park u. a., The City. 41 Burgess, S. 112. 42 Die Chicagoer Soziologen zitierten die Studie wiederholt. Clements.
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unterschiedliche aufeinander folgende Entwicklungsstufen nach sich zog.43 Die »Invasion« neuer ging auch beim ihm mit der »Verdrängung« etablierter Gruppen einher (»When the movement of invaders into a community is so great that the original occupants are driven out, the invasion is complete«),44 und sie zog eine Phase der »Reaktion« und des »Konflikts« nach sich, auf die schließlich eine Phase der »Konvergenz« und »Stabilisierung« folgte. Am Ende dieses Migrationsprozesses stand eine sogenannte climax community. Clements bezeichnete damit jenes Gleichgewicht, das sich einstellte, wenn eine Mischung von Pflanzen erreicht war, die am besten an die spezifischen Bedingungen einer Gegend angepasst war.45 Das schärft den Blick für die auffallende Vorliebe der Chicagoer Soziologen für Phasen- und Stufenmodelle. Urbanen Wandel untergliederten sie gerne in eine Abfolge immer gleicher Phasen. Die Prozesse, die durch Migration im urbanen Raum angestoßen wurden, beschrieb auch Robert E. Park dementsprechend als feste Abfolge von Invasion, Kontakt und Fusion.46 Er ging davon aus, dass neu zuziehende (»eindringende«) Bevölkerungsgruppen in ihren Ankunftsvierteln einen Zusammenbruch der etablierten sozialen Ordnung auslösten, der Kontakt von angestammter (native) und fremder (alien) Bevölkerung letztlich aber in deren Fusion mündete. Eng an Georg Simmels Reflexionen zum Fremden angelehnt, trug ihre Migration aus Parks Sicht zu einer Lösung der Migranten aus ihren traditionellen Bezügen und letztlich zu einer Säkularisierung ihrer sozialen Beziehungen bei.47 Zwar ging er davon aus, dass das, was er als »acculturation and assimiliation« beschrieb, nicht in allen Fällen in der gleichen Geschwindigkeit verlief.48 Doch entsprach es Parks Phasendenken, dass er die Assimilation migrantischer Gruppen als das unausweichliche Endergebnis ihres Zugs in die »freie, komplexe, kosmopolitische amerikanische Stadt« betrachtete.49 Diese Assimilation beschrieben die Chicagoer Soziologen in ihren ethnographischen Erkundigungen indes keineswegs als konfliktfreien Prozess. Das gilt insbesondere für Louis Wirth und seine Studie des jüdischen »Ghettos« von Chicago, die erstmals 1928 erschien.50 Der Soziologe (1897–1952) griff darin bis weit in das Mittelalter zurück, um seine These zu belegen, dass die jüdische Kultur sich im engen Wechselverhältnis mit der spezifischen räumlichen Formation des Ghettos entwickelt hatte.51 Das Ghetto als weitgehend von jüdischen Mi43 Ebd., S. 75. 44 Ebd., S. 76. 45 Ebd., S. 106. 46 Park, Human Migration. Zu Parks »race relations cyle« vgl auch ders., The Bases. 47 Park, Human Migration, S. 888. Auch war ein gewisser Grad an cosmopolitanism für Park ein Effekt urbaner Migrationsprozesse. 48 Ebd., S. 889. 49 Ebd., S. 887. 50 Zu Wirths Biografie siehe die Einleitung von Hasia R. Diner zu Wirth, The Ghetto, S. ix–lxiii, xiv. 51 Wirth, The Ghetto. Siehe auch die Zusammenfassung von zentralen Ergebnisse der Studie in ders., The Ghetto, v. a. S. 63.
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granten bewohntes und von jüdischen Geschäften dominiertes Viertel beschrieb Wirth als eigene, von der übrigen Stadt weitgehend isolierte Welt und zugleich als Schutzraum, als Ort der Wärme, Intimität und Solidarität.52 Dementsprechend ambivalent stand er in Chicago dessen Auflösung gegenüber. Vor allem die zweite Generation der jüdischen Zuwanderer beginne, das »erste Ghetto« zu verlassen, schrieb er. Andernorts entstünden dadurch abermals jüdische Communities, die aber weniger Bindekräfte entwickelten als das Ankunftsghetto:53 Die Bewohnerinnen und Bewohnern seien dort weniger bemüht, koscher zu essen, sie gingen seltener zur Synagoge und sprächen Jiddisch nur noch zu Haus.54 Die räumliche Entfernung vom anfänglichen Ankunftsghetto entsprach aus Sicht des Soziologen grob dem Grad an erreichter »Assimilation«.55 Spezifisch für die jüdische Community schienen Wirth diese Erfahrungen von anfänglicher Ghettoisierung und anschließender Assimilation indes nicht zu sein; er hielt sie für übertragbar. Auch legte er dezidiert eine Ausweitung des Ghettobegriffs nahe und sprach vom »ghetto, be it Chinese, Negro, Sicilian, or Jewish«.56 In gewisser Weise wurde er erhört. Denn sowohl in der sozial wissenschaftlichen Forschung als auch im alltagssprachlichen Gebrauch löste sich der Ghettobegriff im Laufe der folgenden beiden Jahrzehnte in den USA von der Verknüpfung mit einer spezifisch jüdischen Alltagswelt.57 Nachdem dort eine anschwellende Binnenmigration einen wachsenden Teil der afroamerikanischen Bevölkerung aus primär ländlichen in urbane Räume, vor allem im Norden der USA gebracht hatte, wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg immer üblicher, von den »Black Ghettos« US-amerikanischer Städte zu sprechen.58 Auch wurde der Begriff zu einem Synonym von Ungleichheit. Als 1968 die sogenannte Kerner-Kommission eingesetzt wurde, die sich mit den Ursachen der schweren urbanen Unruhen des vorherigen Sommers befasste, hieß es in deren viel zitierten Report gleich anfangs, die amerikanische Nation drohe in zwei Gesellschaften zu zerfallen: »Our Nation is moving toward two societies, one black, one white – separate and unequal.« »Das Ghetto« erschien in dem Report ohne weiteres Attribut, es war zum Inbegriff schlechthin der Lebenswelt schwarzer Amerikaner und ihrer Benachteiligung geworden.59 52 Ders., The Ghetto. 53 Ebd., S. 70. 54 Ebd., S. 248. 55 »The zones of settlement of the Jews correspond roughly to the various generations of immigrants. Those who came earliest are now farthest removed from the original ghetto. They are also farthest along in the process of assimilation and in the departure from Old World customs and orthodox ritual.« Ebd., S. 256. 56 Ebd., S. 58, 71. 57 Siehe etwa Weaver. In seiner Einleitung bedankte sich Weaver dezidiert bei Wirth. Ebd. S. xii. Zu der zunehmend üblichen Rede von einem »Black Ghetto« in den USA siehe auch Schuman, S. 41 f., 46. 58 Vgl. die klassische Studie von Hirsch; sowie die mittlerweile gleichfalls klassische Studie von Sugrue, dort v. a. S. 33–55. 59 National Advisory Commission on Civil Disorders, S. 1.
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Die Segregationsmodelle, die in der Zwischenkriegszeit im Umfeld der hicago-School entstanden waren, wurden dabei in den 1950er und 1960er C Jahren vermehrt für die quantifizierende Analyse des Verhältnisses von »weiß« und »schwarz« in den USA genutzt. Eine prominente Rolle kam dabei dem Soziologen-Ehepaar Otis Dudley Duncan (1921–2004) und Beverly Duncan (1929–1988) zu, die in den 1950er Jahren mehrere Segregationsanalysen verfassten, die auch Jahrzehnte später noch international rezipiert wurden.60 In seiner 1957 publizierten Studie »The Negro Population of Chicago. A Study of Residential Succession«61, bezog sich das Paar auf die Modelle der Invasion und Sukzession, die Park und Burgess in den 1920er Jahren entwickelt hatten und nutzte sie für seine Analyse des »race problems« US-amerikanischer Städte. Wie schon die Mitglieder der ersten Chicago School stützten sich die beiden Soziologen dabei massiv auf Kartierungen. Sie versuchten, »Invasion«, »Verdrängung« und den Prozess des Umschlagens von »weißen« in »schwarze« Viertel mit Hilfe von Karten zu visualisieren, in denen die schwarz eingefärbten Zonen in Chicagos Zentrum die Ausdehnung von Vierteln illustrieren sollten, die maßgeblich von – in der Diktion der Zeit – »Negro families« bewohnt waren.62 Auch versuchten beide, einen quantitativen Umschlagpunkt zu bestimmen, ab dem die Konsolidierung eines Ghettos absehbar oder unausweichlich schien. Duncan und Duncan sahen diesen Punkt erreicht, wenn Afroamerikaner 10 % der Bewohnerschaft einer Gegend ausmachten.63 In den folgenden beiden Jahrzehnten wurde diese Zahl wiederholt von Soziologinnen und Soziologen aufgegriffen, die versuchten, in ihren Segregations analysen einen tipping point zu bestimmen und das Umschlagen einer Gegend von »weiß« zu »nicht-weiß« vorhersagbar zu machen.64 Den Begriff des tipping point selbst hatte 1957 der Chicagoer Politologe Morton Grodzins (1917–1964) in die wissenschaftliche Debatte eingeführt. In einem Aufsatz, der in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift »Scientific American« erschien, warnte Grodzins, dass die US-amerikanischen Metropolen im Norden sich durch den verstärkten Zuzug afroamerikanischer Familien aus dem ländlichen Süden grundlegend wandelten.65 War dort in ehemals »weißen« innerstädtischen Vierteln einmal eine gewisse Zahl an Afroamerikanern erreicht, sei deren Entwicklung zu »Negro settlements« kaum aufzuhalten, warnte Grodzins.66 Zwar verwies der Politologe dabei auf die Probleme eines Immobilienmarktes, bei dem Makler und Banken 60 Duncan u. Duncan, Methodological; dies., Residential Distribution. 61 Duncan u. Duncan, The Negro. 62 Zum Gebrauch von Kartierungen in der Chicago School und ihrer Verknüpfung mit einem reformatorisch-moralisierenden Gestus vgl. Lindner. Als Beispiel dafür siehe auch Taeuber u. Taeuber. 63 Duncan u. Duncan, The Negro, S. 11. 64 Siehe z. B. Schelling; Wolf. 65 Grodzins, Metropolitan Segregation. 66 »Once a neighborhood begins to swing from white to colored occupancy, the change is rarely arrested or reversed.« Ebd.
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an der Segregation verdienten.67 Dennoch stellte er nicht ökonomische Faktoren in den Mittelpunkt seiner Analyse, sondern er machte, sozialpsychologisch konturiert, als Triebkraft für die Spaltung der US-amerikanischen Metropolen die begrenzte Fähigkeit unterschiedlicher Gruppen zum Zusammenleben mit anderen aus.68 Und diese »Toleranzschwelle« präsentierte er als quantifizierbare Größe. Eine Annahme, die der Ökonom Thomas C. Schelling Ende der 1960er Jahre dann zu einer »allgemeinen Theorie des Tipping« ausbaute. Dass stadtpolitische Akteure und die Wohnungsverwaltungen in Frankeich und Westdeutschland sich in den 1970er Jahren bei der Belegung individueller Sozialwohnungen und den Zuzugsbedingungen für ganze Viertel darauf beriefen, dass migrantische Bewohner die »Schwelle« von 10 oder 12 % nicht übersteigen durften, weil sonst »ein Umkippen« der betreffenden Häuser und Gegenden drohe, korrespondierte mit diesen Annahmen der US-amerikanischen Forschung, die zunehmend nach Westeuropa übersetzt wurden. Sie gewannen dort nicht nur in der Soziologie, sondern auch in stadtpolitischen Kreisen an Einfluss. Das Gleiche galt für die Karriere eines Deutungsschemas, das die Integration migrantischer Gruppen am Ausmaß ihrer Konzentration im urbanen Raum maß.69 Die soziologischen Ghettoisierungs- und Segregationsanalysen in den USA bewegten sich dabei, ebenso wie deren westeuropäische Folgestudien, stets zwischen zwei Polen, der eindringenden und der verdrängten Gruppe. Die Soziologinnen und Soziologen trugen damit zu einem spezifischen Bild des städtischen Raums und urbaner Problemlagen bei. Erstens, weil ihr an der Botanik geschultes Segregationsnarrativ eine spezifische Zeitlichkeit urbaner Wandlungsprozesse nahelegte und suggerierte, dass auf eine bestimmte Entwicklung (den Zuzug migrantischer Gruppen) zwingend eine andere folgte (der Fortzug der Ansässigen). Zweitens, weil sie die räumliche Diffusion oder Verteilung von Gruppen im urbanen Raum zum Maßstab für deren Assimilation (oder später: Integration) machten. Drittens schließlich, weil die miteinander verschränkten Erzählungen der Invasion und Verdrängung, Konzentration und Diffusion die Vielfalt der Zugehörigkeiten in einem gegebenen Stadtraum reduzierten auf ein entweder-oder, auf Gold Coast oder Slum, weiß oder schwarz. Die gesellschaftliche Positionierung der Bewohnerinnen oder Bewohner wurde durch die Zuordnung zu einer Kategorie (Klasse oder Ethnie) bestimmt und der Stadtraum erschien als Nebeneinander quasi homogener Quartiere. Und obwohl de facto das Szenario »reiner«, von nur einer Gruppe bewohnter Quartiere fast immer eine Fiktion darstellte, in der Vergangenheit wie jetzt, und zudem die Diversität auch der US-amerikanischen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre nicht in 67 Ebd. 68 Siehe auch ders., The Metropolitan Area, S. 6 f.; in ähnlicher Weise Abrams, S. 311. 69 In Frankreich stießen v. a. Yves Grafmeyer und Isaac Joseph die Wiederentdeckung der Chicago School an. Grafmeyer u. Joseph. Vgl. dazu auch Topalov, Ecrire. In Westdeutschland ging diese Entdeckung an erster Stelle von Ulfert Herlyn aus. Lindner, S. 137 ff.
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der Zweiteilung von »schwarz« oder »weiß« aufging, legen die soziologischen Erzählungen dieser Zeit ein Bild der urbanen Topographie nahe, das die Vielfalt der städtischen Bevölkerung auf ein solches entweder-oder verkürzte.
4.2 Von den Gefahren räumlicher Nähe: Die Erfindung des »Ausländerghettos« in der westdeutschen Stadtpolitik und Soziologie »Von Segregation sprechen Sozialwissenschaftler, wenn einzelne Bevölkerungsgruppen, seien es Ausländer oder Farbige, erkennbar räumlich getrennt von der übrigen Bevölkerung wohnen. Ein Ghetto ist dabei eine besonders problematische Form der Segregation. Aus vielen Untersuchungen ist bekannt, dass derartige räumliche Trennungen mit sozialen Schwierigkeiten und auch sozialen Nachteilen verbunden sind. So erschwert Segregation z. B. Kontakte zwischen Deutschen und Ausländern. Diese Kontakte im Wohnbereich sind aber für die Eingliederung wichtig.« Ruhrkohle AG (Hg.), Broschüre. Wohnsituation der ausländischen Mitarbeiter der Ruhrkohle AG, Essen 1981, S. 4. »Problematisch ist der undifferenzierte Gebrauch des Begriffs ›Getto‹ […]. Geht man davon aus, dass eine extreme soziale und räumliche Isolation und Immobilität bestimmter Bevölkerungsgruppen als Gettobildung betrachtet werden kann und vergleicht man die Münchner Verhältnisse mit der Situation amerikanischer Großstädte, so scheint der Begriff ›Getto‹ nicht angebracht. […] Darüber hinaus dürfte die Verwendung des Gettobegriffs vorwiegend nachteilige Folgen haben. Der Begriff wird von der Bevölkerung durchweg negativ verstanden, so dass […] der gebrandmarkten Bevölkerungsgruppe verstärkte Ressentiments entgegengebracht werden, […].« Ausländerbeirat der Stadt München, 14.03.197570
Dass in den frühen 1970er Jahren in Westdeutschland vor der Entstehung von Ghettos gewarnt wurde, war nicht ungewöhnlich.71 Die Warnung vor »Ausländerghettos« und Zuständen »wie in Harlem« geisterte in den 1970er Jahren 70 StdA München, Ausländerbeirat, Nr. 2.2: Sitzungen und Anträge, 1974–1979, Beschlüsse des Ausländerbeirates vom 14.03.1975. 71 Viel zitiert in diesem Zusammenhang wird die Spiegel-Titelstory: Ghettos in Deutschland. Eine Million Türken, in: Spiegel 1973, H. 31, S. 24–34.
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durch kommunalpolitische Debatten und Printmedien unterschiedlicher Couleur. Eng verknüpft mit dem Appell an »mehr Integration« und »mehr Durchmischung« fand sie Eingang in politische Programme und Memoranden und zog spezifische Praktiken der Kontrolle und Beschränkung nach sich, wie etwa die Etablierung von Zuzugssperren in unterschiedlichen Städten und Stadtteilen. Unangefochten blieben weder diese Maßnahmen noch die daran geknüpften Warnungen. »Das Ghetto« war ein in jeder Hinsicht umstrittener Raum. Ghettos und Ghettoisierung bzw. vor allem der Begriff des »Ausländerghettos« stiegen in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre zu neuen Problembegriffen auf. Sie trugen dazu bei, die Wohnbedingungen von Migrantinnen und Migranten sowie überhaupt deren Integration als ein Feld zu definieren, das politische Interventionen erforderte.72 Dieser Aufstieg vollzog sich binnen kurzer Zeit und kommunalpolitische Akteure waren daran maßgeblich beteiligt, ebenso wie sozialwissenschaftliche Experten und die Berichterstattung in den Medien. Ich spreche dabei im Folgenden von einer »Erfindung des Ausländerghettos«. Schließlich handelte es sich bei der Beschwörung von »Ausländerghettos« in Westdeutschland in erster Linie um ein Krisenszenario – um die (politisch erstaunlich effektive) Warnung vor einer möglichen Entwicklung – und es geht mir im Folgenden darum, die Mechanismen zu verstehen, die dieses Szenario vorübergehend wirkmächtig werden ließen. Denn diese Mechanismen verraten viel über den Umgang mit Migration und Differenz in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre. Schließlich wurden migrantische Viertel in Westeuropa nicht durchgehend mit Desintegration und Konflikten gleichgesetzt. In Großbritannien etwa sahen Stadtpolitiker in solchen Vierteln häufig genug eine Stütze für neu ankommende Familien. Doch während Großbritannien oder auch die Niederlande unter dem Header des Multikulturalismus zumindest vorübergehend auf räumlich verankerte Communities und die Selbstorganisation ethnischer Gruppen setzten, war das weder in Deutschland noch in Frankreich der Fall.73 Der historisierende Blick auf die Karriere des »Ausländerghettos« und die Gleichsetzung von »Konzentration« und »Desintegration« kann zu einer Art Genealogie dieser Unterschiede beitragen und zeigen, wie sich die westeuropäischen Gesellschaften auf je unterschiedliche Weise von ihrem lange dominierenden Selbstbild als ethnisch-homogene Gesellschaften lösten.74 Darüber hinaus trägt 72 Zwar war in der Bundesrepublik vereinzelt bereits früher, im Zusammenhang mit der Unterbringung von Migranten in Sammelunterkünften, von Ghettoisierung gesprochen worden, doch gewann der Begriff erst am Übergang zu den 1970er Jahren im politischen Diskurs an Präsenz. Schönwälder, Einwanderung, S. 316 f. 73 Münch, S. 157. Zum Misstrauen gegenüber ethnischen Communities im republikanischen Frankreich siehe die Überlegungen bei Dikeç, S. 10 f. 74 Zu dem zunehmend in Frage stehenden Selbstverständnis der europäischen als ethnischhomogenen nationalen Gesellschaften und der damit verknüpften Zunahme »innergesellschaftlicher Diversifizierungen« siehe auch die Überlegungen bei Severin-Barboutie, Stadt, S. 233.
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er zu einem vertieften Verständnis der transatlantischen Karriere eines spezifischen »Scripts der Segregation« bei. Denn ihre Dynamik gewann die Sprache des Ghettos in Westdeutschland unter anderem daraus, dass damit ein racial narrative in den deutschen Kontext übersetzt wurde, das zuvor anhand US-amerikanischer Städte entwickelt worden war. Und selbst wenn diese Übersetzung gar nicht immer von Soziologinnen oder Soziologen vorgenommen wurde, gewann sie über den Verweis auf die Sozialwissenschaften ihre Legitimität. »Soziologen haben gesagt«, »Soziologen prophezeien«, »wie Soziologen gezeigt haben«: von solchen Formulierungen wimmelte es in der politischen Debatte und in Zeitungsberichten. Die Auseinandersetzung mit den Wohnbedingungen von Migrantinnen und Migranten zeigte Spuren einer boomenden Expertisekultur. Migration als soziale Tatsache wurde in der Bundesrepublik um 1970 neu entdeckt, und gerade soziologische (Auftrags)Studien trugen zu diesem Prozess maßgeblich bei.75 Schließlich gehörte es zu den noch vergleichsweise neuen Routinen der Stadtund Landesverwaltungen, dass sie bei ihrer Auseinandersetzung mit neuen oder brisanten Fragen Studien in Auftrag gaben und wissenschaftliches Orientierungswissen anforderten. Eng mit dieser Expertise-Kultur verknüpft war das, was Erol Yildiz und Marc Hill als eine »Art Integrationsindustrie« beschrieben haben.76 Die beiden weisen darauf hin, dass Migration in der Bundesrepublik lange in erster Linie als ein gesellschaftliches Problem und Problem der Inte gration beschrieben wurde. Tatsächlich begann sich in den 1970er Jahren eine wachsende Zahl von Institutionen, Akteuren und Wissensbeständen um ein solches Verständnis von »Migration als Problem« zu gruppieren: gewerkschaftliche Akteure ebenso wie wissenschaftliche, die Mitglieder der staatlichen Bürokratie ebenso wie Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Vereine. Gegenüber der in diesem Rahmen lange dominierenden Zweiteilung in »Gastarbeiter« oder »Ausländer« auf der einen und »Deutsche« auf der anderen Seite unterstreichen kultur- und sozialwissenschaftliche Studien mittlerweile die Vielfalt und Hybridität kultureller Praktiken und Identitäten und weisen darauf hin, dass die Erfahrungswelten und Biografien sehr vieler auf die eine oder andere Weise transnational und kosmopolitisch geprägt sind.77 Sie heben die gesellschaftsgestaltende Kraft von Migration und Mobilität hervor und pochen 75 In der Migrationsforschung wird aktuell vermehrt gefordert, sich kritisch mit der eigenen Wissensproduktion, ihrer politischen Kontextualisierung und ihrem politischen Einfluss zu befassen. Siehe dazu u. a. Nieswand u. Drotbohm. Zur Frühgeschichte der Migrationsforschung im Falle der Schweiz siehe auch Espahangizi, Sociologic. Zum Plädoyer für eine wissens- und transfergeschichtliche Sicht auf Migration vgl. zudem Lässig u. Steinberg; Westermann. 76 Yildiz u. Hill, S. 10. 77 Der Begriff der Hybridität ist in den Kulturwissenschaften vor allem durch Homi K. Bhabha im Rahmen seiner postkolonialen Kritik eingeführt worden. Bhabha. Zum analytischen Nutzen des Kosmopolitismus-Begriffs für historische Analysen siehe wiederum Gißibl u. Löhr.
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auf eine stärker von migrantischen Erfahrungen und Praktiken ausgehende Perspektivierung der Gesellschaftsforschung.78 Aus historischer Sicht lässt sich dem hinzufügen, dass es eine wie auch immer geartete (deutsche oder französische) Gesellschaft vor der Migration nicht gab: Beide Gesellschaften waren auch schon im späten 19. Jahrhundert stark von Migration geprägt. Die Vorstellung einer unabhängig von oder vor Zuwanderungsprozessen existierenden (deutschen oder französischen) Gesellschaft ist eine Fiktion. Allerdings begannen beide Gesellschaften, sich erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert intensiv als Migrationsgesellschaften zu verstehen und beschreiben.79 Doch sind weder die historische Forschung noch die Sozialwissenschaften dem bisher angemessen gerecht geworden.80 In Überblicksdarstellungen zur Sozial- oder Gesellschaftsgeschichte bildet Migration ein, zumal im deutschen Fall, meist isoliert abgehandeltes Nischenthema. Auch verweist die Ethnologin Regina Römhild zu Recht auf den Hang der bisherigen Migrationsforschung zur Ethnisierung und Kulturalisierung ihres Gegenstands und spricht von einer »Migrantologie«, die »ihren vermeintlichen Gegenpart, die Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migranten«, gleich mit konstituiere.81 Römhild fordert dagegen eine »Migrantisierung« der Forschung über Gesellschaft, eine Erkundung von Gesellschaft aus der Perspektive der Migration.82 Einmal davon abgesehen, dass die Rekonstruktion der politischen Karriere des »Ausländerghettos« zu verstehen hilft, was passieren musste, damit Anfang der 1970er Jahre aus einem lokalen kommunalpolitischen Anliegen ein »gesellschaftliches Problem« wurde, trägt sie dazu bei, die Ethnisierung urbaner Wandlungsprozesse sowie die Konstruktion von Migration-als-Problem zu historisieren, sie an konkrete Kontexte, Praktiken und Akteure zurückzubinden und auf diese Weise zu entnaturalisieren.83 Das gilt umso mehr, als für den Umgang mit Migrantinnen und Migranten die Forderung nach deren (sozialer und kultureller) Integration zwar mittlerweile allseits zu hören ist, die Vorgeschichte dieser Forderung aber nicht allzu weit in das 20. Jahrhundert zurückreicht.84 Der Begriff der Integration – der in der Soziologie eine lange Tradition hat, etwa bei Emil Durkheim, der damit das Eingebundensein in unterschiedliche soziale Verbände sowie deren jeweilige Kohäsionskraft beschrieb – erfuhr um 1970 in der westdeutschen Öffentlichkeit eine Reaktivierung und schrittweise 78 Speziell zum Konzept der »Autonomie der Migration« siehe in diesem Zusammenhang v. a. Bojadžijev. 79 Eine ähnliche Beobachtung macht Kijan Espahangizi mit Blick auf die Schweiz; auch ihm geht es um die Frage der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Migrationsrealität. Espahangizi, Ab wann. 80 Siehe diese Kritik auch bei Alexopoulou. 81 Römhild, S. 39. 82 Ebd., S. 38 f. Siehe dazu auch Yıldız. Janine Dahinden fordert zugleich umgekehrt eine »Demigrantisierung« der Migrationsforschung. Dahinden. 83 Yildiz u. Hill; Römhild; Bojadžijev. 84 Hess u. Moser.
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Eingrenzung auf das, was zu dieser Zeit gerne noch als »Eingliederung« ausländischer Arbeitnehmer beschrieben wurde.85 Nach dem Krieg war der Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen von den zuständigen Politikern bereits als Problem von deren (wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller) »Eingliederung« behandelt worden.86 Und in den frühen 1970er Jahren mehrte sich dann nicht nur im Umgang mit Obdachlosen und sozialen Randgruppen der Ruf nach mehr »Integration«,87 sondern auch im Zusammenhang mit den sogenannten Gastarbeitern.88 Im einen wie im anderen Fall konnte sich dahinter sowohl die Forderung nach mehr Teilhabe verbergen als auch die Sorge um einen sinkenden Zusammenhalt von Nation oder Gesellschaft.89 Die Forderung nach Integration wurde in jedem Fall zu einem, wenn nicht zu dem migrations- und diversitätspolitischen Schlagwort des späten 20. Jahrhunderts. Und die westdeutsche Kommunalpolitik bildete einen zentralen Schauplatz dieses neuen Integrationsdiskurses. Dass die soziale Realität der Migration sich von den Prinzipien einer Gastarbeit auf Dauer immer weiter entfernte und sich die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland entwickelte, galt auf städtischer Ebene deutlich früher als auf Bundesebene als Fakt.90 Stadtpolitische Akteure forderten auffallend früh mehr Wissen über und eine andere Auseinandersetzung mit Migration. Während das fordistische Gastarbeiterregime, das seit den 1950er Jahren etabliert worden war, darauf zielte, migrantische Arbeitskräfte lediglich temporär, zur Unterstützung der deutschen Wirtschaft, ins Land zu holen, wiesen stadtpolitische Akteure früher als andere darauf hin, dass viele Migrantinnen und Migranten länger als nur kurzfristig in den Städten wohnten und ihre gesellschaftliche Präsenz nicht am Fabriktor endete. Im Rahmen der westdeutschen Anwerbepolitik war im Laufe der 1960er und frühen 1970er Jahre die Zahl der Arbeitsmigranten deutlich gestiegen. 1973 waren offiziell knapp 2,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte in der west85 Zum Durkheimschen Integrationsbegriff siehe vor allem Durkheim, v. a. S. 231 ff. Zur Forderung nach einer Historisierung des Integrationsbegriff siehe Hess u. Moser. Vgl. dazu auch die Einleitung in Ezli u. a.; sowie Rauer. 86 Ackermann. Stellvertretend für eine breite Debatte siehe etwa Pfeil, Fünf Jahre; Oberländer. 87 Siehe dazu Kap. 2. 4. und 2. 5. der vorliegenden Studie. 88 In zeitgenössischen soziologischen Studien wurden die Diskussionen um Obdachlose und Migranten immer wieder zusammengeführt. Siehe etwa Schöfl u. a. 89 Zu diesen beiden zentralen Bedeutungsebenen des Integrationsbegriffs siehe auch Hess u. Moser. 90 Das gilt zumindest für einige Städte, etwa für München und Stuttgart: Sparschuh, S. 177; Spicka; sowie Severin-Barboutie, Stadt, S. 243 f. Auch Espahangizi verweist am Beispiel Frankfurts auf die Bedeutung der Wohnungsfrage für die Auseinandersetzung mit Migration. Espahangizi, Migration. Vgl. dazu auch das Plädoyer des Deutschen Städtetags: LAB, B Rep 142-09, Nr. 6/30–55, Bd. 5, Unterbringung von ausländischen Arbeitskräften, Entwurf, Positionen der Städte in der Ausländerpolitik, 13.01.1976. Der Senat Hamburgs indes wehrte sich dezidiert dagegen, die Bundesrepublik als »Einwanderungsland« zu betrachten. Senat der Stadt Hamburg, S. 5.
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deutschen Wirtschaft beschäftigt, und es lebten offiziell knapp 4 Millionen ausländische Staatsangehörige in der Bundesrepublik.91 Von dem ursprünglich anvisierten Gastarbeiterprinzip wich der westdeutsche Migrationsalltag immer mehr ab. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Migranten verlängerte sich, zugleich sank die regionale Mobilität innerhalb Deutschlands. Gegenüber dem politischen Ideal des alleinstehenden Arbeiters, der sich temporär im Land aufhielt und dort fabriknah in einer Gemeinschaftsunterkunft unterkam, wuchs die Zahl derer, die mit ihren Familien in regulären Privatwohnungen inmitten der Städte wohnten. Diese Lebensumstände von Migrantinnen und Migranten, die den Zielsetzungen des westdeutschen Gastarbeiterregimes zuwider liefen, gerieten um 1970 endgültig in den Fokus der Politik.92 Politiker unterschiedlicher Parteien begannen, von den »Kosten« der Arbeitsmigration zu sprechen, die deren »Nutzen« überstiegen,93 und insbesondere in der Kommunalpolitik wandte man sich der Frage zu, was der langfristige Aufenthalt migrantischer Familie für soziale Konsequenzen hatte, was für Infrastruktur-Maßnahmen er erforderte und welche Kosten er mit sich brachte. Die Überlastung öffentlicher Infrastrukturen, um 1970 ohnehin ein viel diskutiertes stadtpolitisches Problem, wurde zunehmend mit der Präsenz ausländischer Familien in Verbindung gebracht. Das westdeutsche Migrationsregime befand sich zu dieser Zeit ohnehin in einer Phase der Transformation.94 Das Gastarbeiterregime ging 1973 infolge des Anwerbestopps in ein Migrationsregime über, dessen politische Ziele mit der Formel »Eingliederung ja, Einwanderung nein« vergleichsweise gut beschrieben sind. Zumindest auf Regierungsebene hielten die politischen Autoritäten an der Maßgabe fest, dass es sich bei der bundesdeutschen nicht um eine Einwanderungsgesellschaft handele. Die Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer wurde gefördert und von ansässigen Migranten und ihren Kindern wurde eine Integration auf Zeit gefordert: Sie sollten sich in die deutsche Gesellschaft, das Schulsystem, die Wirtschaft eingliedern, den Kontakt zu ihrer »Heimat« oder »Kultur« aber möglichst nicht verlieren, um »zurückkehren« zu können.95 In den frühen 1980er Jahren wurden dann vor allem die Rückkehrforderungen im Ton schärfer, offen xenophobe Positionen und rassistische Überfremdungs rhetoriken gewannen an Einfluss. In diesem historischen Rahmen zeichnet das folgende Kapitel den diskursiven Aufstieg des Ausländerquartiers zur neuen urbanen Problem- und Gefah91 Herbert, Ausländerpolitik, S. 198 f., 226, 233. 92 Für einen Überblick über die Veränderungen in der westdeutschen Migrationspolitik siehe auch ebd.; sowie Berlinghoff; Schönwälder, Einwanderung. 93 Morgenstern, S. 240 ff. 94 Zum Gastarbeiterregime und dessen Transformation allgemein siehe Berlinghoff; Oltmer u. a. 95 Klaus Bade spricht in diesem Zusammenhang von einem »Defensiv-Dreieck« von Integration, Zuzugsbegrenzung (aus Nicht-EG-Staaten) und Rückkehrförderung.
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renzone schlechthin nach und zeigt, wie der Ruf nach »mehr Integration« und »mehr Durchmischung« zu einer neuen stadt- und wohnpolitischen Handlungsmaxime wurde. Dazu behandelt ein erster Abschnitt die Verschiebungen in der Wohnsituation von Migrantinnen und Migranten um 1970. Ein zweiter Abschnitt setzt sich mit dem Einfluss auseinander, den stadtpolitische Akteure im Wechselspiel mit soziologischen Deutungen und medialen Aufmerksamkeiten auf die Erfindung des Ausländerghettos und die Markierung von politischem Handlungsbedarf nahmen. Der dritte Abschnitt schließlich beschreibt, wie sich die Gleichsetzung von räumlicher Konzentration und gefährlicher Desintegration in der Stadtsoziologie und -politik der 1970er und 1980er Jahre weiter festigte und handlungsleitend wurde. a) Topographien des migrantischen Wohnens Die Erfindung des Ausländerghettos und seiner Äquivalente – das Ausländerviertel oder ethnische Quartier – war in der Bundesrepublik eng mit einem grundlegenden Wandel innerstädtischer Quartiere im Rahmen umfassender Sanierungsprojekte verbunden. Während sich in den Städten die ersten Initiativen gegen die ambitionierten Stadterneuerungsprojekte von Staat und Kommunen bildeten, versuchten immer mehr Migrantinnen und Migranten, den Gemeinschaftsunterkünften zu entkommen und mit ihren Familien dauerhaft in regulären Privatwohnungen unterzukommen. Viele zogen dafür in eben jene innerstädtischen Gründerzeitviertel, die besonders stark von Abrisssanierungen betroffen waren.96 Und während deren konzentrierte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnheimen zuvor kaum politische Bedenken erregt hatte, änderte sich das um 1970. Aus migrantischer Sicht stellte die Wohnungsfrage ein dringliches Problem dar,97 und es war politisch nicht unumstritten, wer für die Lösung dieses Pro blems zuständig war. Im Rahmen des auf Anwerbeabkommen basierenden Gastarbeiterregimes waren Unternehmen eigentlich verpflichtet, für Arbeitskräfte, die ihnen von der Bundesanstalt für Arbeit vermittelt worden waren, angemessene Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Wie sich die Topographien des migrantischen Wohnens seit den 1950er Jahren in den unterschiedlichen westdeutschen Großstädten entwickelten, war damit unter anderem von der Struktur der lokalen Arbeitsmärkte abhängig: Kleinere Unternehmen mieteten für ihre migrantischen Beschäftigten eher private Zimmer an, die stärker im Stadtraum 96 McRae zitiert Zahlen, wonach 1968 in der Bundesrepublik 61 % der männlichen und 73 % der weiblichen Gastarbeitenden privat untergebracht waren, während der Rest in Wohnheimen, Behelfsunterkünften oder Werkswohnungen (5 bzw. 7 %). wohnte. McRae, S. 39. Miller zufolge lebten im gleichen Jahr 52 % der weiblichen und 64 der männlichen unverheirateten türkischen Gastarbeiter in »company-provided dormitories«. Miller, Turkish, S. 100. 97 Bingemer u. a., S. 133; McRae.
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verteilt waren.98 Große Unternehmen brachten die von ihnen Beschäftigten oftmals in eigenen, lagerähnlichen Gemeinschaftsunterkünften in der Nähe ihrer Betriebe unter. Viele der größeren Gemeinschaftsunterkünfte befanden sich damit in industrienahen Randzonen und also in Gegenden, die infrastrukturell wenig erschlossen und kaum in den übrigen Stadtraum integriert waren. Wiederholt protestierten die dort Untergebrachten wegen fehlender oder unsauberer sanitärer Anlagen, sozialer Kontrolle und einem Mangel an Privatsphäre.99 Dass es 1971 als Fortschritt galt, als eine neue Richtlinie der Bundesregierung vorgab, die pro Person vorgesehene Wohnfläche von vier auf sechs Quadratmeter zu erhöhen und Schlafräume nur mit vier Personen zu belegen, ist ein Hinweis darauf, wie hoch die Belegungsdichte in den Gastarbeiterheimen häufig war.100 Das verdeutlichen auch die Beschreibungen der Bewohnerinnen und Bewohner selbst, die sich häufig an höchst desolate und überbelegte Zimmer erinnern.101 Einen öffentlich geförderten Wohnungsbau, der ausländische Staatsangehörige einbezogen hätte, gab es in der Bundesrepublik nicht in nennenswertem Umfang. Der Zugang zu Sozialwohnungen war ihnen zwar nicht prinzipiell verschlossen, aber angesichts der noch immer langen Wartelisten der großstädtischen Wohnungsämter stark erschwert. Sozialwohnungen waren um 1970 begehrt, und die Zahl an migrantischen Haushalten, die dort umkamen, gering.102 In München wurden zwischen 1966 und 1970 von insgesamt 18.730 neu zugeteilten, öffentlich geförderten Wohnungen 620 an Ausländerinnen und Ausländer vergeben, und während neu Zugezogene in der Stadt im Schnitt fünf Jahre warten mussten, bis das Wohnungsamt ihnen eine Wohnung zuteilte, galt für Nicht-Deutsche eine Wartezeit von zehn Jahren (sofern es sich nicht um Schweizer oder Österreicher handelte, die fünf Jahre warteten).103 Unsanierte und schlecht ausgestattete Häuser in innenstadt- oder industrienahen Altbauvierteln bildeten für viele migrantische Familien dementsprechend eine der wenigen ihnen zugänglichen Alternativen.104 Allerdings verfügten die 98 Siehe dazu auch Espahangizi, Migration. 99 Bojadžijev. Zu den – allerdings auch höchst unterschiedlichen – Wohnbedingungen in den Heimen siehe auch Miller, Turkish, S. 87–96. Zu den Wohnheimen als Ankunftsräumen, an denen auch neue Freundschaften und Netzwerke entstanden, siehe Thomsen Vierra, S. 62–68. 100 McRae, S. 37 f. 101 Siehe etwa die Darstellung eines Heims für türkische Gastarbeiterinnen in Berlin bei Özdamar. Auch zeigen die Zeichnungen von Dragutin Trumbetaš aus den 1970er Jahren wieder und wieder den Alltag in überfüllten, oft von eng gestellten Doppelbetten dominierten Kammern. Trumbetaš. 102 Bojadžijev gibt an, dass in Frankfurt Anfang der 1970er Jahre 60 migrantische Familien in Sozialwohnungen wohnten. Bojadžijev. Hoffmeyer-Zlotnik erklärt mit Blick auf Berlin, 1972 hätten dort 3,8 % der »Gastarbeiter« in Sozialbauwohnungen gewohnt. HoffmeyerZlotnik, S. 83. 103 Neubeck-Fischer, S. 140. Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat, S. 133 f. 104 In NRW lebten 1970 von 85 % der registrierten Ausländerfamilien in Altbauten und 15 % in Neubauten, während im Schnitt 50 % der Landesbevölkerung in Altbauwohnungen und
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sogenannten Gastarbeiter dort oft nur über eingeschränkte Mietrechte,105 zugleich hing ihre Aufenthaltsberechtigung und die Möglichkeit zum Familiennachzug offiziell davon ab, dass sie über ausreichend Wohnraum verfügten.106 Das machte ihre Stellung doppelt prekär und führte dazu, dass sie häufig M ieten zahlten, die über dem Durchschnitt der von ihnen bewohnten Quartiere lagen. Die Ausstattung ihrer Wohnungen wiederum war im Schnitt schlechter. Eine Untersuchung der Wohnverhältnisse ausländischer Familien in NordrheinWestfalen von 1970 ergab, dass sich die Ausstattung der von Migranten bewohn ten Wohnräume je nach Gruppe, Aufenthaltsdauer, Familiengröße und Einkommen zwar massiv voneinander unterschied, dass die Belegungsdichte im Schnitt aber doppelt so hoch war wie in den Mietwohnungen des Landes allgemein, und die Wohnungen schlechter ausgestattet waren.107 Auch stellte die Studie fest, dass bei migrantischen Familien die Miete um 31 % über dem Landes durchschnitt lag. Dass die Wohnungen migrantischer Haushalte überdurchschnittlich oft in innerstädtischen Sanierungsgebieten und industrienahen Altbauvierteln lagen, hing maßgeblich damit zusammen, dass diese Gebiete in der Hierarchie der städtischen Wohnungsmärkte weit unten standen.108 Das galt zumal für Gebiete, in denen die Kommunen ambitionierte Stadterneuerungsprojekte lancierten, die, öffentlich subventioniert, einen flächendeckenden oder teilweisen Abriss der alten Gebäudebestände aus der Zeit vor 1914 vorsahen. Diese Projekte zogen sich oft über einen langen Zeitraum hin und brachten es mit sich, dass ein Großteil der zuvor Ansässigen die Viertel verließ; viele davon zogen in die neu erbauten Großsiedlungen am Stadtrand. Zugleich setzte in den betroffenen Vierteln eine Dynamik des beschleunigten Verfalls, der Grundstücksspekulation und des gezielten Leerwohnens von Altbauten ein. Für die Haus- und Wohnungsbesitzer erwies sich die Vermietung an migrantische Haushalte in dieser Interimszeit als vergleichsweise lukratives Geschäft. Schließlich lagen die dabei erzielten Mieteinnahmen deutlich über dem Schnitt, während die Besitzer zugleich darauf spekulierten, die Gebäude soweit verfallen zu lassen, bis sie eine Abrissgenehmigung erhielten.109 41 % in Neubauwohnungen wohnte. Zu den Problemen bei der Wohnungssuche siehe auch Thomsen Vierra, S. 68 ff. 105 McRae. 106 Im Laufe der 1970er Jahre erhöhte die Regierung die Mindestquadratmeterzahl, über die Migranten an Wohnraum verfügen mussten, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bojadžijev, S. 238. 107 Lediglich in 16 % der erhobenen Fälle verfügten Familien über eine Wohnung mit Bad, in 17 % der Fälle über eine Zentralheizung, in 32 % der Fälle über eine Toilette innerhalb der eigenen Wohnung. Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen, S. 10 f. 108 Für den Versuch, die Verteilung ausländischer Bewohner nach Vierteln aufzuschlüsseln, siehe am Beispiel Berlins Hoffmeyer-Zlotnik. 109 Schildmeier, S. 33; Borris, S. 130.
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Der Zuzug migrantischer Haushalte in eben diese Gebiete wurde lokal mitunter, aber keineswegs durchgehend als konflikthaft wahrgenommen.110 Insgesamt trafen aber der Wandel der innerstädtischen Viertel und die sozialen Konfliktlagen, die aus der öffentlichen Sanierungs- und Baupolitik resultierten, zu Beginn der 1970er Jahre verstärkt auf Widerstand. Der trotz oder wegen der Neubaupolitik fortbestehende Mangel an – zumal preiswertem – Wohnraum und die Zerstörung des existierenden, historisch gewachsenen urbanen Raums: all das waren Probleme, die in den 1970er Jahren zumal in Großstädten immer mehr Bürgerinnen und Bürger beschäftigten. In verschiedenen Städten formierten sich Proteste gegen die Abrisssanierungen. Migrantische Haushalte waren daran beteiligt. Im Falle des Frankfurter Westends etwa waren es maßgeblich migrantische Bewohner, die Anfang der 1970er Jahre die umfassenden Proteste gegen überhöhte Mietforderungen und marode Wohnverhältnisse initiierten.111 Auch im Falle Münchens, das im Folgenden im Mittelpunkt steht, wuchs der Widerstand gegen den innerstädtischen Wandel und es entstanden Bürgerinitiativen, die gegen den Abriss von Wohngebäuden und den Neubau von Büro- und Apartmenthäusern in verschiedenen Quartieren protestierten. Es kam zu vehementen Protesten gegen den Abriss von Gebäuden im Lehel, und die »Aktion Maxvorstadt« entstand, mit der sich die Anwohnerschaft gegen die Räumung von Wohnhäusern wandte, die dort der Universität weichen sollten.112 Die Entwicklung des migrantischen Wohnens ist in den 1970er und 1980er Jahren eigentlich nicht zu verstehen ohne die öffentliche Stadtplanungspolitik, die damit verknüpfte Entwicklung der städtischen Mietmärkte und ihre sozioökonomischen Effekte einzubeziehen. Dennoch entwickelte sich die Auseinandersetzung damit häufig separat, und das »Problem der Migration« wurde in stadtpolitischen Kreisen vergleichsweise losgelöst von den problematischen Effekten der städtischen Abrisssanierungen diskutiert und behandelt.113 b) Die Erfindung des »Ausländerghettos«. Karriere einer Problembeschreibung Die Wohnverhältnisse migrantischer Haushalte zumal in großstädtischen Räumen erregten an der Wende zu den 1970er Jahren verstärkt politische Aufmerksamkeit. Kennzeichnend für diese Entwicklung war, dass Länderregierungen, Kommunen und Wohnungsbaugesellschaften vermehrt Studien in Auftrag gaben, 110 Zu den gemeinsamen Protesten von türkischen und deutschen Bewohnern gegen lokale Kahlschlagsanierungen siehe etwa, am Beispiel des Weddinger Sprengelkiez, Thomsen Vierra, S. 107 ff. 111 Bojadžijev, S. 205–213; Espahangizi, Migration, S. 202 f. Siehe auch ebd. 112 Verhaag u. a., sprechen von einer »Vertreibung von 12.500 Mieterinnen und Mietern pro Jahr aus innenstadtnahen Wohngebieten«, S. 292. 113 Vgl. hierzu auch Espahangizi, Migration, S. 201.
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die sich mit dem Zuzug ausländischer Arbeitnehmer befassten.114 Mit diesen »Ausländerstudien« wurde Politik betrieben; sie bereiteten Entscheidungen nicht nur vor, sondern dienten auch dazu, sie öffentlich zu legitimieren. Die fertigen Studien wurden in Pressekonferenzen präsentiert, sie wurden an andere politische Stellen oder an lokale und überregionale Zeitungen verschickt.115 Politik, mediale Berichterstattung und wissenschaftliche Forschung waren damit auch in der Lokalpolitik und in der Herausbildung des migrationspolitischen »Integrationskomplexes« eng aufeinander bezogen. Ein anschauliches Beispiel für diese Dynamik ist die Rezeption einer Studie zur Lage ausländischer Migranten, die das Münchener Stadtentwicklungsreferat 1972 veröffentlichte.116 Wie auch andere Länderregierungen und Kommunen reagierte der Münchener Stadtrat auf den Mangel an Daten über die wachsende migrantische Bevölkerung in der Stadt, indem er, angeregt durch die SPD-Fraktion, 1970 eine sogenannte »Problemstudie« in Auftrag gab, die sich mit dem Zuzug befassen sollte. München war nicht die erste Stadt, die eine solche Studie in Auftrag gab. In Frankfurt am Main hatte sich zuvor eine Arbeitsgruppe für Ausländerfragen gebildet, die ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gab, in Köln hatte der Vertreter des Sozialamts eine solche Studie angeregt und in Teilen finanziert.117 Die Stadt Nürnberg zog wenig später nach.118 Das Land Nordrhein Westfalen hatte eine eigene Studie anfertigen lassen, Baden-Württemberg und Hamburg auch, weitere Städte und Länder folgten.119 All diese Auftragsstudien 114 Zu den städtischen Studien siehe die Angaben weiter unten. Auf Landesebene gaben Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg Studien in Auftrag. Die nordrhein-westfälische Studie wurde vom Institut für Arbeitssoziologie und Arbeitspolitik der Ruhr-Universität durchgeführt: Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-West falen. Das Sozialministerium Baden-Württemberg gab seine Studie bei Soziologen der Universität Stuttgart in Auftrag: Schöfl u. a. Auch die Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat gab eine Studie in Auftrag: Schildmeier. 115 Das Land Nordrhein-Westfalen organisierte für die Präsentation seiner Studie »So wohnen unsere Ausländer« 1971 eine Pressekonferenz, bei der der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales die zentralen Ergebnisse und eine Reihe von politischen Maßnahmen präsentierte, die ergriffen werden sollten, um die Lebensverhältnisse ausländischer Arbeiter zu verbessern. LAV NRW R, NW 670, Nr. 146, Pressekonferenz. Auch die Stadt München organisierte eine solche öffentliche Präsentation. 116 Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat. Zu dieser Studie sowie überhaupt zur Münchener Politik gegenüber Gastarbeitern siehe auch Hess u. Moser; Rudloff, v. a. S. 428–447. Siehe zudem die Beiträge in dem Ausstellungsband von Bayer, dort v. a. den Beitrag von Eva Bahl u. a. 117 Vom Sozialamt in Köln in Auftrag gegeben wurde die sozialpsychologische Studie von Bingemer u. a. Auch der Frankfurter Magistrat, der »zuverlässige Unterlagen für eine Integrationspolitik wünschte«, gab eine Studie in Auftrag: Borris, S. xiii. Borris diskutiert darin ausführlich die Frage, ob in Frankfurt eine Ghettoisierung von Ausländern zu beobachten sei, verneint das aber. Ebd., S. 130 f. 118 Rothammer. 119 Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen; Schöfl u. a. Die Hamburger Bürgerschaft hatte sich vom Senat ebenfalls eine Studie erbeten, die sich
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waren der Wohnsituation migrantischer Haushalte gewidmet, und in der Regel verknüpften sie diese Untersuchung mit der Frage, inwiefern deren Wohnsituation ihrer Integration zuträglich war. In München sahen die Stadtpolitikerinnen und -politiker in der Auftragsstudie dabei ein politisches Instrument, das nicht nur innerhalb der Stadt wirken sollte, sondern auch darüber hinaus.120 Obwohl das migrantische Wohnen eigentlich in die kommunale Zuständigkeit fiel, erklärte die SPD-Fraktion gegenüber dem Stadtrat, die in Auftrag gegebene Studie solle die Grundlage für ein politisches Programm bilden, an dem sich auch der Freistaat und die Bundesregierung beteiligten.121 Dabei war es immer wieder der Rekurs auf die USA, über den die Stadtpolitiker politischen Handlungsbedarf signalisierten. »Wenn wir Zeitungsberichte über Integrationsprobleme in den Vereinigten Staaten lesen«, erklärte etwa Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, »sollten wir uns nicht zu sicher sein, dass nicht auch bei uns die Voraussetzungen für eine ähnliche Problematik bereits im Entstehen sind«. Die »ersten Anzeichen konzentrierter Ausländerunterbringungen« seien ein Warnzeichen. Vogel betrachtete es daher als Pflicht der Stadt, auf diesem Gebiet eine »Pionieruntersuchung in Gang zu bringen«.122 Zwei Jahre später, 1972, lag dem Stadtrat die fertige Studie vor.123 Erstellt hatte die sogenannte Problemstudie das 1970 gegründete Referat für Stadtforschung und -entwicklung. Das finanziell und personell großzügig ausgestattete Referat stellte eine Antwort auf die von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel propagierte Vorstellung einer stärker forschungsbasierten, partizipatorischen Stadtplanung dar, das sogenannte »Münchner Modell«. Es wurde anfänglich von dem Sozialdemokraten Hubert Abreß (1923–2009) geleitet; dem Bereich der Stadtforschung stand der Soziologe Karolus Heil vor.124 Abreß war ein enger Freund Hans-Jochen Vogels. Der Oberbürgermeister hatte ihn Anfang der 1960er Jahre in die Stadtverwaltung Münchens geholt, und als Vogel nach der Bundestagswahl 1972 an die Spitze des Ministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau wechselte, holte er Abreß nach. Abreß teilte Vogels Vision einer for-
mit »dem Wohnungsproblem« und der Lage der ausländischen Arbeitnehmer in der Stadt befassen sollte. Senat der Stadt Hamburg. 120 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 743/9: Sitzungsprotokolle des Stadtentwicklungsund Stadtplanungsausschuss, Sitzung am 15.04.1970, Bl. 103. 121 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 743/58: Anlage zum Sitzungsprotokoll des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschuss vom 15.04.1970, Antrag der SPD-Fraktion Nr. 169, 21.01.1970, Bl. 2. 122 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 743/9: Sitzungsprotokolle des Stadtentwicklungsund Stadtplanungsausschuss, Sitzung am 15.04.1970, Bl. 88–109, hier 98 f. 123 Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat. 124 Karolus Heil hatte in Frankfurt und München Soziologie studiert. Als Hans-Jochen Vogel im Baureferat der Stadt eine »Soziologie«-Abteilung einrichten ließ, wurde Heil deren erster Chef. 1979 wurde er dann als Professor für Planungstheorie an die TU Berlin berufen.
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schungsbasierten, auf gesellschaftliche Veränderungen abzielenden Stadtentwicklung.125 Die »Problemstudie« hatte er gemeinsam mit einer Reihe anderer Autorinnen und Autoren verfasst. In der Mehrzahl handelte es sich um ausgebildete Soziologen, die sich an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft bewegten. Ihre vielfältigen Karrieren zwischen Wissenschaft und Verwaltung sind kennzeichnend für eine Expertisekultur, die sich genau an der Schnittstelle von akademischer und stadtplanerischer Praxis entwickelte.126 Als das Referat dem Stadtrat die fertige Ausländerstudie im Mai 1972 in einer öffentlichen Versammlung vorlegte, fasste Abreß die Ergebnisse in wenigen Punkten zusammen.127 Er führte eingangs für unterschiedliche Münchner Viertel den Anteil der ausländischen Bevölkerung an – von 13,5 % in Haidhausen bis zu 30,2 % im Wiesenviertel – und erklärte dann, dass man für die folgenden knapp zehn Jahre mit einer Verdoppelung der ausländischen Bevölkerung in der Region rechnen müsse.128 Abreß war offenkundig daran gelegen, politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Mit Blick auf die Studie kündigte er an, das darin gezeichnete Bild sei scharf und ungewohnt: »Tabus werden gebrochen.« Er gehe davon aus, dass der erhöhte Anteil an ausländischen Bewohnern in den Städten eine dauerhafte Entwicklung darstelle, erklärte Abreß zudem, und forderte eine »Integrationspolitik«, die dieser Tatsache gerecht wurde. Viele der damit befassten kommunalpolitischen Akteure hielten die Zuwanderung für ein tendenziell dauerhaftes Phänomen.129 Doch hatte Abreß im Vorfeld mit einer Reihe von Einrichtungen Kontakt aufgenommen, ihnen die Ergebnisse der Problemstudie vorgestellt und ihnen die Frage vorgelegt: »Soll die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland bleiben?«. Enthusiastisch reagierte keiner der Angeschriebenen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit erklärte vorsichtig, dass es zu der Frage ja sehr kontroverse Auffassungen gebe. Die Münchener Industrie- und Handelskammer schrieb, ihr sei sehr daran gelegen, dass »bei den Debatten um die Ausländerprobleme der Bundesrepublik Deutschland der Gebrauch ›Einwanderungsland‹ künftig nach Mög-
125 Gross, S. 56. Laut Gross umfasste das Referat 1973 um die 70 Mitarbeiter. Ebd., S. 68. 126 Zu Karolus Heil siehe die Bemerkungen oben. Der promovierte Sozialgeograph Karl Ganser hatte zuvor an der TU München gearbeitet und wurde nach seiner Tätigkeit beim Münchner Stadtentwicklungsreferat Leiter des Instituts für Landeskunde in Bonn. Die Soziologin Helga Neubeuck-Fischer promovierte 1972 an der TU München mit einer gesellschaftskritischen Dissertation zu »Gastarbeitern«. Einzelne Abschnitte ihrer Dissertation sind in der Formulierung fast deckungsgleich mit Passagen der »Ausländerstudie«. Neubeck-Fischer, v. a. S. 151–54. Neubeck-Fischer lehrte später als Professorin an der Hochschule München und arbeitete zusätzlich als Psychotherapeutin. 127 StdA München Z4 135, Presseamt, Stadtentwicklungsreferat, Beschluss der Vollversammlung des Stadtrats vom 03.05.1972, Vortrag des Referenten. 128 Ebd. In München lebten 1969 gut 137.000 Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. 129 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 743/9: Sitzungsprotokolle des Stadtentwicklungsund Stadtplanungsausschuss, Sitzung am 15.04.1970, Bl. 88–109, 100.
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lichkeit vermieden« werde.130 Dem Stadtrat legte Abreß ähnliche Fragen vor. Mit Blick auf seine zu München erhobenen Daten fragte er die Anwesenden, ob sie die »schlagwortartige Bezeichnung, die Bundesrepublik Deutschland sei kein ›Einwanderungsland‹« wirklich für zutreffend hielten. Und er fragte, welche räumliche Verteilung der Ausländer denn in der Stadt künftig anzustreben sei: Deren möglichst weitgehende Verteilung? Eine ungesteuerte Konzentration in bestimmten Stadtgebieten oder im Gegenteil die Förderung von bestimmten Konzentrationen in bestimmten Stadtteilen? Und wo denn eigentlich, mit dieser Frage endete Abreß, die »Grenze der Aufnahmefähigkeit Münchens« liege? Von etwaigen »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« war in der Problemstudie selbst vor allem im Zusammenhang mit einzelnen Quartieren die Rede. Die Autorinnen und Autoren warnten vor einer konzentrierten Ansiedlung ausländischer Haushalte in innerstädtischen Sanierungsgebieten.131 Den weiteren Zuzug ausländischer Familien in Münchener Altbauquartiere stellten sie als Gefahr dar. Und zwar, indem sie in genau diesem Zusammenhang auf das soziologische Script einer Desintegration-durch-Segregation zurückgriffen: »Diese räumliche Absonderung (Segregation) und Konzentration erschwert nicht nur die Einbindung der Ausländer in die deutsche Gesellschaft. Sie birgt vor allem die Gefahr, dass sich diese Viertel allmählich zu Wohn-Gettos für ausländische Arbeitskräfte und asoziale Deutsche entwickeln. Beispiele aus den Vereinigten Staaten belegen, dass eingesessene Bevölkerungsgruppen ihr Wohngebiet räumen, wenn eindringende fremdartige Gruppen einen gewissen Konzentrationsgrad überschreiten. Dies gilt zunächst für den wirtschaftlich stärkeren Teil der Bewohner, der es sich leisten kann, eine andere Wohngegend zu wählen. Wirtschaftlich schwache Mieter werden von ausländischen Arbeitnehmern, die höhere Mietbeträge einbringen, verdrängt. […] Die Massierung von Ausländern führt so zu Verfallserscheinungen und schließlich zur zunehmenden Entwertung der Viertel. Sie zeigen dann alle Züge sozialer Problemgebiete: schlechte Wohnverhältnisse, damit verbunden ein hohes Maß an gesundheitlichen Risiken, Diskriminierungen für normale deutsche Mieter, Sta gnation der Investitionen, Verfall der Häuser, Kriminalität.«132
Indem sie das Absinken urbaner Viertel gemäß dem in der Chicago School gängigen Schema vor invasion und succession deuteten, beschrieben die Autoren das »Umkippen« dieser Viertels als einen Prozess, der einem einheitlichen Schema folgte. Dass sich Segregationsprozesse in den USA de facto in einer anders strukturierten Gesellschaft, im Rahmen eines anders strukturierten Mietmarktes entwickelten und sich entlang race-basierter Grenzziehungen vollzogen, pro-
130 StdA München, ZA Presseamt 135, Schreiben des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, 26.04.1972; Schreiben der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern, 12.04.1972. 131 Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat, S. 144. 132 Ebd., S. 143 f.
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blematisierten sie nicht. Zugleich privilegierten sie ein ethnisiertes Deutungsmuster gegenüber einem sozialen: Als zentrale Konfliktlinie im urbanen Raum beschrieben sie die zwischen »Deutschen« und »Ausländern«. Diese Ethnisierung des innerstädtischen Wandels wurde durch die Karten unterstrichen, die der Studie beigegeben waren. Sie zeigten, farblich abgestuft, die Konzentration von »Ausländern« in unterschiedlichen Stadtteilen, wobei die besonders dunkle Einfärbung der Stadtmitte die vermehrte Ansiedlung ausländischer Mieter in der Innenstadt veranschaulichen sollte.133 Eine solche Kartierung unterstrich das politische Anliegen der Studie. Stärker als Statistiken, die die weiterhin bestehende soziale und ethnische Heterogenität der Bewohnerschaft eher zeigten, suggerierte die Darstellung mit Hilfe von Karten ein massiveres Phänomen, das visuell auch deswegen bedeutsam schien, weil es inmitten der Stadt angesiedelt war. Wie heterogen die betreffenden Viertel de facto waren, machte die Visualisierung nicht deutlich. Dabei stand der besonders dunkel eingefärbte Bereich der Karte für einen Ausländeranteil von »über 10 %« und damit keineswegs für ethnisch homogene Räume. Dennoch suggerierte die Form der Kartierung einen massiven politischen Handlungsbedarf. Allerdings waren Segregation und Ghettoisierung im Falle der Münchener Studie keineswegs die zentralen analytischen Kategorien. Lediglich ein Teil der Untersuchung befasste sich mit der räumlichen Konzentration auslän discher Bewohner in der Stadt, weite Teile widmeten sich ebenso ausführlich der Beschäftigungssituation ausländischer Arbeitnehmer wie dem Bildungsweg ihrer Kinder. Dass die Bundesrepublik faktisch zu einem Einwanderungsland geworden sei, gehörte zu den Prämissen der Studie.134 Dass die vorhandene öffentliche Infrastruktur, die Zahl der Schulen, Lehrkräfte und Beratungsstellen dem nicht gerecht wurden und in geringeren Bildungschancen für die Kinder ausländischer Arbeitnehmer resultierten, zu ihren vornehmlichen Kritikpunkten.135 Zuwanderung beschrieben die Autorinnen und Autoren als mehr oder weniger deckungsgleich mit der Be- oder Überlastung öffentlicher Infra strukturen. Während die Warnung vor Ghettoisierungsprozessen in der Studie eigentlich wenig Raum einnahm, war es jedoch maßgeblich sie, die in den folgenden Jahren in den Medien und politischen Debatten aufgegriffen wurde. Das in der Untersuchung nur an wenigen Stellen entwickelte Szenario eines stufenweisen Absinkens einzelner Viertel zu Wohn-Ghettos »wie in den USA« wurde in der Rezeption durch die Medien zu ihrem zentralen Ergebnis. Ob der »Münchener Stadtanzeiger« in einer mehrteiligen Artikelserie oder »Der Spiegel« in einer Titelstory zu »Ghettos in Deutschland«: Beide Zeitungen zitierten in ihren Berich
133 Ebd. Auch andere der Anfang der 1970er Jahre in Auftrag gegebenen Studien bedienten sich einer solchen Kartierung. Siehe etwa Schöfl u. a. 134 Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat, S. 112. 135 Ebd., S. 157.
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ten wortwörtlich eben jene Passagen zur »räumlichen Absonderung« von Ausländern, die auch ich oben zitiert habe.136 Überhaupt war die öffentliche Resonanz groß, als die fertige Kommunal studie 1972 dem Münchener Stadtrat vorgelegt wurde. Die überregionale Presse berichtete darüber ebenso wie sämtliche Münchner Lokalblätter.137 Eine derart breite Rezeption entsprach durchaus dem politischen Interesse des Stadtrats, dem daran gelegen war, Migration als ein gesamtgesellschaftliches Problem zu beschreiben, das zwar lokal wahrnehmbar wurde, aber einer überregionalen Lösung bedurfte. Dass der mittlerweile amtierende Oberbürgermeister Kronawitter die Münchner Studie an den bayerischen Ministerpräsidenten ebenso versandte wie an verschiedene Bundes- und Landesministerien, Bundestagsfraktionen und den Deutschen Städtetag, zeigt, wie damit über München hinaus Politik betrieben wurde.138 Politiker aller Parteien forderten, dass die politische und finanzielle Verantwortung für die ausländische Bevölkerung nicht bei den Kommunen liegen sollte, sondern beim Bund.139 1972 erklärte der Stadtrat dementsprechend mit Verweis auf die fertige Problemstudie, die Stadt trete für eine bundesweite Steuerung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer ein, die der infrastrukturellen Ausstattung der betroffenen Gemeinden gerecht werde. Die »Grenze der Aufnahmefähigkeit« sei jedenfalls in München »erreicht«, wenn nicht »überschritten«.140 In der Münchener Politik war es, ähnlich wie in der Presse, maßgeblich der Begriff des »Ausländerghettos«, über den in den folgenden Jahren Migration als ein Problem markiert wurde. Das galt zumal, nachdem das Stadtentwicklungsreferat ein sogenanntes Ausländerprogramm erarbeitet hatte und darin unter anderem eine Zuzugsbeschränkung für überlastete Viertel forderte. Vorangetrieben wurde diese Forderung unter anderem durch den neuen Leiter des Referats, Detlef Marx, der sie mit der Warnung vor einer »Überfremdung« der Stadt
136 Die Ausländer in München, in: Münchener Stadtanzeiger, 15.06.1972; Die Ausländer in München II, in: Münchener Stadtanzeigen, 11.07.1972; Die Türken kommen – rette sich wer kann, in: Der Spiegel 31/1973. 137 Jeder sechste Münchner ist Ausländer, in: FAZ, 20.09.1972; Innenministerium zur Studie des Münchener Entwicklungsreferats, in: SZ, 31.10.1972; München will Zuwanderung von Ausländern bremsen, in: FR, 10.11.1972. Siehe außerdem StdA München, Presseamt, ZA 135, Ausländer. 138 Problemstudie über Gastarbeiter versandt, in: Münchner Merkur, 28.02.1973. Rudloff weist darauf hin, dass das bayerische Innenministerium die Ausländerstudie und deren Forderung nach politischer Gleichstellung dezidiert ablehnte. Rudloff, S. 435. 139 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 743/9, Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschuss. Planungskommission, 21.01.1970, Bl. 103. 140 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 745/9: Sitzungsprotokolle des Stadtentwicklungsund Stadtplanungsausschuss, Protokoll der öffentlichen Sitzung am 07.11.1972, Bl. 349–399, hier 392, 395. Die Bayerische Landesregierung bekräftigte diese Forderung. Siehe auch: Keine offenen Tore für Gastarbeiter, in: SZ, 31.10.1972.
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verband.141 Der Stadtrat schloss sich dieser Warnung an, und Oberbürgermeister Kronawitter forderte 1974 seinerseits die stadtteilbezogenen Zuzugssperren mit den Worten: »Wer Harlem und andere Ausländergettos gesehen hat, muss wissen, dass wir einer solchen Gettoisierung rechtzeitig einen Riegel vorschieben müssen«.142 Die Presse griff diese Diktion auf. Den Vorstoß des Stadtrats, in »überlasteten« Stadtteilen Zuzugsbeschränkungen zu erlassen, begrüßten lokale wie überregionale Zeitungen als eine Maßnahme zur Bekämpfung von Ghettos: »So will der Stadtrat Ausländer-Ghettos verhindern«, titelte die »BildZeitung« am 4. Dezember 1973, »Die Stadt kämpft gegen die Ghettos«, schrieb die Münchner »TZ« am 14. Dezember, und die »Süddeutsche Zeitung« kommentierte »Stadtviertel sollen keine Ghettos werden«.143 Die Probleme und Ängste, die sich Anfang der 1970er Jahre an den womöglich permanenten Zuzug ausländischer Migranten banden, bekamen mit dem innerstädtischen Ghetto einen konkreten Ort zugewiesen, der seinerseits politische Maßnahmen ausrichtete. Unumstritten war die ethnisierende Deutung des innerstädtischen Wandels aber auch in München nicht. Der neu gegründete Ausländerbeirat der Stadt etwa protestierte in deutlichen Worten gegen die Ghettorhetorik und warnte vor den negativen Folgen für die derart etikettierten Viertel.144 Der Beirat, der sich zu Zweidritteln aus Migrantinnen und Migranten zusammensetzte, besaß stadtpolitisch lediglich eine beratende Funktion. Das hielt die Mitglieder nicht davon ab, die Stadtverwaltung scharf zu kritisieren. Der ausländische Zuzug werde zu häufig als Ursache für den Verfall der betreffenden Viertel beschrieben, hieß es, während es doch eigentlich zu den Erkenntnissen der Ausländerstudie selbst gehöre, dass dieser Zuzug lediglich die Folge einer dort bereits bestehenden kritischen Gesamtsituation sei. Selbst wenn die Dichte der ausländischen Bewohner in diesen Vierteln abnehme, sei angesichts der verbreiteten Spekulation mit Wohnraum, angesichts der überhöhten Mieten und des schlechten Zustands der Wohnungen nicht zu erwarten, dass eine »mobilere deutsche Wohnbevölkerung« dort verblieb oder gar neu hinzuzog.145 141 Vgl. die Forderungen von Detlef Marx, dem umstrittenen Nachfolger von Hubert Abreß: StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 747/1, Stadtrat, Öffentliche Sitzung, 06.03.1974, Bl. 251–255. Zu den unterschiedlichen Plänen für eine solche Zuzugssperre auf Stadt- und Landesebene siehe die Ausführungen in 4.3. Vgl. hierzu auch: Prontera, S. 152; Landeshauptstadt München. Stadtentwicklungsreferat, S. 17. 142 StdA München, Ratssitzungsprotokolle, 747/1, Stadtrat, 06.03.1974, Bl. 341. 143 So will der Stadtrat Ausländer-Ghettos verhindern, in: Bild, 04.12.1973; Die Stadtviertel sollen keine Gettos werden, in: SZ, 11.03.1974. 144 Das Ausländerkomitee Berlin brachte eine ähnliche Kritik zum Ausdruck; es erklärte, die Migranten lebten nicht aus eigenem Entschluss in den Ghettos, sondern deswegen, weil sie woanders nicht wohnen durften. Ausländerkomitee, Gleiches Wohnrecht für alle! Dokumentation zur Zuzugssperre für ausländische Arbeiter, Berlin 1978, S. 16, zitiert nach Karakayali. 145 StdA München, Ausländerbeirat, Nr. 2.2: Sitzungen und Anträge, 1974–1979, Beschlüsse des Ausländerbeirates vom 14.03.1975. Siehe auch den Kommentar des Beirats zur Be-
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Andere hoben die positiven Effekte einer dichten migrantischen Nachbarschaft hervor, etwa indem sie anführten, dass es auf diese Weise möglich sei, Solidaritätsstrukturen zu entwickeln, die ein Ankommen erleichterten. Dass das Ghetto sich dennoch zu einem Topos der politischen Auseinandersetzung mit der wachsenden migrantischen Bevölkerung entwickelte, war nicht allein in München der Fall. Der Begriff gewann in den frühen 1970er Jahren in Politik und Medien an Präsenz und wurde wirkmächtig. Einem bestimmten politischen Lager ließ sich die Warnung vor Ghettos nicht zuordnen, zumal sich durchaus unterschiedliche politische Forderungen daran knüpften. In jedem Fall aber wurde der prozentuale Anteil ausländischer Bewohner an der städtischen Wohnbevölkerung in diesem Rahmen zu einem zentralen Marker für den Status urbaner Räume als Problemviertel. Das hing auch damit zusammen, dass viele der von Kommunen und Länderregierungen in Auftrag gegebenen soziologischen Studien davon ausgingen, dass die räumliche Konzentration ausländischer Bewohner sich negativ auf deren Integration auswirkte.146 Zwar wurde in Presse und Politik keineswegs durchgehend unter Bezug auf soziologische Analysen von Segregation und Ghettoisierung gesprochen. Und nicht immer wurden soziologische Wissensbestände derart direkt für politische Zwecke vereinnahmt wie im Münchener Fall über das ständige Zitieren der »Problemstudie«. Doch wurde der Zuzug von Migranten in Politik und Medien auffallend häufig als Abfolge von »Invasion«, »Verdrängung« und »Verfall« beschrieben, während zugleich die »Konzentration« migrantischer Haushalte als Maßstab ihrer Desintegration gehandelt wurde. Wenngleich in banalisierter Form, war es damit immer wieder das Vokabular der Chicago School, über das Viertel mit hohem Migrantenanteil als Problemviertel dargestellt wurden. Das Script der Konzentration, Verdrängung und Ghettoisierung mitsamt der daran geknüpften Forderung nach einer räumlichen Streuung migrantischer Haushalte blieb auch in den 1980er Jahren intakt.147 Es wurde immer wieder aktiviert, von den Stadtverwaltungen unterschiedlicher deutscher Großstädte ebenso wie vom Deutschen Städtetag, vom Ausländerbeauftragten der Bundesregierung ebenso wie von Soziologen und Journalisten.148 Diese Karriere lässt sich in gewisser Weise als die Geschichte einer gelungenen, politisch in jedem Fall erstaunlich effektvollen Politik des Vergleichens lesen. Denn indem die zeit-
schlussvorlage des Stadtentwicklungsreferats »Verhinderung der Bildung von Ausländerghettos«, 21.03.1975. 146 Schöfl u. a.; Schildmeier, S. 37–39, 92f, 115 f.; Borris; Bingemer u. a. 147 Für ein typisches Beispiel siehe etwa: Drewski, S. 570 f. 148 LAB, DST, B Rep 142-09, Nr. 6/30–55, Bd. 5, Carola Lenz-von Traitteur, Dipl Soziologin, Gutachten im Auftrag der Stadt Kassel, Zur Modernisierung in Wohnquartieren mit hohem Ausländeranteil, Kassel (um 1980), S. 25 ff. Eine der wenigen Stadtverwaltungen, die sich dezidiert gegen die Rede von Ghettos wandte, war die Bremer Verwaltung. Bremische Bürgerschaft, Landtag, 8 WP, Drucksachen 8/600, Antwort des Senats zu Anfrage CDUFraktion vom 26.06.1973.
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genössischen Beobachterinnen und Beobachter den »Stadtkern als Ghetto« vorübergehend als Fluchtpunkt der deutschen Entwicklung verankerten, legten sie nahe, dass sich dort im Zusammenleben von Deutschen und Nicht-Deutschen eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie herausbildete, die mit der urbanen Formation des Black Ghetto in den USA vergleichbar war. Wer sich wie mit wem vergleicht bzw. in der Vergangenheit mit wem verglich, ist analytisch eine produktive Frage. Schließlich waren es in der Moderne häufig Praktiken des Vergleichens, über die historische Akteure sich selbst, ihre Gesellschaft oder Nation beschrieben und dabei die Grenze zwischen »innen« und »außen« markierten.149 Dass »wir« wie »die« sind (oder gerade nicht) oder dass »hier« Zustände herrschen, die denen »dort« ähneln: derartige Vergleiche dienten auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten immer wieder dazu, das eigene Gemeinwesen zu definieren und zu stabilisieren, und es zugleich von anderen abzugrenzen. Zugleich konnten über Vergleiche neue Zugehörigkeiten und Allianzen markiert oder zumindest der Anspruch darauf angemeldet werden: »Wir« sind »wie die« (oder könnten es sein). In der westdeutschen Gesellschaft etwa diente der Blick in Richtung USA zunächst häufig dazu, den Anspruch zu markieren, auch zum Westen zu gehören. Im Falle der Stadtpolitik allerdings, das verdeutlichen die Auseinander setzungen mit den Ausländervierteln, verschoben sich die Vorzeichen eines solchen vergleichenden Blicks spätestens in den 1970er Jahren: Vor allem infolge der Rassenunruhen, die in den USA 1967 in verschiedenen Großstädten ausbrachen und die in Westeuropa aufmerksam verfolgt wurden, wurden die USA von einem ambivalenten Vorbild zu einem abschreckenden Beispiel. Der US-Ökonom John Kenneth Galbraith, den der Deutsche Städtetag 1971 als Gastredner zu seiner Tagung »Rettet unsere Städte jetzt« geladen hatte, brachte diese gewandelte Vorbildhaftigkeit auf den Punkt: »Wir sind«, erklärte Galbraith mit Blick auf die Vereinigten Staaten, »der Nostradamus der industriellen Gesellschaft«.150 c) Konzentration = Desintegration: Der »Ausländeranteil« als Problemfaktor Krisendiagnosen tendieren dazu, den Zustand vor einem wie auch immer gearteten Wandel als stabil und wiederherstellenswert zu beschreiben, sie lassen sich als Versuch der Stabilisierung einer gesellschaftlichen Ordnung lesen, die den Zeitgenossinnen oder -genossen als bedroht oder destabilisiert erscheint.151 149 Zur historischen Analyse von Praktiken des Vergleichens siehe die Beiträge in Epple u. Erhart. Zur postkolonialen Kritik an einer eurozentrischen Praxis der Etablierung von Vergleichsmaßstäben siehe zudem Melas. 150 Galbraith. 151 Zu Krisen als Wahrnehmungsphänomenen, die unter den Bedingungen der beschleunigten Moderne letztlich selbst dazu dienen, den »sozialen Ordnungen ihre Suggestion der Stabilität« zu verleihen, siehe Mergel, Einleitung, S. 15.
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Der Diskurs zum migrantischen Wohnen etwa trug zwar dazu bei, die Multi ethnizität der Städte als soziale Tatsache zu etablieren, doch diente beinah durchgehend das Verständnis einer »normalen« von Deutschen dominierten urbanen Ordnung, die gestört und bedroht wurde, als Folie der Beschreibung der »Ausländerquartiere«. In den soziologischen Gutachten, die sich in den 1970er Jahren um die neu entdeckte »soziale Tatsache« der Migration zu gruppieren begannen, entwickelten sich die Integrationsprobleme ausländischer Migranten dabei schnell zum leitenden Paradigma, und ethnische Quartiere firmierten in diesem Rahmen quasi durchgehend als problematische Formationen, die verhindert werden mussten.152 Auch gingen die Autorinnen und Autoren beinah durchgehend davon aus, das Konzentration = Desintegration bedeutete.153 Dass das enge räumliche Beieinandersein ethnischer Gruppen in der westdeutschen Stadtpolitik und Soziologie in erster Linie mit Desintegration und einer ausbleibenden Modernisierung gleichgesetzt wurde, war allerdings kaum selbstverständlich. In den britischen Sozialwissenschaften etwa war die Deutung mindestens ebenso einflussreich, dass sich Migrantinnen und Migranten durch eine enge Einbindung in ethnische Communities der britischen Nation nicht weniger zugehörig fühlten, sondern sich im Gegenteil schneller einlebten. Eine solche Sichtweise spielte in Westdeutschland in den 1970er und 1980er Jahren kaum eine Rolle.154 Das Verhältnis von Gesellschaft und lokaler Gemeinschaft wurde in der Bundesrepublik in erster Linie als Spannungsverhältnis gedacht. Ausländerquartiere wurden dort oft als fremde, rückständige Dörfer in der eigenen modernen Stadt imaginiert und die politische Haltung zu ihnen war vielleicht auch deswegen so ambivalent, weil diesen Quartieren eine kulturelle Bindekraft zugeschrieben wurde, den die individualisierte deutsche Gesellschaft nicht mehr zu bieten schien. »Denen« wurde ein Zusammengehörigkeitsgefühl zugeschrieben, das »die« nicht besaßen. Zwar unterschied sich, warum die Zeitgenossinnen und -genossen in der Isolation migrantischer Gruppen ein Problem sahen – die einen warnten vor deren Benachteiligung, die anderen vor drohenden Unruhen, die dritten vor einer kulturellen Überfremdung – doch waren sich die soziologischen Beobachter einig, dass Quartiere, in denen der Anteil der aus-
152 Schöfl u. a., S. 65; Schildmeier, S. 37–39, 92f, 115f; Bingemer u. a. Siehe zudem LAB, DST, B Rep 142-09, Nr. 6/30–55, Bd. 5, Carola Lenz-von Traitteur, Gutachten im Auftrag der Stadt Kassel, Zur Modernisierung in Wohnquartieren mit hohem Ausländeranteil, Kassel (um 1980). 153 Ebd. Siehe auch Ruhrkohle Aktiengesellschaft. 154 Sybille Münch weist darauf hin, dass sich in Westdeutschland der »Multikulturalismus« in den 1980er Jahren eben gerade nicht zu einem wohnpolitischen Leitbild entwickelte, anders als in Großbritannien oder den Niederlanden. Münch. Speziell mit Blick auf die deutschen Sozialwissenschaften siehe in ähnlicher Weise Treibel; zum Aufstieg des »Multikulturalismus« in Großbritannien Berg. Zum Versuch einer Gesamtschau des Scheiterns multikulturalistischer Ansätze in Westeuropa vgl. Chin, Crisis.
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ländischen Bevölkerung 15 oder 20 % überstieg, unbedingt zu vermeiden waren. Dementsprechend wurde die Forderung nach Verteilung und Mischung zu einer neuen wohnpolitischen Leitforderung. Wenn westdeutsche Soziologinnen und Soziologen überhaupt die in der Chicago School ursprünglich gängige These diskutierten, die enge Einbindung in eine ethnische Community stelle lediglich eine vorübergehende Phase des Ankunftsprozesses dar, verwarfen sie sie meist,155 oder sie markierten sie, wie die Autoren einer vom Land Baden-Württemberg in Auftrag gegebenen Untersuchung, als »gefährlich«.156 Ganz dem mechanischen Script der Segregation entsprechend beschrieben sie die Migrantisierung innerstädtischer Sanierungsviertel in der Regel als einen sich selbst verstärkenden – und bedenklichen Prozess.157 Der Soziologe Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik, der seine auf Forschungen in Berlin-Kreuzberg basierende Dissertation »Gastarbeiter im Sanierungsgebiet« 1977 veröffentlichte, strukturierte seine gesamte Untersuchung anhand des »Invasions-Sukzessions«-Modells der Chicago School.158 Den »Invasionsprozess« der Gastarbeiter in deutschen Großstädten verglich er mit der »Besetzung eines Wohngebietes in einer US-amerikanischen Großstadt durch die Neger« und warnte davor, dass die von ihm in Kreuzberg ausgemachte Abfolge von Invasion, Verdrängung und Ghettoisierung Gefahren barg und in »offene Gewaltanwendung« zu münden drohte.159 Wie hier bei Hoffmeyer-Zlotnik schilderten zeitgenössische Segregationsstudien die Entwicklung innerstädtischer Sanierungsgebiete meist weniger als einen von Marktmechanismen und politischen Entscheidungen bestimmten Prozess denn als ein Problem der Beziehungen zwischen »Deutschen« und »Ausländern«, die sich gegenseitig abstießen und verdrängten. Eher als danach zu fragen, wie räumliche Konzentration und Desintegration konkret zusammenhingen, setzten viele Forschende in ihren Methodendesigns voraus, dass es einen solchen Zusammenhang gab. Die räumliche Ballung oder Verteilung einer Gruppe in einem gegebenen Gebiet benutzten sie als Indikator für deren erfolgte oder verhinderte Integration. Für eine solche Logik charakteris155 Für eine der wenigen Ausnahmen siehe allerdings die Studie von Heckmann. Heckmann setzt sich darin ausführlich mit den Annahmen der Chicago School auseinander und beschreibt das Wohnen in städtischen Ankunftsviertel als vorübergehende Phase des Mi grationsprozesses. Zur Kritik des Ghettodiskurses siehe zudem Elwert. 156 Schöfl u. a., S. 66. 157 Bahrdt, Humaner Städtebau, S. 123–127. Zur »Verdrängungskonkurrenz« in Innenstädten vgl. Schneider, Segregation. Zur Rhetorik von invasion und succession siehe u. a. Herlyn, Soziale Sortierung, S. 86 ff.; Reimann. Vgl. auch die umfangreiche Studie, die das vom Städtetag initiierte Forschungsinstitut DIFU im Auftrag der Stadt Nürnberg durchführte: Rothammer, S. 47 f.; sowie die Studie, die Erika Spiegel 1979 im Auftrag des Berliner Senats zum Verhältnis von Sanierung und ausländischer Bevölkerung im Wedding durchführte: Deutscher Städtetag, Ausländische Mitbürger, S. 166. 158 Hoffmeyer-Zlotnik. 159 Ebd., S. 9, 43 f., 65.
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tisch war die bereits erwähnte Praxis der Kartierung prozentualer Verteilungen und Konzentrationen von »Ausländern« und »Deutschen« im städtischen Raum, die dazu dienen sollte, wohnpolitische Hotspots zu visualisieren. Eine weite räumliche Streuung wiederum diente als Maßstab für Integration. Das galt selbst auf der Mikroebene. Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik etwa ließ seine Helfer in ihren Beobachtungsbögen Notizen dazu machen, welche Formen der Gruppenbildung sie in Kreuzberg auf der Straße beobachteten. Er ließ sie zwischen »Einzelnen«, »Dyaden« und »Gruppen« unterscheiden sowie zwischen Deutschen, Türken und sonstigen Ausländern (wobei der Soziologe davon ausging, dass sich eine solche Zuordnung visuell, qua sichtbaren Unterschieden, vornehmen ließ).160 Der Soziologe ging dabei von kulturell bedingten Unterschieden im Gruppenverhalten aus, die er entlang einer Skala von Integration bis Isolation einordnete: »Während die Türken mehr dazu neigen, in Gruppen aufzutreten, geselliger erscheinen, ist der deutsche Straßenpassant in der Mehrheit als Einzelperson anzutreffen. Die nicht-türkischen Ausländer zeigen etwa das bei den Deutschen zu beobachtende Muster. […] Das überaus häufige Auftreten der Türken in der Gruppe demonstriert ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Es ist als eine Isolation von der ›feindlich‹, der fremd erscheinenden Umwelt zu betrachten […].«161
Als Kennzeichen »der Deutschen« diente ihre Individualisierung, als Kennzeichnen »der Türken« ihr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Dazu passte, dass der Soziologe für seine Studie Fotos auswertete, die er in verschiedenen Schulen während der Pause gemacht hatte. Anscheinend mit Unterstützung von Lehrkräften wertete er aus, inwieweit türkische Jugendliche auf dem Schulhof in homogenen Gruppen zusammenstanden oder nicht. Eine ausgeprägte ethnische Durchmischung der Pausengruppen war für ihn Ausdruck ihrer erfolgreichen Integration: »Als Maß für die Integration wird hier die Anzahl der ethnisch gemischten, positiv miteinander agierenden Gruppen gesetzt.«162 In den späten 1970er Jahren begann sich die Warnung vor migrantischen Quartieren insgesamt zu verengen.163 Als Inbegriff eines Ausländerviertels, das als Ort der Fremde und der ausbleibenden Integration imaginiert wurde, diente immer häufiger »das Türkenghetto«, für das wiederum Berlin-Kreuzberg zu einem besonders viel zitierten Beispiel wurde. Während andere Quartiere mit der sich ausweitenden migrantischen Gastronomie auch als exotisch und mediterran gerahmt und in Teilen romantisiert wurden,164 blieb die Warnung vor den Gefahren eines engen Zusammenwohnens im Falle der türkischen Migran160 Ebd., Anhang: Beobachtungsbogen für Straßen. 161 Ebd., S. 123. 162 Ebd., S. 66 f. 163 Zu einer solchen Ablösung der Kontrastierung von »Ausländern« und »Deutschen« durch andere, auf kulturellen und ethnischen Unterschieden basierenden Kategosierungen vgl. auch Lanz, S. 81 ff. 164 Möhring, Fremdes Essen.
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ten stabil. Kulturellen Unterschieden wurde in den integrationspolitischen Debatten der Zeit ohnehin eine wachsende Bedeutung zugeschrieben, und gerade über türkische Familien hieß es immer wieder, dass sie qua Herkunft kulturell zu fremd seien, um sich in die deutsche Gesellschaft integrieren zu können. Eher romantisierende Beschwörungen eines besonderen Sinns für Familie und Nachbarschaftlichkeit auf der einen und eher skandalisierende Warnungen vor kultureller Schließung und Rückständigkeit auf der anderen Seite lagen dabei eng beieinander. Als der Hamburger Soziologe Paul Geiersbach sich für eine ethnographische Studie Mitte der 1980er Jahre fünfzehn Monate lang in einem sogenannten »Türkenghetto« einquartierte – die Stadt und das genaue Viertel anonymisierte er; es müsste sich aber um Duisburg handeln – galt seine besondere Aufmerksamkeit dem Zusammenleben der türkischen Bewohnerinnen und Bewohner dort. Für seine Reportage über »ein Türkenghetto in Deutschland« kam Geiersbach für etwas mehr als ein Jahr in einer Wohnung der Ruhrkohle AG unter, seine Ehefrau und Kinder ließ er in Hamburg zurück. Er wolle, schrieb er, möglichst authentisch beschreiben, was sozial unter den Leuten ablaufe und wie es ihm als Deutschen unter fast ausschließlich türkischen Nachbarn ergehe. Herauskommen solle dabei ein Buch für Deutsche, damit sie »die Türken und Muslime besser verstehen.«165 Fremdheitserfahrungen bilden ein wiederkehrendes Thema seines Berichts, ebenso wie die vielfältigen Abgrenzungspraktiken von »Deutschen« und »Türken« innerhalb des Viertels und an seinen Rändern. Auch Geiersbach, der selbst Türkisch spricht, begegnet dem maßgeblich (aber nicht ausschließlich) von türkischen Familien bewohnten Quartier anfänglich als Ort der Fremde. Abends verbietet er sich zunächst, Brahms zu hören (»Du liegt hier mitten in einem Türkenghetto auf dem Sofa und hörst Dir klassische Musik an«), um sich anschließend mit einem englischen Kolonialoffizier zu vergleichen, der sich im afrikanischen Busch den Fünf-Uhr-Tee auf einem Silbertablett servieren lasse. Der Zug ins »Türkenghetto«, das als bildungsfern und fremd imaginiert wird, gleicht der Expedition ins koloniale Afrika.166 Bei der Beschreibung seiner ersten Eindrücke von dem Viertel schwankt Geiersbach zwischen Sozialkritik und Romantisierung. Einerseits setzt er mit einer ernüchternden Anreisebeschreibung ein. Der Weg in sein neues Viertel führt demnach an einem zehnstöckigen Hochhaus aus den 1960er Jahren vorbei, an schmucklosen Rasterbauten und zum Teil leeren Neubauten, die dann verwahrlosten ehemaligen Bürgerhäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende Platz machen.167 Ähnlich trist fällt die Verortung in der industriellen Topographie aus: »Da ist im Osten die aus allen Löchern und Ritzen qualmende
165 Geiersbach, S. 13. 166 Ebd., S. 32. 167 Ebd., S. 15.
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Teerverwertungs-Anlage der Hoffmann-Werke. Im Nordwesten schwitzt die Fettschmelze des Schlachthofes über einen kurzen unscheinbaren Schlot ihren fauligen Geruch aus.« Andererseits beschreibt Geiersbach ein quasi-dörfliches Idyll: »Über dem Viertel ein Geräuschteppich aus tausend Kinderhälsen. Alles und jeder schien draußen zu sein, um die Sonne zu genießen, mit Freunden und Nachbarn zu quatschen usw. Und in der Kanalstraße ein kleiner Markt, wo vom Lastwagen herab oder aus dem Lieferwagen heraus Massen von Obst und Gemüse verkauft wurden. Ein anatolisches Dorf mitten im Ruhrgebiet?«168
Vom Marktgeschehen abgesehen, ähnelt die Beschreibung »der Türkenkolonie« den soziologischen Nahbeschreibungen des »verschwindenden Arbeiterquartiers« aus den 1960er Jahren, das gleichfalls als Dorf in der Stadt imaginiert wurde. Schließlich beschreibt Geiersbach in ganz ähnlicher Weise einen ausgeprägten Zusammenhalt und eine ausgeprägte soziale Kontrolle sowie das Verschwimmen der Grenze zwischen Privatsphäre und öffentlicher Sphäre, zwischen Wohnraum, Hof und Straße.169 Diese Sichtweise hallt in einer Reihe von Gesprächen nach. Die Rentnerin Frau Kasunke etwa, die fünfzig Jahre lang in »der Kolonie« wohnte, bevor sie dann im Zuge der Sanierung ihres Hauses umgesetzt wurde, wird ausführlich mit ihren Erinnerungen an die türkischen Frauen aus der Nachbarschaft zitiert, die ihre Hausarbeit häufig gemeinschaftlich im Hof verrichteten: »Freigiebig sind die sehr. Das gibt’s bei denen nicht, dass jede nur an sich denkt.« Der zeitgenössische Diskurs zu ethnischen Quartieren, Kolonien oder Ghettos wies insofern Parallelen zur bereits geschilderten Entdeckung des »traditionellen Arbeiterquartiers« auf, als auch hier die soziale Formation des Dorfs als Folie für die Beschreibung des Miteinanders diente.170 »Das Ausländerviertel« wurde als Dorf in der Stadt beschrieben, in dem die Bewohner die engen Solidaritätsstrukturen und traditionellen Verhaltensweisen ihrer ländlichen Herkunftsregionen reproduzierten.171 Die Bedrohung des türkischen Dorfs lag dabei anscheinend auch darin, dass darin eine für die Moderne charakteristische Ambivalenz mitschwang: die Annahme, dass Modernität mit Individualisierung einherging, der traditionelle Zusammenhalt von »denen« für das moderne »uns« aber eine Gefahr und Sehnsucht gleichermaßen darstellte. Ähnlich wie das »traditionelle Arbeiterquartier« erschien »das Ausländerquartier« damit als Stör- und Sehnsuchtsraum. Allerdings dominierten die warnenden Untertöne. 168 Ebd., S. 18. 169 Ebd., S. 13. 170 Vergleiche zu dieser Tendenz anhand filmischer Darstellungen auch Ezli, Narrative. 171 Etwa in Schöfl u. a., S. 66. Lanz erklärt mit Blick auf die Ausländerforschung der 1970er und 1980er Jahre, sie habe die »türkische Kultur« meist anhand weniger Quellen stereotypisiert »in einer Weise, die immer auf die gleichen, meist auf den Islam zurückgeführten Charakteristika – ländlich, halbfeudal, traditionalistisch, starr – rekurrierte.« Lanz, S. 89.
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Umso mehr, als dem »Ausländerviertel« vorgeworfen wurde, dass dort die alte Arbeiterkneipe dem türkischen Lokal weichen musste und fremde migrantische Räume die eigenen proletarischen verdrängten.172 Das ethnisch homogene Viertel galt in erster Linie als Katalysator einer wachsenden Zersplitterung der Städte. Dass den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst wiederum das Dorf oftmals gar nicht als Folie der eigenen Wahrnehmungen diente und sie auch gar nicht durchgehend aus ruralen Gebieten kamen, trat hinter solchen Darstellungsweisen in den Hintergrund.173 Der Schriftsteller Aras Ören, der 1969 aus Istanbul nach Berlin gekommen war, setzte 1973 in seinem langen Poem »Was will Niyazi in der Naunynstraße« der in Kreuzberg gelegenen Straße ein zärtliches Denkmal.174 Im Mittelpunkt seines Gedichts stand neben der deutschen Arbeiterin Frau Kutzer der Arbeiter Niyazi, der anfänglich von Deutschland als einer Art »kleinem Amerika« träumt.175 Dem Arbeiter Niyazi Gümüşciliç dient als Vergleichspunkt für sein neues Leben in Kreuzberg dann aber nicht etwa das ländliche Anatolien, sondern seine sich ihrerseits rasch modernisierende Heimatstadt Istanbul. Auch dort breiteten sich unter dem Einfluss der urbanen Modernisierung und einer amerikanisierten Massenkultur zeitgleich die Betonbauten aus, so dass Niyazis Mutter die eigene blechbedeckte Hütte an einen Bauunternehmer verkaufen muss: »die Grundstückspreise klettern wie Feuer.«176 Die in der Regel als »Ausländerghettos« oder später auch »Türkenghettos« firmierenden Quartiere wurden damit in mehrfacher Hinsicht zu »translocal spaces«: Einerseits trugen Migrantinnen und Migranten in ihren alltäglichen Praktiken, Lebensentwürfen und Imaginationen zur Herstellung von städtischen Räumen bei, die über eine Stadt und Nation hinaus in andere Städte und Nationen hineinreichten. Andererseits verankerten wissenschaftliche Experten und politische Akteure diese Räume in einer imaginären Topographie, die nationale Grenzen überspannte, indem sie sie mit Harlem oder dem anatolischen Dorf gleichsetzten. Dass es »hier« wie »dort« werden könnte, wurde zu einem wesentlichen Krisentopos, über den eine Bedrohung der deutschen urbanen Ordnung behauptet und politischer Handlungsbedarf markiert wurde. Die Übersetzung US-amerikanischer Segregations- und Ghettoisierungs narrative in den deutschen Kontext ging dabei zunächst mit einer Stabilisierung der Grenzziehung zwischen »Ausländern« und »Deutschen« als neuer Konfliktlinie einher, die durch den steten Vergleich mit der Gegenüberstellung von »schwarzen« und »weißen« Amerikanern weiter mit Bedeutung aufgeladen und 172 Möhring, Fremdes Essen, S. 407 f. 173 Dirickx u. Kudat, S. 4. Karin Hunn weist allerdings darauf hin, dass im Laufe der 1970er Jahre der Anteil an türkischen Migranten aus ländlichen Regionen stieg. Hunn, S. 410. Zum de facto deutsch-türkischen Alltag in Quartieren wie dem Wedding siehe auch Vierra. 174 Ören. 175 Ebd., S. 25. 176 Ebd., S. 26.
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in Teilen rassifiziert wurde. Allerdings verschob sich die Grenzziehung zwischen »denen« und »uns« im Laufe der 1970er Jahre. Spätestens um 1980 galt als das eigentliche Äquivalent der als unaufhebbar imaginierten Differenz zwischen »Schwarzen« und »Weißen« die zwischen »Deutschen« und »Türken« bzw. die zwischen »Europäern« und »Nicht-Europäern.« Während die Bereitschaft stieg, eine gewisse kulturelle Vielfalt als Teil der deutschen Gesellschaft zu verstehen, verfestigte sich die Vorstellung, dass bestimmte kulturelle Differenzen nicht aufhebbar waren.
4.3 Eine Frage des richtigen Verhältnisses. Schwellen, Quoten und wohnpolitische Ordnungsbemühungen Die, je nach Diktion, erfolgreiche Integration, Eingliederung oder Assimilation von Migranten entwickelte sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre zu einer Leitforderung an das Zusammenleben in Städten, und der Versuch ihrer möglichst weiträumigen Verteilung oder dispersion wurde zu einem vordringlichen Ziel der Wohnungspolitik.177 Während die Unterbringung in Obdachlosen- und Übergangssiedlungen noch darauf abgezielt hatte, als »unangepasst« klassifizierte Problemgruppen von der übrigen Gesellschaft zu separieren, um sie zur Moderne zu erziehen, orientierte sich die Politik der ethnischen Durchmischung an der Vorstellung, dass die alltägliche Konfrontation der Fremden mit den normalen Wohn- und Verhaltensweisen der Deutschen oder der Franzosen assimilierend wirke. Zudem lag ihr die Vorstellung zugrunde, dass die Erfahrung kultureller Differenz für die französische und deutsche Wohnbevölkerung nur aushaltbar sei, wenn sie in kleinen Dosen erfolge. Migration und das damit assoziierte Aufeinandertreffen kultureller Unterschiede galt in den öffentlichen Debatten zunehmend als eine, wenn nicht als die Ursache urbaner Konflikte. Und das Ghetto als Inbegriff eines ethnisch homogenen Quartiers fungierte in diesem Zusammenhang als eine Art regulative Idee: Es wurde zum Inbegriff einer räumlichen Formation, die verhindert werden musste.178 Gemeinsam mit den Wohnungsbaugesellschaften als einflussreichen Wärterinnen des Zugangs zu städtischem Wohnraum trugen kommunalpolitische Akteure und soziologische Expertinnen und Experten dazu bei, dass »der Ausländeranteil« zu einer neuen Problemkategorie wurde, an der sich stadtpolitische Entscheidungen ausrichteten, und zwar in der Bundesrepublik ebenso wie in Frankreich. In beiden Fällen bemühten sich Bürgermeisterämter, Stadtverwaltungen und Wohnungsbaugesellschaften um eine Politik der Quotierung
177 Zu Frankreich siehe Weil, S. 382, 388, 494; zu (West)Deutschland Münch. 178 Zum Ghetto und der Figur des »gefährlichen« oder »explosiven Raums« als Grundlage restriktiver lokalpolitischer Maßnahmen vgl. auch Karakayali, S. 160.
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und ethnischen Durchmischung: Während im westdeutschen Fall Zuzugssperren für einzelne innerstädtische Viertel oder ganze Regionen etabliert wurden, erfolgte im französischen Fall eine Quotierung des Zugangs zu einzelnen Gebäuden oder Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus. Und ähnlich wie die westdeutschen rechtfertigten auch die französischen Akteure diese Praxis zwischen den späten 1960er und den späten 1980er Jahren darüber, dass sie sich auf eine »wissenschaftlich beglaubigte« Tatsache bezogen: darauf, dass es eine »Toleranzschwelle« der autochthonen Wohnbevölkerung gebe, die nicht überschritten werden dürfe. Die in den 1970er Jahren verbreitete Praxis einer Quotierung anhand ethnischer Kriterien lässt sich als der Versuch lesen, in einer unübersichtlich gewordenen, dynamischen Situation staatliche Kontrolle und Ordnung herzustellen.179 Die bisherige Wohn- und Stadtplanungspolitik stand in dieser Zeit verstärkt in der Kritik: In Westdeutschland nahmen die Proteste gegen Abrisssanierungen und die damit verknüpften Umsetzungen der Bewohner zu. In Frankreich wurden die Widersprüche des Großsiedlungsbaus immer offenkundiger, während zugleich in immer mehr Wohnheimen für ausländische Arbeiter Mietstreiks ausbrachen, die in Teilen jahrelang andauerten.180 Zudem setzte in beiden Ländern ein schrittweiser Rückzug des Staates aus dem Sozialen Wohnungsbau ein. Die Politik der Quotierung erscheint vor diesem Hintergrund auch als der Versuch einer Rezentrierung staatlicher Macht bzw. als Versuch einer Einhegung von Migrationsprozessen, die im Rahmen des Gastarbeiterregimes und der Kolonialmigration eigene Räume zugewiesen bekommen hatten, sich nun aber verselbständigten.181 Der Ruf nach ethnischer Durchmischung wurde in beiden Ländern just zu dem Zeitpunkt laut, als Migrantinnen und Migranten sich vermehrt aus abgeschlossenen Räumen wie den bidonvilles oder den Wohnheimen für Gastarbeiter heraus in Quartiere begaben, die mehrheitlich von Franzosen oder Deutschen bewohnt wurden. Im französischen Fall zogen sie in wachsender Zahl in Großsiedlungen, im westdeutschen Fall in innerstädtische Altbauquartiere. Das rief Abwehrreaktionen hervor, die bei den lokalen Autoritäten das Bemühen um Einhegung und eine Wiederherstellung von Übersichtlichkeit verstärkten.
179 Dazu passt, dass auch die zeitgenössische Soziologie Prozesse der Ghettoisierung als Kontrollverlust beschrieb. Hoffmeyer-Zlotnik etwa beschwor eine »am Ende außer Kontrolle geratene Ballung der ›Gastarbeiter‹«. Hoffmeyer-Zlotnik, S. 86, 100. Siehe in ähnlicher Weise Schöfl u. a. 180 Zu den Mietstreiks siehe v. a. Bernardot, S. 114 ff. Das galt auch für HLM, die im Zuge und infolge des Algerienkriegs ausschließlich für Pieds-Noirs und »Repatriierte« aus Algerien erbaut worden waren. Zancarini-Fournel, S. 124. 181 Zu den Verschiebungen in den Migrationsregimen beider Länder Mitte der 1970er Jahre siehe Berlinghoff; Weil; Noiriel. Speziell zum westeuropäischen »Gastarbeiter«-System siehe die Beiträge in Oltmer u. a.
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Ihre wohnpolitischen Maßnahmen rechtfertigten die Wohnverwaltungen in Frankreich und Westdeutschland durch den Verweis auf vor allem zwei Begriffe: Integration (integration) und Assimilation (assimilation). Während »Assimilation« meist eher das vollständige Ein- und Aufgehen in ein als homogen gedachtes gesellschaftliches Ganzes meinte, die Bewegung von einer vollkommenen Alterität in eine totale Identität, (»passer de l’altérité la plus radicale à l’identité la plus totale«),182 bezeichnete »Integration« oft eher einen wechselseitigen Prozess der An- und Einpassung, bei dem kulturelle Eigenheiten bis zu einem ge wissen Grad erhalten bleiben konnten oder durften. Indes wurden beide Begriffe in der Vergangenheit nicht stabil gebraucht und ihre Bedeutung veränderte sich im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch ist ihnen eine gewisse semantische Unschärfe gemein. Allerdings teilen beide einen »Veränderungsimperativ«. Özkan Ezli hat »Integration« und »Assimilation« daher als »Bewegungskonzepte« beschrieben, die auf eine »Veränderung von einem gesellschaftlichen Ist- in einen Soll-Zustand abzielen.«183 Die in der französischen und westdeutschen Stadtpolitik um diese beiden Begriffe gruppierten Versuche der Herstellung ethnischer Idealverteilungen stellten letztlich eine spezifische Normalisierungspraxis dar.184 Um eine zunehmend diverse urbane Wohnbevölkerung regierbar zu machen, wurden innerhalb eines gedachten Kontinuums Grenzbereiche des Normalen und Anormalen definiert. Ein gewisser Anteil an Ausländern an der Wohnbevölkerung galt als normal (stabil, konfliktfrei). Wurde er überschritten, wurden Maßnahmen ergriffen, um wieder Normalität herzustellen. Unumstritten waren diese unterschiedlichen Quotierungsversuche und Zuzugsbeschränkungen aber nicht. Migrantinnen und Migranten beschwerten sich bei Hausverwaltungen und Kommunen darüber, sie klagten vor Gericht oder protestierten öffentlich dagegen.185 Auch spricht viel dafür, dass die betreffenden Maßnahmen nur bedingt effizient umgesetzt wurden.186 Mitte der 1980er Jahre konnte jedenfalls für eine Reihe von sowohl Großsiedlungen als auch Sanierungsvierteln gelten, dass der Anteil der ausländischen Bevölkerung dort mehr als 10, 15 oder 20 % betrug und damit über den Schwellen lag, die die Verwaltungen zuvor als noch akzeptabel ausgegeben hatten. Der Historiker Patrick Weil hat mit Blick auf die französische Wohnungspolitik dennoch von der »Herstellung von Ghettos mit Hilfe von Quoten« gesprochen.187 Das ist eine Behauptung, die der staatlichen Politik viel, 182 Sayad, S. 8. Sayad fasst hier allerdings ein gängiges Verständnis von Integration zusammen, das andere eher als Assimilation bezeichnen würden. Beide Begriffe wurden und werden eben nicht trennscharf gebraucht. 183 Ezli, S. 9. 184 Link, Versuch über den Normalismus, v. a. S. 54–59. 185 Weil. Speziell zu den Mietstreiks in Foyers siehe Bernardot. 186 Auch Cohen mutmaßt, dass die konkrete Umsetzung der Quotierungspolitik sich in der Praxis als schwierig erwies. Cohen, 509. Zur Umgehung der Berliner Zuzugssperre siehe auch Hoffmeyer-Zlotnik, S. 86. 187 Weil, S. 375–388.
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wenn nicht zu viel Einfluss zugesteht. Dennoch hat Weil Recht, wenn er darauf hinweist, dass in Frankreich die Frage, wie viele Migranten die einzelnen Wohnungsgesellschaften, Gemeinden und Departements jeweils beherbergen sollten, Gegenstand ständiger Konflikte war – und, dass die Politik der Quotierung, die Mitte der 1970er Jahre einsetzte, weniger zur Lösung dieser Konflikte beitrug als selbst neue Probleme auslöste. a) »Seuil de tolérance«: Karriere einer pseudowissenschaftlichen Kategorie »Schwerwiegende Probleme beim Zusammenleben von Autochthonen und Immigranten« titelte die konservative Tageszeitung »Le Figaro« im August 1973, gefolgt von der Frage, gleich darunter und fett gedruckt, ob in Toulon eine »maghrebinische Invasion« verhindert werden müsse.188 Es folgte ein Bericht zu den Konflikten, die in der südfranzösischen Hafen- und Departmentshauptstadt Toulon in einer Stadtrandsiedlung ausgebrochen waren. Die dort gelegene Siedlung »La cité du Jonquet« charakterisierte die Zeitung als heruntergekommene Sozialwohnungssiedlung. Zu deren Bewohnerschaft hieß es, es handele sich um 220 proletarische Familien, die drei Ethnien angehörten: »europäisch, nordafrikanisch, Zigeuner«. Die Zeitung warnte vor wachsenden Spannungen zwischen diesen Gruppen. Lokal habe sich bereits ein »Komitee zur Verteidigung der Franzosen« gebildet, das in einer Petition an den Bürgermeister forderte, die »Ausländer in Räume zu übersiedeln, in denen sie dann machen könnten, was sie wollen«. Die Zeitung selbst sah sich angesichts dessen zu der Frage veranlasst, ob Frankreich wirklich so viele ausländische Arbeiter brauche, wie dort derzeit beschäftigt seien – und entschloss sich zu einer Art vermittelnder Position. Man müsse, schloss der Autor, den Migranten klar machen, dass »in unserer Zivilisation« eine normale Wohnung ein »Element des Fortschritts« sei. Man müsse die französische Öffentlichkeit aber auch daran erinnern, dass die eigene Wirtschaft ohne ausländische Arbeitskraft derzeit nicht auskomme. Überrascht über die Konflikte in der Touloner Stadtrandsiedlung zeigte sich der »Figaro« jedenfalls nicht. Die dort wohnenden Franzosen befänden sich in der Minderheit, und es sei ein Klima das gegenseitigen Unverständnisses entstanden, schrieb die Zeitung, das »Soziologen nicht überrasche«: »Man hat in der Tat schon seit langem festgestellt, dass die Toleranzschwelle der ausländischen Mieter eines Gebäudes bei 12 % liegt«.189 Randstädtische Großsiedlungen wurden in Frankreich im Laufe der 1970er Jahre mehr und mehr zu Arenen des konflikthaften Zusammenwohnens unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Sie wurden vor allem, wie hier im »Figaro«,
188 A Toulon, faut-il enrayer l’invasion maghrébine?, in : Le Figaro, 16.08.1973. 189 Ebd.
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immer häufiger herangezogen, um vor kulturell bedingten Problemen des Zusammenlebens zu warnen: vor Konflikten, die aus den kulturellen Unterschieden erwuchsen, die aus Sicht der Beobachter »Autochthone« von »Immigranten«, »Franzosen« von »Ausländern« oder »Europäer« von »Nordafrikanern« trennten.190 Während im urbanen Wohnen einige Jahre zuvor noch die Unterschiede zwischen Mittel- und Unterschichten, Bourgeoisie und classes populaires als zumindest potentiell konflikthaft gegolten hatten, verlagerte sich die Aufmerksamkeit von Medien, Sozialwissenschaften und Politik schrittweise auf die cohabitation entre autochtones et immigrés. Viele der Großsiedlungen befanden sich in den 1970er Jahren in einer Umbruchszeit. Wie gezeigt, sank deren Attraktivität für Mittelschichtshaushalte, die, unterstützt von der Eigenheimförderung der französischen Regierung, in wachsender Zahl aus den Siedlungen auszogen. Das ohnehin schon negative Image vieler Siedlungen litt unter dieser Entwicklung, zudem wurden deren in frastrukturelle Mängel offenkundiger. Die Betonbauten zeigten erste Zeichen der Alterung und vor allem bei den besonders kostengünstig erbauten Siedlungen mehrten sich die Verfallserscheinungen. Zur gleichen Zeit differenzierte sich der Wohnungsbestand mit der voranschreitenden Sanierung innerstädtischer Viertel weiter aus. Zumindest, wenn sie über ein gewisses Budget verfügten, standen den einzelnen Haushalten tendenziell mehr Wohnoptionen zur Verfügung als noch zu Beginn der 1960er Jahre. Der Wohnungsmarkt teilte sich infolge dessen immer mehr in mobile Gruppen, denen ihr soziales Ansehen und Einkommen eine erhöhte Mobilität innerhalb des städtischen Wohnraums erlaubte, und still gestellte Gruppen, die nehmen mussten, was übrigblieb. Immer häufiger waren das Großsiedlungen. Im Rahmen unterschiedlicher Regierungsprogramme erbaut, variierte stark, wie gut oder schlecht die Siedlungen infrastrukturell angebunden und wie sie ausgestattet waren. Jene HLM etwa, die die Regierung nutzte, um die Bewohner aufgelöster Barackenlager oder innerstädtischer Sanierungsviertel umzusetzen, befanden sich oftmals in besonders abgelegenen und billig erbauten Siedlungen. Vor allem diese Siedlungen wurden im Laufe der 1970er und 1980er Jahre zu schlechten Adressen, in denen nur die wohnen blieben, die mussten. Während sich die Stellung der Großsiedlungen in der Hierarchie der städtischen Wohnungsmärkte schrittweise verschob, änderte sich zugleich die ökonomische Lage zahlreicher migrantischer Haushalte. Arbeitsmigrantinnen und -migranten waren von der Mitte der 1970er Jahre ansteigenden Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich stark betroffen. Unter anderem, weil sie im Schnitt über einen geringeren Bildungsgrad und eine geringere berufliche Spezialisierung verfügten, bekamen sie die einsetzenden Entlassungen im industriellen Sektor tendenziell früher zu spüren als spezialisierte französische Arbeitskräfte. Das
190 Zur Bedeutung dieser Grenzziehung siehe auch Severin-Barboutie, Stadt; sowie allgemein Berlinghoff; Mergel, Transnationale Mobilität.
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machte ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt prekärer. Zeitgleich stieg die Zahl derer, die gemeinsam mit Kind und Familie in Frankreich wohnten und die deswegen nach anderen Wohnlösungen suchten. Die Unterkunft in den geschlechtergetrennten Wohnheimen, die für alleinstehende Arbeiter konzipiert worden waren, war für viele spätestens jetzt keine sinnvolle Option mehr. Die Unzufriedenheit mit der Unterbringung in separaten Unterkünften nahm zu, und Mitte der 1970er Jahre brachen in immer mehr Wohnheimen anhaltende Mietstreiks aus, mit denen die Untergebrachten gegen die Zustände in den Heimen protestierten. Die SONACOTRA, jene von der französischen Regierung noch zur Zeit des Algerienkriegs geschaffene Wohnungsbaugesellschaft, die zunächst mit der Unterbringung algerischer Migranten, später dann mit der aller Arbeitsmigranten betraut worden war, berichtete ab 1974 in wachsender Unruhe über die Proteste in ihren Heimen.191 Die Mietstreiks der Bewohnerinnen und Bewohner weiteten sich bald auf ganz Frankreich aus.192 Sie dauerten bis 1980 an und mobilisierten vorübergehend 20.000 bis 30.000 Streikende, die sowohl gegen die erhöhten Kosten für ihre Unterbringung in den Heimen protestierten als auch gegen die ungenügenden Wohnbedingungen.193 Für die Streikenden bargen die Proteste ein beträchtliches Risiko, denn die SONACOTRA ließ zahlreiche Beteiligte ausweisen. Stark von sozialistischen Gruppen unterstützt, appellierten die Protestierenden dennoch immer wieder an eine internationale Solidarität der Arbeiterklasse und riefen dazu auf, sich mit ihnen gegen den Rassismus der französischen Bürokratie zu wehren.194 Ihre Proteste richteten sich auch gegen das Betreuungspersonal und die Leitungen der Wohnheime. Das Komitee, das sich seit 1976 um eine überregionale Koordinierung der Streikenden bemühte, nannte in seiner Streikzeitung so an erster Stelle die »rassistische Verwaltung« der Foyers um zu erklären, wie es zu den Streiks gekommen war.195 Die SONACOTRA, kritisierte das Komitee, rekrutiere ihr Personal mit Hilfe von zwei Kriterien: Sie achte darauf, dass es sich um ehemalige Militärangehörige handele, und darauf, dass die Betreffenden an den Kriegen in Algerien oder Indochina teilgenommen hätten.196 191 Siehe die Berichte in CAC 19960134/3, SONACOTRA. 192 »L’Humanité« berichtete bereits im Januar 1974 über Mietstreiks migrantischer Arbeitskräfte, und auch die SONACOTRA berichtete 1974 über sich mehrende Proteste. CAC 19960134/3, Bericht von Henri Laborie, 14.06.1974. In den Reihen der sich zunehmend organisierenden Streikbewegung firmierten später aber die Mietstreiks in St. Denis 1975 als Beginn der eigenen Bewegung. 193 Zu dieser Zeit waren noch etwa 70.000 Arbeiter in solchen foyers untergebracht. Siehe etwa CAC 19960134/3, Bericht über ein Treffen im Innenministerium mit den verschiedenen Direktoren der foyers pour travailleurs, 28.09.1977. 194 Einige Ausgaben der von den verschiedenen Streikkomitees seit 1976 gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift, Bulletin d’information des foyers Sonacotra en lutte, sind in digitalisierter Form online verfügbar, unter http://odysseo.generiques.org. 195 Bulletin d’information des foyers Sonacotra en lutte Jg. 1, 1976, S. 2. 196 Ebd.
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Abb. 5 und 6: Flugblatt der GISTI (Groupe d’information et de soutien des travailleurs immigrés), die die Streikenden bei ihrem Protest unterstützte und in Rechtsfragen beriet. In dem anscheinend gemeinsam mit der sozialistischen Partei (PSU) verfassten Flugblatt rechts wird zur Unterstützung des »Kampfs der Arbeitsmigranten« aufgefordert und es werden eine »anständige Miete« sowie eine »Abschaffung des Kasernierungsregimes« gefordert. In dem links daneben abgebildeten, arabischsprachigen Flugblatt des Streikkomitees ist schon die Platzierung des Wohnheims neben einer Autobahn aussagekräftig. Das kleine Haus ist als Haus der Heimleitung ausgewiesen, das Heim der SONACOTRA selbst ist eingezäunt und mit dem Schild »Zutritt für die Öffentlichkeit verboten« versehen. Im Text rief das Komitee französische wie ausländische Arbeiter zum Streik auf »gegen hohe Mieten / gegen die interne polizeiliche Ordnung, die unsere Freiheit raubt / f ür bessere Wohnverhältnisse – unter Wahrung von Hygiene und Sicherheit«.197
Tatsächlich war der Anteil von Militärs mit Kolonialerfahrung am Heimpersonal der SONACOTRA auffallend hoch.198 Die SONACOTRA und die von ihr betriebenen Wohnheime waren in einem kolonialen Kontext entstanden, der die weitere Verwaltung des migrantischen Wohnens stark beeinflusste. Das galt umso mehr, als ein Großteil der Heime durch den Fonds d’Action sociale (FAS) finanziert wurde, der von der Regierung gleichfalls im Zuge des Algerienkriegs mit dem Ziel einer besseren Kontrolle algerischer Migranten eingerichtet wor197 Flugblätter der GISTI, http://odysseo.generiques.org. Ich danke Nashwa Amer für ihre Übersetzung des Textes. Nashwa Amer weist darauf hin, dass der arabische Originaltext zahlreiche Rechtschreib- und Grammatikfehler enthalte, was wohl darauf hinweise, dass die Verfasserinnen und Verfasser kein hohes Bildungsniveau aufwiesen. 198 Cohen.
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den war.199 Zwar war die SONACOTRA seit Mitte der 1960er Jahre offiziell für die Unterbringung aller Arbeitsmigranten zuständig,200 doch behandelte sie die algerisch-muslimische Bewohnerschaft weiterhin als eigene Risikobevölkerung, die als potentiell gefährlich und / oder unterentwickelt besonderer Maßnahmen bedurfte.201 Dennoch zeichnete sich in der Politik der Wohngesellschaft bald ein Zielkonflikt ab: Die SONACOTRA, der zahlreiche Kommunen die konkrete Umsetzung ihrer bidonvilles-Politik übertragen hatten, schwankte zwischen dem Versuch einer geschlossenen Unterbringung der Migranten mit dem Ziel ihrer Hebung und Kontrolle einerseits und ihrer gestreuten Unterbringung im normalen Sozialen Wohnungsbau andererseits, die deren Integration erleichtern sollte. Um letztlich beiden Zielen gerecht zu werden, setzte die SONACOTRA sich schließlich für eine Quotierung des Zugangs zum normalen Sozialen Wohnungsbau ein. Sie tat das letztlich mit Erfolg: Die in der französischen Wohnpolitik in den 1970er Jahren zunehmend gängige Quotierungspraxis, die wiederum mit einer nicht zu überschreitenden »Toleranzschwelle« gerechtfertigt wurde, ging unter anderem auf Vorstöße der SONACOTRA zurück.202 Im Dezember 1974 kam in Aix-en-Provence eine Gruppe von Soziologinnen und Soziologen zusammen, um über ein Deutungsmuster zu diskutieren, das – soweit waren sich alle Anwesenden einig – in der zeitgenössischen Wohnungspolitik einen bemerkenswerten Einfluss besaß: das Konzept der »Toleranzschwelle« (seuil de tolérance).203 Tatsächlich gingen viele Verwaltungen bei der Belegung öffentlicher Wohnungen davon aus, dass der Anteil an ausländischen Bewohnern 15 % nicht überschreiten durfte. Nachdem einzelne Wohnungsbaugesellschaft sich bei ihrer Belegungspraxis schon länger an diesem Wert orientierten, hatte die französische Regierung 1970 per Rundschreiben gefordert, den Zugang ausländischer Haushalte zum Sozialen Wohnungsbau so zu quotieren, dass die »Toleranzschwelle« der »autochthonen Bevölkerung« nicht überschritten werde. 1973 folgte ein weiteres Rundschreiben mit der Aufforderung, in den HLM den Höchstanteil von 15 % an ausländischen Familien möglichst nicht zu überschreiten.204 Die in Aix-en-Provence anwesenden Soziologen standen dieser 199 Blanc-Chaléard, En finir, S. 132 f. 147. 200 Die Sonacotral wurde 1963 in Sonacotra umbenannt, um diese veränderte Zuständigkeit zu markieren. Zur Geschichte der Sonacotra als ursprünglich der Kolonialverwaltung zugeordnete Wohnungsgenossenschaft vgl. Bernardot. Zu den Auswirkungen auf die Wohnbiographien der Migranten siehe Cohen. 201 Blanc-Chaléard, Quotas. 202 Ebd., Cohen, S. 120 f. 203 Siehe dazu das Themenheft Seuil de tolérance aux étrangers: Concept opératoire ou notion idéologique, Sociologie du Sud-Est, 1975, H. 5–6. Das Heft dokumentiert die Beiträge und Diskussionen anlässlich eines Workshops, der im Dezember 1974 vom Forschungsinstitut CIRDOM in Aix-en-Provence organisiert wurde. 204 Ministère de la Construction, Regierungsrundschreiben vom 04.03.1970; Rundschreiben der Direction de la Construction du Ministère de l’Equipement vom 05.10.1973. Hajjat, S. 87; Rudder, S. 154.
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Politik ebenso kritisch gegenüber wie dem Konzept der Toleranzschwelle selbst. Die einen sahen darin ein Instrument zur Rechtfertigung rassistischer Einstellungen und Verhaltensweisen. Die anderen kritisierten, dass derartige Quantifizierungen zu sehr von lokalen Gegebenheiten und den konkreten Beziehungen abstrahierten, die Menschen zueinander unterhielten.205 »Toleranzschwelle«, das klang nach wissenschaftlich beglaubigter Gesetzlichkeit. Wo das Konzept allerdings herkam und von wem es ins Spiel gebracht worden war, darüber herrschte in Aix keine Einigkeit. Nicht von ungefähr sprach der Pariser Soziologieprofessor Carmel Camilleri mit einiger Frustration von einer »pseudo notion«.206 Zwar führten die Konferenzteilnehmenden als mögliche Quelle unter anderem die amerikanische Segregationsforschung und ihren Versuch an, einen quantitativen tipping point für den Wandel städtischer Räume zu bestimmen. Sicher waren sie sich aber nicht.207 Mit einer Ausnahme. Während den meisten der konkrete Ursprung des Konzepts vage zu sein schien, erklärte der Soziologe Michel Marie, er kenne den »sociologue à l’origine du mot«. Dessen Namen nennen wollte Marie nicht. Dennoch hat die historische Forschung seine Behauptung wiederholt aufgegriffen, dass letztlich ein soziologisches Gutachten zu einem HLM in Nanterre den Ausgangspunkt für die Etablierung der 15-prozentigen »Toleranzschwelle« als nationsweit gültige Norm bildete.208 Zwar ist eine gewisse Ratlosigkeit geblieben.209 Doch wird in der Nachfolge von Marie gerne darauf verwiesen, dass die Karriere der seuil de tolérance mit der Auflösung der bidonvilles von Nanterre begann. Es spricht allerdings viel dafür, sich die Ratlosigkeit der zeitgenössischen Soziologinnen und Soziologen bis zu einem gewissen Grad zu eigen zu machen, die mit ihrem Versuch, die »Toleranzschwelle« einem einzelnen Autor, Text oder Forschungskontext zuzuordnen, an ihre Grenzen stießen. Denn am ehesten begann die Karriere der »Toleranzschwelle« im Niemandsland einer Gutachtenkultur, die zwischen Verwaltung und Wissenschaften entstand, und eher als um eine auf Erkenntnisgewinn zielende wissenschaftliche handelte es sich um eine politische Kategorie, die dazu beitragen sollte, eine politische Zielvorstellung umzusetzen.210 Effekte zeigte die in den Massenmedien und politischen Debatten häufig herangezogene und als »wissenschaftlich« gelabelte Kategorie dennoch: Sie suggerierte, dass es ein quantifizierbares Maß für das richtige (konfliktfreie) Zusammenleben von Franzosen und Nicht-Franzosen gab und legte zugleich nahe, dass ein friedliches Stadtleben die politische Regulierung der ethnischen Zusammensetzung der städtischen Wohnbevölkerung erforderte. 205 Sociologie du Sud-Est, 1975, H. 5–6. 206 Camilleri, S. 23. 207 »Le seuil de tolérance, c’est le ›tipping point‹ de la sociologie interracial américaine […]« Ebd., S. 31. 208 Marie, S. 41. MacMaster; Blanc-Chaléard, En finir. 209 Rudder; MacMaster; Blanc-Chaléard, En finir. 210 Zu diesem »pseudo-wissenschaftlichen« Charakter siehe auch MacMaster.
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Laut Michel Marie lagen die Ursprünge einer solchen quantifizierenden Praxis in Nanterre bzw. in der in Petit-Nanterre 1959 erbauten Siedlung Les Canibouts. Les Canibouts, das war eine Art Pilotprojekt für sowohl die Politik der Auflösung der bidonvilles als auch für die versuchte adaptation nordafrikanischer Migrantinnen und Migranten.211 Die von Sozialwohnungen dominierte Siedlung wurde von der Wohnungsgesellschaft Logirep verwaltet, bei der es sich wiederum um eine regionale Ausgründung der SONACOTRA handelte.212 Sie war in erster Linie mit dem Ziel errichtet worden, Unterkünfte für die Bewohner der zahlreichen Barackenlager in Nanterre zu schaffen, um deren Auflösung sich die französische Regierung bemühte.213 Vor allem den dort wohnenden algerischen Familien sollte in Nanterre beigebracht werden, sich an das Leben in der modernen französischen Gesellschaft »anzupassen«, und zwar vor allem dadurch, dass sie in durchmischt belegten Siedlungen untergebracht wurden. Die Logirep setzte also durch, dass in Les Canibouts der Prozentsatz an algerisch-muslimischen Bewohnern 15 % nicht überstieg. Diese Maßgabe übertrug die SONACOTRA später auf andere von ihr verwaltete Wohnbestände. Zwar rechtfertigte sie die eigene Quotierungspraxis zunächst nicht über den Verweis auf eine irgendwie geartete »Toleranzschwelle«, gab aber 1968 ein vergleichsweise umfangreiches soziologisches Gutachten zum »Zusammenleben von Franzosen und Ausländern« in Auftrag, dessen Autor nachdrücklich für eine Politik der Quotierung und Durchmischung plädierte, um auf diese Weise Konflikten zu begegnen.214 Eine weitere regionale Tochtergesellschaft, die Logirem, rechtfertigte dann 1970 die eigene Quotierungspraxis damit, zu einem »zahlenmäßig wohl dosierten Zusammenleben« (une cohabitation numériquement bien dosée) beitragen zu wollen,215 und in den folgenden Jahren begann die französische Wohnverwaltung verstärkt, vor dem Überschreiten einer sogenannten Toleranzschwelle bei der Unterbringung migrantischer Haushalte zu warnen. Zwei Aspekte bestimmten dann in den 1970er Jahren die Politik der Quotierung im Sozialen Wohnungsbau: die Annahme, dass weniger das Zusammenleben von »Franzosen« und »Immigranten« Maßnahmen erforderte als ein sich abzeichnendes Spannungsverhältnis von »Europäern« und »Nordafri-
211 Cohen; Blanc-Chaléard, En finir. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kap. 2. 3. der vorliegenden Studie. 212 Mit der Logirep hatte die SONACOTRA in Paris eine ihrer ersten, regional operierenden Wohnungsbau-Gesellschaften übernommen. Weitere in anderen Regionen folgten. BlancChaléard, Quotas. 213 Ebd. Siehe dazu auch Cohen u. David. 214 Die von der SONACOTRA 1968 in Auftrag gegebene Studie wurde vom CEAL (Centre d’études appliquées au logement) durchgeführt und trug den Titel »La cohabitation des familles français et étrangers«. 215 CAC, 19960134/3, Action Sociale, Notes de Mission sur l’état actuel des seuls de tolérance à Marseille, Lyon et St Etienne, (ohne Datum, um 1970). Abgezeichnet AF.
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kanern«216 – und die Warnung vor Protesten der einheimischen Bevölkerung.217 Das illustriert ein Lagebericht des Präfekten der südostfranzösischen Region Rhône-Alpes, der im Juni 1972 dem Innenministerium über zunehmende Spannungen in den Großsiedlungen der Region berichtete.218 Obwohl es in den vergangenen drei Monaten nicht zu nennenswerten Anzeichen von Rassismus gekommen sei, schrieb er, habe die französische Bevölkerung anscheinend mehr und mehr Schwierigkeiten, die Ankunft neuer Migranten zu akzeptieren. »Die Bewohner der grands ensembles sind extrem empfindlich hinsichtlich der Zahl an Ausländern, die man in ihren Blöcken unterbringt, und die für die Verwaltung der HLM zuständigen Gesellschaften lehnen es, mit den Beschwerden ihrer Mieter konfrontiert, mehr und mehr ab, Immigranten zuzulassen […]. Obwohl es keine unmittelbaren Risiken gibt, steht zu befürchten, dass diese Situation in gewaltvollen Ausbrüchen von Rassismus mündet, vor allem, wenn sich Arbeitslosigkeit bei den Immigranten ausbreitet und nicht mehr deren Arbeit – in den Augen der Bevölkerung – ihre Präsenz in Frankreich rechtfertigt.«219
In ähnlicher Weise berichtete ein Vertreter des Innenministeriums nach einem Treffen mit verschiedenen Tochtergesellschaften der SONACOTRA in Marseille, Lyon und St. Etienne Anfang der 1970er Jahre über Spannungen zwischen der französischen Wohnbevölkerung und migrantischen Familien.220 Der Beamte mutmaßte in seinem Bericht unter anderem, dass bestimmte Milieus es nur schwer ertrügen, »dass der Migrant aufsteigt statt am Ende der sozialen Hierarchie zu verbleiben«.221 Die dominante Trennlinie verlief aus der Sicht des Ministerialbeamten indes weniger zwischen Migranten und Franzosen als zwischen Nordafrikanern und Autochthonen. In Marseille und der Bouches-duRhône würden die Sozialarbeiter im Wohnsektor praktisch kaum noch zwischen 216 Zur wachsenden Bedeutung der Abgrenzung »der Europäer« von »den Nicht-Europäern« in den westeuropäischen Gesellschaften der 1970er Jahren siehe auch Berlinghoff sowie Mergel, Transnationale Mobilität, S. 285 ff.; ders., Die Sehnsucht. 217 Siehe z. B. CAC 19910712/6, Schreiben von Charles Barbeau, Direction de la Population et des Migrations, an das Ministerium Aménagement du Territoritoire, 16.02.1973, »Réservation obligatoire de logements sociaux en faveur des familles étrangères. » 218 CAC 19960134/3, Lagebericht des Präfekten der Region Rhône-Alpes, 23.06.1972, an den Innenminister und weitere Organe. 219 »Les habitants de grands ensembles sont extrêmement sensibles au nombre d’étrangers qu’on loge dans leurs îlots et les offices et sociétés HLM, devant les plaintes de leurs locataires répugnent de plus en plus à accepter les immigrés […]. Bien qu’il n’y ait pas de risques immédiats, on peut craindre que l’évolution de cette situation amène des manifestations violentes de racisme, surtout si le chômage commence à se manifester chez les immigrés, le travail ne justifiant plus leur présence en France, aux yeux de la population.« CAC 19960134/3, Lagebericht, ebd. 220 Ebd. 221 »Car on supporte mal dans tous les milieux souvent peu informées des nécessitées économiques et démographiques de l’immigration, que le migrant soit promu au lieu de rester à la queue de la hiérarchie sociale.« Ebd.
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nicht-nordafrikanischen Migranten und Einheimischen unterscheiden, schrieb er. Die »Angelegenheit der seuils de tolérance« betreffe dort vornehmlich die nordafrikanischen Migranten.222 Ähnlich wie in der Bundesrepublik war die Präsenz von Migranten in den 1950er und 1960er Jahren maßgeblich darüber erklärt und gerechtfertigt worden, dass sie als temporäre Arbeitskräfte die boomende französische Wirtschaft unterstützten.223 Und ähnlich wie in der Bundesrepublik wies diese Rahmung in den frühen 1970er Jahre immer mehr Risse auf. Unter anderem, weil offenkundig wurde, dass viele Migranten nicht temporär, sondern mittel- bis langfristig blieben und weil zugleich mit der wachsenden Arbeitslosigkeit deren Nützlichkeit für Teile der französischen Bevölkerung in Frage stand. Zwar waren die Gründe und Hintergründe transnationaler Mobilität de facto vielfältig und gingen kaum in »dem Gastarbeiterregime« auf. Das änderte aber nichts daran, dass mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden Konkurrenz um Arbeitskräfte die Forderung nach einer anderen Regulierung der Zuwanderung an Einfluss gewann. Inwieweit die unterschiedlichen lokalen Autoritäten berechtigterweise vor drohenden Protesten durch die französischen Großsiedlungsbewohner warnten, ist dennoch schwer zu sagen. Zwar kam es in den 1970er Jahren in verschiedenen Großsiedlungen zu Unruhen. Inwieweit sich diese lokalen Konflikte aber jeweils am Zuzug migrantischer Haushalte entzündeten, bedürfte einer systematischeren Analyse.224 Die in verschiedenen Oral History-Projekten durchgeführten Interviews mit ehemaligen Siedlungsbewohnern legen in jedem Fall nahe, dass stark variierte, wie die dort Wohnenden auf die wachsende Diversität ihrer Siedlungen reagierten.225 Manche nahmen diese Veränderung nicht als konflikthaft wahr, andere durchaus. Ein Ehepaar, das mit seinen Kindern zu den ersten gehörte, die Mitte der 1950er Jahre in die Cité de Billardon bei Dijon gezogen war und dort bis 1979 lebte, schwärmte 2003 über den großen Zusammenhalt und den ungewohnten Luxus der ersten Jahre.226 Es sei »sehr familiär« gewesen, erinnert sich Mutter Paulette, und erzählt von Tupperparties und geteilten Aufstiegserfahrungen.227 Den Zuzug vor allem algerischer und marokkanischer Familien beschreiben sie und die übrigen Familienmitglieder (Vater und mittlerweile erwachsene Tochter) dagegen als eine Zäsur. Sie erinnern sich daran als Auslöser von Lärm und Verfall sowie einem »mangelnden Respekt« für Gebäude und Nachbarschaft. Auffallend emotional erinnern sich die drei 222 »D’une façon générale, il s’avère que les faits observés en matière de seuils de tolérance à Marseille et dans la région des Bouches du Rhône, ont surtout trait à la population des migrants nord-africains.« Ebd. 223 Zum Ende des Gastarbeiter-Regimes in Frankreich siehe Berlinghoff. 224 Zu den Unruhen in den 1970er Jahre siehe allerdings Zancarini-Fournel, die auf diese Frage aber nicht ausführlich eingeht. 225 Taboury u. Gougerot; Villechaise-Dupont. 226 Siehe das Interview mit Jacques, Paulette et Marilyn, in: Taboury u. Gougerot, S. 133–159. 227 »C’était très ›famille‹.« Taboury u. Gougerot, S. 140.
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an das Kind einer neuen algerischen Nachbarfamilie, das bei ihnen wiederholt ohne anzuklopfen die Wohnung betreten habe. Man habe sich nicht mehr bei sich zu Hause gefühlt, bekräftigt Paulette, während ihre Tochter unterstreicht, man klingele eben. Jacques, der Vater, verweist schließlich auf Unterschiede in der Mentalität. In Algerien sei man anders »familiär«: »Das ist nicht wie bei uns. In Frankreich empfängt man Besuch, man plaudert, aber man geht nicht zu den Leuten, um sich ihnen aufzudrängen […].«228 Auffallend ist, dass die Interviewten in ihrer Erinnerung oftmals weniger zwischen »Franzosen« und »Migranten« unterschieden als zwischen »Franzosen« bzw. »Europäern« auf der einen und »Arabern« auf der anderen Seite. Das schließt Interviewpartner ein, die selbst nach Frankreich migriert waren.229 »Wir«, erklärt ein Metallarbeiter aus Billardon, der in den 1970er Jahren aus Lissabon nach Frankreich gezogen war: »Wir können nicht rassistisch sein, wir sind ja selbst Ausländer hier. Aber man muss schon sagen, dass […] die nicht die gleiche Mentalität haben wie wir. Wir, wir sind Europäer, die Mentalität ist eine ähnliche, das ist wahr. Aber wenn man sieht, wie die leben, das ist nicht wie bei uns. […]. Wir haben uns, wie Sie sehen, gut angepasst (on s’est bien adaptés). […]«
Zugehörigkeit zu Frankreich stellte der interviewte Arbeiter auch darüber her, dass er die zur Konturierung der französischen Nation und ihrer Grenzen oft benutzte Abgrenzung von Nicht-Europäern aufgriff und reproduzierte. Zugleich legen zahlreiche Schilderungen des Großsiedlungsalltags nahe, dass es nicht selten eine ausgeprägte Wertschätzung, in Teilen auch einen Stolz auf die kosmopolitische Zusammensetzung der Bewohnerschaft gab.230 Dass viele Großsiedlungen in den 1970er und 1980er Jahren von einer wachsenden ethnischen, kulturellen oder religiösen Diversität geprägt waren, registrierten die Bewohnerinnen und Bewohner wiederholt mit Stolz, oder es stellte für sie eine Normalität dar, die nicht weiter kommentiert werden musste. Als die algerisch-französische Schriftstellerin Leïla Sebbar 1981 ihren Roman »Fatima ou les A lgériennes au square« veröffentlichte, diente ihr die Großsiedlung La Courneuve als Schauplatz für das Portrait einer Generation von algerischen 228 Ebd. 229 Grégorio : »Nous on ne peut pas être racistes, puisqu’on est des étrangers aussi. Mais il faut dire la vérité […] ils n’ont pas la même mentalité que nous. Nous on est des Européens, la mentalité est proche, c’est vrai. Mais si on voit comment ils vivent eux, ce n’est pas la même manière que nous. […] Nous, comme vous le voyez, on s’est bien adaptés. Moi je suis comme ça : on est en France, c’est mon pays. Je ne suis pas Français, je sais que je ne suis pas Français, mais c’est mon pays, c’est là que je vis, c’est là que vivent mes enfants, là où je travaillais.« Ebd., S. 360. 230 Sarcelles beispielsweise wird von lokalen Politikern und Bewohnern häufig als »kosmopolitisch« beschrieben. Typisch ist auch die Bemerkung Toumi Djaïdjas, des Initiators des Marche pour l’Egalité, über die Lyoner Siedlung Les Minguettes: »Les Minguettes sont cosmopolites.« Djaïdja u. Jazouli, S. 18.
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Frauen, die noch im kolonialen Algerien geboren und später nach Frankreich migriert waren. Sie erzählt ihre Geschichte aus der Perspektive eines jungen Mädchens, Dalila, und ihrer Mutter, Fatima. Auch Dalila und Fatima benutzen ethnische Label, um die Bewohner von La Courneuve zu beschreiben. Das ist von »der Französin des Blocks« die Rede (la Française du Bloc), während die Mutter und ihre Freundinnen für Dalia »femmes arabes« sind (obwohl, wundert sie sich selbst, eigentlich viele von ihnen doch Kabylinnen seien).231 Ihre Brüder reden über sich und die anderen Jungen der cité gleichfalls in ethnisierenden oder rassifizierenden Kategorien; sie sprechen von »portos« (Portugiesen), »bougnoles« (Nordafrikanern) oder »négros« (Antillenen).232 Allerdings wird das Verhältnis dieser verschiedenen Gruppen untereinander in Sebbars Roman nicht als besonders konflikthaft beschrieben, sondern als Normalität. Die Konflikte, um die sich Sebbars Geschichte drehen, liegen eher im Verhältnis zwischen den Generationen begründet. Auch kommt es wiederholt zu Spannungen zwischen den Jugendlichen der cité und der Polizei, doch werden diese Konflikte eher entlang einer Grenze verortet, die in erster Linie zwischen »uns« in der Siedlung und »denen« dort draußen verläuft. Ungeachtet solcher Unterschiede in den lokalen Gemengelagen führten die französischen Autoritäten in den 1970er Jahren immer wieder die sich abzeichnenden Proteste der bereits in den Großsiedlungen wohnhaften französischen Bevölkerung an, um entweder eine Quotierung des Zugangs zu fordern oder die Aufnahme ausländischer Mieter ganz abzulehnen. Ähnlich wie westdeutsche Kommunalpolitiker mit ihrem Verweis auf Ghettos rahmten sie die migrantische Präsenz in den Siedlungen als Problem mit gesellschaftlicher Sprengkraft. Das hatte allerdings zur Folge, dass es selbst der einflussreichen SONACOTRA, der mit Eugène Claudius-Petit ein ehemaliger Wohnungsbauminister vorstand, schwerfiel, andere Wohnungsbaugesellschaften dazu zu bewegen, ihre Bestände für Migrantinnen und Migranten zu öffnen. Die SONACOTRA sah eigentlich 15 % des eigenen Wohnungsbestands für algerische Migranten vor und stellte die restlichen 85 % anderen öffentlichen Wohnungsgesellschaften zur Verfügung. Die konnten dort französische Familien einziehen lassen, mussten dafür aber im Gegenzug ihre eigenen Bestände für algerische Bewohnerinnen und Bewohner frei geben, um auf diese Weise deren bessere räumliche Verteilung zu gewährleisten. Genau das fand aber oftmals nicht statt. In Paris etwa fanden die SONACOTRA und ihre Tochtergesellschaften für den vorgesehenen Tausch keine Freiwilligen, die Algerier in ihre Wohnungen aufnehmen wollten. Der französischen Ministerialverwaltung erging es bei ihrem Versuch, den Druck auf einzelne Kommunen und Wohngesellschaften zu erhöhen, damit sie mehr migrantische Haushalte aufnahmen, nicht anders. Die Folge waren Rangeleien zwischen unterschiedlichen Kommunen. Wer sich bei diesen Konflikten wie ver-
231 Sebbar, S. 33–35. 232 Ebd., S. 37.
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hielt, war nicht immer eine parteipolitische Frage. Zwar waren es in der Mehrheit kommunistisch regierte Kommunen, die sich im Zeichen einer internationalen Solidarität für den verstärkten Zuzug von Arbeitsmigranten einsetzten. Doch gab es andere, die die mangelnde Solidarität wohlhabender Kommunen kritisierten, und sich mit genau diesem Argument gegen einen erhöhten migrantischen Zuzug wehrten.233 Auffallend viele Wohngesellschaften und Kommunen bemühten sich um eine Begrenzung des Zuzugs migrantischer Haushalte, betrachteten aber zugleich den in vielen Großsiedlungen wachsenden Leerstand als ein Problem.234 Das führte dazu, dass sich letztlich massiv unterschied, wo vor allem algerische und marokkanische Migrantinnen und Migranten in den 1970er und 1980er Jahren Zugang zu Sozialwohnungen erhielten und wo er ihnen verschlossen blieb.235 Die Politik der Quotierung, im Namen einer ethnischen Durchmischung urbaner Viertel formuliert, ging de facto mit unterschiedlichen Konzentrationen einher. b) Die Politik der Integration durch Verteilung in westdeutschen Städten Städtische Integrationspolitiken bestanden in der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre aus einem ganzen Set von Maßnahmen. Zu diesen Maßnahmen gehörte das verstärkte Bemühen um »Durchmischung« und »Verteilung« migrantischer Haushalte im urbanen Raum, etwa mit Hilfe von Zuzugssperren. Die Gleichsetzung von räumlicher Konzentration und Desintegration blieb in dieser Zeit eine zentrale Leitlinie kommunaler Wohnpolitiken und unterfütterte politische Forderungen nach einer staatlichen Regulierung des migrantischen Wohnens. München war Anfang der 1970er Jahre so nicht die einzige Stadt, die diskutierte, in sogenannten überlasteten Vierteln Zuzugsbeschränkungen für Ausländer zu erlassen. Der Westberliner Senat erließ Ende 1974 eine solche Sperre und ließ sie bis 1990 bestehen.236 Im Hamburger Senat wurde sie rege diskutiert und dann in eine Vergabesperre von öffentlich vergebenen Wohnungen in Hamburg-Wilhelmsburg überführt.237 Diese Sperren wurden in allen drei Städ233 Weil. Zu den unterschiedlichen Strategien der HLM-Gesellschaften siehe v. a. Oblet, S. 212 f. Oblet beschreibt eine sinkende Bedeutung der linken Wählerschaft in den ehemaligen banlieues rouges und geht von einem auch dort im Laufe der 1980er Jahre zunehmenden »kommunalen Egoismus« aus. Ebd., S. 215 f. 234 Siehe dazu auch aus kommunalpolitischer Sicht: Dubedout, S. 52 ff. 235 Zur Bedeutung lokaler Unterschiede siehe auch Byrnes. Siehe zu den unterschiedlichen regionalen Verteilungen heute, hier mit Blick auf die sogenannte »arabomuslimische Bevölkerung« auch die Kartierungen in Fourquet, S. 143–147. 236 Lanz; Münch, S. 336. Siehe zu den Sperren auch Borgmann u. Templin. 237 Einzelne Stadtteile für Ausländer sperren? Senator Weiß warnt vor künftigen Slums und Gettos, in: Hamburger Abendblatt, 06.12.1973; Ausländer-Flut strömt in die City, in: Hamburger Abendblatt, 15.11.1974. Siehe hierzu auch Karakayali, S. 158f; Der Senat entschied sich 1977 für den Versuch einer »Entballung« der ausländischen Bevölkerung mit Hilfe wohnpolitischer Maßnahmen. Borgmann u. Templin.
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ten mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass die konzentrierte Ansiedlung ausländischer Haushalte der Bildung von »Ghettos« Vorschub leiste. Darüber hinaus bemühten sich einzelne Kommunen darum, Höchstquoten für die Vergabe von Sozialwohnungen an ausländische Mieter festzusetzen.238 Diese auf kommunaler Ebene unternommenen Vorstöße überlagerten sich auf Bundes- und Länderebene mit dem Versuch, den Zuzug in bestimmten Gebieten zu begrenzen. Bereits 1973 hatte die Bundesregierung in ihrem »Aktionsprogramm für Ausländerbeschäftigung« erklärt, die Zulassung ausländischer Arbeitnehmer in »überlasteten Siedlungsgebieten« von der »Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur« dort abhängig machen zu wollen.239 Daran anknüpfend, traten im April 1975 bundesweit regionalisierte Zulassungsbeschränkungen in Kraft.240 Ob ein Gebiet als »überlastet« galt oder nicht, hing laut dieser Anordnung von dem Anteil ab, den ausländische Bewohnerinnen und Bewohner an einem bestimmten Stichtag an der Wohnbevölkerung eines Landeskreises oder einer kreisfreien Stadt einnahmen. Städte und Landkreise mit einem Ausländeranteil von mindestens 12 % wurden für den Zuzug ausländischer Arbeitnehmer gesperrt. Der Großteil der von dieser Regelung betroffenen Gebiete befand sich in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, wobei die bayerische Landesregierung die Anordnung besonders großzügig auslegte und auch Kreise und Städte einbezog, in denen der Anteil unter 12 % lag.241 Tatsächlich sah die auf Bundes- und Länderebene erlassene Regelung solche Kannzonen vor: Selbst wenn die angesetzte Quote von 12 % in einem Kreis nicht erreicht war, konnte die zuständige Verwaltung geltend machen, dass die soziale Infrastruktur dort gleichwohl überlastet war, und eine Sperre beantragen. Die Stadt Köln etwa stellte 1976 einen solchen Antrag, dem das Land Nordrhein-Westfalen auch stattgab. Die Zuzugsbeschränkungen bedeuteten eine Einschränkung der Freizügigkeit. Beantragten ausländische Staatsangehörige eine neue Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis, trug die zuständige Behörde einen Sperrvermerk für die betroffenen Gebiete ein; ihnen war damit nicht erlaubt, dort hinzuziehen. Allerdings betrafen die Zulassungsbeschränkungen nicht alle Nicht-Deutschen in gleicher Weise. EG-Angehörige waren davon ausgenommen, Schweizer auch. Gleiches galt für ausländische Staatsangehörige, die mit einer oder einem Deutschen ver-
238 Frankfurt am Main etwa legte 1974 fest, dass für eine »sozialverträgliche Belegung« der Anteil an Ausländern 30 % nicht überschritten werden durfte, und West-Berlin forderte 1979, 10 % des Sozialwohnungsbestands für ausländische Mieter zu öffnen. Lanz, S. 104; Münch, S. 341. 239 Aktionsprogramm für Ausländerbeschäftigung, in: Arbeit und Sozialpolitik 27 (1973), S. 183 sowie ebd., S. 181–186. 240 LV NRW R, NW 670, Nr. 53, Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, 22.10.1974, Regulierung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer in überlastete Siedlungsgebiete. 241 Rudloff, S. 439.
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heiratet waren, sowie für solche, die über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügten. Anders als die auf städtischer Ebene – wie maßgeblich in Berlin – etablierten Zuzugssperren für bestimmte Viertel blieben die für ganze Regionen erlassenen Beschränkungen nicht lange bestehen, sie wurden 1977 wieder abgeschafft.242 Die in Westberlin für eine Reihe von Bezirken verhängten Zuzugssperren blieben hingegen bis Ende der 1980er Jahre in Kraft. Auch diese Zuzugssperren betrafen nicht alle Nichtdeutschen in gleichem Maße, sondern in erster Linie griechische, türkische und spanische. Mitte der 1970er Jahre wohnte in Westberlin beinah die Hälfte der ausländischen Bevölkerung in Kreuzberg, Tiergarten und im Wedding; eine Topographie, die eng mit den Dynamiken der städtischen Sanierungspolitik verknüpft war.243 Die Sperren stellten dort vor allem Haushalte vor Probleme, die sich im Anschluss an den Anwerbestopp um einen Familiennachzug bemühten.244 Holten Eheleute ihre Partner oder Kinder nach, wurde es denen durch die Sperren erschwert, in die betroffenen Viertel zu ziehen. Die Sperren zu umgehen, war durchaus möglich; etwa, indem die Familien zum Schein Wohnungen in anderen Bezirken anmieteten, doch bewegten sie sich mit solchen Strategien rechtlich in einem Graubereich. Wie ambivalent sich die Umsetzung dieser Praxis selbst aus kommunalpolitischer Sicht gestaltete, wird unter anderem daran deutlich, dass ein Vertreter des Berliner Innensenators gegenüber Vertretern der Länder 1976 eher verhalten über die Zuzugssperren berichtete und auf die zahlreichen »praktischen Probleme« damit verwies. Zu diesen Problemen gehörte, dass der für migrantische Haushalte zugängliche Wohnungsmarkt begrenzt war.245 Zwar waren die Wohnungsbaugesellschaften angehalten, 10 % ihrer Bestände für Ausländer zu öffnen, doch waren diese Wohnungen im Schnitt teurer als die in städtischen Sanierungsgebieten; wenn denn die Wohnungsbaugesellschaften der Aufforderung überhaupt nachkamen. Der Berliner Vertreter gab selbst zu, dass es damit für die Betroffenen an Ausweichmöglichkeiten mangelte. Die Zuzugssperre wurde in Berlin dennoch bis Ende der 1980er Jahre aufrechterhalten, obwohl 242 Die 49. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder hatte sich in ihrer Sitzung am 25.04.1977 einstimmig für die Aufhebung der Zuzugsregelung ausgesprochen. Auslöser war ein Vertrag, den der Assoziationsrat der EG mit der Türkei abgeschlossen hatte und der für türkische Arbeitnehmer, die seit fünf Jahren in der Bundesrepublik beschäftigt waren, deren freien Zugang zum Arbeitsmarkt vorsah. LAV NRW R, NW 670, Nr. 54, Richtlinien zur Regulierung des Zuzugs ausländischer Arbeitnehmer in überlastete Siedlungsgebiete, Schnellbrief, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 05.05.1977. 243 Thomsen Vierra, S. 69 244 Münch, S. 339. 245 Man habe daher bereits überlegt, in anderen »sanierungsverdächtigen Gebieten« Wohnungen für Ausländer zu schaffen, indem man den deutschen Mietern dort den Anreiz biete, in bessere, öffentlich geförderte Wohnungen umzuziehen, hieß es. LAV NRW R, NW 670, Nr. 53, Ergebnisprotokoll der Sitzung des Länderausschusses, 11.06.1975, Bericht eines Vertreters des Berliner Innensenators.
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wiederholt Zweifel an deren Legalität und Effizienz aufkamen.246 Es liegt nahe anzunehmen, dass die Maßnahme ohnehin an erster Stelle als Abschreckungsmaßnahme gedacht war. Wie auch die Quotierungen im französischen Sozialen Wohnungsbau waren die Zuzugssperren Teil einer Politik der Integration durch Verteilung, die sich in den 1970er und 1980er Jahren zu einem unbestrittenen Dispositiv der westdeutschen Wohnpolitik entwickelte. Diese Politik verband sich um 1980 allerdings mit einer verstärkten Aufmerksamkeit für kulturelle Differenzen und neuen Bedenken hinsichtlich ihrer Folgen. Auf einem tendenziell essentialisierenden Kulturbegriff fußend, wurde von unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Gruppen angenommen, dass sie – kulturell bedingt – weniger »integrationsfähig« waren.247 Einigen wurde unter Verweis auf ihre »fremde Kultur« eine Integrations- oder Assimilationsfähigkeit gänzlich abgesprochen.248 Ein charakteristisches Beispiel für diese Kulturalisierung des Integrationsdiskurses war eine Grundsatzrede, die der CDU-Politiker Alfred Dregger, zu jener Zeit Fraktionsvorsitzender seiner Partei, 1982 im Bundestag hielt. Dregger plädierte dafür, zwischen unterschiedlichen Stufen der Integrationsfähigkeit zu unterscheiden, je nachdem wie »nah« oder »fern« die Betreffenden Deutschland standen. Als besonders nah betrachtete Dregger »deutschstämmige«, »christliche«, »europäische« Ausländer. »Türken« (die er selbst nicht zu den »europäischen Ausländern« zählte) sprach Dregger aufgrund ihrer Kultur und Mentalität ebenso die Fähigkeit zur Integration oder Assimilation ab wie Menschen aus »afrikanischen« oder »asiatischen Kulturkreisen«.249 Im Zusammenhang mit einer solchen Doktrin der »Integrationsunfähigkeit allzu fremder Kulturkreise« hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Link unter Bezug auf Etienne Balibar von einer neorassistischen Struktur gesprochen.250 Kennzeichnend dafür sind aus Links Sicht eine »Mischungs-Phobie« und ein »genealogisches Herkunftsdenken«. Ein Herkunftsdenken also, das davon ausgeht, dass Menschen in ihrem Verhalten, ihrer Kultur und Mentalität derart bleibend durch ihre Herkunft geprägt sind, dass sie nicht zur Integration und damit zur Änderung ihres Verhaltens fähig sind: »Die genealogische Markierung der Individuen kann biologistisch oder kulturalistisch erfolgen, entscheidend ist die behauptete Dominanz der Genealogie über Intentionen und Willen der Individuen (›integrationsunfähig‹ statt ›integrationsunwillig‹).«251
246 Siehe den Hinweis auf mehrere ablehnende Oberlandesgerichtsurteile bei Lanz. 247 Siehe dazu auch Chin, Guest Worker, v. a. S. 89 ff. 248 Morgenstern, S. 285; Herbert, Ausländerpolitik, S. 240; Lanz; Schönwälder, Migration. 249 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 9. WP., Sitzung vom 04.02.1982, S. 4891–4895. Nach Schönwälder, Migration, S. 119. 250 Link, Normalismus. 251 Ebd., S. 719. Siehe dazu auch Lanz, S. 83, Ha, S. 54 f. Ha spricht von einer gleichzeitigen Kulturalisierung des Rasse- und einer Naturalisierung des Kulturbegriffs.
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Auffallend ist jedenfalls, dass eine begrenzte »Integrationsfähigkeit« ethnischkulturell definierter Gruppen nicht nur in stadtpolitischen Debatten vermehrt als eine zentrale Herausforderung angeführt wurde, die Handlungsbedarf erforderte. Während der überwiegende Teil der westdeutschen Bevölkerung migrationspolitische Restriktionen und eine Rückkehr der im Land befindlichen Migranten zu befürworten begann und Überfremdungsszenarien in den frühen 1980er Jahren vermehrt zirkulierten, wurden diese Positionen immer wieder unter Verweis auf die Assimilations- oder Integrationsunfähigkeit bestimmter Herkunftsgruppen gerechtfertigt.252 Ihre Politik der Rückkehrförderung und Zuzugsbegrenzung begründete die Bundesregierung Anfang der 1980er Jahre so unter anderem, indem sie auf Gruppen verwies, die »zu unserer Kultur in größerer Distanz« stünden. Auch warnte sie vor dem Erreichen einer Schwelle, ab der »das Unbehagen beträchtlicher Teile der deutschen Bevölkerung in offene Abwehrhaltung umschlage«.253 Sozialwissenschaftliche Studien, die unterschiedliche Migrantengruppen kulturell einordneten und daran orientiert auf ihre Integrationsfähigkeit hin befragten, trugen zur Festigung eines solchen Integrationsverständnisses auch in stadtpolitischen Kreisen bei.254 Im Wechselspiel mit einer mehrheitlich anwendungs- und politikorientierten Auftragsforschung, die sich um »das Problem der Migration« gruppierte, gingen auch kommunalpolitische Akteure um 1980 verstärkt von Unterschieden in der Integrierbarkeit ethnisch-kultureller Gruppen aus. Während der Multikulturalismus urbaner Bevölkerungen in der Stadtpolitik einerseits als neues Asset diskutiert und inszeniert wurde,255 wurden Zweifel an der Integrationsfähigkeit migrantischer Gruppen andererseits vermehrt in einer Sprache der (zu großen) kulturellen Differenz formuliert. Als beispielsweise der Berliner Senat 1979 in seinen »Leitlinien und neuen Maßnahmen zur Ausländerintegration« integrative Maßnahmen ebenso anvisierte wie eine Beschränkung des Zuzugs, begründete er das unter anderem mit einer durch »räumliche Konzentration« ausbleibenden Integration.256 Dabei unterschied der Senat zwischen unterschiedlichen Gruppen und unterstellte Türken unter Verweis auf deren »kulturelle Distanz« die größten Integrationshemmnisse.257 Die kommunalpolitischen Akteure konnten dabei auf einen rasch wachsenden 252 Das galt auch für die Anfang der 1980er Jahre in zunehmend scharfem Ton geführte Asyldebatte. Herbert, Ausländerpolitik; Poutrus. 253 Zitiert nach Hunn, S. 461. Die Kulturalisierung des Integrationsdiskurses und die Ausrufung von Grenzen der Integrierbarkeit war dabei nicht auf ein spezifisches politisches Milieu begrenzt. Morgenstern; Schönwälder, Migration, S. 114. 254 Siehe diesen Hinweis auch bei Espahangizi sowie zur zunehmenden »Kulturorientierung« der »Ausländerforschung« allgemein Treibel. Zum starken Anwendungsbezug der »Ausländerforschung« in der Bundesrepublik siehe zudem Kürsat-Ahlers; Nieswand u. Drotbohm. 255 Zur Forderung nach einer postkolonialen Perspektive auch auf den Multikulturalismus siehe wiederum Ha. 256 Lanz, S. 72 f. 257 Ebd., S. 73.
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Fundus an sozialwissenschaftlichen »Ausländerstudien« zurückgreifen.258 Deren konkrete Ergebnisse divergierten, doch einte die meisten Studien, dass sie die Wohnbevölkerung jeweils in unterschiedliche ethnisch-kulturelle oder -religiöse Gruppen unterteilten, um sie dann auf Unterschiede in ihrer Integriertheit oder Fähigkeit zur Integration hin zu befragen. Nur wenige Autoren kritisierten das migrationspolitische Integrationsdispositiv.259 Während in den frühen 1970er Jahren noch die Gegenüberstellung von »Ausländern« versus »Deutschen« dominierte, gewann damit in den 1980er Jahren eine Hierarchisierung der Migrantinnen und Migranten anhand ihrer Herkunft, Kultur und Religion an Bedeutung, die mit der Warnung vor sich abzeichnenden kulturellen Konflikten einherging. Zwar hatte die zunehmende Kulturalisierung des Migrationsdiskurs auf kommunaler Ebene auch Versuche der positiven Feier kultureller Differenz zur Folge, die allerdings oftmals folkloristische Züge trugen.260 Doch schien sich diese multikulturelle Orientierung weniger im Widerspruch als im engen Wechselspiel mit der Exklusion von als kulturell zu fremd definierten Gruppen zu entwickeln. c) Postkoloniale Grenzziehungen? Vergleichende Überlegungen Ähnlich wie in Frankreich bemühten sich auch die westdeutschen Kommunalpolitikerinnen und -politiker um eine Kontrolle des migrantischen Wohnens. Im Fokus ihrer Politik standen dabei im einen wie im anderen Fall spezifische Gruppen: algerisch-muslimische Migranten im französischen und türkischmuslimische im westdeutschen Fall.261 Im französischen Fall lässt sich diese Fokussierung eindeutiger als das beschreiben, was Ann Laura Stoler – auf der Suche nach Alternativen zum Begriff des »Postkolonialen« – als »imperial durabilities« bezeichnet hat.262 Schließlich knüpften die Politiken zur Kontrolle des migrantischen Wohnens in Frankreich oftmals direkt an koloniale Traditionen an, und zwar sowohl institutionell und personell als auch konzeptionell, mit Blick auf die Vorstellungen und Kategorisierungen, die dort handlungsleitend wurden. Zugleich griff auch im deutschen Fall die häufige Assoziation gerade türkischer Communities mit einem ländlichen Traditionalismus eine lang 258 Im Berliner Fall etwa wurden Ende der 1970er Jahre eine ganze Reihe solcher Studien in Auftrag gegeben, die alle in einer Reihe herausgegeben wurden, die den Titel »Ausländerintegration« trug. Siehe in diesem Zusammenhang u. a. Elsas sowie dazu auch Lanz, S. 82 f. 259 Für eine kritische Sicht siehe u. a. die allerdings nur in Teilen wissenschaftlichen Beiträge in Bayaz. Vgl. auch die 1980 publizierte Ausgabe des Kursbuches mit dem Titel »Vielvölkerstaat Bundesrepublik«. 260 Bahl u. a. 261 Allerdings weist Severin-Barboutie auch darauf hin, dass sich in den 1960er Jahren etwa in Lyon der Blick auf Migranten erweiterte und damit auch häufiger von den Großkategorien »étrangers« oder »migrants« ausgegangen wurde. Severin-Barboutie, Stadt, S. 242. 262 Stoler.
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etablierte imaginäre Geographie auf, die zwischen einem europäischen, christlichen, zivilisierten Okzident und einem islamischen, ländlichen, rückständigen Orient unterschied. Während politische und wissenschaftliche Akteure in beiden Ländern die Grenzen der Integrationsfähigkeit französischer und westdeutscher Städte ausriefen, machten sie jedenfalls die Grenze zwischen Integrationsfähigen und Integrationsunfähigen zunehmend zu einer Frage kultureller oder in Teilen religiöser Differenz und des Unterschieds zwischen Europäern und Nicht-Europäern, Christen und Muslimen.263 Diese Verschiebungen standen allerdings mutmaßlich nicht nur in einer kolonialen Tradition, sondern sie spiegelten auch den zunehmenden Einfluss von EWG bzw. EU wider. Während sich wachsende Teile der deutschen und französischen Bevölkerung zumindest unter anderem als europäisch imaginierten und zeitgleich der asylbedingte und postkoloniale Zuzug aus Regionen jenseits Europas zunahm, verschob sich die Grenzziehung zwischen Außen und Innen, denen und uns. In beiden Fällen leiteten quantitative Logiken die mit diesen Problematisierungen verknüpften Wohn- und Verteilungspolitiken an. Für Frankreich und Westdeutschland galt das in ähnlicher Weise. Allerdings dienten unterschiedliche Räume als Bezugspunkt für die in beiden Ländern artikulierte Warnung vor einem Überschreiten der Toleranzschwelle der ansässigen Bevölkerung: Im französischen Fall dienten dazu quasi durchgehend vorstädtische Großsiedlungen, im westdeutschen Fall quasi durchgehend innerstädtische Sanierungsgebiete. Außerdem wurden die Auswirkungen ethnischer Konzentrationen in beiden Ländern tendenziell unterschiedlich gerahmt. In Westdeutschland lenkten die Zuzugssperren und die daran geknüpften Diskussionen den Blick maßgeblich auf die Wohnentscheidungen und den Grad der Integriertheit »der Migranten«.264 Die in Frankreich gängige Rede von »Toleranzschwellen« fokussierte hingegen stärker die französische Mehrheitsgesellschaft, deren Widerstände gegen zu viele nicht-französische Bewohner auf diese Weise als eine wissenschaftlich beglaubigte Tatsache eingeordnet (und tendenziell gerechtfertigt) wurden. Als die konservative Tageszeit »Le Figaro« im Juli 1981 über Spannungen in dem von Hochhaussiedlungen dominierten Norden von Marseille berichtete,265 bildete die Zeitung dazu ein Foto ab, das einen Mann mit Kind an der einen Hand und Baguette in der anderen zeigte, und unterschrieb es mit dem Satz »Le seuil de tolérance est largement dépassé dans les cités nord de la ville«: »Die Toleranzschwelle in den nördlichen cités der Stadt ist weitgehend überschritten«. Bereits in der Überschrift charakterisierte die Zeitung die betroffenen Quartiere 263 Das Begriffsfeld der »fremden Zuwanderung«, erklärt Angenendt, sei in beiden Ländern zunehmend für Nicht-EG-Herkunftsgebiete verwendet worden. Angenendt, S. 313. 264 Münch, S. 341. 265 »Dans les quartiers à forte densité maghrébine la situation devient explosive ». MarseilleNord sous haute tension, in : Le Figaro, 07.07.1981.
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dann über den hohen Anteil an maghrebinischen Bewohnern und führte Beschwerden über Jugendbanden und die alltägliche Kriminalität in den Quartieren an. Dabei stellte der Verfasser vor allem zwei Gruppen einander gegenüber: die wiederholt als »Marseillais« und damit Einheimische gekennzeichneten Anwohner der randstädtischen Siedlungen und die »emigrés«, die Emigrierten. Das Verhältnis beider beschrieb die Zeitung als konflikthafte Konfrontation »zweier Zivilisationen«. Ein Ausdruck von Rassismus schienen ihr die lokalen Konflikte indes nicht zu sein. Eher sah sie darin die unausweichliche Folge eines falschen Mischungsverhältnisses: »Krankt Marseille am Rassismus? Nein. Aber in bestimmten Arbeiterquartieren wurde die von Soziologen festgesetzte Toleranzschwelle von 12 % mehr als doppelt überschritten.«266 Obwohl de facto, wie gezeigt, unter Soziologen die »Toleranzschwelle« als wissenschaftlich beglaubigtes quantifizierbares Maß umstritten war, zog die Presse sie immer wieder als soziologisch beglaubigte »Tatsache« heran, um vor dem Ausbruch von Konflikten zwischen »Einheimischen« und »Immigranten« bzw. noch häufiger zwischen »Maghrebinern« und Anderen zu warnen. Etwaig auftretende Spannungen wurden über den Bezug auf die »Toleranzschwelle« als erwartbare, quasi-gesetz mäßige Abwehrreaktionen gerahmt. Dass es eine quantifizierbare Schwelle gab – einen benennbaren Prozentsatz an aushaltbarbarer Fremdheit, der nicht überschritten werden durfte – diese Annahme dominierte auch in den westdeutschen Migrationsdebatten. Für den verschärften Ton dieser Debatten Anfang der 1980er Jahre war kennzeichnend, dass Heinz Kühn, SPD, kurz zuvor noch Beauftragter der Bunderegierung für Ausländerintegration, 1981 in einem Interview die »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« für die Bundesrepublik ausrief.267 Noch 1979 hatte Kühn im sogenannten »Kühn-Memorandum« deutlich früher als andere die Bundesrepublik als Einwanderungsland beschrieben und gesellschaftspolitische Maßnahmen vorgeschlagen, die dieser Tatsache besser gerecht werden sollten.268 In einem Interview, das die Illustrierte »Quick« dann zwei Jahre später mit ihm führte, war der Tenor ein etwas anderer. Gleich eingangs versuchte das Magazin, den Ton des Gesprächs zu bestimmen, indem es als Inbegriff für die aktuelle Migrationssituation die Zunahme »fremder Räume« in deutschen Städten anführte: »Unter uns leben 4,5 Millionen Ausländer. In einigen Vierteln bundesdeutscher Großstädte hört man mehr ausländische Laute als deutsche. Droht uns die Überfremdung?«269 Kühn antwortete, indem er für verschiedene Städte den Anteil der Ausländer an der Gesamteinwohnerzahl aufzählte und bestätigte, die »Mög266 Ebd. 267 H. Kühn, Mehr Ausländer können wir nicht aufnehmen, in: Quick, 15.01.1981, S. 12. 268 »Es muss anerkannt werden, dass hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist und die soziale Verantwortung gegenüber den heute […] in Deutschland lebenden und einstmals in der Mehrzahl gezielt ›angeworbenen‹ Menschen und ihren Kindern nicht eine Variable der jeweiligen Arbeitsmarktlage sein kann.« Kühn, S. 2. 269 H. Kühn, Mehr Ausländer können wir nicht aufnehmen, in: Quick, 15.01.1981, S. 12.
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lichkeiten, Ausländer aufzunehmen« seien »erschöpft«. Am Ende des Interviews auf die erhöhte Zahl an Asylbewerbern sowie die zunehmende Ausländerfeindlichkeit im Land angesprochen, antwortete Kühn, die Deutschen seien »nicht mehr, aber auch nicht weniger ausländerfeindlich als beispielsweise Franzosen oder Engländer«. »Übersteigt der Ausländeranteil die Zehn-Prozent-Marke, dann wird jedes Volk rebellisch.«270 Es ist die Frage, warum es in beiden Ländern der eigenartig arbiträr wirkende, inhaltlich in der Regel nicht begründete Prozentsatz von 10, 12 oder 15 % war, der in den Massenmedien und der Politik immer wieder, meist unter Verweis auf die Sozialwissenschaften, als Schwelle des tolerierbaren Fremden angeführt wurde. Es liegt nahe anzunehmen, dass der in den 1950er Jahren von Otis und Beverly Duncan in die US-amerikanische Segregationsdebatte eingeführte und von Grodzins und Schelling aufgegriffene tipping point eine Art transatlan tische Irrfahrt angetreten hatte und nun durch die westeuropäischen Stadtdebatten geisterte. Schon mit Blick auf die amerikanische Segregationsforschung der 1950er und 1960er Jahre ließe sich argumentieren, dass deren in der Regel binäre Einteilung der Diversität der Stadtbevölkerung kaum angemessen war. Für die westeuropäischen Städte und die dortigen Warnungen vor Ghettoisierung und Segregation galt das ebenfalls: über den Sinn (oder die Eindeutigkeit) der Einteilung der Wohnbevölkerung in Inländer und Ausländer wurde in der Öffentlichkeit vergleichsweise wenig diskutiert. Hinzu kam, dass das wohnpolitische Dispositiv einer Integration durch Verteilung in der Regel mit dem Argument begründet wurde, das dichte Zusammenleben in Ausländerquartieren wirke desintegrierend, weil die Betreffenden zu sehr »unter sich« blieben. Einmal davon abgesehen, dass in den aktuellen Sozialwissenschaften diese Annahme deutlich umstrittener ist als sie es noch in den 1980er Jahren war, wurde lange Zeit kaum diskutiert, was »unter sich sein« eigentlich hieß. Gemessen an der Herkunft ihrer Wohnbevölkerung waren weder die periurbanen französischen Hochhaussiedlungen noch die gerne als Ausländerviertel beschriebenen Sanierungsgebiete westdeutscher Städte ethnisch homogen. Sie waren vielfach sogar auffallend durchmischt. Hinzu kam, dass in gerade diesen Räumen oftmals Angehörige der unteren Schichten lebten, die zwar französische oder westdeutsche »Inländer« waren, in der Regel aber selbst marginalisiert, desintegriert oder exkludiert, während wiederum ein Teil der lokalen migrantischen Bevölkerung keineswegs einkommensschwach oder vom Arbeitsmarkt oder lokalen Nachbarschaftsleben ausgeschlossen war. Solche Unterschiede, Hybriditäten und Ambivalenzen vermochte die binäre Logik urbaner Segregationsnarrative in Frankreich und Westdeutschland nicht zu erfassen. Überhaupt war insbesondere in Frankreich auffallend, dass »Klasse« und Ethnie bis in die 1990er Jahre hinein meist nicht als einander ergänzende oder miteinander verschränkte Differenzkategorien behandelt wurden, sondern von ihnen stets im Modus des entweder / oder gesprochen wurde. So erklärt sich 270 Ebd.
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auch, dass als die urbane Konfliktlinie schlechthin dort seit den 1980er Jahren immer wieder die zwischen »den Immigranten« und »den classes populaires« gezeichnet wurde, obwohl viele Migranten aufgrund ihrer Arbeitsbiographien durchaus auch der Arbeiterklasse oder den unteren Schichten hätten zugeschlagen werden können.
4.4 banlieues à problèmes: Die Hyperlokalisierung der sozialen Frage in Frankreich zwischen question sociale und question raciale Die banlieues der französischen Städte bilden aktuell einen ermüdend überfrachteten Raum. Die peripheren Hochhaussiedlungen werden für eine ganze Phalanx an gesellschaftlichen Problemen und politischen Fehlentwicklungen der vergangenen vierzig Jahre herangezogen. Sie gelten als Arenen einer im Zeitalter des globalisierten Finanzkapitalismus voranschreitenden Prekarisierung und als Schauplätze einer im Postfordismus wachsenden urbanen Ungleichheit. Auf ihnen lasten die Schatten von Frankreichs kolonialer Vergangenheit ebenso wie ihnen ein Scheitern der modernen Stadtplanung, eine Neoliberalisierung der Sozialpolitik oder ein Fehlschlagen der französischen Integrationspolitik angelastet werden. Politische Problemanalysen und Krisenszenarien jedweder Couleur finden anscheinend in den französischen Vorstadtsiedlungen ihren Bestätigungsraum. Angesichts dessen ist kaum verwunderlich, dass immer mehr Kommentatorinnen und Kommentatoren über die Siedlungen im Modus des Außerordentlichen reden und sie mit Formen der extremen Relegation, der fortgeschrittenen Marginalität, Hypermarginalisierung oder Hyperlokalisierung assoziieren. Die Entwicklung der Vorstädte zu den urbanen Problemzonen schlechthin ist allerdings kaum allein ein Ergebnis der ökonomischen und sozialen Transformationen seit den 1970er Jahren. Die peripheren Hochhaussiedlungen sind nicht allein das Produkt einer wachsenden Arbeitslosigkeit oder Rückbaus an sozialstaatlichen Leistungen. Sie sind vielmehr auch das Ergebnis von Deutungsphänomenen und ihren Effekten. Wirklich verständlich wird das aktuelle Image »der banlieue« nur, wenn es auch als ein Ergebnis der wiederholten Kritik am modernen Massenwohnen verstanden wird. Dabei verlief die Stilisierung der Großsiedlungen zu schlechten Vierteln in unterschiedlichen Wellen: Eine erste, um 1960 einsetzende Welle ihrer skandalisierenden Heimsuchung durch Sozialwissenschaftler und Journalisten mündete in den frühen 1970er Jahren im vermehrten Fortzug der Mittelschichten und einer veränderten Städtebaupolitik. Dann ließ die öffentliche Aufmerksamkeit vorübergehend nach, bis Anfang der 1980er Jahre eine zweite Welle der intensiven medialen wie politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung einsetzte, die um 1990 nochmals deutlich an Umfang gewann. Nachdem in verschiedenen Siedlungen Unruhen aus290
gebrochen waren, über die in der Presse rege berichtet wurde, war in Soziologie, Politik und Medien immer häufiger von den »problematischen Vorstädten« die Rede. Und während sich in den peripheren Siedlungen die Folgen von Deindustrialisierung und Sozialabbau verdichteten, rückte im Laufe der 1980er Jahre zunehmend »der arabische Jugendliche« als zentrale Risiko- und Problemfigur in den Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Siedlungen. Medialisierte Aufruhrereignisse waren im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert häufig Kristallisationspunkte der verdichteten Beschäftigung mit der herrschenden sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung, in denen sich neue Narrative und Politiken durchsetzen.271 Unruhen wie die »Race Riots«, die 1967 in verschiedenen US-amerikanischen Städten ausbrachen, wie die Londoner Brixton Riots von 1981 oder die Los Angeles Riots von 1982 gingen mit einer veränderten Ausübung staatlicher Gewalt und einer Beschneidung ziviler Rechte durch Polizei und Militär einher. Vor allem aber lösten die Unruhen eine rege Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bedrohungszuständen aus. Vom Bericht der US-amerikanischen Kernerkommission im Anschluss an die Unruhen von 1967 bis hin zum sogenannten »Scarman Report« in Reaktion auf die britischen Brixton Riots: Der Ausbruch urbaner Gewalt verstärkte in der Politik und auch in den Sozialwissenschaften die Suche nach neuen Lösungsansätzen und Deutungen gesellschaftlicher Konflikte. Das war auch bei den französischen Vorstadtunruhen von 1981, 1990 und 2005 der Fall. Erklärten sich die unterschiedlichen Beobachter der Vorstädte deren Krise Anfang der 1980er Jahre noch eher über materielle Probleme und die Folgen der Deindustrialisierung, wurden Anfang der 1990er Jahre vermehrt ethnisch-kulturelle oder rassifizierte Differenzen zur Erklärung lokaler Probleme herangezogen. Eine zuvor dominierende »Klassenerzählung« wurde schrittweise durch eine »Rassenerzählung« abgelöst. Diesem Prozess und seinen Effekten widmen sich die folgenden beiden Unterkapitel, angefangen mit einer Analyse der sich wandelnden soziologischen Beschreibung der Vorstadtsiedlungen in den 1980er Jahren. Denn tatsächlich war deren weitere Entwicklung zu einer Art nationalem Krisenraum unter anderem dadurch beeinflusst, wie soziologische Akteure dort ihre Thesen zu einer fundamentalen Krise der französischen Gesellschaft als Klassen- und Industriegesellschaft entwickelten. Wenige Wochen nachdem mit François Mitterand ein neuer sozialistischer Präsident in den Elysée-Palast eingezogen war, brachen im Sommer 1981 in der weiteren Peripherie von Lyon urbane Unruhen aus. In der Großsiedlung Les Minguettes brannten die Autos, und es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und Polizei, die nationsweit Aufmerksamkeit erregten. Gut ein Jahr später begann eine Gruppe von Soziologinnen und Soziologen mit den Bewohnern der Siedlung Kontakt aufzunehmen. Knapp zwei Jahre später 271 Body-Gendrot; Hörnqvist.
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mietete das Team in Les Minguettes eine Wohnung an und zog dort ein.272 Die Forschenden wollten in erster Linie mit den Jugendlichen des Viertels ins Gespräch kommen, bevorzugt mit solchen aus den unteren Schichten. Deren Marginalisierung war der Gegenstand ihres Projekts, sie wollten sie erkunden. Darüber hinaus hoffte die Equipe, die interviewten Jugendlichen im Rahmen einer sogenannten soziologischen Intervention zur Selbstkritik anzuhalten. Ebenso wie zeitgleich in fünf anderen Siedlungen organisierten die Soziologen daher Gruppengespräche in Les Minguettes. Sie brachten die Jugendlichen mit Sozialarbeitern und Abgeordneten, Polizisten und Lehrern aus der Region zusammen und hofften, sie auf diese Weise zur Reflexion der eigenen Lage zu animieren.273 In Paris an der EHESS am neu gegründeten Centre d’analyse et d’intervention sociologiques, kurz CADIS, angesiedelt, wurde das Projekt von dem Soziologen François Dubet geleitet. Die Arbeit der Equipe um Dubet erwies sich als bemerkenswert einflussreich. Ihre Forschung in Les Minguettes und den anderen Siedlungen bildete den Ausgangspunkt für eine Reihe von durchweg tonangebenden soziologischen Analysen der französischen Vorstädte.274 Das fing mit einer von Dubet verfassten, viel verkauften und zitierten jugendsoziologischen Studie an, die den (kaum übersetzbaren) Titel »La galère« trug und erstmals 1987 erschien.275 Weitere Monographien von Adil Jazouli und Didier Lapeyronnie folgten.276 Auch war es dem damals nicht ganz 30-jährigen Adil Jazouli gelungen, in den Siedlungen Kontakte zu etablieren, die er in den folgenden dreißig Jahren immer wieder für Forschungsprojekte und politische Initiativen reaktivierte. Jazouli entwickelte sich zu einem von staatlicher Seite oft hinzu gezogenen Experten für die Vorstädte und diente zugleich vielen lokalen Initiativen als wichtiger Ansprechpartner.277 Ähnliches galt für Dubet und Lapeyronnie: Nachdem ihr Marginalitätsprojekt Anfang der 1980er Jahre im 272 Dubet, La galère, S. 570; ders., L’expérience, S. 30. Siehe auch den Tätigkeitsbericht von François Dubet in: Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport sur les activités, l’organisation et le programme, 1981/1982, Recherche sur la Marginalité et la Déviance. 273 Abgesehen von Les Minguettes bildeten die Soziologen in Orly, Champigny (hier in der Cité de Mordacs und der Cite Bois-l’Abbée) und in Clichy Interviewgruppen sowie außerdem in der Industriestadt Seraing bei Lüttich in Belgien. Bei den darüber hinaus formierten Gruppen von Erwachsenen gab es außerdem eine in Sartrouville. Dubet, La galère, S. 71–73, 565 ff. Zur Methode der »intervention sociologique« siehe v. a. Touraine. 274 An dem Projekt beteiligt waren neben François Dubet, Adil Jazouli, Didier Lapeyronnie, Nicole Pfister, Francoise Schaller, Jean-Jacques Schaller, Charles Wassmer. Zu den jeweils vor Ort tätigen Soziologinnen und Soziologen zählten noch weitere, wie namentlich Bernard Franck, Jean-Pierre Bartholomé, Maria Luisa Tarres, Françoise Goffinet, Georges Vallée. 275 Tissot erklärt, von dem Buch seien 14.500 Exemplare verkauft worden, so dass es 1995 als Taschenbuch herausgebracht wurde. 2001 habe der Verkauf dieser Edition wiederum bei 10.000 Exemplaren gelegen. Tissot, L’État, S. 101. 276 Siehe v. a. Dubet, La galère; Dubet u. Lapeyronnie; Jazouli. 277 Vgl. etwa dessen Interviewband Djaïdja u. Jazouli. Speziell zu Jazouli siehe Tissot, L’État, S. 70 f.
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Dialog mit und finanziell unterstützt durch unterschiedliche Ministerien entstanden war, wurden auch sie in den folgenden Jahrzehnten immer wieder von Politik und Medien konsultiert.278 Das CADIS, an dem alle drei Anfang der 1980er Jahre angebunden waren, war 1981 von dem Soziologen Alain Touraine gegründet worden. In den 1980er Jahren waren dort mit François Dubet und Michel Wieviorka, Adil Jazouli und Didier Lapeyronnie Soziologen tätig, die bald zu Leitfiguren der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Vorstädten aufstiegen und es bis heute geblieben sind. Ihre Forschung trug anfänglich erkennbar Spuren eines Programms, das Alain Touraine in den 1970er Jahren entwickelte hatte.279 Touraine hatte sich in den 1960er Jahren intensiv mit der französischen Arbeiterbewegung befasst, bevor er sich anschließend unterschiedlichen sozialen Bewegungen zuwandte. Bevor er das CADIS gründete, leitete er in Paris ein Zentrum zur Erforschung sozialer Bewegungen, das Centre d’études des mouvements sociaux. Zu Touraines zentralen Thesen gehörte, dass sich in Frankreich und anderen Gesellschaften eine grundlegende Dezentrierung der Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe abzeichnete. Während der Konflikt zwischen Arbeitern und Unternehmern in klassischen Industriegesellschaften die grundlegende Konfliktlinie bildete, so der Soziologe, habe man es aktuell mit Bewegungen und politischen Agenden zu tun, die nahelegten, dass eine grundlegend neue Formation am Entstehen war: die der »postindustriellen Gesellschaft«. Am CADIS bildeten Touraines Hypothesen Anfang der 1980er Jahre den Rahmen für eine Reihe von Forschungsprojekten, darunter das von Dubet geleitete Projekt zur Marginalität von Jugendlichen.280 Die Annahme, dass sich in den vorstädtischen Siedlungen und ihren Unruhen die sich auflösenden Strukturen einer überkommenen Industrie- und Klassengesellschaft zeigten, bildete in den folgenden Jahren den Rahmen für die Arbeit Dubets und seiner Equipe. Dass die Arbeiterklasse im Zeichen der Deindustrialisierung endgültig an Bindekraft und politischem Einfluss verlor, betrachtete die Gruppe als das vordringliche Problem der Vorstädte. Obwohl die Siedlungen zu diesem Zeitpunkt durchaus ethnisch durchmischt waren, stand ihre Analyse der vorstädtischen Jugendlichen beinah uneingeschränkt im Zeichen einer Klassenanalyse. Dass die frühen 1980er Jahre von den maßgeblich der politischen Linken nahestehenden Soziologen des CADIS als Phase des Umbruchs wahrgenommen wurden, hing unter anderem mit der erhöhten Arbeitslosigkeit und 278 Das Projekt wurde in seiner Anfangsphase vom Ministère de la Solidarité finanziert, das um eine Evaluation des im Anschluss an die Unruhen von 1981 ergriffenen Maßnahmenkatalogs »Été 1982« gebeten hatte. Später wurde es vom Ministère du Plan finanziell unterstützt sowie der belgische Teil vom Brüsseler Ministère de la Communauté Française. Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport 1981/82; Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport scientifique, 1984/85. 279 Dubet, L’expérience, S. 12 f. 280 Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport 1981/82; Auch Wieviorkas Arbeiten zu Terrorismus und Gewalt entstanden in diesem Zusammenhang. Wieviorka.
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den vielfältigen Umstrukturierungen der Arbeitswelt in dieser Zeit zusammen. Es hing aber auch damit zusammen, dass mit François Mitterand 1981 erstmals seit Beginn der Fünften Republik ein Sozialist an die Macht gekommen war. Der Sieg der Linken im Mai 1981 habe ihn mit Glück erfüllt, ein wenig wie beim Finalsieg einer Mannschaft, die man unterstütze, erinnert sich Dubet später.281 An die neue sozialistische Regierung banden sich in linken Kreisen umfassende Hoffnungen. Umso enttäuschter waren viele nach deren vergleichsweise rascher Abkehr von Verstaatlichung und Keynesianismus.282 Es war dabei ein spezifisches Verständnis von Marginalität, das Anfang der 1980er Jahre die Forschungspraxis der Gruppe um Dubet anleitete. Die Marginalisierung der Jugendlichen aus den Vorstädten hatte zwar aus Sicht der Forschenden durchaus ökonomische Ursachen, zeigte sich aber maßgeblich in den abweichenden Verhaltensweisen der Jugendlichen und ihrer mangelnden Einbindung in ein proletarisches Milieu.283 Durch die ökonomische Krise und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit komme »marginalisierten und auf sich selbst zurückgezogenen Verhaltensweisen« eine wachsende Bedeutung zu, erklärte Dubet im ersten Tätigkeitsbericht des Projekts für das akademische Jahr 1981/82.284 Vor allem Jugendliche aus den unteren Schichten entwickelten Formen der »massiven Marginalisierung, Abgrenzung, Kleinkriminalität und, weniger spektakulär, des Rückzugs und der Apathie«. Die eigentliche Krise bestand in Dubets Sicht nicht in der Verknappung von Arbeit und sozialer Hilfe, sie bestand in einer Schwächung industriegesellschaftlich geprägter Werte, Handlungsweisen und Strukturen sowie in dem, was Dubet als Herausbildung einer »sociabilité ›sauvage‹« bezeichnete: einer »wilden Soziabilität«. Sozialpoliti ken könnten sich angesichts dessen nicht auf die Verteilung von Ressourcen beschränken, erklärte er. Sie müsse sich vielmehr auch den sozialen Beziehungen zuwenden.285 Im Laufe der folgenden Jahre blieb das die zentrale These der Equipe.286 Deren Interesse galt vornehmlich der Soziabilität der Jugendlichen bzw. ihren sich auflösenden Sozialbeziehungen. Mit Blick auf die Krise der industriellen Welt interessierte sich die Gruppe außerdem stark für die Unsicherheit, die die Jugendlichen mit der Suche nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz verban281 Dubet, L’expérience, S. 27. 282 Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport 1981/82. 283 Als das eigentliche Forschungsobjekt beschrieb Dubet anfänglich die »Handlungs- und Interaktionssysteme, über die mehr oder weniger marginalisierte Jugendliche zu anderen Akteuren in Beziehung treten«. Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport, 1981/1982, Recherche sur la Marginalité et la Déviance. 284 Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport 1981/1982, François Dubet, Analyse des conduites marginales et violentes des jeunes, S. 1. Der Bericht selbst wurde 1983 verfasst. 285 Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport, 1981/1982, Recherche sur la Marginalité et la Déviance. 286 Siehe auch deren zweiten Tätigkeitsbericht: Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport scienti fique, 1984/85.
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den. Angesichts der ausgesprochen hohen Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich Anfang der 1980er Jahre hatten viele wenig Aussicht darauf, nach dem Ende der Schulzeit ein reguläres Arbeitsverhältnis zu finden. Die Erwartungen und Strategien, die die jungen Erwachsenen in dieser prekären Lage entwickelten, deuteten Dubet und sein Team auch als Reaktionen auf den Zerfall der Industriegesellschaft, ihrer Sinngebungen und Integrationsmechanismen. »La galère« (grob: die Schinderei, aber auch: die Orientierungslosigkeit, Härte, Unterdrückung), das war für Dubet damit ebenso eine Lebensphase wie ein Set an Praktiken zur Bewältigung einer fundamentalen gesellschaftlichen Umbruchssituation. Der Wechsel von einem Gelegenheitsjob zum anderen konnte dazu ebenso zählen wie der Handel mit Drogen, die Gestaltung des Alltags zwischen Café, Jugendclub und Straße ebenso wie Formen der Kriminalität oder Gewalt.287 Drei Momente kennzeichneten für Dubet die Marginalität der vorstädtischen Jugendlichen: ein verbreitetes Gefühl des Abgehängtseins und der Stigmatisierung, ein Zerfall der Sozialbeziehungen und sozialen Kontrolle im Viertel und eine verbreitete Wut und ziellose Gewalt. Mehr als die materielle Benachteiligung der Jugendlichen zählte für den Soziologen deren Stigmatisierung und Exklusion und mehr als ihre Gewaltbereitschaft erschien ihm deren Ziellosigkeit bemerkenswert.288 Anders als bei den Arbeiterklassen früherer Jahre besaß die Gewalt der Jugendlichen aus Dubets Sicht keinen Bezugsrahmen mehr, der ihr hätte Relevanz verleihen können. Mit den »klassischen Themen« der Arbeiterbewegung hätten die Proteste der Jugendlichen nichts gemein, schrieb Dubet in »La galère«. Sie bewegten sich jenseits all jener Diskurse, die den politischen Raum gegenwärtig noch strukturierten.289 Dass sie (ökonomisch wie politisch) keinen Ort mehr hatten und damit auf fundamentale Weise desintegriert waren, machte für Dubet die Situation der analysierten Jugendlichen und den Schrecken ihre Gewaltbereitschaft aus. Diese Ortlosigkeit war es auch, die die Vorstadtbewohner in seinen Augen zu einer neuen »gefährlichen Klasse« werden ließ. Dubet griff damit auf ein Deutungsmuster zurück, das gemeinhin auf das 19. Jahrhundert angewendet wurde und dem in Frankreich der Historiker Louis Chevalier neue Popularität verliehen hatte.290 Chevalier hatte sich 1958 in einer Studie zu den »classes laborieuses et classes dangereuses« mit den unteren Schichten im Paris des frühen 19. Jahrhunderts befasst. In der ökonomischen Prekarität und Gewalt der classes dange reuses damals schlug sich für Chevalier der Übergang von einer traditionellagrarischen zu einer industriellen Gesellschaft nieder, in der die unteren Schich287 In seinen Anmerkungen bezieht Dubet sich oft auf jüngere und ältere US-amerikanische soziologische Studien zu Delinquenz, jugendlichen Gangs und urbaner Gewalt; der Fußnotenapparat unterstreicht den großen Einfluss, den die qualitative Soziologie à la Chicago auf Dubets Analyse hatte. Dubet, La galère. 288 »La mauvaise réputation des cités exclus bien plus que la misère.« Ebd. 289 Genau deswegen gelinge es ihnen nicht, der eigenen Unterdrückung Sinn zu verleihen. Ebd., S. 33. 290 Chevalier.
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ten als »arbeitende Klassen« nur schrittweise ihren Platz fanden. Wie bei diesen gefährlichen Klassen des vergangenen Jahrhunderts entstand für Dubet die Situation der galère im »Hohlraum zwischen zwei Gesellschaften«: Auch im Falle der vorstädtischen Jugendlichen fehlte noch das neue Referenzsystem, das neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das ihnen und ihrer Lage Sinn verlieh.291 Dass die Jugendlichen der banlieues die eigene Lage nicht sinnvoll über die vertrauten Klassennarrative der Industriegesellschaft einordnen konnten, beschrieb das Forschungsteam als deren maßgebliches Dilemma. Indes liegt nahe anzunehmen, dass es für die Soziologen selbst ein Dilemma darstellte, deren Handlungsweisen und Sinnsysteme nicht mehr adäquat in einer Sprache des Klassenkonflikts beschreiben zu können. Dazu passte, dass Dubet die Situation in den Vorstädten in seinen Tätigkeitsberichten ebenso wie in seiner fertigen Studie beinah durchgehend im Modus des »nicht mehr« beschrieb: als nicht mehr vorhandenes Arbeiterbewusstsein, als nicht mehr funktionierende Solidargemeinschaft, als nicht mehr funktionierende Integration neu Hinzukommender. Was hingegen die neue postindustrielle Welt ausmachte oder ihr Sinn verlieh, blieb auffallend blass. Die Vorstädte und ihre Probleme wurden in diesem Setting in erster Linie über ihre Abweichung definiert. Als Folie der Normalität diente den Soziologinnen und Soziologen dabei ein – angesichts der Pluralität der französischen Gesellschaft Anfang der 1980er Jahre – überraschend homogenes und zeitloses Bild »der Arbeiterklasse«. Das zeigt schon die Wahl der Untersuchungsräume. Denn der Equipe um Dubet diente ein Raum von vornherein als Beispiel einer noch funktionierenden »Welt der Arbeiter«: In der in Belgien in der Nähe von Lüttich gelegenen Industriestadt Seraing sahen die Soziologen eine Kontrastfolie für die Situation in den Vorstädten, die sie neben Les Minguettes noch in fünf anderen Siedlungen untersuchten.292 Hier, schrieb Dubet in seiner fertigen Studie mit Blick auf Seraing, dominierten das Klassenbewusstsein und die Gemeinschaft der Arbeiter noch immer alles.293 Während es auch in Frankreich in zahlreichen traditionellen Industriegebieten zum vermehrten Abbau und der Verlagerung von Industriestandorten kam, sah der Soziologe in der weiterhin sichtbar von der Eisen- und Stahlindustrie, von Fabrikgebäuden, Gewerkschaftsniederlassungen und Arbeiterwohnungen geprägten industriellen Landschaft von Seraing den Inbegriff jener monde ouvrier, deren Verschwinden ihn in den Vorstädten so frappierte.294 Um was für eine Welt es sich handelte, macht schon seine Schilderung der ersten Ortseindrücke deutlich: Dubet berichtete seiner Leserschaft so von der Rue de l ’Industrie, die in Seraing die Berufsschule mit der Fabrik verband, und von den Jugendlichen, die einem dort entgegen kämen. Eine Zwischenmahlzeit in der 291 (Übers. C. R.). Archives de l’EHESS, CADIS, Rapport scientifique, 1984/85. 292 Siehe dazu auch Tissot, L’Etat, S. 78 f. 293 Dubet, La galère, S. 34. 294 Ebd., S. 233 ff.
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Hand, pfiffen sie auf der Straße den Mädchen hinterher und ähnelten in ihren Kunstlederblousons ihren arbeitenden Vätern, schrieb Dubet.295 Er betrachtete Seraing als eine Art geschlossenes, sich selbst reproduzierendes Universum, das seit Generationen von Arbeiterfamilien bewohnt und traditionell sozialistisch regiert wurde. Ein Universum, in dem der Rekrutierungsgrad der Gewerkschaft hoch war und auch die italienischen Migranten schnell ihren Platz fanden. Ein Universum, in dem an erster Stelle Arbeit und Familie zählten, ein traditionelles Geschlechterverständnis vorherrschte und die Unterscheidung zwischen dem »Uns« der Arbeiter und dem »Denen« der Mittelschichten seit Generationen das eigene Selbstverständnis dominierte. »Vom ersten Moment an zeigte Seraing sich als homogene und integrierte Welt der Arbeiter, ganz anders als in den disparaten Vorstädten, in denen wir in Frankreich gearbeitet hatten.«296
Indes stand für Dubet außer Zweifel, dass diese homogene Welt im Verschwinden begriffen war. Er verwies auf die steigende Arbeitslosigkeit, auf den sich abzeichnenden Bevölkerungsschwund, die nach und nach schließenden Fabriken und deren schrittweise Verlagerung nach China, auf die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors und den sinkenden Einfluss der Gewerkschaftsbewegung.297 Dennoch sah Dubet in Seraing eine noch funktionierende Welt. Hier, betonte er, kümmerten sich die Gewerkschaften und eine ganze Phalanx an weiteren Institutionen noch um die Arbeitslosen. Es gebe eine funktionierende, hochintegrierte »Gemeinschaft«, die Solidarität herstelle und ein festes Wertesystem zur Verfügung stelle.298 Anders als in den Vorstädten könnten die Jugendlichen Seraings ihre Frustration über die wachsende Arbeitslosigkeit daher auch noch als »Ausbeutung ihrer Klasse« deuten und damit sinnvoll in ein noch aktives Klassenbewusstsein überführen.299 Und anders als in den Vorstädten besitze die lokal auftretende jugendliche Delinquenz einen funktionierenden Deutungsrahmen: Die wiederholt auch gegen die Polizei gerichtete Gewalt der Jugendlichen sei dort eben noch Teil einer eigenen proletarischen Subkultur. Das Gleiche gelte für Schlägereien oder kleinere Delikte, die als klassisches Element proletarischer Männlichkeit akzeptiert und eingehegt würden. Auch das wies für Dubet auf die »große Integrationskraft« der Industriestadt hin.300 Als Leitdifferenz diente dem Soziologen bei seinem Vergleich zwischen Industriestadt und Vorstadtsiedlung damit an erster Stelle die Gegenüberstellung 295 Ebd., S. 233. 296 (Übers. C. R.), ebd., S. 234. 297 Ebd., S. 234 f. 298 »A l’opposé de l’image d’un milieu de vie désorganisé, ›fou‹ et ›pourri‹, associée à la galère, les habitants de Seraing développent celle d’un monde communautaire organisé et intégré.« Ebd., S. 236 f. 299 Ebd., S. 282. 300 (Übers. C. R.), ebd., S. 247.
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von »Integration« und »Desintegration«. Die alltägliche Gewalt in Seraing war die Gewalt noch immer »integrierter« Jugendlicher, die in Les Minguettes Ausdruck einer fundamentalen Desintegration: »Schließlich beziehen sich die Jugendlichen der galère in ihrer Wut nicht auf irgend eine stabile soziale Bewegung. Dagegen interpretieren die jungen Arbeiter ihre Situation und ihr Handeln mit Hilfe von Kategorien des Klassenbewusstseins und der Arbeiterbewegung. […] Während die ersten den gefährlichen Klassen angehören, sind die anderen noch immer in der Logik einer arbeitenden Klasse verhangen.«301
Die Entwicklung der peripheren Siedlungen war aus Sicht des Soziologen damit doppelt bedrohlich: weil sich darin eine beunruhigend unbekannte und wenig viel versprechende Zukunft abzeichnete und weil sie sich mit Hilfe der vertrauten Narrative und Kategorien nicht adäquat erfassen ließ.302 Überhaupt wird am Beispiel der Forschungen von Dubet und seiner Equipe ein Mechanismus deutlich, der für den weiteren Umgang mit »der banlieue« bestimmend wurde: Ähnlich wie Seraing für die Welt der Arbeiterklasse an sich stand, wurden die Vorstädte derart zum Inbegriff einer Welt der Ausgeschlossenen, dass sie nicht mehr einfach als Beobachtungsraum für ein Problem dienten, sondern selbst als das Problem galten. Die vorstädtischen Siedlungen, die im Übrigen kaum als individuelle Siedlungen, sondern stets als Typus auftraten, wurden auf diese Weise zu einer eigenen, geschlossenen Problemwelt stilisiert. Dazu passte, dass für die Gruppe um Dubet außer Frage stand, wo sie jene Zunahme marginalisierter Verhaltensweisen in der postindustriellen Gesellschaft untersuchen sollte, die den Gegenstand ihres Projekts bildete. Die Antwort war für die Soziologen derart evident, dass man vergeblich nach einer Begründung für die Auswahl ihres Untersuchungsraums sucht. In den frühen Tätigkeitsberichten fehlt eine solche Begründung ebenso wie in den fertigen Studien. Zwar erläutert Dubet in seiner 700 Seiten umfassenden Monographie ausführlich die eigene Methode, auch begründet er (knapp) die Auswahl der konkreten Quartiere, in denen die Equipe ihre Gruppeninterviews durchführte. Warum er und die übrigen ihre Marginalitätsforschung allerdings überhaupt in den vorstädtischen Großsiedlungen durchführten, erklärt er nicht. Er schreibt lediglich: »Natürlich haben wir in den grands ensembles dieser Kommunen gearbeitet.« (Evidemment, nous avons travaillé dans les grands ensembles de ces communes.)303 301 »Auf der Ebene der […] sozialen Integration, haben die Jugendlichen der galère das Gefühl in einer desorganisierten, anomischen Welt zu leben. Im Gegensatz dazu sind sie in Seraing in ein noch immer solides System der Kontrolle und Regulierung eingebunden.« (Übers. C. R.), ebd., S. 285. 302 Bereits 1977 hatte sich unter Justizminister Peyrefitte eine Kommission mit einem wachsenden Gefühl der Unsicherheit in der französischen Gesellschaft und einem gestiegenen Gewaltaufkommen befasst, das sie unter anderem als Urbanisierungsfolge und Problem der Hochhaussiedlungen, ihrer Dichte und Anonymität beschrieb. Siehe dazu Dikeç, S. 40. 303 Dubet, La galère, S. 75.
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Diese Selbstverständlichkeit ist kennzeichnend für die Reputation, die die vorstädtischen Siedlungen zu diesem Zeitpunkt genossen. Dass sie geeignete Untersuchungsräume für die Investigation einer neuen sozialen Frage bildeten, stand Anfang der 1980er Jahre anscheinend außer Frage. Maßgeblich ging das damit zusammen, dass die urbanen Unruhen, die in Les Minguettes 1981 und 1983 ausgebrochen waren, in Frankreich zwar keineswegs die ersten ihrer Art darstellten, aber doch die ersten, die von einer weiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.304 Auch Dubet erklärte in der Rückschau, dass an erster Stelle die Unruhen ihn zu seiner Forschung veranlasst hätten.305 Das vermehrte Interesse auf Seiten der Sozialwissenschaften entwickelte sich parallel zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Großsiedlungen in politischen Kreisen. Denn auch in der Politik zogen die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Polizei Anfang der 1980er Jahre Reaktionen nach sich. Dazu gehörte, dass die Regierung unter dem Label »Sommer 1982« in ausgewählten vorstädtischen Siedlungen mehr Freizeitangebote für Jugendliche schaffen ließ. Auch gehörte dazu die Etablierung sogenannter »Zones à Education Prioritaire« in benachteiligten Quartieren, in denen den Schulen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt und eine größere Gestaltungsfreiheit eingeräumt wurden. Und dazu gehörte die Bildung einer »Nationalen Kommission für die soziale Entwicklung urbaner Quartiere«, CNDSQ, die von der sozialistischen Regierung eingesetzt wurde, um Vorschläge für eine neue Stadtpolitik zu erarbeiten.306 Die 1981 etablierte Kommission wurde von Hubert Dubedout geleitet, dem damaligen Bürgermeister von Grenoble. Neben verschiedenen Ministerialbeamten gehörten ihr bemerkenswert viele kommunalpolitische Akteure und Vertreter urbaner Initiativen und sozialpolitischer Verbände an. In dem sogenannten Dubedout Report, der 1983 unter dem programmatischen Titel »Ensemble, refaire la ville« (Gemeinsam die Stadt neu planen) erschien, warben Dubedout und seine Mitstreiter für eine partizipative, integrative Stadtentwicklung, die sich stark auf urbane Problemgebiete konzentrieren sollte.307 Ihr Bericht gilt als Meilenstein in der Entwicklung einer raumbasierten Sozialpolitik, die sich besonders um die Förderung ausgewählter »sensibler« Quartiere bemühte.308 304 Zancarini-Fournel. 305 Dubet, L’expérience. 306 Zu diesen Maßnahmen, die in der Regel als Beginn eines umfassenden stadtpolitischen Wandels beschrieben werden, siehe v. a. Dikeç; Oblet. 307 Dubedout. Zuvor hatte ein interministeriales Regierungskomitee bereits ein Programm mit dem Titel »Habitat et Vie Sociale« aufgelegt, das der sozialen Entmischung der vorstädtischen Siedlungen entgegen wirken sollte. Die von der Dubedout-Kommission eingeleiteten Maßnahmen waren indes deutlich umfassender. Dikeç. 308 Neben dem Bericht der Dubedout-Kommission gilt ein (gleichfalls vom französischen Premierminister in Auftrag gegebener) Bericht des Erziehungswissenschaftlers Bertrand Schwartz als Grundlage für diese Politik. Schwartz widmet sich darin der Eingliederung von Jugendlichen in den französischen Arbeitsmarkt. Schwartz.
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Um die eigenen Maßnahmen umzusetzen, wählte die Kommission eine Reihe von Interventionsgebieten aus, die als besonders förderungsbedürftig galten. Meistenteils handelte es sich um vorstädtische Siedlungen, deren schlechter Ruf weit über die Grenzen der jeweiligen Städte hinaus reichte: Les Minguettes in Vénissieux etwa, die Cité des 4000 in La Courneuve, Neuhof in Straßburg oder La Grande Borne in Grigny.309 Als den zentralen Marker für den problematischen Status dieser Quartiere bestimmten Dubedout und seine Kommission die räumliche Konzentration bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie namentlich einen hohen Anteil an Jugendlichen, die größere Präsenz »diverser ethnischer Gruppen« sowie einen erhöhten Prozentsatz an »armen Familien« oder an Familien in »prekärer Lage« – womit die Kommission Haushalte meinte, in denen Frauen alleinerziehend waren.310 Zudem nannte der Bericht »Immigranten« als maßgebliche Problemgruppe.311 Um der Konzentration dieser Gruppen in besonders »verletzlichen« urbanen Räumen zu begegnen,312 warb die Gruppe für eine Politik der Durchmischung. Unter anderem forderte sie einen Zuzugsstopp für migrantische Haushalte in bestimmten Vorstadtsiedlungen; und das, obwohl migrantische Haushalte zu diesem Zeitpunkt zu den wenigen gehörten, die überhaupt bereit waren, neu in die Siedlungen zu ziehen. Blieben sie fort, nahm der Leerstand zu. Lokal seien genau diese Familien aber oft unerwünscht, erklärte Dubedout, und sprach sich für einen vorübergehenden Zuzugsstopp aus.313 Dem »kumulativen Prozess der Exklusion«, vor dem die Kommission mit Blick auf die vorstädtischen Quartiere warnte,314 hoffte sie zudem mit einer Reihe flankierender Integrationsmaßnahmen zu begegnen. Immigranten, arme Familien oder Alleinerziehende sollten besser in lokalen Vereinen repräsentiert sein, ihnen sollte mehr Zugang zum öffentlichen Leben gewährt werden.315 Hinzu kam die Forderung nach einer »Eingliederung« der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt sowie nach einer besseren Anbindung der vorstädtischen Quartiere an die üb309 Siehe die Liste der ersten Interventionsgebiete im Anhang von Dubedout. Die Kommission etablierte 1982 zunächst 16 Interventionsfelder, in denen sie sich um eine soziale und berufliche Eingliederung der Jugendlichen, um die Etablierung von »zones d’éducation prioritaires«, um die Schaffung kultureller Institutionen und Arbeitsplätze sowie einen stadtplanerischen Wandel bemühte. Dubedout, S. 20. 310 Ebd., S. 12, 39. 311 Zur Fokussierung auf die Konzentration von benachteiligten Gruppen und insbesondere von Migranten in bestimmten, vom Sozialen Wohnungsbau dominierten Vierteln siehe auch Dikeç, S. 54. 312 Dubedout, S. 12. 313 Zugleich, setzte er hinzu, stelle eine Beschränkung des Zugangs zum Sozialen Wohnungsbau gerade migrantische Haushalte angesichts der herrschenden Wohnungskrise vor beträchtliche Probleme. Dubedout, S. 52 f. Dabei unterschied die Kommission zwischen »Immigranten« und »Jugendlichen der zweiten Generation«, die bereits in der Kommune wohnten. Für sie forderte sie, Wohnungen bereit zu stellen. Auch waren Formen der gesetzlich zugelassenen Familienzusammenführung vom Zuzugsstopp ausgenommen. 314 Ebd., S. 60. 315 Ebd., S. 39.
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rige Stadt, sowie schließlich die Forderung, den Bewohnerinnen und Bewohnern kulturell mehr Möglichkeiten zur Selbstdarstellung zu geben.316 Das Szenario eines (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Draußenseins sozialer Gruppen war damit in den frühen 1980er Jahren zu einem dominanten Krisenszenario geworden, das politische Maßnahmen anleitete. Stadtpolitische Akteure formulierten ihre politischen Forderungen immer häufiger in einer Sprache der Integration, Inklusion, Ein- und Anbindung. In Teilen knüpften sich an dieses Integrationsdispositiv Maßnahmen zur Behebung konkreter materieller Missstände und infrastruktureller Schwächen. Vor allem aber band sich daran die Forderung nach Selbstaktivierung, anderen Sozialbeziehungen und Kontakten. Das wird auch an der Equipe um Dubet und deren Bemühen um eine »soziologische Intervention« in Les Minguettes und den anderen Großsiedlungen deutlich. Dass das Forschungsteam in seinen vorstädtischen Untersuchungs gebieten die Jugendlichen mit Sozialarbeitern, Abgeordneten oder Polizisten zusammen brachte und zum Dialog aufforderte, hing nicht nur damit zusammen, dass es beobachten wollte, wie die Jugendlichen sich in einer solchen Situation verhielten, sondern es entsprach auch einer politischen Taktik.317 Die Soziologen hofften, die Jugendliche auf diese Weise dazu zu bringen, an sich und der eigenen Exklusion zu arbeiten.318 Während Programme wie das der CNDSQ die Aktivierung der Quartiersbevölkerung forderten, um sozialräumliche Veränderungen einzuläuten, setzten auch die Soziologinnen und Soziologen auf eine Aktivierung und ein verändertes Verhalten der Bewohnerschaft. Dem wohnte eine gewisse Ambivalenz inne. Denn obwohl sie eigentlich im Wandel der industriellen Arbeitswelt die zentrale Ursache für die Probleme der Vorstadtjugendlichen sahen, setzten die Soziologen mit ihren Interventionen bei deren Sozialbeziehungen an: Der Weg von der Ex- zur Inklusion führte über das Gespräch und die Konfrontation mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, wie Polizisten, Richtern oder den Soziologen selbst. Das war insofern ambivalent, als es in Teilen dazu führte, dass sich der Fokus politischer Maßnahmen vom Problem der Verteilung materieller Ressourcen hin zur Forderung nach der Arbeit am Selbst, an den eigenen Sozialbeziehungen und Verhaltensweisen verschob. Dubet hatte dabei in seiner Studie »La galère« noch vergleichsweis eindeutig »Klasse« als Differenzkategorie und Erklärungsmodell privilegiert. Doch rückte »der migrantische Jugendliche« im Laufe der 1980er Jahre endgültig in das Zen316 Ebd., S. 57. 317 Für diese Erwartung kennzeichnend war auch der letzte Satz der Studie : »Peut-être faut-il aujourd’hui que la production de la société, là où elle semble avoir disparu, se fasse par des méthodes proches de celle que nous avons utilisée […].« Dubet, La galère, S. 582. 318 Archives de l’EHESS, Rapport scientifique, 1984/85 : »En arrachant l’acteur à la banalité de la galère qui le détruit et, souvent même, l’empêche de parler, en le plaçant ›à l’égalité‹ avec les interlocuteurs qui le dominent dans la vie.« Siehe auch die Bemerkungen in Dubet, La galère, S. 30 f.
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trum urbaner Problembeschreibungen, und um 1990 waren »die Vorstädte« vollends zum Inbegriff einer desintegrierten Gesellschaft geworden, die von ethnischen Spannungen zerrissen wurde. Das spiegelte sich in der Forschung von Dubet selbst wider. 1987 hatte der Soziologe eine Fokussierung auf die jeunes immigrés noch dezidiert abgelehnt. Die peripheren Siedlungen, Les Minguettes eingeschlossen, seien »keine Ghettos«, sie seien eindeutig keine »ghettos racials«, schrieb er in »La galère«.319 Die Erfahrung der Exklusion und Relegation sei vielmehr den »französischen« und »migrantischen« Jugendlichen in den stigmatisierten Quartieren gemein.320 Doch veränderte sich spätestens mit den Unruhen von 1990 der Blick des Soziologen auf die vorstädtischen Siedlungen. In seiner 1992 gemeinsam mit Didier Lapeyronnie veröffentlichten Studie »Les quartiers d’exil« warnte Dubet so mit Blick auf die Vorstädte vor einem »Aufbrechen des Problems der Immigra tion«. Mit explizitem Verweis auf »die neuen Immigranten aus Afrika« bezweifelten er und Lapeyronnie sogar, dass die französische Nation Integration überhaupt noch herzustellen vermochte. Die traditionell zur Herstellung »nationaler Einheit« herangezogenen Instanzen – Schule und Militär oder Werte wie Laizität, Egalität, Freiheit – schienen den beiden an integrativer Kraft zu verlieren, das Gleiche galt für die Vorstädte und zumal für die ehemals kommunistisch regierten banlieues rouges.321 Als er 2006 ein neues Vorwort für eine Neuauflage seiner Studie »La galère« schrieb, erklärte Dubet dann, dass der maßgebliche Unterschied zwischen der Situation Mitte der 1980er Jahre und der 2006 nicht nur darin bestehe, dass sich die »Exklusion« der banlieues-Bevölkerung verstärkt habe. Er bestehe vielmehr auch in einem Übergang von »Klasse« zu »Rasse«. Mitte der 1980er Jahre hätten Lehrer, Aktivisten und Sozialarbeiter noch von »den Arbeiterkindern« im Viertel gesprochen. Heutzutage würden die Kinder dagegen sofort über ihre »race« identifiziert und ordneten sich selbst ebenfalls in erster Linie über ihre Ethnie oder Rasse sozial ein. Dubet beschreibt das als »Auto-Ghettoisierung«.322 Damals, erklärt er mit Blick auf die 1980er Jahre, hätten die Jugendlichen und Erwachsenen ethnische Zuordnungen von sich gewiesen und Rassismus abgelehnt, weil sie nicht über ihre race identifiziert werden wollten. Heutzutage sei die Wahrnehmung der eigenen Identität in ethnischen Kategorien selbstverständlich geworden. Dieser Schwenk von einer Klassen- zu einer Ghettoerzählung spiegelte übergreifende Verschiebungen im französischen banlieues-Diskurs wider. Während die Veränderungen in den vorstädtischen Siedlungen Beobachtern wie Dubet Anfang der 1980er Jahre maßgeblich als Folge von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit erschienen, trat diese Problembeschreibung im Laufe 319 Ebd., S. 424. 320 Ebd., S. 33, 424. 321 Dubet u. Lapeyronnie, S. 79 f., 66 ff. 322 Dubet, La galère, S. 13 f.
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der kommenden zwanzig Jahre gegenüber einer anderen in den Hintergrund; und zwar gegenüber einer Problematisierung von Migration und ihren Folgen, die seit 1990 vermehrt auch als »Rassenprobleme« und questions raciales gefasst wurden. In welchem Verhältnis diese Verschiebungen im dominanten banlieuesDiskurs zu der Selbstbeschreibung der Bewohner und den Problemen vor Ort standen, ist schwer festzustellen. Ausgeprägt ethnisch divers waren die Siedlungen schließlich bereits um 1980, zugleich ließen sich die fortgesetzten Spannungen in den Siedlungen auch um 1990 noch ökonomisch, über die fortschreitende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen erklären. Führte erst die Stilisierung der Großsiedlungen zu Räumen des ethnisch oder rassisch Anderen dazu, dass die Bewohnenden sich selbst anders wahrnehmen und bezeichneten? Taten sie das bereits vorher? Oder sah Dubet, wenn er 2006 in den vorstädtischen Siedlungen eine wachsende Bedeutung rassialisierter Grenzziehungen, Fremd- und Selbstverortungen ausmachte, etwas, das er auch Anfang der 1980er Jahre hätte sehen können, ihn aber weniger interessierte? Lagen die Verschiebungen der Konfliktlinien in den Großsiedlungen in erster Linie im Auge des jeweiligen Betrachters oder der jeweiligen Betrachterin? Eine naheliegende Antwort auf diese Fragen ist die eines sowohl-als-auch. Nachdem ethnisierte Zuordnungen für die urbane Bevölkerung sowie für stadtpolitische Akteure, wie gezeigt, bereits deutlich früher eine Rolle spielten und deren Interaktion beeinflussten, begannen selbst Soziologen, deren zentrales Interesse den classes populaires galt, sich im Laufe der 1980er Jahre von ihrer »Klassenerzählung« abzuwenden und Ethnie oder race als Differenzkategorien zu privilegieren. Gerade in linken Kreisen hatte im Zuge der Regierungszeit von Mitterand die Desillusionierung mit sozialistischen Idealen zugenommen und eine Sprache der Klasse schien zunehmend überholt. Auch begann der Einfluss der kommunistischen Partei zu bröckeln, die in vielen Vorstadtkommunen, zumal in der Peripherie von Paris, unangefochten die Mehrheit besessen hatte. Der kommunale Kommunismus bekam in den 1980er Jahren Risse. Damit verknüpft und durch die ökonomischen Transformationen der 1980er Jahre verstärkt, verlor »die Arbeiterklasse«, die um 1980 noch als zentraler Bezugspunkt der banlieue-Betrachtungen gedient hatte, als eigene politische und sozioökonomische Formation weiter an Erklärungskraft und gesellschaftlicher Relevanz. Auch diente sie immer weniger Bewohnerinnen und Bewohnern als Identitätskategorie. Darüber hinaus dürften sich die Soziologinnen und Soziologen an einer gewachsenen Konflikthaftigkeit ethnisch-kultureller Grenzziehungen in urbanen Räumen orientiert haben. Allerdings verliehen sie diesen Grenzziehungen mit ihrer Wissensproduktion selbst mehr Stabilität und politische Relevanz. Sie trugen dazu bei, dass ethnisierenden oder rassifizierenden Kategorien für die Beschreibung urbaner Konflikte eine wachsende Bedeutung zukam. Kennzeichnend für den Wandel der französischen Gesellschaft im auslaufenden 20. und frühen 21. Jahrhundert war außerdem, dass Dubet 2006 endgültig von einer Sprache der Marginalität zu einer der Exklusion übergegangen war. Der Soziologe kennzeichnete auf diese Weise die Verhärtung der Ausschluss303
mechanismen, die er in den Siedlungen beobachtete.323 Eher als am (urbanen, gesellschaftlichen) Rand verortete er deren Bewohnerschaft nun im (urbanen, gesellschaftlichen) Außen. Die vorstädtischen Siedlungen waren auch für ihn endgültig zu Räumen der Hypermarginalisierung geworden.
4.5 Locating Race. Das Ghetto als (sub)kulturelle Ressource und gefährlicher Raum in den 1990er Jahren a) Zur Reaktivierung von »Race« als Identitäts- und Beschreibungskategorie Enfants du Ghetto, Ghetto, Ghetto […] Comment peux-tu accepter qu’un gosse Vive moins décemment que ton chien Tu débordes d’indifférence et tu les traites de vauriens Tous les jeunes, les blacks, les blancs, les beurs Unis par les HLM et par la rage au cœur. Saliha, Enfants du Ghetto (Frankreich, Rap-Song, 1990)324 Eko Fresh – Ghetto-Chef, Junge, denn es muss sein Köln Kalk, Hartz 4, komm in meine Hood rein Komm und guck, was es heißt, im Block hier zu wohn’n, Wo man leben muss von Drogen oder Prostitution […] In diesen einsamen Nächten wirst Du ein harter Mann Warum guckt sich Peter Hartz nicht meine Straße an? 15 Jahre Deutscher Rap, aber keiner machts wie Eko, Ihr habt alle reiche Eltern und sagt: Deutschland hat kein Ghetto. Eko Fresh, Gheddo (Bundesrepublik, Rap-Song, 2006)
Der Titel »Enfants du Ghetto« (Kinder des Ghettos) der französischen Rapperin Saliha erschien 1990 auf der Rap-Kompilation Rapattitude. Das Album wird gerne als eines der ersten erfolgreichen französischsprachigen Rap-Alben gehandelt. Nach Anfängen in den 1980er Jahren erlebte die zunächst stark an den USA orientierte, zunehmend globalisierte Hip Hop-Kultur in Frankreich um 1990 endgültig ihren Durchbruch.325 Urbane Topographien im Allgemeinen 323 Schon in seiner 1992 gemeinsam mit Lapeyronnie publizierten Studie zu den »Quartiers d’Exil« lässt sich diese Verschiebung beobachten. Siehe v. a. Dubet u. Lapeyronnie, S. 114 ff. 324 »Kinder des Ghettos, Ghettos, Ghettos […]/Wie kannst Du akzeptieren, dass ein Kind / schlechter lebt als Dein Hund / Dir ist das egal und du behandelst sie wie Nichtsnutze / A lle Jugendlichen, die Schwarzen, die Weißen, die Beurs / vereint durch die HLM und durch die Wut im Herzen.« 325 Zur Entwicklung des französischen Rap gibt es mittlerweile eine Fülle v. a. anthropologischer, kulturwissenschaftlicher und historischer Studien. Stellvertretend seien hier Hüser; Tödt; Hammou genannt.
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und die periurbanen Hochhaussiedlungen im Besonderen spielten für die imaginären Topographien, die die Rap-Künstlerinnen und Künstler in ihren Texten und Videos entwarfen, eine zentrale Rolle.326 Die gerne als cité (oder téci) bezeichneten Siedlungen bildeten wichtige Resonanz- und Entstehungsräume für den französischen Rap. Zahlreiche Rap-Gruppen kamen aus solchen Siedlungen, und viele rekurrierten darauf, um sich auf diese Weise als authentisch zu beschreiben. Die Bewohnerschaft der französischen Siedlungen war in der Regel pluriethnisch, und die Rapper sprachen im Namen eines migrantisch geprägten, kosmopolitischen Frankreich. Sie sprachen zudem oft dezidiert im Namen der französischen Republik, nur eben im Namen einer Republik, die sich ihrer kolonialen Vergangenheit ebenso bewusst werden sollte wie ihrer Diversität.327 Dass Saliha in den »Kindern des Ghettos« blacks, blancs und beurs im gleichen Atemzug nannte, war damit ebenso typisch für die Zusammensetzung vieler französischer Rap-Gruppen wie für das Bild der Hochhaussiedlungen, das sie vermittelten.328 Das hinderte die Gruppen aber nicht daran, in ihren Texten wiederholt die black ghettos US-amerikanischer Städte als Bezugs- und Vergleichsräume für die Beschreibung der eigenen Quartiere, cités oder Hoods heranzuziehen.329 Sie eigneten sich damit nicht allein das »global zugängliche Textmodell« des Rap an,330 sondern auch dessen imaginäre Topographie, die sie wiederum in lokale Kontexte übersetzten und in eine eigene Topographie »schlechter Viertel« überführten.331 Seine Ghettozentrität, sein permanenter Bezug auf stigmatisierte, marginalisierte Quartiere ebenso wie die Hervorhebung der dort vorherrschenden Soli darität sind wiederholt als Merkmale nicht nur des US-amerikanischen Rap beschrieben worden.332 Die Figur des Verlierers, Unterdrückten, Gangsta oder Underdog besaß im Rap subkulturelles Potential, und zahlreiche Rap-Forma tionen versuchten den Authentizitätskriterien des Rap gerecht zu werden, indem sie sich als Produkt marginalisierter Viertel beschrieben. »Du kriegst mich aus’m Ghetto, doch das Ghetto nicht aus mir«, textete der Kölner Rapper Eko Fresh 2012, der in seinen Texten immer wieder Köln-Kalk als sein Gheddo, seine Hood, 326 Zum urbanen Imaginären des französischen Rap siehe anhand von Marseille Tödt, wobei Tödt zeigt, dass in der südfranzösischen Stadt, anders als in anderen Städten, der Bezug auf innerstädtische Viertel durchaus eine Rolle spielte. 327 Zur Reproduktion dominanter Republikvorstellungen und -ideale und den gängigen Bezug auf die culture française im französischen Rap siehe Hüser. 328 Ebd., S. 296 ff. 329 Allerdings durchaus auch, um sich davon abzugrenzen und die im Vergleich größere Durchmischung der französischen Vorstädte zu loben. Ebd. 330 Kimminich, S. xv. 331 Tödt. 332 »Identität im Hip Hop kreist um das Getto, das den mehrdimensionalen (ökonomischen, sozialen, bildungsspezifischen usw) Ausschluss der schwarzen Unterschichten von den (Re-)Produktionsmechanismen der dominanzkulturellen Mehrheitsgesellschaft symbolisiert.« Scharenberg, S. 28.
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seine Branx bezeichnete.333 Und der Berliner Sido, im Märkischen Viertel aufgewachsen, konterte »Aufgewachsen zwischen Dreck und Beton / Ja, auch ich bin aus’m Ghetto gekomm’.«334 Der Ghetto-Topos diente auch im deutschsprachigen Rap der Selbstverortung, wenngleich später als in Frankreich und in anderen urbanen Topographien verankert: Innerstädtische Gründerzeitviertel konnten dort ebenso als »Ghettos« firmieren wie periphere Großsiedlungen.335 Dass sich Rap-Gruppen in Frankreich oder Deutschland einer Sprache des Ghettos bedienten, hing unter anderem damit zusammen, dass vielen der afroamerikanische Hip Hop zunächst als wichtige Inspirationsquelle gedient hatte. Die vordringliche Bedeutung, die das black ghetto sowie speziell die New Yorker Bronx für den US-amerikanischen Rap besaßen, fand ihren Widerhall in den urbanen Anerkennungskämpfen europäischer Rapperinnen und Rapper.336 Insbesondere im französischen Rap, in dem eine dediziert gesellschaftskritische Haltung verbreitet war, bedienten sich viele zudem des Ghettobegriffs, um Formen der urbanen Marginalisierung oder Relegation zu kritisieren. Saliha, die selbst aus der nordwestlichen banlieue von Paris kam, forderte in ihren »Kindern des Ghettos«, in denen sie die Sozialwohnungen als Räume der Wut, Gewalt und Angst, aber eben auch der Solidarität beschrieb, die Zuhörenden dementsprechend zur Bewusstwerdung, zum Insistieren und Kritisieren auf. Bei ihr wie anderen entsprach die Aneignung einer Sprache des Ghettos nicht einem bloßen Kopieren afroamerikanischer Vorbilder, sondern der Aneignung einer global zirkulierenden Sprache der urbanen Marginalisierung, die ebenso der kulturellen Selbstbehauptung wie der Sozialkritik dienen konnte. Der Aufstieg der Rede von den »banlieues-ghettos« vollzog sich in Frankreich in den 1990er Jahren nicht zufällig parallel zur Etablierung einer auf vielfache Weise im urbanen Raum verankerten Hip Hop-Kultur. Dennoch gab es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bild der pluriethnischen, eher sozial als ethnisch homogenen cités, das viele Rapper entwarfen, und der in Soziologie, Politik und Massenmedien zirkulierenden Warnung vor der Entstehung von Ghettos »wie in den USA«. Denn während der Ghettobezug im französischen Rap eher dazu diente, die sozialen Probleme der Vorstädte anzukreiden – soziale Pro bleme, die alle Bewohner »unabhängig von ihrer Hauptfarbe« in gleicher Weise betrafen – wurden über den Bezug auf die banlieue-als-Ghetto im politischen Diskurs in erster Linie ethnisch-kulturelle Spannungen problematisiert.337 Ähnlich wie in Deutschland, aber in andere urbane Kontexte eingelassen, umkreiste 333 Eko Fresh, Das Ghetto nicht aus mir (Bundesrepublik, Rap-Song, 2012). 334 Eko Fresh, featuring Sido, Gheddo reloaded (Bundesrepublik, Rap-Song, 2014). 335 Gruber geht davon aus, dass der »Topos des Ghettos« erst nach der Jahrtausendwende »Eingang in die deutschsprachig Rapkultur« fand. Gruber, S. 180. Zu den »urbanen Anerkennungskämpfen« von Rap-Gruppen in Deutschland siehe auch Güler Saied. 336 Tödt, S. 14 f. 337 »Il n’y a pas de distinction raciale et pas de couleur de peau », heißt es bei Saliha. Zu dieser allgemeinen Tendenz im französischen Rap siehe Hüser.
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die französische Auseinandersetzung mit den banlieues zunehmend die Frage nach den Grenzen der Integrationsfähigkeit urbaner (migrantischer) Bevölkerungen, und ethnischen sowie rassifizierten Differenzen wurde in der Stadtpolitik mehr und mehr Sprengkraft zugeschrieben.338 Nachdem der Front National unter Jean-Marie Le Pen, angefangen mit den Kommunalwahlen von 1983, seine ersten nationsweiten Wahlerfolge gefeiert und ins französische und europäische Parlament eingezogen war, begannen kommunalpolitische Akteure verstärkt den hohen Anteil an Ausländern bzw. vor allem »Nordafrikanern« und deren ausbleibende »Assimilation«, »Adaptation« oder »Integration« anzuführen, um den Problemstatus der Vorstädte zu unterstreichen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der französische Philosoph Etienne Balibar seine Thesen zu einem neuen »racisme sans races«, einem Rassismus ohne Rassen, erstmals Ende der 1980er Jahre formulierte.339 Insbesondere mit Blick auf (nachkoloniale) Migrationsprozesse ging Balibar von einem Rassismus aus, der sich nicht mehr um Fragen der biologischen Vererbung gruppierte, sondern um unaufhebbare kulturelle Differenzen. Balibar ging es um eine essentialisierende Identifikation kultureller Differenzen, die die Unvereinbarkeit bestimmter Lebensweisen und Traditionen behauptete und herkunftsbedingte, unverwischbare Unterschiede in den Mentalitäten und Fähigkeiten von Gruppen ausmachte. Die zeitgenössische französische Debatte spiegelte das insofern wieder, als unterschiedliche Beobachter des Sozialen gesellschaftliche Konflikte um 1990 vermehrt auf kulturelle oder ethnische Unterschiede zurückführten.340 Neu war das allerdings nicht an sich. Das verdeutlicht der Blick auf frühere, kolonialpolitisch geprägte Kategorisierungen der Wohnbevölkerung.341 Doch erhielt die Warnung vor der Sprengkraft ethnisch-kultureller Differenzen im Laufe der 1980er Jahre eine Zuspitzung. Das galt auch für die in migrations- und stadtpolitischen Debatten zunehmend geläufige Gegenüberstellung von »Europäern« und »Nordafrikanern«.342 Dass in diesen Debatten zudem die Kategorie der »Rasse«, lange Zeit verbannt aus dem offiziellen französischen Diskurs, ver338 Tissot, ›French Suburbs‹. 339 Balibar, Gibt es einen »Neo-Rassismus«, in: Balibar u. Wallerstein, S. 23–38. »Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines ›Rassismus ohne Rassen‹ […]: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über jede andere postuliert, sondern sich darauf ›beschränkt‹, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten.« Ebd., S. 28. 340 Zu einer aktuellen Kritik dieses Verständnisses und dem Versuch seiner retrospektiven Einordnung siehe Michel Wieviorka, The End of Multiculturalism (Vortrag beim ISA World Congress of Sociology, Yokohama, 09.07.2014), http://wieviorka.hypotheses.org/321. 341 Siehe u. a. die Ausführungen in Unterkapitel 2.3. der vorliegenden Studie. 342 Siehe dazu auch Tissot, L’Etat, S. 36 f.
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mehrt gebraucht wurde, zeugt davon, dass sich um 1990 die dominante Selbstbeschreibung der französischen Gesellschaft merklich verschob.343 Die Aktivierung einer Sprache des Ghettos dient daher im Folgenden als Ausgangspunkt, um sich der Ethnisierung und in Teilen auch Rassialisierung urbaner Problembeschreibungen seit den 1980er Jahren zuzuwenden, bzw. einer Entwicklung, die die Soziologen Didier und Eric Fassin als Bewegung von einer »question sociale« zu einer »question raciale« in der Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaft beschrieben haben. Die beiden Soziologen gehen davon aus, dass das Reden über Rasse und Rassismen in der französischen Gesellschaft des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Sie nehmen diese Beobachtung zum Anlass, um danach zu fragen, wie sich soziale Frage und rassistische Diskriminierung zueinander verhalten bzw. danach zu fragen, wie sich Politiken der Umverteilung zu Politiken der Anerkennung verhalten sollten.344 Dabei ist es typisch für das ambivalente Verhältnis zu einer Sprache der »Rasse« in der französischen Soziologie, dass Didier Fassin ausführlich erläutert, warum er mit race und racisme Kategorien benutzt, die er doch eigentlich ablehnt. Fassin spricht von einem »cordon antiracialiste«, mit dem sich die Gesellschaft zumindest offiziell zur Pflege ihrer »moralischen Hygiene« umgeben habe. »La chose ne peut plus être dite« (Die Sache kann nicht mehr gesagt werden).345 Zugleich, wendet Fassin ein, könnten bestimmte Formen der Diskriminierung aber nicht benannt werden, wenn auf die Kategorie der »race« verzichtet werde. Indem Soziologen ebenso wie politische Akteure und Journalisten in den 1990er Jahren verstärkt auf Semantiken der Ghettoisierung und Segregation zurückgriffen, begannen sie Differenzen zu benennen, über die sie eigentlich nicht, letztlich aber doch sprechen wollten. Ausgehend vom Topos der banlieueals-Ghetto befasst sich das folgende Unterkapitel mit den Ambivalenzen dieses über Rasse und Rassismen eigentlich nicht, letztlich aber doch Sprechenwollens. Als Ausgangspunkt dient die schlichte Frage, wer über rassialisierte Differenzen und deren Bedeutung wie wann sprechen wollte (und wer nicht) und wie sich spätestens um 1990 ein Wandel in diesen Formationen abzeichnete. Die Analyse geht dabei von der Beobachtung aus, dass urbane Unruhen und deren Deutung wichtige Kristallisationspunkte der öffentlichen Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaft und ihren inneren Trennlinien bildeten. Sie folgt der Verfestigung der Vorstädte zu den gesellschaftlichen Krisenräumen schlechthin, indem sie sich mit den Unterschieden in den Reaktionen auf die Unruhen von 1981 und 1990 befasst. Im Mittelpunkt steht die Bedeutung, die lokale Aktivis343 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kap. 4. 3. 344 Die beiden Fassins stellen mit Blick auf die Debatten, die im Anschluss an die im Herbst 2005 ausbrechenden urbanen Unruhen einsetzten, eine »banalisation d’une ›pensée raciale‹« fest. Sie gehen allerdings auch davon aus, dass »Rasse« und »rassistische Diskriminierung« sich zunehmend zu politischen Ressourcen entwickeln, derer sich Akteure zur Verteidigung ihrer Interessen bedienen. Fassin u. Fassin, S. 9. 345 Fassin, Nommer, S. 23.
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tinnen und Aktivisten auf der einen und Soziologen auf der anderen Seite rassialisierten und ethnisierten Differenzen zuwiesen, sowie die Frage, inwiefern sich bei der Beschreibung urbaner Probleme die Grenzziehung zwischen Innen und Außen, eigener Gesellschaft und von außen Kommenden verschob. b) Die urbanen Unruhen der Bevölkerung und die Unruhen der Soziologie Ausgelöst durch den Tod eines jugendlichen Motorradfahrers, Thomas Claudio, der beim Zusammenstoß mit einem Polizeiauto unter kontroversen Umständen starb, brachen im Oktober 1990 in Vaulx-en-Velin in der weiteren banlieue von Lyon Unruhen aus. Es kam wiederholt zu einem gewaltsamen Aufeinandertreffen von Jugendlichen, Polizei und Feuerwehr. Autos und Gebäude brannten und eine Reihe von Läden wurde geplündert. Die Ausschreitungen, die bald auf andere Siedlungen übergriffen, hielten mehrere Tage an. Vom Fernsehen über die Printmedien bis hin zum Radio berichteten die französischen Massenmedien zwei Wochen lang in ungewohnter Intensität über die Unruhen und spekulierten darüber, was sie bedeuteten, nicht allein für die Lyoner Region sondern für ganz Frankreich. Dass bereits neun Jahre zuvor, im Sommer 1981, in der Großsiedlung Les Minguettes in der weiteren Peripherie von Lyon urbane riots ausgebrochen waren, erwähnten viele dieser Berichte. Doch obschon der »heiße Sommer« 1981 sowie die daran 1983 anschließenden Unruhen stadtpolitisch eine Reihe von Veränderungen ausgelöst hatten, war die mediale Aufmerksamkeit 1990 deutlich höher und die Berichterstattung im Ton krisenhafter.346 Weit mehr als ein lokales Problem wurden die Gewaltausbrüche in Vaulx-en-Velin 1990 als Teil einer umfassenden »Krise der banlieues« gedeutet, der wiederum eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung eingeräumt wurde. Die Unruhen stellten ein Aufruhrereignis dar, das zwar in seinem Verlauf eher kleinräumig und von kurzer Dauer war, das aber in der weiteren Öffentlichkeit als eine Infragestellung der sozialen Ordnung diskutiert wurde.347 Die Ausschreitungen von Vaulx-en-Velin galten als Zeichen einer umfassenden gesellschaftlichen Krise, die Maßnahmen erforderte. Sie wurden von einer Flut an Deutungsangeboten und Krisendiagnosen begleitet und zogen vielfältige Versuche der (diskursiven wie praktischen) (Wieder)Herstellung der urbanen Ordnung nach sich. Dass die zeitgenössischen Kommentatorinnen und Kommentatoren dabei immer wieder die britischen Brixton Riots von 1981 sowie die US-amerikanischen Race Riots von 1967 als Vergleichsfolie heranzogen, war charakteristisch für die Bedeutung, die Ethnie und Race für die Einordnung urbaner Konflikte mittlerweile zukam. Noch 1981 hatte die französische Presse 346 Für einen Vergleich der Berichterstattung von 1981 und 1990 siehe Bachmann u. LeGuennec ; sowie stärker mit Blick auf die Rolle von Soziologen Tissot, L’Etat, S. 20 ff. 347 Hordt. Zur stadtsoziologischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen analytischen Begriffen wie dem des riot oder der violences urbaines vgl. auch Greif u. Jobard.
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zwar die britischen Unruhen als »émeutes raciales« oder »phénomènes ethniques« eingeordnet, die beinah zeitgleich bei Lyon ausbrechenden Ausschreitungen aber eher nicht.348 Race Riots und »ethnische Phänomene« fanden Anfang der 1980er Jahre aus französischer Sicht tendenziell anderswo statt. 1990 führten dagegen Journalisten wie Experten bei ihrer Deutung der Unruhen zwar auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich und überhaupt ökonomische Probleme an.349 Doch waren die Berichte der konservativen wie der liberalen Presse in erster Linie um eine Problembevölkerung gruppiert: um männliche Jugendliche, die aus maghrebinischen Familien kamen und die meist entweder als »jugendliche Araber«, als »Kinder von Immigranten« oder gleich selbst als »Immigranten« identifiziert wurden.350 Zwar wurde wiederholt auch das Verhalten der Polizei problematisiert. Als eigentlichen Auslöser der Gewalt umkreisten die Berichte aber »ethnische Differenzen« und das Verhalten der Jugendlichen der »zweiten Generation«. Gegenüber der bis weit in die 1970er Jahre hinein prominenten Figur des »Arbeitsmigranten« war 1990 »der jugendliche (männliche) Araber«, der als potentiell gewaltbereit imaginiert wurde, ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt.351 Es ist bemerkenswert, wie prominent (männliche) Soziologen in diesem Zusammenhang als Experten angeführt, zitiert und interviewt wurden. Das galt zumal für die Printmedien. Abgesehen von Stadtpolitikerinnen und -politikern zog die überregionale französische Presse 1990 maßgeblich Soziologen heran, um die gewalthaften Zusammenstöße in Vaulx-en-Velin einzuordnen. Die populäre Tageszeitung »France Soir«, die am 8. Oktober 1990 erstmals ausführlich über die Unruhen berichtete, ließ gleich am ersten Tag von einem eher unbekannten Stadtsoziologen einen Kommentar verfassen, von Jacques Beauchard, Professor an der Universität von Créteil. Auch der konservative »Figaro« druckte am 8. Oktober ein Interview mit einem »Soziologen aus der Region« ab, dem Lyoner Universitätsprofessoren und Stadtsoziologen Yves Grafmeyer.352 Einen Tag später, am 9. Oktober, folgte dann ein langes Interview mit Alain Touraine, der zu den einflussreichsten Soziologen des Landes gehörte.353 Schon auf der Titel348 Bachmann u. LeGuennec, S. 353. 349 Ich stütze mich im Folgenden auf eine Auswertung der Berichte, die im Oktober 1990 in »Le Monde«, »Le Figaro« und »France Soir« erschienen, ergänzt durch die Abendnachrichten im französischen Fernsehen in der Woche vom 08.–15.10.1990. 350 In Teilen erfolgte eine solche Charakterisierung auch über die Nennung von Namen: Pour Amed, Jamel et les autres, l’ennemi no 1, c’est la police, in: France Soir, 09.10.1990. 351 Siehe zu dieser Beobachtung auch Garcia u. a., S. 392. 352 Y. Grafmeyer, L’explosion vue par un sociologue de la région, in : Le Figaro, 08.10.1990. Grafmeyer, der 1979 eine Sammlung von Texten der Chicago School in französischer Übersetzung herausgab, gilt im Übrigen als zentrale Figur der Wiederentdeckung der Chicago School in Frankreich. Grafmeyer u. Joseph. 353 Ces jeunes ne sont pas hors la loi, ils sont sans loi, in: France Soir, 08.10.1990. Siehe zu Touraine auch die Ausführungen in Kap. 4. 4.
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seite zitierte die Zeitung dessen Einschätzung, dass Frankreich von einem »amerikanischen Syndrom« heimgesucht werde.354 Auch Beauchard und Grafmeyer hatten einen Bezug zu amerikanischen Städten hergestellt. Touraine allerdings widmete einen Großteil seiner Analyse dem Vergleich mit den USA. In erster Linie, um auf diese Weise seiner These Nachdruck zu verleihen, die Ursachen der urbanen Gewalt seien nicht in Formen der ökonomischen, sondern in Formen der »ethnischen Exklusion« (exclusion ethnique) zu suchen. Der eigentliche Kommentar Touraines folgte dann auf der Doppelseite, die der »Figaro« am 9. Oktober 1990 den Unruhen widmete. Er erschien in einem separaten Kasten, begleitet von einem Foto des Soziologen. Daneben hatte die Zeitung eine Karte Frankreichs abgedruckt, die die Überschrift trug »Ces banlieues où le pire est possible« (»Diese Vorstädte, in denen das schlimmste möglich ist«). Die Zeitung verzeichnete darin eine Reihe von Großsiedlungen in unterschiedlichen französischen Städten, die sie als »banlieues à risques« bezeichnete. Sie ordnete die Vorfälle in Vaulx-en-Velin auf diese Weise nicht als ein lokales Phänomen ein, sondern als Phänomen von potentiell landesweiter Reichweite und deutete sie auch insofern als krisenhaft, als sie darin künftige Konflikte vorweggenommen sah. Außerdem beschrieb der »Figaro« die Gewaltausbrüche als Problem eines spezifischen Siedlungstyps. Unter der Karte folgte ein eigener Artikel zu den Problemen der grands ensembles, und die gesamte Doppelseite war mit dem Kommentar überschrieben, dass das »Problem der Schlafstädte« sich mit der bei Lyon aufflammenden Gewalt noch einmal mehr stelle. Die in den 1950er bis 1970er Jahren erbauten Siedlungen wuchsen damit zu einem einzigen Problemraum zusammen.355 In dem abgedruckten Interview warnte Alain Touraine vor einer Entstehung von »Ghettos« wie in Washington oder Chicago.356 Er machte für die Unruhen in erster Linie die Spannungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen (groupes à définition ethnique) verantwortlich. Auffallend war dabei, dass ethnische Spannungen im urbanen Raum aus Touraines Sicht erst neuerdings ein Problem darstellten. Die gewaltsamen Unruhen, die 1981 in Les Minguettes bei Lyon ausgebrochen waren, seien, schrieb er, noch Ausdruck der Probleme marginalisierter Jugendlicher allgemein gewesen, und das, obwohl der Anteil migrantischer Haushalte an der lokalen Bevölkerung dort eigentlich auch 1981 schon hoch war. Der »Unterschied zwischen Algeriern und Franzosen« sei zu diesem Zeitpunkt aber kaum bedeutsam gewesen, erklärte Touraine in der Rückschau, zumal beide Gruppen die Erfahrung ökonomischer Exklusion teilten. Heute sei das anders, hieß es weiter, und Touraine warnte vor »dem, was die Amerikaner
354 Vaulx-en-Velin: la polémique, in: Le Figaro, 09.10.1990. 355 La flambée de violence dans la périphérie de Lyon pose une nouvelle fois le problème des cités-dortoirs, in: Le Figaro, 09.10.1990. 356 »Nous allons vers la ségrégation et sa forme la plus dure, le ghetto.« A. Touraine, Le syndrome américain, in: Le Figaro, 09.10.1990.
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als Problem […] ›ethnischer Communities‹« bezeichnen.357 Exklusion und Gewalt entstehe heutzutage nicht mehr in oder zwischen ökonomischen Gruppen, sondern zwischen ethnischen, bekräftigte er. In den Unruhen in Vaulx-en-Velin sah der Soziologe den Ausdruck einer gefährlichen Desintegration. Dem gängigen soziologischen Script der Segregation entsprechend, warnte er mit Blick auf die Vorstadtsiedlungen vor einer sich selbst verstärkenden Segregation »wie in den USA«. Zwar höre man derzeit viel über eine »integration communautaire« und neue Bedeutung des Lokalen, erklärte er. Das sei aber problematisch: »Alles, was den Abstand zwischen dem Lokalen und dem Allgemeinen verstärkt, ist gefährlich.« Damit brachte Touraine eine Maxime des französischen Republikanismus zum Ausdruck, wonach zwischen Bürger und Nation möglichst nichts stehen sollte, abgesehen vom französischen Bildungssystem, der französischen Kultur und dem Militär. Die Vorstellung, dass sich auf französischem Boden alternative Zugehörigkeitsbeziehungen herausbilden und sich Individuen in erster Linie lokalen (ethnischen, kulturellen oder religiösen) »Communities« zugehörig fühlen könnten, galt gemeinhin als Krisenszenario. Eine positive Haltung zu »Communities« wurde dort in erster Linie mit den USA oder dem multikulturellen Großbritannien verknüpft und erschien den meisten problematisch. »Das Ghetto« stand in diesem Zusammenhang auch für ein Überhandnehmen an konkurrierenden Zugehörigkeiten.358 Dass Touraine in Reaktion auf die Lyoner Unruhen neben ökonomischer Gleichstellung und einer verbesserten Inklusion in das Bildungssystem in erster Linie die Arbeit an der »Einheit« der französischen Gesellschaft forderte, war insofern nur konsequent. Er interpretierte die Unruhen weniger als soziale oder ökonomische Krise, er sah darin eine Bedrohung der Nation. Dass aus Touraines Sicht die Grenzziehung zwischen »Algeriern und Franzosen« um 1990 eine Bedeutung erhielt, die sie zuvor nicht besaß, ist durchaus bemerkenswert. Und zwar auch deswegen, weil sich bereits infolge der erwähnten Unruhen in Les Minguettes Anfang der 1980er Jahre eine Protestbewegung gegründet hatte, die 1983 unter sehr reger Anteilnahme der Medien einen nationsweiten Protestmarsch gegen Rassismus organisiert hatte. Offiziell als »Marche pour l’égalité des droits et contre le racisme«, inoffiziell als »Marche des Beurs« betitelt, initiierten Jugendliche aus der Großsiedlung mit Unterstützung kirchlicher Akteure einen Protestmarsch gegen Rassismus und für mehr Gleichheit. Ausgehend von Marseille wanderten sie sechs Wochen lang durch Frankreich und machten in einer Reihe von Städten Station, bevor sie im Dezember 1983 schließlich in Paris ankamen.359 357 »[…] les définitions sont proprement ethniques: il s’agit de batailles rangées d’Antillais, d’Africains, de beurs.« Ebd. 358 Dass daneben, in einem extra abgesetzten Kasten, der Präsident des Front National, JeanMarie Le Pen, mit seiner Kritik an den »Illusionen einer vorgeblichen Integration« zitiert wurde, rundete das Bild ab. Ces banlieues où le pire est possible, in : Le Figaro, 09.10.1990. 359 Djaïdja u. Jazouli, S. 32. Zur Geschichte des Marsches siehe auch Hajjat, La marche; Garcia u. a.
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Während die öffentliche Aufmerksamkeit, die den Marschierenden zu Teil wurde, anfänglich begrenzt war, änderte sich das im Laufe ihres Marsches. Das war auch deswegen der Fall, weil es in Frankreich im November 1983 zu einem stark medialisierten Mord an einem algerischen Touristen gekommen war, den drei Anwärter der französischen Fremdenlegion bei einer Zugfahrt schwer misshandelt und anschließend aus dem fahrenden Zug geworfen hatten. Infolge dessen wuchs die Zahl der Marschierenden. Ähnliches galt für die Kundgebungen, die den Marsch begleiteten und über die verstärkt in der Presse und im Fernsehen berichtet wurde. In Paris empfing schließlich Präsident Mitterand einen Teil der Protestierenden im Elysee-Palast, und an der Abschlusskundgebung, die im Dezember auf dem Place de la Bastille standfand, nahmen mehr als 100.000 Personen teil.360 Der Marche pour l’Egalité diente in den folgenden Jahren als Vorbild für weitere antirassistische Protestmärsche. Deren Organisation war allerdings in der Zwischenzeit in andere Hände übergegangen und wurde von stärker parteinahen Organisationen wie namentlich SOS Racisme dominiert.361 Die Idee für den Marsch ging ursprünglich auf Toumi Djaïdja zurück, der Anfang der 1980er Jahre in Les Minguettes wohnte und dort als Jugendlicher die Initiative SOS Avenir Minguettes ins Leben rief.362 Djaïdja war 1962 in Algerien geboren worden. Sein Vater, der als harki und damit als algerischer Muslim während des Algerienkriegs in der französischen Armee gedient hatte, war im Anschluss an den Krieg in Algerien mehrere Jahre lang inhaftiert und wiederholt gefoltert worden. Nach seiner Freilassung floh die Familie nach Frankreich und lebte dort zunächst in verschiedenen Lagern und cités de transit, bevor sie 1969 in der Region von Lyon unterkam. 1971 zog die Familie dann in die Großsiedlung Les Minguettes, in eine von zahlreichen Wohnungen, die die Präfektur dort für harki-Familien reserviert hatte. Die Ankunft in der Siedlung verband Djaïdja in der Rückschau mit einem Gefühl der Erleichterung. Die Wohnung sei ihnen beim ersten Besuch wie das Paradies vorgekommen, Les Minguettes wie eine »terre d’asile« erschienen.363 Die frühen 1980er Jahre hingegen erinnert Djaïdja als eine von polizeilichen Razzien sowie einem »Gefühl der Exklusion« geprägte Zeit.364 Den Verfall der Gebäude und die sich verschlechternden mate 360 Ebd.; Hajjat, La marche, S. 128. Jazouli spricht von 500.000 Teilnehmenden. Djaïdja u. Jazouli, S. 90. 361 Zur ambivalenten Rolle von SOS Racisme und dessen Nähe zur sozialistischen Partei siehe Garcia u. a., S. 397 ff.; Hajjat, La marche, S. 10 ff. Zu den zahlreichen Folgemärschen zählte unter anderem 2003 der »Marsch der Frauen aus den Vorstädten für Gleichheit und gegen Ghettos«, der ein weiteres Beispiel dafür ist, dass der Begriff des Ghettos von unterschiedlichen Seiten als politische Ressource genutzt wurde. Zu diesem Marsch und seinen Hintergründen siehe Garcia u. a. 362 Djaïdja u. Jazouli. Hajjat spricht allgemeiner von den Jugendlichen von Monmousseau (einem Quartier am Rande der Großsiedlung Les Minguettes) als Organisatoren, nennt aber ebenfalls Djaïdja als eine Schlüsselfigur. Hajjat, Rébellions urbaines, S. 24 f. 363 Djaïdja u. Jazouli, S. 23. 364 Ebd.
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riellen Verhältnisse im Viertel beschreibt er als eine vergleichsweise neue Entwicklung der frühen 1980er Jahre.365 Ab Mitte der 1960er Jahre im stark industriegeprägten Vénissieux in der Nähe von Lyon erbaut, kämpfte die Großsiedlung Les Minguettes Anfang der 1980er Jahre mit einer Reihe von Problemen. Die in der Region um sich greifende Deindustrialisierung brachte einen starken Anstieg der Arbeitslosenquote mit sich, von der Jugendliche überdurchschnittlich betroffen waren. 1981 lag die Arbeitslosenquote bei den 16- bis 24-Jährigen in Les Minguettes bei 30 %.366 Hinzu kam, dass die Siedlung mit einer wachsenden sozialräumlichen Segregation kämpfte. Unterstützt durch die staatliche Förderung des privaten Eigenheimbaus war ab Mitte der 1970er Jahre ein wachsender Teil der Erstbezieherinnen und -bezieher aus der Siedlung fortgezogen.367 Zwischen 1975 und 1982 verlor Les Minguettes beinah 10.000 Bewohner. Die Kommune versuchte, diesen Fortzug zunächst dadurch zu kompensieren, dass sie bei ihren Sanierungsprojekten in Lyon insbesondere migrantische Haushalte aus den innerstädtischen Quartieren in die Vorstadtsiedlung umsetzte. Als es deswegen lokal zu Konflikten kam, setzte sie diese Praxis wieder aus, doch nahm infolge dessen der Leerstand in der Großsiedlung zu. In einzelnen Teilen der Siedlung, wie etwa im besonders schlecht beleumundeten Monmousseau, war in einzelnen Hochhäusern weniger als ein Drittel der Wohnungen bewohnt.368 Darüber hinaus unterschied sich massiv, wer wo in der Großsiedlung und ihren einzelnen Teilbereichen wohnte: In der Mehrzahl der Eigentumswohnungen wohnten französische Haushalte, in den Sozialwohnungsbauten war der Anteil an maghrebinischen und nichtfranzösischen Haushalten überdurchschnittlich hoch.369 Im Sommer 1981 häuften sich in der Siedlung dann die sogenannten rodéos: Rennen mit gestohlenen, bevorzugt teuren, Autos, die im Anschluss am Fuße der Hochhäuser von Les Minguettes angezündet wurden.370 Toumi Djaïdja war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. In einer Reihe von Interviews, die der Soziologe Adil Jazouli 2013 mit ihm führte, berichtet Djaïdja von seiner wiederholten Erfahrung mit polizeilicher Gewalt im Viertel. Er schildert auch, wie es im März 1983 abermals zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Jugendlichen des Viertels kam; Zusammenstößen, auf die eine Gruppe von Jugendlichen um 365 »Dans les années 1980, il y avait comme une forme de dégradation qui commençait à s’opérer dans le quartier […] Les tensions sont arrivées à une vitesse ! Il y a eu un revirement, un souffle de l’enfer sur les Minguettes. […] Et la police a commencé à s’imposer davantage, se faire remarquer«. Toumi Djaïdja, zitiert nach: Hajjat, Rébellions urbaines, S. 21. Hajjat geht davon aus, dass sich Anfang der 1980er Jahre auch das Verhältnis zwischen Bewohnerschaft und Polizei verschob und ein zuvor etabliertes Gleichgewicht im Viertel verloren ging. Ebd. 366 Hajjat, La marche, S. 23. 367 Augustin, S. 21 f.; Hajjat, La marche, S. 22 ff. 368 Augustin. 369 Hajjat, La marche, S. 23 f. 370 Allein im Juli und August sollen bis zu 240 Autos gebrannt haben. Djaïdja u. Jazouli, S. 30.
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Djaïdja nun allerdings mit einer nicht-gewalthaften Strategie reagierte. Es kam zu einem Sit-in vor dem Rathaus und am 28. März traten elf männliche Jugendliche aus der Siedlung in einen Hungerstreik.371 Zwar erregten sie damit weit über Les Minguettes hinaus politische Aufmerksamkeit, die Spannungen im Viertel selbst hörten dadurch aber nicht auf. Die Polizei schrieb diese Spannungen in ihren Berichten maßgeblich einer unzureichenden assimilation vor allem der »nordafrikanischen« Bevölkerung zu und sprach von einer Integrationsschwelle, einer »seuil d’intégration« von nicht mehr als 15 % an migrantischen Bewohnern, die dort klar überschritten sei.372 Die kommunalen Autoritäten und die Präfektur der Region schlossen sich dieser Deutung an. Dass an den Unruhen und der Kriminalität in der Großsiedlung durchaus auch »weiße Franzosen« beteiligt waren, blieb in den Analysen weitgehend außen vor. Das Gleiche galt für das wiederholt gewalthafte Vorgehen der Polizei selbst, das aus Sicht vieler Bewohner, darunter Toumi Djaïdja, rassistisch motiviert war. Im Juni 1983 wurde der unbewaffnete Toumi Djaïdja dann von einem Polizisten vor seinem Haus angeschossen.373 Noch im Krankenhaus entwickelte er mit anderen Jugendlichen aus der Siedlung die Idee, einen nationsweiten Protestmarsch gegen Rassismus zu organisieren. Die Jugendlichen wurden darin von Vertretern sowohl der protestantischen als auch der katholischen Kirche unterstützt und initiierten schließlich den »Marche pour l’Egalité«. Angesichts dieser eng mit den Unruhen in Les Minguettes Anfang der 1980er Jahre verknüpften antirassistischen Proteste sowie einer vermehrt um die Figur des »jugendlichen Arabers« gruppierten Darstellung der Vorstädte ist die anfänglich zitierte Deutung Alain Touraines durchaus überraschend. Dass ethnische Grenzziehungen Anfang der 1980er Jahre, wie von dem Soziologen behauptet, keine Rolle spielten für die auftretenden Großsiedlungskonflikte, ist fraglich. Es ist auch deswegen fraglich, weil das Verhältnis zwischen »autochthoner« und »migrantischer« bzw. maßgeblich zwischen »europäischer« und »nordafrikanischer« Wohnbevölkerung in Verwaltungskreisen bereits um 1980 als konflikthaft gezeichnet worden war. Zutreffend dürfte aber sein, dass die Mehrheit der damit befassten Soziologinnen und Soziologen, zumal in Touraines Umfeld, dem Beschreibungsmodell der »Klasse« Anfang der 1980er Jahre noch den Vorrang vor allen anderen gegeben hatten. Spätestens 1990 war das nicht mehr so. Wie auch Dubet tauschten immer mehr Soziologen im Zusammenhang mit den
371 Siehe dazu auch Hajjat, La marche, S. 54–60. 372 Ebd., S. 82 ff. Hajjat hat sicher Recht, dass es sich dabei um eine abgewandelte Form der Rede von einer »seuil de tolérance« handelte. Ebd, S. 86. 373 Laut Toumi hatte ein Polizist seinen Polizeihund auf einen anderen Jugendlichen im Viertel losgelassen, Toumi kam hinzu und intervenierte. Bis dahin gleicht seine Version der der Polizei. Die erklärt, der dann erfolgte Schuss habe sich versehentlich gelöst, Toumi geht von einem absichtlichen Schuss aus. Seine Beschwerden gegen die Polizei zog er später unter Druck zurück. Djaïdja u. Jazouli, S. 72 f. Siehe auch die Schilderung des Vorfalls bei Hajjat, La marche, S. 100 f.; Augustin.
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französischen Vorstädten ihr dominantes Deutungsmuster der »Klasse« gegen das von »Rasse« oder »Ethnie« ein. Die Darstellung der banlieues als eine Art nationaler Krisenraum zeichnete sich damit um 1990 endgültig durch eine grundlegende Ethnisierung, in Teilen auch Rassifizierung gesellschaftlicher Konfliktlagen und eine Hyperlokali sierung sozialer Probleme aus.374 Der in den Sozialwissenschaften ebenso wie in den Massenmedien zunehmend verbreitete Vergleich der französischen Vorstädte mit US-amerikanischen inner-city ghettos bündelte diese Entwicklung.375 Seit den frühen 1990er Jahren erschien in Frankreich eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Studien, in denen die Entwicklung der peripheren Großsiedlungen mit der US-amerikanischer marginalisierter Quartiere verglichen wurde.376 Die globalisierte Sprache des Ghettos, in der französischen Soziologie lange Zeit allein im Zusammenhang mit anderen Gesellschaften, wie der amerikanischen oder britischen, gebraucht, wurde in den 1990er Jahren endgültig in den französischen Kontext übersetzt. Nicht in jedem Fall kamen die Soziologinnen oder Soziologen allerdings zu dem Schluss, dass der Vergleich mit US-amerikanischen black ghettos zutreffend war. Der Bourdieu-Schüler Wacquant etwa verdankte seine Karriere in Teilen der elaborierten Kritik an der zunehmend gängigen Gleichsetzung der französischen Vorstädte mit afroamerikanischen Quartieren, indem er immer wieder die Unterschiede zwischen beiden urbanen Formationen hervorhob.377 Zu diesen Unterschieden gehörten die höhere (soziale und ethnische) Diversität der Großsiedlungen in Frankreich, das im Vergleich ausgeprägtere Engagement des Staates dort, die geringere Kriminalität sowie das im Vergleich bessere soziale Sicherungssystem. All diese Punkte wiesen für Wacquant darauf hin, dass sich die urbane Marginalität in den ehemals kommunistisch regierten Vorstädten von der in US-amerikanischen »Ghettos« unterschied. Die Herausbildung von Formen der »advanced marginality«, die er sowohl in Paris als auch in Chicago beobachtete, nahm einen je unterschiedlichen Verlauf und war in unterschiedliche gesellschaftliche und staatliche Kontexte eingelassen. Eine Verfestigung sozialräumlicher Ausgrenzungsmechanismen beobachtete Wacquant dennoch in beiden Fällen. Der Soziologe ging von einem »neuen Regime der sozialräumlichen Relegation und ausschließenden Schließung« (exclusionary closure) in der postfordistischen Stadt aus. Ein neues Regime, das er auf einen Wandel der kapitalistischen Ökonomien und einen Rückzug des Wohlfahrtsstaates zurückführte.378
374 Tissot, L’Etat. 375 Zum auch in den Massenmedien zunehmend verbreiteten Ghettobegriff siehe VieillardBaron, S. 26–31. 376 Siehe etwa die Studie des Geographen Vielliard-Baron, ebd. 377 Kokoreff; Wacquant. 378 Wacquant.
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c) Das Gesetz des Ghettos und die Verräumlichung der Sozialpolitik Was den USA-Vergleich für Soziologen wie für Politiker um 1990 interessant machte, war allerdings meist weniger sein analytisches als sein polemisches Potential.379 Die Sprache des Ghettos versprach Aufmerksamkeit, und zwar unter anderem deswegen, weil nach den Unruhen vom Herbst 1990 die Sorge vor weiteren Konflikten verbreitet war und die darin stets mitschwingende Warnung vor rassifizierten Gewaltausbrüchen »wie in den USA« eine gewissen Möglichkeitscharakter zu haben schien. In jedem Fall erzielte diese Warnung Effekte: Im Namen einer »Anti-GhettoStrategie« wurde die Verteilung und Durchmischung ethnischer Gruppen im urbanen Raum in den 1990er Jahren endgültig zu einem Leitziel der franzö sischen Stadt- und Sozialpolitik. Und gegenüber der Arbeit an gesellschaftsweiten sozio-ökonomischen Strukturen der Privilegierung oder Benachteiligung gewann die Arbeit an Räumen der Benachteiligung an Bedeutung.380 Die Art und Weise, wie diese Anti-Ghetto-Politik begründet wurde, lohnt dabei einen genaueren Blick, weil sie zeigt, wie sehr die Auseinandersetzung mit urbanen Problemlagen sich in den 1990er Jahren zwischen zwei Krisendiagnosen bewegte: 1.) der Diagnose einer wachsenden Ungleichheit der französischen Gesellschaft, die sich in der Exklusion oder Relegation von Teilen der urbanen Bevölkerung ausdrückte und deswegen als Problem galt, weil damit das meritokratische Versprechen des französischen Sozialstaats in Frage stand. 2.) der Diagnose einer Desintegration der französischen Nation, die sich in einer wachsenden Isolation ethnisch-kulturell definierter Gruppen ausdrückte und deswegen als Problem galt, weil sie die öffentliche Sicherheit gefährdete. Die parlamentarischen Debatten, die Anfang der 1990er Jahre die neue Politik der Durchmischung begleiteten, legen nahe, dass es zunehmend die zweite Krisendiagnose war, die die Auseinandersetzung mit urbanen Konfliktlinien bestimmte. Als loi ghetto, als »Gesetz des Ghettos« bezeichnete die mit der Vorbereitung eines neuen stadtpolitischen Gesetzes betraute Senatskommission in ihrem ersten Bericht dabei sowohl eine fortschreitende Marginalisierung von Teilen der Bevölkerung als auch das ultimative Szenario einer sich vollkommen aus der französischen Nation lösenden Gruppe. In den trostlosen grands ensembles drohe, hieß es düster, das Gefühl der Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv verloren zu gehen.381 Vor allem mit Blick auf die migrantische Bevölkerung in den Vorstädten griff die Kommission dabei auf das Script der Segregation zurück: Sie beschrieb eine sich gegenseitig verstärkende Dynamik des 379 Zur Sprache des Ghettos in politischen Debatten siehe etwa die Sitzungsberichte des Assemblée nationale, Sitzung vom 22.05.1990, in: JO, Débats Parlementaires, no29, 1960, S. 1584–1608. 380 Siehe dazu auch Tissot, French suburbs. 381 G. Larcher, Rapport fait au nom de la commission des affaires économiques et du Plan du Sénat sur le projet de loi d’orientation pour la ville. Document Sénat, no 383, déposé le 13 juin 1991, S. 37.
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physischen Verfalls, des Fortzugs mobiler Gruppen und der fortschreitenden Marginalisierung der verbleibenden, und sprach von einer »kumulativen Synergie der Exklusion«, die vor allem die Jugendlichen in »ethnische Banden« treibe und den Zusammenhalt der Städte gefährdet.382 Die Forderung nach einer »ausgewogenen Zusammensetzung urbaner Nachbarschaften«, die die Kommission in diesem Zusammenhang formulierte, war dabei an sich nicht neu. Wie erwähnt, hatte auch Dubedouts 1981 eingesetzte »Kommission für die soziale Entwicklung urbaner Quartiere« (CNDSQ) eine stärkere soziale und ethnische Durchmischung der urbanen Wohnbevölkerung gefordert, sowie namentlich einen Zuzugsstop für migrantische Haushalte in vorstädtischen Problemquartieren. Auch war die Arbeit der CNDSQ und ihrer Folgeorganisationen in den 1980er Jahren in der Regel quartiersbasiert gewesen. Sie konzentrierte sich auf ausgewählte Problemquartiere und zielte nicht allein darauf, lokal die soziale Infrastruktur zu stärken, sondern auch darauf, die Konzentration bestimmter Problembevölkerungen in diesen Quartieren zu verringern.383 Doch wurde das Prinzip der mixité sociale 1990/1991 erstmals in ein Gesetz überführt. Das 1991 erlassene Loi d’orientation pour la ville (LOV) war das erste einer Reihe von Gesetzen, die im Anschluss an – und im direkten Bezug auf – die Unruhen von 1990 erlassen wurden.384 In der politischen Öffentlichkeit firmierte das Gesetz, das verschiedene stadtpolitische Maßnahmen bündelte, als »Anti-Ghetto-Gesetz«.385 Die Entstehung von Ghettos bilde eine der »gravierendsten Gefahren« für die französische Gesellschaft, hieß es in dem ersten Bericht, den die zuständige Parlamentskommission im Mai 1991 der Assemblée Nationale vorlegte.386 Zwar verwiesen die politischen Akteure auch auf Mietmarktprobleme, wie etwa die Zunahme von Immobilienspekulationen in den sanierten Innenstädten. Außerdem führten einige die räumliche und infrastrukturelle Isolation der grands ensembles sowie deren wirtschaftlich prekäre Lage an. In erster Linie aber warnten die politischen Akteure wieder und wieder vor 382 »Habiter ces territoires repoussés en marge de la cité devient, de génération en génération, la marque, la reproduction d’une situation d’exclusion. Y résider, n’est pas le résultat du choix d’un domicile mais, en quelque sorte, l’acceptation résignée d’une assignation à résidence.« Ebd., S. 36, 38. 383 Auf das im Anschluss 1984 aufgelegte Programm zur Sozialen Entwicklung der Quartiere (Développement social des quartiers, DSQ) folgte 1988 die Etablierung der Délégation interministérielle à la ville (DIV). Tissot, L’Etat. 384 Loi n° 91–662 du 13 juillet 1991, Loi d’orientation pour la ville. 385 Um Ungleichheiten im Wohnen auszugleichen und Segregationsprozesse zu blockieren, wurde unter anderem festgelegt, dass mittelgroße bis große Städte einen Sozialwohnungsbestand von 20 % erreichen sollten. Zur Politik der »sozialen Durchmischung« siehe auch Avenel ; Masclet ; Bacqué. 386 G. Malandain, Rapport fait au nom de la commission de la production et des échanges de l’Assemblée nationale sur le projet de loi d’orientation pour la ville. Document assemblée nationale no 2060, déposé le 23 mai 1991.
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einer gefährlichen Desintegration ethnisch-definierter, migrantischer Gruppen in den vorstädtischen Hochhaussiedlungen.387 Sie beschrieben als das zentrale Problem der Vorstadtsiedlungen deren ethnische Diversität und trugen damit zu einer Migrantisierung urbaner Problemlagen bei, die de facto eine Reihe von Ursachen hatten. Wie verschiedene weitere stadt- und wohnpolitische Gesetze, die in den 1990er Jahren folgten, war das 1991 erlassene LOV Ausdruck einer ausgespro chenen Verräumlichung der französischen Sozialpolitik.388 Die Arbeit an der räumlichen Verteilung der urbanen Bevölkerung, an ihrer Wohnsituation, ihrem Wohnumfeld sowie an der infrastrukturellen Ausstattung ihrer Quartiere wurde zu einem wesentlichen Instrument der Einhegung gesellschaftlicher Konfliktpotentiale. Gegenüber Umverteilungspolitiken, wohlfahrtsstaatlichen Strukturhilfen oder personenbezogenen Förderinstrumenten hatte die Arbeit an eingrenzbaren Räumen und ihren Bewohnern damit massiv an Einfluss gewonnen. Diese Raumorientierung der französischen Sozialpolitik hatte in der Bundesrepublik ihr Äquivalent in dem umfangreichen Programm der »Sozialen Stadt«, das seit 1999 Quartiere mit einem »besonderen Entwicklungsbedarf« förderte, in denen sich soziale, wirtschaftliche oder städtebauliche Probleme verdichteten.389 Auch das Programm zur »Sozialen Stadt« war quartiersbasiert und zielte auf eine verdichtete Gemeinwesenarbeit sowie die Aktivierung der Quartiersbevölkerung in ausgewählten Vierteln.390 Zudem war das Programm in seiner Anlage stark von Stadtsoziologinnen und -soziologen und deren Warnungen vor einer wachsenden Polarisierung und Segregation der deutschen Städte geprägt. Wenngleich zeitversetzt, griffen damit beide Länder zu ähnlichen Förderformaten und betrieben – unter dem Einfluss eines stark soziologisierten Stadtdiskurses – Sozialpolitik in Form von raumbasierten, zeitlich begrenzten Projekten in ausgewählten Problemquartieren. Allerdings waren diese Förderformate in unterschiedliche urbane Topo graphien eingelassen. Sie waren in der Bundesrepublik deutlich weniger auf periurbane Quartiere beschränkt als in Frankreich und umfassten neben (wenngleich zahlreichen) Großsiedlungen auch innerstädtische Viertel und ehemalige 387 G. Larcher, Rapport fait au nom de la commission des affaires économiques et du Plan du Sénat sur le projet de loi d’orientation pour la ville. Document Sénat, no 383, déposé le 13 juin 1991, S. 70. 388 Zu dieser Verräumlichung siehe auch Tissot, L’Etat; dies., French Suburbs; Dikeç. 389 Häußermann u. a., Stadtpolitik, S. 253–260. Das Programm besteht noch immer. Eine Zwischenevaluation im Sommer 2017 ergab, dass bis dahin 780 Maßnahmen in 440 Städten und Gemeinden gefördert worden waren. Häußermann u. a., Stadtpolitik, S. 253–262. 390 Soziale Stadt. Aktuelle Informationen zum Bund-Länder-Programm, Jg. 1, 2000, S. 2. Das Deutsche Institut für Urbanistik begleitete das Programm. Auch erschien im Laufe der folgenden Jahre eine bemerkenswerte Vielfalt an soziologischen Sammelbänden und Monographien, die sich mit dem Projekt der »Sozialen Stadt« und den davon erfassten Gebieten befassten. Zu dessen Ziel der Aktvierung siehe auch Nitsch.
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Industriequartiere.391 In dieser größeren Diversität spiegelte sich wider, dass eine Hyperlokalisierung sozialer Probleme, wie sie in Frankreich im Laufe der 1980er Jahre einsetzte, in der Bundesrepublik ausblieb. Die Topographie urbaner Problemzonen war in der Bundesrepublik diversifizierter. Das war schon in Westdeutschland der Fall gewesen, nach 1990 dann aber durch die Zusammenführung zweier stark divergierender (sozialistisch versus marktwirtschaftlich geprägter) urbaner Topographien noch einmal mehr. Zwar gab es auch in der Bundesrepublik Viertel, in denen sich die Probleme marginalisierter Gruppen verdichteten, doch kam es dort nicht zu jener sich gegenseitig verstärkenden Ballung von Problemen und öffentlichen Aufmerksamkeiten, wie sie für »die banlieue« im späten 20. Jahrhundert kennzeichnend war. Eine Migrantisierung bzw. Ethnisierung urbaner Problemlagen war dennoch in beiden Ländern seit den 1970er Jahren zu beobachten. Auch ähnelten sich beide in ihren stadtpolitischen Leitlinien und Praktiken – in der Etablierung einer Politik der Quotierung und Durchmischung, in der Erfolgsgeschichte des »Ausländeranteils« als zentraler Problemkategorie und in der schrittweisen Etablierung von Integration und Desintegration als politischen Leitbegriffen. Und wenngleich zu unterschiedlichen Zeitpunkten, hatte das Ghetto als Inbegriff eines »gefährlichen Raums« in beiden westeuropäischen Gesellschaften Karriere gemacht. Es ist die Frage, ob diese Karriere auch etwas über jene veränderte Produktion von Lokalität unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung aussagt, wie Arjun Appadurai sie für das ausgehende 20. und 21. Jahrhundert beschrieben hat.392 Der Anthropologe geht davon aus, dass es Nationalstaaten angesichts sich ausweitender globaler Mobilitätsregime (von der Arbeitsmigration über Fluchtbewegungen bis hin zum Tourismus) zunehmend schwer fällt, Zugehörigkeit herzustellen. Immer häufiger entstünden Orte und Nachbarschaften, die zwar einerseits noch zu bestimmten Nationalstaaten gehörten, andererseits aber »translocalities« darstellten:393 Es lebten dort immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner, die sich in ihren alltäglichen Praktiken und Imaginationen in Räumen und Bezügen verorteten, die über nationale Grenzen hinausreichten.394 Translokale Nachbarschaften an sich stellten allerdings aus historischer Sicht kein neues Phänomen dar. Die globalisierten Migrationsströme des langen 19. Jahrhunderts etwa brachten solche Räume ebenfalls hervor. Das ändert aber nichts daran, dass im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert die Instabilitäten, 391 1999 stellten Großsiedlungen der 1960er bis 1980er Jahre etwa die Hälfte der 161 Programmgebiete, den größten Teil der übrigen Gebiete machten gründerzeitliche Altbaugebiete aus. Becker, S. 47. 392 Appadurai, S. 189–191. 393 Ebd., S. 192. 394 Appadurai geht es dabei auch um den Einfluss, den global zirkulierende Bilder, Nachrichten und Meinungen auf die Herstellung von Lokalität und damit von Zugehörigkeit nahmen. Es geht ihm um das sich verschiebende Verhältnis zwischen virtuellen Nachbarschaften einerseits und im konkreten Stadtraum verankerten Lebenswelten andererseits.
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die sich mit solchen translokalen Räumen verbanden, aus der Sicht vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein wachsendes Problem darstellten. Das legen in jedem Fall die Skandale nahe, die sich in westdeutschen und französischen Städten seit den 1970er Jahren um die Herausbildung von »Ghettos« und »Ausländerquartieren« gruppierten, sowie die vielfältigen Bemühungen um »Inte gration« und eine Einhegung des migrantischen Wohnens, die dort einsetzten. Sie zeugen in der Tat von einem fortgeschrittenen konflikthaften Verhältnis zwischen nationalstaatlichen Logiken, translokalen Loyalitäten und städtischen Nachbarschaften im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert.395
395 Appadurai, S. 196.
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5. Draußen sein. Der Raum der Gesellschaft und das Gespenst der Exklusion im ausgehenden 20. Jahrhundert a) Drinnen oder draußen: Eine neue Masterdifferenz »Poverty and marginalization are nothing new […]. But public attention and debate on these matters have greatly changed over the past 15 years in all the Member States, […] More particularly, they point to an important change of the past 15 years in the nature of the challenge itself: the problem is now not only one of disparity between the top and bottom of the social scale (up / down), but also between those comfortably placed within society and those on the fringe (in / out).« Commission of the European Communities, Towards a Europe of Solidarity: Intensifying the Fight Against Social Exclusion, Fostering Integration, Brüssel 1992, S. 7 f. Interviewer (zu einer Passantin auf der Straße in Köln-Lindenthal): Was würden Sie vorschlagen, damit sich die Deutschen besser in die Kölner Gesellschaft integrieren können? Passantin: Die, die. Wie? Moment mal, also – die Deutschen? Interviewer: Ja. Passantin: Ich denke, wir sind integriert? Weißes Ghetto. Kanak TV (BRD, Satire, 2002)1
Es ist die Frage, welche Raumspiele der französische Schriftsteller Georges Perec seinen Leserinnen und Lesern im ausgehenden 20. oder frühen 21. Jahrhundert empfohlen hätte, um ihnen zu ermöglichen, sich des »topographischen Stands« ihrer Gegenwart zu versichern. Auffallend ist jedenfalls, dass erstaunlich viele Beobachterinnen und Beobachter sich in dieser Zeit aufmachten zu etwas, das sie als »Reise« bezeichneten, um sich dann in diesem klassischerweise der Ferne und Fremde vorbehaltenen Modus in die peripheren Problemviertel verschiedener westeuropäischer Städte zu begeben. Auffallend ist auch, dass sie erwarteten, dort neuen Ungleichheitsformationen zu begegnen.
1 Weißes Ghetto, Kanak TV (Satire, BRD 2002), https://www.youtube.com/watch?v=Gwdy_ GAPBJQ [20.08.2020], TC 00:01:40.
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Als der Verleger François Maspero Ende der 1980er Jahre auf die Idee kam, gemeinsam mit einer befreundeten Fotografin eine Reise zu unternehmen, die beide entlang der Regionalbahnlinie B in die Vorstädte von Paris führte, besprachen die Zwei ihr Unterfangen zuvor ausführlich im Freundeskreis. Sie entdeckten, schrieb Maspero, dass viele aus diesem Kreis in den Vorstädten eine Art Ödland sahen: eine »Wüste mit zehn Millionen Einwohnern, eine Aneinanderreihung ununterscheidbarer grauer Bauten, ja, […] ein kreisförmiges Fegefeuer, und im Zentrum Paris-Paradies.«2 Eher als Badlands, die den Blick auf sich zogen, erschienen die Vorstädte als graue Nichträume, die Achselzucken hervorriefen. Maspero und Anaïk Frantz hielt das nicht davon ab, in den Vorstädten »die Gesellschaft« zu suchen. Dass ihr Sehepunkt dabei der von zwei Parisern war, die vom Drinnen der Stadt nach draußen schauten, legten beide offen. Sie in Montparnasse, er in Saint Paul hätten seit Jahren die langsame Verwandlung ihrer ehemals lebendigen Viertel erlebt, schrieb Maspero. In Folge von Renovierungen, Mieterhöhungen und Immobilienverkäufen hätten sie »ein ganzes Volk von Handwerkern, Angestellten und Händlern von dannen ziehen sehen, alles, was eine Pariser Straße ausmachte«.3 Ihnen reisten Maspero und Frantz nun nach. Eine ihrer ersten Stationen war dann die Großsiedlung Les 3000 in Aulnay-sous-Bois, die mit ihrem hohen Leerstand, ihrer ausgeprägten Arbeitslosigkeit und ethnischen Diversität sämtliche Kriterien dessen erfüllte, was für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen urbane Problemzonen ausmachte. Während die Siedlung nach ihrem Bau vornehmlich Arbeiter beherbergt hatte, die bei Citroën tätig waren, hatte der Autohersteller um 1990 kaum noch Jobs zu vergeben und die Beschäftigungsaussichten der Siedlungsbewohner waren begrenzt. Maspero sprach daher vor allem mit Blick auf die Jüngeren von einer verlorenen Generation: »All jene Jugendlichen, die herumgelungert haben, die noch herumlungern und nie erfahren haben, was richtige Arbeit ist. Heute sind sie zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt. Sie haben den Zug verpasst.«4 Selbst wenn sich Maspero und Frantz damit weniger als die von Perec empfohlenen 314,6 Kilometer von ihrem Wohnort entfernten, mutet ihre Tour wie eine Variation von Perecs Raumspielen an. In jedem Fall ist ihre Reise eine für das ausgehende 20. Jahrhundert höchst zeitgemäße. Schließlich waren Großsiedlungen wie die in Aulnay nicht allein in Frankreich, sondern in zahlreichen europäischen Ländern zu Problemzonen geworden. Auch riefen Soziologen, Aktivisten und Stadtpolitiker die Gentrifizierung der Innenstädte und die Spaltung in hippe, zentral gelegene Wohnparadiese auf der einen und verarmte, meist periurbane Wohnhöllen auf der anderen als eine neue, sozial bedenkliche Entwicklung aus; und zwar in London ebenso wie in New York oder Paris, Berlin oder Kapstadt.5 Hinzu kam die Warnung davor, dass in der aktuellen Phase 2 Maspero. 3 Ebd., S. 29. 4 Ebd. 5 In Deutschland entstanden die ersten Forschungen, die – orientiert an der US-amerikanischen Stadtsoziologie – nach der »Gentrifizierung« westdeutscher Städte fragten, Ende der
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des Kapitalismus, die stärker von global operierenden Dienstleistungs- und Finanzunternehmen bestimmt war sowie davon, dass industrielle Fertigungsräume global zirkulierten, wachsende Teile auch der westlichen Bevölkerung den »Zug verpassten«, dass sie abgehängt, marginalisiert oder gar hypermarginalisiert wurden. Dazu passte, dass kurz nach Maspero und Frantz 1989 kommunale Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Ländern zehn europäische »Viertel in der Krise« aufsuchten. Finanziert wurde ihre Reise von der Europäischen Kommission. Sie war Teil eines Programms, das der Revitalisierung urbaner Krisenviertel dienen sollte und das darauf abzielte, auf kommunaler und wissenschaftlicher Ebene den Austausch zu fördern. Als das erste Ergebnis erschien dann 1991 ein Band mit dem Titel »Reise zu zehn europäischen Vierteln in der Krise«. Das Vorwort dazu schrieb Marie-Christine Leroy, die in Frankreich für die Regierungskommission zur sozialen Entwicklung der Städte arbeitete. Alle europäischen Städte, schrieb Leroy, erlebten »derzeit eine Abwärtsspirale des Verfalls«. In allen entwickelten Ländern begegne man dem Phänomen einer »Stadt der zwei Geschwindigkeiten«: Bestimmte Teile der Städte erführen ein starkes wirtschaftliches Wachstum, während andere verstärkt als Sammel becken von Arbeitslosen, von Problembevölkerungen dienten. Überall das gleiche Phänomen einer »sozialen, räumlichen, kulturellen und sogar bürgerlichen Segregation.«6 Ob diese Einschätzung zutraf und sich die Problemlagen europäischer Städte tatsächlich überall auf diese Weise entwickelten, ist die Frage. In jedem Fall aber drückte sich darin eine auch europäisch vermittelte, transnationale Verflechtung urbaner Ungleichheitsdebatten aus. Sie trug dazu bei, dass politische Akteure und sozialwissenschaftliche Experten in verschiedenen europäischen Ländern über urbane Probleme immer häufiger im Modus der Spaltung und Exklusion sprachen.7 Bis heute ist die Warnung vor einer »Polarisierung«, »Spaltung« oder »Segregation« der Städte weit über die Ränder der Stadtsoziologie hinaus verbreitet.8 Gleiches gilt für die Befürchtung, dass wachsende Teile der urbanen Bevölke1980er Jahre: Dangschat u. Friedrichs. Siehe auch: Häußermann u. Siebel, S. 11–21. Auch in Frankreich begannen sich verschiedene Soziologen mehr für wohlhabende Viertel sowie den Prozess eines »embourgeoisement« urbaner Räume zu interessieren. Pinçon u. PinçonCharlot. Für erste Versuche einer Historisierung der »Gentrifizierung« Londoner, New Yorker und Hamburger Innenstadtviertel vgl. Moran; Osman; Neumann, S. 314–321, sowie aus soziologischer Sicht Holm. 6 (Übers. C. R.). Jacquier u. Leroy. 7 Eine ausführliche Historisierung der bemerkenswerten Karriere speziell der Exklusionssemantik, die Ende der 1980er Jahre von der französischen Soziologie aus ihren Weg in die Gremien der Europäischen Kommission und in die soziologische Forschung anderer europäischer Gesellschaften antrat, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Für einen in Teilen historisierenden Überblick über die Ausbreitung von Exklusion und Ausgrenzung v. a. in Europa vgl. (wenngleich historisch in Teilen ungenau) Fassin; Häußermann u. a., Stadt am Rand. Siehe hierzu auch die Überlegungen in Kap. 2. 5. der vorliegenden Studie. 8 Vgl. etwa Kronauer u. Siebel; Lessenich u. Nullmeier.
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rung auch in Europa dauerhaft marginalisiert, exkludiert oder desintegriert werden könnten. Die Unterscheidung zwischen innen und außen, Zentrum und Peripherie, Integration und Exklusion ist zu einer neuen Masterdifferenz der Beschreibung sowohl der europäischen Städte als auch der europäischen Gesellschaften geworden.9 Dass wachsende Teile der urbanen Bevölkerung ebenso wie Teile des städtischen Raums nicht mehr dazu gehören, dass sie abgekoppelt, relegiert, exkludiert oder schlicht »draußen« sind, ist jedenfalls nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der europäischen Politik und den Medien zu einer verbreiteten Befürchtung geworden.10 Es ist eine Krisendiagnose, die vor allem mit drei Entwicklungen zusammen gebracht wird: mit einer zunehmenden ethnischen Diversität der von Migration geprägten (west-)europäischen Gesellschaften; mit einer sich im postfordistischen Kapitalismus ausweitenden Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse; sowie mit einer durch globalisierte Standortkonkurrenzen und Immobilienspekulationen vorangetriebenen Spaltung der Städte in teure Innenstadt- und abgehängte Randgebiete. Das Draußensein von Teilen der urbanisierten Bevölkerung gilt damit als das neue Gespenst der von einem veränderten Kapitalismus und einer ungewohnten Diversität heimgesuchten westeuropäischen Stadtgesellschaften. Es ist in gewisser Weise die Vorgeschichte dieses Problems, die den Gegenstand der vorliegenden Studie bildet. Der sich wandelnde Umgang mit Unterschieden im urbanen Wohnen seit den 1950er Jahren wird darin in Form einer Raum- und Wissensgeschichte erzählt. Er wird anhand der Räume, Kategorien und Praktiken untersucht, mit denen die historischen Akteure ihre Stadtgesellschaften ein- und anordneten und sie regierbar machten. Auf diese Weise entsteht ein Ungleichheitsnarrativ, das in Frankreich und Westdeutschland vergleichsweise ähnlichen Rhythmen folgt und das jeweils um eine Verschiebung gruppiert ist, die sich verkürzt als Blickverschiebung von der Klasse zur Ethnie und Rasse beschreiben lässt. Die vornehmlich an einem Wandel in den staatlichen Sozialpolitiken und an makroökonomischen Veränderungen orientierte historische Ungleichheitsforschung beschreibt die Entwicklung sozialer Ungleichheit im Westeuropa des 20. Jahrhunderts bis dato maßgeblich als Geschichte einer vorübergehenden Einhegung sozialer Ungleichheit Mitte des 20. Jahrhunderts, die seit den 1970er Jahren überging in eine Phase der Prekarisierung und steigenden Arbeitslosigkeit, die von einem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen begleitet war. Ausgehend vom Nahraum Stadt, rückt die vorliegende Studie gegenüber dieser Historisierung sozialer Ungleichheit andere Entwicklungen in den Blick. Sie 9 Siehe für ein deutsches Beispiel der konstatierten Ablösung von »›oben und unten‹« durch »ein ›Drinnen‹ und ein ›Draußen‹« auch Häußermann u. a., Stadt am Rand, S. 8. 10 In gewisser Weise als Gegenstück hierzu macht Andreas Rödder in seinen Überlegungen zu einer »Geschichte der Gegenwart« eine neue Kultur der Inklusion aus, deren Aufstieg er eng mit der Kanonisierung der Menschenrechte, veränderten Gerechtigkeitsvorstellungen und einem wachsenden Einfluss der Neuen Sozialen Bewegungen verknüpft sieht. Rödder, Eine kurze Geschichte, S. 116–126.
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argumentiert erstens, dass die in Frankreich und Westdeutschland noch immer gängige Wirtschaftswundererzählung, die die 1950er bis 1970er Jahre maßgeblich im Modus des Aufstiegs beschreibt, einer Modifikation bedarf, indem sie auf die Ausschlüsse und Hierarchien verweist, die im Namen von Modernisierung, Zivilisierung und Komfort in dieser Zeit etabliert wurden. Sie argumentiert zweitens, dass die Modernisierung der Städte und die Ausweitung des Massenkonsums in dieser Zeit von den historischen Akteuren keineswegs durchgehend begrüßt wurden, sondern mit eigenen Verunsicherungen einhergingen. Sie beschreibt drittens, wie in Debatten über urbane Ungleichheit seit den 1970er Jahren eine Sprache der Exklusion, Marginalisierung und Desintegration an Bedeutung gewann, die mit einer Verschiebung in der Arbeit an sozialen Problemen verknüpft war. Sie zeigt viertens, dass in der Wohnpolitik, im Umgang mit urbanen Problembevölkerungen eine Politik der Adaption-durchSeparierung einer Politik der Integration-durch-Durchmischung wich. Und sie beschreibt fünftens, wie französische und deutsche Akteure den Wandel der städtischen Gesellschaften auf vergleichsweise ähnliche Weise, unter Rückgriff auf global zirkulierende Semantiken und Narrative zu beschreiben begannen und sie auf diese Weise ähnlicher machten. Die Entwicklung räumlicher Disparitäten folgte in beiden Ländern Rhythmen, die sich nicht ganz in das etablierte Periodisierungsschema vom Aufstieg und Ende der Wirtschaftswunderzeit und damit vom Bruch in den Mitt-1970er Jahren fügen.11 Denn die gängige Rede von den dreißig goldenen Boomjahren verdeckt, dass die Modernisierung des Wohnens in dieser Zeit nicht für alle Gruppen gleichermaßen eine Verbesserung bedeutete. In Frankreich und Westdeutschland wurden Baracken- und Obdachlosensiedlungen so früh zu Arenen der Auseinandersetzung mit der Armut und inadaptation bestimmter Gruppen, wie kinderreicher Familien und migrantischer Haushalte. Umso mehr, als in den 1960er Jahren die Zahl der dort Untergebrachten merklich zunahm. Das war auch deswegen der Fall, weil der Mangel an Wohnraum sich gerade in Großstädten nur langsam beseitigen ließ, und weil zugleich, durch den Abriss von Altbauten und die wachsende Zahl an vergleichsweise teuren Neubauwohnungen, gerade einkommensschwache Haushalte in wachsendem Maße Probleme hatten, Wohnungen zu finden. Die Wohnverwaltungen beider Länder etablierten in dieser Zeit ein System von Übergangssiedlungen, das dazu beitragen sollte, wohnungslose Familien mit Hilfe ihrer separaten Unterbringung zur »Moderne zu erziehen«, bevor sie Zugang zu regulären Sozialwohnungen erhielten. Diese Politik der Erziehung zur Moderne stand in Frankreich in einer kolonialen Tradition und fokussierte besonders auf algerisch-muslimische Migranten, sie überlagerte sich aber mit der segregierend-disziplinierenden Behandlung einkommensschwacher französischer Großfamilien. Sie fußte zudem auf hygienischen Vorstellungen der notwendigen Separierung von Risikogruppen im urbanen Raum. In Westdeutsch11 Siehe hierzu auch Reinecke, Die dunkle Seite.
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land hatte sie ihr Äquivalent in der versuchten Hebung wohnungsloser Familien durch deren isolierte Unterbringung am Stadtrand. Sie stand dort stärker in einer Tradition der disziplinierenden »Asozialen«-Fürsorge. Am Schnittpunkt von städtischer Wohnpolitik, sozialer Arbeit und wissenschaftlicher Forschung stellte die Integration Obdachloser in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren dabei ein wachsendes Interventionsfeld dar. Dass die verbreitete Praxis, urbane Problemgruppen räumlich zu separieren, um sie »einzugliedern« oder zu »modernisieren«, stigmatisierend wirkte und die Probleme der Betroffenen verstetigte, wurde um 1970 sowohl in Westdeutschland als auch in Frankreich allerdings verstärkt kritisiert. Unter dem Einfluss soziologischer Auftragsforschungen geriet in beiden Ländern das System der Disziplinierung und Separierung von als unterentwickelt oder asozial Klassifizierten ins Wanken und wich – eng verknüpft mit einem anderen Verständnis urbaner Problemlagen – einer neuen Formation der versuchen Aktivierung und Durchmischung. Zugleich weist der Umgang mit dem modernen Massenwohnen in beiden Ländern darauf hin, dass die in den Boomjahren beschleunigte Vermittelschichtung westlicher Gesellschaften und die seit den späten 1950er Jahren erweiterten Aufstiegsmöglichkeiten dort nicht nur mit Prozessen der Unterschichtung einhergingen, sondern auch eigene Verunsicherungen mit sich brachten.12 Der erweiterte Zugang zum modernen Wohnen und die schwindende Sichtbarkeit etablierter sozialer Grenzen (zwischen der Arbeiterklasse, den Angestellten, dem Bürgertum) wurde keineswegs durchgehend als spannungsfrei erfahren. Von der Bewohnerschaft nicht, von vielen ihrer Beobachterinnen und Beobachter ebenso wenig. Tatsächlich gab es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbild der westeuropäischen Gesellschaften als Wohlstandsgesellschaften, in denen ein wachsender Anteil der Bevölkerung sich selbst der Mittelschicht zuordnete – und den weiterhin ausgeprägten wirtschaftlichen Unterschieden dort. Dieses Spannungsverhältnis wurde im Zusammenhang mit den Großsiedlungen besonders deutlich, die zwar anfänglich für eine »breite Bevölkerung« gedacht waren, finanziell aber nicht für alle gleichermaßen erschwinglich waren. Hinzu kam, dass der Umzug in die neuen, sozial durchmischten Großsiedlungen am Stadtrand für viele Haushalte bedeutete, dass sie sich aus ihren gewohnten Milieus und Nachbarschaften lösen mussten. Bereits um 1960 gruppierte sich daher vor allem in Frankreich um die Siedlungen ein hoch medialisierter Krisendiskurs: Die Modernisierung der Städte und des Wohnens wurde wieder und wieder mit einem Verlust von sozialem Aufgehobensein verbunden.
12 Zu den seit den fortgeschrittenen 1950er Jahren stark erweiterten Aufstiegsmöglichkeiten im deutschen Fall siehe Wehler, Bundesrepublik, S. 119–24, 207ff; und Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 787–791, der zugleich auf den Prozess einer »Unterschichtung« durch ausländische Arbeitskräfte verweist.
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Der viel beschworene Abschied von der Proletarität – das legen die ambivalenten Reaktionen auf die Auflösung traditioneller Arbeiterquartiere und das neue durchmischte Massenwohnen nahe – war in den verschiedenen westeuropäischen Stadtgesellschaften insgesamt von einer gewissen Nostalgie begleitet. Eine Nostalgie, die nahelegt, dass die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen diesen Abschied mitunter als verlustreicher empfanden als von der bisherigen histo rischen Forschung angenommen.13 Die sozialpsychologisch geschulten Kritiker an den französischen Großsiedlungen und die kapitalismuskritischen Akti visten, die um 1970 in westdeutschen Siedlungen aktiv wurden, einte jedenfalls das (in Teilen nostalgische) Bemühen um eine Rezentrierung der Arbeiterklasse als Subjekt von Studien und politischen Aktionen. Und neben der einsamen Hausfrau wurde das klassenlose, aus dem Arbeitermilieu herausgelöste Individuum, dem am Stadtrand nicht nur die vertraute urbane Umgebung abhandengekommen war, sondern auch die Wärme der eigenen Klasse zu einer neuen Problemfigur. Die randstädtischen Hochhaussiedlungen werden in Frankreich aktuell für eine ganze Phalanx an Fehlentwicklungen herangezogen: Sie gelten als Arenen der Hypermarginalisierung, einer gescheiterten Stadtplanung oder scheiternden Integrationspolitik. Das ist in der Bundesrepublik weniger der Fall, doch weisen viele Hochhaussiedlungen auch dort einen überdurchschnittlich hohen Anteil an einkommensschwachen Haushalten auf und dienen als beliebte Schauplätze von Brennpunkt-Dokus und Sozialreportagen. Es sind Orte, an denen vor allem diejenigen wohnen, die es müssen, weil attraktivere Wohngegenden ihnen verschlossen sind (und das, ungeachtet ihrer eigentlich sehr unterschiedlichen Geschichte, sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland). Vor allem aber sind es Orte, die in der Öffentlichkeit zum Inbegriff für die vielfältigen Probleme abgehängter Gruppen geworden sind. Um diesen Abwertungsprozess zu verstehen, genügt es nicht, sich der Planungsgeschichte der Siedlungen zuzuwenden. Denn der Abstieg der Hochhaussiedlungen war nicht allein ein Ergebnis stadtplanerischer Fehlentscheidungen oder ein Resultat der sozio-ökonomischen Transformationen der post-1970er Jahre. Die Sozialgeschichte der Großsiedlungen ist vielmehr nicht zu verstehen, ohne die lange Geschichte ihrer Kritik und ihres sinkenden Prestiges in der Öffentlichkeit einzubeziehen, das sich mit den Realitäten vor Ort teilweise, aber keineswegs durchgehend deckte. Die Stilisierung der Großsiedlungen zu »schlechten Vierteln« verlief in unterschiedlichen Wellen: Nach einer ersten, in Frankreich um 1960 einsetzenden Welle der sozialpsychologischen Kritik an der Einsamkeit des Massenwohnens, begannen sich um 1970 vor allem Akteure 13 Zur Auflösung der industriellen Klassengesellschaft allgemein siehe auch Kaelble, Sozialgeschichte, S. 186 ff. sowie zum »Abschied von der Proletarität« in der Bundesrepublik auch die klassische Analyse von Mooser. Neuere Arbeiten haben sich maßgeblich auf die Erforschung von Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und die betriebliche Umwelt konzentriert. Siehe etwa Süß, Kumpel; Andresen.
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aus dem Umfeld der Neuen Linken für die Großsiedlungen zu interessieren. Aktivisten, Soziologen und Journalisten zogen die Siedlungen in beiden Ländern heran, um ein wachsendes Unbehagen an der Modernisierung der Städte zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus schlug sich in ihrer Kritik eine neue Sensibilität für die Vulnerabilität sozialer Gruppen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften nieder. Ihrer sozialen Durchmischung ungeachtet, begannen sich viele Akteure vor allem für die einkommensschwachen »Problemfamilien« in den Siedlungen zu interessieren. Das hatte (meist nicht intendierte) Effekte. Dass die peripheren Hochhaussiedlungen in der Öffentlichkeit immer wieder als schlechte, unwohnliche, gefährliche oder prekäre Viertel behandelt wurden, wirkte sich langfristig auf die Zusammensetzung ihrer Bewohnerschaft und ihre schrittweise soziale Entmischung aus. Es beschleunigte den Fortzug derer, die es sich leisten konnten fortzuziehen und verstärkte die sozialen Probleme vor Ort. Und das im französischen Fall umso mehr, als die in verschiedenen Großsiedlungen wiederholt ausbrechenden Unruhen seit den frühen 1980er Jahren den schlechten Ruf der Siedlungen festigten. Immer häufiger wurden die Vorstadtsiedlungen in Soziologie, Politik und Medien als Räume ethnischer Spannungen und als die gesellschaftlichen Krisenräume schlechthin gehandelt. Das verstärkte die Stigmatisierung und die ohnehin ausgeprägten Probleme vieler Vorstadtbewohnerinnen und -bewohner. Das gilt für beide Länder, obwohl die Peripherie der Großsiedlungen sich in Frankreich deutlich mehr zu einem multiplen Krisenraum entwickelte als in Westdeutschland. Insgesamt war die Topographie urbaner Problemzonen in der Bundesrepublik im Vergleich diversifizierter. Das hatte eine Reihe von Ursachen, hing aber unter anderem damit zusammen, dass politische Entscheidungsstrukturen und Formen der Wissensproduktion dort dezentraler organisiert waren. Kommunalpolitische Akteure besaßen tendenziell mehr Einfluss und die Vielfalt oder Eigensinnigkeit urban-lokaler Entwicklungen war größer. Zu den unterschiedlichen Pfadabhängigkeiten in der urbanen Wohn- und Belegungspolitik, die das mit sich brachte, kamen Unterschiede in der räumlichen Verdichtung von Deindustrialisierung und Prekarisierung hinzu. Auch war das städtische Wohnen in Westdeutschland im Vergleich noch stärker miet- als eigentumsgeprägt. Das erhöhte die Auswahl an Wohnraum für Einkommensschwächere. Hinzu kamen die Unterschiede in den Wohnkarrieren migrantischer Gruppen, die in Westdeutschland deutlich enger mit der Kahlschlagsanierung innerstädtischer Altbauquartiere verknüpft waren, während sie in Frankreich eher in den Großwohnprojekten am Stadtrand verortet waren und stärker von ehemals kolonialen Verwaltungsstrukturen abhingen. Vor allem aber waren die Großsiedlungen in der deutschen Öffentlichkeit weitaus weniger als gesellschaftliche Krisenräume präsent als in der französischen; ihr Platz in der imaginären Topographie war ein anderer. Trotz dieser Unterschiede zeichnete sich in den französischen und westdeutschen Stadtgesellschaften des späten 20. Jahrhundert jeweils eine bemerkens 330
werte Ethnisierung urbaner Problemlagen ab: Gegenüber Klassen- oder Schicht unterschieden waren es immer häufiger ethnische Unterschiede oder rassifizierte Differenzen, die in der Stadtpolitik, Soziologie und in den Massenmedien herangezogen worden, um urbane Probleme einzuordnen. b) Von der »sozialen Frage« zur »question raciale«? Quartiere mit einem hohen Anteil an migrantischen Haushalten entwickelten im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert in Westeuropa vermehrt den Ruf, urbane Problemzonen oder »sensible Quartiere« zu sein. Dass urbane Viertel anhand ihrer »Ethnizität« oder »Rasse« eingeordnet und beschrieben wurden, war an sich kein neues Phänomen. Auch um 1900 waren bestimmte Viertel schon mit bestimmten migrantischen Gruppen in Verbindung gebracht worden, mit »den Polen« etwa, »den osteuropäischen Juden«, »den Russen«, »den Chinesen« oder »den Italienern«.14 Außerdem hatten sich politische Akteure bereits um 1900 auf die in Städten größere Sichtbarkeit migrantischer Communities bezogen, um politische Forderungen zu formulieren. Neu oder anders an der Auseinandersetzung mit migrantischen Quartieren waren im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert in erster Linie vier Aspekte: 1.) die gewachsene Bedeutung sozialwissenschaftlicher Klassifikationen und Daten; 2.) die Etablierung einer Politik der Durchmischung, deren Verfechter davon ausgingen, dass die räumliche Konzentration migrantischer Gruppen mit deren Desintegration gleichzusetzen war, 3.) die schrittweise Integration ethnischer und rassifizierter Unterschiede in die Selbstbeschreibung der westeuropäischen Gesellschaften und die damit verschobene Grenze zwischen deren Innen und Außen;15 4.) die neue Bedeutung der Unterscheidung von »integrationsfähigen« und »nicht-integrationsfähigen«, integrierten und desintegrierten Gruppen. Nachdem sich sowohl Frankreich als auch die Bundesrepublik lange Zeit als ethnisch homogene Nationen gesehen und sich nicht als Einwanderungsgesellschaften beschrieben hatten, änderte sich das im Laufe der 1970er bis 1990er Jahre. Besonders früh hatten dabei kommunale Akteure erkannt, dass ein beträchtlicher Teil der migrantischen Bevölkerung dauerhaft blieb und in genau dieser Situation mehr soziologisches Daten- und Deutungswissen eingefordert. Das Verhältnis von deutscher zu nicht-deutscher Wohnbevölkerung wurde zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Auftragsstudien. Migration wurde in diesem Rahmen verstärkt als eine soziale Tatsache beschrieben, die nachhaltig Relevanz besaß. Und ethnische und rassifizierte Grenzziehungen sowie eine 14 Aus der reichhaltigen historischen Literatur dazu siehe stellvertretend Amenda; Esch. 15 Siehe dazu auch Chin, Guest Worker: »As long as Turks continued to be seen as transient outsiders, the cohesiveness of German society remained intact. But once these outsiders were recognized as de facto immigrants, conservatives sought out new ideological tools for reasserting homogeneity.«
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Sprache der Integration und Exklusion spielten für die Beschreibung urbaner Problemlagen eine wachsende Rolle. Die viel beschworene Ähnlichkeit der westeuropäischen Migrationsgesellschaften war damit auch eine hergestellte Ähnlichkeit, indem die zeitgenös sischen Akteure zur Einordnung urbaner Wandlungsprozesse verstärkt auf die gleichen Deutungsressourcen zurückgriffen. Miteinander verflochten waren transatlantische Kommunalpolitiken zwar bereits früher gewesen, doch waren diese Verflechtungen nun stärker über sozialwissenschaftlich geprägte Diskurse und Praktiken vermittelt. Dass die westeuropäischen Gesellschaften konvergierten, hing also nicht allein damit zusammen, dass sie im Zeichen von globalisiertem Finanzkapitalismus und transnationaler Massenmigration auf vielfältige Weise miteinander verflochten waren, sondern auch damit, dass Experten, Journalisten und politische Akteure diese Herausforderungen mit Hilfe der gleichen Kategorien, Daten und Narrative in den Griff zu bekommen suchten. Der ubiquitäre Aufstieg des »Ausländeranteils« und des »soziologisch beglaubigten« Prozentsatzes von 10, 12 oder 15 % an tolerierbaren Fremden in urbanen Quartieren ist dafür ein gutes Beispiel. Die Verbreitung eines ursprünglich an US-amerikanischen Städten geschulten Scripts der Ghettoisierung, Segregation und Desintegration ist ein weiteres. Die Auseinandersetzung mit urbanen Problemzonen wurde in Deutschland und Frankreich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vermehrt in einer Sprache der Integration oder Desintegration geführt. In beiden Fällen waren es dabei besonders häufig als »nicht-europäisch« kategorisierte, wie etwa türkische oder nordafrikanische Bewohner, deren »Integriertheit« in Frage gestellt wurde. (Kommunal)politische ebenso wie sozialwissenschaftliche Akteure unterteilten die urbane Bevölkerung vermehrt nicht nur in Aus- und Inländer, sondern auch in »europäische« und »nicht-europäische« oder in nicht-muslimische und muslimische Gruppen, und sie verbanden damit unterschiedliche Erwartungen an deren Integrations- oder Assimilationsfähigkeit. Diese Grenzziehungen spiegelten zwar Verschiebungen in der Zusammensetzung der migrantischen Bevölkerung wider, wie etwa den Anstieg von Asylsuchenden aus Räumen jenseits Europas.16 Sie standen aber auch in einer diskursiven Tradition der Kontrastierung von modernem, christlichen Okzident und rückständig-ländlichem Orient. Im französischen Fall sind zudem die in die Kolonialzeit zurückreichenden Kontinuitäten in der Klassifizierung der Wohnbevölkerung auffallend. Die für die Kolonialverwaltung in Algerien bedeutsame Scheidung in eine »indigene muslimische« und eine »europäische« Bevölkerung etwa, die ihrerseits mit der unterschiedlichen »Adaptation« der betreffenden Gruppen gleichgesetzt wurde, prägte weit über das Ende der formalen Kolonial16 Poutrus; Noiriel. Im deutschen Fall veränderte sich allerdings spätestens mit dem neuen Asylgesetz von 1993 die Zusammensetzung der Asylmigration abermals. Anders als noch Mitte der 1980er Jahre kam (zumindest vorübergehend) die Mehrheit der Asylbewerber aus Europa.
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herrschaft hinaus die Zuteilung von Wohnraum im metropolitanen Frankreich. Das schuf Pfadabhängigkeiten. Etwa, indem die Kategorisierung von nordafrikanisch-muslimischen Migrantinnen und Migranten als potentiell »inadaptiert« dazu führte, dass ihnen zunächst oft (minderwertige) eigene Unterkünfte zugeteilt wurden, die wiederum von ehemals kolonialen Institutionen verwaltet wurden. Die separate Unterbringung dort sollte sowohl zu deren Überwachung beitragen als auch dazu, sie zum Leben in der Moderne zu erziehen, bewirkte oftmals aber deren nachhaltige Isolation und Stigmatisierung. In den 1970er Jahren begann sich in der französischen Stadtpolitik dann, in Teilen beeinflusst durch soziologische Auftragsforschungen, die Maßgabe einer »Integration durch Durchmischung« durchzusetzen. Sie ging mit der Einführung von Zuzugsquoten für unterschiedliche Quartiere einher, die damit gerechtfertigt wurden, dass der Anteil an Fremden dort nicht zu hoch werden dürfe, weil andernfalls die »Toleranzschwelle« (seuil de tolérance) der Einheimischen überschritten werde und Konflikte drohten. In der Bundesrepublik wiederum entwickelte sich »der Ausländeranteil« in urbanen Vierteln seit den frühen 1970er Jahren zu einem häufig angeführten Problemfaktor. Anders als zeitgleich in Großbritannien gingen Stadt- und Wohnpolitiker in westdeutschen Großstädten davon aus, dass das enge Beieinanderwohnen migrantischer und zumal türkischer Haushalte Ausdruck eines mangelnden Integrationswillens war oder zu deren mangelnder Integration beitrug, also Probleme verursachte. Dementsprechend wurden ethnische Durchmischung und die versuchte Dekonzentration nichtdeutscher Bewohnerinnen und Bewohner zu zentralen politischen Maßgaben. Dass migrantische Viertel auch als Ankunftsviertel fungieren konnten, die das Ankommen erleichterten, trat in diesem Zusammenhang in den Hintergrund.17 Ebenso traten die Probleme eines sich verändernden Wohnungsmarktes in den Hintergrund, auf dem sich, zumal mit der fortschreitenden Privatisierung ehemals öffentlicher Wohnungen, bestehende Ungleichheiten tendenziell verstärkten, so dass die Frage, wer wo wohnte, oft keineswegs eine Frage der Kultur, sondern häufig der ökonomischen Ressourcen war. Dass im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert in der französischen und westdeutschen Stadtpolitik vermehrt zwischen Außereuropäern und Europäern, Muslimen und anderen unterschieden wurde, spiegelte zudem die gewachsene Bedeutung der EU wider. Die auf europäischer Ebene im Zuge der EU-Erweiterung geführten Diskussionen zu einer »europäischen Kultur« etwa beeinflussten die kulturalisierten Überlegungen zur Integrationsfähigkeit und zum Problemstatus unterschiedlicher migrantischer Gruppen.18 Und während sich Menschen 17 Siehe zu diesem de facto integrativen Effekt aber (anhand des Sprengelkiez im Berliner Wedding) Thomsen Vierra, u. a. S. 117–120. 18 Dass Hans-Ulrich Wehler 2002 in der Wochenzeitung »Die Zeit« im gleichen Atemzug dazu aufrief, einen EU-Beitritt der Türkei zu verhindern, weil es sich bei Europa um einen christlichen Staatenverband handele, und erklärte, die »muslimischen Minderheiten« hätten sich »überall in Europa als nicht assimilierbar« erwiesen, und auch die Bundesrepublik habe »bekanntlich kein Ausländer-, sondern ausschließlich ein Türkenproblem« ist für die viel-
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identitär zumindest unter anderem verstärkt in Europa verorteten, verschob sich die Grenzziehung zwischen Eigenen und Anderen.19 »Das Europäische«, das wird im Zusammenhang mit den urbanen Migrationsdiskursen besonders deutlich, konnte dabei zwar durchaus für eine gewisse multiethnische oder multikulturelle Diversität stehen, meinte oft genug aber auch »weiß« und »christlich« (gegenüber als nicht-weiß und / oder muslimisch eingeordneten Gruppen). Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde über Migration vermehrt als »Problem« und zumal als »Integrationsproblem« gesprochen. Das sollte allerdings nicht den Blick darauf verdecken, dass auch andere soziale Gruppen vermehrt über ihr Drinnen- oder Draußensein gefasst wurden. Das Integrationsdispositiv, das in Frankreich und Deutschland migrationspolitische Debatten zunehmend prägte, war letztlich Teil einer insgesamt an Einfluss gewinnenden Beschreibung sozialer Probleme im Modus des Drinnen und Draußen. So unterschiedliche Gruppen wie Wohnungslose, Langzeitarbeitslose oder Menschen mit Behinderungen wurden seit den späten 1960er Jahren immer wieder auf ihre Adaptation, Assimilation, Eingliederung, Inklusion oder Integration hin befragt. Angesichts einer wachsenden Arbeitslosigkeit, Diversität und Individualisierung wuchs in dieser Zeit die Sorge, dass Teile der Bevölkerung sozial keinen Platz haben, dass sie außerhalb der Gesellschaft, an ihrem Rand stehen oder zu deren Spaltung beitragen könnten. Mit ihren Warnungen vor einer auseinander strebenden Gesellschaft reagierten die historischen Akteure auf sozio-ökonomische Veränderungen, wie etwa ein erhöhtes Migrationsaufkommen oder die Tatsache, dass die Arbeitssituation von Teilen der Bevölkerung instabiler und prekärer wurde. Ihren Warnungen vor einer auseinanderstrebenden Gesellschaft war aber auch ein bestimmtes Verständnis davon gemein, was als gut, gerecht und normal gelten konnte. Dass Gemeinwesen im Zeitalter der Globalisierung »divers« waren und sein sollten, diese Vorstellung löste im ausgehenden 20. Jahrhundert nur sehr zögerlich die lange dominierende Vorstellung ab, dass Gesellschaften wie die französische oder deutsche normalerweise ethnisch und kulturell weitgehend homogen waren. Zwar waren auch die deutsche und französische Nachkriegsgesellschaft zu keinem Zeitpunkt homogene Gesellschaften vor der Migration oder vor der Differenzerfahrung gewesen: Sie waren vielmehr auch Mitte des 20. Jahrhundert bereits von Migrationsprozessen und imperialen Formationen sowie den daran geknüpften Grenzziehungen und Aushandlungen geprägt. Doch begannen beide sich erst im späten 20. Jahrhundert als von Diver sität geprägte Migrationsgesellschaften zu beschreiben.
fältigen Verschränkungen von EU-Grenzdiskussionen mit migrationspolitischen Debatten im auslaufenden 20. Jahrhundert charakteristisch. H.-U. Wehler, Das Türkenproblem, in: Zeit, 12.09.2002. Im Interview mit der »taz« bekäftigte Wehler diese Position kurz darauf: Muslime sind nicht integrierbar, Interview mit R. Bollmann, in: taz, 10.09.2002. 19 Eley.
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Um den Umgang mit Migration und Diversität in der Bundesrepublik und Frankreich zu rahmen, ist bis dato in der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung vor allem deren jeweiliges Nationsverständnis in den Fokus gerückt worden: Das kulturalisierte Nationsverständnis und lange Zeit abstammungsbasierte Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik auf der einen, das republikanische Nationsverständnis und bodenrechtliche Staatsangehörigkeitsrecht Frankreichs auf deren anderen Seite gelten, bei allen Problematisierungen ihrer allzu schematischen Gegenüberstellung, als der relevante Rahmen schlechthin, um zu verstehen, auf welche Probleme die farbenblinde Republik und die Kulturnation bei ihrem Umbau zu »Einwanderungsgesellschaften« stießen. Damit sind auch relevante Einflüsse benannt. Allerdings legt der Blick auf die veränderten Grenzziehungen im urbanen Wohnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahe, dass es – neben ihrer jeweiligen kolonialen Vergangenheit – noch einen weiteren Aspekt gibt, der den Umgang mit Diversität beeinflusste: Und zwar die Art und Weise, wie sich beide Gesellschaften als Klassengesellschaften verstanden und als sozial differenziert dachten und organisierten. Die Vorstellung einer politisch organisierten, aber noch immer sozial tragfähigen und in sich weitgehend geschlossenen Arbeiterklasse, der für den sozialen Frieden eine wesentliche Bedeutung zugewiesen wurde, besaß in Westdeutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger Bedeutung als in Frankreich. Das war vermutlich auch einem stärkeren Bedürfnis nach Abgrenzung von der DDR geschuldet. Zwar gab es in Westdeutschland weiterhin Arbeiterinnen, Arbeiter und Gewerkschaften, ebenso wie es nahe liegt, klassische Industrieregionen wie den Ruhrpott mit einem fortbestehenden Arbeitermilieu in Verbindung zu bringen. Dennoch besaß der Verlust eines Klassenzusammenhalts oder eines ganzen gesellschaftlichen und politischen Klassen-Arrangements, das im Postfordismus zu Fall kam, in der alten Bundesrepublik weniger dramatische Fallhöhe. Zugleich taten die dortigen Beobachterinnen und Beobachter des Sozialen sich auffallend schwer damit, über mögliche Verschränkungen von Klasse, Schicht und Ethnie nachzudenken. Vielleicht auch, weil die Vorstellung einer irgendwie internationalen Arbeiterklasse dort wenig einflussreich war, erschienen Migrantinnen und Migranten in Westdeutschland besonders behäbig als separate, jenseits oder unterhalb der übrigen sozialen Ordnung angesiedelte Gruppe. In Frankreich wurde dem Arbeitermilieu für die Stabilität und Integration der französischen Gesellschaft dagegen deutlich mehr Bedeutung zugewiesen. Nicht nur sollten die Werte und Institutionen der französischen Republik egalisierend wirken, sondern auch vom geteilten Alltag und Wertehimmel der Arbeiterklasse wurde erwartet, dass sie integrierend wirkten. Dementsprechend bestand die Krise der französischen Großsiedlungen für viele französischen Soziologinnen und Soziologen noch um 1980 vornehmlich in der Auflösung einer geschlossenen Welt der Arbeiterschaft. Dass deren Stabilität angesichts einer um sich greifenden Arbeitslosigkeit und eines wankenden kommunistischen Kommunalismus nicht mehr gewährleistet war, ließ für viele Migration 335
erst wirklich zu einem Problem werden und lenkte den Blick spätestens in den 1990er Jahren auf ethnische Differenzen.20 Als wie bedrohlich die Auflösung einer vorher stabilen, politisch wie sozial integrierten Arbeiterklasse französischen Intellektuellen bis heute erscheint, verdeutlicht ein Beststeller wie Didier Eribons 2009 publiziertes Buch »Rückkehr nach Reims«, in dem der Philosoph nicht nur seine persönliche Geschichte des Aufstiegs vom Arbeiterkind zum Pariser Intellektuellen beschreibt, sondern auch die politischen Spätfolgen der Auflösung seines proletarischen Herkunftsmilieus – wie namentlich einen um sich greifenden Rassismus. Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen der französischen und westdeutschen Entwicklung, die in der vorliegenden Studie stärker im Fokus standen, hatten die durchaus vorhandenen Unterschiede im Umgang mit Migration und Diversität auch etwas damit zu tun, wie beide Gesellschaften sich als Klassengesellschaft dachten. In jedem Fall müssen Historikerinnen und Historiker bei ihrer Analyse von Ungleichheitsverhältnissen noch stärker in den Blick nehmen, wie »Klasse«, »Ethnie« und »Rasse« von den Zeitgenossinnen und -genossen zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Schließlich illustriert gerade der Wechsel von einer Klassen- zu einer Ghettoerzählung bei der Beschreibung der französischen Vorstädte die vielfältigen Schwierigkeiten der Integration neuer Differenzkategorien in das gängige Bild »der Gesellschaft«. »Klasse«, »Ethnie« und »Rasse« brachten als Beschreibungskategorien ein je eigenes Gepäck mit, das sich auf deren weitere Verwendung auswirkte: Die klassische soziologische Ungleichheitserzählung war in Europa eine Klassenerzählung, während Ethnie und in Teilen auch Race herkömmlicherweise eher Zutaten nationaler oder imperialer Zugehörigkeitsnarrative waren, und es scheint, als wenn beide Differenzkategorien diese Geschichten noch in den 1990er Jahren wie einen Schatten mit sich führten.
20 Eribon. In dieser Hinsicht ganz ähnlich: Louis.
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Danksagung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im Mai 2018 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig eingereicht habe und die dort zur Habilitation angenommen wurde. Die Arbeit wurde begutachtet von Maren Möhring, Dirk van Laak und Thomas Mergel, für deren konstruktive Kommentare ich sehr dankbar bin. Gleiches gilt für die hilfreichen Anmerkungen der Herausgeberinnen und Herausgeber der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«, die so freundlich waren, diese Schrift in ihre Reihe aufzunehmen. Dieses Buch ist ein Buch über das Leben in Städten, und es gehörte zu den schönsten Begleiterscheinungen der Arbeit an dieser Studie, dass sie mich in eine Reihe von großartigen Städten geführt hat. Die Idee dazu kam mir bei einem Forschungsaufenthalt in den USA, wo ich in Boston auf einem Bücherflohmarkt über die Erinnerungen von Peter Blake gestolpert bin, einem Architekten, dessen Biographie eng mit der transnationalen Geschichte der modernen Stadtplanung verknüpft ist. Sein Buch hat mich nicht nur zu vielen weiteren Büchern geleitet, sondern auch zu einer Vielzahl von Problemvierteln in den USA und Europa. Es war der Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, die ich in Berlin in intensiven Gesprächen mit Thomas Mergel, Hartmut Kaelble und anderen begonnen habe zu konzipieren, um dann an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg daran weiterzuarbeiten, unterstützt von Kirsten Heinsohn und Axel Schildt, Dorothee Wierling, Christoph Strupp, Anne Kurr, David Templin, Knud Andresen und vielen anderen. Außerdem hat es mir ein Marie Curie Stipendium der EU, kofinanziert durch die Gerda Henkel Stiftung, ermöglicht, mich ein Jahr lang in Paris am Centre d’histoire sociale des mondes contemporains aufzuhalten und mich in dieser Zeit intensiv mit Annie Fourcaut über die Entwicklung der französischen Vorstadtsiedlungen auszutauschen. Abgeschlossen habe ich die Arbeit an dieser Studie dann in Leipzig, in den Räumen der Deutschen Nationalbibliothek und begleitet von vielen hilfreichen Diskussionen mit Maren Möhring und anderen. Immer wieder zum Nachdenken angeregt wurde ich in dieser Zeit durch die Gespräche bei zahlreichen Workshops und Colloquien, Arbeitskreis- und Netzwerktreffen, etwa im Rahmen des DFG-Netzwerks »Population, Knowledge, Order, Change: Demography and Politics in the 20th Century in a Global Perspective« oder des Arbeitskreises Geschichte + Theorie. Auch flossen in die Überarbeitung des Manuskripts die vielen Unterhaltungen und selbstkritischen Reflexionen zur Migrationsforschung und ihrer Wissensproduktion ein, die ich im vergangenen Jahr am IMIS in Osnabrück mit Isabella Löhr, Jochen Oltmer, Andreas Pott, Inken Bartels, Philipp Schäfer, Laura Stielike und anderen führen konnte. 337
Überhaupt haben die Arbeit an diesem Projekt vor allem die Freundinnen, Freunde und Kollegen bereichert, die im Laufe der letzten Jahre immer wieder zu intensiven Pausendiskussionen bereit waren und mir das Ankommen in verschiedenen Städten erleichtert haben, darunter Hannah Ahlheim, Antje Dietze, Benno Gammerl, Luminita Gatejel, Rüdiger Graf, Joachim C. Häberlen, Heinrich Hartmann, Sebastian Haumann, Isabella Löhr, Natalie Nik-Nafs und Wiebke Porombka, Stephanie Olsen und Rob Boddice, Britta-Marie Schenk, Anna Souillac, Katja Sporbert und Florian Torres, Malte Zierenberg. Ihnen allen danke ich sehr! Für die aufmerksame Betreuung der Publikation möchte ich mich außerdem bei Daniel Sander von den Vandenhoeck & Ruprecht Verlagen bedanken. Mein Dank gilt zudem Anne-Sophie Clemençon, die so nett war, mit mir über ihre Fotos der Großsiedlung Les Minguettes zu diskutieren und mir eines davon für das Cover dieses Buches zur Verfügung zu stellen. Ganz besonders bedanken möchte ich mich schließlich bei meinen Eltern und meiner Familie, bei Christian und dem fantastischen Adam – für ihre Diskussionsfreudigkeit, Unterstützung und ihre ganz eigene Begeisterung für das Zusammenleben in Städten. Leipzig, im August 2020
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Christiane Reinecke
Abkürzungen AfS APO-Archiv ATD Barch CAC CADIS CIJW CNDSQ DFG DGRST DIV DSQ DST FAZ FAS FR GG GISTI HAEC HLM JO LAB LAV NRW R LOV NDV SCIC StA Bremen StA Hamburg StdA München VfZ ZF
Archiv für Sozialgeschichte Archiv Außerparlamentarische Opposition und soziale Bewegungen, Freie Universität Berlin Aide à toute détresse Bundesarchiv, Koblenz Archives Nationales, Centre des Archives Contemporaines, Pierrefitte-sur-Seine Centre d’analyse et d’intervention sociologiques ATD Quart Monde, Centre International Joseph Wresinski, Baillet- en-France Commission nationale pour le développement social des quartiers Deutsche Forschungsgemeinschaft Délégation générale à la recherche scientifique et technique Délégation interministérielle à la ville Développement social des quartiers Deutscher Städtetag Frankfurter Allgemeine Zeitung Fonds d’Action Sociale Frankfurter Rundschau Geschichte und Gesellschaft Groupe d’information et de soutien des travailleurs immigrés Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel Habitation à loyer modéré Journal Officiel de la République française Landesarchiv Berlin Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland Loi d’orientation pour la ville Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Société Centrale Immobilière de la Caisse des Dépôts Staatsarchiv Bremen Staatsarchiv Hamburg Stadtarchiv München Vierteljahresheft für Zeitgeschichte Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History
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Abbildungen Abb. 1:
Beispiel eines ausgewerteten Fragebogens, entwickelt im Rahmen einer Evaluation von Haushalten in einem als »sanierungsbedürftig« eingestuften Viertel in Troyes, entnommen aus: R. Auzelle, Recherche d’une méthode d’enquête sur l’habitat défectueux. Paris 1949, S. 36. Abb. 2, 3, 4: Bilder, die die »überaus ernste Kehrseite« der Wohnungsbaupolitik dokumentieren sollen: eine Barackensiedlung in Hamburg, Altstadtbauten in Mainz, eine Obdachlosensiedlung in Hannover, entnommen aus: LAB, B Rep 142-09, Nr. 6/30–54, Bd. 1. Abb. 5, 6: Flugblätter der Groupe d’information et de soutien des travailleurs immigrés, entnommen aus: http://odysseo.generiques.org.
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Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Bestand Otto Blume, Tätigkeitsberichte des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e. V.
Archives de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), Paris Bestände des Centre d’Étude des Mouvements Sociaux (CEMS), Rapports sur les activités, l’organisation et le programme Bestände des Centre d’Analyse et d’Intervention Sociologique (CADIS), Rapports sur les activités, l’organisation et le programme
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Archiv des ZDF, Mainz Protokolle des Telefondienstes
ATD Quart Monde, Centre International Joseph Wresinski, Baillet-en-France (CIJW) Ordner: BRS: Correspondance de l’institut Ordner: Colloques et Etudes (Années 1960) Ordner: Documents d’enquête
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Bundesarchiv, Koblenz (Barch) Signaturen: B/189/22000; B/189/21991
Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel (HAEC) BAC 18/1987, Premier programme de lutte contre la pauvreté
Landesarchiv Berlin (LAB) B Rep 142-09, Bestand des Deutschen Städtetags B Rep 220, Drucksachen und Protokolle der Bezirksverordnetenversammlung Reini ckendorf
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R), Duisburg NW 670, Nr. 53; Nr. 54; Nr. 146
Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags, Berlin Gesetz über städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Gemeinden (Städtebauförderungsgesetz), 27. Juli 1971, Gesetzesmaterialien, VI 169, Bd. A 3 (Behandlung im federführenden Ausschuss)
Staatsarchiv Bremen 4,29/2/356, Senator für Bauwesen, Lager- und Barackenräumung
Staatsarchiv Hamburg 353–4, Amt für Wohnungswesen, 610
Stadtarchiv München (StdA München) Bestand Ausländerbeirat Bestand Presseamt Ratssitzungsprotokolle
Interviews Gespräch der Verfasserin mit Michel Pialoux, Soziologe, 08.11.2013. Gespräch der Verfasserin mit Thomas Hartwig, Filmemacher, Berlin, 31.08.2012. Gespräch der Verfasserin mit Jean-Paul Tricart, vormals Soziologe, zu der Zeit Head of the Unit »Social Dialogue and Industrial Relations« bei der Europäischen Kommission, Brüssel, 18.11.2013.
2. Zeitungen und Zeitschriften Association Sarcelloise des Habitants du Bois de Lochères et Sablons. Bulletin Special Bild Bulletin d’information des foyers Sonacotra en lutte
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Bulletin d’information de l’Association Sarcelloise des Habitants de Lochères, S ablons, Barrage Bulletin Municipal de Noisy-le-Grand Bunte B. Z. Der Große Brockhaus Elle En Famille. Association des Familles du Grand Ensemble de Sarcelles Figaro France Soir Frankfurter Allgemein Zeitung Grand dictionnaire encyclopédique Larousse Grand Larousse de la langue française Hamburger Abendblatt Igloos Journal Officiel de la République Française L’Aurore L’Habitation L’Humanité La Croix Le Monde Libération MVZ: Märkische Viertel Zeitung Quick Spiegel Stern Süddeutsche Zeitung Tagesspiegel The Guardian Verhandlungen des Deutschen Bundestags. Drucksachen Verhandlungen des Deutschen Bundestags. Stenographische Berichte Zeit Zitty
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La Zone. Au pays des chiffoniers, Stummfilm, Regie Georges Lacombe, Frankreich 1928. Les chiffoniers d’Emmaüs, Spielfilm, Regie Robert Darène, Frankreich 1955. Liebe Mutter, mir geht es gut, Spielfilm, Regie Klaus Wiese und Christian Ziewer, BRD 1971. Rudi, Dokumentarfilm, Regie Thomas Hartwig und Jean François le Moign, BRD 1972, TV-Erstausstrahlung 27.03.1972 (ARD). Rue du Moulin de la Pointe, Dokumentarfilm im Rahmen der Reihe »A la découverte des Français«, produziert von Roger Benamou und Jacques Krier, Frankreich 1957, Erstausstrahlung 05.04.1957 (RTF). Urbs Nova?, Fernsehdokumentation, Regie Herbert Ballmann und Wolfgang Patzschke, BRD 1971, TV-Erstausstrahlung 22.09.1971 (ZDF). Von wegen »Schicksal«, Dokumentarfilm, Regie Helga Reidemeister, BRD 1978, TVErstausstrahlung 29.03.1979 (ZDF). Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Spielfilm, Regie Ulrich Edel, BRD 1981. Wir wollen Blumen und Märchen bauen, Dokumentarfilm, Regie Thomas Hartwig und Jean François le Moign, BRD 1970, TV-Erstausstrahlung 15.12.1970, ARD, erste Wiederholung am 16.02.1972 (ARD).
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Register
Personenregister Abbé Pierre 52–54, 68 Abbé Joseph (siehe Joseph Wresinski) Abreß, Hubert 253–255 Adams, Ursula 117 Auzelle, Robert 84–86, 147 Badin, Pierre 47 f., 64 f. Bahrdt, Hans-Paul 156 Balibar, Etienne 284, 307 Ballmann, Herbert 199, 205 Bernard, Marc 161 Bourdieu, Pierre 122, 124, 129, 180 f., 316 Brisch, Ulrich 103, 107, 118 Bruder, Günter und Irene 200 f., 203 Brügelmann, Hermann 96 f., 100 f. Burgess, Ernest W. 237, 240
Deleuze, Gilles 120, 132 Djaïdja, Toumi 313–315 Dubedout, Hubert 299 f. Dubet, François 231, 292–303, 315 Duncan, Beverly und Otis Dudley 240, 289 Durkheim, Emil 126, 129, 245 f. Eko Fresh 304 f. Eribon, Didier 336 Fabian, Heinz 92 f. Fassin, Didier 308 Foucault, Michel 14, 45, 56, 120 f. Fourastié, Jean 19 f. Frantz, Anaȉk 324 f. Fürstenberg, Friedrich 124 f.
Calhoun, John 170 Caro, Louis 168 f., 172 Caroux, Françoise und Jacques 184 Castells, Manuel 160 Chaban-Delmas, Jacques 78 Chalandon, Albin 179 Chamboredon, Jean-Claude 180–182 Chevalier, Louis 295 Chevallier, Maurice 122–124 Chombart de Lauwe, Paul-Henry 146–150, 152 f., 168, 170–172 Christiane F. 207 f. Claudio, Thomas 309 Claudius-Petit, Eugène 280 Clements, Frederic C. 237 f. Coing, Henri 150, 152 f., 155–157, 159 Cornuau, Bernadette 58 Cournut, Jean 64 f.
Galbraith, John Kenneth 260 Gans, Herbert J. 150, 152–159 Geiersbach, Paul 264 f. Godard, Jean-Luc 160, 176 Graf, Charly 108 f. Grafmeyer, Yves 241, 310 Grodzins, Morton 240, 289 Guichard, Olivier 161, 163, 179 Gurvitch, Georges 129
De Certeau, Michel 14, 27 f. De Gaulle-Anthonioz, Geneviève 56, 63, 67 f. De la Gorce, Francine 48, 56 De Vos van Steenwijk, Alwine 56–58, 63, 67
Iben, Gerd 114, 117 Irle, Martin 111 f.
Haag, Fritz 94 f., 102, 112–115 Hartwig, Thomas 199 f. Hazemann, Robert 171 f. Heil, Karolus 114, 253 f. Hobrecht, James 142 Hoffmeyer-Zlotnik, Jürgen 262 f., 268 Höhmann, Peter 114–116 Huguet, Michèle 170
Jacobs, Jane 28, 209 Jährling, Bernard 47
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Jazouli, Adil 292 f. Josco, Maurice 71 f., 79 f. Jürgens, Hans W. 106
Perec, Georges 9 f., 323 f. Pétonnet, Colette 89 Pfeil, Elisabeth 156 Pialoux, Michel 122, 124
Krebs, Dagmar 111–112, 114 Labbens, Jean 48, 59–62, 65 Lange, Horst und Ulla 200–203, 205 f. Lapeyronnie, Didier 292 f., 302 Latour, Bruno 30, 232 Le Corbusier 34 f. Le Moign, Jean François 199 f. Le Pen, Jean-Marie 307, 312 Lefebvre, Henri 29 f., 160, 166, 173, 179 Lemaire, Madeleine 180–182 Lepsius, Rainer M. 111, 127 Lewis, Oscar 61 f. Lieske, Waltraud und Wolfgang 211–213 Liscia, Claude 81, 123 f. Luhmann, Niklas 126 Martini, Hans 111 f. Marx, Detlef 257 f. Maspero, François 324 f. Massenet, Michel 71, 78 Miller, S. M. 58, 248 f. Mitscherlich, Alexander 195, 209 Mitterand, François 291, 294, 303, 313 Müller, C. Wolfgang 194 f., 200, 202 Muthesius, Hans 104
Rakowitz, Irene und Richard 200–204 Reidemeister, Helga 200–206 Richter, Horst Eberhard 116 f. Rickmann, Hans und Janine 190–193, 197, 200–206 Saliha 304–306 Schelling, Thomas C. 241, 289 Scherer, Marie-Luise 210 Sebbar, Leȉla 279 f. Sido 216, 306 Simmel, Georg 223, 238 Topalov, Christian 150 Touraine, Alain 124, 182, 293, 310–312 Townsend, Peter 57 f. Tricart, Jean-Paul 124 Trintignac, André 50, 123 Vaskovics, Laszlo 114 Vogel, Hans-Jochen 253 Wacquant, Loȉc 316 Wieviorka, Michel 293 Willats, Stephen 213 Willmott, Peter 150–159, 182 Willutzki, Max D. 199 f., 204–207 Wirth, Louis 238 f. Wresinski, Joseph 54–58, 63, 66 f.
Nadji, Thérèse 74 f. Nightingale, Carl H. 25, 228 Ohlin, Lloyd 57 f. Ören, Aras 266
Young, Michael 150–159, 182
Park, Robert E. 124, 236, 238, 240 Patzschke, Wolfgang 199, 205
Zapf, Katrin 157 f. Ziewer, Christian 199 f.
Ortsregister Algiers 74, 87 Anatolien 265 f. Berlin 34, 44, 142, 157, 249 f., 258, 281–283, 285 f., 324 – Berlin (Ost) 192, 217
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– – – – –
Falkenhagener Feld 192 Gropiusstadt 158, 192, 207, 212 Hansaviertel 192 Heerstraße-Nord 227 Kreuzberg 157, 185, 205, 208, 212 f., 262 f., 266, 283
– Laubensiedlung Wilhelmsruh 193 – Märkisches Viertel 14, 33, 40, 135 f., 143, 158, 185–217, 220 f., 306 – Tiergarten 283 – Wedding 157 f., 193, 205, 213, 262, 266, 283, 333 Bonn 58, 114, 117 Boston 150, 152, 154, 158 f. Bremen 98, 215 Casablanca 74, 87, 89 Chicago 55, 236–240, 311, 316 Dijon, Cité de Billardon 278 f. Dortmund 158, 215 Duisburg 94, 264 f.
Lyon und Vénissieux 124, 277, 286 – Les Minguettes 14, 40, 178, 279, 291 f., 296–298, 300–302, 309, 311–315 – Vaulx-en-Velin 309–312 Mainz 99 f. Mannheim, Siedlung am Hinteren Riedweg/ Benz-Baracken 92 f., 107–109, 110 f. Marseille 90, 168, 276–78, 287 f., 312 München 14, 104, 114, 242, 246, 249, 251– 259, 281 – Hasenbergl 110 – Perlach 109 f. New York 11, 324 f. – Bronx 306 – Harlem 62, 228, 234 f., 242, 258, 266 – Lower East Side 58
Frankfurt/Main 246, 249, 251 f. Gießen 117 Hamburg 94, 96–99, 102, 104 f., 112, 114, 156, 158, 185, 214 f., 246, 252, 281 – Kirchdorf-Süd 215 – Mümmelmannsberg 33 – Wilhelmsburg 281 Istanbul 266 Kiel 106 Köln 94, 96, 102–108, 114, 117 f., 145, 252, 282, 304 f., 323 – Kalk 304 f. – Poll 105, 117 – Siedlung Am Grauen Stein 93, 108 London 11, 55, 62, 150–152, 158 f., 182, 291, 324 f. – Bethnal Green 150–152, 182
Paris und Ȋle-de-France – 13. Arrondissement 146, 148 f., 152 f. – Antony 180 f. – Aulnay-sous-Bois 324 – Grigny, La Grande Borne 183 f., 300 – La-Butte-à-la-Reine 146, 149 f. – La Courneuve, Cité des 4000 176, 183, 279 f., 300 – Nanterre 74 f., 78, 275 f. – Noisy-le-Grand 14, 39, 46–70, 74, 91 – Sarcelles 14, 40, 143, 160–169, 173–179, 181, 204, 221, 279 Seraing 292, 296–298 Toulon, Cité du Jonquet 270 Troyes 85, 341
Schlagwortregister 3-Stufen-System 95 f., 101–122 adaptation 47–49, 56 f., 60 f., 63–66, 68, 70 f., 79 f., 83 f., 88, 91, 121–123, 184, 276, 279, 307, 327, 332 f. Aktivierung 22, 26, 96, 113, 117, 119, 127, 130–133, 190, 203–205, 213, 301, 319, 328
Aktivismus 26 f., 110–119, 130, 132 f., 141, 143, 160, 221, 251 – antirassistisch 242, 258, 272 f., 312–315 – christlich-humanitär 45–49, 51–56, 66–71 – Neue Linke 96, 132 f., 144 f., 160, 185– 208, 213 f., 220 f.
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Algerienkrieg 42 f., 73, 76–78, 82 f., 87, 90, 164, 272 f., 313 Algerische Migranten 39, 42, 71–82, 90 f., 121, 164, 268, 272–274, 276, 278–281, 286, 311, 313, 327 Anonymität 136 f., 144 f., 150, 159, 165 f., 208 f., 211, 219, 223 f., 298 Arbeiterklasse, Arbeiterschaft 12, 36, 60 f., 138, 141, 146–160, 179–207, 218, 220, 223 f., 265 f., 272, 290, 293–298, 302 f., 328 f., 335 f. Arbeiterquartier 23, 51, 138, 141 f., 144–160, 182, 184, 205, 208, 220, 265 f. Arbeitslosigkeit 20–22, 184, 217 f., 271, 277 f., 290–298, 302, 310, 314, 324–326, 334 f. Arbeitsmigration, europäische 37, 72, 75, 80, 83, 121, 164, 218, 229 f., 244, 246–250, 262, 268, 271 f., 278 Armut 45–49, 51–71, 104 f., 118 f., 153, 158 – »Kulturen der Armut« 56–63, 67 Armutssoziologie/Armutsforschung 48 f., 56–62, 65 f. »Asozial«, »Asozialität« 48, 64, 66, 70, 90, 95, 100–122, 328 ATD Quart Monde 46–49, 53–63, 65–71, 74, 79, 118, 121 Aufstieg, sozialer 20, 22, 25, 27, 125, 138, 149, 176, 179, 184, 193, 218 f. Auftragsforschung (siehe Expertentum) Ausländeranteil 68 f., 256, 260–262, 267, 282 f., 289, 307, 320, 332 f. Ausschluss (siehe Exklusion) banlieues (siehe auch Großsiedlungen) 11, 18, 141, 145 f., 170, 176 f., 179, 182–185, 235, 290–320 bidonvilles 39, 43, 45–91, 124, 129, 165, 180, 183, 268, 274, 276 Bürgerinitiativen (siehe Aktivismus) Chicago School 124, 236–241, 255, 259, 262 cités de transit 73, 81–93, 119–122, 131, 313 CNDSQ 299–301, 318 DDR 16, 105, 136 f., 191, 217, 220, 335 Deindustrialisierung 12, 19, 31, 290–299, 302, 314, 330 Dekolonisation 10, 12, 17 f., 22, 41–43, 73 f., 89 f., 121 f., 228 Deutscher Städtetag 96–101, 104, 112, 118, 130, 257, 259 f.
384
Disziplinierung 26, 86–88, 91, 95 f., 102– 122, 130–133, 327 Durchmischung 24, 26, 44, 68 f., 82–84, 87, 101, 138, 141, 156, 196, 209–212, 215 f., 229, 243, 248, 263, 267 f., 276, 281, 289, 293, 300, 317 f., 320, 327–331, 333 Einfamilienhaus, Einfamilienhaussiedlung 179 f., 187, 212 f., 219 Einsamkeit 144–146, 152, 159, 168–178, 204, 222 f. Emmaüs 52–54, 57, 66–70 »Entwicklungsstand«, évolution 73, 79–82, 84, 87 f., 119–122 Ethnisierung, ethnische Grenzziehungen 13, 17, 40, 227–232, 242–245, 258, 261–270, 279–281, 283–287, 291, 302 f., 306–312, 315–320, 331–334 Europäische Gemeinschaft 18, 63, 118, 229, 282 f., 287, 333 f. Exklusion 121–133, 295, 300–303, 311 f., 317 f., 323, 325–327, 332 Exmittierung (siehe Räumung) Expertentum 26 f., 30 f., 46–49, 54, 56–63, 94, 104–107, 110–119, 122–133, 138 f., 146–160, 170–174, 180–184, 194–198, 202 f., 220 f., 243 f., 251–257, 261, 267 f., 274 f., 284 f., 310–312, 315 f., 318, 325, 329–333 Fonds d’Action Sociale 77, 90, 273 Geschlechterverhältnisse 23, 139, 162, 173– 177, 211 f., 218, 223 f., 329 GESOBAU 193, 205, 211, 215 Ghetto, Ghettoisierung 227–245, 248, 251 f., 255–260, 262–269, 280–282, 289, 302, 304–306, 308, 311–313, 316–318, 320 f., 323, 332, 336 Großbritannien 11, 39, 54, 148, 151–155, 159, 182, 220, 228 f., 243, 261, 291, 309 f., 312 Großsiedlungen, grands ensembles 35 f., 109 f., 135–147, 149 f., 159–216, 220–225, 250, 268, 270 f., 277–281, 287 f., 290–307, 309–319, 324, 328–330, 335 f. Hausbesetzungen (siehe Aktivismus) HLM (siehe auch Sozialer Wohnungsbau) 35, 82, 97, 137, 164, 180, 182 f., 268, 271, 274 f., 277, 304
Hygiene, Hygienediskurs 12, 25, 44, 63 f., 83–88, 104 f., 129, 171 f., 230 f., 327 inadaptation (siehe Adaptation) Individualisierung 15, 25, 136, 139, 216, 222, 224 f., 261, 263, 265, 334 Infrastruktur 24, 164 f., 178, 191, 193 f., 222, 247, 249, 256 f., 271, 282, 318 f. Integration, Integrierbarkeit 14, 18, 24, 82– 84, 101–119, 172, 178, 227, 229, 234, 236 f., 241–248, 252–255, 259–264, 267–269, 281–290, 294 f., 297–299, 302, 307, 312, 315, 317, 319–323, 326, 331–335 Kinder in Not 117 f. Kinderreichtum 46, 50, 104–106, 115 f., 121 f., 200 f., 211, 327 Klasse 23 f., 36, 138 f., 146–160, 162, 179– 207, 218, 220, 223, 231 f., 289, 291, 293, 295–298, 301–303, 315 f., 326, 329, 335 f. Klassengesellschaft 12, 18 f., 125, 141, 148 f., 159, 182, 293, 335 f. Kolonialismus, Kolonialverwaltung 17, 25 f., 39, 41–43, 49, 71–74, 77–84, 87–90, 121, 147, 230 f., 264, 273 f., 280, 286 f., 290, 305, 307, 327, 330, 332 f. Kommunistischer Kommunalismus 145 f., 281, 302 f., 316, 335 Konzentration, räumliche 26, 82 f., 214 f., 237, 241, 243, 248, 255 f., 259–263, 281, 285, 287, 300, 318, 331 Laubenkolonie 44, 193, 208 f. Leerstand 214 f., 218, 281, 300, 314, 324 Loi d’orientation pour la ville 318–320 Lokalität 16, 139, 144, 207, 223 f., 261, 319 f. Marginalität, Marginalisierung 93, 115 f., 119–133, 187, 205 f., 218, 235, 289 f., 292–295, 297, 303–306, 311, 316–318, 323, 325–327, 329 Massenwohnen (siehe auch Großsiedlungen) 35–39, 136 f., 141 f., 144 f., 217, 223 f. Medialisierung 27, 51–53, 71 f., 78, 92–94, 142, 160–162, 165–170, 188–190, 208–211, 220 f., 252, 256–259, 270 f., 283 f., 290 f., 308–311, 328–330 – Film, Fernsehen 146–150, 182–185, 199–207 Mietschulden (siehe auch Räumung) 92, 95, 99 f., 111, 184, 188, 194, 196, 215
Mietstreik 196, 205, 268, 272 f. Mittelschicht 149, 164, 179 f., 187, 209–212, 218 f., 271, 328 Moderne, urbane (siehe Stadtplanung) Nachbarschaftlichkeit 61, 67, 139, 144–153, 176, 204, 208, 223–225, 264–266, 320 Nationalsozialismus 17, 35, 104 f., 139, 155, 220, 231, 234 Obdachlosensiedlungen, Obdachlosigkeit 52 f., 92–119, 193, 203, 208 Psychologie, Psychologisierung 59 f., 64–66, 86 f., 110 f., 165–178, 188, 204, 220 f., 241, 329 Quotierung 40, 83, 267–270, 274–277, 281 f., 284, 333 Race, Rasse, Rassifizierung 13, 17, 23–25, 69, 73, 79 f., 228–234, 238–242, 255, 267, 280, 284, 291, 302–304, 307–310, 316 f., 326, 331, 336 Rassismus 49, 73, 79, 229–232, 247, 272, 275, 277, 279, 284, 288, 302, 307 f., 312–316, 336 Randgruppe, Randgruppenforschung 112– 119, 122–133 Rap 216, 227 f., 304–307 Räumung, Räumungsklage 51, 66 f., 95, 99 f., 102, 110, 174, 184, 188, 194, 203 Riots (siehe Unruhen) »Rückständigkeit« 18, 72, 79, 91, 119–122, 157, 264, 287, 332 Sanierung, Kahlschlagsanierung 73, 84 f., 88, 121, 141, 148–160, 180, 185 f., 193, 208, 213, 219, 231, 248–251, 255, 262, 265, 268 f., 271, 283, 287, 289, 314, 318, 330 Segregation (siehe auch Separierung) 13, 16, 23–26, 40, 43 f., 87, 90 f., 93, 153, 161, 179–185, 215 f., 227–230, 233–242, 244, 255 f., 259, 262, 266, 275, 289, 308, 312, 314, 317–319, 325, 327, 332 Separierung, räumliche (siehe auch Segregation) 26, 43 f., 87 f., 91, 101 ff., 111 f., 119–122, 132 f., 267, 272, 327 f., 333 seuil de tolérance 241, 268, 270, 274–278, 287 f., 315, 333 Slums, Slumming 11 f., 64, 96, 135, 142, 148, 151 f., 197, 230 f., 241
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Solidarität, Solidarisierung 54 f., 61, 67, 116– 119, 135, 139, 144–153, 176 f., 188, 204– 207, 223, 259, 265, 272, 281, 296 f., 305 f. Sonacotra 79–81, 90 f., 272–277, 280 Soziale Arbeit 94, 117–119, 130 f., 151, 277 Soziale Stadt (Programm) 319 Sozialer Wohnungsbau 10 f., 15, 34–39, 41, 45, 63 f., 66 f., 70 f., 81 f., 101 f., 107, 131 f., 137 f., 162 f., 180–185, 187 f., 191 f., 213– 215, 241, 249, 276, 281 f., 314, 327 Sozialfürsorge 47, 55 f., 65 f., 95, 104–106, 210, 328 Sozialpsychologie (siehe Psychologie) Sozialstaat 21 f., 36–39, 41–44, 119–122, 126–133, 138, 187, 217, 290, 316 f., 326 Sozialtechnokratie, social engineering 16, 34 f., 103 f., 129, 131, 178 Soziologisierung (siehe auch Expertentum und Stadtforschung) 27, 44, 112–119, 122–133, 168, 170–174, 180–184, 221, 230, 233, 243 f., 259, 270, 318 Stadtplanung, moderne 16 f., 27, 31–42, 73, 88, 140–143, 145–147, 163, 185 f., 208 f., 213, 215 f., 231, 251, 268, 290, 329 Stadtsoziologie, Stadtforschung 26 f., 89 f., 110–112, 112–119, 122-, 145–162, 170– 174, 180–184, 202 f., 213–216, 221, 223, 230, 233 f., 236–244, 254–257, 261–266, 274 f., 288, 291–298, 300–304, 315 f., 318, 325 f. Stigmatisierung 61, 70, 75, 90 f., 93, 108–111, 113, 115, 123, 131, 295, 328, 330, 333 Studentenbewegung 78, 113–119, 194–200, 202, 206, 208, 210
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Systemkonkurrenz 10, 17, 128, 155, 159, 192, 220 Trente Glorieuses (siehe Wirtschaftswunderjahre) Unruhen 40, 78, 228, 235, 239, 260 f., 278, 290 f., 293, 299, 302, 308–312, 315, 317 f., 330 Urbanisierung 10 f., 15, 37, 74, 148, 220 USA, US-amerikanische Städte 25, 32 f., 40, 55, 58, 62, 128–130, 148, 152–155, 195, 209, 216, 223, 228–242, 244, 253, 255 f., 260, 262, 266 f., 289, 291, 304–306, 309– 312, 316 f., 332 Vermittelschichtung 56, 143 f., 155, 184, 187, 218, 328 »Vertriebene« 44, 95, 98, 246 Verwissenschaftlichung (siehe Expertentum) Wirtschaftswunderjahre 19–22, 31, 41–44, 91, 140, 185, 218 f., 327 Wohlstandsgesellschaft 17, 45, 72, 79, 127, 140, 143 f., 187, 205, 328, 330 Wohnheime 79 f., 82, 90, 205, 248 f., 268, 272 f. Wohnungsmangel, Wohnungsnot 16, 22 f., 35 f., 41–45, 50–53, 63 f., 98–101, 138, 169, 187, 192, 217 Zwangsumsiedelung 42, 77, 79 f., 193 Zuzugssperren 243, 258, 268 f., 281–284, 287